Interkulturelle Seelsorge 9783666623677, 3525623674, 9783525623671

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Interkulturelle Seelsorge
 9783666623677, 3525623674, 9783525623671

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V&R

Arbeiten zur Pastoraltheologie

Herausgegeben von Eberhard Hauschildt und Jürgen Ziemer

Band 40

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Interkulturelle Seelsorge

Von Christoph F.W. Schneider-Harpprecht

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Meiner Mutter den Freunden in Brasilien in Dankbarkeit

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Schneider-Harpprecht, Christoph F. W. : Interkulturelle Seelsorge / von Christoph F.W. Schneider-Haipprecht. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2001 (Arbeiten zur Pastoraltheologie; Bd. 40) Zugl.: Leipzig, Univ., Habil.-Schr. ISBN 3-525-62367-4

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

© 2001 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck- und Bindearbeiten·. Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier

Vorwort Die Notwendigkeit, Seelsorge und Beratung im interkulturellen Dialog zu betreiben, hat sich für mich ergeben, als ich 1991 eine Professur für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt in Seelsorge an der „Escola Superior de Teologia" der „Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses" in Brasilien ( E K L B B / I E C L B ) in Säo Leopoldo, im Süden Brasiliens, übernommen habe. Die E K L B B ist eine Kirche, zu der etwa 600000 Mitglieder gehören, die in ca. 550 Gemeinden leben, in denen mehr als 800 hauptamtliche kirchliche Mitarbeiter beschäftigt sind. Sie konzentriert sich im Süden Brasiliens, ist jedoch in allen Teilen des Landes präsent. Diese Kirche hat ihre Ursprünge in der deutschen Einwanderung, in der seit 1824 Menschen vor allem aus den Gebieten des Hunsrück, aus Pommern und Westfalen kamen. In mehreren Einwanderungswellen haben sie sich gemeinsam mit Siedlern aus anderen europäischen Ländern in den brasilianischen Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Santa Catarina, Paraná und im Norden in dem Staat Espirito Santo angesiedelt. Sie haben eine eigene, von Deutschland in manchem zwar beeinflußte, letztlich jedoch unabhängige Kultur als ethnische Minderheit in der portugiesisch sprechenden Umwelt Brasiliens entwickelt. In der Beratungsarbeit mit Studierenden und mit armen Familien wurde mir schnell klar, wie schwierig und komplex es ist, angemessen mit den Problemen von Menschen aus einer anderen Kultur umzugehen. Der bis heute andauernde Lernprozeß kam in eine neue Phase, als die E K L B B / I E C L B ein Projekt mit dem Titel „Beratung von Familien mit niedrigem Einkommen in einem Land der 3. Welt" genehmigte, das ich gemeinsam mit Dr. Valburga Schmiedt Streck, einer brasilianischen Beraterin und Familientherapeutin, entwickelt habe. Die Evangelische Landeskirche in Bayern hat dieses Projekt finanziert. In einer kleinen, von uns eingerichteten Beratungsstelle in Sao Leopoldo, wurden seit 1994 40 Familien beraten, die aus dem Großraum der etwa 2 Millionen Einwohner zählenden Metropole Porto Alegre kamen. Einige Familien stammten aus dem weiteren Umland und lebten von der Landwirtschaft. Sie wurden von Pfarrern, psychologischen Diensten, der Beratungsstelle einer Universität, von Psychologen und Sozialarbeitern an uns verwiesen. Wir haben mit der Methode der systemischen Familientherapie gearbeitet, zunächst mit der Arbeitsweise der strukturellen Familientherapie (Salvador Minuchin), mit der Zeit haben wir jedoch mehr und mehr Elemente der „narrativen Therapie" (Michael White, David Epston) aufgenommen, die den Gesprächspartnern mehr Raum läßt, ihre Lebenssituation dar5

zustellen und zu verstehen, die sie auch stärker als Subjekte begreift, die Problemlösungsprozesse selbst konstruieren. In der Beratungsarbeit verfolgten wir zwei Forschungsziele: Meine Kollegin nahm sich vor, die Struktur und -dynamik von Familien zu untersuchen, die im Kontext der Armut leben und zu fragen, inwieweit die strukturelle Familientherapie und die narrative Therapie Elemente für eine effektive kirchliche Beratungsarbeit mit diesen Menschen zur Verfügung stellen1. Meine Aufgabe war es, ausgehend von den Erfahrungen in der Familienberatung den Zusammenhang von Seelsorge, Beratung und Kultur zu erforschen. Das lag nahe, da ich als Ausländer und Berater aus der Mittelklasse in der Arbeit eine doppelte kulturelle Schranke zu überwinden hatte. Wir haben eine ganze Reihe unserer Beratungen auf Kassette aufgenommen und 8 Fälle transkribiert. Dieses etwa 1000 Seiten umfassende Material liegt auf Portugiesisch vor, ist in der Bibliothek der Escola Superior de Teologia zugänglich und wurde von meiner Kollegin in Teilen in ihrer Dissertation verarbeitet. Die vorliegende Studie fragt, ausgehend von den Erfahrungen unserer Familienberatung, was die theologischen und psychologischen Grundbausteine einer „kulturell sensiblen" Seelsorge und Beratung sind. Ich habe mich bewußt auf den Kontext Lateinamerika ausgerichtet, den notwendigen Transfer in die europäische Landschaft jedoch stets im Hinterkopf behalten. Da es mir als einem kulturellen „Outsider" nicht anders möglich war, als im Gespräch mit den Theorien und Methoden von Seelsorge und Beratung zu arbeiten, die ich in Deutschland und in den USA gelernt habe, ist die Untersuchung von selbst zum „interkulturellen Dialog" geworden. Das war auch sachlich notwendig. Sie erhebt den Anspruch, daß das, was wir für den lateinamerikanischen Kontext verhandeln, in analoger Weise auch in anderen Ländern, in denen der 1. Welt zumal, aufgearbeitet werden muß. In Deutschland wird es immer dringender, sich der multikulturellen Situation und der wachsenden sozialen Not zu stellen, die den Alltag vieler Familien prägt. In den USA, einem klassischen Einwanderungsland, ist die Problematik seit langem erkannt und zum Anlaß geworden, Methoden des „ Cross Cultural Counseling" einzuführen und kulturelle Trainings für Psychotherapeuten, Berater und Ärzte zu veranstalten. Die kulturelle Diversität hat dort in der Psychologie ihre Spuren hinterlassen, die sich in der postmodernen Spielart der „Cultural Psychology" von traditionellen Ansätzen löst und auf der Basis der Kulturanthropologie und der Theorie des Konstruktivismus eine kulturell angepaßte Theoriebildung betreiben will. In einem Freisemester in den USA hatte ich 1996 Gelegenheit, mich über den Stand der dortigen Forschung zu informieren.

1 Valburga Schmiedt Streck. Terapia familiar e aconselhamento pastoral·. Urna experiênica com familias de baixos recursos. Säo Leopoldo: IEPG - Ed. Sinodal, 1999.

6

So hoffe ich, daß die Leserinnen und Leser sich bereit finden, sich mit mir in die Verschlingungen und Winkel der lateinamerikanischen Situation zu begeben, die Geduld haben, nachzuvollziehen, in welchem Kontext Seelsorge und Beratung sich dort bewegen, welche Probleme sie beschäftigen, nach Theorien und Methoden zu suchen, die hilfreich sein können. Sie werden in dem „ökologischen Modell von Seelsorge und Beratung", das den Abschluß des Buches bildet, einen Vorschlag finden, der, wie ich meine, Impulse für die Arbeit in Europa geben kann. Nachdem die deutsche Theologie es Generationen von Theologen und Theologinnen aus der 3. Welt abverlangt hat, sich in die Tiefen der Spekulationen deutscher Geister zu vertiefen, ihre eigene Theologie und Praxis also stets durch die Brille des Denkens, der religiösen Erfahrung und der kirchlichen Wirklichkeit in Deutschland zu lesen, so ist es nur fair und auch bereichernd, einmal den umgekehrten Weg zu gehen, sich die Brille der Anderen, der kulturell Fremden aufzusetzen und die eigene Realität einmal durch sie zu betrachten2. Ich danke meiner Kollegin Valburga Schmied Streck für die kompetente, anregende und geduldige Zusammenarbeit, ohne die es nicht möglich gewesen wäre, dieses Buch zu schreiben. Mein Dank gilt den Familien, die wir beraten haben und die erlaubt haben, daß wir ihre Geschichten untersuchen und unter Wahrung der Anonymität veröffentlichen, für ihr Vertrauen und ihre Offenheit. Mein Dank gilt auch der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien und der Evangelischen Landeskirche in Bayern für die Förderung und Unterstützung unseres Forschungsprojekts und der Evangelischen Kirche in Deutschland für den Zuschuß zu einem Forschungssemester in den Vereinigten Staaten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Evangelische Kirche im Rheinland haben durch Druckkostenzuschüsse die Veröffentlichung dieses Buches möglich gemacht. Ulrike, meine Frau, hat mich freundschaftlich und beharrlich ermuntert und am Ende bei den Korrekturen sehr geholfen, obwohl sie in den vergangenen Jahren von einer eigenen Forschungsarbeit in Anspruch genommen war - dafür danke ich. Christoph Schneider-Harpprecht

2 Zitate aus dem Portugiesischen und Spanischen werden im Text Ubersetzt, das Original wird in den Fußnoten dokumentiert, während englische und französische Zitate in der Regel in der Originalsprache belassen wurden, da diese Sprachen dem deutschen Leser geläufiger sind.

7

Inhalt 1. Kapitel: Die Entdeckung und Beratung

der Kultur als Kontext

von Seelsorge 13

1.1. Der Kulturunterschied als Problem der Beratung: ein Beispiel . . . 1.2. Kultur als Aspekt einer kontextuellen Seelsorge 1.3. Ziele und methodischer Ansatz der Arbeit 2. Kapitel: Was bedeutet „Kultur" f Versuch einer und Standortbestimmung

Begriffsklärung 35

2.1. „Kultur" in ethnologischer und kulturanthropologischer Sicht . . . 2.1.1. Die evolutionistische, funktionalistische und kulturhistorische Bestimmung des Kulturbegriffs 2.1.2. Kultur als adaptives System 2.1.3. Kultur als kognitives oder strukturales System 2.1.4. Kultur als symbolische Systeme 2.2. Das Kulturverständnis in der Theorie lebender Systeme 3. Kapitel: Hybride Kulturen in Lateinamerika der Prämoderne zur Postmoderne

13 17 23

35 35 38 39 41 45

im Ubergang von 53

3.1. Lateinamerikanische Popularkultur: Zugänge und Interpretationsansätze 3.2. Popularkulturen im Süden Brasiliens 3.3. Die Hybridisierung der Kulturen und die ethnische Identität . . . 4. Kapitel: Die Bedeutung der Familie im Kontext lateinamerikanischen Popularkulturen

53 60 63

der 70

4.1. Von der patriarchalen zur matrifokalen Familienstruktur? . . . . 70 4.2. Die brasilianische Familie 74 4.2.1. Die Struktur brasilianischer Familien im Kontext der Armut . 77 4.2.2. Das Verständnis der Familie in der Popularkultur der Deutsch-Brasilianer 84 5. Kapitel: Evangelium,

Kultur und Beratung

88

5.1. Einleitung 5.2. Vorüberlegung: Das Unbehagen der deutschen Theologie an der Verbindung von Evangelium und Kultur 5.3. Zurück zum Kulturprotestantismus?

88 88 91 9

5.4. Evangelium und Kultur im Spiegel des lateinamerikanischen Kontexts 5.5. Theoretische Modelle der Beziehung von Evangelium und Kultur 5.5.1. Die Theologie der Inkulturation 5.5.2. Die Verkündigung des Evangeliums, ausgehend von den historischen Projekten der „Anderen" (Paulo Suess) . . . . 5.5.3. Evangelium und Kultur in der neueren ökumenischen Diskussion 5.6. Evangelium und Kultur im Zusammenhang eines narrativen Ansatzes von Theologie 5.6.1. Narrativität als „Leitmetapher" in Anthropologie und Theologie 5.6.2. Interkulturelle Hermeneutik und interkulturelle Kommunikation 5.6.3. Konsequenzen für Seelsorge und Beratung 6. Kapitel: Modelle des Umgangs mit der Kultur in Beratung, Psychotherapie und Seelsorge: Die nordamerikanische Beratungsliteratur 6.1. Problemstellungen und Hintergründe 6.2. Die „cultural psychology" 6.3. „Cross cultural counseling" und die Kritik an der ethnozentrischen Beratung 6.4. Selbst, Person und Kultur 6.4.1. „Referentielles Selbst" und „Index-Selbst" 6.4.2. Kultur und psycho-soziale Entwicklung 6.4.3. Geschlecht und Rasse im interkulturellen Beratungsprozeß 7. Kapitel: Kultur

und Familie im Beratungsprozeß

7.1. Einleitung 7.2. Die Beziehung von Familie und Kultur - Theoriemodelle . . . 7.3. Der Beitrag der strukturellen Familientherapie und der narrativen Therapie zur kulturell sensiblen Familienberatung 7.3.1. Die strukturelle Familientherapie 7.3.2. Die narrative Therapie 7.4. Kulturbezogene Familienkonflikte 7.4.1. Die Theorie des familiären Lebenszyklus 7.4.2. Die Phasen des familiären Lebenszyklus: kulturelle Aspekte 7.5. Exkurs: Psychische Krankheit, Familie und Kultur 7.6. Ziele kulturell sensibler Familienberatung 7.6.1. Kritik an den Zielen der Familienberatung: Die Vernachlässigung des politischen Kontexts 7.6.2. Empowerment als Ziel in Sozialarbeit und „multisystemischer" Familientherapie 7.6.3. Ziele multikultureller Familienberatung 10

95 106 106 114 119 127 127 138 149

154 154 156 159 163 163 165 168 177 177 177 184 185 193 197 197 202 224 227 227 229 238

8. Kapitel: Ein ökologisches Modell kulturell sensibler Seelsorge und Beratung 8.1. Einleitung 8.2. Kontexte von Seelsorge und Beratung 8.2.1. Die Natur 8.2.2. Die Gesellschaft 8.2.3. Die Gemeinde 8.2.4. Die Familie und das Individuum 8.3. Die Perspektiven von Seelsorge und Beratung 8.3.1. Die Orientierung an Problemen und Lösungen 8.3.2. Die Perspektive der Spiritualität 8.3.3. Die Perspektive der Macht 8.3.4. Die Perspektive von Geschlechtsrolle und Geschlechtsidentität (gender) 8.3.5. Die ethische Perspektive 8.4. Das Modell der „terapia comunitària" als Beispiel für eine „ökologische Seelsorge"

241 241 249 249 261 275 282 300 300 304 312 321 337 341

Literaturverzeichnis

347

Namenregister

369

Sachregister

375

11

1. Kapitel: Die Entdeckung der Kultur als Kontext von Seelsorge und Beratung 1.1. Der Kulturunterschied

als Problem der Beratung: ein Beispiel

Wer als Berater, Seelsorger oder Therapeut in einem anderen Land und in einer fremden Sprache zu arbeiten beginnt oder mit Klienten 1 konfrontiert ist, die einer anderen Kultur angehören, stößt schnell an Grenzen, die ihn sensibel machen für die kulturelle Beschränktheit seines eigenen Verstehens. Er merkt, daß er Probleme offensichtlich anders wahrnimmt als sein fremder Klient, daß seine Art zu analysieren und zu intervenieren mißverstanden wird. Ihm wird deutlich, daß die psychologischen und theologischen Theorien, deren universale Geltung ihm bisher selbstverständlich war oder die er zumindest nicht infragestellen mußte, nicht ins Weltbild des anderen passen. Ich will dies an einem Beispiel aus dem Süden Brasiliens erläutern: Ein 27 J a h r e alter Mann, der in einer Favela in einem städtischen Ballungsgebiet wohnt, sucht auf die Bitte seiner Frau hin eine Beratungsstelle auf, in der Psychoanalyse und psychoanalytisch orientierte Therapie für Menschen mit geringem Einkommen angeboten werden. E r leidet unter wahnhaften Eifersuchtsideen und schlägt seine Frau, mit der er seit einer Reihe von Jahren zusammenlebt und eine 6 Jahre alte Tochter hat, weil er vermutet, daß sie weiterhin eine sexuelle Beziehung mit ihrem Ex-Ehemann hat. Seine Frau erträgt die Situation nicht mehr und hat angedroht ihn zu verlassen, wenn er nicht aufhört, Gewalt anzuwenden. Als er 15 Jahre alt war, hat er das Elternhaus verlassen und ist zu einer 30 J a h r e alten Frau gezogen, mit der er einige Jahre zusammenlebte. Seine Mutter ist Medium in einem der zahlreichen spiritistischen Zentren der S t a d t Sie hat ihn in spiritistische Praktiken eingeführt und als Medium geschult. Er weigert sich, die Couch zu benutzen, weil er Angst davor hat, daß der Analytiker höher sitzt als er. Wenn er von seinen Träumen erzählt, verändert sich sein Gesichtsaus1 D i e Bezeichnung der Gesprächspartner in Seelsorge und Beratung schwankt. In der Literatur finden sich die Begriffe „ K l i e n t / i n " , „ R a t s u c h e n d e / r " , „ P a s t o r a n d / i n " , „Kund e / K u n d i n " . Alle diese Ausdrücke sind problematisch: Klienten sind abhängige Personen, Ratsuchende scheinen „ratlos" zu sein, während der andere Rat weiß, Pastoranden sind Kunstprodukte, keine Pastoren, aber auch keine Schafe, wie es die „Hirtenmetapher" nahelegen würde. Kunden bezahlen normalerweise für eine Leistung. D a s ist zumindest in der Seelsorge nicht der Fall. Wir können in dieser Arbeit den in der Literatur gängigen Sprachgebrauch nicht vermeiden, stellen jedoch klar, daß wir die an einer Seelsorge- oder Beratungsbeziehung Beteiligten für gleichberechtigte Gesprächspartner halten. Deswegen nennen wir sie auch o f t „Seelsorgepartner" oder benutzen den Begriff „Gesprächspartner".

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druck: Er schließt die Augen, der Ton seiner Stimme verändert sich, als ob er über etwas Geheimnisvolles und Mysteriöses spreche. Er sieht aus wie jemand, der in Trance geraten ist, Kontakt mit einer anderen Welt hat und von unbekannten Dingen spricht. Der Inhalt der Träume scheint für ihn eine Botschaft aus einer verborgenen Realität zu sein, eine spirituelle Botschaft. 2

Interpretiert man das Verhalten dieses Mannes unter psychoanalytischem Gesichtspunkt, dann muß man nach hysterischen und paranoiden Anteilen fragen und wird eine Diagnose wie Hysterie oder Paranoia stellen, die entsprechend zu behandeln ist. Man könnte sagen, daß er in der Rolle eines spiritistischen Mediums in die imaginäre Welt der Mutter eintritt und entweder in der Traumerzählung in einer Art von Delirium seine Phantasien auf die Realität projiziert und mit ihr verwechselt, oder daß er sich als spiritueller Partner seiner Mutter phantasiert, der ihrem unbewußten Wunsch korrespondiert. In diesem Fall würde er, wenn er von seinen Träumen spricht, Inzestphantasien realisieren. Ein Ethnologe würde zu einer anderen Schlußfolgerung kommen. Wahrscheinlich würde er sagen, daß dieser Mann und der Analytiker, selbst wenn sie denselben ethnischen Hintergrund haben und in der gleichen Kultur aufgewachsen sind, in verschiedenen Symbolsystemen leben. Die Bedeutung von Träumen in der Kultur des Klienten ist unvereinbar mit der psychoanalytischen Theorie, die allen religiösen Vorstellungen und Traumdeutungen kritisch gegenüber steht. Sie ist der modernen Rationalität verpflichtet und trifft nun auf ein Symbolsystem, in dem sich prä-moderne und wahrscheinlich auch post-moderne Elemente vermischen. Alles spricht dafür, daß die Realisierung einer klassischen Psychoanalyse oder einer psychoanalytisch orientierten Therapie mit diesem Mann zu einer Art Umerziehung führen würde. In der Ubertragungsbeziehung würde er lernen, einen Teil seiner kulturellen Bedeutungsmuster aufzugeben, sich das Symbolsystem und den theoretischen Rahmen des Analytikers anzueignen und seine Symptome innerhalb dieses neuen Bezugssystems zu verstehen. Die Therapie würde dadurch zu einem Akt, in dem sich ein dominantes kulturelles Muster entweder gegen ein anderes durchsetzt oder der zum Scheitern verurteilt ist. Es bleibt offen, ob die soziale und kulturelle Komponente der Ehekrise dieses Mannes auf dieser Basis erfaßt und aufgearbeitet werden kann. Unter kulturellem Gesichtspunkt betrachtet sind seine Eifersuchtsgefühle und die Gewalttätigkeit gegenüber seiner Frau Verhaltensweisen, die als Teil der südamerikanischen Machokultur verstanden werden können und die unter den Gauchos in Südbrasilien und Argentinien häufig auftreten. Die Tatsache, daß dieser Mann nach Therapie sucht, daß für ihn sein Verhalten zum Problem wird, ist ein Ausdruck der Krise des Machismo, des kulturellen Wandels, in dem das traditionelle Selbstbild des Mannes 2 Das Fallbeispiel dokumentiert eine psychoanalytisch orientierte Beratung, durchgeführt 1994 in Säo Leopoldo.

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in Konflikt geraten ist mit einem neuen, vom Feminismus beeinflußten Selbstverständnis der Frau, die ihre Würde und ihre Rechte verteidigt. An diesem Punkt treten Therapeut und Klient ein in das Spannungsfeld zwischen regionaler und globaler Kultur. Es ist richtig, daß Frauen in vielen Teilen der Welt unterdrückt werden und Opfer von Gewalt sind und daß der feministische Protest auf eine globale Bewußtseinsänderung abzielt, in der Frauen und Männer nach Formen gleichberechtigten Zusammenlebens suchen. In diesem Sinne ist die Ehekrise der beiden der Ausdruck eines globalen Konflikts zwischen den Geschlechtern. Auch der von den Partnern angestrebte Lösungsversuch auf dem Weg der Psychotherapie, die, aus Europa und den Vereinigten Staaten importiert, als Teil der brasilianischen Kultur assimiliert wurde und nun auch an einzelnen Stellen den Unterprivilegierten zur Verfügung steht, ist ein Element globaler Kultur. Dennoch ist die Art und Weise, wie dieser Konflikt von den Beteiligten erlebt wird und wie sie in ihm handeln, an die lokale Kultur gebunden. Sie stellt dem Mann traditionelle Vorstellungsmuster zur Verfügung, wie ein Mann und eine Frau zu sein hätten, stützt vielleicht sein Gefühl, er habe ein Besitzrecht auf seine Frau, dürfe sie kontrollieren und überwachen. Sie macht es dieser brasilianischen Frau schwerer als etwa einer Frau in den USA oder in Westeuropa, sich zu trennen, da die vorhandenen sozialen Versorgungsund Sicherungssysteme nicht ausreichend für ihren Schutz gegenüber dem gewalttätigen Ehemann sorgen. Die Verschränkung und Spannung von globaler und lokaler Kultur betrifft auch den religiösen Bereich. Das spiritistische Deutungsmuster der Wirklichkeit, dem der Klient anhängt, ist ein synkretistisches Produkt, das der französischen Tradition des Spiritismus von Alain Cardec entstammt, der im Zuge der Kolonisation in Brasilien seit dem ^.Jahrhundert Verbreitung gefunden hat und eine Verbindung mit Elementen der afro-brasilianischen Religiosität und des New Age eingegangen ist Es wäre durchaus nicht verwunderlich, wenn der Klient gleichzeitig auch Mitglied der katholischen oder einer Kirche des historischen Protestantismus ist Besonders im populären Katholizismus Brasiliens haben religiöse Traditionen der indianischen und afrikanischen Sklaven überlebt, indem sie oberflächlich der offiziellen Tradition angepasst wurden. Die Oñxás, die einst verbotenen Götter der versklavten Volksstämme, wurden mit den christlichen Heiligen identifiziert und weiterhin angebetet. Der spiritistische Geisterglaube und die Teilnahme an spiritistischen Seancen gehen für viele einher mit christlicher Frömmigkeit und der Beteiligung am Gottesdienst und kirchlichem Leben. Dieser Synkretismus hat Tradition, ist aber auch eine regionale und lokale Variante globaler Vermischungen von religiösen Traditionen, die sich in anderer Form und wesentlich begrenzter auch in Westeuropa und den USA beobachten lassen. Die religiösen Deutungsmuster und Handlungen sind eine Alternative oder eine Ergänzung zur psychotherapeutischen Bearbeitung des Ehepaarproblems. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der von Eifersucht 15

geplagte Mann gleichzeitig mit der Psychotherapie auch Hilfe im Bereich seiner religiösen Gemeinschaft sucht und dabei konkurrierende Deutungen seines Problems kennenlernt. Er hat die Aufgabe, die konkurrierenden symbolischen Muster zu verknüpfen. Falls das nicht möglich ist, muß er entweder eines aufgeben, oder er kann versuchen, solange er mit der Psychotherapie weitermacht, sich auf die jeweils vom Kontext vorgegebenen Muster einzustellen. Diese Strategie der Anpassung an den Kontext entspricht dem gängigen Verhalten in einer pluralistischen Gesellschaft, in der sich die Individuen in wechselnden und äußerst unterschiedlichen Kontexten bewegen, deren Normen und narrative Begründungen des Handelns nicht zusammenstimmen. Solches Changieren kann verunsichern. Es kann aber auch dazu dienen, den Einfluß verschiedener sozialer Instanzen zu relativieren. In einer Art von Widerstand entkommt der Klient dem Zugriff des Therapeuten, indem er am Abend nach der Therapiestunde zur spiritistischen Seance geht. Umgekehrt relativiert er auch die Macht der religiösen Gruppe, indem er Therapie macht. Im teils bewußten, teils unbewußten Spiel mit den Hilfsinstitutionen der Gesellschaft und ihren Symbolsystemen kann er sich einen Freiraum erobern und ihn zu seinem Vorteil zu nutzen versuchen. Das ist besonders wichtig für Menschen aus der Unterschicht, die andauernd ums Uberleben kämpfen und darauf angewiesen sind, alle Hilfsangebote zu nutzen. Wir lernen aus diesem lokalen Beispiel, daß in Therapie, Beratung und Seelsorge die Kulturunterschiede innerhalb der pluralen Gesellschaft, die auf globale, regionale und lokale Wurzeln zurückgehen, von zentraler Bedeutung sind. 1. Sie können Mißverständnisse hervorrufen, die den Kommunikationsprozeß blockieren oder hemmen, zur kulturellen Unterdrückung beitragen, indem den Klienten ihnen fremde Symbolsysteme und Perspektiven übergestülpt werden, ihr Diskurs durch den dominanten Diskurs der jeweiligen Theorie oder Weltanschauung des Beraters oder Seelsorgers abgeschnitten, verändert oder verstümmelt wird. 2. In pluralistischen Gesellschaften zeigt sich die Spannung und Vermischung von Elementen globaler, regionaler und lokaler Kultur auch im Mikrobereich des persönlichen Lebens und trägt bei zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Einstellungen, Interaktionen und Beziehungen, die von den Beteiligten als Problem empfunden werden. 3. Der Pluralismus erstreckt sich auch auf die Versuche der Problemlösung. Religiöse, psychotherapeutische und medizinische Problemlösungsangebote koexistieren, bieten konkurrierende Deutungen und Lösungsstrategien, die je nach Situation und Kontext ausgewählt werden können. 4. Der kulturelle Pluralismus der Problemlösungen kann zur Verunsicherung der Hilfesuchenden beitragen, wenn es ihnen nicht gelingt, Lö16

sungswege und Lösungen zu finden, die mit dem ihnen vertrauten kulturellen Symbolsystem von Deutungen, Werten und Verhaltensnormen in Beziehung gebracht werden können. Er kann auch dazu benutzt werden, sich der Bemächtigung durch Therapie, Beratung oder Sozialarbeit in einer Art von passivem Widerstand zu entziehen und möglichst die Vorteile der verschiedenen Hilfsangebote auszunutzen. Dies bedeutet, daß Beratung und Seelsorge als kontextgebundenes Geschehen betrachtet werden müssen, dessen soziale und kulturelle Aspekte Vorrang haben. Wir fordern also, daß Seelsorge und Beratung kontextbezogen und kulturell sensibel sein sollen, um der Situation der Gesprächspartnerinnen in angemessener Form Rechnung zu tragen. Nur eine kontextuelle und kulturell sensible Seelsorge wird auch dem Evangelium von Jesus Christus gerecht, das uns als inkulturierte Botschaft, innerhalb und mittels der Sprache, der Denkformen und Erzähltraditionen bestimmter Völker, von Juden, Griechen, Römern überliefert wurde und wird. Ebenso wie etwa ein Pieter Brueghel in seinem Bild über den Kindermord von Bethlehem das Geschehen aus Palästina mitten in den holländischen Winter versetzt und den Schergen des Herodes den Helm der spanischen Besatzungssoldaten aufgesetzt hat, so verstehen afrikanische, asiatische oder lateinamerikanische Christen die jüdisch-christliche Überlieferung im Zusammenhang ihrer Kulturen und entdecken ihre Relevanz innerhalb des Dramas ihrer eigenen Geschichte. Das gilt auch für die persönliche und familiäre Geschichte, die in Seelsorge und Beratung zum Thema wird. Sie bildet den kulturellen Horizont, innerhalb dessen die Symbole, Metaphern und Geschichten des christlichen Glaubens interpretiert und aussagekräftig werden können. Im Mikrokosmos der Biographie von Individuen und kleinen Gruppen, von Familienstruktur und Familiengeschichte verschränken sich die Spielarten der menschlichen Kultur mit dem Evangelium, so daß es Bedeutung gewinnen und heilsame Wirkung entfalten kann.

1.2. Kultur als Aspekt einer kontextuellen Seelsorge Ich habe Kultur als einen Aspekt des „Kontexts" von Beratung und Seelsorge angesprochen. Der Begriff des Kontexts wurde schon in den 60-er Jahren von Hiltner und Colston innerhalb der nordamerikanischen Seelsorgebewegung ins Gespräch gebracht. Beide beschränken sich jedoch auf die Untersuchung des Einflusses des säkularen oder kirchlichen Kontexts auf die Effektivität der pastoralen Beratung, entwickeln also ein für heutige Verhältnisse zu enges Kontextverständnis. 3 3 Seward Hiltner/Lowell G. Colston. The Context of Pastoral Counseling. Nashville: Abingdon Press, 1961.

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Zurecht hat John Patton auf die Vernachlässigung des Kontexts in der Seelsorge hingewiesen.4 Das von ihm vorgestellte Modell einer kontextuellen und gemeinschaftsbezogenen Seelsorge soll im folgenden kurz diskutiert werden, da es uns bei einer vorläufigen Standortbestimmung helfen kann. Patton unterscheidet zwischen drei historischen Paradigmen der Seelsorge, die aufeinander folgten und der klassischen, modernen und postmodernen Phase der christlichen Tradition entsprechen: „the classical, the clinical pastoral and the communal contextual".5 Das klassische Paradigma, das seit der alten Kirche bis zum Beginn dieses Jahrhunderts vorherrschend war, betont die Botschaft, die seelsorgerlichen Elemente christlicher Theologie und Tradition. Das Paradigma der klinischen Seelsorge, das während der letzten 50 Jahre die Szene bestimmte, legt den Schwerpunkt auf die Person, welche die Botschaft aufnimmt, und orientiert sich an modernen psychologischen und psychotherapeutischen Erkenntnissen und Techniken, dem know how des Pastors. „Neither the classical nor the clinical pastoral paradigms for pastoral care have given much recognition to context. The classical paradigm tended to universalize its understanding of human problems and express them in exclusively religious terms. The clinical pastoral paradigm most often interpreted human problems psychologically or insisted that the psychological context - most often the personality structure and dynamics of males of the dominant culture - be recognized as normative."6

Dem gegenüber steht ein neues kontextuell gemeindebezogenes {communal contextual) Paradigma, das Seelsorge als Aufgabe der glaubenden Gemeinde betrachtet. „The communal contextual paradigm broadens the clinical pastoral's focus beyond the clergy to include the caring community of clergy and laity. It also calls attention to the contextual factors affecting both the message of care and those bringing it and receiving it."7

Für Patton bedeutet Kontext den Hintergrund und die Umgebung eines Umstandes oder Ereignisses, und Kontextualität meint, daß die Situation in ihrer Eigenart Denken und Handeln der christlichen Gemeinde bestimmt.8 Dieses Verständnis von Kontextualität ist eindeutig von der Theologie der Befreiungsbewegungen Lateinamerikas, der schwarzen und indigenen Minderheiten Nordamerikas und der Frauen bestimmt.9 Die 4 John Patton. Pastoral Care in Context. An Introduction to Pastoral Care. Louisville, Kentucky: Westminster/John Knox Press, 1993, 39 f. 5 Ebd., 4. 6 Ebd., 39 f. 7 Ebd., 4 f. 8 Ebd., 39. 9 „In both Roman Catholicism and Protestantism, it (the communal contextual paradigm Vf.) has involved the shifting of ecclesiastical authority away from the church's clerical

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befreiungstheologische Einsicht, daß die unterdrückten Völker der Welt einen Platz in Geschichte und Gesellschaft haben, die Praxis der lateinamerikanischen Basisgemeinden, das Selbstbewußtsein der schwarzen Kirche Nordamerikas und die feministische Vision werden neben dem religiösen Pluralismus, der ökologischen Krise, der Furcht vor Nuklearkatastrophen und dem radikalen Bösen wie es sich in Auschwitz gezeigt hat, als Kontexte der Theologie benannt, die auch für die Seelsorge relevant sind. Es lohnt sich, noch ein wenig beim befreiungstheologischen Begriff des Kontexts zu verweilen. Er markiert den Standort, von dem aus Theologie betrieben und kirchliche Praxis realisiert wird und ist für die Beziehung von Seelsorge und Kultur von entscheidender Bedeutung. Leonardo Boff sagt: „Theologen leben nicht in den Wolken, sondern sind gesellschaftliche Akteure, nehmen einen bestimmten Ort in der Gesellschaft ein, produzieren unter Verwendung der Instrumente, die ihnen die Situation bietet und zugesteht, Erkenntnisse und Bedeutungen, haben bestimmte Adressaten und sind mithin Teil des gesellschaftlichen Gesamtfeldes."10 Für Boff verbindet sich mit der Wahrnehmung des Kontexts die Frage nach den „materiellen, ideellen, kulturellen und kirchlichen Produktionsbedingungen" und nach der Funktion theologischer und kirchlicher Produktion für „bestimmte Interessen"." Der Kontext, in dem in Lateinamerika Theologie betrieben wird, wird wahrgenommen als Zusammenhang von Unterdrückung und Abhängigkeit. Die Kontextanalyse ist getragen von einer Option für die „wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Befreiung der unterdrückten und beherrschten Völker".12 Die Kultur erscheint hier als ein Faktor, der das Denken und Handeln der Theologen und der Kirche bestimmt. Sie ist Teil des „gesellschaftlichen Gesamtfeldes", das eine Vielzahl von sozialen, politischen, ökologischen Faktoren umfaßt. Pattons Kontextbegriff schließt sich weitgehend an das befreiungstheologische Verständnis an, versucht es jedoch perspektivisch zu erweitern, wenn er „race, gender, power, problem, and morality" als Kontexte von Seelsorge und Beratung benennt, sich aber nicht auf einen konkreten sozialen und geographischen Kontext wie Lateinamerika oder Nordamerika beschränkt, die Problematik der unterdrückten Völker und der nationalen Minderheiten vielmehr in eine globale Sicht integriert, in welcher die menschlichen Probleme den kontextuellen Hintergrund der Seelsorge bilden. 13 Kultur ist für Patton Teil eines globalen Gesamtfeldes. Ihre Wahrnehmung ist für Seelsorger unerläßlich, da sich, so Patton im Anhierarchy toward particular christian communities. It has been further developed by the liberation movements related to economic circumstance, to race, and to gender" (ebd., 4). 10 Leonardo Boff. Jesus Christus der Befreier. Freiburg - Basel - Wien: Herder, 1989, 22.

11 Ebd. 12 Ebd. 13 Vgl. John Patton. Pastoral Care in Context,

40.

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schluß an den Anthropologen Clifford Geertz, nur in der kulturellen Partikularität das universal Menschliche zeigt, wir also stets lokalen Situationen und Problemkonstellationen begegnen. Deshalb bemüht sich Patton darum, die Seelsorge mit der Ethnologie und Kulturanthropologie ins Gespräch zu bringen. Er überträgt die Forderung des Psychiaters Arthur Kleinman, daß ein Kliniker ein „MiniEthnograph" sein sollte, auf die Seelsorge. „Master ethnographers and clinicians share a sensibility. They both believe in the primacy of experience and are more like observational scientists than experimentalists. Like the poet and the painter, they are strongly drawn to the details of perception. The good clinician or pastor is a ,mini-ethnographer' because he or she takes on these tasks for an individual, family or small group rather than a whole tribe or culture."14

Wahrnehmen und Beobachten, das Aufnehmen einer vertrauensvollen Beziehung, die Aufgabe, die Geschichte (story) einer bestimmten Gruppe zu entdecken, ihre „Mythen, Rituale und alltäglichen Aktivitäten" verstehend zu interpretieren - alle diese Punkte haben Ethnographen, Kliniker und Seelsorger gemeinsam. Ihr Verhältnis zur beobachteten Kultur ist bestimmt von Nähe und Distanz. Als teilnehmende Beobachter stehen sie mit einem Fuß innerhalb der beobachteten Kultur und mit dem anderen außerhalb. 15 Seelsorger, die sich als „Mini-Ethnographen" verstehen, haben eine starke Neigung, das Partikuläre, Details aus den Leben einer Person, ihre Sichtweisen und Wertvorstellungen zu betonen. 16 Diese Neigung der Seelsorge zum Detail, die Bevorzugung des Partikulären vor universalen oder gesamtgesellschaftlichen Perspektiven ist eine Frucht des Gesprächs mit der neueren konstruktivistischen und narrativen Ethnologie, die ihr Augenmerk auf die lokale Kultur legt, anstatt nach großen, umfassenden Strukturen zu suchen. Wir werden versuchen, dieses Gespräch weiterzuführen und zu vertiefen. Vorläufig halten wir fest, daß es bei Patton dazu geführt hat, die Seelsorge im Spannungsfeld zwischen Globalität und Partikularität zu situieren, in einer globalen Sicht der Pluralität menschlicher Probleme, die nur durch die Kenntnis vielfältiger konkreter Kontexte angemessen erfaßt werden kann. Diese „Dialektik", wie man es nennen könnte, ist ein wichtiges Korrektiv für den theologischen Umgang mit der Kultur auf dem Hintergrund der Befreiungstheologie. Der weithin anerkannte brasilianische Anthropologe Carlos Rodrigues Brandäo hat der Befreiungstheologie ins Stammbuch geschrieben, daß ihre auf Paulo Freires „Pädagogik der Unterdrückten" zurückgehende Zuwendung zur Kultur des Volkes (cultura popular) im Interesse politischer Veränderung sich in Interpretations14 Ebd., 43. 15 Ebd. 16 Ebd., 45.

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mustern wie d e m d e r „ d o m i n a n t e n und dominierten K u l t u r " niedergeschlagen hat, die z w a r nicht falsch o d e r ineffektiv sind, a b e r oft i d e o logisch v e r k ü r z t g e b r a u c h t w u r d e n und das Resultat d e r ethnologischen Analyse schon von vorneherein festgelegt haben 1 7 . „Eine gewisse Verweigerung, sich der verfeinerten anthropologischen Arbeit über die popularen Klassen und über ethnische Mehrheiten und Minderheiten zu öffnen, hat meines Erachtens die theoretische Vertiefung und, in unserer Zeit, auch eine weniger (sc. politisch (Vf.) in Anspruch genommene Erkenntnis zu sehr verkümmern lassen, die paradoxerweise gerade eine größere Befähigung besitzt, die Eigenart der ,Kultur des Anderen' in ihrer Tiefe zu erkennen. Ich glaube, daß dem ,Befreiungstheologen' das fehlt, was unter uns Anthropologen mit zäher Dauerhaftigkeit als Praxis gesucht, aber nur unvollkommen erreicht wurde: im Moment der Erforschung und Interpretation der indigenen Kulturen und der Popularkulturen in Lateinamerika wenn möglich darauf zu verzichten, ,Befreiungstheologe' zu sein. Das bedeutet, den Moment zu verzögern, in dem er die Beziehung herstellt zwischen dem, was er vom Anderen versteht und dem, was ihn dazu verpflichtet, sich in den Anderen zu verwandeln und am verändernden Befreiungsprozeß dieses Anderen teilzunehmen: des Indios, des Bauern, des unterdrückten Schwarzen oder Mestizen unseres Kontinents" 18 . B r a n d ä o insistiert, d a ß die befreiungstheologische O p t i o n für die A r m e n die W a h r n e h m u n g ihrer K u l t u r ideologisch v e r z e r r t und verstellt habe. E r verlangt von den T h e o l o g e n , d a ß sie sich auf ethnologische F o r s c h u n g einlassen, um den A n d e r e n in seiner K u l t u r angemessen zu verstehen und ihn m ö g l i c h s t unverstellt w a h r z u n e h m e n . M e t h o d i s c h schlägt e r v o r , die theologischen „ V o r u r t e i l e " und „Verpflichtungen" z u n ä c h s t außen v o r zu lassen, von ihnen abzusehen und sie z u r ü c k z u h a l t e n , um den A n d e r e n in seiner Andersheit gelten zu lassen. D i e s e r V o r s c h l a g ist nicht u n p r o blematisch. In ihm scheint d a s Ideal einer vorurteilslosen W i s s e n s c h a f t anzuklingen, in d e r sich d e r F o r s c h e r um d e r Objektivität d e r Erkenntnis willen gleichsam annulliert. D i e hermeneutische Diskussion d e r letzten J a h r z e h n t e hat gezeigt, d a ß dies eine Illusion ist. 17 Carlos Rodrigues Brandào. A Arca de Noè. Apontamentos sobre sentidos e diferenças a respeito da idéia da cultura. In: Paulo Suess (Hg.). Culturas e Evangelizaçdo. Säo Paulo: Ediçôes Loyola, 1991, 38. 18 „Urna certa recusa em abrir-se à produçào antropológica mais refinada a respeito de classes populares e maiorias e minorías étnicas ñas très Américas tem, ainda a meu ver, empobrecido demasiadamente um aprofundamento teòrico ( . . . ) e, ao nosso tempo, um conhecimento menos comprometido e, por isso, contraditoriamente mais capaz de compreender a profundidade da ,cultura do outro' em sua especificidade. Creio que ao ,teòlogo da libertaçâo' falta realizar aquilo que entre nós, antropólogos, tem sido urna pràtica persistentemente buscada, ainda que incompletamente atingida: deixar de ser , teólogo' e, se possivel, ,da libertaçâo', no momento da pesquisa e da interpretaçào das culturas indígenas e populares na América Latina. Isto implica retardar o momento de pensar a relaçào entre o que ele compreende do outro e aquilo que o compromete a transformar-se no outro e a partilhar no processo de libertaçâo transformadora deste outro: indio, camponês, negro ou mestiço oprimido de nosso continente" (ebd., 39). 21

Aus befreiungstheologischer Perspektive drängt sich die Frage auf, ob der Verzicht darauf, die eigene Position als Theologe in die Begegnung mit dem kulturell Anderen einzubringen nicht den sozialen Standort und die Macht des Theologen verschleiert. Wie also können wir uns der Kultur des anderen zuwenden, ohne sie in ideologische Schablonen zu pressen, ohne uns aber auch auf die zynische Position scheinbarer Objektivität zurückzuziehen und auf das Engagement, das uns das Leiden des armen anderen abverlangt, zu verzichten? In der Begegnung mit dem kulturell anderen ist der Ethnologe ebenso wie der Theologe ein Akteur, dessen Kultur, soziale Stellung und Funktion, persönliche Uberzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen unaufhaltsam in die Kommunikation eingebracht werden. Es ist nicht möglich, einfach von diesen Dingen abzusehen und den eigenen Standort, wenn auch nur zeitweise, zu relativieren. Dies gilt besonders für alle Formen kirchlicher Arbeit mit kulturell verschiedenen Menschen. Dabei ist schon deutlich geworden, daß die kulturelle Verschiedenheit sich nicht nur auf den Makrobereich des Umgangs mit Menschen aus anderen Völkern bezieht, sie erstreckt sich vielmehr auch auf Mikrostrukturen, auf die Kultur einer Familie, einer Gruppe, einer Gemeinde. Sie kann an der Haustüre des anderen beginnen, denn seine Familie, auch wenn sie deutsch ist, hat eine eigene familiäre Mikrokultur gebildet, in der sich die soziale Schicht, zu der sie gehört, ebenso ausprägt wie die regionale Abstammung aus Schwaben oder Pommern und das soziale und politische Schicksal dieser Volksgruppen nach dem 2. "Weltkrieg. In einer pluralistischen Gesellschaft, in der sich durch globale Wirtschaftsbeziehungen, aber auch durch das internationale Flüchtlingsproblem und die deutsche Asylgesetzgebung Menschen aus den verschiedensten Kulturen treffen, heiraten, trennen, krank und hilfsbedürftig werden, können Seelsorge und Beratung die Frage nach dem Umgang mit dem kulturell anderen nicht ausklammern. Sie werden verstärkt mit persönlichen und familiären Krisen konfrontiert, die durch den Kulturunterschied der Partner mitbedingt sind. Sie befinden sich mitten in Europa in einer politischen Situation, in der Türken gegen Kurden, Serben, Kroaten und Moslems, irische Katholiken und Protestanten, Basken und Spanier, Korsen und Franzosen in blutige Konflikte verwickelt sind, weil es ihnen nicht gelingt, mit dem politischen und sozialen Geltungsanspruch der Kultur des anderen auf friedliche Weise umzugehen. Die christlichen Kirchen sind herausgefordert, ein Verhältnis zu den islamischen Religionsgemeinschaften zu finden und ihren Mitgliedern zu helfen, mit dem weltanschaulichen Gegensatz zu leben, die kulturelle Pluralität auszuhalten und zu gestalten, ohne sich Ressentiments hinzugeben, den anderen von vornherein ängstlich oder aggressiv abzuwerten und dem fremden Nachbarn das Existenzrecht streitig zu machen. 19

19 Eine differenzierte Sicht des Islam in Westeuropa bietet der Beitrag von Claus Leg-

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Ebensowenig können die Frage nach der Kultur und die Bemühung um ein Verstehen der Kultur des Anderen von vornherein aus der Theologie verabschiedet und an die Ethnologie delegiert werden. Die Ethnologie hat es mit derselben Problematik zu tun. Bei der Begegnung des Feldforschers mit Menschen aus einer fremden Kultur wird dieser unvermeidlich zum beeinflussenden Kontext der anderen. Die Ethnopsychoanalyse, speziell die Untersuchung von George Devereux über „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften", hat dies deutlich gemacht. Devereux schlägt deswegen vor, die Subjektivität des Beobachters, seine Reaktionen in der Begegnung mit dem anderen systematisch zu reflektieren und als Instrument anthropologischer Erkenntnis einzusetzen. 20 Dies erinnert an Gadamers hermeneutische Theorie, die eine systematische Reflexion der eigenen Vorurteile fordert. Für den Umgang von Theologen mit der Kultur des anderen bedeutet dies, daß er verpflichtet ist, die eigenen ideologischen Prämissen, Glaubenseinstellungen und theologischen Uberzeugungen stets von neuem kritisch in Blick zu nehmen, sich zu fragen, wie sie sich auswirken in der Begegnung mit dem kulturell Anderen, wie sie ihn als Kontext beeinflussen. Ebenso sollten die Theologen ihre persönlichen Reaktionen auf den anderen, Nicht-Verstehen, Gefühle von Ablehnung, Befremden, Angst etc. immer wieder wahrnehmen und sich fragen, was sie daraus über sich selbst, ihre eigene Kultur und die Kultur des anderen lernen können. Kontextualität im Hinblick auf die Kultur in der Seelsorge schließt also ein, daß der Seelsorger sich selbst als Kontext seines Klienten einbezieht und umgekehrt diesen als Kontext seiner persönlichen und beruflichen Situation in Betracht zieht. Dies ist eine Grundvoraussetzung kontextuellen seelsorgerlichen Handelns und könnte ein gangbarer Weg sein, um das Problem kultureller Dominanz in Seelsorge und Beratung zu kontrollieren.

1.3. Ziele und methodischer Ansatz der Arbeit Das Hauptziel dieser Arbeit ist es, das Konzept einer kulturell sensiblen Seelsorge und Beratung zu entwickeln. Als kulturelle Sensibilität bezeichnen wir die Fähigkeit, kulturelle Aspekte menschlicher Beziehungen gewie. Der Islam im Westen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 33/1993, 271-292; vgl. Lutherischer Weltbund (Hg). Das Christentum und andere Religionen in Europa, LWB-Dokumentation 37, November 1995; Ders.(Hg). Andere Religionen aus theologischer Sicht, LWB-Dokumentation 41, November 1997. Informationen zum Gespräch mit Vertreterinnen des Islam wurden herausgegeben von der VELKD, EKD (Hg.). Was jeder vom Islam wissen muß. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1990. 20 Georges Devereux. Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, 289 ff.

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wahrzunehmen, ihre Bedeutung für die Entstehung und Lösung von Beziehungsproblemen zu erkennen und sie konstruktiv in der Gestaltung der Beziehungen aufzugreifen. Einen beeindruckenden Entwurf von Theorie und Praxis interkultureller Seelsorge und Beratung hat David W. Augsburger vorgelegt. 21 Er hat den Begriff der „Sensibilität" des „intercultural counselors" gebildet 22 und in einer umfassenden interdisziplinären Pionierarbeit eine Fülle von Material aus nahezu allen relevanten Themenbereichen der Seelsorge zusammengetragen, um ein integriertes Modell interkultureller Beratung zu entwickeln 23 und „culturally capable counselors" auszubilden. Augsburger fordert, daß Seelsorger und Berater sich in der multikulturellen Situation der westlichen Gesellschaften für andere Kulturen öffnen, um aus der Verkapselung in ihre eigene Kultur, deren Werte und Weltsicht, befreit zu werden und sich den Herausforderungen der weltweiten Verbundenheit der Menschen aus verschiedenen Kulturen und Nationen zu stellen: „If we are to continue life on this planet, we cannot exist within isolated cultural, national, or racial boundaries. Industrialization, the communications revolution, the exploding population, and the resultant economic interdependency of all nations have brought us to the point where we are indispensable to one another across all boundaries"24.

Augsburger fordert, daß Theorie und Ausbildung in Seelsorge und Beratung im Ansatz des „sociocultural systems thinking" 25 begründet sind. Sein besonderes Verdienst ist es, die Seelsorgetheologie ins Gespräch mit der Theologie der 3. Welt gebracht und die Grundlagen für einen interkulturellen und interreligiösen Dialog in der Pastoraltheologie gelegt zu haben, an die unsere Arbeit anknüpfen kann. Augsburger entwirft ein Profil oder, besser gesagt, ein Idealbild der interkulturellen Berater. Sie haben Klarheit über ihre eigenen Wertvorstellungen und Grundannahmen, sind fähig, die Weltanschauung der Anderen willkommen zu heißen, sich auf sie einzulassen und sie wertzuschätzen, ohne ihre Legitimität infrage zu stellen. Sie sind sensibel für die Effekte von Rassismus, wirtschaftlicher Ausbeutung, politischer Unterdrückung, geschichtlicher Tragödien, religiöser Vorurteile, kurz, sie erkennen in sozialen und historischen Kontexten eine ebenso wichtige Quelle zur Gestaltung menschlicher Wirklichkeit wie im Handeln der Person. Sie können über das Modell ihrer Seelsorgetheorie, über ihre praktische Ausrichtung und 21 David 1986; ders. 1992. 22 David 23 Ebd., 24 Ebd., 25 Ebd.,

24

W. Augsburger. Pastoral counseling across cultures. Philadelphia: Westminster, Conflict mediation across cultures. Louisville: Westminster John Knox Press, W. Augsburger. Pastoral counseling, 77. 15. 18 f. 14.

ihre Techniken hinausgehen, um in ihrer Praxis „effektiv menschlich" zu sein. In einer eklektischen Haltung arbeiten sie mit verschiedenen Theorien und Instrumenten, weil es darum geht, in Harmonie zum kulturellen Kontext zu handeln. Sie sehen sich selbst als „Weltbürger", die auf alle menschlichen Wesen bezogen, aber auch von allen verschieden sind26. Die Haltung, mit der sie den kulturell Anderen begegnen, wird von Augsburger als „Interpathie" (interpathy) bezeichnet. Während Empathie eine „intentionale affektive Antwort" auf die Gefühle eines Anderen ist, wird Interpathie folgendermaßen definiert: „Interpathy is an intentional cognitive and affective envisioning of another's thoughts and feelings from another culture, worldview, epistemology. In interpathy the process of knowing and ,feeling with' requires that one temporarily believe what the other believes, see as the other sees, value what the other values. In interpathy, I seek to learn a foreign belief, take a foreign perspective, base my thought on a foreign assumption, and feel the resultant feelings and their consequences in a foreign context"27.

An dieser Stelle meldet sich eine doppelte Skepsis: Ist „Interpathie" möglich? Können Menschen die „transspection" lernen, die, so der von Augsburger als Referenz zitierte Philosoph Maruyama, verschieden ist vom analytischen Verstehen und von der Empathie, weil eine Person durch sie versucht, fremde Glaubensannahmen, Perspektiven, Gefühle zu „erfahren" 28 . Wir werden in dieser Arbeit eine grundsätzlich verschiedene Auffassung von interkultureller Kommunikation entwickeln, die aufbaut auf der unüberwindlichen „Fremdheit" des Anderen und unserem „Unverständnis". Der andere Punkt, der Skepsis wachruft, ist das idealisierte Bild der Person interkultureller Seelsorger und Seelsorgerinnen. Am Ende jedes Kapitels zieht Augsburger ein Resümee, in dem er Konsequenzen für ihre theoretische Orientierung, Haltung und Praxis zieht. Dabei kommt ein Katalog von Forderungen zusammen, der so umfassend ist, daß er alle Seelsorgerinnen und Seelsorger überfordern muß. Diese Uberforderung scheint theologische Ursachen zu haben und durch die direkte Anwendung einer inkarnationstheologischen Begründung der Seelsorge auf die Person, die sie ausübt, ausgelöst zu werden: „The pastoral counselor is called to embody grace, to incarnate agape, to flesh out the steadfast love of God . . . God is present for us in those persons and that community which embody grace and enflesh unconditional love. The power of the pastoral is grounded in this experiencing and expression of the presence of God in human relationship. Presence is central to all forms of ministry. Being and doing are inseparable. It is being, which authenticates doing, doing which demonstrates authentic being"29. 26 27 28 29

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

20 f. 31. 30. 38.

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Die aus der Fleischwerdung Gottes in Christus abgeleitete Präsenz Gottes im kirchlichen Amt wird von Augsburger personalisiert und auf die Amtsträger übertragen. Sie repräsentieren in ihrem Sein und Tun die Gegenwart Gottes. Das muß sie überfordern und leistet einem Perfektionismus Vorschub, der unliebsame pastorale Folgen hat: Streß und Dauerbelastung von Amtsträgern, die ständig versuchen, einem Idealbild zu entsprechen; Isolation von der Gemeinde und die Entmündigung der Gemeinde durch die immer weitergehende Professionalisierung der „Hauptamtlichen" 30 . Im Unterschied dazu bemühen wir uns in dieser Arbeit um ein Konzept von Seelsorge und Beratung, das ausgeht von der bleibenden Differenz zwischen Gott und Mensch, Mensch und Mitmensch, die in der Paradoxie der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus auch ausgesagt ist. Sie bedeutet in der Nachfolge der auf den Namen des gekreuzigten Sohnes Gottes Getauften, dessen menschliches Leben Fragment blieb, die Rechtfertigung des „Lebens als Fragment" 31 . Die Annahme der strauchelnden, sich verfehlenden und scheiternden Menschen durch Gott hilft uns, zu akzeptieren, daß wir von vorneherein auch in der interkulturellen Seelsorge nicht mehr als Stückwerk, Fragmente des Verstehens und der Hilfe zustande bringen. Sie entlastet uns davon, mehr zu verlangen. Das demotiviert nicht, es befreit und gibt der Gemeinde der ehrenamtlichen Mitarbeiter eine Chance. In dieser Arbeit soll die These vertreten werden, daß die Kultur ein Faktor ist, der jeden Seelsorge- und Beratungsprozeß von Grund auf prägt. Seelsorge und Beratung werden ihrem Auftrag nur gerecht, wenn sie sich auf die kulturelle Diversität der postmodernen Gesellschaften einlassen, die kulturelle Bedingtheit des Verhaltens von Klienten, Seelsorgern und Beratern bewußt wahrnehmen und mit ihr im Seelsorgeund Beratungsprozeß aktiv arbeiten. Dabei sollen Seelsorge und Beratung als zwei aufeinander bezogene und voneinander abhängende Formen der kirchlichen Bemühung um das menschliche Leben verstanden werden. Wir definieren Seelsorge als befreiende Hilfe zur christlichen Lebensgestaltung durch die christliche Gemeinde für ihre Mitglieder und für die Außenstehenden, die sie suchen. Sie hat eine physische, psychische, soziale und spirituelle Dimension, umfaßt also die Gesamtheit des menschlichen Beziehungserlebens in verschiedenen Kontexten, die Beziehung des Menschen zu sich selbst, zu den anderen und zu Gott. Seelsorge ist eine Dimension des Lebens der christlichen Gemeinde und geschieht in vielfältiger Weise im alltäglichen Zu30 Vgl. dazu Reinhard Schmidt Rost. Seelsorge zwischen Amt und Beruf: Studien zur Entwicklung einer modernen evangelischen Seelsorgelehre seit dem 19. Jahrhundert, Göttingen, 1988. 31 Vgl. Henning Luther. Leben als Fragment. In: Ders., Religion und Alltag: Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts. Stuttgart: Kohlhammer, 1992.

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sammenleben, in dem sich Menschen in der Gemeinde begegnen, über Themen und Probleme ihres Lebens kommunizieren, sich beistehen, trösten, orientieren und herausfordern. Mit dem Begriff der „christlichen Lebensgestaltung" fassen wir die Aufgabe der Seelsorge bewußt weit. Sie umfaßt die Lebensbewältigung im Alltag ebenso wie die gezielte Verarbeitung von Krisen und Konflikten im Lebenszyklus. Das Moment der „Gestaltung" betont, daß es in der Seelsorge in besonderer Weise darum geht, Einzelne, Familien und Gruppen zu konstruktiven Verhaltensänderungen zu befähigen, die von ihnen als verantwortlich handelnden , Subjekten' auf der Grundlage ihrer weltanschaulichen Einstellung und in Auseinandersetzung mit Elementen des christlichen Glaubens gewählt werden. Grundlage und Ziel der Seelsorge ist die in der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade zugesprochene christliche Freiheit zu einem schöpferischen Leben in der Gemeinschaft mit anderen Menschen und mit der Natur. Gerade dieses Zentrum der christlichen Botschaft kann jedoch nicht unabhängig vom kulturellen und sozialen Kontext formuliert werden. In Seelsorge und Beratung vollzieht sich ein Dialog aller Betroffenen, in dem geklärt wird, wie der christliche Glaube, wie Rechtfertigung, Freiheit, Gerechtigkeit in der jeweiligen Kultur, in der sozialen Situation und im jeweiligen Einzelfall zu verstehen sind. Als Dimension gemeindlichen Lebens ist Seelsorge in allen anderen Lebensäußerungen der christlichen Gemeinde, in Gottesdienst, Predigt, Erziehung und Unterricht, in der Mission, Diakonie und im organisatorischen Handeln präsent. Umgekehrt können in Seelsorge und Beratung auch die gottesdienstliche, pädagogische, missionarische und diakonische Dimensionen des Gemeindelebens zum Tragen kommen, etwa in der Beichte, im Gebet, Gesang, Information und Belehrung, dem Erzählen biblischer Geschichten etc. Seelsorge fällt in den Verantwortungsbereich aller Gemeindeglieder. Sie ist keine exklusive Angelegenheit von ausgebildeten Spezialisten. Ihre soziale Basis ist die menschliche Kommunikation, ihr Spezifikum ist die Bemühung um ein glaubendes Verstehen der Themen und Konflikte des Lebens im Dialog mit der jüdisch-christlichen Uberlieferung. Als befreiende Hilfe zur christlichen Lebensgestaltung steht die Seelsorge der Diakonie nahe, die ihrerseits den aus dem Amt der Verkündigung des Evangeliums hervorgehenden ganzheitlichen Dienst am notleidenden Nächsten in den Mittelpunkt stellt. Diakonische Lebenshilfe zielt darauf ab, das physische, psychische und soziale Wohl des Nächsten durch das informelle oder organisierte helfende Handeln der Gemeindeglieder, durch professionelle Hilfe in der Gemeinde und in diakonischen Institutionen, sowie durch die politische Vertretung der Rechte der sozial Benachteiligten und Marginalisierten zu fördern. Die Seelsorge hingegen stellt die konkrete christliche Lebensgestaltung in den Mittelpunkt, das heißt: sie arbeitet vorwiegend an den Beziehungen der Menschen und sucht mit ihnen Wege, im Verhältnis zu Gott, zu sich selbst und zu den Nächsten ein Verhalten zu 27

finden, das ihren eigenen Bedürfnissen und Glaubenshaltungen entspricht und die kritische Reflexion über die soziale Situation bewußt einbezieht. Seelsorge und Diakonie müssen speziell in Situationen der Armut und elementarer Bedrohung des menschlichen Wohls eng zusammenarbeiten. Beratung ist eine organisierte Form der Seelsorge, in der eigens dafür vorbereitete Gemeindeglieder durch das Gespräch und andere methodisch reflektierte Weisen der Kommunikation die Aufgabe der befreienden Hilfe zur Lebensgestaltung wahrnehmen. Ihre Zielsetzung unterscheidet sich nicht von der der Seelsorge. Sie ist als formal organisiertes Handeln in der Gemeinde notwendig, weil die Komplexität von Lebenskonflikten die Kapazität und Kompetenz der alltäglichen informellen Hilfeleistung der Gemeindeglieder übersteigt. Sie darf jedoch vom Zusammenhang mit dem alltäglichen Zusammenleben in der Gemeinde nicht getrennt werden, denn mit dem Gemeinschaftsbezug verliert sie ihren inhaltlich prägenden seelsorgerlichen Kontext und Ressourcen, die durch die Einbindung in das soziale Netz zur Verfügung gestellt werden. Das hier skizzierte Verhältnis von Seelsorge und Beratung nimmt die alte Unterscheidung von cura animarum generalis und cura animarum specialis wieder auf. Beratung als spezielle Seelsorge kann nicht von der generellen Seelsorge, die informell im Zusammenleben in der Gemeinde geschieht, getrennt werden. Beratungsarbeit in Europa und in den USA vollzieht sich oft nach den sozialen Regeln, nach denen die Psychotherapie in diesen Gesellschaften organisiert ist. Beratung ist dadurch zu einer vom Gemeindeleben isolierten sozialen kirchlichen Dienstleistung geworden. Mitarbeiter und Klienten in der Beratung haben oft keinen Bezug mehr zur Gemeinde und verstehen Beratung eher als säkulare therapeutische Hilfe in kirchlicher Trägerschaft. Dies ist ein stark von der säkularen westlichen Kultur geprägtes Modell der Organisation von Beratung, in dem sich das oft distanzierte Verhältnis der Menschen zu Religion und Kirche niederschlägt. In der Beratung als anonymer sozialer Dienstleistung sucht die christliche Gemeinde die Kontaktaufnahme mit Menschen, die ihr fernstehen. Durch die konkrete Hilfeleistung erweist sie in gewisser Weise ihre soziale Relevanz. Den dem Arbeitgeber Kirche' oft eher distanziert gegenüberstehenden Mitarbeitern gelingt es jedoch kaum, den christlichen Glauben und den Bezug zum Zusammenleben in der Gemeinde als einen zentralen Aspekt der Lebensbewältigung und Lebensgestaltung zur Geltung zu bringen. In dieser Arbeit wird die These vertreten, daß die Organisation der Beratung als einer Form der Seelsorge im kritischen Dialog mit den kulturell vorgegebenen Formen des helfenden Handelns und mit dem ihnen eigenen Diskurs bestimmt werden muß. Die Inkulturation des Evangeliums bezieht sich nicht nur auf den Inhalt des christlichen Diskurses, sondern auch auf die konkrete Gestalt der helfenden Beziehung. Kirchliche Beraterinnen und Berater müssen die in ihrer jeweiligen Kultur angemessenen Formen der Strukturierung der Beratungsbeziehung und die angemessenen Interventionsformen herausfinden und mit ihnen verantwortlich arbeiten. 28

Unsere Suche nach einem Modell kulturell sensibler Seelsorge und Beratung geht aus vom Kontext der Beratungsarbeit in Lateinamerika. Ihre empirische Basis ist ein Projekt mit dem Titel „Beratung von Familien mit niedrigem Einkommen in einem Land der 3. Welt", das der Autor in den Jahren zwischen 1994-1998 zusammen mit einer Doktorandin in Säo Leopoldo im Süden Brasiliens durchgeführt hat. Wir haben in einem Beratungszentrum mit Familien aus der Unterschicht und aus der unteren Mittelschicht gearbeitet, die in dem mehr als 2 Millionen Einwohner zählenden städtischen Ballungsraum von Porto Alegre oder in der angrenzenden ländlichen Region leben. Viele dieser Familien sind Migranten, die auf der Suche nach einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen vom Land in die Großstadt gezogen sind. Unser Interesse richtet sich darauf, Elemente einer kulturell sensiblen Beratung zu finden und sie in ein Beratungsmodell zu integrieren, das in erster Linie Gemeinden in Lateinamerika hilft, in einem vom kulturellen Pluralismus, von Armut und massiven sozialen Problemen gekennzeichneten Lebenszusammenhang kulturell adäquate, theologisch qualifizierte und effektive Beratungsarbeit zu leisten. Wir werden jedoch zeigen, daß grundlegende Aspekte auch in der gemeindlichen Seelsorge und Beratungsarbeit den kulturell anderen in Europa greifen. Im interkulturellen Dialog, der vor allem im ökumenischen Rat der Kirchen verstärkt geführt wird, wird das Verhältnis von Evangelium und Kultur aus der Sicht der Kirchen der 3. Welt in einer Weise reformuliert, die für Christen in Deutschland aufgrund ihrer Geschichte im 3. Reich ungewöhnlich und provokant ist. Wir sind herausgefordert, das Verhältnis von Evangelium und Kultur neu zu bedenken. Das in diesem Buch entwickelte ökologische Modell einer kulturell sensiblen Seelsorge erhebt den Anspruch, auch für die Kirchen in Europa relevant zu sein. In ihm verbinden sich das aus der Familientherapie kommende systemisch ökologische Denken mit Ansätzen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, der feministischen Theologie, der interpretierenden Kulturanthropologie und der Theorie des sozialen Konstruktivismus. Es ist das Resultat eines interkulturellen Dialogs, der lateinamerikanische Erfahrungen und Denkansätze ins Gespräch bringt mit der deutschen und nordamerikanischen Pastoraltheologie. Ohne das Uberschreiten von Sprach- und Kulturgrenzen hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können. Ein Großteil der Literatur zum Thema Seelsorge, Beratung und Kultur wurde in den USA und in Europa verfaßt und ist geprägt von den Schwierigkeiten ethnischer Integration in weltweiten Migrationsprozessen Wir müssen uns zunächst mit den auf der Nordhalbkugel gewonnenen Theorien und Erkenntnissen auseinandersetzen und dabei kritisch untersuchen, inwieweit die Forschungsergebnisse für die Seelsorge und Beratungsarbeit in der Realität von Ländern der 3. Welt hilfreich und dienlich sind. Die hier vorgelegte Untersuchung bietet darum eine Analyse von Theorieelementen, die zur Entwicklung des Konzepts kulturell sensibler Seel29

sorge und Beratung herangezogen werden können. Nach einer Klärung des Kulturkonzepts, mit dem wir arbeiten wollen und einer vorläufigen Situierung des Themas im Rahmen der kulturellen Situation in Lateinamerika (Kapitel 2), stellen wir die sozio-kulturelle Situation von Familien in der lateinamerikanischen Popularkultur dar (Kapitel 3 und 4). Danach werden wir intensiv der theologischen Frage nach der Beziehung von Evangelium und Kultur nachgehen (Kapitel 5) und verschiedene psychologische und psychotherapeutische Ansätze daraufhin untersuchen, was sie zum Thema beitragen. Die nordamerikanische Beratungsliteratur im Bereich der cultural psychology unà des cross cultural counseling (Kapitel 6) werden generell befragt, inwiefern sie als Instrument einer kulturell sensiblen Seelsorge und Beratung dienen können. Im einzelnen werden Elemente dargestellt, die für die Praxis bedeutsam und hilfreich sein können. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf die Bedeutung des Zusammenhangs von Kultur und Familie im Beratungsprozeß gelegt (Kapitel 7). Den Abschluß dieses Bandes bildet der Entwurf eines systemisch-ökologischen Konzepts kulturell sensibler Seelsorge und Beratung (Kapitel 8). Die empirische Basis unserer Arbeit beschränkt sich auf die Familienberatung. Im Brennpunkt der theoretischen Grundlegung stehen darum Beiträge aus Familientherapie und Familienberatung. Diese Arbeit beansprucht also nicht, das gesamte Feld der Auseinandersetzung von Psychologie, Psychotherapie und Beratung mit dem Thema „Kultur" zu erarbeiten. Am Beispiel der Familienberatung im Süden Brasiliens soll der Zusammenhang von Seelsorge, Beratung und Kultur im Hinblick auf ein tragfähiges Praxismodell untersucht werden. Der Umgang mit der theologischen, psychologischen und psychotherapeutischen Literatur ist deshalb selektiv und zielt auf die theoretische Begründung des Praxismodells. Der deutsche Leser, der sich nicht unmittelbar in Details kulturell bedingter Beratungsprozesse in Lateinamerika vertiefen will, kann sich derart einen theoretischen Uberblick verschaffen und wird dazu eingeladen, sich zu fragen, welche der dargestellten Theorie- und Praxiselemente für eine kulturell sensible Seelsorge und Beratung in seinem jeweiligen Kultur- und Praxiszusammenhang wichtig sind. Aus dem bisher Gesagten ist schon deutlich geworden, daß Seelsorge und Beratung in einen interdisziplinären Zusammenhang gebracht werden. Interdisziplinarität, verstanden als Zusammenarbeit verschiedener wissenschaftlicher Fachbereiche im Hinblick auf ein gemeinsames Thema oder einen Praxisbereich, ist eine praktische und theoretische Notwendigkeit für Seelsorge und Beratung. Praktisch erfahren Seelsorgerinnen und Beraterinnen täglich, daß sie im Umgang mit den ihnen anvertrauten Menschen an Grenzen ihrer Kompetenz stoßen. Sie sind zum Verständnis der Situation auf Erkenntnisse aus anderen Disziplinen, auf das Wissen der anderen angewiesen. Das bedeutet, daß sie zum Beispiel mit Spezialisten aus Medizin, Psychologie, Soziologie und Anthropologie zusam30

menarbeiten müssen, also in ein interdisziplinäres Gespräch eintreten. Es bedeutet auch, daß sie, um kompetent handeln zu können, sich Wissen aus den anderen Disziplinen aneignen müssen. Es ist wichtig festzuhalten, daß heutzutage etwa Kurse für Laienseelsorger, ganz gleich ob sie in Deutschland, Nordamerika oder Lateinamerika stattfinden, mit psychologischen Ergebnissen zum Beispiel der Trauerforschung, der Krisen- oder der Familienpsychologie arbeiten. Das verführt dazu, anzunehmen, es wäre möglich, mit einem transkulturell feststehenden Satz an psychologischen Erkenntnissen etwa über die Phasen des Trauerprozesses oder den Zyklus des familiären Lebens zu arbeiten. Die Kulturunterschiede verurteilen ein solches Unternehmen jedoch zum Scheitern. Stets muß im einzelnen überprüft werden, inwieweit die psychologischen Konzepte aus verschiedenen Kulturen übersetzbar sind und wie Menschen aus einer Kultur sich ihre eigene, indigene Psychologie entwerfen. Die Forschung im Bereich der indigenen Psychologie, das heißt der psychologischen Deutungssysteme der Popularkulturen steckt noch in den Anfängen. Deshalb haben wir uns entschieden, einen methodischen Weg zu gehen, der es uns erlaubt, das meist im Kontext der 1. Welt in verschiedenen Disziplinen angesammelte Wissen zu unserem Thema einerseits als Raster zu benutzen, das uns hilft, die Diskurse von Familien und Beratern in der Familienberatung in Lateinamerika zu interpretieren. Eine kritische Konfrontation der Narrativen des Beratungsprozesses mit den theoretischen Konzepten wird uns andererseits aber auch helfen, deren Grenzen wahrzunehmen und darauf zu achten, wo Verzerrungen und Uberlagerungen stattfinden, wo es zu kulturell bedingten Mißverständnissen und Fehlinterpretationen bis hin zur Unterdrückung des kulturell anderen kommt. Neben der unleugbaren praktischen Notwendigkeit gibt es auch eine im theologischen Selbstverständnis von Seelsorge und Beratung angelegte Tendenz zur Interdisziplinarität. Werden ein trinitarisches Gottesverständnis und die im Symbol der Fleischwerdung des Wortes Gottes in Jesus Christus ausgesagte Verbindung von göttlicher und menschlicher Wirklichkeit, die die Zweinaturenlehre als „unvermischt und ungetrennt" deklariert, zum Ausgangspunkt der Reflexion, so muß die Differenz des Evangeliums von Jesus Christus und der geschöpflichen Wirklichkeit theologisch gedacht werden. Die geschöpfliche Wirklichkeit ist der Raum, in den das Erlösungswort hineingesprochen und für den es gesprochen wird. Sie steht ihm jedoch als eine Realität sui generis gegenüber. Die geschöpfliche Wirklichkeit meldet sich mit ihren eigenen Stimmen zu Wort, die neben dem Wort Gottes in Jesus Christus zur Sprache kommen. Die Stimmen der humanwissenschaftlichen Disziplinen können in diesem Sinne von den Theologen als eigenständige, wenn auch aus theologischer Sicht nicht autonome geschöpfliche Diskurse gehört werden. Sie werden nicht unter das Joch eines monistischen theologischen Diskurses gezwungen - das wäre eine Wiederholung des alten Domi31

nanzmodelles im Verhältnis von Theologie und ihrer Magd, der Philosophie, der weltlichen Wissenschaft überhaupt. Wir verstehen das Verhältnis der Theologie zu den Disziplinen der Humanwissenschaft als wechselseitigen kritischen Dialog eigenständiger Partner. Die Theologie fordert von den Humanwissenschaften ein, daß sie darauf verzichten, absolute Wahrheit für ihre Erkenntnisse zu beanspruchen. Umgekehrt begrenzt sie sich ebenfalls darauf, eine bestimmte Perspektive auf die Wirklichkeit, die als solche nicht zugänglich ist, zur Geltung zu bringen. Sie tritt ein in ein Gespräch, in dem interpretative Wirklichkeitskonstruktionen aufeinander bezogen werden. Aus ihrer Sicht deutet die Theologie die Verbindung von Schöpfung und Erlösung, das Zusammenspiel der geschöpflichen Stimmen der Wissenschaft mit dem Wort der Verkündigung des Evangeliums als ein Werk des heiligen Geistes. Sie kann daher die Kulturschöpfungen der Wissenschaft, um an ein zentrales Konzept Paul Tillichs zu erinnern, als theonom, als der göttlichen Wirklichkeit entsprechend, interpretieren, ohne ihnen darum Gewalt anzutun oder ihre Eigenständigkeit zu rauben. 32 Die Entscheidung für die Familienberatung als empirische Basis der Untersuchung über das Verhältnis von Seelsorge und Kultur hat kulturelle und methodische Gründe. In den lateinamerikanischen Kulturen erscheint das Individuum stets eingebettet in die Familie. Stärker als in anderen Kulturen ist die Großfamilie ein für das Uberleben ebenso wie für die Gestaltung des täglichen Lebens zentrales soziales System. Diese Tatsache geht zurück auf den iberischen Katholizismus, der die Einbindung in die patriarchalische Familie zur Norm erhoben hat, ist zugleich aber auch das Ergebnis einer Geschichte, in der die Mehrheit der Menschen über weite Strecken in großer sozialer Unsicherheit lebte und der Einzelne sich nicht auf staatliche Sicherungssysteme verlassen konnte. Dieser Zustand dauert bis in die Gegenwart an, in der die Industrialisierung auch der Landwirtschaft und das neo-liberale Wirtschaftssystem einerseits eine enorme Flexibilität und Mobilität von den Menschen verlangen, andererseits jedoch keine ausreichenden sozialen Sicherungen von seiten des Staates oder der Wirtschaft angeboten werden. Für die Mehrheit der Bevölkerung bildet die Familie das soziale Netz, das sie im Krankheitsfall, bei Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit und im Rentenalter hält. Die Familie als zentrales soziales Sicherungssystem wird in den Ländern Lateinamerikas zunehmend belastet, weitgehend ohne entsprechende soziale Hilfeleistungen zu empfangen. Sie ist durch die sozialen und wertethischen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte auch zunehmend unter Druck geraten. Das zeigt sich in einer erhöhten Scheidungsrate, in der Abnahme der Eheschließungen, der Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften, die einen stärker pas32 Zum Verhältnis von Theologie und Humanwissenschaften vgl. Christoph SchneiderHarpprecht. Aconselhamento Pastoral. In: Ders. (Hg.). Teologia pràtica no contexto da América Latina. Säo Leopoldo: Ed. Sinodal, 1998, 314 f.

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sageren Charakter haben, auch in der Zunahme der Haushalte, die von Frauen und Kindern gebildet werden. 33 Die Familie ist zunehmend von Fragmentation bedroht, nimmt jedoch in den lateinamerikanischen Gesellschaften und im Selbstverständnis der Bevölkerung nach wie vor elementare Sicherungsaufgaben wahr. Seelsorge und Beratung in Lateinamerika können nicht umhin, das Individuum zuerst als Teil seiner Familie zu betrachten. Die Lebens- und Beziehungsprobleme, mit denen sie arbeiten, stehen in sehr vielen Fällen im Zusammenhang mit der Armutsproblematik, welche die Menschen auf die Familie zurückwirft, die Familien jedoch zugleich immer tiefer in die Krise treibt. Darum gibt es keine andere Wahl, als daß Seelsorger und Berater die Arbeit mit Familien im Rahmen der Gemeinde in den Mittelpunkt stellen. Sie müssen sich dessen bewußt sein, daß sie damit auch an die lateinamerikanische Tradition des „Familismus" anknüpfen, die davon ausgeht, daß Mitglieder einer Familie sich gegenseitig stützen und verteidigen - Nepotismus und Korruption in Politik, Verwaltung und Wirtschaft sind die lähmenden Auswüchse dieser Einstellung. Die Beratungsarbeit mit Familien bewegt sich auch in diesem Feld, sie knüpft jedoch vor allem an die bare Notwendigkeit und die blanke Not an, die Frauen und Kinder meist härter betrifft als Männer. D e r Gedanke der Einbindung des Individuums in ein Ganzes ist ein Grundgedanke der systemischen Familientherapie, die Grundsätze der allgemeinen Systemtheorie, der Kybernetik und der Kommunikationstheorie auf die familiären Beziehungen anwendet. Wir werden in dieser Arbeit in starkem Maße auf Ergebnisse der systemischen Familientherapieforschung zurückgreifen. Dabei soll ein besonderes Augenmerk auf die von den Vertretern des radikalen Konstruktivismus eingeführte T h e o rie der lebenden Systeme gerichtet werden, die uns helfen wird, den Prozeß der interkulturellen Kommunikation theoretisch zu erfassen. Elemente der strukturellen Familientherapie Salvador Minuchins und der narrativen Therapie von Michael White, David Epston und anderen werden herangezogen, um die kulturellen Konstruktionen im Beratungsprozeß einmal aus der Sicht der Familienmitglieder und zum anderen aus einer von außen kommenden Perspektive zu interpretieren. Die systemtheoretische Perspektive betont den Zusammenhang der Systeme und mündet in eine ökologische Einbindung von Individuen, Familien, Gruppen, Gemeinden und Kirchen in einem Netz von Subsystemen. Seelsorge und Beratung können nicht mehr unabhängig von den sozialen und politischen Zusammenhängen gedacht werden. 34

33 Vgl. dazu die Statistiken in: Instituto Brasileiro de Geografía e Estetistica (IBGE). Anuario Estetistico do Brasil - 1996, Tabela: 2.1 2.12; 2.14; 2.16; 2.18 (publiziert als CD-ROM). 34 Die Notwendigkeit einer Öffnung der therapeutischen Seelsorge und der Pastoralpsychologie für den Kontext der Gesellschaft wird in der deutschen Seelsorgediskussion vehement von Isolde Karle eingeklagt (Isolde Karle. Seelsorge in der Moderne: Eine Kritik

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der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1996). Sie weist darauf hin, daß die pastoralpsychologisch orientierte Seelsorge individuumzentriert bleibt und auch die Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Individualpsychologie wahrnimmt, also die Dynamik sozialer Systeme und ihren Beitrag zur Konstruktion der Identität, der sozialen Beziehungen, der Geschlechtsrollen, der sozialen und familiären Problemlagen nicht ausreichend erfaßt und „naiv die unrealistischen Selbstdeutungsmuster der Moderne" (ebd., 213) übernimmt. Karle fordert eine „soziologisch sensible Poimenik" (ebd., 218), die „sich in Theorie und Praxis um eine soziologische Aufklärung bemühen [wird] und mit einem soziologisch sensiblen Instrumentarium die gesellschaftsstrukturelle Seite moderner Problemlagen und die Verflochtenheit individueller und sozialer Entwicklung zu erfassen" sucht (ebd., 213). Karies soziologische Analysen greifen die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die Theorie des sozialen Konstruktivismus auf. Vor allem ihre Analyse der sozialen Kommunikation, die ausgeht vom Konzept der Autopoiesis sozialer Systeme und die Wahrnehmung nicht als „adäquate Widerspiegelung der äußeren Welt", sondern als „systemwfeme Konstruktion einer systemex/eraen Welt" begreift (ebd., 128), stimmt mit der von mir vertretenen Sichtweise weitgehend überein. Folgerichtig plädiert Karle dann auch für eine Ö f f n u n g der Seelsorge für systemische Therapieformen (ebd., 156 ff.). Ihre Beschreibung von Seelsorge als „Störung" der Regelkreise eingeschliffener Interaktion durch religiöse Kommunikation ist jedoch nicht ausreichend, weil sie es vermeidet, die speziellen Kenntnisse der systemischen Familientherapie aufzugreifen und einzusetzen. Praktisch werden keine wesentlichen Neuerungen anvisiert, vielmehr wird die bestehende Praxis des pastoralen Hausbesuches als Möglichkeit des systemischen Eingreifens und die Begleitung Sterbender als vom gegenwärtigen Gesellschaftssystem ausgeblendete und darum sozial geforderte Aufgabe von Seelsorge vorgeschlagen. Damit läuft Seelsorge Gefahr, sich auf das zu beschränken, was ohnehin gemacht wird und der gute Ansatz einer gemeindepsychologisch orientierten Seelsorge wird nicht recht fruchtbar gemacht. Anstatt einer weiteren „Differenzierung von Beratung und Seelsorge", also einer Vertiefung des Grabens zwischen Spezialisten und Laien, zu denen dann auch die Pastorinnen gehören, das Wort zu reden, sollte das Potential der Gemeinde als soziales Netzwerk genutzt werden, in dem die beraterische Kompetenz der Laienseelsorgerlnnen zum Tragen kommt und gefördert wird. Der politische Kontext der Seelsorge wird trotz der scharfen Erfassung der Problematik der Geschlechtsidentität nicht vertieft. Weiterführend ist hier die nordamerikanische Diskussion: vgl. Jeanne Stevenson Moessner (Ed.). Through the Eyes of Women: Insights for Pastoral Care. Minneapolis: Fortress Press, 1996; Pamela D. Couture, Rodney J. Hunter (Eds.). Pastoral Care and Social Conflict Nashville: Abingdon, 1995; Larry Kent Graham. Care of Persons, Care of Worlds. A Psychosystems Approach to Care and Counseling. Nashville: Abingdon, 1992.

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2. Kapitel: Was bedeutet „Kultur"? Versuch einer Begriffsklärung und Standortbestimmung 2.1. „Kultur* in ethnologischer und kulturanthropologischer

Sicht

2.1.1. Die evolutionistische, funktionalistische und kulturhistorische Bestimmung des Kulturbegriffs Kultur mutet einem auf den ersten Blick wie ein Allerweltsbegriff an. Er kann als universale Chiffre für alle Aspekte von menschlichem Erleben und Handeln stehen. Kultur umfaßt die Opern Mozarts oder Wagners ebenso wie Methoden des Ackerbaus vom Ochsenpflug bis zur maschinellen Agrarindustrie. Sie erstreckt sich auf Sprache, Schrift, Literatur, Religion, moralische Wertsysteme, handwerkliche Techniken, Rollenverständnis usw. Diese Universalität des landläufigen Kulturverständnisses verführt dazu, sich im Uferlosen zu verlieren und konkrete Ansatzpunkte der Forschung zu verlieren. Was soll zum Beispiel im einzelnen in einer Studie über Seelsorge und Kultur verhandelt werden? Jede Liste von notwendig zur Kultur zu zählenden Elementen ist wegen der Universalität des Themas unzureichend. Verschiedene Forscher sind darum selektiv vorgegangen und haben in dem von ihnen gewählten Kulturverständnis die Elemente ausgewählt, die für ihren Bereich, etwa das Geschäftsleben oder die Kommunikation wichtig waren. 1 Wir müssen also nicht nur eine Definition von Kultur finden, die für unsere Zwecke sinnvoll ist. Darüber hinaus stehen wir vor der Aufgabe, einzelne Aspekte der Kultur auszuwählen, auf die wir den Schwerpunkt legen wollen. Wer sich in die ethnologische und kulturanthropologische Diskussion des Kulturbegriffs vertieft, läuft Gefahr sich im Dickicht der Definitionen zu verlieren. Die Anthropologen Kroeber und Kluckhohn haben in einer kritischen Durchsicht des Kulturkonzepts zu Beginn der 50-er Jahre einige hundert Definitionen, Aussagen und Verwendungen des Begriffs aufgeführt. 2 So wird es einem schwer, sich zurechtzufinden. 1 Larry A. Samowar/Richard E. Porter. Communication between cultures. Belmont, California: Wadsworth, 1991, 54. 2 A. L. Kroeber/Clyde Kluckhohn. Culture: A critical review of concepts and definitions. In: Harvard University Peabody Museum of American Archeology and Ethnology Papers 47, 1952, 181.

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Mit dem Ziel, eine für die Erforschung des kulturellen Aspekts von Seelsorge und Beratung hilfreiche Definition zu finden, bemühen wir uns, einige Schneisen ins Gestrüpp zu schlagen und uns einen kleinen Überblick über verschiedene Grundpositionen des Kulturverständnisses zu verschaffen. Seit Johann Gottfried Herder in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1787-1791) das Wissen von der Natur, den Kulturen und der Geschichte des Menschen zu einem Gesamtbild zusammengefügt hat, ist die Erforschung des Menschen und seiner Kultur in eine Vielzahl von Disziplinen zerfallen. 3 Die im 19. Jahrhundert aufkommende ethnologische Literatur stand unter dem Einfluß des Positivismus, der darwinschen Evolutionstheorie und der materialistischen Gesellschaftstheorie des Marxismus. Die Evolutionisten bemühten sich, teilweise durch pseudohistorische Rekonstruktionen, den Ursprung von Kultur und Gesellschaft in der Evolution zu klären und universal gültige Stadien der Kulturentwicklung herauszuarbeiten. Sie standen oft unter dem Einfluß heute nicht mehr haltbarer biologisch deterministischer Gedanken, die den Einfluß der Rasse und anderer Erbfaktoren für die Kulturentwicklung geltend machten, oder unter dem Einfluß eines geographischen Determinismus, der die Einwirkung von Umweltfaktoren, vor allem des Klimas, auf die Kultur behauptete. 4 Das evolutionistische Denken hat sich auch bei Marx und vor allem in Engels Schrift über den „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" durchgesetzt. Die geschichtsmaterialistische Anthropologie verband es mit der grundlegenden These, daß „die Menschen selber Produzenten ihres Verhältnisses zur Natur und ihrer sozialen Beziehungen sind." 5 Der Evolutionist Edward Burnett Tylor hat im ersten Lehrbuch der Ethnologie eine bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einflußreiche Definition von Kultur gegeben. Er sagt: „Kultur - im weitesten ethnographischen Sinn des Wortes - . . . ist jenes komplexe Ganze, das Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Recht, Sitte, Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten umfaßt, die der Mensch als Mitglied einer Gesellschaft erworben hat. Die Art der Kultur verschiedener menschlicher Gesellschaften ist, wenn sie nach allgemeinen Prinzipien untersucht wird, ein

3 Johann Gottfried Herder. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: H. Kurz (Hg.). Herders Werke Bd. 3. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, o.J. Vgl. Wolfdietrich Schmidt-Kowarzik. Philosophische Überlegungen zum Verstehen fremder Kulturen und zu einer Theorie der menschlichen Kultur. In: Ders./Justin Stagi (Hg.). Grundfragen der Ethnologie. Beiträge zur gegenwärtigen Theorie Diskussion. Berlin: Reimer, 1980, 350. 4 Roque de Barros Laraia. Cultura. Um Concetto Anthropológico. 3. Aufl. Rio de Janeiro: Jorge Zahar Editor, 1986, 17 ff.; 21 ff. 5 Wolfdietrich Schmidt-Kowarzik. Philosophische Überlegungen, 352 f.

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Gegenstand, der die Erforschung der Gesetze menschlichen Denkens und Handelns ermöglicht"6

Diese Kulturkonzeption ist deskriptiv. 7 Kultur ist die Summe der verschiedensten Aktivitäten des Menschen in der Gesellschaft, ein offenes System, das sich jeweils unterschiedlich ausprägt und in dem sich die Gesetzmäßigkeiten menschlicher Aktivität entdecken lassen. Die evolutionistische Sicht kommt nicht explizit zum Ausdruck. Sie würde auch eher eine explikative Definition von Kultur erwarten lassen, die Aussagen über bedingende Faktoren der Kultur oder zumindest der Kulturerkenntnis macht. Explikative Definitionen zielen darauf ab, die Kulturphänomene zu erklären und Voraussagen über ihre weitere Entwicklung, etwa ihre Verbreitung und Wandlung in verschiedenen Gruppen und Regionen zu machen. 8 Ein Beispiel für eine explikative evolutionistische Definition wäre etwa folgende Aussage: „Mit ,Kultur' meinen wir jene historisch entstandenen selektiven Prozesse, die die Reaktionen der Menschen auf interne und externe Stimuli lenken."'

Diese Definition geht aus von einem komplexen Interaktionszusammenhang zwischen Individuum und Umwelt. Im Stile des Behaviorismus wird menschliches Verhalten als durch interne und externe Stimuli motiviertes und kontrolliertes Verhalten aufgefaßt, die in einem Prozeß der Auslese bestimmen, welche Verhaltensweisen sich in einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft durchsetzen. Es ist offensichtlich, daß dabei die soziale Umwelt, das heißt die schon existierenden Kulturen, die sich historisch entwickelt haben, determinierend wirken. Im frühen 20. Jahrhundert hat der Funktionalismus, vertreten von Malinowski, Radcliffe-Brown und dem Begründer der nordamerikanischen Cultural Anthropology Franz Boas, gegen den Evolutionismus die Interpretation von Kulturelementen im Hinblick auf das Ganze der Kultur ins Zentrum gerückt und die Bedeutung der Feldforschung betont. Jedes Element der Kultur erhält seinen „Sinn erst in bezug auf das Ganze." 10 Mythen und Riten müssen also funktional in Bezug auf Wirtschaftsweisen, Kindererziehung usw. interpretiert werden, während geschichtliche 6 Zitiert nach Marvin Harris. Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch. Frankfurt am Main, New York: Campus, 1989, 20. 7 Die Unterscheidung von deskriptiver und explikativer Kultur findet sich bei Clyde Kluckhohn/William H. Kelley. Das Konzept der Kultur. In: René König (Hg.). Kulturanthropologie. Düsseldorf, Wien: Econ Verlag, 1972, 68-91. In diesem kreativen und instruktiven Aufsatz werden verschiedene Kulturdefinitionen und Grundprobleme des Themas in Form einer fiktiven Diskussion zwischen Anthropologen und Vertretern anderer Wissenschaften verhandelt. 8 Ebd., 73 f. 9 Ebd., 73. 10 Josef Franz Thiel. Grundbegriffe der Ethnologie. Vorlesungen zur Einfiihrung. Berlin: Reimer, o.J., 22.

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Zusammenhänge oft zurücktreten. Die englischen und nordamerikanischen Funktionalisten verstanden ihre ethnologische Arbeit als einen Beitrag zur Anthropologie. Sie benutzten Cultural Anthropology als äquivalente Bezeichnung für das, was im deutschsprachigen Raum „Ethnologie" genannt wurde. Wir gebrauchen in dieser Arbeit beide Begriffe als Synonym, reden also, je nach Zusammenhang, von „Ethnologie" oder „Kulturanthropologie" oder schlicht „Anthropologie". Die kulturhistorische Richtung der Ethnologie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Entstehung und Verbreitung der Kultur historisch aufzuklären. Sie will „aus der rezenten Verbreitung der Kulturerscheinungen im Raum historische Schichtungen in der Zeit heraus[zu]arbeiten." n Eine ihrer wichtigsten Hypothesen ist die heute meist als Abstraktion kritisierte Kulturkreislehre, die verschiedene Kulturen in einem geographischen Raum zu einem Kulturkreis zusammenfaßt, der bestimmte Merkmale aufweist. Sie geht davon aus, daß sich die Kultur historisch durch „Diffusion" verbreitet. Das bedeutet, daß kulturelle Charakteristika wie religiöse Uberzeugungen oder Eheformen in benachbarten Völkern weiterwanderten und übernommen wurden. Dem widerspricht jedoch die oft zu beobachtende kulturelle Vielfalt auf engem geographischem Raum, das heißt die Verweigerung eines Volkes oder einer Gruppe, kulturelle Merkmale der anderen Gruppe zu übernehmen. 12 Elemente der evolutionistischen, funktionalistischen und historischen Kulturbestimmung müssen als Teilaspekte in unsere Definition von Kultur eingehen. In der neueren Diskussion können wir im Anschluß an Roger Keesing und Roque de Barros Laraia drei Grundpositionen unterscheiden: Kultur als adaptives System, Kultur als kognitives oder strukturales System und Kultur als symbolische Systeme.

2.1.2. Kultur als adaptives System Diese Position, vertreten durch Kulturanthropologen wie Leslie White, Marvin Harris u. a., geht davon aus, daß Kulturen Systeme von Verhaltensmustern sind, die sozial weitergegeben werden und „dazu dienen, die menschlichen Gemeinschaften an ihre biologischen Grundlagen anzupassen". Technik, ökonomische und politische Organisation, Religion und anderes sind alle auf diesem Hintergrund zu verstehen. Der Kulturwandel ist ein selektiver Anpassungsprozeß, der dem Selektionsprozeß in der Natur äquivalent ist.13 Dabei kommt, so Harris, dem menschlichen Lernen eine Schlüsselrolle zu. Während in der natürlichen Selektion der Evolution nur ein neuer Genotyp auch veränderte Verhaltensmerkmale 11 Ebd., 30. 12 Marvin Harris. Kulturanthropologie, 24 f. 13 Roque de Barros Laraia. Cultura, 60 f.

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aufweist, ermöglicht das Lernen Verhaltensänderungen ohne genetischen Wandel. Der homo sapiens lebt seit ca. 100000 Jahren mit der genetisch identischen Hirnstruktur, die es ihm ermöglicht hat, durch Lernen eine unüberschaubare Vielfalt von Kulturphänomenen hervorzubringen. 14 Die Weitergabe und Verbreitung der Kultur von einer Generation zur nächsten geschieht durch Enkulturation. Sie vollzieht sich nach Harris behavioristischer Auffassung mittels Kontrolle, Belohnung und Bestrafung. „Enkulturation ist das Ergebnis eines teils bewußten, teils unbewußten Lernprozesses, durch den die ältere die jüngere Generation mit oder ohne Zwang dazu bringt, traditionelle Denk- und Verhaltensweisen zu übernehmen."'5 Dieses Kulturverständnis läßt keinen Raum für das Verständnis von Lebensäußerungen, die nicht adaptiv sind. Gerade unter adaptivem Gesichtspunkt sind jedoch viele menschliche Verhaltensweisen unnütz oder gar schädlich. Es ist ein Privileg menschlicher Kultur, Nutzloses hervorzubringen. Angesichts der überwältigenden Logik des Anpassungsmodells ist die Nutzlosigkeit vielleicht noch ein letzter Zufluchtsort der menschlichen Freiheit. Die Religion und die Ideologien sind deswegen möglicherweise nicht nur Folgen von Anpassungsprozessen der Gesellschaft 16 , die sie stützen und legitimieren. Wie die Kunst können sie Formen sein, in denen sich Unangepaßtheit und Widerstand gegen den Zwang der Kultur zeigen.

2.1.3. Kultur als kognitives oder strukturales System Die sogenannte „neue Ethnographie" von Goodenough und anderen sucht nach einer formalen Analyse des kulturellen Materials. Deswegen hat sie sich der deskriptiven Linguistik zugewendet und versucht, linguistische Prinzipien auf kulturelle Phänomene anzuwenden. Diese Forschungen sind vor allem auf Verwandtschaftsbeziehungen angewendet worden, die aus der systematischen Untersuchung des entsprechenden Vokabulars eines Volkes und der Regeln ihrer Verknüpfung abgeleitet werden. Die semantische Beschreibung liefert dann ein Bild über die kulturspezifische Auffassung der Verwandtschaftsbeziehungen als cultural knowledge system. Es geht also darum, beobachtete Phänomene methodisch zu verarbeiten und daraus eine Theorie zu bauen. Kultur ist folglich keine Summe purer Fakten, sondern ein kognitives Konstrukt des Menschen. „The proper definition of culture must ultimately derive from the operations by which we describe particular cultures . . . A society's culture consists of whatever it is one has to know or believe in order to operate in a manner acceptable to 14 Ebd., 55. 15 Marvin Harris. Kulturanthropologie, 21. 16 Vgl. Roque de Barros Laraia. Cultura, 61.

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its members .. .[It is] the end product of learning .. .not things, people, behavior or emotions, but the organization of these things . . . that people have in their minds, their models for perceiving, relating and otherwise interpreting them."'7 Die Aufgabe der Kulturanthropologie ist die immer genauere und objektivere Erfassung der kognitiven Organisationen. Sie erhebt die kulturellen Regeln oder Codes, nach denen sich die sprachlichen und nichtsprachlichen Informationen richten und bedient sich dabei quantitativer Methoden. Sie unterscheidet zwischen der emischen und der etischen Perspektive der Betrachtung. Emisch ist die Perspektive der Betroffenen selbst, das heißt die Sicht, die ein „Eingeborener" von seiner eigenen Kultur hat, etisch ist die Sicht des von außen kommenden Beobachters. 18 Die kognitive Anthropologie meint von der emischen Sicht der Informanten ausgehend eine Theorie zu finden. Außerdem verfehlt die Kenntnis des Codes die konkreten Ereignisse. Die Kenntnis der Grammatik und der Verwandtschaftsregeln einer Kultur ist etwas anderes als die Beziehungen, in denen sie gelebt werden und qualifiziert beispielsweise einen Berater noch nicht dazu, effektiv in einer Ehekrise zu intervenieren. Die strukturale Anthropologie von Claude Lévi-Strauss treibt die Abstraktion ein Stück weiter. Aufbauend auf Ferdinand de Saussures und Roman Jakobsons struktureller Linguistik ist Kultur für Lévi-Strauss ein System von Zeichen und Symbolen. 19 Der Anthropologie geht es darum, die Logik zu erkennen, die dieses System strukturiert und damit menschliches Zusammenleben ermöglicht. Sie sucht anhand des ethnographischen Materials nach Theorien, welche die „Logik der Realität modellhaft . . . rekonstruieren." 20 Von einer Struktur kann nach Lévi-Strauss dann gesprochen werden, wenn zwischen einem „Arrangement" von Zeichen ein „innerer Zusammenhang" besteht, der dem Beobachter eines „isolierten Systems" jedoch unzugänglich bleibt. Wer nur das Verwandtschaftssystem eines Stammes kennt, kann keine strukturierende Logik entdecken. Dazu muß er es mit anderen Systemen vergleichen. Um es vergleichen zu können, bedarf es der Bildung von Modellen mit einer beschränkten Anzahl von Variablen, die durch Abstraktion von Elementen aus dem empirischen Material gewonnen werden und dann wie mathematische Gleichungen in Beziehung gesetzt und transformiert werden können. Durch diese Methode der Transformation werden die verschiedenen Modelle daraufhin unter-

17 Goodenough zit. nach Mary R. Black, Belief Systems. In: John J. Honigmann (Hg.) Handbook of social and cultural anthropology. Chicago: Rand McNally and Company, 1973, 522. 18 Vgl. Marvin Harris. Kulturanthropologie, 26 ff. Die Begriffe „emisch" und „etisch" wurden in Analogie zu den linguistischen Termini „phonemisch" und „phonetisch" gebildet. 19 Claude Lévi-Strauss. Das Feld der Anthropologie. In: Ders., Strukturale Anthropologie II. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, 28. 20 Wolfdietrich Schmidt-Kowarzik. Philosophische Überlegungen, 378.

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sucht, welches übergeordnete System sie strukturiert und es ermöglicht, sie zueinander in Beziehung zu setzen. Lévi-Strauss fand im Inzestverbot die logische Grundstruktur der menschlichen Gesellschaft und der Kultur. 21 Das Verbot, Schwestern und Töchter zur Frau zu nehmen, macht es notwendig, Frauen aus anderen menschlichen Gruppen in die eigene aufzunehmen und begründet damit elementare soziale Beziehungen, weil es ein System des reziproken Tausches von Frauen der eigenen Gruppe gegen Frauen aus anderen Gruppen etabliert. 22 Die Orientierung des kognitiven und strukturalen Kulturverständnisses am Zeichen und Symbolsystem der Sprache ist für uns wegweisend. Die strukturale Anthropologie kann helfen, Systeme von Krankheit und Heilung, die Rolle von Heilern, die Bedeutung von religiösen Riten und Mythen in verschiedenen Kulturen oder Subkulturen zu verstehen und aufeinander zu beziehen. Wir sollten deshalb, wenn nötig, auf die strukturale Perspektive zurückgreifen. Sie hilft uns jedoch nicht weiter, sobald es darum geht, Geschichten über konkrete Ereignisse, subjektive Erlebnisse oder biographische Prozesse zu bearbeiten.

2.1.4. Kultur als symbolische Systeme Die interpretierende Anthropologie, die in den Vereinigten Staaten vor allem von Clifford Geertz bekannt gemacht wurde, fragt nicht nach den Regeln, welche die Kultur ermöglichen, sondern sucht nach der Bedeutung, dem Sinn (meaning) kultureller Erscheinungen. Geertz geht aus von einem semiotischen Konzept der Kultur. „Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs, and the analysis of it to be therefore not an experimental science in search of law but an interpretive one in search of meaning."" „ [ . . . ] Culture is best be seen not as complexes of concrete behavior patterns customs, usages, traditions, habit clusters - . . . but as a set of control mechanisms - plans, recipes, rules, instructions (what computer engineers call ,programs') for the governing of behavior. [ . . . ] Man is precisely the animal most desperatly dependent upon such extragenetic, outside-the-skin control mechanisms, such cultural programs, for ordering his behavior"".

21 Vgl. Claude Lévi-Strauss. Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, 57; Ders.,. Das Feld der Anthropologie, 29. 22 Ebd. 23 Clifford Geertz. The interpretation of cultures, 5. Der Zusammenhang von Wachstum und Entwicklung des Gehirns und der Konstruktion kultureller Bedeutungen wird ausgearbeitet bei Bradd Shore. Culture in mind: Cognition, culture, and the problem of meaning. New York, Oxford: Oxford University Press, 1996. 24 Ebd., 44.

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Als Netz selbstgeschaffener Bedeutungen ist Kultur der soziale Diskurs, ein sprachliches Symbolsystem, in dem Menschen die Bedeutungen der Welt konstruieren, in der sie leben. Ihre Funktion ist die Steuerung des Sozialverhaltens. In der Perspektive der Evolution des Menschen dient sie dazu, die fehlende Steuerung durch angeborene Instinkte zu ersetzen. Die Kultur ist ein konstitutiver Bestandteil der biologischen Evolution des Menschen. Geertz versteht die biologische Entwicklung des menschlichen Gehirns, besonders das Wachstum des Neocortex seit der Eiszeit als Ergebnis eines Interaktionsprozesses des Menschen mit der von ihm geschaffenen Kultur, durch die er unabhängiger von biologischen Kontrollmechanismen wurde und flexibler auf Umweltanforderungen reagieren konnte.25 Geertz greift auf die Metapher des Textes und des Kontextes zurück, um Kultur als Material der Anthropologie zu beschreiben. Die Netze von Bedeutungen, die symbolischen Systeme, die Menschen im sozialen Diskurs spinnen, sind für die Ethnographie wie ein Manuskript, in dem vielfältige und komplexe Strukturen übereinandergeschichtet und verknotet sind, ein Manuskript voller Brüche, Auslassungen, „verdächtiger Zusätze" und „tendenziöser Kommentare", das entziffert und gelesen wird. Die Textmetapher erstreckt sich auch auf nicht sprachliche Handlungen und die Produkte von Technik und Kunst. Sie sind Bedeutungsträger, symbolische Handlungen oder das Resultat symbolischer Handlungen, das im Umgang mit ihnen jeweils neu gelesen wird. Kultur wird in dieser Perspektive zum acted document·26 Die Bedeutung der Symbole im Text der Kultur hängt ab vom jeweiligen Kontext, das heißt von den umgebenden symbolischen Elementen, von ihrer Beziehung untereinander und dem Akt, in dem ihnen eine Bedeutung gegeben wird.27 So gehören etwa die Begriffe Elefanten, Clowns, Akrobaten und Zelte zum Zirkus. Der Zirkus ist der Kontext, in dem diese Worte ihre konventionelle Bedeutung bekommen und gleichzeitig die Bedeutung des Zirkus als Kontext konstituieren. Ein Wort, etwa der Begriff „Vater", ändert seine Bedeutung je nach den vom Kontext vorgegebenen konventionellen Assoziationen. Es ist etwas anderes, ob wir das Wort Vater in einem Vaterschaftsprozeß gebrauchen, in einem Gespräch über die Vater-Sohn-Beziehung oder beim Beten des Vater-Unser. 28 Der bei Geertz anklingende und in Roy Wagners wichtigem Essay The invention of culture breiter reflektierte Begriff des Kontexts ist aus der Linguistik übernommen und geht auf Wittgensteins Sprachspieltheorie zurück.

25 Ebd., 49. 26 Ebd., 10 f. 27 Ebd., 14. Vgl. Roy Wagner. The invention of culture. Chicago and London: The University of Chicago Press, 1981, 37. 28 Ebd., 37 f.

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Die Aufgabe der Kulturanthropologie ist es, eine Lektüre des Texts der Kultur vorzunehmen, sie interpretierend zu beschreiben. Interpretierende Beschreibung ist nicht einfach die Nacherzählung des Diskurses von Informanten oder der beobachteten Handlungen. Sie ist, so Geertz, thick description, eine Interpretation, der es darum geht, die Begriffsstrukturen herauszuarbeiten, die den sozialen Diskurs der untersuchten Subjekte auf dem laufenden halten. „Our double task is to uncover the conceptual structures that inform our subjects' acts, the ,said' of social discourse, and to construct a system of analysis in whose terms what is generic to those structures, what belongs to them because they are what they are, will stand out against other determinants of human behavior. In ethnography, the office of theory is to provide a vocabulary in which what symbolic action has to say about itself - that is, about the role of culture in human life - can be expressed."29

Die thick description fixiert den sozialen Diskurs. Methodisch werden durch sie die Sinnstrukturen einer Kultur herausgearbeitet, indem diese als Symbolsystem behandelt, ihre sprachlichen Elemente isoliert und ihre spezifischen inneren Zusammenhänge geklärt werden. In einem zweiten Schritt wird dann die Kultur als Gesamtheit beschrieben, ausgehend von von den core symbols, den zentralen Begriffen, um die herum sie sich organisiert.30 Geertz weist darauf hin, daß diese Lektüre der Kultur eine subjektive Fiktion ist. Die Interpretation von Kulturphänomenen, die ein Anthropologe auf der Basis von Informantenberichten und seinem Feldtagebuch zu Papier bringt, ist etwas von ihm Erfundenes, eine Fiktion zweiter oder dritter Ordnung. Eine Fiktion erster Ordnung wäre der Bericht des Mitgliedes einer bestimmten Kultur, in der er seine kulturelle „Weltanschauung" darstellt.31 Damit ist explizit gesagt, daß die Kultur überhaupt, nicht nur die Konstrukte der Anthropologen, eine „Erfindung" ist, die Menschen ständig von neuem machen, wenn sie sich am sozialen Diskurs beteiligen. Dieser Gedanke ist eine logische Konsequenz der Bestimmung von Kultur im Zusammenhang von Sprache und Interpretation. Da Kultur mit dem sozialen Diskurs gleichgesetzt wird, für den Sinngebung, Interpretation als subjektive fiktionale Lektüre des Verhaltens der anderen konstitutiv ist, kann jedes Individuum als ein Ethnologe im Feld der Gesellschaft angesehen werden. „Invention, then, is culture, and it might be helpful to think of all human beings, wherever they may be, as ,fieldworkers' of a sort, controlling the culture shock of daily experience through all kinds of imagined and constructed ,rules', traditions, and facts."32 29 30 31 32

Clifford Geertz. The interpretation of cultures, 27. Ebd., 17. Ebd., 15. Roy Wagner. The invention of culture, 35.

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Die pragmatische Erfindung der Kultur ergibt sich aus der Bestimmung der Bedeutung der sprachlichen Symbole im sozialen Diskurs. 3 3 D i e interpretierende Anthropologie konfrontiert uns mit einem radikal konstruktivistischen Kulturverständnis, das sich von den Idealen eines falschen Realismus und einer unerreichbaren Objektivität gelöst hat. Im Vergleich zum Strukturalismus hat sich die anthropologische Perspektive umgekehrt: Partikulares, die local knowledge''' und nicht mehr die kulturell universalen Strukturen wie das Inzestverbot stehen im Mittelpunkt. Alle essentialistischen Versuche, die Kulturerscheinungen von einer allgemeinen Natur, vom Wesen des Menschen abzuleiten, werden zurückgewiesen. Mensch sein heißt in jeweils partikulärer Weise eine Kultur haben. Weder in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit noch in der individuellen Existenz gibt es klare Trennungslinien zwischen Mensch und Kultur. Menschwerdung vollzog und vollzieht sich als Prozeß der Individualisierung in Interaktion mit einer Kultur und Kultur wird durch diese Interaktion geschaffen als System von Bedeutungen, das dem Leben der Individuen Motivation, Richtung und Sinn verleiht. „When seen as a set of symbolic devices for controlling behavior, extrasomatic sources of information, culture provides the link between what men are intrinsically capable of becoming and what they actually, one by one, in fact become. Becoming human is becoming individual, and we become individual under the

33 Die Symbole beziehen sich, so Roy Wagner, nicht auf die „äußere" Wirklichkeit, höchstens auf andere Symbolisierungen, die wir als Realität wahrnehmen. Die Bedeutung eines Symbols kristallisiert sich heraus durch seinen Gebrauch in verschiedenen sprachlichen und sozialen Kontexten, die ihrerseits in ihrer Unterschiedlichkeit allererst durch den spezifischen Gebrauch der Symbole konstituiert werden. Der Kontext kontrolliert die Bedeutung der symbolischen Handlungen. Diese Kontexte können konventionell oder nicht konventionell sein. Das heißt, die Assoziation von Bedeutungen, die sich durch die Kombination von Symbolen in einem Kontext einstellt, kann bekannt und kollektiv anerkannt sein oder neu und individuell. Im Spannungsfeld zwischen konventionellen und nicht-konventionellen Kontexten wird die Bedeutung der Symbole und Kontexte objektiviert. Sie wird zu etwas Objektivem, das entweder konventionell als etwas angesehen wird, das kollektiv gültig ist, oder als etwas charakteristisch Individuelles. Die Erfindung der Kultur geschieht durch die Objektivierung der Bedeutung von Symbolen und Kontexten. Die Dialektik dieses Prozesses hat zur Folge, daß jeweils das Faktum, daß es sich dabei um subjektive Kreationen handelt, maskiert wird. Wenn etwas objektiviert, erfunden wird, dann wird auch sein Gegenteil erfunden und stillschweigend objektiviert. Ein Ehemann etwa, der sich individuell darum bemüht entsprechend den geltenden Konventionen eine gute Ehe zu führen und ein gutes Familienleben zu haben, identifiziert sich mit den Konventionen seiner Gesellschaft und beginnt diesen Kontext f ü r etwas objektiv gegebenes und natürliches zu halten, das er individuell verwirklicht. Er kann vergessen, daß es sich bei seinem Verständnis von Ehe und Familie um eine komplexe individuelle und kollektive Erfindung handelt. Durch seine Identifikation mit den kollektiv geltenden Regeln, erfindet er Ehe und Familie als Teil ein natürlichen Welt (Roy Wagner. The invention of culture, 41-50). 34 Clifford Geertz. Local knowledge. Further essays in interpretive anthropology. New York: Basic Books, 1983.

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guidance of cultural patterns, historically created systems of meaning in terms of which we give form, order, point, and direction to our lives".35

2.2. Das Kulturverständnis

in der Theorie lebender Systeme?6

D e r Gedanke, d a ß wir die Kultur, in der wir leben, „erfinden" oder durch Interaktion erzeugen, verweist uns auf die konstruktivistische Erkenntnis- und Kommunikationstheorie der Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela. Wir müssen dem Leser die zunächst recht fremdartige und komplizierte Argumentation Maturanas und Varelas an dieser Stelle zumuten, weil sie uns hilft, das Phänomen des kulturellen Pluralismus gründlich zu verstehen und weil sie ein neues kommunikationstheoretisches Fundament f ü r Seelsorge und Beratung legt, auf dem später unser Ansatz von interkultureller Kommunikation aufbauen wird. D e r Grundgedanke dieser Theorie ist, d a ß lebende Organismen „autopoietische Systeme" sind, die sich selbst erzeugen, gegen die Außenwelt abgrenzen und nach innen differenzieren. Ihre Elemente sind untereinander verknüpft und in einem ständigen internen Wandlungsprozeß begriffen. Die Veränderung eines Elements führt zu komplexen Veränderungen anderer Elemente. Ein „autopoietisches System" funktioniert autonom, das heißt, es ist von der Außenwelt relativ abgeschlossen und reagiert auf „Inputs" aus dem Milieu, zum Beispiel sensorielle Reize, selbstreflexiv, seiner eigenen internen Logik entsprechend. 37 Maturana und Varela haben ihre Theorie an der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der Funktion des Nervensystems und der Wahrnehmung, (z. B. dem Farbensehen) gewonnen. Sie haben festgestellt, daß das Nervensystem ein geschlossenes System interagierender Neuronen ist, die zwar eine Verbindung zur Umwelt haben, deren Interaktion jedoch davon unabhängig verläuft. Das Nervensystem fängt nicht Informationen aus der Umwelt auf und nutzt sie, um ein Bild der Außenwelt zu entwerfen, sondern organisiert die Wahrnehmung der Außenwelt entsprechend der inneren Verknüpfung seiner Elemente. 38 Die Wahrneh35 Clifford Geertz. The interpretation of cultures, 52. 36 Die folgende Darstellung beruht auf Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela. The tree of knowledge: T h e biological roots of human understanding. Boston, London: Shambhala, 1992; Humberto R. Maturana. Kognition. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.). Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus. 7. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996, 8 9 - 1 1 8 ; Francisco J. Varela. Autonomie und Autopoiese. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.). Diskurs, 119-132; Siegfried J. Schmidt. D e r radikale Konstruktivismus: Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs. In: Ders. (Hg.). Diskurs, 11-88; M o n y Elkaüm. Wenn du mich liebst, lieb mich nicht: Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Familientherapie. Freiburg im Breisgau: Lambertus, 1992. 37 Vgl. Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela. Tree of knowledge. 38 Eine Farbe kann, wie Versuche gezeigt haben, nur wahrgenommen werden, wenn das gesamte Gesichtsfeld einbezogen wird. Das heißt die Nervenverbindungen und Aktivität

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mung geschieht nicht in den Sinnesorganen, sondern im Gehirn, das nicht offen ist für Umweltreize. Nervensystem und Gehirn haben eine eigene Sprache. Die sensoriellen Inputs werden in den Nervenzellen in einer nicht differenzierten Form in elektrische Impulse umgesetzt. Die Rezeptoren des Nervensystems reagieren auf die Umwelt durch eine Spannungsänderung der elektrischen Impulse. Diese Impulse haben an und für sich keine Bedeutung. Ihre Bedeutung erhalten sie durch die verschiedenen Hirnregionen, in denen sie verarbeitet werden. Das bedeutet, daß im Nervensystem die Wahrnehmung von Anfang an Interpretation ist. Das Gehirn gibt den ankommenden Impulsen eine Bedeutung. Es bezieht sich dabei auf Vorerfahrungen und wird determiniert durch die physiologischen Strukturen seiner Funktion, die es im Verlauf der Evolution erworben hat. Das Gehirn kann die Außenwelt nicht repräsentieren. Das Nervensystem ist ein geschlossenes System, seine Wahrnehmung geschieht in komplexen Prozessen der Selbstdifferenzierung. Das Gehirn konstruiert in diesen Prozessen Hierarchien kognitiver Welten und bezieht sich dabei auf die Erinnerung als sein wichtigstes Sinnesorgan. Die Erinnerung stellt ihm „Invarianten" zur Verfügung, die dem Organismus helfen, sich an die Umwelt zu adaptieren und zu assimilieren. In dieser Theorie hat das Bewußtsein keinen eigenen Ort im Gehirn. Es ist das Resultat der Funktion des Organismus als Ganzem, genauer der Interaktion des Nervensystems mit seinen eigenen Zuständen. Auch das „Ich" und das „Selbst" sind komplexe Konstruktionen, welche die Erfahrung organisieren und von der Körperwahrnehmung, dem Rekurs auf die eigenen Gedanken und Gefühle abhängen. Bei der Beschreibung lebender Systeme unterscheidet Maturana zwischen Struktur und Organisation. Eine Struktur ist eine von der Umgebung abgegrenzte Einheit, deren Elemente in Beziehung zueinander stehen. Die Organisation des Systems ist bestimmt durch die feststehende Beziehung seiner Elemente, die dann seine Klassifikation erlauben (ζ. B. Baum, Hund, Mann, Frau). Die Struktur des Systems ist die Art und Weise, in der die Teilelemente aufeinander bezogen sind. Die Struktur lebender Systeme ist umweltoffen, die Organisation hingegen festgelegt und in sich geschlossen. Die Organisation des männlichen oder weibli-

der Netzhaut entscheiden über den Charakter der Wahrnehmung des Lichtes, das von Neuronen an einer bestimmten Stelle der Netzhaut wahrgenommen wird. Die Farbe existiert nicht außerhalb und unabhängig vom Beobachter. Ein Frosch, dessen Auge operativ um 180 Grad gedreht wurde, schnappt, wenn man sein gesundes Auge verdeckt, nach einer Fliege vor seinem Gesicht, indem er seine Zunge um 180 Grad verdreht nach hinten schnellen läßt. Das heißt: der Nexus zwischen den Nerven der Netzhaut und den motorischen Nerven, die die Zungenbewegung steuern, bildet ein geschlossenes System, das entsprechend seinen eigenen Koordinaten auf Umweltreize reagiert. Für den Frosch gibt es keine Information, die von außen nach innen geht, sondern die strukturelle Verknüpfung seines komplexen Nervensystems mit der Umwelt, die ihn auf Umweltreize angepaßt reagieren läßt (Vgl. Mony Elkaïm. Wenn du mich liebst, 69 ff.).

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chen Körpers oder der einzelnen Körperorgane ist feststehend. Die Struktur des Körpers ist jedoch offen für Umweltreize und kann sich an die Veränderung äußerer Bedingungen anpassen. Lebende Systeme sind autopoietische Systeme, die ihre Organisation durch die permanente Interaktion zwischen den Teilelementen produzieren und stabilisieren. Die Organisation eines Systems ist ein Netzwerk, das seine eigenen Teile produziert. Die Organisation der lebenden Systeme ist gegenüber der Außenwelt autonom und funktioniert induktiv nach dem Prinzip der Homöostase. Das heißt, das System reproduziert seine Organisation ausgehend von der Annahme, daß die Bedingungen und Ereignisse, die in der Vergangenheit eingetreten sind, weiterhin eintreten werden. Auf diese Weise hält es sich gegenüber der Umwelt im Gleichgewicht und paßt seine Struktur an die Umwelt an. Die Organisation des Nervensystems stabilisiert das lebende System also ausgehend von einigen Parametern in seiner Umwelt und hilft ihm zum Uberleben. Lebende Wesen beziehen sich auf ihre Umwelt wie Flugzeuge im Instrumentenflug. Im Hinblick auf bestimmte Vorgaben an Höhe, Geschwindigkeit und Richtung reguliert das Flugzeug die Motoren und die Klappen an den Flügeln. In seiner Struktur verändert es sich während des Fluges nicht, seine innere Organisation funktioniert autonom und steuert sich selbst. Wie geschieht nun die Kommunikation mit der Umwelt und zwischen lebenden Systemen und wie verknüpft sich dies mit unserem Thema? Die Umweltbeziehung lebender Systeme wird von Maturana als „strukturelle Koppelung" beschrieben. Zur strukturellen Koppelung kommt es, wenn System und Umwelt oder zwei Systeme so miteinander interagieren, daß die Zustandsveränderungen des einen Systems Zustandsveränderungen des anderen auslösen. Die Veränderungen der Struktur eines Systems wirken also selektiv auf die Strukturveränderungen des anderen Systems. Es wird dadurch ein Bereich koordinierten Verhaltens zwischen verschiedenen Organismen definiert. Einem außenstehenden Beobachter erscheint diese gegenseitige strukturelle Koppelung als ein konsensueller Bereich, der sowohl in der biologischen Ontogenese von Tieren als auch in der sprachlichen Kommunikation von Menschen geschaffen wird. Ein Beispiel für eine strukturelle Koppelung in der Ontogenese ist etwa das Paarungsverhalten von Tieren, das durch Farbveränderungen in Haut und Gefieder ausgelöst werden kann, oder die Fütterung der Vogelbrut durch die Eltern. Das sogenannte „Kindchenschema" der Säugetierjungen verhindert, daß sie von anderen Artgenossen angegriffen werden. Die strukturelle Koppelung zwischen Menschen geschieht durch die Sprache. Nach Maturana arbeitet die Sprache zunächst unabhängig von der Semantik, von der Bedeutung. Sie funktioniert inhaltsleer, als ein ontogenetisch etabliertes System „koordinierter gegenseitiger Auslösung von Verhalten zwischen Organismen" 39 . Dieses Verhalten ist bei den Tieren 39 Humberto Maturana. Kognition, 113.

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zunächst einfach eine Beschreibung ihrer ökologischen Nische durch ein Exemplar, das von einem anderen als Veranlassung genommen wird, in der Folge seine ökologische Nische zu beschreiben (etwa die Markierung des Reviers gegenüber einem Rivalen). Die Beschreibung des ersten wird für den zweiten zum Orientierungsverhalten, das ihn dazu veranlaßt, eine Beschreibung zu geben (der Rivale markiert ebenfalls sein Revier). Diese Beschreibungen erster Ordnung definieren einen „konsensuellen Bereich". Innerhalb dieses konsensuellen Bereichs kann es dann zu weiteren beschreibenden Interaktionen kommen, die konsensuelle Bereiche bestimmen. Die Beschreibung ist nicht eine Beschreibung von „etwas", sondern ein Verhalten in einem konsensuellen Bereich. Beschreibungen formen dann eine Sprache, wenn „die teilnehmenden Organismen konsensuelle Bestimmungen von konsensuellen Bestimmungen anfertigen" 40 . Dabei kommt es zu einer rekursiven Beschreibung zweiter Ordnung der Beschreibungen erster Ordnung. Mit der Einführung der Beschreibungen zweiter Ordnung, das heißt der Sprache als Metabereich konsensueller Bestimmungen von konsensuellen Bestimmungen wird der sprachlich Interagierende zum Beobachter. Er bezieht sich rekursiv auf sein eigenes Verhalten, genauer auf die Beziehung zwischen Beschreibungen erster und zweiter Ordnung. Er beschreibt sich selbst als beobachtend, wird also ein selbstbeobachtendes System. Als Beobachter bewegt er sich in einem Metabereich. Einerseits operiert er als ein autopoietisches System und sein gesamtes Verhalten, auch das sprachliche dient der Autopoiesis. Andererseits operiert er im konsensuellen Bereich der Sprache. Der Beobachter definiert semantische Beziehungen „Bedeutungsbeziehungen, Symbole usw. als konsensuelle Beziehungen in einem metasprachlichen Bereich, indem er einen Metabereich von Unterscheidungen (Bestimmungen, Vf.) im Hinblick auf einen Grundbestand von Unterscheidungen (Bestimmungen, Vf.) spezifiziert" 41 . Das heißt, die Bedeutung, die semantischen Beziehungen konstituieren den Bereich sprachlicher Kommunikation nicht, sondern werden erst durch sprachliche Kommunikation hervorgebracht. Für den Beobachter besitzt das an sich inhaltslose Verhalten im konsensuellen Bereich einen Inhalt. Die Sprache denotiert also nicht einen zuvor festgelegten Sinn. Im Kommunikationsprozeß konnotiert jeder der Interaktionspartner den Sinn durch sein Verhalten. Das in der Verhaltenssequenz vorausgehende Verhalten des einen orientiert das ihm folgende Verhalten des anderen und wird von ihm als Verhaltensaufforderung denotiert. Die Sprache hat für die Sprecher selbst jedoch eine konnotative Funktion. Sprache orientiert die Interaktionspartner also im Akt der Kommunikation. Streng genommen kommt es dabei jedoch nicht zur Informationsübertragung. Die Funktion der Sprache ist die eines Orientierungsverhaltens.

40 Ebd., 109. 41 Ebd., 111.

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„Es ist dem Orientierten überlassen, wohin er durch seine selbständige interne Einwirkung auf seinen eigenen Zustand seinen kognitiven Bereich orientiert. Seine Wahl wird zwar durch die .Botschaft' verursacht, die so erzeugte Orientierung ist jedoch unabhängig von dem, was diese ,Botschaft* für den Orientierenden repräsentiert. Im strengen Sinne gibt es daher keine Übertragung von Gedanken vom Sprecher zum Gesprächspartner. Der Hörer erzeugt Informationen dadurch, daß er seine Ungewißheit durch seine Interaktionen in seinem kognitiven Bereich reduziert. Konsens ergibt sich nur durch kooperative Interaktionen, wenn das sich dabei ergebende Verhalten jedes Organismus der Erhaltung beider Organismen dienstbar gemacht wird"42.

Ein außenstehender Beobachter dieser kommunikativen Interaktion, die innerhalb eines konsensuellen Bereichs operieren, wird die Interaktion als denotativ beschreiben, also als Übertragung, Codierung und Decodierung einer Botschaft. „,Denotation' ist mithin eine Beobachterkategorie, die denotative Funktion einer Botschaft liegt ausschließlich im kognitiven Bereich des Beobachters"43.

Es ist zwar möglich, daß zwei Interaktionspartner formulieren, wie jeder von ihnen als Beobachter die sprachliche Beschreibung des anderen denotiert. Jeder von ihnen entwirft dabei jedoch konnotativ eine Beschreibung seiner Beschreibung des Verhaltens des anderen. Die Bedeutung sprachlicher Äußerungen wird dadurch radikal an den Kontext der Interaktion gebunden. Sie wird von jedem einzelnen innerhalb eines konsensuellen Bereichs definiert. Maturanas Theorie der sprachlichen Kommunikation radikalisiert in gewisser Hinsicht Wittgensteins Sprachspieltheorie, die den Sinn einer sprachlichen Äußerung an ihren Gebrauch im sozialen Kontext bindet. Der Sinn, die sprachliche Bedeutung ist stets eine subjektive Konstruktion innerhalb eines durch analoges Verhalten definierten konsensuellen Bereiches. Diese Theorie der Erkenntnis- und Kommunikation lebender Systeme bestätigt nicht nur die konstruktivistische Idee der Erfindung der Kultur von Seiten der interpretierenden Anthropologie. Sie stellt diese Idee auf eine neue theoretische Grundlage und begründet darüber hinaus die Pluralität der Kulturen als menschliche Notwendigkeit. Die kulturellen Konstruktionen der Menschen können als Grundbestimmungen des konsensuellen Bereiches angesehen werden, die von den Interaktionspartnern vorausgesetzt und jeweils neu geschaffen werden. Im Unterschied zu einer objektivistischen Interpretation der Kultur als einer unabhängig von der konkreten Interaktion existierenden Realität, die kulturelle Verschiedenheit nur als historisch begründete Variante der einen Wirklichkeit zuläßt und trotz einer toleranten Haltung gegenüber „marginalen" Kulturen Gefahr läuft, diese auf das dominante westliche Kulturmodell hin 42 Siegfried J. Schmidt. Der radikale Konstruktivismus, 28. 43 Ebd., 29.

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zu relativieren, erlaubt die Sicht des radikalen Konstruktivismus eine Wertschätzung jeder Kultur als selbständige und funktionale Strukturierung der Interaktion mit gegebenen historischen, sozialen politischen und biographischen Kontexten. „Ist man . . . mit Maturana davon überzeugt, daß wir die Welt, in der wir leben, buchstäblich dadurch erzeugen, daß wir sie leben, dann besteht kulturelle Verschiedenheit nicht in unterschiedlicher Bearbeitung einer unabhängigen Realität, sondern im Aufbau gleichberechtigter unterschiedlicher Wirklichkeitsmodelle: , Kulturell unterschiedliche Menschen leben in unterschiedlichen kognitiven Wirklichkeiten, die eben dadurch, daß sie in diesen leben, in rekursiver Weise ausgebildet werden* (...). Damit werden kulturelle Systeme beschreibbar als homöostatische Systeme, die die Einheitlichkeit kognitiver Bereiche ihrer Mitglieder dadurch erhalten, daß sie ihre konkreten und begrifflichen Erfahrungen bestimmen. Eine Kultur definiert den Bereich der möglichen Interaktionsgeschichten ihrer Mitglieder. Da Werte ausschließlich kulturspezifisch und historisch sind, gibt es keinen Maßstab, um eine Kultur als adäquater als eine andere auszuzeichnen. Erfolgreich kann eine Kultur nur innerhalb ihres Voraussagebereichs sein. Daher kann eine Kultur aus der Perspektive einer anderen Kultur auch nicht als erfolglos angeprangert werden. Wenn man eine kulturelle Einheitlichkeit der Menschen anstreben will, so muß diese erzeugt werden, indem man einen gemeinsamen subjektabhängigen Verhaltensbereich erzeugt, der eine gemeinsame subjektabhängige Wirklichkeit definiert"44.

Es kommt dann darauf an beispielsweise ethische Grundsätze zu finden, die über die Grenzen einer Kultur hinaus plausibel und akzeptabel sind, damit es eine internationale Rechtsordnung geben kann oder ganz einfach, damit Menschen aus verschiedenen Kulturen mit unterschiedlichen Wertsystemen in verantwortlicher Weise kooperieren können. Die konstruktivistische Sicht der Kultur ist im Ansatz pluralistisch und relativistisch. Sie hält es für unmöglich eine Kultur an anderen Maßstäben zu messen als denen, die zwischen ihren Mitgliedern Konsens sind. Die Stärke dieses Ansatzes ist es, daß er die Subjektivität kultureller Konstruktionen ernst nimmt, auf der Freiheit der Entfaltung kultureller Diversität besteht und sich von vornherein gegen die Unterdrückung kultureller Lebensäußerungen stellt. Die biologistische Sicht greift allerdings zu kurz, wenn sie davon ausgeht, daß alles kulturell konsensuelle Verhalten Anpassungswert hat, also in irgendeiner Weise funktional ist und der Autopoiesis dient. Sie verkennt anscheinend die lebensfeindlichen Züge menschlichen Verhaltens, das gerade um sich selbst zu schaffen und zu gestalten Wege gehen kann, die das Leben oder die Lebensbedingungen anderer angreifen. An dieser Stelle bedarf Maturanas Kulturtheorie einer wertethischen Orientierung, die sie wahrscheinlich nicht mehr selbst leisten kann, für die sie jedoch die formalen Grundlagen bietet, indem sie die ethische Reflexion einbindet in die Schaffung kon44 Ebd., 46 f.

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sensueller Bereiche, in denen die Menschen gemeinsam ihre alltäglichen Lebenswelten schaffen. Das Kulturverständnis der interpretierenden Anthropologie, erweitert durch die Theorie lebender Systeme, ist von allen erörterten Konzepten am besten geeignet für eine Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Seelsorge und Kultur. Es entspricht dem Interesse der Seelsorge fürs Partikulare, für das persönliche Erleben und die Lebensgeschichte von Menschen. Es leitet dazu an, Kultur als ein individuelles und kollektives Phänomen zu sehen, als Schöpfung eines Individuums, einer Familie und Gruppe ebenso wie als regionale, nationale und globale Struktur. Es hat die Unterscheidung von normal und anormal hinter sich gelassen. Mit Hilfe dieses Kulturkonzepts können seelische und körperliche Krankheitserscheinungen als sinnhafte Konstrukte interpretiert werden, die zusammenhängen mit konventionellen oder individuellen kulturellen Bedeutungen. Desgleichen ist eine neue Sicht von religiösen und nicht religiösen Wegen zur Heilung von Krankheiten als symbolischen Konstrukten möglich. Damit kann die interpretierende Anthropologie beitragen zu einer flexiblen, auf die Verschiedenheit von Kontexten und kulturellen Symbolsystemen eingehenden Praxis von Beratung und Seelsorge. Geertz selbst weist auf den „clinical approach to the use of theory" in der Anthropologie hin. Sie geht von der Observation von Fällen (symbolischen Handlungen) aus, sucht nach signifikanten Elementen, die sie dann unter einer Regel zusammenfaßt und diagnostiziert. 45 Ahnlich wird die klinische Methode in der Seelsorge angewendet. Sie steht dabei der Anthropologie näher als der Medizin, weil sie nicht nach Symptomen sucht, sondern gemeinsam mit den Betroffenen soziale Diskurse interpretiert. Anders als die Anthropologie, die sich darauf beschränkt, sucht sie nach symbolischen Lösungen für Situationen, die von den Beteiligten als problematisch oder leidschaffend aufgefaßt werden. Dabei muß sie sich dessen bewußt werden, daß der gesamte Kommunikationsvorgang in Seelsorge und Beratung nur möglich ist, weil alle Beteiligten konsensuelle Bereiche konstruieren, innerhalb deren sie die Äußerungen der anderen interpretieren und sich entsprechend verhalten. Die seelsorgerliche Situation ist also eine gemeinsame Konstruktion, eine neue kulturelle Wirklichkeit, in der die Herkunftskulturen der Gesprächspartner aufeinandertreffen und in der eine Selektion von zugelassenen und nicht zugelassenen Elementen der Sinndeutung stattfindet, welche die Einzigartigkeit, aber auch die kulturelle und soziale Eigenart dieser Situation bestimmt, sie zugleich jedoch in eine Vielzahl von Kontexten einordnet, also als hochgradig sozial determiniert zu begreifen ist. Die theologische Reflexion über das Verhältnis von Seelsorge und

45 Ebd., 26.

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Kultur steht damit vor der Aufgabe, einen Zugang zu finden und Stellung zu nehmen zur systemisch-konstruktivistischen Sicht der Kommunikation lebender Systeme und zu klären, wie unter diesen Bedingungen von der Kommunikation des Evangeliums über die Grenzen von Systemen hinweg, also auch zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen theologisch verantwortlich gedacht werden kann.

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3. Kapitel: Hybride Kulturen in Lateinamerika im Ubergang von der Prämoderne zur Postmoderne 3.1. Lateinamerikanische Popularkultur: Zugänge und Interpretationsansätze Wir bemühen uns, Elemente eines Modells Kultur sensibler Seelsorge und Beratung zu finden, die eine effektive Praxis ermöglichen. Der Kontext, auf den wir uns beziehen ist dabei zunächst die seelsorgerliche Arbeit mit Familien der Unterschicht und der unteren Mittelschicht im Süden Brasiliens. Das läßt es notwendig erscheinen, im Zusammenhang mit der Klärung des Kulturbegriffs eine vorläufige Standortbestimmung vorzunehmen, das heißt, einen begrifflichen Rahmen zu entwickeln, der uns hilft, unsere Untersuchung in der Kultur Lateinamerikas, genauer in der Popularkultur der Unter- und Mittelschicht in Südbrasilien zu verorten. Wir wollen im Vorfeld theoretisch klären, was unter Popularkulturen zu verstehen ist und wie sie sich in der sozialen, ökonomischen und politischen Gegenwart der Gesellschaften Lateinamerikas situieren. Wir suchen uns dem Forschungsfeld der lateinamerikanischen Popularkulturen anzunähern. Dabei müssen wir folkloristische und romantisierende Neigungen ebenso kritisch in den Blick nehmen wie politische und ideologisch gefärbte Idealisierungen der Popularkultur. Lateinamerika blickt zurück auf fünfhundert Jahre ethnozentrischer europäischer Kolonisation, während denen die ursprünglichen indigenen Kulturen als barbarisch abgewertet, die Völker, die sie entwickelt hatten, gemordet oder versklavt, ihre Kunst und ihre Bauwerke zerstört, ihre Sprachen unterdrückt oder entfremdet wurden. Ähnliches geschah mit den afrikanischen Sklaven, die aus ihrer Heimat weggerissen wurden, massenhaft auf der Uberfahrt starben, zwangsweise christianisiert wurden, um dann der Ausbeutung, der völligen Beherrschung ihres Körpers, ihrer Arbeitskraft und ihrer Sexualität durch ihre Herren preisgegeben zu werden. Der Ethnozentrismus und die Destruktivität der conquista war im Kern bestimmt vom Geist der Moderne, der sich seit der Renaissance eingeübt hat in einer klassifizierenden Haltung. Vitor Westhelle hat in einer kritischen Analyse der Beziehungen zwischen dem europäischen Geist, der Entdeckung und der Bildung einer geschichtlichen Identität Lateinamerikas gezeigt, daß das, was man „Lateinamerika" nennt, das Resultat einer Praxis europäischer „Erfin53

dung und Inskription" 1 ist, in der der Geist der Moderne, der auf der Suche nach dem autonomen Wissen die Wissenschaft geschaffen hat, welche die Natur im Prozeß ihrer „Entdeckung" unterwirft, auch zur „Entdeckung" und zerstörerischen „Eroberung" des Landes jenseits des Atlantik vorgedrungen ist.2 „Die Völker der neuen Welt . . . wurden für die Europäer gemäß den in Europa herrschenden Arten der Klassifizierung dargestellt und eingeordnet. Sie wurden als abgewichene Christen erkannt (das jesuitische Modell, das ihrer Praxis der Gegenreformation folgte), als Heiden (das heißt, Mohammedaner, die durch Anreize oder Zwang bekehrt werden müssen), oder schließlich als Juden (deren Erbe die Vorbereitung für das Evangelium bedeutete). Hier finden wir die erste unter den Praktiken, welche die gegenwärtige Wissenschaft konstituieren: die Klassifizierung, die sieht, was sie schon kennt oder zu erkennen wünscht." 3

Westhelle nennt diese Klassifizierung „das europäische Prinzip." 4 Dieses Prinzip definiert, daß nur das existiert, was in der Lage ist, sich dem Maßstab der Klassifizierung und Organisation des mathematischen Kalküls anzupassen. Diese führte zur Marginalisierung und zum Ausschluß des „anderen Wissens", des mythologischen und religiösen Wissens vieler Völker. Foucault hat zur Verteidigung dieses „anderen Wissens" die Einführung einer „Antiwissenschaft" postuliert, die das Wissen der Gebildeten mit den lokalen Erinnerungen vereinigt, um auf diese Weise die in historischen Auseinandersetzungen gewonnene Erkenntnis mit dem Bildungswissen zu verbinden und „diese Erkenntnis in der gegenwärtigen Situation taktisch zu nutzen". 5 Foucaults Perspektive der Antiwissenschaft führt die Dimension der „Macht" als einen zentralen Gesichtspunkt in die Kulturanthropologie und in die Humanwissenschaften ein. Ein Problem des Kulturverständnisses der interpretierenden Anthropologie liegt darin, daß sie die Dimension der Macht nicht von vornherein in ihrem methodischen Ansatz berücksichtigt. Die interpretierende Konstruktion von kulturellen Symbolsystemen aufgrund der Narrativen innerhalb eines gewählten Kontexts ist, solange sie die Frage nach den Machtverhältnissen nicht stellt, die bestimmend sein können für das, was erzählt und was nicht erzählt wird, für die Form und den Stil der Narrativen, für die Perspektive der Erzähler, in gewisser Hinsicht naiv. Sie läuft Gefahr, einen Teil der 1 Vitor Westhelle. Outros saberes. In: Estudos Teológicos 35(3), 1995, 262. 2 Ebd., 259. 3 „Os povos do novo mundo . . . foram apresentados, inscritos para os europeus de acordo com modos de classificaçâo vigentes na Europa. Foram reconhecidos como cristáos que se haviam desviado (o modelo jesuíta que seguiu sua pràtica de Contra-Reforma), como pagaos (i.é., muçulmanos que deveriam ser convertidos ou por atraçâo ou por coerçâo) ou entâo como judeus (cuja herança representava a preparaçâo para o evangelho). Ai temos a primeira das práticas que constituem a ciência contemporànea: a classificaçâo que vê o que já conhece ou que deseja conhecer" (ebd., 261 f.). 4 Ebd., 261. 5 Ebd. 268. 54

symbolisch konstruierten Realität aus dem Blick zu verlieren und bedarf deshalb der Erweiterung durch eine Perspektive, die von Anfang an bei der Interpretation der Symbolisierungen einer Kultur auf den Zusammenhang mit den Machtverhältnissen achtet. Es ist unangemessen und eigentlich völlig unmöglich, die Kulturen Lateinamerikas unabhängig von Machtgesichtspunkten zu untersuchen. Die Conquistadores haben den Völkern Lateinamerikas und den afrikanischen Sklaven mit Macht und Gewalt die europäische Kultur aufgezwungen. Die Volksgruppen, die das überlebt haben, wurden ihrer eigenen Kultur entfremdet. Sie mußten sich an die Codes und Praktiken des christlichen Europa anpassen und lebten, wenn sie an ihren kulturellen Überlieferungen und Praktiken festhielten, eine Realität, die in den Augen der Eroberer illegitim, nicht offiziell und marginal war. Der Gegensatz der Kultur der Eroberer und der Ursprungskulturen führte dazu, daß die Völker Lateinamerikas in zwei Realitäten lebten, die dissoziiert, voneinander abgetrennt, aber nicht ohne Verbindung waren. In dieser Situation war die Vermischung der Kulturen, die eine Vielzahl neuer Kulturphänomene produzierte, in denen sich die Kultur der herrschenden Gruppe reflektierte, unvermeidlich. Andererseits wurde das Festhalten an Elementen der ursprünglichen Kulturen der Indianer und afrikanischen Sklaven, das oft unausdrücklich oder geheim geschah, zum Ausdruck eines gewissen Widerstands gegen die Kultur der Europäer. 6 Das Eindringen des Kapitalismus in Lateinamerika im 19. und 20. Jahrhundert geschah innerhalb des vorgefertigten historischen Rahmens der Beziehung von Herrschern und Beherrschten, der Schicht der Kolonialherren und ihrer Nachfahren, die sich das Land angeeignet hatten, und der Schicht der Arbeiter, die in ihren Diensten standen. Sie waren Nachkommen von Indianern, schwarzen Sklaven, sehr oft Mischlinge, hervorgegangen aus der sexuellen Beziehung zwischen den weißen Herren und den farbigen Untergebenen. Im Gegensatz zwischen Besitzenden und Besitzlosen, Unternehmern und Arbeitern setzt sich die alte Geschichte des Verhältnisses von H e r r und Knecht in Lateinamerika unter den Bedingungen der postmodernen globalen kapitalistischen Industrie- und Informationskultur fort und erfährt dadurch charakteristische Modifikationen. Das Herrschaftsverhältnis, das sich in die lateinamerikanischen Kulturen eingeschrieben hat, ist in verschiedener Weise dargestellt worden: als Gegensatz von offizieller dominanter Kultur und dominierten Kulturen, von hegemonialer Kultur und subalternen Kulturen oder als Gegensatz von Kultur der Elite und Massenkulturen.

6 Zur charakteristischen Duplizität einer offiziellen und einer verborgenen Kultur als Folge der historischen Herrschaftsverhältnisse vgl. die Schriften der Anthropologen Helcion Ribeiro. A identidade do Brasileiro: „capado, sangrando e festeiro". Petrópolis: Vozes, 1994; Roberto Damatta. A casa e a rua: espaço, cidadania, mulher e morte no Brasil. Sào Paulo: Brasiliense, 1985; Ders. O que faz o Brasil, Brasil? Rio de Janeiro: Rocco, 1991.

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Die Idee der dominanten und dominierten Kultur besagt, daß die Kultur einer Gruppe der Bevölkerung zur ökonomischen, sozialen, juristischen, religiösen, erkenntnistheoretischen, wertethischen und ästhetischen Norm für alle Mitglieder der Gesellschaft wird. 7 Sie kann von der dominierenden Schicht herangezogen werden, um ihre Vormachtstellung als etwas gleichsam Natürliches zu legitimieren und den von ihrer Macht abhängigen Völkern, gesellschaftlichen Gruppen oder kulturellen Minderheiten die Anpassung an die „überlegene" Kultur abzuverlangen. Die Idee kann umgekehrt diesen Gruppen jedoch auch helfen, sich ihren sozialen Standort bewußt zu machen und Herrschaftsverhältnisse zu durchschauen. Dies ist nicht möglich, solange der Gegensatz von dominierender und dominierter Kultur in einem rein deskriptiven Sinne gebraucht wird. Deutlicher interessengeleitet ist die Charakterisierung des Unterschieds zwischen den Kulturgruppen als Gegensatz von Elite- und Massenkultur. Die Überlegenheit der kulturellen Produktionen der Elite legitimiert ihre Vormachtstellung. Die Massen sind passive Konsumenten der Produkte der Kulturindustrie, die in der Zuschauerposition an der Verteilung der Kulturgüter teilnehmen. Die Verteilungsregeln des Marktes definieren, wer zur Elite und wer zu den Massen gehört. Der Markt legitimiert auch die Trivialisierung von Kunst und Wissenschaft, die ihrerseits wieder zur Festigung der Position der Elite beiträgt. 8 Die Rede von der hegemonialen Kultur und den subalternen Kulturen wurzelt im Marxismus und geht auf Gedanken Gramscis zurück, welche die Kultur in der sozio-ökonomischen Entwicklung situieren und sie als Instrument der herrschenden Klasse deuten, das zur Reproduktion der ungleichen sozialen Verhältnisse und im Kampf um ihre Vorherrschaft (Hegemonie) eingesetzt wird. 9 Nach dieser Theorie korrespondieren die sozialen Niveauunterschiede mit Kulturunterschieden, die auf eine ungleiche Teilnahme der verschiedenen sozialen Schichten an der Produktion, Zirkulation und dem Konsum von Kulturgütern zurückzuführen sind.10 Durch diese Unterschiede kommt es zu einem Gegensatz von hegemonialer Kultur und subalternen Kulturen. Der „Neogramscianer" Cirese unterscheidet zwei Arten von Niveauunterschieden: die äußeren, die sich im Gegensatz von europäisch-westlichen und primitiven Gesellschaften reproduzieren, und die inneren, die innerhalb der westlichen Gesellschaften die Unterschiede zwischen der herrschenden und den subalternen Bevölkerungsschichten hervorbringen. 11 Charakteristisch für

7 Ebd., 34. 8 Mario L. Peresson Tonelli. Educar desde las culturas populares. In: Cuadernos de Educaáón y Cultura Nr 4. Santafé de Bogotá, Sept. 1994, 36 f. 9 Nestor García Canclini. As culturas populares no capitalismo. Säo Paulo: Editora Brasiliense, 1983, 34. 10 Mario L. Peresson Tonelli. Educar, 34. 11 Nestor Garcia Canclini. As culturas populares, 48; vgl. Alberto M. Cirese. Ensazo

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die subalterne Kultur ist ihre weitgehende Abhängigkeit von der hegemonialen Kultur. Sie wird entweder als Reflex der hegemonialen Kultur geschildert, die sie definiert, ökonomisch in Abhängigkeit hält, symbolisch kontrolliert und entfremdet, indem sie die Erziehung bestimmt, sie über Radio und Fernsehen beeinflußt, Spezialisten zur Verfügung stellt (Sozialarbeiter, Arzte, Berater, Geistliche . . . ) , Gruppen einsetzt, die sie kontrollieren (Polizei, Justiz), und Propagandamittel benutzt. 12 Oder sie wird einseitig als Kultur des Widerstands gegen die hegemoniale Kultur geschildert. 13 Dies mag auf einige Indianerkulturen zutreffen, die sich gegen die „Conquista" verteidigten, stimmt jedoch nicht für andere lateinamerikanische Popularkulturen, die stets beides gewesen sind, Reflex der hegemonialen Kultur und Ausdruck des Protests gegen sie.14 Das Hauptproblem des Gegensatzes von hegemonialer Kultur und subalternen Kulturen besteht darin, daß beide als Größen geschildert werden, die einander ausschließen, sich exterritorial zueinander verhalten, und daß die subalterne Kultur ausschließlich als passiv und in Opposition zur herrschenden Kultur reagierend gesehen wird. Die lateinamerikanischen Popularkulturen haben, auch wenn sie als subalterne Kulturen verstanden werden, unabhängige Züge und ihre eigene Kreativität. Ihre Vertreter können in den Konfliktfeldern der Gesellschaft als eigenständige Akteure auftreten.' 5 Die sozialen Gegensätze als konstitutives Element der lateinamerikanischen Popularkulturen werden von einem folkloristischen Verständnis des „Populären" ausgeklammert. Diese romantisierende Sicht der Volkskultur definiert sie als das „Traditionelle" oder „Primitive". Sie idealisiert eine prämoderne und präindustrielle Lebenspraxis und wertet ihr gegenüber moderne Phänomene wie Industrie, Technik, Massenkommunikation und Urbanisierung ab. Elemente der Popularkultur sind die mündliche Uberlieferung eines Volkes oder einer Gruppe, ihr traditionelles Wissen, ihre Mythen und ihre Glaubensvorstellungen, ihre Riten und Feste, das heißt die volkstümlichen Formen des Ausdrucks von Glauben und Gefühlen, ihre Gebräuche, also Elemente des Lebensstils und Verhaltens im Alltag. Die Volkskultur als Folklore wird gefördert durch den Markt. Sie ist eine gut verkäufliche Ware geworden und wird in Lateinamerika auch von populistischen Politikern dazu benutzt, um nationale Gefühle zu erzeugen und eine politisch rückwärtsgewandte, konservative Vision der Gesellschaft durch den Appell an das Gefühl, an das Irratio-

sobre las culturas subalternas. México: Centro de Investigaciones Superiores del INAH, Cuadernos de la Casa Chata, nú 24, 1979, 55-56, 68-70. 12 Mario L. Peresson Tonelli. Educar, 55. 13 Nestor García Canclini. As culturas populares, 49. 14 Ebd. 15 Vgl. Mario L. Peresson Tonelli. Educar, 54.

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naie und die durch die Tradition suggerierte Sicherheit ideologisch zu stützen und zu verbreiten.16 Wie stellt sich nun nach einer kritischen Abwägung der verschiedenen Interpretationen das Phänomen der lateinamerikanischen Popularkulturen dar? Mit dem kolumbianischen Kulturforscher Peresson Tonelli können wir sagen: „ D i e Kulturen sind eingeschrieben in M a c h t b e z i e h u n g e n u n d müssen darum in ihrer Komplexität innerhalb der dialektischen B e z i e h u n g verstanden w e r d e n , w e l c h e die d o m i n a n t e n Sektoren mit der G e s a m t h e i t des V o l k e s unterhalten. V o m Gesichtspunkt der G r u n d b e z i e h u n g e n z w i s c h e n diesen verschiedenen s o zialen Akteuren aus k ö n n e n wir (zu analytischen u n d synthetischen Z w e c k e n ) das Problem beschreiben als das V o r h a n d e n s e i n einer dominanten, offiziellen, vereinheitlichten und kohärenten Kultur in einem anwachsenden Prozeß hegemonialer Verbreitung und Befestigung, und einer Vielzahl von Popularkulturen, die verstreut, beherrscht, subaltern und verarmt sind; sie subsistieren, leisten Widerstand oder befinden sich im Prozeß der Auflösung ". „In den Popularkulturen kreuzen sich die Art und W e i s e des D e n k e n s , Fühlens und Lebens, die aus einer h o m o g e n i s i e r e n d e n Kultur hervorgegangen sind, w e l -

16 Ebd., 43-45. In den letzten Jahren hat gerade die folkloristische Kultur der Gauchos aus dem südbrasilianischen Staat Rio Grande do Sul einen enormen Aufschwung genommen. Sie wird gepflegt in „ Centros de Cultura Gaucha (CTG)". Zu ihr gehören Traditionen wie das Churrasco, das Ritual des Trinkens von Chimando, Mate-Tee, der gemeinsam aus einer „ Cuia , einem aus Kürbisschalen geschnitzten Gefäß getrunken wird, besondere Kleidung, die „Bombacha" der Männer, eine türkische Pumphose, die als Reithose getragen wird, und die „Prenda" der Frauen, ein weit ausgestelltes, langes Kleid, des weiteren auch besondere Tänze und ein Typ von romantisch-sentimentaler Country-Musik (música gaúcha), die bevorzugt von männlichen Sängerpaaren vorgetragen wird. Mit den äußeren Kulturmerkmalen werden traditionelle ethische Codes bekräftigt und weitergegeben, insbesondere Vorstellungen über Männlichkeit und Weiblichkeit, Liebe und Freundschaft. Die Identifikation mit der Gaucho-Folklore wird gefördert durch Großveranstaltungen (Musikfestivals, Rodeos (ein Kulturimport aus den USA in eine südamerikanische Gesellschaft von Rinder- und Pferdezüchtern), die im Fernsehen übertragen werden. Von den Gauchos ist in den vergangenen 40 Jahren eine starke Wanderungsbewegung in den Norden und Nordosten des Landes ausgegangen. Die Siedler, die nach Mato Grosso und Amazonien, in die Staaten Rondônia, Acre, Pará, Tocantins und das Gebiet von Roraima bis hinein nach Venezuela vorgedrungen sind, haben ihre Folklore mitgenommen und an den Siedlungsorten CTGs gegründet. Die Identifikation mit der Folklore hat den Effekt einer kulturellen Abgrenzung. Die Gauchos bilden oft eine Art ethnischer Enklave, deren Regionalismus von anderen Brasilianern als exklusiv und als Ausdruck eines ethnischen Uberlegenheitsgefühls empfunden wird. 17 „ Las culturas están inscritas dentro de relaciones de poder y, por lo tanto, deben entenderse, en toda su complejidad, dentro de la relación dialéctica que mantienen dentro de la sociedad los sectores dominantes con el conjunto del pueblo. Desde el punto de vista de las relaciones fundamentales entre estos diferentes actores sociales podemos describir el problema (con fines analíticos y sintéticos), como la existencia de una cultura dominante, oficial, unificada y coherente, en processo de creciente implantación y afirmación hegemónica, y de urna pluralidad de culturas populares dispersas, dominadas, subalternas y empobrecidas, en estado de subsistencia o en actitud de resistencia o en processo de disolución." (Mario L. Peresson Tonelli. Educar, 30 f.). 58

che durch die Massenkommunikationsmittel und die vorherrschende Stadtkultur, die in den letzten 40 Jahren . . . die menschliche Geographie verändert haben, als Massenkultur auferlegt wurde, und, auf der anderen Seite, die Glaubensannahmen, Werte, Gefühle und der eigene Art, wie die popularen Klassen und Gruppen sind und leben"18.

Das „Volk" (pueblo, povo) als sozialer Akteur in einer gemeinsamen Geschichte steht nach Peresson Tonelli im Zentrum dessen, was man als lateinamerikanische Popularkultur bezeichnen kann. Von daher definiert sich das „Populäre" der Popularkultur als gemeinsam erlebte Situation der sozialen Abhängigkeit von einer dominanten Kultur in einer in Schichten und Gruppen aufgespaltenen Gesellschaft, als kreative Bewältigung des Alltags in dieser Situation und als aktiver Widerstand gegen die dominante Kultur. Dieses „Populäre" schreibt sich nun ein in eine Vielzahl von Kulturen der Ureinwohner, der Afroamerikaner, der Mestizen, der Arbeiter, der Land- und Stadtbevölkerung, die ihre eigenen Traditionen bewahrt haben oder entwickeln, und eigene Formen des Überlebens und der Lebensbewältigung gefunden haben. Abgesehen davon, daß es logisch keinen Sinn macht, ein Kollektiv wie das Volk als handelndes Subjekt zu verstehen, zeigt sich in diesem Ansatz eine Tendenz, das Volk zu idealisieren. Die Absicht, die Armen aus der Position der Abhängigkeit und Passivität in den Status handelnder Subjekte zu versetzen, wird durch eine marxistisch beeinflußte Kollektivierung dieser Subjekte im Begriff des „Volkes" als Subjekt, als historischem Akteur nivelliert. Diese Vereinheitlichung nimmt dann auch die kulturelle Diversität nicht ernst. So wichtig es ist, das „Populäre" als gemeinschaftlich erlebte Situation der Abhängigkeit im Gegensatz von dominanter, hegemonialer und subalterner Kultur festzuhalten, die sich in die verschiedenen Kulturen Lateinamerikas einschreibt, so wichtig ist es, die Individuen in diesen Kulturen nicht als handelnde Subjekte aus dem Blick zu verlieren und ihr kreatives Potential, mit den vom Markt vorgegebenen dominanten kulturellen Mustern umzugehen, sie auszunutzen und ihrerseits zu beeinflussen nicht zu unterschätzen. 19

18 „En las culturas populares se entrecruzan los modos de pensar, de sentir y de vida provenientes de una cultura homogeneizadora, impuesta como cultura de masas a través de los Medios Masivos de Comunicación y de la predominante cultura urbana que há transformado la geografia humana . . . en los últimos 40 años y, por otra parte, las creencias, los valores, los sentimientos y el modo endógeno como las clases y grupos populares son y viven" (ebd., 56). 19 Dieser Begriff von Popularkultur unterscheidet sich von der in der nordamerikanischen Forschung verbreiteten Definition der „popular culture", die sich auf Produkte der Massenunterhaltung bezieht, also die Kunst für den Massenkonsum (Filme, Musik etc.) erfassen will (vgl. dazu Jeffrey Howard Mahan. A long way from solving that one. Psycho/Social and ethical implications of Ross Macdonald's Lew Archer Tales. Lanham: University Press of America, 1990, ix.

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3.2. Popularkulturen

im Süden Brasiliens

Was bedeutet nun die Feststellung des Pluralismus der Popularkulturen für die Interpretation des Diskurses und der Erzählungen der Familien im Süden Brasiliens, die der Gegenstand unserer empirischen Untersuchung sind? Meist waren es Nachfahren von europäischen Einwanderern, Brasilianer deutscher, italienischer, portugiesischer, spanischer, polnischer, holländischer oder russischer Herkunft, mit denen wir in der Beratung gesprochen haben. Ihre Vorfahren sind im Zuge der politischen und sozialen Umwälzungen vor allem in der zweiten Hälfte des 19. und im ersten Drittel des 20.Jahrhunderts nach Brasilien ausgewandert. Sie wurden anfangs von der Regierung im Süden angesiedelt, in einer Region, die nach dem Vertrag von Tordesillas (1494), der Lateinamerika durch eine schnurgerade Linie zwischen Spanien und Portugal aufteilte, ursprünglich zu Spanien gehörte, nach langen Kämpfen aber zu Brasilien geschlagen wurde. In dieser Region war zwei Jahrhunderte zuvor das soziale Experiment der jesuitischen Indianermissionen kläglich gescheitert, und die berühmten Bandeirantes aus Säo Paulo machten in ihr über Generationen hinweg Jagd auf Indianer, die sie in die Zuckerrohrplantagen im Norden Brasiliens verkauften. In ihren Weiten entwickelten die Gauchos ihre eigene rauhe Viehzüchterkultur, auf die die Siedler aus Mittel- und Osteuropa trafen. Die politische Absicht der staatlichen Siedlungspolitik, die meist verarmte europäische Auswanderer anzog, war es, die Grenze gegen Argentinien zu sichern, das weite Land zu bevölkern, den weißen Bevölkerungsanteil gegenüber der farbigen Bevölkerung zu stärken und die in eine meist elende Freiheit entlassenen Sklaven als billige Arbeitskräfte zu ersetzen. In regionalen und lokalen Enklaven haben die Immigranten als ethnische Minderheit, oft isoliert von der Außenwelt, in einer ablehnenden Haltung gegenüber der Vermischung mit den kulturell Anderen, vor allem den Schwarzen und Indianern, mit denen sie sich bis in dieses Jahrhundert hinein in immer wieder aufflammende Auseinandersetzungen um den Besitz des Landes verwickelten, teilweise über vier oder fünf Generationen hinweg den Dialekt ihrer Heimat bewahrt und aus Elementen ihres kulturellen Erbes eigene Formen des Gemeinschaftslebens und eine ethnisch geprägte Identität entwickelt. Beide haben sich mit der vor der Ankunft der europäischen Siedler schon entwickelten Kultur der Gauchos vermischt. Die Religion, vor allem das protestantische Bekenntnis, wurde zu einem wichtigen Eckpfeiler der kulturellen Identität der deutschen Einwanderer, denen es von Staat und Gesellschaft schwer gemacht wurde, so etwas wie ein positives Selbstbild als Brasilianer, eine nationale Identität zu entwickeln, die sich unter dem Einfluß des Deutschen Reiches und des preussischen Oberkirchenrats allerdings auch bewußt von der brasilianischen Kultur absonderten und eine auf das deutsche Reich hin 60

orientierte nationale Enklave bildeten. 20 Während der Katholizismus es beispielsweise den Italienern und Polen erleichterte, sich im katholisch geprägten Brasilien zu integrieren, wurde der von offizieller Seite mit Argwohn betrachtete Protestantismus der Deutschbrasilianer aus dem Hunsrück, aus Pommern, Westfalen und den deutschen Siedlungsgebieten Rußlands zu einem Ort der Pflege der deutschen Sprache und Tradition. Die anti-deutsche Politik der Regierung von Getúlio Vargas zur Zeit des 3. Reiches verbot, um faschistische Tendenzen unter den Deutschbrasilianern zu unterdrücken, seit 1938 den Gebrauch der deutschen Sprache und die Verbreitung der deutschen Kultur. Damit wurden viele Verbindungen zu den kulturellen Wurzeln abgeschnitten und ein Prozeß der „Brasilianisierung" eingeleitet, der in den letzten Jahrzehnten auch die Kirchen des historischen Protestantismus erfaßt hat. Diese Marginalisierung der Deutschbrasilianer hat es ihnen zunächst noch weiter erschwert, sich mit der Kultur Brasiliens zu identifizieren, war jedoch ein wichtiger Schritt, um den Weg aus dem ethnischen Ghetto zu finden und sich in die brasilianische Gesellschaft einzugliedern. Insgesamt scheinen die europäischen Siedler aus dem Süden in der Kultur dieses Landes, das so groß ist wie ein Kontinent, eine eher marginale Rolle zu spielen. In Gilberto Freyres klassischer Darstellung der brasilianischen Familienkultur in dem Buch „Casa Grande e Senzala" werden sie nicht berücksichtigt. 21 Der Schriftsteller Erico Verissimo schildert sie in seinem 1948 erschienenen Epos der Kultur der Gauchos im 19. Jahrhundert als schwache, störende Eindringlinge. 22 Der Anthropologe Darcy Ribeiro widmet ihnen in seinem großen Buch über das Werden des brasilianischen Volkes nur einige wenige Seiten am Schluß. 23 Die sozialen und ökonomischen Umwälzungen in Brasilien seit den 40-er und 50-er Jahren haben das brasilianische Volk in das moderne Zeitalter eintreten lassen. Es gibt Stimmen, die behaupten, daß es den Schritt in die Moderne niemals vollständig vollzogen, daß die Aufklärung stets nur eine Angelegenheit der nach Europa orientierten Elite gewesen 20 Zur Frage von Religion, Nationalismus und ethnischer Identität unter den deutschen Einwanderern vgl. Martin Dreher. Kirche und Deutschtum in der Entwicklung der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1978; Hans Jürgen Prien. Evangelische Kirchwerdung in Brasilien. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1989; G. Seyferth. Nacionalismo e identidade étnica: a ideologia germanista e o grupo ètnico teutobrasileiro numa comunidade do Vale do Itajai. Florianópolis: Fundaçào Catarinense de Cultura, 1982; B. Lima Sobrinho. Desde quando somos nacionalistas? Petrópolis: Vozes, 1995; Nacionalismo e imigraçâo alemâ. X. Simposio de Historias de Imigraçâo Alemà. Säo Leopoldo, September, 1992. 21 Gilberto Freyre. Herrenhaus und Sklavenhütte : Ein Bild der brasilianischen Gesellschaft. München: Klett Cotta - Deutscher Taschenbuch Verlag, 1990 (Casa grande e senzala. Rio de Janeiro: Maia & Schmidt, 1933). 22 Erico Verissimo. O tempo e o vento I: O continente. 2 Bde., 29. Aufl., Sào Paulo: Ed. Globo, 1994. 23 Darcy Ribeiro. O povo brasileiro. Sào Paulo: Companhia das Letras, 1995.

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ist, während das Volk lange Zeit, meist ohne ausreichende Schulbildung, in der Prämoderne verharrte. Der Schritt in die Moderne des industriellen Kapitalismus, der auch die Landwirtschaft in eine Agrarindustrie verwandelte, war verbunden mit großen sozialen Veränderungen und Leiden. Migrationsbewegungen an die Agrarfront der „novas áreas", der „neuen Siedlungsgebiete" in Paraná, im Mato Grosso, Rondónia bis hin nach Amazonien oder Acre, die Abwanderung vom Land in die industriellen Metropolen, der wirtschaftliche Niedergang und die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten durch die kurzsichtige Wirtschaftspolitik der 1964 an die Macht geputschten Militärs, vor allem aber durch die Marginalisierung in einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung haben der Popularkultur im Süden Brasiliens wie in anderen Teilen des Landes und in den übrigen Ländern Lateinamerikas ihren Stempel aufgeprägt. Der Kampf ums Uberleben angesichts von Massenarbeitslosigkeit, Niedriglöhnen, Inflation, extremer Unterschiede in der Einkommensverteilung zwischen der kleinen reichen Oberschicht und der Masse des armen Volkes, die tägliche Auseinandersetzung mit schwerfälligen, korrupten und ineffektiven Institutionen wie dem öffentlichen Schul- und Gesundheitswesen oder der Polizei haben die Brasilianer die Kunst des Uberlebens in einem Zustand beständiger Unsicherheit gelehrt. Die Subkultur der Gewalt, des Drogenhandels, der Uberfälle und Morde, die sie, ganz gleich ob arm oder reich, in einem Zustand dauernder Wachsamkeit oder latenter Furcht leben läßt und dazu geführt hat, daß sie ihre Sicherheit oft selbst in die Hand nehmen, gehört ebenso zu ihrem Alltag wie die kleinen Fluchten in die Welt der „ Telenovelas", des Fußballs, einer religiös anmutenden nationalen Leidenschaft, der Feste (Karneval) und einer expressiven, oft synkretistischen Religiosität, in der pfingstlerische, afrobrasilianische und spiritistische Richtungen miteinander konkurrieren. Die Nachkommen der europäischen Einwanderer nehmen an dieser, hier in Andeutungen skizzierten, allgemeinen brasilianischen Popularkultur teil, bewahren aber in ihr ein eigenes Profil. Sie sind Elemente in einem pluralistischen Universum der Kulturen in Brasilien, die durch die nationale Kultur (noch) nicht vereinheitlicht wurden, durch die Inszenierungen der Massenmedien jedoch zunehmend an den Rand gedrängt oder funktionalisiert und folkloristisch vermarktet werden. So zieht etwa das „Oktoberfest" in Blumenau, einer in der Mitte des letzten Jahrhunderts gegründeten deutschen Siedlung, die sich zu einem industriellen Zentrum im Staat von Santa Catarina gemausert hat, jährlich mehrere Zehntausend Besucher aus den weiter nördlich gelegenen Metropolen (Säo Paulo, Rio, Brasilia usw.) an. Elemente deutscher Kulturtradition werden zum touristischen Marktschlager und dabei verbrauchergerecht stilisiert und verändert. Auf diese Weise überleben sie im Konkurrenzkampf der Marktwirtschaft, für die Kulturen kein Wert sind, wenn sie sich nicht vermarkten lassen.

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3.3. Die Hybridisierung der Kulturen und die ethnische Identität Es geht an dieser Stelle nicht darum, die Popularkultur im Süden Brasiliens detailliert zu beschreiben, sondern ausgehend von einer andeutenden Skizze des Kontexts den konzeptuellen Rahmen festzulegen, in den sie sich einschreibt. Wie viele andere Popularkulturen von ethnischen Minderheiten in Lateinamerika nimmt sie teil am Ubergang der Gesellschaften in den globalen Markt und der elektronischen Massenkommunikation. Die Kulturen der ethnischen Minderheiten werden hineingezogen in den Pluralismus der weltweiten Informationsgesellschaft, der zu einer wechselseitigen Durchdringung und Vermischung von Kulturen führt. Der von dem Mexikaner Canclini geprägte Begriff der „hybriden Kulturen" wird von uns herangezogen, um diesen neuen Kulturtyp zu charakterisieren, der die lateinamerikanische Popularkultur erfaßt hat und sich in vielen Varianten in den Alltagsproblemen und Lebenskrisen der Familien reproduziert oder neu erfunden wird. Nach Canclini befinden sich die lateinamerikanischen Kulturen im Ubergang von der Moderne zur Postmoderne in einem Prozeß „interkultureller Hybridisierung".24 Er zeigt dies unter anderem auf am Beispiel der Sozialwissenschaften, die versuchen im Begriff der „Urbanen Kultur" den schwammig gewordenen Unterschied zwischen dem „Kultivierten" und dem „Populären" aufzufangen, und geht der Hybridisierung nach in den Phänomenen des Zerbrechens und der Vermischung der Kollektionen, welche die Kultursysteme organisiert haben, der Deterritorialisierung der symbolischen Prozesse und der Expansion der unreinen Gattungen. Die Zahl der Stadtbewohner in Lateinamerika ist von 10 Prozent am Anfang dieses Jahrhunderts auf 60-70 Prozent gestiegen. Die zunehmende „Telepartizipation" am sozialen Leben bringt tiefgreifende Veränderungen in der Beziehung zwischen dem Privatbereich und der Öffentlichkeit mit sich. Das von der Soziologie entworfene Bild, daß die Großstadtmetropolen die Anonymisierung förderten, während das Stadtviertel ein Raum öffentlicher Partizipation und Solidarität sei, in dem das Volk seine Interessen vertritt und gesellschaftsverändernde Bewegungen organisiert, stimmt nicht mehr, wenn Information, Unterhaltung, private und berufliche Kontakte durch elektronische Medien ins Haus gebracht werden. Die Grenze zwischen dem Privaten und Öffentlichen verschwimmt, die kollektive Identität, die etwa in großen politischen Kundgebungen zum Ausdruck kommt, nimmt immer weniger Raum in der Stadt ein. Der Alltag des Volkes spielt sich ab zwischen der Anonymität serieller Massenproduktion, der immateriellen Kommunikation durch die elektronischen Medien und privaten Kontakten. Die Logik und Dynamik des Marktes orientiert die Kultur an den Produkten des 24 Nestor Garcia Canclini. Culturas híbridas: Estrategias para entrar e salir de la modernidad México D.F.: Ed. Grijalbo, 1989, 264.

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Massenkonsums und ebnet den Unterschied zwischen der Kultur der Gebildeten und der Popularkultur ein. Arbeitslosigkeit, Inflation und niedrige Löhne zwingen die Armen, sich durch Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten, zweite und dritte Jobs zu suchen, die ihre freie Zeit erheblich reduzieren. Die Medien mediatisieren das öffentliche und private Leben. 25 Als Dekollektionierung bezeichnet Canclini den Verlust der klassifizierenden Ordnungen der symbolischen Güter einer Kultur. Die Kollektionen der alten Museen entwickelten eine Hierarchie der ausgestellten Objekte, klassifizierten sie, machten sie zugänglich und unterschieden diejenigen, die sie kannten, als Gebildete vom ungebildeten Volk. Diese Unterschiede sind hinfällig geworden. „Die Kulturen gruppieren sich schon nicht mehr in fixierten und stabilen Einheiten; und deswegen verschwindet die Möglichkeit, gebildet zu sein, weil man das Repertoire der ,großen Werke' kennt, oder volkstümlich zu sein, weil man den Sinn der Objekte und Botschaften, die durch eine mehr oder weniger begrenzte Gemeinde produziert werden (eine Ethnie, ein Stadtviertel, eine Klasse) zu handhaben weiß." 26 Am weitesten fortgeschritten in dieser Auflösung der kulturellen Hierarchien sind die Videoclips, eine Montage der verschiedensten Gattungen des symbolischen Ausdrucks, von Text, Musik, Film, Foto, eine Aneinanderreihung von Zitaten, Inszenierungen ohne Akteure, die in alle Häuser gelangen. 27 Ahnliche Vermischungen präsentieren sich in den Videospielen. Durch sie partizipieren Kinder und Adoleszente aus den Mittelund Oberschichten, die sie am „Homecomputer" spielen, und Adoleszente aus der Unterschicht, die in Spielotheken zu ihnen Zugang haben, an denselben symbolischen Produkten. 28 Die „Deterritorialisierung" und „Reterritorialisierung" des Wissens meint den „Verlust der natürlichen' Verbindung der Kultur mit den geographischen und sozialen Räumen und gleichzeitig bestimmte territorial relative und begrenzte Relokalisierungen alter und neuer symbolischer Produktionen" 29 Mit der multinationalen Dezentralisierung der Wirtschaftsunternehmen, den weltweit vernetzten Informationssystemen, ist es zu einer „Angleichung gewisser Erkenntnisse und internationaler Bilder im Wissen und in den Gebräuchen" der Völker gekommen. 30 Dadurch wird der Gegensatz zwischen der hegemonialen Kultur und den subalternen 25 Ebd., 264-270. 26 „Las culturas ya no se agrupan en conjuntos fijos y estables, y por tanto desaparece la possibilidad de ser culto conociendo el repertorio de ,las grandes obras', o ser popular porque se maneja o sentido de los objetos e mensagens producidos por una comunidad mas o menos cerrada (una etnia, un barrio, una clase)" (ebd. 283). 27 Ebd., 284 f. 28 Ebd., 287. 29 Ebd., 288. 30 Ebd., 289.

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Kulturen verwischt: Die lateinamerikanischen Kulturen werden internationalisiert, nehmen aktiv Einfluß auf die kommerzialisierte globale Kultur und dringen immer weiter in die erste Welt vor. Canclini erläutert dies am Beispiel der brasilianischen Fernsehproduktion. Der Anteil der ausländischen Sendungen am Fernsehprogramm des Landes ging von 60 % im Jahr 1972 auf 30 % im Jahr 1983 zurück. Brasilianische Telenovelas (soap operas) werden auf den lateinamerikanischen Markt, nach Europa und in die USA exportiert. Brasiliens Fernsehproduktion steht weltweit an siebter, seine Musikproduktion an sechster Stelle auf dem Weltmarkt. 31 Lateinamerikanische Musik, vor allem die populäre Musik, ist zu einem festen Bestandteil des Musikrepertoires im Rundfunk Europas und der USA geworden, wo ein Markt von mehr als 20 Millionen spanischsprachigen Konsumenten vorhanden ist. Die bisher gängige Identifikation des „Populären" mit der Bindung an das „Nationale", an einen geographisch begrenzten Raum, der abgegrenzt ist von der internationalen hegemonialen Kultur, wird dem zirkulären Austausch der Kulturgüter nicht gerecht. Die Migrationsbewegungen ins Ausland, ausgelöst durch bis zu 2 Millionen Lateinamerikaner, die in den Zeiten der Militärdiktaturen ins Exil gingen, und die anhaltende Wanderungsbewegung aus Lateinamerika in die Vereinigten Staaten und andere Länder der ersten Welt, hat zu einer Erweiterung und Vertiefung des kulturellen Austauschs geführt. Der Anteil an Latinos und Asiaten in Los Angeles wird sich im Jahr 2010 der Zahl von 60% annähern. Der amerikanische Anthropologe Renato Rosaldo spricht angesichts solcher Fakten von einem „Einbruch der dritten Welt in die erste", der es unmöglich macht die Konzeption einer „authentischen Kultur als autonomes, in sich geschlossenes Universum" aufrechtzuerhalten. 32 Dadurch verschiebt sich auch die in der Theorie des Gegensatzes von dominanter und dominierender Kultur geläufige Differenz zwischen Metropole und Peripherie. An der Grenze zwischen den USA und Mexiko findet ein beständiger Austausch statt, der die mexikanische Landbevölkerung an den kulturellen Entwicklungen in den USA beteiligt.33 Macht, Reichtum und der Austausch von Kulturgütern vollzieht sich nicht mehr nur in den Zentren, während die Peripherie ihre eigene auf Solidarität und persönlichem Kontakt basierende Gemeinschaftskultur pflegt. Ebenso wie die Ökonomie sich von den Zentren an die Peripherie verlagert und mit der dort vorherrschenden Wirtschaftsstruktur kreuzt, überschneiden sich auch die Symbolsysteme. Es wird nötig eine „alternative Kartographie des sozialen Raumes" einzuführen, die den Gegensatz von Zentrum und Peripherie durch die Metapher des „Kreises" (circuito) und der „Grenze" {frontera) ersetzt. 34 31 32 33 34

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

290. 293. 292 ff. 292.

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Die Hybridisierung der Kultur modifiziert also die Sicht der Beziehungen zwischen der hegemonialen Kultur und den subalternen Kulturen. Dadurch verliert diese jedoch nicht ihren Sinn.35 Die Dynamik des neoliberalen globalisierten Marktes hat in den 80er und 90er Jahren dazu geführt, daß ein hoher Prozentsatz der lateinamerikanischen Bevölkerung ohne regelmäßige bezahlte Arbeit und ohne soziale Sicherheit auf dem „informellen" Markt überlebt. 36 Ihre Partizipation beschränkt sich weitgehend auf die Rolle des Konsumenten und auf die des Zuschauers von Bildern, die Konsumwünsche wecken, welche die meisten niemals befriedigen können. Das hat Auswirkungen auf die kulturelle Identität der Individuen. Sie wird fragmentiert und wird durch die Identifikation mit einer Vielzahl verschiedener und heterogener Elemente „ausgehandelt." „Heutzutage ist die Identität, selbst in weiten Bereichen der Bevölkerung vielsprachig, multi-ethnisch, migratorisch, aus vermischten Elementen verschiedener Kulturen gemacht."57

Die populare Identität ist multikulturell und nicht mehr einfach mit der nationalen Identität gleichzusetzen. Sie wird mitbestimmt durch die Art und Weise wie die Einzelnen an den „ungleichen Kreisläufen von Produktion, Kommunikation und der Aneignung der Kultur teilhaben." 38 Dies bedeutet allerdings nicht die völlige Ablösung der nationalen und traditionellen ethnischen Identifikation bei der Konstruktion der Identität. Sie kann im Extremfall in fundamentalistischen ethnischen und regionalen folkloristischen Gegenbewegungen bis hin zur Entsolidarisierung und zum Völkermord verteidigt werden. Nach Canclini sind die Effekte der Globalisierung für die Identitätsbildung in verschiedenen Kontexten unterschiedlich: In einigen ländlichen Gebieten ist die Öffnung für die globale Ökonomie geringer, das symbolische Erbe regionaler Gebräuche, Kenntnisse und Erfahrungen wird ohne größere Brüche oder Veränderungen des Profils an die folgenden Generationen weitergegeben. Die globale Abhängigkeit nimmt im Bereich der Massenkommunikation in den meisten Ländern Lateinamerikas, die wenig eigene Produktion haben, zu und erreicht ihren Höhepunkt im Netz der elektronischen Informationstechnik. 39 Die Beschreibung der lateinamerikanischen Popularkulturen als „hybride Kulturen" verhilft uns zu einem differenzierteren Verständnis der Popularkultur. Sie zeigt wie diese sich einschreibt in ein komplexes Ge-

35 Nestor Garcia Canclini. Consumidores e cidadäos: Conflitos multiculturals da globalizaçâo. Rio de Janeiro: Editora UFRJ, 1996, 151. 36 Ebd., 19. 37 Ebd., 142. 38 Ebd., 149. 39 Ebd., 150.

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flecht globaler und regionaler Beziehungen zwischen der hegemonialen Kultur und den subalternen Kulturen. Sie lehrt uns sehen, wie diese ungleichen Beziehungen im alltäglichen Umgang neu erfunden oder reproduziert werden, wie der Sektor der subalternen Kulturen im überlebenswichtigen Zusammenspiel mit denen, die in den Institutionen und Korporationen der Gesellschaft an den Schalthebeln der Macht sitzen, zusammenarbeiten und damit ihre soziale Situation aufrechterhalten. Sie sensibilisiert unsere Wahrnehmung für die schwierigen Prozesse des Aushandelns, in denen Individuen und Gruppen eine multikulturelle und multiethnische Identität stabilisieren, besonders wenn es darum geht, in einer subalternen sozialen Position, angesichts der Auflösung der politischen Öffentlichkeit und der Verschiebung der gesellschaftlichen Partizipation ins Private, in einer Kommunikationsgesellschaft, für die Ländergrenzen wenig bedeuten, eine politische Identität als Bürger eines Landes zu finden. Das „Populäre" der Popularkultur ist im postmodernen Zusammenhang eine „Inszenierung" von sozialen Akteuren, die von ihrer Position aus am Drama der Kämpfe und Prozesse des Aushandelns in der Gesellschaft teilnehmen. 40 Die Entwicklung hybrider Kulturen kann die ethnischen Elemente der Popularkultur zu Symbolen des Widerstands gegen die Vereinnahmung durch die dominante Kultur machen. Dabei spielen, wie Untersuchungen an bolivianischen Emigranten in Buenos Aires und an Mexikanern in den USA gezeigt haben, familiäre Traditionen, vormoderne paternalistische Machtbeziehungen wie das „Compadrio", das wechselseitig verpflichtende Patenschaftsverhältnis, aber auch Feste eine wichtige Rolle.41 Ein faszinierendes Beispiel für die Entwicklung einer hybriden Popularkultur als Ausdruck ethnischen Widerstandes ist der ethnische Wiederaufstieg der Mayas in Guatemala und Mexico nach dem Ende der Bürgerkrieg und Militärdiktaturen in Zentralamerika. „The renaissance is most evident in the two countries where the Maya are most numerous, Guatemala (which has 4.5 Million Maya, 60 percent of the total population) and Mexico. But leaders in all fields - teachers, writers, artists and others - have begun reaching across national boundaries, seeking to renew the cultural identity that once built an ancient empire. Mayan fashion designers are working to put their creations on women (and men) around the world. Mayan programmers have built software enabling users to apply ancient divination systems in their IBMs at home. Some enthusiasts have begun calling the whole region Mundo Maya - ,Maya World'. Never mind that the word mundo is Spanish. It simply makes better business sense than to use the Mayan term that few tourists would recognize or understand"42.

40 Ebd., 239. 41 Ebd., 237. 42 Newsweek, November 3, 1997, 14.

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Computertechnologie und globale Marktstrategien werden eingesetzt, um die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen für die (Re-Konstruktion der kulturellen Identität eines armen Volkes, dessen Imperium vor etwa 1000 Jahren zerbrochen ist, und das in den Jahrhunderten nach der Conquista am Rande der Gesellschaft existierte. Volksbildungsprogramme fördern den Unterricht in den verschiedenen Maya-Sprachen für Kinder. Am Computer werden von einigen Linguisten Wörterbücher entwickelt, um die Maya-Sprachen zu kodifizieren. Die religiösen Uberlieferung werden neu geschätzt. In Guatemala gehen Mayas dazu über, die religiösen Riten ihrer Vorfahren zu zelebrieren. In Mexico hat sich seit den 90-er Jahren in der armen Landregion von Chiapas, in der internationale Firmen reiche Ölvorkommen ausbeuten, die Landbevölkerung aber weitgehend vom Wirtschaftsleben ausgeschlossen bleibt, die kulturelle Identität der Mayas in der Bewegung der Zapatisten politisch Ausdruck verschafft und unter der Führung des Kommandanten Marcos militärisch organisiert. Hier zeichnet sich ab, daß die Wiederentdeckung der kulturellen Identität der marginalisierten Völker künftig auch ein ernstzunehmender politischer Faktor sein kann. 43 Ahnliche Prozesse sind im den letzten Jahrzehnt weltweit auch bei anderen Völkern zu beobachten und artikulieren sich zunehmend im Bereich der kirchlichen Ökumene. Pater Frans Damen hat sie im Rahmen eines von den Mitgliedskirchen des Lateinamerikanischen Kirchenrates (CLAI) im Jahr 1995 in Quito abgehaltenen Seminars zum Thema Etnias, Culturas y Teologías als „Re-Ethnisierung" (re-etnificación) bezeichnet. „Im Prozeß der Re-Ethnisierung geht es nicht darum, daß die Mitglieder einer ethnischen Gruppe die Totalität einer Kultur in den Mittelpunkt stellen und wiederbeleben, was unmöglich wäre, vielmehr wählen sie bestimmte, als signifikant angesehene Züge aus, ebenso wie auch kulturelle Werte ausgewählt werden, die der ethnischen Gruppe auf besondere Weise helfen, im Gegenüber zu anderen Kulturen, speziell zu angrenzenden Kulturen, ein Profil der eigenständigen und spezifischen Identität zu gewinnen. Sie wählen darum Kulturelemente aus, die sie für typisch und charakteristisch für die eigene ethnische Gruppe halten und die einen ,urtümlichen' und ,ursprünglichen' Charakter haben . . . Elemente, die zum Beispiel die Anpassungsfähigkeit und Modernisierung der Kultur zeigen, wählen sie nicht aus, sondern nur diejenigen, welche die Bedeutung des antiken, unveränderlichen und unberührbaren Charakters derselben verstärken"44.

43 Ebd., 13-16. 44 „En el processo de re-etnificación, los miembros del grupo étnico no tratan de enfocar y revitalizar la totalidad de la cultura, lo que sería imposible, sino que seleccionan ciertos rasgos considerados significativos, como son también seleccionados valores culturales que ayudan de modo especial al grupo étnico a perfilarse con identidad pròpria y particuluar, frente a otras culturas, sobre todo frente a culturas limítrofes. Seleccionan pues elementos culturales que consideran típicos y privativos del pròprio grupo étnico y que tienen un carácter ,ancestral' o ,originàrio' y un pasado lejano. N o suelen seleccionar aquellos elementos que demuestran, por ejemplo, una capacidad de adaptación y de modernización

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D e r Ausdruck der ethnischen Identität macht sich an bestimmten Symbolen fest, die, unabhängig von ihrem sozialen Anpassungswert, für eine Volksgruppe bedeutsam sind. Dabei läßt sich eine gewisse Standardisierung beobachten. So demonstrieren etwa die Aymara-Indianer in den Andenstaaten ihre ethnische Identität durch das Symbol der Cocapflanze. D a s traditionelle Kauen von Cocablättern und der rituelle Gebrauch von Coca ist eine Praxis, die die Aymara gemeinsam haben und die sie von anderen Völkern unterscheidet. Darum eignet sie sich als Symbol, auch wenn sie im täglichen Leben keineswegs einen größeren Raum einnimmt als andere Kulturelemente. „In einer Perspektive der Ethnizität oder der Re-ethnisierung wird sehr deutlich, daß weder die Ethnie noch die Kultur als fixe, abgeschlossene und isolierte Wirklichkeiten angesehen werden können. Die Ethnizität und die Ethnie schaffen sich: 1) durch eine Interaktion mit anderen Ethnien und innerhalb derselben Grenzen - und nicht auf der Grundlage eines selbstgenügsamen und isolationistischen kulturellen Rassismus, 2) auf der Grundlage von Optionen ethnischer und kultureller Identität, die von Personen und Gruppen gemacht werden, und 3) in der Interaktion mit der eigenen Kultur. Die Ethnien ebenso wie die Kulturen verändern sich ständig in Interaktion und in Funktion der (irritierenden) Präsenz anderer Kulturen . . . Man muß hervorheben . . . , daß eine ethnische Gruppe, mit dem Ziel ihre eigene Identität zu finden und gegenüber anderen zu profilieren, bestimmte kulturelle Elemente aktiv und kreativ handhabt, während sie andere beiseite läßt, ohne sie zu berühren. Dies ist ein integrierender Bestandteil des globalen Prozesses der Re-ethnisierung."45

de la cultura, sino únicamente aquellos que fortalecen el sentido del carácter antiguo, invariable e intocable de la misma" (Frans Damen. Etnias, culturas y teologías. In: Conselho Latinoamericano de Igrejas (CLAI). Etnias, culturas y teologías. Quito: Ediciones CLAI, 1996, 9 f.). 45 „En una perspectiva de etnicidad y re-etnificación, queda muy claro que ni la etnia ni la cultura pueden ser consideradas como realidades fijas, cerradas y aisladas. La etnicidad y la etnia se van creando: 1) mediante una interacción con y en los mismos limites con otras etnias - y no en base a un racismo cultural autosuficiente y aislacionista; 2) en base a opciones, personales y grupales, de identidad étnica y cultural y, 3) en una interacción con la propia cultura. Tanto las etnias como las culturas están cambiando constantemente, en interacción e incluso en función de la presencia (irritante) de otras culturas . . . Es de destacar, . . . , que un grupo étnico, con el fin de encontrar y perfilar su propia identidad frente a otros, va ,manejando' activa y creativamente ciertos elementos culturales mientras otros dejados de lado, sin tocar. Esto es parte integrante del processo global de re-etnificación" (ebd., 10 f.).

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4. Kapitel: Die Bedeutung der Familie im Kontext der lateinamerikanischen Popularkulturen 4.1. Von der patriarchalen

zur matrifokalen

Familienstruktur?

W e l c h e Position u n d B e d e u t u n g k o m m t d e r Familie im K o n t e x t d e r lateinamerikanischen P o p u l a r k u l t u r e n zu? F ü r unsere U n t e r s u c h u n g des Z u s a m m e n h a n g s von K u l t u r u n d Beratung an Beispiel d e r Familienberat u n g mit Familien d e r U n t e r - u n d unteren Mittelschicht in Südbrasilien ist es wichtig, festzustellen, wie sich die Beziehungs- u n d I n t e r a k t i o n s s t r u k t u r e n d e r u n t e r s u c h t e n Familien zu d e r von d e r Soziologie u n d K u l t u r a n t h r o p o l o g i e herausgearbeiteten S t r u k t u r brasilianischer u n d lateinamerikanischer Familien mit anderen kulturellen W u r z e l n verhalten u n d welche B e d e u t u n g die familiären Beziehungen f ü r das Selbstverständnis d e r Individuen h a b e n . N u r auf diesem H i n t e r g r u n d ist es sinnvoll, V e r ä n d e r u n g e n von Beziehungen, die von den B e t r o f f e n e n als p r o b l e m a tisch erlebt w e r d e n , ins Auge zu fassen, u n d ü b e r den Beitrag, den Elemente d e r P o p u l a r k u l t u r d a z u leisten k ö n n e n , n a c h z u d e n k e n . A l e j a n d r o M o r e n o O l m e d o , ein Psychologe, Soziologe u n d katholischer T h e o l o g e aus Venezuela, h a t lange J a h r e inmitten einer Favela von C a r a c a s gelebt, die p o p u l a r e Lebenswelt studiert u n d dabei die zentrale B e d e u t u n g d e r Familie u n d einer m a t r i f o k a l e n Familienstruktur f ü r die K o n s t r u k t i o n d e r E r k e n n t n i s in d e r P o p u l a r k u l t u r aufgewiesen. Seine U n t e r s u c h u n g ü b e r die Episteme d e r subalternen, marginalisierten Bevölk e r u n g s g r u p p e n u m f a ß t einen weiten philosophischen H o r i z o n t , h a t jed o c h als empirischen H i n t e r g r u n d die m e h r als 3000 Seiten u m f a s s e n d e T r a n s k r i p t i o n von 80 Biographien von V e r t r e t e r n d e r P o p u l a r k u l t u r , 50 d a v o n aus seinem eigenen Stadtviertel. 1 N a c h M o r e n o ist die Familie die M a t r i x d e r Episteme d e r v e n e z i a n i s c h e n P o p u l a r k u l t u r . Er entwickelt seinen Begriff der Episteme in der Auseinandersetzung mit Foucaults Konzept der Episteme, dem Begriff der Lebenswelt bei Habermas und Derridas Metapher der „Spur" als Marke der Inskription von Signifikanten. Foucaults Konzept der Episteme versteht diese als Gesamtheit der generellen Regeln und Grundannahmen, die den kulturellen Diskurs in einer bestimmten Epoche beherrschen und sich im Lauf der Zeiten ändern.2 Während für Foucault 1 Alejandro Moreno Olmedo. El aro y la trama: Episteme, modernidad y pueblo. Caracas - Valencia: Centro de Investigaciones Populares (CIP), 1993, 390. 2 Ebd., 32 f.

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die Regeln des Diskurses identisch sind mit den historischen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, rekurriert Moreno auf die Episteme als Teil der Lebenswelt, die dem Diskurs und den ihn bestimmenden Regeln noch vorausliegt.3 Nach Habermas' „Theorie des kommunikativen Handelns" stellt die Lebenswelt das für die Situationsdefinition und Verständigung notwendige Wissen zur Verfügung. Sie ist ein sprachlicher Wissensvorrat, der den Handelnden Bedeutungszusammenhänge eröffnet, „die zwischen einer gegebenen kommunikativen Äußerung, dem unmittelbaren Kontext und ihrem konnotativen Bedeutungshorizont bestehen"4 Die Kommunikationsteilnehmer bewegen sich schon immer im Kontext der Lebenswelt, die ihnen „Hintergrundüberzeugungen" des „kulturell Selbstverständlichen" liefert und sie dadurch in jeder Situation einen Zusammenhang zwischen „objektiver, sozialer und subjektiver Welt" finden läßt 5 Moreno versteht die Episteme als einen aus der kulturellen Lebenspraxis hervorgegangenen Modus des Lebens, einen Habitus, der sich in die Lebenswelt eingeschrieben hat, also den Horizont des Diskurses bildet6. Im Anschluß an Derrida kennzeichnet er die Episteme als Spur. In Derridas „Grammatologie" wird die Instanz einer „instituierten Spur" als die allen Signifikationssystemen gemeinsame Möglichkeit dargestellt, die im Konzept der Schreibung impliziert ist. Der Prozeß der sprachlichen Signifikation beruht auf der Differenz der Signifikanten, die es ermöglicht, daß ein Signifikant in der Verweisung auf einen anderen Signifikanten ein Signifikat erzeugt, in den Text der Sprache Bedeutung einschreibt. Die Inskription der Bedeutung ist eine Spur. Sie verweist auf Signifikanten, die nur als abwesende Sinn erzeugen. Die Interpretation der Episteme als Spur kennzeichnet sie als Verweis auf einen abwesenden Ursprung, als Präsenz von etwas, das vorausliegt und sich, wenn es sprachlich als Bedeutungszusammenhang erfaßt wird, nur wiederum als Abdruck eines anderen vorausliegenden Originals erweist. Im Unterschied zu Derrida bezieht sich Moreno jedoch nicht auf einen transzendentalen Ursprung des Diskurses, sondern auf die historisch-soziale Lebenssituation einer Gruppe, die sich einschreibt in einen Modus des Lebens, der allen Diskursen und den Regeln, die sie organisieren zugrunde liegt.7 Im Mittelpunkt der Lebenswelt der Unterschicht in Venezuela steht mit großer Ausstrahlung in andere Bevölkerungsschichten hinein die matrifokale Familie. Die familiären Bindungen konstituieren die Lebenswelt in den Armenvierteln. Die Struktur des sozialen Lebens in der Favela baut auf ihnen auf.8

3 Alejandro Moreno Olmedo. El aro y la trama, 35 ff. 4 Jürgen Habermas. Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. 4. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987, 190. 5 Ebd., 191. 6 Ebd., 45 ff. 7 Ebd., 66 ff. „ . . . la episteme en quanto matriz, se concibe como un sistema-huella de representaciones-huella generales en constante fluencia - producción y reproducción - de dentro hacia fuera, desde el fondo no representado (pero representable mediante la critica hermenéutica) a la claridad de las representaciones y los discursos. La vida/cultura le proporciona el lugar y los lugares" (ebd., 51). 8 Ebd., 12.

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„Unter einem formal starken und tatsächlich schwachen Patriarchat, funktioniert nach innen ein allumfassendes Matriarchat".9

Die Familie wird konstituiert durch die Mutter und ihre Kinder. 10 Die soziale Rolle der Frau ist identisch mit der der Mutter. Ihre soziale Identität definiert sich nicht als die einer sexuell unabhängigen Frau, auch nicht durch die Beziehung zum Ehemann, sondern durch die zu den Kindern. Durch ihre Kinder konstruiert die Frau ihre eigene Familie, während der Mann als Sohn seiner Mutter immer schon eine Familie hat, an die er lebenslang gebunden bleibt. Ihre sexuelle Identifizierung besteht darin, daß sie ein mütterlicher Körper ist. Die Mutter-Kind-Beziehung ist das fundamentale soziale Band, in dem ökonomische, soziale und affektive Grundbedürfnisse befriedigt werden. Die Frau kann von Beziehungen zu oft wechselnden Männern keine Befriedigung und Sicherheit erwarten. Der Sohn, den sie zur Welt gebracht hat, ist dafür zuständig, ihr Schutz, Sicherheit, Versorgung, Affekt, Gesprächsmöglichkeiten, sozialen Austausch, Würde und Anerkennung zu verschaffen. Die Bindung zur Mutter ist seine einzige stabile affektive Identifikationsmöglichkeit. Sie ist konstitutiv für seine Identität. Die Identität des Mannes ist stets und zuerst die Identität als Sohn, nicht die eines unabhängigen Mannes. Er kann eine Menge Bindungen eingehen, die jedoch instabil sind. Die Beziehung zu anderen Frauen als der Mutter dient dazu, sexuelle Befriedigung und Bestätigung der Maskulinität zu finden, die die Mutter nicht geben kann. Die Beziehung zu den Kindern ist ebenfalls oberflächlich und fragil. Sie sind für den Mann in erster Linie ein Beweis seiner Virilität. Im Unterschied zum „Machismo der Macht", dessen Grundlage die Unterwerfung unter die Gewalt eines autoritären Vaters ist, entwickeln die Männer in der Popularkultur einen „genitalsexuell orientierten Machismo", der seine Wurzeln in der starken Mutterbindung hat, und in dem die sexuelle Promiskuität eine wesentlich größere Rolle spielt als der Autoritarismus. Die soziale Aufgabe der Töchter ist es, in Identifikation mit der Mutter ihre eigene Familie zu gründen. Sie können Beziehungen mit wechselnden Männern haben, deren Hauptfunktion sich darauf beschränkt, Kinder zu erzeugen. Die Bindung an die Mutter bleibt eng. Wenn es nötig ist, übernimmt sie die Versorgung und Erziehung der Enkelkinder. Die Geschwisterbeziehung wird durch die Mutterbeziehung vermittelt. Als Geschwister relevant sind die Brüder und Schwestern, die von derselben Mutter stammen, auch wenn sie unterschiedliche Väter haben. Sie sind einander zur Solidarität verpflichtet und haben affektive Beziehungen. Gegenüber Halbgeschwistern, die aus der Beziehung des Vaters zu anderen Frauen hervorge-

9 „Bajo un patriarcado formalmente fuerte, y realmente débil, funciona un matriarcado (sic) totalizador de puertas adentro" (ebd., 393). 10 Zum folgenden vgl. ebd., 390-424.

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gangen sind, besteht keine solche Verpflichtung. Moreno fragt, inwieweit dieses Schema einer Hierarchie der Solidaritätsverpflichtungen, der Bindung und des Ausschlusses nicht das normative Modell für außerfamiliäre Beziehungen in Arbeitsgruppen, unter Freunden, in der Politik und religiösen Gemeinde ist." Die Präsenz des Vaters in der Familie ist passager. Das Vatersein orientiert sich nicht so sehr an der genetischen Erzeugung als vielmehr an der Erziehung. Der Vater ist jeweils diejenige männliche Figur, die die väterliche Rolle in der Familie übernimmt und repräsentiert. Die Fragilität der Präsenz des Vaters markiert seinen Platz als eine Leerstelle und hinterläßt unerfüllte Wünsche und affektive Karenzen. Im Kontext der matrifokalen Familie konstituiert sich die populare Lebenswelt nicht als die des „homo oeconomicus" oder die des „homo fabef, sondern als die des von Moreno so benannten „homo convivialis". Die fundamentale Sinnerfahrung, die sich in sie einschreibt ist die der Beziehung zur Mutter. Das Ich erlebt sich lebenslang als Sohn oder Tochter und nicht zuerst als individuelles Ich. Der Mensch ist er selbst in der matrifokalen Beziehung. Das „Sein-in-der-Beziehung" (Enrique Dussel) ist das Fundament der popularen Lebenswelt. Für den homo convivialis sind die „Dinge weniger wichtig als die Personen". Das manifestiert sich, so Moreno, im sorglosen oder nachlässigen Umgang mit den Objekten überhaupt und mit Geld im besonderen. Ökonomie und Produktion sind für ihn nicht unwichtig, aber sie kommen erst in zweiter Linie. Die so charakterisierte populare Lebenswelt konstituiert eine Episteme, eine Art und Weise des Erkennens und Wissens, die den diskursiven Bezug zur sozialen Welt regelt, die sehr verschieden ist von der Episteme der Moderne, von wissenschaftlicher Weltbemächtigung und ökonomischem Gewinnstreben. 12 Der Gewinn von Morenos faszinierender Untersuchung besteht unter anderem darin, daß sie ein Modell für das Verständnis lateinamerikanischer Popularkulturen entwirft, das daraufhin überprüft werden kann, ob es auch in anderen kulturellen Kontexten Lateinamerikas gültig ist. Eine Reihe von Untersuchungen deutet darauf hin, daß dieses matrifokale Modell der Familie auch in den Kulturen anderer lateinamerikanischer Länder eine wichtige Rolle spielt.13 Nach Ingolsby haben 30 % der Haushalte in Lateinamerika weibliche Familienoberhäupter, eine Zahl, die dem Prozentsatz in den USA entspricht. 14 Die statistischen Daten in Brasilien zeigen eine generelle Zunahme der matrifokalen Familien seit

11 Ebd., 407. 12 Ebd., 424. 13 Ebd., 393, Anm. 5. 14 Born B. Ingolbsby. Poverty and Patriarchy in Latin America. In: Ders./Suzanna Smith (Hg.). Families in Multicultural Perspective. New York, London: The Guilford Press, 1995, 335.

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den 60-er Jahren und weisen nach, daß diese Familienstruktur unter den Brasilianern afrikanischer Abstammung weiter verbreitet ist als unter anderen Kulturgruppen.15 Damit stellt sich die Frage, ob die matrifokale Familie auch die Matrix der Lebenswelt in der brasilianischen Popularkultur ist, oder ob die auch in anderen Ländern zu beobachtende Tendenz zur matrifokalen Familie eher auf neue Verschiebungen in Ökonomie und Sozialstruktur zurückzuführen ist.

4.2. Die brasilianische

Familie*b

Vor der Eroberung Lateinamerikas fand sich in der indigenen Bevölkerung eine Vielzahl von Familienstrukturen, die lokal sehr unterschiedlich waren, die Ehe unter Cousins ebenso einschlossen wie die Polygyny, das Zusammenleben in ausgedehnten Clans, die strenge Unterscheidung der Geschlechtsrollen und der den Geschlechtern zukommenden Aufgaben, und eine auf die Großfamilie verteilte patriarchalische Machtausübung.17 Die Spanier brachten das Ideal der monogamen, patriarchalischen Nuklearfamilie, das sie der Urbevölkerung oft gewaltsam überstülpten.18 Dies gilt auch für die portugiesischen Kolonialherren, unter denen sich jedoch durch die Herrschaftsbeziehungen zu den versklavten Indianern und Afrikanern und durch das enge Zusammenleben mit ihnen eine besondere Form der patriarchalischen Familie entwickelte, die in der Zeit der Kolonialherrschaft zur dominanten Institution der Gesellschaft wur15 Vgl. Vereinte Nationen. Comisión economica para America Latina y el Caribe. Cambios en el perfil de la familia: La experiencia regional Santiago de Chile, 1993. Statistiken zeigen, daß seit 1970 bei wachsender Bevölkerung die Zahl der Eheschließungen in Brasilien von 80.3 % (1970) auf 63.0 % (1989) zurückgegangen ist (ebd., 185), der Prozentsatz der alleinerziehenden Väter und Mütter stieg von 10.8% (1970) auf 15.2% (1989) (ebd.), bzw. von 13.5% (1981) auf 15.6% (1989) (13.7% alleinerziehende Mütter, 1.9% alleinerziehende Väter) (ebd., 203) - die statistischen Angaben schwanken hier etwas. Im Norden Brasiliens ist die Anzahl der alleinerziehenden Mütter größer (16% 1989) als im Süden (12.4%). Alleinerziehende Mütter mit Kindern gehören zu den einkommensschwächsten Bevölkerungsgruppen. 21.9 % dieser Gruppe verdienten 1989 ein Viertel eines Mindestlohns, 19.1 % zwischen einem Viertel und einem halben Mindestlohn (salàrio mínimo)) (ebd., 200). Die Zahl der Familien mit weiblichen Familienoberhäuptern stieg zwischen 1960 und 1984 unter den Weißen von 4.2% auf 8.7%, unter den Mulattinen von 6.0% auf 10.7% und unter den schwarzen Frauen von 8.5% auf 15.2%. Obwohl das Wachstum unter den weißen Frauen prozentual höher war als unter den farbigen Frauen, - ihr Anteil hat sich mehr als verdoppelt - , ist der absolute Anteil von Mulattinen und schwarzen Frauen größer. Dies deutet auf kulturelle und soziale Unterschiede zwischen den Frauen aus diesen Bevölkerungsgruppen hin. 16 Vgl. dazu die Analyse von Valburga Schmiedt Streck. Terapia familiar e aconselhamento pastoral: Uma experiênica com familias de baixos recursos. Säo Leopoldo: I E P G Ed. Sinodal, 1999, 33-51. 17 Bron B. Ingolbsby. Poverty, 336. 18 Ebd.

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de und bis in die Gegenwart prägend wirkt. Gilberto Freyre hat seinem aus den 30-er Jahren stammenden klassischen Buch „Herrenhaus und Sklavenhütte" ( Casa Grande e Senzala) ein Bild der brasilianischen Kolonialfamilie gezeichnet, das die Forschung über Jahrzehnte bestimmt hat. Freyre behauptet: „Die Familie, nicht das Individuum, ebensowenig wie der Staat oder Handelsgesellschaften, ist seit dem 16. Jahrhundert der große Kolonisator Brasiliens, die produktive Einheit, das Kapital, das den Boden urbar macht, Fazendas errichtet, Sklaven, Rinder, Werkzeuge kauft, die soziale Kraft, die sich in der Politik entfaltet und sich zur mächtigsten Kolonialaristokratie Amerikas ausbildet"'9.

Nach Freyre übernahm die Kolonialfamilie die führende Rolle in der Bildung der brasilianischen Sozialstruktur: weil sie die materiellen Güter des Landes und der Sklavenarbeit verband, fielen ihr eine Vielzahl sozialer und ökonomischer Funktionen zu.20 Er entwirft das idealisierte Bild einer großen Familie, in der Männer, Frauen und Kinder, Herren und Sklaven, Weiße, Schwarze, Indianer und Mestizen unter der Macht des Vaters, der unumstritten die politische und ökonomische Macht ausübt, friedlich zusammenleben. Der Machismo, die Verehrung des Vaters und der Maternismo, die Idealisierung der Frau als Mutter und Hausfrau, der auch Marianismo genannt wird21, sind charakteristisch für diese Sicht.22 Die Fazenda war das Zentrum des ökonomischen, sozialen und politischen Lebens. In ihr unterstanden alle Funktionen der Herrschaft des Vaters, der Transport, die Religion, deren Vertreter von ihm bezahlt wurden, das Sexualleben, die Hygiene und die politischen Beziehungen. Freyre vertritt die Idee, durch die patriarchalische Familie sei Brasilien ein Schmelztiegel der Rassen geworden, in dem diese sich mischen und harmonisch zusammenleben. Die Indianerfrauen hätten ihre Sensibilität zur Kultur beigesteuert, während ihre Männer ökonomisch gescheitert seien, die afrikanischen Sklaven die Lebensfreude und den Erotismus. Die afrikanischen Frauen waren als Ammen, Geliebte und Köchinnen für die portugiesischen Herren unabkömmlich. Die Portugiesen hätten sich nicht gerade durch Arbeitsfreude ausgezeichnet und seien vielmehr als diejenigen aufgetreten, welche die Anderen beherrschen und sich mit ihnen vermischen.23 Freyres Darstellung achtet nicht auf die blutigen Herrschaftsbeziehungen zwischen den Rassen, den Kolonialherren und den unterworfenen Völkern. Er bezieht sich auf die Familien der großen Zuckerrohrplantagen als soziale Grundlage und behandelt sie generalisierend als „die"

19 20 21 22 23

Gilberto Freyre. Herrenhaus, 25. Ebd., 30. Bron B. Ingolbsby. Poverty, 341. Gilberto Freyre. Herrenhaus, XXXVII. Ebd., 64; 159; 150. 75

brasilianische Kolonialfamilie. Nach Mariza Correa 24 existierten in dieser Epoche andere Familienformen, die er nicht berücksichtigt: die Familie der Bandeirantes in Säo Paulo etwa, in welcher die Frauen die Verantwortung für die gesamte Wirtschaft und das soziale Leben des Hauses übernahmen, solange die Männer als Sklavenjäger auf Raubzügen in den Indianergebieten waren; schwarze Familien, die sich da und dort bildeten und bestanden, solange sie von den Herren geduldet wurden; seit dem 18. und 19. Jahrhundert dann die Familien der europäischen Einwanderer im Südosten und Süden (Portugiesen von den Azoreninseln, Deutsche, Italiener, Polen, Russen . . . ) . Correas Urteil ist zutreffend, daß die Texte Freyres und Antonio Cándidos über die brasilianische patriarchalische Familie die Perspektive der Vertreter der dominanten Institution, der weißen Herren und ihrer Familien, übernommen haben. 25 Dennoch ist es zutreffend, daß die patriarchalische Familienstruktur die Dynamik der Beziehungen im privaten und öffentlichen Leben geprägt hat. Sérgio Buarque de Holanda hat deutlich gemacht, daß sich die Beziehungen und Abhängigkeiten unter den Mitgliedern der patriarchalischen Familie auch auf die öffentliche Sphäre erstreckten. Auf den großen Ländereien waren Herrschafts- und Liebesbeziehungen nicht getrennt. Der Patron als unumschränkter Herr zeugte mit seinen Sklavinnen Kinder. Seine Ehefrau überließ ihnen die Pflege ihrer Säuglinge. Nur durch eine gute persönliche Beziehung zum Herren und Besitzer war es den Untergebenen möglich, ihre Interessen durchzusetzen oder Vorteile zu erlangen. Im Unterschied zu den Städten der spanischen Kolonien, die gegründet wurden, um die Indianer politisch und kulturell zu beherrschen, wurden die brasilianischen Städte von den Großgrundbesitzern beherrscht und richteten sich darum nach den sozialen Regeln der Fazenda. 26 Familiäre Beziehungen, Freundschaft, affektive Bindungen, nicht Kompetenz und Zuständigkeit bestimmten so die sozialen Beziehungen. Daraus ging eine Kultur hervor, in der Verwandtschaftsbeziehungen, das „jeitinho", das Durchsetzen der eigenen Interessen auch gegen geltende Gesetze durch das Spiel der Beziehungen, und das „compadrio", die wechselseitige Verpflichtung der Herren und der von ihnen Abhängigen durch ein System von Patenschaften, den öffentlichen Umgang bestimmen. 27 Der Großgrundbesitzer wird als Taufpate oder Trauzeuge zum Beschützer seiner Patenkinder. Sie werden dadurch gleichsam in seinen Clan aufgenommen und als „afilhados", als „Patenkinder" bezeichnet. Das „compadrio" begründet ein wechselseitiges Loyalitätsver-

24 Mariza Corrêa. Repensando a familia patriarcal brasileira. In: Maria Suley Κ. de Almeida (Org.). Colcha de retalhos. Sao Paulo: Brasiliense, 1982, 15. 25 Mariza Corrêa. Repensando a familia patriarcal brasileira, 72. 26 Vgl. Sérgio Buarque de Holanda. Raízes do Brasil 5. Aufl., Rio de Janeiro: José Olympio, 1969. 27 Ebd., 64; vgl. Valburga Schmiedt Streck. Terapia familiar, 34.

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hältnis. Es ist offensichtlich, wie sich in der patriarchalischen Familie in Brasilien die Herrschaftsbeziehungen einer Klassengesellschaft etablieren, in der eine Aristokratie von Besitzenden einer Masse von abhängigen und ausgebeuteten Arbeitern gegenüberstehen. Der Gegensatz ist jedoch durch die Vermischung der Herrschaft mit affektiven Bindungen und familiären Verpflichtungen nach außen abgemildert worden. 28 Die Familien der europäischen Einwanderer waren in der Regel patriarchalische Nuklearfamilien, wiesen also die typische Struktur von Arbeiterfamilien auf, in der alle vom Einkommen des Vaters abhingen. 29 Sie wurden im Zuge der Abschaffung der Sklaverei auf den großen Kaffeeplantagen in Sâo Paulo angesiedelt, um die Sklaven zu ersetzen, oder erwarben Landstücke im Süden des Landes, auf denen sie in der Regel als Familienbetriebe Subsistenzlandwirtschaft betrieben. Die Bezahlung der Landarbeiter war durch das System des „colonato" geregelt, in dem der Familienvater verpflichtet wurde, eine bestimmte Anzahl von Kaffeepflanzen zu kultivieren und dafür mit einem Teil der Ernte bezahlt wurde. Jedes Familienmitglied war als zusätzliche Arbeitskraft wichtig. Das gleiche galt für Landarbeiter, die als „meeiro" arbeiteten, das heißt die Hälfte oder einen zuvor festgelegten Teil des Ernteertrags als Lohn für sich behalten durften. Dieses Produktions- und Lohnsystem trug dazu bei, daß auf dem Land sehr kinderreiche Familien lebten, die zwar arm waren, aber auf ihrem Land blieben und überleben konnten. Die Aufhebung des colonato im Jahr 1950 löste die Familie als Produktionsgemeinschaft auf. Männer und Frauen wurden zu lohnabhängigen Landarbeitern, die nicht mehr fest auf den Fazendas wohnten. Sie werden nun in Lastwagen auf die Felder gefahren, wo sie als boias jiñas oft genug in Saisonarbeit ihr Geld verdienen. Diese Situation hat zur Schwächung der Familienstruktur beigetragen und war eines der Motive für die Landflucht.

4.2.1. Die Struktur brasilianischer Familien im Kontext der Armut Oscar Lewis hat in seinen berühmt gewordenen Untersuchungen über arme Familien in Mexiko, in denen er anhand von Tonbandaufzeichnungen den familiären Alltag beschreibt, den Begriff der „Kultur der Armut" geprägt. 30 Er suggeriert, daß der Kontext der Armut als kulturprägender 28 Vgl. Sérgio Buarque de Holanda. Raizes do Brasil, 76; Caio Prado Junior. Formaçdo do Brasil contemporáneo. 17. Aufl., Sâo Paulo; Brasiliense, 1981, 283. 29 Vgl. Verena Stolke. A familia que nao é sagrada. In: Maria Suley K. de Almeida (Org.). Colcha de retalhos, 39 ff.; Valburga Schmiedt Streck/Christoph Schneider-Harpprecht. Imagens da familia. Sâo Leopoldo: Ed. Sinodal, 1996, 11. 30 Vgl. Oscar Lewis, Los hijos de Sanchez: autobiografia de una familia Mexicana. 15. Aufl., New York: Random, 1965.

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Faktor dominant ist. Durch Lewis Arbeitsweise wurde das soziale Ghetto, in dem die Soziologen und Anthropologen die Armen aus der Perspektive der Mittelklasse betrachteten und beurteilten, zwar aufgebrochen. Die Armen kommen selbst zu Wort, ihre Wirklichkeitskonstruktionen bestimmen die Forschung. Zugleich werden sie durch den Begriff der „Kultur der Armut" jedoch wieder stigmatisiert. Es könnte der Eindruck entstehen, als sei die „Kultur der Armut" ein transkulturelles Phänomen. Darüber hinaus wird das durch die ökonomischen Bedingungen geschaffene soziale Ghetto nun als „kulturelles" bezeichnet, in dem sie als die „Anderen" eine eigene Kultur entwickeln. Möglicherweise wird dadurch der Einfluß anderer kultureller Strömungen nicht genügend berücksichtigt. Wir ziehen es deshalb vor, die sozio-ökonomische Situation der Armut als einen Komplex von Faktoren zu betrachten, der die Lebensgestaltung massiv und nachhaltig beeinflußt, aber erst im Zusammenwirken mit den Interpretationen der Wirklichkeit durch die Familien, die oft traditionsgeleitet sind, kulturell prägend wird. In Brasilien ist die Armut ein Phänomen, das in der Stadt und auf dem Land unterschiedlich auf die Familien wirkt. Solange sie noch auf ihrem Land sitzen, können sie Subsistenzlandwirtschaft betreiben und bleiben in die traditionellen Sozialstrukturen des Dorfes eingebunden. Der moralische Code der Landbevölkerung gilt weiterhin. Er wird jedoch durch den Einfluß der Massenmedien zunehmend verändert. Insbesondere die Telenovelas schaffen ein Familienbild, in dem sich neben den Klischees des jungen Mannes, der als Macho alle Frauenherzen bricht, und des Familienvaters, der weiterhin als Patriarch über Frau, Kinder und Untergebene bestimmt, dessen moralische Schwächen aber nicht verborgen werden, neue Vorstellungen über die Rolle der Frau, Ideen von Gleichberechtigung und Arbeitsteilung im Haus verbreiten. Die Migration der Familie oder einzelner Familienmitglieder in die Stadt bringt einen Bruch in den sozialen Beziehungen mit sich, hebt aber die Kontinuität von Wertvorstellungen und traditionellen Rollenbildern nicht auf. Die Familie macht einen Anpassungsprozeß an die Regeln des Urbanen Lebens durch und bildet dadurch eine hybride Familienkultur. Die Armut ist in Brasilien zwar überall in den Städten präsent, sie konzentriert sich aber an der Peripherie der Metropolen, während die Favelas in den Städten in den letzten Jahren eine gewisse Entwicklung durchgemacht haben (Wasser, Licht). 31 Nach Cynthia Sarti, die in den 80-er Jahren in einer Favela in Säo Paulo eine Feldstudie durchgeführt hat und deren darin gewonnene Feststellungen in weiten Bereichen mit unseren Beobachtungen übereinstimmen, entwickeln die Armen eine „kollektive Identität", die durch das soziale Netz der Familie ermöglicht und bestimmt

31 Vgl. Cynthia Andersen Sarti. A familia como espelho: Um estudo sobre a moral dos pobres. Campinas - SP: Autores Associados, 1996, 13.

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wird.32 Wenn sie in die Städte kommen, werden sie zunächst von Verwandten aufgenommen. In Favelas wohnen Großfamilien relativ nah beieinander und bilden ein soziales Netz, das angesichts des weitgehenden Versagens der übrigen sozialen Institutionen (Gesundheitswesen, Kindergarten, Schule, Arbeitsvermittlung . . . ) zu der für das Leben der Armen grundlegenden sozialen Organisation wird.33 „ . . . der P r o z e ß der A n p a s s u n g an die städtische Umwelt und an d a s Alltagsleben der Armen, inclusive derjenigen, die in der Stadt geboren sind, ist strukturell durch die Familie vermittelt. Ihre Beziehungen basieren folglich auf einem C o d e von Loyalitäten und wechselseitigen Verpflichtungen, der f ü r die familiären Beziehungen eigentümlich ist. Sie orientieren und gestalten auch in der Stadt den M o d u s des Lebens, und machen aus der Familie und dem C o d e der Gegenseitigkeit, den sie impliziert, einen Wert f ü r die Armen. D i e Familie ist nicht nur die stärkste affektive Bindung der Armen, der K e r n ihres materiellen und spirituellen Uberlebens, das Instrument, durch welches sie ihre Lebensweise e r m ö g lichen, sie ist das eigentliche Substrat ihrer sozialen Identität. K u r z , die Familie ist f ü r die Armen eine Seinsfrage. Ihre Bedeutung ist nicht nur funktional, ihr Wert nicht nur instrumental, vielmehr bezieht er sich auf ihre Identität als soziales Wesen und konstituiert den symbolischen Parameter, der ihre Weltanschauung strukturiert" 3 ''.

Die Familienstruktur der armen Familien ist die der patriarchalischen nuklearen Familie, in welcher der Mann das Oberhaupt ist, Entscheidungen fällt und die Rolle des Versorgers übernimmt, die Frau dagegen für Haushalt und Kinder zuständig ist. Vom Mann wird erwartet, daß er für ein Haus, Nahrungsmittel und die zum täglichen Leben notwendigen Dinge sorgt. Seine Position als Familienoberhaupt wird geschwächt, wenn er dies nicht mehr kann, weil er keine Arbeit findet oder nicht genügend Geld verdient. Dadurch verliert er an Ansehen und Autorität. Alkoholismus, Drogen und die nach dem Code des Machismo für Männer erlaubte Promiskuität tragen dazu bei, daß seine Stellung moralisch untergraben wird. Es entsteht die Notwendigkeit, die Rolle des Versorgers der Familie zu füllen. Sie kann an andere Männer delegiert werden, vor allem den ältesten Sohn oder an den Bruder der Frau, der dann als Onkel väterliche

32 Ebd., 31. 33 Ebd., 32. 34 „ . . . o processo de adaptacäo ao meio urbano e a vida cotidiana dos pobres, inclusive dos nascidos na cidade, é estruturalmente mediado pela familia. Suas relaçôes fundam-se, portanto num código de lealdades e de obrigacöes mutuas e recíprocas pròprio das relaçôes familiares, que viablizam e moldam seu modo de vida também na cidade, fazendo da familia e do código de reciprocidade nela implícito um valor para os pobres. A familia nao é apenas o elo afetivo mais forte dos pobres, o núcleo da sua sobrevivencia material e espiritual, o instrumento através do qual viabilizam seu modo de vida, mas é o pròprio substrato de sua identidade social. Sua importancia nao é funcional, seu valor nào é meramente instrumental, mas se refere à sua identidade de ser social e constituí o parámetro simbólico que estrutura sua explicaçâo do mundo" (ebd., 33).

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Pflichten übernimmt. 35 Er ist insbesondere verpflichtet, wenn seine Schwester von ihrem Mann verlassen wurde. 36 Das durch die Armut verursachte Unvermögen der Männer, ihre Rolle zu spielen, dürfte oft ein Motiv für Trennungen und Scheidungen sein.37 Frauen sind, da eigentlich der Mann die Kontakte mit der über die Nachbarschaft hinausgehenden außerfamiliären Welt bewerkstelligt, durch seine Schwäche mitbetroffen. Sie übernehmen die Rolle des Familienoberhaupts, suchen sich Arbeit, versorgen die Familie, gewinnen dadurch an Autorität und Entscheidungsmacht. Das weitere Familiensystem wird engagiert, um die mütterlichen Funktionen im Haus und der Kindererziehung zu übernehmen. Besonders wenn die Familie der Eltern der Frau in der Nähe oder im gleichen Haus wohnt, übernimmt die Großmutter den Haushalt und die Kinder. Sie hat damit meist auch die gesamt mütterliche Autorität, also mehr Gewicht als die Mutter. Die Nachbarschaft kann zur Unterstützung der Familie beitragen, Informationen austauschen, ist Anlaufstelle in Krisensituationen. Sie kann auch zum zusätzlichen Streßfaktor werden. Favelabewohner beklagen sich oft über die Feindseligkeit ihrer Nachbarn, von denen sie wissen, daß sie kriminell sind. Sie leben in einem Klima von Rechtsunsicherheit und Gewalt, haben Angst vor Diebstählen und Überfällen, und haben zur Genüge blutige Auseinandersetzungen, die tödlich ausgingen, mit eigenen Augen gesehen. Das Zusammenleben auf engem Raum bringt auch Konflikte in der Familie mit sich. Nicht selten berichten die Favelabewohner, daß nahe Anverwandte zwar in unmittelbarer Nachbarschaft wohnen, daß sie mit ihnen jedoch keinen Kontakt haben, weil alte Streitigkeiten nicht bereinigt sind. Innere Konflikte schwächen somit das soziale Netz der Familie noch mehr. Von älteren Geschwistern wird erwartet, daß sie für die jüngeren sorgen, wenn die Eltern arbeiten. An Söhne wird die Erwartung gestellt, daß sie spätestens mit dem 13. oder 14. Lebensjahr beginnen, zum Lebensunterhalt beizutragen. Diese Erwartung hat ihre Wurzeln in der Gewohnheit der Bauernfamilien, Kinder von früh an zur Arbeit heranzuziehen und ist ein Motiv für das vorzeitige Ausscheiden aus der Schule, was oft im 5. oder 6. Schuljahr passiert. Die Stützung des sozialen Netzes der Familie ist dann wichtiger als die Ausbildung, zumal mit ihr nicht viel Hoffnung auf eine Besserung der Lebenssituation verbunden ist. Sie ist das „Projekt der Familie": es geht darum, für alle bessere Lebensbedingungen zu schaffen (melhorar a vida). Der Einzelne wird hier im familiären Kollektiv gesehen. Es ist die Pflicht der Kinder zu gehorchen. Kleine Kinder haben noch keine Pflichten und das Vorrecht auf die mütterliche Fürsorge. Sie sitzen mit dem Vater beim Essen am Tisch, während die übrigen Familienmitglieder sich einen anderen Ort suchen, 35 Ebd., 47. 36 Ebd., 48. 37 Ebd., 45.

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um ihre Mahlzeiten zu sich zu nehmen. Der erste Geburtstag eines Kindes ist von besonderer Bedeutung und Grund für ein Fest mit der Großfamilie, Freunden und Nachbarn. Dies mag damit zu tun haben, daß ein Kind, welches das erste Lebensjahr überstanden hat, größere Uberlebenschancen hat. Väter haben zu ihren Söhnen und Töchtern oft eine ungleiche Beziehung. Mit den Söhnen gehen sie wenig affektiv und oft extrem hart um, während sie die Töchter schonen. Sie betrachten sie oft als „eine ihrer Frauen", als einen Besitz, den sie schützen und im Haus hüten müssen. Das Fest des 15. Geburtstags hat für Mädchen traditionell eine besondere Bedeutung, weil es den Ubergang ins heiratsfähige Alter markiert. Sie werden traditionell mit großem Aufwand ganz in Weiß gekleidet und auf einer großen Party gefeiert. Für einen Vater ist es Ehrensache, dieses Fest auszurichten. Seine Tochter erwartet es von ihm. H a t er nicht die finanziellen Mittel, so sinkt sein Stern in der Familie und er fühlt sich schlecht. Traditionell ist den Mädchen der Geschlechtsverkehr vor der Ehe untersagt, während die männlichen Adoleszenten dazu die Erlaubnis haben. Es kommt nicht selten vor, daß Väter mit ihren Söhnen ins Bordell gehen, damit sie dort eine erste Einführung in sexuelle Praktiken bekommen. Generell sind die Normen hier im Umbruch. Viele Mädchen haben ab dem 11. oder 12. Lebensjahr sexuelle Beziehungen und sind mit 15 oder 16 Jahren schwanger. Sie können gegen die familiäre Kontrolle rebellieren und in der Rolle der Freundin oder Geliebten mit ihren männlichen Altersgenossen an Straßengangs beteiligt sein, die in den Drogenhandel verwickelt sind. Gerade in traditionellen Familien führen uneheliche Schwangerschaften zu erheblichen Konflikten, die oft mit der Verstoßung der jugendlichen Mutter enden. Dies wird in der anthropologischen Literatur leicht übersehen oder heruntergespielt. Bis in dieses Jahrhundert hinein war es in Rio Grande do Sul üblich, das Paar im Fall einer unehelichen Schwangerschaft zur Heirat zu nötigen. Wenn sie sich weigerten, wurde die Schwangere verstoßen oder in ein Bordell geschickt, der Mann aber erschossen. Fünf Jahre Erfahrung in der Gruppenseelsorge mit TeenageMüttern haben den Verfasser gelehrt, daß besonders Väter verlangen, daß ihre Tochter den Mann heiratet, oder eine Abtreibung bzw. die Freigabe des Kindes zur Adoption wollen. Sie schämen sich vor der Öffentlichkeit (Nachbarn, Freunde) und fühlen sich in ihrer Autorität angegriffen. Die Töchter können nicht immer im Netz der Großfamilie aufgefangen werden und bei anderen Verwandten unterkriechen. O f t überwiegt nach der Geburt der Stolz, Großeltern geworden zu sein, den Zorn wegen des Ungehorsams des Kindes, so daß die Tochter mit dem Enkel ins Elternhaus zurückkehren kann. Die Anthropologin Claudia Fonseca 38 hat in einer Studie, die sie in einer Favela in Porto Alegre durchgeführt hat, gezeigt, daß Kinder häufig 38 Vgl. Claudia Fonseca. Caminhos de adofäo. Säo Paulo: Editora Cortez, 1995.

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nicht von den leiblichen Eltern aufgezogen werden, sondern bei anderen Familien leben. Ihre Nachforschungen in Gerichtsarchiven aus den 20-er Jahren haben ergeben, daß dies auch in vorigen Generationen schon Praxis war. Sie verweist auf die Instabilität der ehelichen Beziehung, die unter den Armen auch schon in den vergangenen Jahrhunderten bestanden und dazu geführt habe, Kinder zu „kollektivieren", das heißt, sie nicht in der ausschließlichen Bindung an die leiblichen Eltern aufzuziehen, sondern bei Pflegeeltern. Der Grund dafür, seine Kinder an Verwandte oder Fremde zu geben, ist oft die pure Not. Die Eltern hoffen, daß ihr Kind im Haus der Pflegeeltern eine besseres Auskommen hat. Die Mutter kann mit der „Gabe" des Kindes auch eine Loyalitätsbindung verstärken und eine Verpflichtung etwa gegenüber ihrer Mutter einlösen. Eine junge Frau berichtete dem Verfasser, daß sie, als die Familie nach dem Umzug in die Stadt hungerte, mit 6 Jahren in das Haus einer finanziell besser gestellten Familie gegeben wurde. Sie übernahm Haushaltsarbeiten gegen Kost und Logis, durfte aber die Schule besuchen, bis die Pflegemutter psychisch erkrankte und während eines halben Jahres Tag und Nacht ihre Begleitung am Krankenbett forderte. Das Interesse der Pflegeeltern ist es, eine Hilfe zu bekommen. Sie erwarten nicht selten, daß sich das Pflegekind ihnen verpflichtet fühlt und für sie sorgt, wenn sie alt sind.39 Eltern sind diejenigen, die das Kind aufziehen. Ihnen gebührt die Loyalität, der Respekt und die Fürsorge der Kinder. Die stärker kollektive Sozialisation der Kinder als ein Kettenglied im sozialen Netz der Großfamilie lockert natürlich auch Bindungen. In Konfliktfällen können Kinder und Jugendliche zur Großmutter oder Tante geschickt werden, aber auch auf der Straße landen. Die staatlichen Institutionen der Kindererziehung werden von armen Familien in dieses Netz einbezogen, wenn sie fühlen, daß ihre erzieherische Kompetenz zu Ende ist. Eine Mutter drohte ihrem Sohn, der gerne Streiche spielte, die sie als kriminelles Verhalten wertete, sie werde ihn in die FEBEM geben, die berüchtigte staatliche Stätte zu Aufbewahrung von Waisen, verlassenen und straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen, die ähnlich wie eine Strafanstalt geführt wird. Für eine Reihe von armen Familien wird die FEBEM zu einer „Strategie familiärer Beziehungen", einer Art „Internat der Armen", das ihnen Erziehungshilfe leisten soll, wenn sie nicht mehr weiter kommen. Tatsächlich ist sie aber eine Brutstätte der Kriminalität, auch des körperlichen und sexuellen Mißbrauchs, in der Kinder und Jugendliche oft unter unwürdigen Bedingungen leben und Gefahr laufen, mit dem HIV-Virus infiziert zu werden.40

39 Fonseca gibt als Gründe für die Aufnahme von Kindern durch die Pflegeeltern die Hebung des Sozialprestiges und die Freude, ein Kind großzuziehen an, erwähnt aber auch die materiellen Interessen der Altersversorgung (ebd., 41). 40 Ebd., 101 ff.; vgl. Valburga Schmiedt Streck. Terapia familiar, 190.

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Auch in der brasilianischen Popularkultur findet sich also die patriarchalische Familienstruktur, in deren Mittelpunkt der Mann als Autorität steht, die jedoch, was die Beziehungen angeht, mutterzentriert ist. Es ist sinnvoll zu sagen, daß in dieser Familie die Mutter die Beziehungsmacht und der Mann stärker die Entscheidungsmacht hat. Patriarchalismus und Matrifokalität schließen sich dann gegenseitig nicht aus. Offensichtlich ist jedoch auch die innerfamiliäre Krise der Männer infolge der Armut. Sie werden den Erwartungen, die an sie als Familienoberhaupt gerichtet werden, nicht mehr gerecht. Eine offene Frage ist, ob dies einen Wandel der Familienstruktur hin zur Matrifokalität nach sich zieht. Dies wird von Ellen Woortmann in einer wichtigen Studie über die familiäre Popularkultur im Norden und Süden Brasiliens behauptet, in der sie die zentrale Rolle der Mutter in der Familienstruktur hervorhebt, von Sarti jedoch mit dem Argument relativiert, daß auch in Familien, die ein weibliches Oberhaupt haben, die Verteilung der männlichen und weiblichen Rollen beibehalten werde, so daß andere Männer die väterlichen Aufgaben übernehmen. 41 In der Beratungsarbeit wird immer wieder deutlich, daß die traditionellen Rollenbilder von Mann und Frau sehr mächtig sind. Töchter, die unter der Brutalität ihres Vaters gelitten haben, erträumen sich eine Familie, in der die Welt wieder in Ordnung ist. Von ihren Männern verlassene Frauen sehnen sich danach, eine glückliche Mutter an der Seite eines starken Mannes zu sein. Sie sind enttäuscht und kämpfen hart, um als alleinerziehende Mutter auf eigenen Beinen zu stehen. Sie finden immer mehr Verbündete in den Frauen, die die Verantwortung für die Familie alleine geschultert haben und sich von Männern, die trinken, spielen, untreu sind und kein Geld nach Hause bringen, nicht mehr viel bieten lassen. Für sie ist das Bild der patriarchalischen Familie zerbrochen, aber noch durch kein neues ersetzt, das für Männer und Frauen gleichermaßen verbindlich wäre. Frauen in den Familien der Popularkultur entwickeln Vorstellungen von einer gleichberechtigten Partnerschaft, an deren Tragfähigkeit sie jedoch noch nicht glauben können, nicht zuletzt, weil sie auf Seiten der Männer noch wenig Veränderungsmöglichkeiten wahrnehmen. Im täglichen Leben erweisen sie sich als die flexibleren, die neben den traditionellen weiblichen Aufgaben auch „männliche" Funktionen in der Familie und im Arbeitsprozeß übernehmen.

41 Vgl. Cynthia Andersen Sarti. A familia como espelho, 47; Ellen F. Woortman. Herdeiros, parentes e compadres. Säo Paulo, Brasilia: Hucitec, Universidade de Brasilia, 1995.

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4.2.2. Das Verständnis der Familie in der Popularkultur der Deutsch-Brasilianer Die Nachfahren der deutschen Einwanderer, die in ethnisch relativ geschlossenen Gebieten im Süden Brasiliens Landwirtschaft betrieben, haben in den letzten Jahrzehnten an den Migrationsprozessen in neue Siedlungsgebiete in die Städte teilgenommen. Dabei sind ihre Familien von der beschriebenen Dynamik der Urbanisierung erfaßt worden, die sie mit Hilfe ihrer eigenen, von den vorigen Generationen ererbten, symbolischen Wirklichkeitskonstruktionen verarbeiten. Da die Deutschbrasilianer die stärkste ethnische Gruppe unter den von uns im Projekt „Familienberatung im Kontext der Armut" beratenen Familien bildeten, ist es wichtig, ihre Sicht der familiären Wirklichkeit zu erfassen. Sie stellt mit ihren Mythen und Symbolen ein Stück „indigene Psychologie" dar. In der Familientradition der deutschen Einwanderer aus dem Hunsrück ist die Metapher des „Stammbaums" von Bedeutung. Die Familien des städtischen Bürgertums suchen nach ihren Wurzeln in Deutschland, betreiben Ahnenforschung und nehmen Kontakt mit den Nachfahren des in Deutschland verbliebenen Zweiges der Familie auf. Ahnlich wie unter den Nachkommen deutscher Emigranten in den USA ist es eine bürgerliche Prestigefrage, seine Wurzeln zu erforschen. 42 Für die Familien auf dem Land hat die Vorstellung der Familie als eines „Stammbaums" eine andere Bedeutung. Den „Stamm" bilden die Emigranten, die über den Atlantik gekommen sind. Mit ihnen beginnt die Familiengeschichte. Sie werden als starke Gründerväter angesehen, die das Wagnis der Emigration auf sich genommen haben, den Urwald gerodet, mit der wilden Natur gekämpft, durch den Schweiß ihrer Arbeit dem Land den Ertrag abgerungen, aus dem Nichts eine Existenz gegründet und die „Kolonie" geschaffen haben. Nach Woortmann wurden viele von ihnen auf ihrem eigenen Land an der Wurzel eines Baumes beerdigt. Diese Ahnen verkörpern den Stamm der Familie und übertragen auf sie Eigenschaften wie Stärke, Härte und Widerstandskraft, als sei sie eine „moralische Person". Familien werden von diesen Kriterien her als moralisch und ökonomisch stark oder schwach bezeichnet. Die Nachkommen sind die „Samen" oder „Früchte" des „Stammbaumes". Sie partizipieren, wie die Metapher andeutet, an der kollektiven Identität der Familie. Sie ist wichtiger als ihre Individualität. Darum geht es in erster Linie darum, dem Code der familiären Verhaltensregeln zu gehorchen. Wer sich dem widersetzt, gefährdet die Organisation der Familie und wird als „verloren" angesehen. 43 Dies gilt vor allem für Kinder, die einen Partner mit anderer ethnischer Herkunft heiraten. 42 Vgl. Ellen F. Woortman. Herdeiros, 130; zu diesem Thema vgl. Valburga Schmiedt Streck. Terapia familiar, 47 ff. 43 Ebd., 56. 84

Für die Beurteilung von Familien und Familienmitgliedern sind auch die Metaphern des „Keims" und des „Blutes" bedeutsam. Der „Keim" ist das genetische Erbe, das die physischen und moralischen Eigenschaften einer Person festlegt und durch das „Blut" von einer Generation zur nächsten übermittelt wird.44 „Das Prinzip des ,Keims 1 klassifiziert Personen als Mitglieder von Familien oder, genauer, von , Familienstämmen'. Darüber hinaus, daß er (sc. der Keim) stark oder schwach ist, . . . , kann er gut oder schlecht sein. Ein guter ,Keim' bedeutet, daß Eigenschaften überwiegen, die sozial als positiv angesehen werden, während der schlechte ,Keim' ein Naturell offenbart, in dem nach den Parametern der bäuerlichen Gesellschaft negative Eigenschaften überwiegen". 45

Die „Psychologie" des Keims und des Blutes entstammt der bäuerlichen Lebenswelt der Tier- und Pflanzenzucht. Sie wurde auf die Menschen übertragen, wobei mögliche Einflüsse eines popularisierten Darwinismus und der unter den Deutschbrasilianern in den 30-er Jahren verbreiteten nationalsozialistischen Rassenlehre genauer erforscht werden müßten. Der „Keim" charakterisiert die Familie als „Stammhaus" 46 und war bis in die 50-er Jahre das organisierende Prinzip familiärer Heiratspolitik. Bei der Partnerwahl achtete man auf die Abstammung des Anderen, fragte, ob er aus einer Familie mit einem „guten" oder „schlechten" „Keim" komme. Es legte sich nahe, Partner zu wählen, die dem eigenen „Keim" und „Blut" verwandt waren. Hinzu kam das Interesse, das Land der Familie durch Heirat zusammenzuhalten oder zu vergrößern. Das Verwandtschaftssystem unter den Deutschbrasilianern ist dementsprechend einerseits patrilinear, folgt also der väterlichen Linie des „Stammhauses", und exogam. Zugleich ist es durch den Bezug zum „Stamm" und zum „Blut" jedoch endogam und kognat, privilegiert also die Heirat unter Blutsverwandten.47 Wohlhabende Bauern verheiraten ihre Töchter früher als ärmere Bauern, die auf ihre Arbeitskraft angewiesen sind. Die Ehen wurden traditionell auf der „Kerb", dem jährlichen Kirchweihfest angebahnt, auf dem sich die Großfamilien trafen. Die „Kerb" war eine Gelegenheit für Geschäfte aller Art. Es gab die Funktion von Heiratsvermittlern, die sich bemühten, Verbindungen zwischen den zuvor von den Eltern in Erwägung gezogenen künftigen Ehepartnern herzustellen.48

44 Ebd., 57. 45 „O principio do ,Keim' classifica pessoas enquanto membres de familias ou, mais precisamente, de troncos familiares. Além de ser fraco ou forte, como já foi dito, ele pode ser bom ou ruim. Um Keim ,bom' significa a prevalência de atributos socialmente definidos como positivos, enquanto que o ,Keim' ruim revela urna natureza onde prevalecem atributos negativos, de acordo com os parámetros de urna sociedade camponesa" (Ellen F. Woortman. Herdeiros, 136). 46 Ebd., 155. 47 Ebd. 48 Ebd., 165.

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Wer einen guten Keim hat, ist fruchtbar und zeugt Erben, die den Bestand der Familie garantieren. Dies wird auch als Hauptfunktion der Sexualität angesehen. Männer, die außereheliche Beziehungen haben, werden als unmoralisch verurteilt und sozial isoliert, weil sie, statt zu arbeiten, ihre Energie anderwärts verbrauchen. Kinder, von denen man meinte, sie hätten einen schlechten Keim, wurden aus der Kette der Erben ausgeschlossen. Man schickte sie ins Priesterseminar, auch damit sie sich wegen des Zölibats nicht fortpflanzten. Galten sie als körperlich schwach, so wurden sie auch zu Lehrern ausgebildet. Für Töchter galt die Ausbildung als zusätzliche Qualifikation, die auf eine „gute Partie" hoffen ließ. Die Einzelnen können „heißblütig" oder „kaltblütig", das heißt vital und emotional oder objektiv und rational sein. Auf „heißblütige Töchter" mußte man besonders aufpassen, damit sie sich nicht „verlieren", während man von künftigen Erben erwartete, daß sie „kaltes Blut" bewahren können. Traditionell ging das Erbe an den Sohn, der objektiv, „ruhig und angepasst" war. Er blieb auf dem Land und trat in die Fußstapfen des Vaters. 49 Während seine Brüder entweder auf dem Land weiterarbeiteten oder, vor allem wenn sie als wendig und geschäftstüchtig galten, in die Stadt abwanderten, blieb er im Elternhaus wohnen und übernahm auch die Verpflichtung, für die alten Eltern zu sorgen. In der bäuerlichen Familie herrschen klare Rollenvorgaben: die Frauen kümmern sich um das Haus, den Garten und das Kleinvieh, während die Männer die Feldarbeit und das Großvieh übernehmen. In Familien von Kleinbauern ist die Arbeitskraft der Frauen auch auf dem Feld nötig. Dieses relativ geschlossene System der deutsch-brasilianischen Familien im ländlichen Bereich ist durch die Industrialisierung, den Geburtenrückgang, die Migration und erbrechtliche Veränderungen seit den 50-er Jahren drastischen Veränderungen unterworfen. Das Erbe des Landes bleibt nicht mehr in einer Hand, sondern wird unter den Kindern geteilt. Als Erbe des Vaters gilt nun nur noch der Teil, auf dem das väterliche Haus steht. Wenn ein Erbe das Land seiner Geschwister nutzt, muß er sie ausbezahlen oder beteiligen. 50 Das Erbe des Landes wird ein Motiv von Familienkonflikten, die oft zur Entsolidarisierung führen. Familien teilen sich auf in Gewinner und Verlierer, solche, die sozial aufgestiegen und andere, die arm geblieben sind. Die mangelnde Rentabilität der verkleinerten familiären Agrarbetriebe trägt zur Abwanderung in die Industrie bei, hat aber in der Vergangenheit auch die großen Migrationswellen in die „neuen Siedlungsgebiete" im Mato Grosso, in Rondônia und im Nordosten Brasiliens unterstützt, die sehr stark von den südlichen Bundesstaaten ausgingen. Die kleinen Bauernhöfe, die nicht mehr rentabel sind, werden oft an Städter verkauft, die sie als

49 Ebd., 179. 50 Ebd., 190.

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Wochenendhaus benutzen und Landwirtschaft als Hobby betreiben. Zunehmend werden bei Heiraten die ethnischen Grenzen überschritten. Die soziale Veränderung befördert die soziale und kulturelle Integration der Deutschbrasilianer. Andererseits werden die Familien von der Dynamik der Armut erfaßt, die sie ihre kulturellen Ursprünge vergessen läßt und den Verlust ihrer kulturellen Identität bewirkt. Was können wir am Ende dieses Abschnitts als Resultat festhalten? Wir haben in der Auseinandersetzung mit den Theorien zur lateinamerikanischen Popularkultur den begrifflichen Rahmen abgesteckt, in den sich die Interpretation des Verhältnisses von Beratung und Kultur im lateinamerikanischen Kontext einschreibt. Kulturen sind nach unserem Verständnis (über)lebenswichtige symbolische Systeme, die den Menschen Orientierung in den sozialen Beziehungen gewähren. Lateinamerikanische Popularkulturen sind symbolische Systeme, in denen komplexe Machtverhältnisse zwischen gesellschaftlichen Gruppen gestaltet werden. Hegemoniale und subalterne Kulturen sind in globalen und regionalen Kreisläufen miteinander verflochten und haben zur Hybridisierung der Popularkulturen geführt. In diesem Prozeß werden traditionelle ethnische Elemente in Anpassung oder Widerstand gegen den Einfluß des globalen Marktes umgestaltet. Diese Veränderungen berühren auch die Familie. Die Hypothese wurde erhoben, daß die Sozialisation in der matrifokalen Familie das Fundament der Lebenswelt bildet, in deren Horizont sich die lateinamerikanischen Popularkulturen konstituieren. Wir haben gesehen, daß sich die Familie in der brasilianischen Popularkultur unter Bedingungen der Industriegesellschaft im Übergang von der traditionellen patriarchalischen zu einer matrifokalen Familienstruktur befindet. Am Beispiel der deutschbrasilianischen Familien wurde gezeigt, wie sich dieser Prozeß in den symbolischen Konstruktionen der familiären Wirklichkeit niederschlägt. Die Familie als soziales Netz ist eine soziale Institution, die unabdingbar für das Uberleben im Kontext der Armut ist. Ihre Mitglieder entwickeln eine kollektive Identität, die den Einzelnen dazu bestimmt, im eigenen Interesse für das Uberleben und die Lebensverbesserung des Familiensystems zu sorgen. Damit bekommt die Arbeit mit der Familie einen zentralen Stellenwert in der Beratung von Klienten aus dem popularen Sektor. Phänomene wie die Reethnisierung, das Bemühen vom Sozialprozeß ausgeschlossener Minderheiten, eine kulturelle Identität zu rekonstruieren, wie auch die Extreme des Fundamentalismus und des kulturellen Rassismus werfen die theologische Frage nach der Beziehung von Evangelium und Kultur und ihre Bedeutung für die Seelsorge auf.

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5. Kapitel: Evangelium, Kultur und Beratung 5.1. Einleitung Wie können wir theologisch das Verhältnis von Evangelium, Kultur und Beratung im Hinblick auf die Pluralität der Kulturen angemessen bestimmen? Wir stellen diese Frage im Bemühen um eine theologische Grundlegung für die kulturell sensible Familienberatung im Bereich der kirchlichen Seelsorge. Die Frage führt uns unter anderem auch in die Missionswissenschaft, da die Mission in der Vergangenheit der Bereich gewesen ist, in dem die Erfahrungen des interkulturellen Kontakts und der Begegnung des Evangeliums mit den verschiedenen Kulturen zur theologischen Reflexion herausforderten. Unsere Untersuchung wird sich wie bisher zunächst von den Anforderungen leiten lassen, die sich auf dem Erfahrungshintergrund Lateinamerikas abzeichnen. Wir werden darum die verschiedenen Formen der historischen Begegnung von Evangelium und Kultur in Lateinamerika kurz beschreiben und danach fragen, inwiefern sich in diesem Kontext Kriterien für die theologische Urteilsbildung in Sachen Evangelium und Kultur abzeichnen. Danach untersuchen wir die Verhältnisbestimmung von Evangelium und Kultur in der katholischen Theologie der Inkulturation und setzen uns mit den Tendenzen in der Ökumene auseinander, die sich bei der Weltkonferenz des ökumenischen Rates der Kirchen über Mission, die 1996 in Salvador da Bahia, Brasilien stattfand, abgezeichnet haben. Davon ausgehend werden wir uns bemühen, einen Ansatz zu formulieren, der Evangelium und Kultur in einem narrativen Konzept von Theologie aufeinander bezieht, um schließlich festzustellen, was dieser Begründungszusammenhang zur Theorie und Praxis der Familienberatung beiträgt.

5.2. Vorüberlegung: Das Unbehagen der deutschen Theologie an der Verbindung von Evangelium und Kultur Die im vorigen Kapitel geschilderten Bemühungen von Völkern der 3. Welt, durch Re-ethnisierung ihre kulturelle Identität im Zusammenhang einer hybriden Kulturvermischung wiederzuentdecken, klingt für deutsche Ohren befremdlich und geradezu gefährlich, wenn sie das Gebiet der Religion einschließt und einen kulturspezifischen Ausdruck des christlichen Glaubens fordert. Erinnerungen an die „Deutschen Christen" werden wach, an die zynische Verbindung der nationalsozialistischen 88

Ideologie von der Überlegenheit der arischen Rasse, der Forderung nach einer Trennung zwischen judenchristlicher und deutsch-christlicher Kirche bis hin zur Forderung der Abschaffung des Alten Testaments in einer berühmt berüchtigten Rede des „Führers" der deutsch-christlichen Bewegung im Berliner Sportpalast. Cornelia Füllkrug-Weitzel hat das Unbehagen und die ablehnende Zurückhaltung von deutschen Theologen gegenüber der Annäherung von Glaube und Kultur in einem klugen Vortrag vor der Weltmissionskonferenz in Salvador verständlich zu machen versucht.1 Die „Deutschen Christen" sind, so Füllkrug-Weitzel, von deutschen Theologen nach 1945 als so etwas wie die Probe aufs Exempel einer unseligen Vermischung von Evangelium und Kultur angesehen worden. Karl Barth und andere Vertreter der Bekennenden Kirche sahen in der kritiklosen Annahme der nationalsozialistischen Ideologie durch die „Deutschen Christen" das Ergebnis und das Ende des von Schleiermacher, Rothe, Ritsehl, Troeltsch und anderen Theologen des 19. Jahrhunderts propagierten „Kulturprotestantismus" 2 in Deutschland, der eine harmonische Verbindung von Christentum und Kultur anstrebte. Der Kulturprotestantismus entstand im Kontext des erwachenden deutschen Nationalbewußtseins im 19. Jahrhundert, in der sich die Suche nach der nationalen Identität der Deutschen schnell mit nationalen Herrschaftsansprüchen in Europa verband. Die Nähe des Kulturprotestantismus zum deutschen Nationalismus war ein Grund dafür, daß kulturprotestantische Theologen im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten kritiklos in das Lager der „Deutschen Christen" überliefen. Das Problem der „Deutschen Christen" war die Unterordnung des Evangeliums unter die nationalsozialistische Ideologie und seine Instrumentalisierung. Diese Weltanschauung war dem Evangelium vorgeschaltet und bestimmte sein Verständnis. Die „Bekennende Kirche" hat dagegen im ersten Verwerfungssatz der von Karl Barth verfaßten „Barmer theologischen Erklärung" jeglichen Offenbarungscharakter der Kultur als häretisch zurückgewiesen. Das richtete sich ebenso gegen die „Deutschen Christen" wie gegen den Kulturprotestantismus, in dem Barth den religiösen Ausdruck des triumphalen Selbstbewußtsein der westlichen Bourgeoisie entlarvte. Dies wird an einigen Passagen des

1 Cornelia Füllkrug-Weitzel. For such a time as this - Evangelism and Culture. In: World Council of Churches, Conference on World Mission and Evangelism, Salvador, Bahia, 1996, Document No. 4a. 2 Der Begriff des Kulturprotestantismus ist nicht eindeutig. Seine Ursprünge sind noch nicht völlig geklärt. Er läßt sich als Bezeichnung einer theologischen und kirchenpolitischen Richtung in der deutschen kirchlichen Presse seit 1905 nachweisen. Er wurde also nicht erst von der dialektischen Theologie geprägt, sondern kam in den theologiepolitischen Auseinandersetzungen zwischen konfessionell Konservativen und Liberalen vor dem ersten Weltkrieg als „Kampfbegriff" auf (vgl. Friedrich Wilhelm Graf. Kulturprotestantismus: Zur Begriffsgeschichte einer theologiepolitischen Chiffre. In: Hans Martin Müller (Hg.). Kulturprotestantismus, 73; 21; 76).

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aus den Anfängen der dialektischen Theologie stammenden Briefwechsels zwischen Adolf von Harnack und Karl Barth erkennbar. 5 Barth trennt die Offenbarung strikt von der Kultur und proklamiert sie als Gericht der Kultur, als Gericht vor allem des Kulturprotestantismus. Barths Position befreit das Evangelium von Jesus Christus aus den Fesseln bürgerlicher und nationaler Kulturen. Sie war historisch zweifellos von größter Bedeutung und macht deutlich, daß es nicht angeht, das Evangelium mit einer bestimmten - zum Beispiel der deutschen - Kultur zu identifizieren. Aus ökumenischer Perspektive wirft es jedoch die Frage auf, inwieweit das Verständnis der Offenbarung als Gericht der Kulturen suggeriert, daß es so etwas wie eine trans kulturelle Formulierung der christlichen Botschaft geben könne, was wiederum leicht mit der Dominanz eines westlichen, deutschsprachigen Theologiemodells endet. Füllkrug-Weitzels Feststellung ist zutreffend, daß viele westdeutsche Theologen nach 1945 die Barmer theologische Erklärung und Barths Theologie dekontextualisiert so interpretierten, als sei das „Anti-Kulturelle" ein theologisches Prinzip. „They made a principle out of this: instead of concrete obedience to the concrete commandments of the living Lord Jesus Christ who is present today - that is to say, instead of the concrete associations for the sake of the necessary discernment of the spirits, which was so important for Barmen - we have a timeless ,either-or', a principle of disassociability. This happened partly in order to discredit indiscriminiately all attempts to inculturate the gospel in Africa, Asia, Palestine and Latin America (especially liberation and feminist theology), partly to escape criticism by this theology of these theologians' own concealed new syntheses/associations with bourgeois society and capitalism".4

Auch wenn diese Kritik in wohl fälschlicher Weise Glauben macht, es gäbe für deutsche Theologen die Möglichkeit, einen Standpunkt außerhalb der westlichen bürgerlichen Gesellschaft und ihres Wirtschaftssystems einzunehmen, so trifft sie doch den zentralen Punkt: Die Trennung von Evangelium und Kultur als theologisches Prinzip dekontextualisiert das Evangelium. Statt dessen ist es notwendig, die Gegenwart Jesu Christi in einer bestimmten Zeit und Kultur zu artikulieren. Der Weg der Barthschen Theologie, den Füllkrug-Weitzel für den Umgang mit Evangelium und Kultur in der Ökumene vorschlägt, basiert auf der „analogia fidei" zwischen dem Reich Gottes und der menschlichen Wirklichkeit. Das Evangelium vom Reich Gottes wird als kritische Norm an die Kultur angelegt. Sie wird daraufhin befragt, inwiefern in ihr Gleichnisse des Reiches Gottes Wirklichkeit werden, in denen sich die Gegenwart Jesu Christi bezeugt. Das Reich Gottes ist die Zukunft der Kultur, das Ziel 3 Ein Briefwechsel zwischen K.Barth und A. von Harnack. In: Jürgen Moltmann (Hg.). Anfänge der dialektischen Theologie Teil 1: Karl Barth, Heinrich Barth, Emil Brunner. München: Chr. Kaiser, 1977, 324. 4 Cornelia Füllkrug-Weitzel. For such a time as this, 3.

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ihrer H o f f n u n g und darum der Ausgangspunkt ihrer Befreiung. Das Evangelium vom Reich Gottes als kritische N o r m der Kultur zielt auf die Befreiung zum Leben, auf die Kritik an den lebenszerstörenden Mächten in der Kultur. Es ist auf die Erneuerung und Reinigung der Kultur aus, auf die Schaffung von Analogien zum Reich Gottes. 5 Aus der historischen Erfahrung des Kampfes der Bekennenden Kirche gegen die Unterordnung des Evangeliums unter die ideologisch verstandene deutsche Kultur und aus der Antwort der Barthschen Theologie lernen wir, daß es unmöglich ist, das Evangelium mit einer bestimmten Kultur zu identifizieren. Es muß als befreiendes W o r t Gottes immer auch als ein kritisches Gegenüber zur Kultur zur Geltung kommen und ihre lebensfeindlichen Aspekte an den Pranger stellen. Es ist jedoch keineswegs klar, ob die Barthsche Trennung von Evangelium und Kultur der kulturellen Diversität zu ihrem Recht verhilft und Raum schafft f ü r die Artikulation der „unterdrückten Interpretationen des Evangeliums und unserer eigenen Kultur" 6 . Die G e f a h r besteht, d a ß im Bereich der Ö k u mene der Aufruf zur Reinigung der Kultur vom Evangelium her kulturzerstörende Wirkungen entfaltet.

5.3. Zurück zum

Kulturprotestantismus?

In der deutschen Situation stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Evangelium und Kultur nach der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands noch einmal in besonderer Weise. Sie ist, religionssoziologisch betrachtet, eine Variante des Problems der Religion in den modernen und postmodernen Gesellschaften, in denen sich die verschiedenen gesellschaftlichen Sphären ausdifferenziert haben. Religion ist eine dieser Sphären und wurde im 19. und 20. Jahrhundert in Gestalt der Amtskirchen zunehmend als soziales System neben anderen institutionalisiert. Zugleich zwingt die soziale Differenzierung den einzelnen jedoch zwischen einer Vielzahl von weltanschaulichen Optionen zu wählen. „Tendenziell sinkt so der geistige Einfluss von Kirche und Religion auf das kirchliche Leben". 7 Seit dem 19. Jahrhundert entwickelte sich darum ein außerkirchliches Christentum, das jedoch ohne institutionelle Bindung schwer tradiert werden kann. 8 In der ehemaligen D D R hat sich diese Tendenz unter dem anti-religiösen Druck des Staates verstärkt. Das religiöse Bekenntnis und die Zugehörigkeit zur Kirche waren, wie eine in Leipzig kurz nach der Wende durchgeführte Befragung von Gemein5 Ebd., 3. 6 Ebd. 7 Vgl. Harald Homann. Kulturprotestantismus - Zum Problem moderner Religion. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33, 1993, 176. 8 Ebd.

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degliedern zeigte 9 , eine persönliche Entscheidung, die den einzelnen zum Teil große persönliche Opfer abverlangte. Kirche war als Entscheidungskirche „kulturell glaubwürdig". 10 Sie büßte jedoch ihren sozialen und kulturellen Einfluß weitgehend ein, ging Kompromisse mit dem politischen System ein und wurde politisch observiert. 11 Damit wird die Frage aufgeworfen, ob der moderne Trend zur Entscheidungskirche nicht den Bedeutungsverlust des Christentums in der Gesellschaft befördert und ob der Kulturprotestantismus eine „Alternative zur Entscheidungskirche" 12 darstellt, welche „die kulturelle Möglichkeit moderner Religion in die offene Umwelt hinein plausibilisiert". 13 Diese Position wird von dem Religionssoziologen Peter L. Berger vertreten 14 und von Harald Homann auf die deutsche Situation und die Tradition des Kulturprotestantismus bezogen. Die „Elemente, die die Bedeutung und innere Einheit des Kulturprotestantismus ausmachen" sind nach Homann: „Die Freiheitserklärung des Individuums zugleich mit dem Zwang, auch die Glaubensdinge wie alles sonst selbst zu regeln. Die Institutionalisierung der Reflexion auf Selbst und Welt und damit die Aufgabe, personale und soziale Identität zu stabilisieren. Und die Entdeckung der Religion als Teil der Kultur und seither der Zwang - für den Katholizismus gleichermassen - zur Vermittlung von Religion und Kultur und zur Bestimmung der Kulturaufgabe von Christentum und Kirche in der modernen Gesellschaft". 15

Nach Homann ist es dem historischen Kulturprotestantismus gelungen, einen „Perspektivenwechsel" zu vollziehen: Seit Schleiermacher wird grundsätzliche „Autonomie der Kultur" auch kirchlich anerkannt und beansprucht Religion nicht mehr, die Gesamtheit der Gesellschaft zu repräsentieren. Damit kann sie nun Religion in den verschiedenen Kulturbereichen entdecken. „So wird in einer autonomen . . . Welt religiöse Erfahrung ermöglicht, und es bildet sich eine Perspektive aus, die diese Welt im Horizont des Christentums auslegt. Das Religionssystem verzichtet auf die Statthalterschaft des Allgemeinen zugunsten einer auf das Universale ausgelegten hermeneutischen Anstrengung. Die Religion schreibt (so sieht sie es) der Welt nicht mehr vor, sondern inter9 Wolf Jürgen Grabner, Detlev Pollack. Zwischen Sinnfrage und Gottesgewissheit. Die Erstellung einer funktional-substantiellen Religionsbegriffs und seine Operationalisierung in einer Leipziger Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. In: Sociologia Internationales, 30, 1992, 177-202; Wolf Jürgen Grabner. Protestantische Religiosität und Kirchlichkeit in einer säkularisierten Gesellschaft. Eine empirische Untersuchung bei Leipziger Gemeindegliedern im Herbst 1989, Dis. Leipzig, 1992 (zit. nach Harald Homann. Kulturprotestantismus, 170). 10 Ebd., 170. 11 Ebd. 12 Ebd., 184. 13 Ebd., 187 14 Peter Berger. The herectical imperative: Contemporary possibilities of religious affirmation, New York, 1974. 15 Vgl. Harald Homann. Kulturprotestantismus 183.

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pretiert und verändert diese. D i e Religion entscheidet keine außerreligiösen Sachfragen, nimmt aber Stellung zu ihnen und findet in ihnen Religiöses, also Christliches, wieder". 16

Der Vorschlag, den Kulturprotestantismus als Alternative zur Entscheidungskirche zu fördern, ruft kritische Gegenfragen hervor: 1. Der Träger des Kulturprotestantismus war das „Bildungsbürgertum" des 19. Jahrhunderts, das christliche Werte, Sinndeutungsangebote und eine „protestantische Einstellung" unabhängig von der kirchlichen Institution leben und repräsentieren wollte, jedoch selbst noch stark kirchlich sozialisiert war und sich gegen die Kirche als eine vorhandene soziale Machtinstanz abgrenzte. Diese kirchlich-religiöse Sozialisation ist in den postmodernen Gesellschaften Europas nicht mehr ohne weiteres gegeben. Träger von Religion sind zunehmend Konsumenten und Produzenten auf einem freien Markt von Angebot und Nachfrage, die eigene religiöse Institutionen innerhalb und jenseits des kirchlichen Christentums ausbilden. Wenn die implizite kulturprotestantische Gleichsetzung von Religion und Christentum ihre soziale Grundlage verliert, welche Basis sollen dann christlich-protestantische Werte und Sinndeutungsangebote in der Gesellschaft haben, wenn nicht die verschiedenen Kirchen? 2. Das Argument, die Differenzierung der modernen Gesellschaft führe aufgrund der Autonomie der Kultur und dem Ubergang zur Entscheidungsreligion zu einer religiösen Entleerung der Kultur, mag für die spezielle Situation in Deutschland zutreffen, ist jedoch nicht verallgemeinerbar. In den Vereinigten Staaten, aber auch in lateinamerikanischen Ländern, in denen wie in Brasilien und Mexico die Trennung von Kirche und Staat seit Ende des letzten Jahrhunderts durchgesetzt wurde, gewinnen zahlreiche Kirchen und religiöse Gruppen, denen die Einzelnen durch Entscheidung angehören, zunehmend an Einfluß. Nach Gallup-Umfragen, die im Lauf der letzten 40 Jahre durchgeführt wurden, glauben 96 % der US-Amerikaner an Gott, 66 % halten Religion für die wichtigste oder eine sehr wichtige Sache in ihrem Leben und 40 % besuchen wöchentlich einen religiösen Gottesdienst. 17 Auch wenn es nicht darum gehen kann, in Deutschland amerikanische Verhältnisse zu schaffen, ist dies nicht gerade ein Argument für eine konsequente Förderung der Entscheidungsreligion und der Arbeit an der vom Kulturprotestantismus intendierten und in der postmodernen Gesellschaft geforderten Verbindung von Religion und Kultur auf der Grundlage der persönlichen Glaubensentscheidung und einer starken Bindung an eine religiöse Gemeinde? 16 Ebd., 180 f. 17 Vgl. Harold G. Koenig. Is religion good for your health? The effects of religion on physical and mental health. New York, London: The Haworth Press, 1997, 33 ff.

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3. Läuft die „auf das Universale angelegte hermeneutische Anstrengung" des Kulturprotestantismus nicht auf eine Universalisierung der europäischen oder gar der deutschsprachigen protestantischen Kultur hinaus? Wie kommt in der an Goethe und Kant geschulten Bildungsreligion Harnacks der kulturell Andere zur Geltung? 4. Das Herzstück kulturprotestantischen Selbstverständnisses ist bei Vertretern wie Leopoldo von Ranke 18 und Ernst Troeltsch eine Geschichtstheologie, die im Prozeß der Kultur das Wirken Gottes glaubt und, so Troeltsch 19 , deshalb meint, aus der Geschichte selbst religiös begründete Kriterien für das Handeln zu gewinnen. Eben diese Geschichtstheologie hat im ersten Weltkrieg und im 3. Reich in Deutschland Schiffbruch erlitten. Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus ist auch jede Geschichtsphilosophie ans Ende gekommen, die meinte, aus den historischen Prozessen ein Ziel der Geschichte ablesen zu können, auf das hin eine religiös motivierte oder legitimierte Gesellschaftspolitik betrieben werden muß. 20 Eine Anknüpfung an geschichtstheologische und -philosophische Traditionen, speziell an eine christliche Geschichtstheologie, welche die Beziehung des Einzelnen zur „Vorsehung" ohne Vermittlung durch die Heilige Schrift und Bindung an die Gemeinschaft der Christen zur Erkenntnisgrundlage nimmt, wäre ein theologisch nicht zu vertretender Rückschritt. 21 Wir lernen aus dieser Diskussion, daß die postmodernen westlichen Gesellschaften die Forderung stellen, theoretische und praktische Verbindungen zwischen Religion und Kultur zu konstruieren, die den Menschen helfen, sich in den ausdifferenzierten sozialen Systemen und Subsystemen zu orientieren und ihr Leben sinnhaft zu gestalten. Die Aufgabe, die Beziehung von Evangelium und Kultur zu beschreiben, nähert sich an diese soziale Notwendigkeit an, ist jedoch nicht mit ihr identisch. Während die Barthsche Trennung von Evangelium und Kultur eine kulturzerstörende kirchliche Praxis befördern kann, läuft eine Identifikation der Verknüpfung von Evangelium und Kultur mit der Vermittlung von Religion und Gesellschaft nach dem Modell des Kulturprotestantismus Gefahr, eine auf das Individuum zentrierte, europäische Theologie zu universalisieren, die biblische Tradition als kritisches Gegenüber heutiger Kultur nicht genügend zu würdigen und beim Versuch einer Vermittlung 18 Vgl. Harald Homann. Kulturprotestantismus, 181 f. 19 Vgl. Johannes Weiß. Troeltsch, Weber und das Geschichtsbild des Kulturprotestantismus, In: Hans Martin Müller (Hg.). Kulturprotestantismus·. Beiträge zu einer modernen Gestalt des Christentums. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 230-244. 20 Vgl. Ernildo Stein. Waisenkinder der Utopie: Die Melancholie der Linken. In: Westfälische Wilhelms-Universität. Arbeitshefte des Lateinamerika-Zentrums Nr. 42, 1997, 50 ff. 21 Vgl. Eilert Herms. „Kultursynthese" und „Geschichtswende"·. Zum Troeltsch-Erbe in der Geschichtsphilosophie Emanuel Hirschs. In: Hans Martin Müller. Kulturprotestantismus, 339-388.

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mit den Sinndeutungen postmoderner kapitalistischer Gesellschaften mit dem Evangelium die Kirche als institutionelle Basis des Handelns zu verlieren. Die vom Kulturprotestantismus angegangene Problematik der Vermittlung von Religion und Kultur kann nicht mehr auf einer nationalen Basis fortgeführt werden. Vielmehr muß sie in einem interkulturellen Dialog kritisch neu aufgenommen werden, der die Perspektive anderer Kulturen und Religionen, die sich auch in Europa verbreiten, einbezieht. Dabei werden selbstverständliche Annahmen wie diejenige, daß die Säkularisierung notwendig mit dem Verschwinden von Religion in der Gesellschaft verknüpft ist, infrage gestellt.22 Der interkulturelle Dialog kann darum gerade in der für die deutschen Kirchen bedrohlichen Situation, in der sich ein erheblicher Teil der Bevölkerung von ihnen distanziert und für den Atheismus oder für andere Religionen optiert, eine Öffnung, Horizonterweiterung und Auseinandersetzung mit neuen Möglichkeiten bedeuten, das Evangelium kulturgestaltend zur Geltung zu bringen.

5.4. Evangelium und Kultur im Spiegel des lateinamerikanischen

Kontexts

Bevor wir zeitgenössische theologische Konzeptionen nach ihrer Verhältnisbestimmung von Evangelium und Kultur befragen, versuchen wir durch einen kritischen Blick auf die prinzipiellen historischen Formen ihrer Begegnung im lateinamerikanischen Kontext einige Kriterien zu finden, die bei der theologischen Urteilsbildung helfen. Blickt man auf die Geschichte der Begegnung zwischen Evangelium und Kultur in La22 Auf die Fragwürdigkeit des Begriffes der Religion als eines Konstrukts westlicher Religionswissenschaftler ist man in der Religionssoziologie der letzten Jahre vermehrt aufmerksam geworden. Jochen Matthes zeigt, daß der Begriff der Religion ein Konzept der Christentumsgeschichte ist und zunächst darauf angelegt war, „die Einheit des Christlichen jenseits seiner Spaltung darzustellen", später dann „den eigenen Christlichkeits-Anspruch einer (zunächst vornehmlich) protestantischen Laienschaft gegenüber der institutionellen Verfasstheit von , Kirche'" repräsentierte (Jochen Matthes. Was ist anders an anderen Religionen: Anmerkungen zur zentristischen Organisation religionssoziologischen Denkens. In: Kölner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33, 1995, 17). Damit wird in der Religionssoziologie eine implizite Identifikation von Religion und Christlichkeit oder Kirchlichkeit vorgenommen. Vom christlich geprägten Allgemeinbegriff aus werden andere „Religionen" subsumierend klassifiziert und mit Rastern, die ihnen fremd sind, interpretiert, wie etwa der Unterscheidung von „impliziter" und „expliziter", oder „gelebter" und „institutioneller" Religion (ebd., 20). „Als ein kulturelles Konzept sollte dieser Terminus daher nicht über definitorische Anstrengungen in einen Begriff verwandelt werden; man läuft sonst Gefahr, unter ihm nur solche Phänomene wahrzunehmen, die unter bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen als ,Religion' verstanden werden" (ebd., 377). Die Herausbildung des Religionsbegriffs als Allgemeinbegriff in der europäischen Geistesgeschichte wird nachgezeichnet bei Friedrich H . Tenbruck. Die Religion im Maelstrom der Reflexion. In: Kölner Zeitschrift fiir Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33, 1995, 31-67.

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teinamerika, so finden sich die Beispiele christlicher Kulturzerstörung zuhauf. Sie markieren den Erfahrungshintergrund der Kirchen der 3. Welt in der ökumenischen Diskussion und den historischen Kontext, innerhalb dessen sich die Seelsorge und Beratung in diesen Kirchen bewegen. Der 23 Jesuit Manuel de Nóbrega stellt 1556/57 in seinem „Dialog über die Bekehrung der Heiden", der heute als erster in Brasilien verfaßter literarischer Text angesehen wird, dar, wie man unter den Indianern Mission betreiben müsse. In einem fiktiven Dialog zwischen dem Pater Gonçalo Alvarez und einem Mönch, der als Schmied Werkzeuge für eine der Indianermissionen herstellt, behauptet der Pater, daß die ganze Indianermission der Jesuiten vergeblich sei, zumindest „bis diese Leute nicht sehr unterwürfig werden und von Angst getrieben den Glauben annehmen" 24 . Durch Unterwerfung und Angst sollen die Indianer zum Glauben geführt werden. Die Religion der Tupi, des größten der Indianervölker in der Kolonialzeit, wird von de Nóbrega als Irrtum abqualifiziert. Die Einstellung gegenüber ihrer Kultur ist ambivalent. Zum einen behauptet er, das Fehlen der Phoneme f,l und r in ihrer Sprache sei ein Beweis fehlender Zivilisation und erkläre, weshalb es bei den Tupivölkern weder den Glauben (fé), noch das Gesetz (lei), noch den König (rei) gebe. Andererseits berichtet er von der „Geschicklichkeit" und den schönen Erfindungen der Indianer. Felipe Guarnan Poma de Ayala, ein Mann aus der Adelsschicht der Inkas, der, nachdem er Christ geworden war, in Spanien studierte, durchzog nach seiner Rückkehr nach Peru das Land und schilderte in seiner 1615 verfaßten „Neuen Chronik", einem Buch, das erst im Jahr 1908 in der königlichen Bibliothek von Kopenhagen wieder entdeckt wurde, die Situation der Indianer nach der Conquista. „Ich, der Autor dom Felipe Guamán Poma de Ayala sage, daß der christliche Leser, wenn er dieses Buch . . . liest, verwundert und erstaunt sein wird. Er wird wissen wollen, wer mich darin unterrichtet hat und wie ich so vieles in Erfahrung bringen konnte. Darum sage ich dir, daß es mich dreißig Jahre Arbeit gekostet hat . . . , das Erlernen der Sprachen, den Dienst für die Doktoren, diejenigen, die nicht wissen und diejenigen, die wissen . . . Und als Armer offenbarten sie mir im Umgang mit ihnen ihre Armut, die Pastoren ihren Hochmut. Wenn ich die Arbeit beschreiben wollte, die in den Dörfern vor sich geht, begleitet vom Hochmut der Pastoren, Richter und Bediensteten, der obersten Anführer, die die Armen Jesu Christi verfolgen, manchmal ist es zum Weinen, manchmal zum Lachen und Mitleid haben. So habe ich es selbst gesehen (...)"". 23 Die folgenden Beispiele finden sich bei Roberto Zwetsch. Evangelho, missäo e culturas: O desafio do século XXI. In: Christoph Schneider-Harpprecht (Hg.). Teologia Pràtica na América Latina. Sâo Leopoldo: ASTE, Ed. Sinodal, 1998. Die Darstellung lehnt sich eng an diesen exzellenten Text an. 24 Ebd. 25 „Eu, o autor dom Felipe Guamán Poma de Ayala, digo que o leitor cristáo estará

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Der Hochmut und Stolz der Padres und das von der Kirche theologisch gestützte System der Sklavenarbeit haben unter Indianern und afrikanischen Sklaven die Begegnung mit dem Evangelium zur Erfahrung der Unterwerfung unter eine Macht werden lassen, die das Leben zerstört, sie entwurzelt und Religion unterdrückt, die ihre Individualität negiert, sie mit kaltem Kalkül auf ihren Wert als Arbeitskraft reduziert und sie ausbeutet. Der erste Katechismus von 1707 für die schwarzen Sklaven in Brasilien, die bei ihrer Ankunft in der neuen Welt noch nicht getauft waren, zeigt, wie das Evangelium zum „ideologischen Deckmantel" der Sklaverei herabgewürdigt wurde. Die Ankömmlinge wurden gefragt: „Willst du deine Seele mit geweihtem Wasser waschen? Willst du das Salz Gottes essen? Verstößt du alle deine Sünden aus deiner Seele? Wirst du keine Sünden mehr begehen? Willst du ein Kind Gottes sein? Stößt du den Teufel aus deiner Seele?".26

Die Taufe als Initiationsritual zur Sklavenarbeit, die Rettung der Seele als Vorwand für die Ausbeutung des Körpers - das Evangelium war in Lateinamerika über Jahrhunderte für viele keine „gute", sondern, wie es auf der ökumenischen Weltmissionskonferenz in Salvador formuliert wurde, eine „schlechte" Nachricht. 27 In dieser Situation war die afrikanische Religion eine Quelle des Widerstands und der Stärkung. Die Sklaven hielten gegen den Druck des Verbots von Seiten des kolonialen Katholizismus am Ahnenkult fest. Sie hofften, wenigstens nach ihrem Tod in ihre afrikanische Heimat zurückzukehren. Elemente afrikanischer und indianischer Religion mischten sich mit dem Katholizismus. 28 Während das Evangelium zum Herrschaftsinstrument pervertiert wurde, waren die nichtchristliche afrikanische Religion und der religiöse Synkretismus Zufluchtsorte, an denen die Hoffnung auf Freiheit und Gerechtigkeit hochgehalten und gestärkt wurde. 29 Dies wird in der Regel nicht maravilhado e espantado de 1er este livro . . q u e r e n d o saber quem me ensinou isso e como pude saber tanto. Pois eu te digo que me custou trinta anos de trabalho . . . aprendendo as linguas, a 1er e escrever, servindo aos doutores, aos que nào sabem e aos que sabem . . . E como pobre tratando com eles, me revelam sua pobreza, os padres sua soberba, que se escrevesse o trabalho que passam nos povoados com a soberba dos padres, corregedores, encomendeiros, de caciques principáis, que perseguem os pobres de Jesus Christo, às vezes é de chorar, às vezes de rir e ter pena. E assim vi pessoalmente (...)" (ebd., 232) 26 „Queres lavara a tua alma com agoa santa? Queres comer o sal de Deus? Botas fôra de tua alma todos os teus pecados? Nào has de fazer mais pecados? Queres ser filho de Deus? Botas fôra da tua alma o demònio?" (ebd., 233). 27 World Council of Churches, Conference on World Mission and Evangelism, Salvador, Bahia, 1996, Preparatory papers for Section Work, 3. 28 Ebd. 29 Ein Beispiel dafür, wie der synkretistische Volkskatholizismus zum Ausgangspunkt des Widerstandes gegen die unerträgliche soziale Situation wurde sind die messianischen Bewegungen, religiöse Aufstandsbewegungen im 19. und 20.Jahrhundert. Sie entstanden vor allem im Nordosten Brasiliens, wenn das Volk im Landesinneren seine Hoffnung, aus Armut und Rechtlosigkeit befreit zu werden, auf einen religiösen Anführer, oft einen Laien

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bedacht, wenn Theologen im Gefolge Karl Barths das Evangelium als läuterndes Gericht von Religion und Kultur ins Feld führen. Es hat im Zuge des Kolonialismus Situationen gegeben, in denen das kulturelle Erbe der nichtchristlichen Religion befreiend gegen die christliche Versklavung wirkte und den Geschundenen einen Rest von Identität gewährte, den ihnen die aufoktroyierte abendländisch-christliche Kultur genommen hatte. Wir können aufgrund dieser historischen Erfahrungen festhalten, daß das Evangelium nur dann als „gute Nachricht", als die befreiende Botschaft von Jesus Christus verstanden werden kann, wenn seine Verkündigung nicht an die Herrschaftspraxis der dominanten Kultur gebunden ist und wenn es denen, die unter ihr leiden, hilft, ausgehend von der Geschichte Jesu Christi ihr Leiden und ihre Hoffnung auf Freiheit und Gerechtigkeit zu artikulieren. Es gab in Lateinamerika, angefangen mit Bartolomé de las Casas, vereinzelt andere Modelle der Verkündigung des Evangeliums. Die katholische Kirche hat unter dem Einfluß der Befreiungstheologie auf der lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Santo Domingo (1992) Selbstkritik geübt und mit der Theologie der „Inkulturation" ein neues Modell der Beziehung zu den Kulturen auf ihre Fahnen geschrieben, das wir noch genauer untersuchen werden. Bartolomé de Las Casas verurteilte schon 1537 die Vernichtung der Indianer. Er verteidigte die Position, daß die einzige Art und Weise, die Indianer an das Evangelium heranzuführen, der friedliche Weg sei, und verlangte, daß die Spanier Schätze, die sie aus der neuen Welt weggeschleift hatten, an die Indios zurückgeben. 30 Die Arbeit der protestantischen Missionen im 19. und 20. Jahrhundert ging von Nordamerika aus. Kritisch gegenüber dem spanischen Katholizismus, den sie als autoritär, intolerant, antidemokratisch und rückständig empfanden, widmeten sich die Missionare der Erziehungsarbeit der Elite und gründeten Gemeinden im Umkreis starker evangelischer Schulen. Sie verbanden modernes Gedankengut mit der methodistischen Forderung nach der Bekehrung als freiwillige Ubergabe des Lebens an Jesus Christus und forderten einen radikalen Bruch mit der bisherigen Kultur. Das verbindende Element unter den lateinamerikanischen Protestanten war der Liberalismus. Sie verfolgten das Ideal (Beato), warf, dem ähnlich wie einem indianischen Schamanen (Pagé) therapeutische Fähigkeiten zugeschrieben wurden. Chiliastische Erwartungen von der baldigen Wiederkunft des Messias oder dem Anbruch des goldenen Zeitalters nach der Rückkehr des Königs Sebastian (Sebastianismus) führten zu massenhaften Ansiedlungen in der Nähe eines solchen Führers und zu erheblichen Migrationsbewegungen. Wichtige messianische Bewegungen waren im 19. Jahrhundert die Bewegungen der Canudos, des Contestado und des Caldeiräo. Sie wurden von Kirche und Staat als subversiv verstanden und zum großen Teil blutig unterdrückt (vgl. Hans Jürgen Prien. Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1978, 844-849). 30 Vgl. Roberto Zwetsch. Evangelho, 231.

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einer von den Prinzipien der Freiheit, der Toleranz und der Gleichheit regierten Gesellschaft und waren eine treibende Kraft bei der Entwicklung der Nationalstaaten, in denen Religionsfreiheit herrschte. Obwohl der angelsächsische Missionsprotestantismus die Bekehrten in das Kulturschema des american way of life integrierte, entwickelte er im Rahmen seiner Identifikation mit nationalstaatlichen Projekten ein lateinamerikanisches Profil.31 Er war ein eigenständiges kulturelles Angebot, das einigen die Chance bot, das kulturelle Joch des kolonialen Katholizismus abzuwerfen. So meint etwa Catalina Santos, evangelische Theologin und Soziologin aus Equador, in einer Studie über 500 Jahre Evangelisation in Lateinamerika aus der Perspektive der Frauen, daß die Frauen der Andenvölker, die durch die Conquista einer Ideologie der Entwertung, der Auflösung ihrer traditionellen Rechtsposition, der Verteufelung ihrer symbolischen indigenen Praktiken und der Destrukturierung der Geschlechterbeziehungen ausgesetzt waren, stets subtile Formen des Widerstands gefunden hätten. Nach einigen Jahrhunderten war es eine neue Form des Widerstands, Protestantin zu werden. „ D i e arme Frau eignet sich das Evangelium an, zumal es sie mit der M ö g l i c h k e i t beschenkt, sich als , T o c h t e r Gottes' z u valorisieren und vor allem auf G e m e i n d e e b e n e B e z i e h u n g e n von W e r t s c h ä t z u n g z u r G e l t u n g zu bringen . . . V 2

In ähnlicher Weise kann das strikte Alkoholverbot der protestantischen Missionare bei den Andenvölkern als moralische Infragestellung des in der Kolonialepoche eingeführten Systems der Ausbeutung und sozialen Kontrolle der Bevölkerung über den Alkoholkonsum aufgefaßt werden. Der Protestantismus konstruiert, ausgehend von den kulturellen Parametern der Missionare einen „symbolischen Raum", in dem er durch die Infragestellung von Verhaltensweisen der Anpassung an die hegemoniale Kultur und die Einführung neuer Werte und Ziele (Erziehung) zum Prozeß der Konstruktion neuer Identitäten beiträgt.33 Die „konservative und ethnozentrische religiöse Ideologie der Missionare", die versuchten unter den Anhängern anderer Kirchen Proselyten zu machen, hat Schaden angerichtet. Die Prozesse der Begegnung zwischen missionarischem Protestantismus und Kultur sind allerdings durch verschiedene soziale 31 Vgl. Rubén Ruiz. Formación de una conciencia de latinicidad: El caso protestante. In: Tomás Gutierrez (Org.). Protestantismo y Cultura en America Latina: Aportes y Proyecciones. Quito- Ecuador: Consejo Latinoamericano de Iglesias, 1994, 140 f. 32 „La mujer pobre se apropria del mensaje evangélico ya que él le brinda la possibilidad de valorizarse como ,Hija de Dios' y articular relaciones dignificantes sobre todo a nivel de la pareja ..." (Catalina Santos. 500 Años de Evangelización: Una perspectiva desde la mujer, en los Andes septentrionales durante el siglo XVI. In: Tomás Gutierrez (Org.). Protestantismo, 47. 33 Vgl. Héctor Laporta V., Protestantismo y Cultura. In: Tomás Gutierrez (Org.). Protestantismo, 31.

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Akteure gestaltet worden. Die Indianer, beispielsweise, als Empfänger des Angebots der christlichen Botschaft und der sie begleitenden kulturellen Muster, eigneten sich, wie der peruanische Theologe und Anthropologe Héctor Laporta gezeigt hat, deren Symbole und Bedeutungen an, unterzogen sie aber einer neuen, eigenen Lektüre, um somit auf neue soziale Herausforderungen zu antworten. Es gibt Formen kreativer Aneignung der Diskurse und Handlungsräume, die durch den Protestantismus eröffnet werden, deren Bedeutung für die „Konstruktion von Macht und sozialer Identität" unterschätzt worden ist. Handlungsformen wie der Gottesdienst und die evangelistische Kampagne können als „rituelle Räume zur Dramatisierung des täglichen Lebens" verstanden werden. In ihnen werden Gefühle, Gewißheiten und Wünsche geäußert und bietet sich die Gelegenheit, ausgehend von der „Bekehrung" als dem Gefühl, von Gott gerufen und auserwählt zu sein, „schwer angeschlagene Identitäten" zu rekonstruieren. 34 Diese Einsicht würdigt die Möglichkeiten kreativer Umgestaltung des im historischen Prozeß entfremdeten kulturellen Verhaltens aufgrund der in einer bestimmten kulturellen Gestalt angebotenen christlichen Botschaft. Sie erlaubt es, die Begegnung zwischen Evangelium und Kultur als einen dynamischen Prozeß vorzustellen, der von den historischen Gegebenheiten ausgeht. Romantische Idealisierungen wie die in Europa bisweilen noch verbreitete Idee von den „schönen Wilden", deren ursprüngliche Kultur es wie in einem Naturreservat zu bewahren oder wiederherzustellen gilt, werden der Tatsache der kulturellen Entwicklung in Lateinamerika, der historischen Vermischung und Diversifizierung der Kulturen ebensowenig gerecht wie die von marxistischer Seite in Lateinamerika vertretene Idee der protestantischen Konspiration, die den Protestantismus als Vorhut des nordamerikanischen Imperialismus ansah. 35 Die Aneignung des Evangeliums durch eine kulturelle Gruppe wird beeinflußt durch pragmatische Gesichtspunkte, die sich in der Formulierung der „Bemühung um das Leben" zusammenfassen lassen. In einer Studie zum Thema „Gottesdienst und Kultur" hat der brasilianische Theologe Nelson Kirst gezeigt, daß das religiöse Verhalten ebenso wie alle anderen kulturellen Verhaltensweisen als Aktivitäten verstanden werden können, die alle im Dienst des Faktors der „Bemühung um das Leben" stehen. Er hat diesen Faktor „kulturelle Protokomponente" genannt. 36 „Die Bemühung um das Leben" im Sinne der Lebenssicherung, der Lebenserhaltung, der befriedigenden Lebensgestaltung unter den jeweiligen kulturellen Bedingungen und der Verbesserung der Lebensbe-

34 Ebd., 33 f. 35 Vgl. Jean Pierre Bastian. La mutación del protestantismo latinoamericano: Una perspectiva socio-histórica. In: Tomás Gutierrez (Org.). Protestantismo, 116. 36 Nelson Kirst. Se nao fosse a religiäo, aonde tu iria te afirmar (Beatriz): Culto e cultura em Vale da Pitanga. Sào Leopoldo: IEPG, 1995, 13 f.

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dingungen ist etwas, was dem kulturellen Verhalten vorausliegt und darum pragmatisch auch die Bedingungen festlegt, unter denen das Evangelium rezipiert und interpretiert wird. Dieses pragmatische Kriterium ist auch theologisch relevant: Das Evangelium ist die gute Botschaft von Jesus Christus in dem Maße, in dem es den Menschen hilft, ihrer Bestimmung als Geschöpfe Gottes gemäß zu leben und Christi Verheißung, das Leben in Fülle zu bringen, erfahrbar macht. Die Entwicklung der lateinamerikanischen Pfingstbewegung während der letzten Jahrzehnte zeigt die Ambivalenz der Aneignung des Evangeliums im Interesse der Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Pfingstkirchen haben sich seit der Gründung der ersten Gemeinde der Assetnbléia de Deus durch die aus Nordamerika kommenden schwedischen Missionare Gunnar Vingreen und Daniel Berg im Jahr 1910 in Belém, der Hauptstadt des nordbrasilianischen Bundesstaates Pará, in drei Phasen ausgebreitet. 37 Zwischen 1910 und 1950 pflanzten ausländische Missionare das Pfingstlertum in den Ländern Lateinamerikas ein. Die Gemeinden breiteten sich langsam aus, vor allem in den Armensiedlungen am Rand der Städte, die sich im Zuge der Industrialisierung seit 1940 bilden. Seit 1930 ist in Brasilien eine stärkere Nationalisierung der Assembléia de Deus zu beobachten. In der zweiten Phase seit 1950 bildeten sich teils durch die Initiative ausländischer Missionare, teils durch nationale Gründungen wie etwa der zeitweise sehr starken Pfingstkirche O Brasil para Cristo durch Manoel de Mello verschiedene pfingstlerische Kongregationen. Das Pfingstlertum verzweigte sich und trat seit den siebziger Jahren mit Neugründungen wie der Kirche Deus é Amor des Missionars Davi Miranda und der weltweit agierenden Igreja Universal do Reino de Deus unter Edir Macedo in eine Phase, die man als „neopentecostaf, als neu-pfingstlerisch bezeichnet. Eine optimistische Schätzung der Associaçào Evangélica Brasileira behauptet, es gebe ca. 25 Millionen Pfingstler in Brasilien38. Sie sind in allen lateinamerikanischen Ländern stark vertreten. In Peru wird ihre Zahl auf 4 % der Gesamtbevölkerung von 22 Millionen geschätzt 39 . Charakteristisch für die Pfingstkirchen ist die Betonung der Geistesgaben, die allen Gläubigen zuteil werden, die Erfahrung der Taufe durch den Heiligen Geist als dritte Segnung nach der Rechtfertigung (Bekehrung) und Heiligung, die sich in der Zungenrede manifestiert und die apokalyptische Naherwartung der Wiederkunft Christi 40 . J e s u s rettet",

37 Vgl. Onëide Bobsin. Teologia da Prosperidade ou Estratégia de Sobrevivência: Estudo Exploratorio. In: Estudos Teológicos 35(1), 1995, 22 ff. 38 Vgl. Ingo Wulfhorst. O Pentecostalismo no Brasil. In: Estudos Teológicos 35(1), 1995, 7. 39 Vgl. Bernardo Campos M., Pentecostalismo y Cultura: La Espiritualidad Pentecostal en el Perú. In: Tomás Gutierrez (Org.). Protestantismo, 53. 40 Vgl. Ingo Wulfhorst. O Pentecostalismo, 16 ff.

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J e s u s tauft im Heiligen Geist", J e s u s heilt", J e s u s kommt wieder", sind etwa die vier Eckpfeiler der Lehre der Igreja do Evangelho Quadrangular no Brasiti Die Betonung von Heilung und Segnung sowie eine ekstatische Frömmigkeit sind Charakteristika der pfingstlerischen Interpretation des Evangeliums. Die H o f f n u n g auf Heilung und massive Heilungsversprechen ziehen viele Menschen vor allem aus der armen Bevölkerung an und verwandeln die Kirchen zum Teil in regelrechte „Agenturen der göttlichen Heilung". Gleichzeitig ist die Gemeindezugehörigkeit eher lose und passager 42 . Von den Gläubigen wird ein tiefgreifender Bruch mit ihrer kulturellen Vergangenheit verlangt. Die durch fundamentalistische Bibellektüre begründeten Verbote erstrecken sich auf alle Gebiete des Lebens bis hinein in die Kleiderordnung. Dennoch lassen sich Anknüpfungen an lateinamerikanische Popularkulturen feststellen. Die These einer gewissen Verwandtschaft der pfingstlerischen Frömmigkeit mit der Tradition des Messianismus im Nordosten Brasiliens ist nicht von der Hand zu weisen43. Die Nähe zur geistigen Welt des Popularkatholizismus, in der Dämonen, Geister, Offenbarungen und Heilungen das Verständnis des Alltags prägen, ist in allen Regionen Lateinamerikas unverkennbar. Man kann darum mit Jean Pierre Bastian behaupten, daß die Ausbreitung der Pfingstler eine Erneuerung der Praktiken der Popularreligion und „die Akkulturation des historischen Protestantismus an die Praktiken und Werte der katholischen Popularkultur" bedeutet 44 . Dieser Wandlungsprozeß hat die Kirchen des angelsächsischen Missionsprotestantismus in Zentralamerika, der Karibik und den Andenstaaten erfaßt. Er kann als „Pentecostalisierung" der protestantischen Kirchen angesehen werden, die zunehmend auch auf die Praxis der Kirchen des historischen Protestantismus der Nachfahren der europäischen Immigranten übergreift. Bastian betont, daß dieser synkretistische Protestantismus seit den siebziger Jahren bei verschiedenen Indianervölkern dazu gedient hat, eine Art Gegen-Macht gegen wirtschaftliche und religiöse Machtmonopole der Eliten zu formieren, die von Anthropologen als „ethnische Re-vitalisierung" angesehen wird 45 . Trotz dieser Beobachtungen, die begleitet werden von neueren Tendenzen zur ökumenischen Öffnung und zur Beschäftigung mit

41 Ebd., 11. 42 Ebd. 43 Jean Pierre Bastian. La mutación del protestantismo latinoamericano, 125. 44 Ebd., 122. 45 Die Indianer in Sierra Norte, im mexikanischen Bundesstaat Puebla optierten in den 70-er Jahren für den pfingstlerischen Protestantismus, der sie gegen die Mestizen, die den Kaffeehandel kontrollierten, stärkte. In Reyes Novaes, im Nordosten Brasiliens, haben Pfingstler in den 60-er Jahren an einer Bewegung zur Durchsetzung der Agrarreform teilgenommen. In der Provinz Chimborazo in Ecuador ist die „Asociación de Indígenas Evangélicos del Cimborazo" seit den Wahlen von 1984 zu einem Freiraum geworden, in dem fundamentale Forderungen der Quechuas publik gemacht werden (ebd., 124).

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sozialen und politischen Fragen auf Seiten einiger pfingstlerischer Theologen, gilt, daß der pfingstlerische Protestantismus im allgemeinen politisch restaurative und autoritäre Positionen vertritt. Dies wird besonders im Diskurs der neo-pentecostalen Kirchenvertreter deutlich. Die Igreja Universal do Reino de Deus etwa verkündet das neue Evangelium der „Prosperität" und sucht es durch den massiven Einsatz eines dieser Kirche gehörenden Netzes von Fernseh- und Rundfunkstationen unter die Leute zu bringen. Sie führt alle sozialen und individuellen Probleme auf spirituelle Ursachen zurück. Die Dämonen, die den Einzelnen in Armut, Arbeitslosigkeit oder Krankheit festhalten, werden, so die Ansicht dieser Kirche, durch die nicht christlichen, vor allem die afro-brasilianischen Popularreligionen auf den Plan gerufen und müssen in exorzistischen Ritualen ausgetrieben werden, damit jeder individuell zu Erfolg und Reichtum kommen kann. Magische Rituale werden angeboten, um Unternehmen aus den roten Zahlen zu führen. Das von Jesus versprochene Leben wird im kapitalistischen Sinne mit Geld gleichgesetzt und Gott in ein archaisches Tauschsystem eingespannt, in dem die Gläubigen Gott durch ihre finanziellen Gaben an die Kirche dazu verpflichten, dem Geber das Investierte mit Gewinn zurückzugeben. Die Theologie der Prosperität und die Magie des positiven Denkens und des gekauften Segens okkupiert, so der Religionswissenschaftler Onëide Bobsin, den Ort der von Max Weber als eine Wurzel des Kapitalismus identifizierten alten protestantischen Arbeitsethik 46 . Sie zielt auf die kirchliche Macht im Sinne der mittelalterlichen Kontrolle des Staates durch die Kirche. Deswegen startet die „Igreja Universal", und nicht nur sie, Wahlkampagnen für Politiker aus ihren Reihen bis hin zur Ankündigung der Aufstellung eines eigenen Präsidentschaftskandidaten in Brasilien47. Angesichts der Identifikation der Verkündigung des Evangeliums mit einer kapitalistischen Erfolgs- und Wohlstandsideologie, angesichts der Identifikation des Auftrags des Evangeliums vom Reich Gottes mit den Zielen der Konsumgesellschaft erweist es sich von neuem als unerläßlich, das Evangelium als kritisches Gegenüber der Kultur zu artikulieren, das den Kirchen zunächst und danach allen anderen kulturellen Bereichen, prophetisch ihre Anpassung an ein kurzsichtiges, ungerechtes und zerstörerisches Verständnis des Lebens vorhält. Die Kirchen des historischen Protestantismus sind keine Frucht der Mission, sondern wurden im Zuge der europäischen Einwanderung in Lateinamerika implantiert. Ein Beispiel ist die Evangelische Kirche lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (EKLBB/IECLB) 4 8 . Sie hat ihre 46 Vgl. Onëide Bobsin Teologia da Prosperidade, 34. 47 Ebd., 35 f. 48 Vgl. Martin N. Dreher. Kirche und Deutschtum in der Entwicklung der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1978;

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Wurzeln in der 1824 einsetzenden Einwanderung von meist der ländlichen Unterschicht angehörenden Deutschen im Süden Brasiliens und im Bundesstaat Espirito Santo. Die bereits geschilderte regionale, soziale und ethnische Isolation dieser Bevölkerung, die vielerorts weiterhin vorwiegend deutsch gesprochen hat, trug dazu bei, daß die Kirche bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine ethnische Enklave bildete. Der Gottesdienst und andere kirchliche Aktivitäten wurden vorwiegend in deutscher Sprache abgehalten. Die Pfarrer kamen bis zum zweiten Weltkrieg meist aus Deutschland, das über das kirchliche Außenamt der preußischen Kirche und verschiedene Missionsvereine wie den bayerischen „Gotteskasten" starke geistliche, theologische, politische und ökonomische Verbindungen zu den brasilianischen Gemeinden und Synoden pflegte. Die Evangelische Kirche lutherischen Bekenntnisses galt weithin als „die Kirche der Deutschen". Sie war angesichts der sozial und politisch schwachen Position der deutschen Immigranten in Brasilien eine Stütze ihrer Identität und behält diese Funktion in einzelnen Teilen des Landes, vor allem in den zahlenmäßig schwachen Gemeinden der aus dem Süden Brasiliens in den Westen und Nordosten des Landes gewanderten Siedler. Durch Gottesdienst, Predigt, demokratische Gemeindestrukturen und diakonische Einrichtungen war sie ein strukturierender Faktor des persönlichen und sozialen Lebens ihrer Mitglieder. Sie Schloß in gewisser Hinsicht jedoch diejenigen, die nicht zur deutschen Ethnie gehörten, aus. Die Gründung einer theologischen Fakultät, an der übrigens bis in die 70-er Jahre auf deutsch gelehrt wurde, und die Umstellung der Gottesdienstsprache auf das Portugiesische in den 60-er Jahren waren wichtige Weichenstellungen einer ethnischen Öffnung. Sie wurde in den vergangenen Jahrzehnten vor allem durch Impulse vorangetrieben, die aus dem Bereich der Befreiungstheologie und der evangelikalen Mission auf die Gemeinden einwirkten. Die Befreiungstheologie lehrte die Pfarrer nicht nur, die Dependenz von der l.Welt zunehmend kritisch zu sehen, sie verlangte ihnen auch ab, sich mit der lateinamerikanischen Realität zu identifizieren. Das in den 70-er Jahren im evangelischen Bereich entwickelte Modell der Pastoral de Convivencia (Pastoral des Zusammenlebens), ist ein Beispiel dafür 49 . Studenten, Gemeindeglieder und Pastoren machten sich, inspiriert durch die katholischen Basisgemeinden und die Arbeiterpriester, auf, um mit der armen Bevölkerung zusammenzuleben, in Fabriken oder der Subsistenzlandwirtschaft ihr Brot zu verdienen, und sich an der politischen Arbeit in Gewerkschaften und Basisbewegungen zu beteiligen. Andere lebten in Indianergemeinden und suchten nach Hans Jürgen Prien. Evangelische Kirchwerdung in Brasilien: Von den deutsch-evangelischen Einwanderungsgemeinden zur Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1989. 49 Vgl. Roberto Zwetsch. Evangelho, 237.

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Wegen, deren Forderungen nach Anerkennung als gesellschaftliche Subjekte, die aufgrund ihrer Geschichte eigene Rechtsansprüche haben, zur Geltung zu verhelfen. Die ethnische Öffnung ging von einer missionarischen Position aus, die den Gesichtspunkt des sozial und ethnisch „Anderen" in den Mittelpunkt stellte und sich durch sein Leben und seine Probleme in die Pflicht nehmen läßt. Die evangelikale Bewegung in der EKLBB, die sich movimento enconträo (Bewegung der großen Begegnung) nennt, ging in den 70-er Jahren aus von der Arbeit eines nordamerikanischen Missionars und hat in einzelnen Regionen eine erstaunliche Ausbreitung gefunden. Sie erreicht die ethnische Öffnung in den Gemeinden durch die Anlehnung ihrer Theologie und der von ihr entwickelten Modelle an andere evangelikale Kirchen des brasilianischen Protestantismus. Die ethnische Zugehörigkeit wird zusehends unwichtiger. Was zählt sind die Bekehrung, der Glaube, ein Leben als Nachfolger Jesu Christi in der Gemeinde der Schwestern und Brüder. In dieser Bewegung finden sich seit Anfang der 90-er Jahre pfingstlerische Strömungen ebenso wie ein zunehmendes kritisches soziales Bewußtsein, das zum sozialpolitischen Engagement drängt und sich neben dem traditionellen evangelikalen Konservativismus etabliert. In Konkurrenz zu den Pfingstlern wird die Idee der therapeutischen Gemeinde, der Gemeinde als Ort ganzheitlicher Heilung gepflegt, dabei bisweilen jedoch ein Ideal der Gemeinde als Vorbild für das Zusammenleben in der Gesellschaft entwickelt, ohne den politischen Kontext weiter zu berücksichtigen. In vielen Gemeinden der EKLBB gibt es nach einer Phase der „Brasilianisierung" einen Trend zur Pflege des kulturellen Erbes der deutschen Einwanderer. Unter den Pommern in Espirito Santo, einer nach wie vor in Brasilien recht isolierten Volksgruppe, scheint hier das Bemühen vorzuherrschen, das eigene Selbstbewußtsein zu stärken und ähnlich wie andere marginalisierte Gruppen die eigene Identität zu wahren, während in den Gemeinden des Südens deutsche Kultur vor allem in Tanz- und Trachtengruppen repräsentiert wird, in denen die Kirche stärker als ein Freiraum zur Pflege von Folklore genutzt wird. Insgesamt bemüht sich die Leitung der EKLBB vor allem durch ihre missionarische und diakonische Arbeit, die sich den Minderheiten öffnet und die sozialpolitische Verantwortung betont, sehr stark darum, das Evangelium als eine für alle Menschen offene Kirche in Brasilien zu bezeugen. Das Beispiel des historischen Protestantismus zeigt, daß die einseitige Bindung des Evangeliums an die Kultur einer ethnischen Minderheit zwiespältig ist: sie kann die Mitglieder dieser Minderheit stabilisieren, ihr Selbstbewußtsein stärken und damit ihre soziale Handlungskompetenz erhöhen. Sie wirkt aber auf die Dauer einengend, verhindert die Öffnung der Verkündigung und der Gemeinden für Menschen anderer kultureller Herkunft, begrenzt den Wirkungskreis des Evangeliums und kann es gar als Instrument der Abschottung gegen das Fremde oder, im Fall einer kritiklosen Identifikation mit der Kultur, als Stütze reaktio105

närer Politik - wie es teilweise in den Zeiten der brasilianischen Militärdiktatur geschah - , oder aber als ein eher harmloses dekoratives Element folkloristischer Traditionspflege mißbrauchen. Halten wir aufgrund dieses Uberblicks über die historischen Formen der Begegnung von Evangelium und Kultur in Lateinamerika vorläufig als theologische Beurteilungskriterien der Theorien, die wir im folgenden analysieren werden, fest: 1. Das Evangelium von Jesus Christus ist stets ein kritisches Gegenüber zu den Kulturen. 2. Eine Identifikation von Evangelium und Kultur schadet beiden und läuft Gefahr, das Evangelium dem Selbstverständnis der dominanten Kultur unterzuordnen oder es im Dienst der Verteidigung einer Minderheitenkultur zu verkürzen. 3. Evangelium und Kultur lassen sich nicht trennen. Die Begegnung von Evangelium und Kultur findet unter konkreten historischen und sozialen Umständen statt . 4. Die Interpretation des Evangeliums, der Geschichte des Heilshandelns Gottes an seinen Geschöpfen in der Geschichte Jesu Christi folgt stets auch den pragmatischen Wegen der Konstruktion der Kultur einer Gruppe oder eines Volkes, ausgehend von der kulturellen Protokomponente der „Bemühung um das Leben". 5. Das Evangelium von Jesus Christus wirkt befreiend, wenn es die benachteiligten sozialen Akteure befähigt, sich im gesellschaftlichen Diskurs in ihrem kulturellen So-Sein zu artikulieren, das Bewußtsein einer kulturellen Identität zu entwickeln und ihre Forderungen, ein würdiges Leben als geliebte Geschöpfe Gottes zu führen, wirksam zu vertreten.

5.5. Theoretische Modelle der Beziehung von Evangelium und Kultur 5.5.1. Die Theologie der Inkulturation Der Begriff der Inkulturation des Evangeliums hat in den letzten Jahren in der ökumenischen Diskussion über Evangelium und Kultur zunehmend an Bedeutung gewonnen. Inkulturation wurde dabei oft als neues, postkoloniales Modell einer Evangelisation verstanden, welche die Kultur des anderen nicht zerstört, sondern achtet und fördert. Man unterschied zwischen Inkulturation, Enkulturation, Akkulturation und Interkulturation. Dabei gerieten die Begriffe manchmal durcheinander und wurden vermischt. Erinnern wir uns daran, daß Enkulturation oder Endokulturation in der Kulturanthropologie den Prozeß meint, in dem sich ein Individuum oder eine Gruppe eine Kultur aneignet, das heißt also die sprachliche 106

oder ikonische Übermittlung und Inkorporation von sinnhaften Strukturen (Deutungen, Wertsystemen, Verhaltensorientierungen und Verhaltensmustern). Der kulturanthropologische Begriff der Enkulturation ist eng verwandt mit dem der Inkulturation, der sich auf die Übermittlung und Aneignung des Evangeliums innerhalb des Kultursystems einer sozio-kulturellen Gruppe konzentriert. Inkulturation ist ein theologischer Begriff, der das Verhältnis des Evangeliums von Jesus Christus zu den Kulturen in Theorie und Praxis bestimmt. Wer von Inkulturation redet, muß einige grundlegende Fragen beantworten: Ist das Evangelium eine transkulturelle Wahrheit? Oder ist es nicht zu trennen von seiner historischen und kulturellen Gestalt? Wird das Evangelium, wenn es in verschiedene Kulturen eingeht und in ihnen Gestalt gewinnt in irgendeiner Hinsicht oder gar in seinem Kern von der Kultur affiziert, vielleicht gar verändert, oder nicht? Wenn dem so ist, was begründet dann die Einheit der verschiedenen Kirchen und ihre Gemeinschaft? Bedeutet Inkulturation des Evangeliums die einseitige Anpassung der Botschaft an die sozio-kulturellen Bedingungen, die Sprache, das System der Werte etc. einer Kultur oder bedeutet sie auch die Anpassung der Kultur an das Evangelium bis hin zu ihrer Umwandlung in eine von den Sinndeutungen und dem Wertsystem einer vom Evangelium geprägten christlichen Kultur. Geht das Evangelium ein in die verschiedenen Kulturen ohne den Anspruch auf Veränderung, ohne kulturelle Machtansprüche oder stellt es die bestehende Kultur in Frage und erhebt den Anspruch, sie auf der Basis der Herrschaft Jesu Christi zu verändern? In welchem Verhältnis steht das Evangelium zu anderen Religionen und Weltanschauungen, die Teil der jeweiligen Kultur sind? Auch wenn Inkulturation zunächst schlicht die Einpflanzung oder Übertragung der Botschaft des Evangeliums in ein anderes Kultursystem bedeutet, ist dieses keineswegs so unproblematisch wie es auf den ersten Blick erscheint. Es kann, je nachdem wie es in den Kirchen theologisch interpretiert wird, zum sozialen Sprengstoff werden, der nicht ungefährlich ist. Als Akkulturation wird die Begegnung verschiedener Kulturen bezeichnet. Sie ist ein kollektiver Prozeß, in dem verschiedene Symbolsysteme, Überlieferungen und Interpretationen von Erfahrung aufeinandertreffen und einen wechselseitigen Anpassungsprozeß durchmachen. Die Begegnung und der Austausch der Kulturen in Akkulturationsprozessen ist eine Voraussetzung für kulturellen Wandel. Neue, von außen kommende Bedeutungen durchdringen die mehr oder weniger geschlossene Weltsicht eines Kultursystems und eröffnen neue Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten. In der Geschichte der christlichen Mission und Evangelisation ist die Akkulturation oft zur kulturellen Dominanz, zum unerwünschten, möglicherweise erzwungenen Transfer von Kulturgut in eine andere Kultur bis hin zur imperialistischen Kulturzerstörung verkommen. Akkulturation ist darum in der gegenwärtigen Diskussion bisweilen ein Reizwort, das Synonym für kulturelle Dominanz, Oppression 107

und Kulturzerstörung. Um die Reziprozität kultureller Wandlungsprozesse in der christlichen Mission zu bezeichnen, haben manche den Begriff der Interkulturation eingeführt, der davon ausgeht, daß Elemente der Kultur der missionierten Völker auf andere Kulturen einwirken, daß es also einen Rücktransfer in die Kultur der Missionare gibt.50 Der Gedanke der Inkulturation hat seit dem II. Vatikanischen Konzil insbesondere in der katholischen Kirche und Theologie eine erhebliche Breitenwirkung entwickelt. Auf der Suche nach einer adäquaten Verhältnisbestimmung von Evangelium und Kultur in der seelsorgerlichen Beratung werden wir zunächst die offizielle katholische Theorie der Inkulturation analysieren, sie mit einer exemplarischen Interpretation der Inkulturation aus dem Bereich der lateinamerikanischen Befreiungstheologie konfrontieren, die dabei zutage tretenden Probleme diskutieren und auf diesem Hintergrund nach den Ergebnissen der ökumenischen Gespräche über Evangelium und Kultur(en) fragen. 5.5.1.1.

Die offizielle

Position

der katholischen

Kirche

Der scharfzüngige belgische Pater José Comblin, Befreiungstheologe und Mitstreiter des Bischofs Dom Helder Cámara, ein streitbarer Mann, der mehrere Jahrzehnte in verschiedenen Ländern Lateinamerikas gelebt und gelehrt hat, machte in einer Arbeit über die „Aporien der Inkulturation" auf die falsche Einmütigkeit der Katholiken in Sachen Inkulturation aufmerksam, bei der sich Konservative und Progressive, der Papst, die römischen Theologen und die Befreiungstheologen einig zu sein scheinen: „Die Einmütigkeit, mit der man sich auf die Inkulturation' beruft, ist das Zeichen eines Mangels an kritischem Geist in der Art und Weise wie man das Thema behandelt. Man schafft einen falschen Eindruck von Einmütigkeit. Texte werden publiziert, die übereinzustimmen scheinen, in Wirklichkeit aber dazu dienen, die Spannungen oder gar Widersprüche zu verbergen . . . Die Progressiven meinen, die Inkulturation bedeute eine Förderung der kulturellen Diversität und sie sind der Ansicht, daß die Förderung von Kulturen, die gegenwärtig von der überlegenen Kultur der kapitalistischen Welt beherrscht werden, das Ferment einer radikalen sozialen Transformation sein könnte: sie übertragen auf die Kulturen die Mission, die ehemals von den Marxisten an die Arbeiter delegiert wurde. Die Konservativen hoffen, daß die Inkulturation der Kanal sei, über den die Kirche zum Ideal einer christlichen Kultur zurückkehrt, und vor allem die traditionelle Kultur valorisiert und erneuert: Kirchenmusik und traditionelle Künste, traditionelle Theologie, christliche Philosophie, Unterordnung der politischen Welt unter die traditionellen christlichen Werte im Hinblick auf die Familie, die Arbeit, die Nation". 51

50 Diese Definitionen folgen Aylward Shorter. Toward a Theology of Inculturation. 2. Aufl., New York: Orbis Books, 1992, 5-16. 51 „A unanimidade com que se invoca a ,inculturaçâo' é o sinal da ausencia de espirito crítico na maneira de tratar o assunto. Cria-se urna falsa impressäo de unanimidade.

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Die Texte des II. vatikanischen Konzils behandeln das Verhältnis von Evangelium und Kultur nicht unter dem Stichwort „Inkulturation". Die offizielle Position der katholischen Kirche betont die Universalität der christlichen Heilsbotschaft und sieht die Kirche in der apostolischen Sukzession als ihre legitime Verwalterin. Sie bietet den verschiedenen Völkern das Evangelium an und strebt danach, Partikularkirchen zu gründen, die eine relative Autonomie haben, aber in der Gemeinschaft der Bischöfe und unter dem Primat des Bischofs von Rom bleiben, in der Lehre, dem Ritus und der Jurisdiktion letztlich also von der Universalkirche abhängig sind. Der Gedanke der Inkarnation und die Lehre des Justinus Martyr vom logos spermatikos sind in den missionarischen Dokumenten des Konzils richtungweisend für den Umgang mit anderen Kulturen und Religionen. 52 Die in Jesus Christus vollständig offenbarte Wahrheit ist die Erleuchtung aller Menschen. Sie reflektiert sich im Leben der nicht-christlichen Kulturen. In Religion, Spiritualität, Moral, sozialem Leben und anderen kulturellen Äußerungen finden sich Spuren, Samenkörner der Wahrheit Jesu Christi, die Anerkennung und Schutz von seiten der Kirche verdienen, diese Wahrheit und ihre Formulierung durch die Kirche ihrerseits jedoch nicht in Frage stellen. Das im Katholizismus positiv interpretierte Verhältnis der Ordnung der (menschlichen) Natur und der Ordnung der Gnade erleichtert eine theologisch positive theologische Bewertung der Kultur als Schöpfung des Menschen. Das Evangelium von Jesus Christus ist die transkulturelle und universale Heilsbotschaft für alle Völker. Sie kommt zu den Völkern jedoch in Analogie zur Inkarnation des Sohnes Gottes. 53 Ein Aspekt der Inkarnation ist die Partizipation am sozialen und kulturellen Leben. Die Christen nehmen am kulturellen Leben ihrer sozialen Gruppe teil. Sie begründen keine von der nationalen oder regionalen Kultur weitgehend abgegrenzte und unabhängige Subkultur. Sie identifizieren sich mit ihrer Kulturgruppe und rezipieren deren religiöse und weltanschauliche Überlieferungen in einer christlichen Perspektive. Der Konzilstext schlägt vor, in jeder großen sozio-kulturellen Region

Publicam-se textos que parecem estar de acordo quando na realidade Servern para esconder as tensöes ou até as contradiçôes . . . O s progressistas acham que a inculturaçâo significa urna promoçào da diversidade cultural e acham que essa promoçào das culturas atualmente dominadas pela cultura superior d o mundo capitalista poderia ser o fermento de urna transformaçào social radicai: transferem para as culturas a missào conferida outrora pelos marxistas aos trabalhadores. Os conservadores esperam que a inculturaçâo seja o canal pelo quai a Igreja volte ao ideal de urna cultura tradicional: música sacra e artes tradicionais, teologías tradicionais, filosofia cristà, submissào d o mundo político aos valores cristàos tradicionais no que diz respeito à familia, ao trabalho, à naçào" (José Comblin. Aporias da Inculturaçâo (I). In: Revista Eclesiástica Brasileira (REB), 56, 1996, 664 f.). 52 Nostra Aetate, 2. 53 Ad Gentes, 11.

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die Offenbarung im Licht der Tradition der universalen Kirche neu zu studieren, um zu verstehen, inwiefern der Glaube mit der Begrifflichkeit der Philosophie und Weisheitsüberlieferung der Völker dargelegt werden kann, und inwiefern ihre Sitten, Lebenskonzepte und Sozialstrukturen mit dem von der göttlichen Offenbarung her vorgegebenen Standard vermittelt werden können. Ebenso wie die Bildung einer exklusiven christlichen Subkultur soll der Synkretismus vermieden werden. 54 Dieses Studium soll, so das Dokument Ecclesiae Sanctae von 1966, als Grundlage für die Entscheidung über die Anpassung von Evangelisationsmethoden, Gottesdienstformen, religiösem Leben und kirchlicher Gesetzgebung dienen. 55 Der offizielle Katholizismus entwickelt vom Inkarnationsmodell her also eine gewisse Offenheit für die Darstellung des Evangeliums und die Gestaltung des christlichen Lebens in Entsprechung zu den kulturellen Gegebenheiten der verschiedenen Völker. Diese Offenheit für die kulturelle Diversität ist jedoch nur die eine Seite, die Vorderseite der Medaille. Auf der Rückseite ist diese Medaille geprägt vom universalen Anspruch der Königsherrschaft Jesu Christi in der Gestalt der katholischen Kirche, der das Zentrum der menschlichen Kulturen ist und sie sich als sein Erbe dienstbar macht. Der Text von Ad Gentes greift nach neutestamentlichem Vorbild die aggressive Bilderwelt von Psalm 2 auf, um die „Ökonomie der Inkarnation" und die ihr entsprechende Sendung der „jungen Kirchen" zu beschreiben. Er, der Sohn, ist von Gott als königlicher Herrscher eingesetzt, dem Gott „die Völker zum Erbe" und „der Welt Enden zum Eigentum" geben wird (Ps 2,8). Der Psalm warnt die Mächtigen der Erde, diesem Herrn mit Furcht zu dienen (V. 11 ). Die in Christus begründeten und auf dem Fundament der Apostel gebauten Kirchen übernehmen im Namen Jesu Christi das Erbe und die Reichtümer der Völker. 56 Im Rahmen der Debatte über Evangelium und Kultur wird das Motiv der Königsherrschaft Jesu Christi mit der Etablierung einer christlich-katholischen Kultur verbunden. Der von der Kirche verkündete Jesus Christus wirkt als ein Katalysator. Zu seinem Ruhm nutzen die Partikularkirchen die kulturellen Uberlieferungen der Völker und passen sie an die Wahrheit des Evangeliums an. Sie wählen das aus, was dienlich ist und gestalten dadurch die Kultur von Jesus Christus als ihrem Zentrum her um. Das Ziel der Verkündigung ist die Evangelisierung der Kulturen im Sinne der Schaffung regional verschiedener, jedoch in der katholischen Einheit verbundener Ausprägungen der Kultur des Christentums. Die Sendung der Kirche gilt, so die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, allen Nationen und Zeitaltern; sie ist ihren Traditionen treu und bleibt sich ihrer universalen Mission bewußt, um auf dieser 54 Ad Gentes, 22. 55 Ecclesiae Sanctae, 18. 56 Ad Gentes, 22.

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Basis in die Gemeinschaft mit verschiedenen Kulturformen einzutreten. Diese Gemeinschaft wird als ein Verhältnis wechselseitiger Bereicherung der Kirche durch die kulturellen Überlieferungen und der Kulturen durch die kirchlichen Überlieferungen verstanden.57 In dieser Gemeinschaft prägt die Kirche den Kulturen das Bild des Christentums ein. Die Verlautbarungen von Papst Johannes Paul II unterstreichen diese Tendenz und verbinden sie mit dem vom Papst erstmals in die offizielle kirchliche Sprachregelung eingeführten Begriff der Inkulturation. In der apostolischen Exhortation Catechesi Tradendae, in welcher der Papst die theologischen Gedanken der Bischofssynode von 1977 resümiert, werden die Grundlinien seines Verständnisses von Inkulturation ausgezogen. Er meint, der Begriff „Akkulturation" oder „Inkulturation" bringe einen Faktor des Mysteriums der Inkarnation zum Ausdruck, die Macht des Evangeliums in das Herz der Kultur und der Kulturen zu bringen. Die Katechese habe deshalb die Aufgabe, die wesentlichen Komponenten der Kultur festzustellen und ihre signifikantesten Ausdrucksweisen kennenzulernen. Sie respektiert ihre Werte und Reichtümer und bietet ihnen das Mysterium Jesu Christi an, das ihnen hilft, auf der Basis ihrer Kultur originale Ausdrucksweisen christlichen Lebens zu entwickeln. Seine Macht transformiert und regeneriert die Kulturen, es berichtigt viele ihrer Elemente. Der Papst erinnert daran, daß das Evangelium nicht vollständig von der Kultur der biblischen Welt, in der es zuerst auftrat, und von den Kulturen, in denen es durch die Jahrhunderte zum Ausdruck gebracht wurde, getrennt werden kann. Es bedarf der apostolischen kirchlichen Tradition und entspringt nicht spontan und unmittelbar dem Boden einer Kultur. Inkulturation meint also ganz offensichtlich die Implantation des Evangeliums innerhalb einer Kultur im Sinne der Umgestaltung derselben auf der Basis des Evangeliums. Vielleicht ist es nicht zufällig, daß der Papst Akkulturation und Inkulturation identifiziert. Wenn er die Bindung des Evangeliums an die Kultur, in der Jesus lebte, und die Kulturen, in denen es im Lauf der Geschichte zum Ausdruck gekommen ist, betont, identifiziert er das Evangelium weitgehend mit der Kultur des abendländischen Christentums. Man kann nicht umhin, seine Position so zu verstehen, daß er die Kulturen nach dem Modell einer christlich katholischen Kultur umgestalten will. Diese Position setzt dem Pluralismus der Kulturen und der Tendenz des kulturellen Relativismus das Modell einer kulturell angepaßten, aber doch weitgehend einheitlichen christlichen Kultur entgegen. Die Slavenapostel Kyrill und Methodius sind die Modelle für das päpstliche Verständnis von Inkulturation. Die beiden griechischen Mönche prägten und entwickelten durch den Akt der Evangelisation die Kultur der Slaven. Dabei handelten sie im Auftrag des Kaisers

57 Gaudium et Spes, 58.

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und später des Papstes. Ihre Leistung war es, durch die Erfindung des kyrillischen Alphabets die orale Kultur der slavischen Völker in eine Schriftkultur zu verwandeln, sie also zu vereinheitlichen und durch die Entwicklung einer slavischen Liturgie wie auch durch die Bibelübersetzung ins Slavische vom historischen Christentum her zu prägen. Kritische Stimmen erinnern zurecht daran, daß die Evangelisation der Slavenapostel keineswegs frei war von kultureller Domination. Die Evangelisation wurde von oben angeordnet. Kyrill ließ heidnische Kultschreine zerstören und verlangte, daß die russischen Kazaren ihrer Stammesreligion vollständig abschworen. 58 Inkulturation des Evangeliums nach dem Vorbild der Inkarnation wird in dieser Sicht zu einer Einbahnstraße. Im apostolischen Dialog mit den Kulturen dominiert die Kirche, ihre Wahrheit und ihre historisch gewachsene Kultur. Das bedeutet, daß den Kulturen der 3. Welt das bekannte Schema der kirchlichen Organisation übergestülpt wird, angefangen mit der Trennung von Klerus und Laien, über die Konzentration der Macht des theologischen Wissens beim Klerus, der nach den seit dem Mittelalter festgelegten Mustern westlicher theologischer Uberlieferung ausgebildet wird, bis hin zur sozialen und rechtlichen Strukturierung der Kirche in Parochien und Diözesen. Es wird schwer sein, nachzuweisen, daß die Verkündigung des Evangeliums in diesem Rahmen nicht kulturzerstörend wirkt. Comblin hat recht, wenn er das Christentum als Einheitskultur des Abendlandes für das massenhafte Sterben von andersdenkenden Gruppen verantwortlich macht, für die Opfer von Kreuzzügen, der Vernichtung von Ketzern, der blutigen Unterwerfung und Zwangsbekehrung fremder Völker. Mit ihm fragen wir wie eine Inkulturation des Evangeliums aussehen kann, die nicht „zum Schema des Christentums", der Identifikation von Evangelium und christlicher Kultur zurückkehrt. 59 Im Abschlußdokument der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz, die 1992 aus Anlaß des 500. Jahrestages des Beginns der Eroberung Lateinamerikas in Santo Domingo zum Thema „Neue Evangelisation, Förderung der Humanität und christliche Kultur" tagte, finden sich einige wegweisende Antworten. Es war nicht das Anliegen der Bischöfe, die Idee der christlichen Kultur in irgendeiner Weise hinter sich zu lassen. Das Abschlußdokument von Santo Domingo interpretiert sie jedoch kritisch auf dem Hintergrund der historischen Schuld der europäischen Eroberer gegenüber den Indianervölkern und den Afro-Amerikanern. Im Geist der von den Bischofskonferenzen in Medellin (1968) und Puebla (1979) erklärten Option der Kirche für die Armen wird die Idee der christlichen Kultur verbunden mit der Verpflichtung zur integralen För-

58 Aylward Shorter. Incultumtion, 59 Ebd., 683.

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144; vgl. José Comblin. Aporias da inculturaçào, 672.

derung der Humanität in der Gesellschaft und der Schaffung einer geschwisterlichen Kirche in den verschiedenen Kulturen. J e s u s Christus ist eingepflanzt im Herzen der Menschheit und lädt alle Kulturen ein, sich durch seinen Geist zur Erfüllung führen zu lassen, indem er in ihnen das Gute erhebt und reinigt, was von der Sünde gezeichnet ist. Alle Evangelisation muß deshalb Inkulturation des Evangeliums sein. Derart kann jede Kultur christlich werden, das heißt, Bezug nehmen auf Jesus Christus und sich an ihm und an seiner Botschaft inspirieren . . . Jesus Christus ist auf wirksame Weise das Maß jeder Kultur und jedes menschlichen Werkes. Die Inkulturation des Evangeliums ist ein Imperativ der Nachfolge Jesu und nötig, um das entstellte Antlitz der Welt (...) wiederherzustellen. Das ist eine Arbeit, die sich im Projekt jedes Volkes realisiert durch die Stärkung seiner Identität und die Befreiung von den Mächten des Todes." 60 „Diese Inkulturation ist ein Prozeß, der vom Evangelium ins Herz jedes Volkes und der Gemeinde geht. Er ist vermittelt durch die Sprache und die Symbole, die nach dem Urteil der Kirche verständlich und geeignet sind. Ein Maßstab der inkulturierten Evangelisation wird stets die integrale Rettung und Befreiung eines bestimmten Volkes oder einer menschlichen Gruppe sein, die ihre Identität stärkt und darauf vertraut, daß sie eine spezielle Zukunft haben . . . Die Kirche verteidigt die authentischen kulturellen Werte aller Völker, speziell der Unterdrückten, Wehrlosen und Marginalisierten angesichts der erdrückenden Macht der Strukturen der Sünde, die in der modernen Gesellschaft zu Tage treten." 6 ' Im Sinne des thomistischen Grundsatzes der Perfektion der Natur durch die Gnade wird das Verhältnis von Jesus Christus zu den Kulturen gedeutet. Jesus Christus ist die Mitte der Kulturen und führt sie zur vollständigen Realisierung in ihrer Eigenart. D a s Evangelium ist nicht identisch mit einer bestimmten christlichen Kultur. D i e verschiedenen Kulturwerte werden an den von Jesus Christus gesetzten Maßstäben für

60 Jesus Cristo se insere no coraçâo da humanidade e convida todas as culturas a se deixar levar por seu espirito à plenitude, elevando nelas o que é bom e purificando o que se encontra marcado pelo pecado. Toda evangelizaçào há de ser, portanto, inculturaçào do Evangelho. Assim toda cultura pode chegar a ser crista, ou seja, a fazer referencia a Cristo e inspirar-se nele e em sua mensagem (...). Jesus Cristo é, com efeito, a medida de toda cultura e de toda obra humana. A inculturaçào do Evangelho é um imperativo do seguimento de Jesus e é necessària para restaurar o rosto desfigurado do mundo (...). Trabalho que se realiza no projeto de cada povo, fortalezendo a sua identidade e libertando-o dos poderes da morte" (IV Conferencia do Episcopado Latinoamericano, Santo Domingo. Nova Evangelizaçào, Promoçâo Humana, Cultura Cristä: Documento de Santo Domingo. Petrópolis: Vozes, 1993, 38 f. (Paragraph 13). 61 „Esta inculturaçào é um processo que vai do Evangelho ao coraçâo de cada povo e comunidade com a mediaçâo da linguagem e dos símbolos compreensíveis e apropriados segundo o juízo da Igreja. Urna meta da Evangelizaçào inculturada será sempre a salvaçào e libertaçào integral de um determinado povo ou grupo humano, que fortaleça a sua identidade e confie em seu futuro específico, contrapondo-se aos poderes da morte . . . A Igreja defende os auténticos valores culturáis de todos os povos, especialmente dos oprimidos, indefesos e marginalizados, diante da força esmagadora das estruturas de pecado manifestas na sociedade moderna" (ebd., 121 (Paragraph 243).

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das christliche Leben gemessen. Damit bewahrt die Kirche zwar ihre dominante Position: sie bestimmt, welche Kulturwerte als authentisch zu gelten haben. Zugleich aber akzeptiert und stärkt sie die kulturelle Vielfalt, und sie gewinnt die Möglichkeit zur Kritik der zerstörerischen Aspekte der Kulturen, besonders der Kultur der Moderne und Postmoderne. Vom Evangelium her nimmt die Kirche die „Strukturen der Sünde" in den Gesellschaften und Kulturen Lateinamerikas wahr und verpflichtet sich, auf das Ziel einer solidarischen und gerechten Gesellschaft hinzuarbeiten, in der die Menschenwürde Aller vollständig wiederhergestellt wird. 62 In Analogie zur Inkarnation, in der sich Jesus Christus mit den Armen identifiziert hat, wird die Befreiung bestimmter Völker und die Stärkung ihrer kulturellen Identität zur Aufgabe der inkulturierten Evangelisation. Kulturelle Vielfalt, katholische Identität und katholisches Einheitsstreben schließen einander nicht aus. Die Inkulturation des Evangeliums wird in der Nachfolge Jesu Christi zum Imperativ für die Kirche. Sie ist ein integrales Geschehen und bedeutet praktisch, daß die Kirche in Lateinamerika sich besonders mit den Indianervölkern, den Afro-Amerikanern und Mestizen solidarisiert, die darum kämpfen, angesichts von Rassismus und sozialer Marginalisierung materiell und als Ethnien zu überleben. Die Kirche bemüht sich darum, ihre Werte, ihre Weltanschauungen, Sitten und Bräuche, kennenzulernen, schützt sie, soweit sie mit dem christlichen Glauben übereinstimmen und fördert in diesem Rahmen die Entwicklung kulturell selbständiger theologischer Reflexion und inkulturierter Liturgien.

5.5.2. Die Verkündigung des Evangeliums, ausgehend von den historischen Projekten der „Anderen" (Paulo Suess) Der katholische brasilianische Missionswissenschaftler Paulo Suess, der sich vor allem mit der Evangelisation der Indianervölker befaßt hat, hat die katholische Sicht des Verhältnisses von Evangelium und Kultur aus der Perspektive der lateinamerikanischen Befreiungstheologie interpretiert und dabei die Formulierungen von Santo Domingo zum Thema Inkulturation kritisch vertieft. Die Stichworte „Dekolonialisierung" der Evangelisation, „Alterozentrismus" statt „Ekklesiozentrismus" und „Inkulturation als Befreiung" charakterisieren seine Position. „Der Maßstab der Inkulturation ist die Befreiung, und der Weg der Befreiung ist die Inkulturation." 63 Dies bedeutet, daß die Praxis der Inkulturation die Frage nach der Befreiung radikalisiert. 64 62 Ebd., 38 (Paragraph 13). 63 „A meta da inculturaçào é a libertaçâo e o caminho da libertaçâo é a inculturaçào" (Paulo Suess. Apontamentos para a construçâo do paradigma da inculturaçào. In: Ervino Schmidt, Walter Altmann (Hg.). Inculturaçào e sincretismo. Säo Leopoldo: IEPG - CONIC,

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Suess entwickelt im Gespräch mit der Kulturanthropologie einen Kulturbegriff, welcher der Pluralität der Kulturen gerecht wird. Kultur ist die Gesamtheit der Aktivitäten, in denen menschliche Gruppen ihr Verhältnis zur Natur gestalten (Anpassungssystem), ihr Zusammenleben regeln (System der Assoziation), die Welt verstehen und künstlerisch gestalten (interpretierendes System).65 Die Kultur bildet neben der Natur eine „zweite Umwelt" für die Menschen. Sie ist ein „menschliches Ökosystem"66, ein Gemeinschaftswerk, durch das Menschen ihr Leben konstruieren und gegen den Tod verteidigen. Suess betont, daß Kulturen gemeinschaftliche historische Projekte sind, in denen menschliche Gruppen ihre Identität ausdrücken und ihr Uberleben sichern. Er will den Wert dieser Projekte auch theologisch festschreiben und macht sie darum zum Ausgangspunkt der Evangelisation. Dabei geht es im in erster Linie darum, einen kulturzerstörenden Bruch zwischen Evangelium und Kultur zu vermeiden. Deswegen unterscheidet er deutlich zwischen den Bereichen von Anthropologie und Theologie. Im Unterschied zur Kultur, die in den Bereich der Anthropologie gehört, ist das Evangelium das zur transzendentalen Ordnung gehörende Wort Gottes, das zu den Völkern vom Schöpfer der Welt redet, der durch die Fleischwerdung des Wortes

1994, 29). Nach Suess ist in Santo Domingo klar geworden, daß die kulturelle Frage der sozialen Problematik nicht untergeordnet ist. Sie ist vielmehr eine der umfassendsten menschlichen Fragen, relevant in allen gegenwärtig anstehenden pastoralen Fragen. Die pastorale Pädagogik habe in dem Dokument „den Schritt von der Ontologie zur Alternat, vom ,Sein' (.christliche Kultur') zum ,Anderen' ^Inkulturation')" gefordert („A pedagogia pastoral reclama o passo da ontologia à alteridade, do ,ser' (,cultura crista') ao ,outro' (,inculturaçâo')" (Paulo Suess. Evangelizar a partir dos projetos históricos dos outros: ensaios de missiologia. Sào Paulo: Paulus, 1995, 124). Jesus habe das Evangelium ausgehend von der sozio-kulturellen und historischen Realität des Volkes Gottes und nicht von ontologischen Reich-Gottes-Konzepten her verkündet. Dementsprechend hätten sich in Santo D o mingo die aristotelisch-thomistischen Realisten der Inkulturation gegen die neuplatonischaugustinischen Universalisten des Konzepts der christlichen Kultur durchgesetzt. In seiner Kritik an den lateinamerikanischen Bischöfen muß Suess dann allerdings doch zugeben, d a ß sie das Evangelium mit der christlichen Kultur gleichsetzen, und d a ß der Dialog zwischen christlicher Kultur und den anderen Kulturen keineswegs unter Gleichen stattfindet. Die normative und hegemonische christliche Kultur zwinge den Subjekten aus anderen Kulturen koloniale Bedingungen der Evangelisation auf, besonders indem sie ihnen Symbole, Riten, Sitten und Gebräuche als universale Zeichen der christlichen Kultur aufpräge. Diese würde den Synkretismus fördern und stets dazu führen, d a ß partikulare kulturelle und religiöse Praktiken insgeheim weiter betrieben würden. Die Idee der christlichen Kultur, so Suess, sei unvereinbar mit der kulturellen Pluralität, und die Integration der Kulturen in einer christlichen Kultur komme dem Bruch zwischen Evangelium und Kultur gleich (ebd., 131 f.). Das Modell der inkulturierten Evangelisation, die in der Nachfolge Jesu Christi den Weg der Umkehr, der Erniedrigung und der „kenosis" geht, habe sich schließlich bei der Festlegung der pastoralen Prioritäten im Dokument von Santo Domingo durchgesetzt (ebd., 142 f.). 64 Ebd., 167. 65 Ebd., 177. 66 Ebd.

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Mensch geworden ist und kam, um Wege der Befreiung des Lebens und der Hoffnung zu zeigen, damit das „entstellte Gesicht der Erde wiederhergestellt" wird. 67 Das Evangelium ist, ähnlich wie die Kulturen, verbunden mit einem Projekt des Lebens im vollen Sinne, das auf die Konstruktion einer gerechten und solidarischen Gesellschaft hinweist. 68 Das Projekt des Evangeliums als zur transzendentalen Ordnung gehörend identifiziert sich jedoch nicht mit einer bestimmten Kultur, sondern spricht zu den Völkern in ihrer konkreten soziokulturellen Situation. Die Kulturen bedürfen des Evangeliums nicht, um ihre Aufgabe der Lebenssicherung zu erfüllen. Aber das Evangelium kann das göttliche Projekt des perfekten Lebens nur innerhalb der Sprache zum Ausdruck bringen. Es muß sich der Kultur annähern, in ihre Sprache eingehen. Es kann keine von allem unabhängige, pure evangelische Kultur konstruieren, ist aber auch niemals mit den Projekten der Kulturen identisch. Suess vergleicht das Evangelium mit der elektrischen Energie, welche die Lampen der Kulturen erleuchtet. Der Vergleich hinkt etwas, denn welchen Sinn haben die Lampen ohne Energie? Es macht Sinn, wenn er sagt, das Evangelium und die Kulturen seien wie zwei Liebende, die miteinander kommunizieren, Energien austauschen, ein gemeinsames Ziel haben, aber deren Körper niemals identisch werden. Ihr Ziel ist das soziale Leben einer Gruppe von Menschen. 69 Suess trägt mit diesen Formulierungen der Tatsache Rechnung, daß das Evangelium unter den Bedingungen der pluralen modernen oder post-modernen Gesellschaften eine freiwillige Option ist70, die ihre soziale und kulturelle Relevanz unter Beweis stellen muß. Das Evangelium ist relevant, weil die Kulturen durchzogen sind von „Strukturen des Todes". Die gegen das Leben gerichteten Praktiken des Todes und Antiwerte zeigen sich nach Suess in Gewalt, Krieg, Guerillas, Terrorismus, Drogenhandel, Euthanasie, Abtreibung, der Ausbeutung menschlicher Arbeit, der soziokulturellen Marginalisierung einer wachsenden Zahl von Menschen, politischer Beherrschung, Rassismus, Genozid, Ethnozid etc. Gegen die „Strukturen der Sünde" ruft das Evangelium zur Befreiung auf. Die Inkulturation des Evangeliums zielt darauf ab, die historisch-kulturellen Lebensprojekte jedes Volkes oder jeder sozialen Gruppe zur vollständigen Verwirklichung zu bringen. Dabei folgt die Kirche dem Weg Jesu Christi in die Erniedrigung und seiner Präferenz für die Armen. 71 Sie identifiziert das Projekt des Evangeliums jedoch nicht einfach mit dem Projekt der Armen. Das ist eine Weiter-

67 68 69 70 71

116

Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd.,

151. 151; 159. 149. 216 f.

entwicklung des Ansatzes der Befreiungstheologie. Die Armen werden nicht nur als Arme, sondern in erster Linie als kulturell Andere gesehen. Kulturelle Andersheit und Armut sind miteinander verbunden. „Das soziale Elend wächst in kulturellen Ruinen." 72 Suess zeigt den Zusammenhang zwischen Armut und Kulturzerstörung. Darüber hinaus legt er Wert darauf, die Armen als Subjekte, als Träger einer Kultur zu sehen. Er will, daß Indianervölker, Afro-Amerikaner, die von der modernen Gesellschaft Ausgeschlossenen in ihrer kulturellen Eigenart gesehen werden und daß ihre kulturellen Projekte den Ausgangspunkt und das Ziel der Evangelisation bestimmen. Das bedeutet, daß die religiöse Überlieferung eines Indianervolkes im Zug der Evangelisation nicht durch die geschichtliche Uberlieferung Israels als Ausgangspunkt der Heilsgeschichte ersetzt werden muß, sondern als Vorbereitung des Evangeliums angenommen wird. Das Evangelium impliziert keinen Bruch in der Überlieferung eines Volkes. 73 Seine Annäherung an eine kulturelle Gruppe ist immer ein „sozialpolitischer Akt". Die Inkulturation des Evangeliums führt zu Beziehungen und Praktiken, die kulturell diversifiziert, im politischen Sinne partizipativ und sozial symmetrisch sind.74 Das bedeutet, daß die „Anderen" auch als Subjekte der Evangelisation gesehen werden müssen, die ihrerseits die Verantwortung für den Glauben und die Verkündigung übernehmen. Damit werden der Fundamentalismus oder die Akkulturation als Wege der Verbindung von Evangelium und Kultur ausgeschlossen. Das bedeutet nicht, daß die Modernität als eine beinahe weltumspannende Realität abgelehnt wird oder zerstört werden soll. Es geht vielmehr darum, die Modernität von denen zu befreien, die sie zerstören. 75 Inkulturation als Befreiung bedeutet in sozialpolitischer Hinsicht in der „Zweidrittelwelt", sich das kulturelle Projekt der Armen als der Anderen zu eigen zu machen, sie bei der Wahrnehmung ihrer Bürgerrechte zu unterstützen, ihre Teilnahme am demokratischen Entscheidungsprozeß zu fördern, für ihre verfassungsmäßigen Rechte und für die politische Ethik in einer solidarischen Gesellschaft zu kämpfen, zu helfen, ihre wirtschaftlichen Grundlagen zu sichern, ihre Autonomie, Identität und Solidarität zu stärken, Leidenschaft für die Gerechtigkeit und vernünftige Hoffnung zu wecken. 76 Die von Suess in die Debatte über Evangelium und Kultur eingeführten Gedanken der „Alterität" und sein Verständnis der Kultur als historisches Projekt einer Gruppe sind von weitreichender Bedeutung, weil sie den unbedingten Respekt vor den kulturell Anderen als handelnden Subjekten einfordern, ihre soziale Position, ihre Interessen, ihre Überlieferungen

72 73 74 75 76

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

163. 209 f. 216 f. 234. 235.

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akzeptieren, verteidigen und in den Mittelpunkt der Mitteilung des Evangeliums stellen. Die praktischen sozio-politischen Konsequenzen der Inkulturation des Evangeliums skizzieren den ethischen Horizont, in dem sich eine theologisch verantwortete Beratungspraxis mit kulturell Anderen bewegen muß. Dennoch kommen Zweifel auf, ob diese Position die negativen Aspekte der kulturellen Projekte der verschiedenen Gruppen ausreichend in den Blick bekommt und ob es die Dynamik der zunehmenden Hybridisierung der Kulturen im globalen Kontext zur Genüge einbeziehen kann. Paulo Suess geht aus von der Kultur der Indianervölker Lateinamerikas. Er ist an ihrem Schutz und an ihrer autonomen Entwicklung im Verhältnis zu den modernen Industriegesellschaften interessiert. Es ist jedoch zweifelhaft, ob man diese Sicht ohne weiteres auf die Kultur der Favelados, der Landlosen und Obdachlosen in Lateinamerika übertragen kann. Comblin charakterisiert die Kultur der Armen Lateinamerikas radikal als „Kultur der Sklaverei". Er bezieht sich auf die Feststellung von Fernando Cardenal, daß das Experiment der Agrarreform in Nicaragua fehlgeschlagen sei, weil trotz der guten materiellen Vorbedingungen ein kulturelles Element fehlte, eine Basiserziehung zu Selbständigkeit, Ehrgeiz und auch der Wunsch, die materiellen und spirituellen Lebensbedingungen zu verbessern. „Die Kultur der Armen macht sie passiv, ängstlich, schüchtern, furchtsam: ihre Kultur bewirkt, daß sie gegenüber jeder Neuigkeit mißtrauisch sind, sich selbst sogar noch mehr mißtrauen und an Anführer glauben, die reden und befehlen können. Ihre Kultur ist für die Unterwerfung, die Akzeptierung des Autoritarismus, für den Klientelismus g e m a c h t . " "

Comblin fordert deswegen eine Befreiung der Armen von ihrer Kultur und von der traditionellen Religion, welche die Unterwerfung unter die vorgegebene Ordnung heilig spricht. Er versteht Inkulturation als die gemeinsame solidarische Konstruktion einer neuen Kultur der von der Gesellschaft Ausgeschlossenen, die der Idee der „christlichen Kultur" eine radikale Absage erteilt, jede Anknüpfung an kulturelle Uberlieferungen ablehnt und allein vom evangelischen Grundsatz der Solidarität mit den Armen ausgeht.78 Comblins These nimmt die kulturelle Verschiedenheit und den Wert der kulturellen Überlieferung nicht ausreichend ernst und läuft Gefahr, den Armen ein weiteres Mal eine dem Evangelium entsprechende Kultur überzustülpen, weil diejenigen, die für ihre Befrei77 „A cultura dos pobres torna-os passivos, tímidos, medrosos: a sua cultura faz com que desconfiem de qualquer novidade, desconfiem mais ainda de si próprios e confiem em líderes que sabem falar, que sabem mandar. A sua cultura é feita para a submissâo, a aceitaçâo do autoritarismo, para o clientelismo" (José Comblin. Aporias da inculturaçào (I), 666). 78 José Comblin. Aporias da inculturaçào (II). In: Revista Eclesiástica Brasileira 56, 1996, 929.

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ung kämpfen, die trotz des Elends und der Korruption überlebenswichtige kulturelle Tradition dieser Menschen nicht mehr erkennen können. Ihr Schutz und ihre Pflege sind ebenso nötig wie der Bruch mit der Idee der christlichen Kultur. Comblin weist jedoch zurecht darauf hin, daß die Annahme der Vervollkommnung der Kulturen durch die Gnade dazu verführt, ihre Schwächen zu übersehen. Das Evangelium nähert sich den Kulturen stets auch als prophetisch-kritisches Element. Befreiung impliziert Kritik. Die Frage ist, wer diese Kritik artikuliert, wie sie eingebunden ist in eine Haltung der Solidarität und in einen Dialog, in dem der Andere als Subjekt präsent ist. Die Frage ist, ob Suess diesen Dialog wirklich offen führen kann, so daß dabei auch das Evangelium auf dem Spiel stehen kann. Auch wenn er sich absetzt von der Ubersetzung des Evangeliums in eine augustinische Ontologie des Reiches Gottes und es als historisch zu artikulierendes Projekt versteht, solange er festhält am katholischen Konzept der „Inkulturation" geht er aus vom Evangelium als einer universalen Substanz, die durch das Handeln der Vertreter der Kirche in historische Formen gegossen wird. Das Evangelium ist für Suess eine vorgegebene, universale Wahrheit, die historisch Gestalt gewinnt und von der katholischen Kirche repräsentiert wird. Es scheint, als könne es ihm auf dem Fundament der jetzigen katholischen Lehre noch nicht gelingen, einen wirklich fairen Dialog zwischen der Uberlieferung des Evangeliums und den Traditionen oder Werten der Kulturen herzustellen.

5.5.3. Evangelium und Kultur in der neueren ökumenischen Diskussion Die ökumenische Weltkonferenz über Mission und Evangelisation hat 1996 in Salvador, Bahia in Diskussionen über das Thema „Zu einer Hoffnung berufen - das Evangelium in verschiedenen Kulturen" weiterführende Einsichten zum Verhältnis von Evangelium und Kultur formuliert. Das Vorbereitungsmaterial und die Botschaft der Konferenz gehen aus von einer „dynamischen Interaktion zwischen Evangelium und Kultur". Sie analysieren historische Aspekte dieser Interaktion ebenso wie aktuelle Konflikte im Zusammenhang der Globalisierung und des kulturellen Pluralismus. Sie verstehen Kultur in dem auch in unserer Untersuchung vertretenen Sinne als „matrix of human living, the set of symbols and relationships by which people make sense of their experience and in terms of which they orient their actions" 79 , und sie gehen aus von zwei unterschiedlich akzentuierten Begriffen des „Evangeliums". Es wird verstanden als „the announcement of God's action for the salvation of 79 World Council of Churches. Conference on World Mission and Evangelism, Salvador, Bahia, 1996, Preparatory papers for Section Work, 1.

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the world manifested in the birth, life, death and resurrection of Jesus", das heißt die von den Aposteln überlieferte, im Neuen Testament bezeugte, in der Gemeinde gelebte und in der Liturgie gefeierte Geschichte Jesu Christi. Eine andere, stärker kontextualisierte Sicht betont „the experience of the story of Jesus as ,good news' by those who hear and receive it in their local setting". 80 Was dabei im einzelnen als gute Nachricht gehört wird, hängt von der kulturellen Situation ab. Beide Konzeptionen führen zu unterschiedlichen Akzentsetzungen in den Konferenztexten. Die orthodoxen Kirchen vertreten die erstgenannte Sicht und tendieren zu dem augustinischen Modell des Evangeliums als Element christlicher Kulturgestaltung, das alles gut heißt, was mit ihm übereinstimmt und die sündigen Aspekte zurückweist 81 , in gewisser Hinsicht aber den Vorrang des Evangeliums und damit der Kirche zu verstehen gibt. Vom zweiten Ansatz her wird eher ein Modell der „interkulturellen Hermeneutik" und „interkulturellen Kommunikation" angestrebt, das die Interaktion des Evangeliums mit der Kultur als offenen Prozeß betrachtet, in dem beide sich gegenseitig herausfordern, infragestellen und erleuchten. Damit wird betont, daß Evangelium und Kultur nicht voneinander getrennt werden können wie die Spreu vom Weizen. Das Evangelium wird erfaßt von der Diversität der Kulturen. Es kritisiert und transformiert die Kultur, die ihrerseits sein kritisches Gegenüber ist, das Widersprüche und Verfehlungen der Evangeliumsverkündigung mit Recht artikuliert. Die theologische Grundlage der Konferenztexte findet sich im trinitarischen Verständnis des Handelns Gottes, das die zentrale Bedeutung der Schöpfungslehre wiederentdeckt und bekennt, daß Gottes schöpferische, erlösende und heiligende Macht alles, was menschlich ist, also auch die Kulturen umfasst. 82 Der heilige Geist ist gegenwärtig in der gesamten Schöpfung (Rom. 8.19-27). Er öffnet die Kulturen und die Schöpfung auf die Fülle des Lebens im kommenden Reich Gottes in Christus und gibt damit der Welt Hoffnung und Richtungsweisung im Blick auf die verheißene Zukunft. 83 Der an Pfingsten ausgegossene Geist geht ein in alle Kulturen und macht sie zu einem „Vehikel der Offenbarung". Keine einzelne Kultur kann sie vollständig zum Ausdruck bringen, und keine ist so entfremdet, daß sie nichts zum Verständnis der Offenbarung beizutragen hätte. Die kulturelle Diversität im Ausdruck des Evangeliums spiegelt die Vielfalt der menschlichen Antworten auf die Offenbarung. Sie ist offen für die kulturelle Pluralität. Die gesamte Kultur, auch die nichtchristlichen Re-

so 81 82 83

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Ebd., Ebd. Ebd., Ebd.,

3. 11. 6. 7.

ligionen werden damit als Bereich des Wirkens des Geistes ernst genommen. „Christians who understand that the Spirit is at work outside the community of Christian faith will be prepared to hear God's voice and trace Christ's footsteps within those cultures. Since God is present everywhere in the world of cultures and religions, and since Christians themselves are in the process of being led into the fullness of truth, their attitude should be one of learning, listening and respect".84

Von diesem Ansatz ausgehend, nimmt die Konferenz die Geschichte der Entfremdung der Kulturen durch die Verkündigung des Evangeliums vor allem in Ländern der 3. Welt und der „Gefangenschaft" des Evangeliums in den Blick, dessen Bedeutung in den westlichen Ländern vom Säkularismus der modernen und Relativismus der post-modernen Weltanschauung in Zweifel gezogen wird. 85 Das Abschlußdokument von Salvador läßt dementsprechend breiten Raum für die Beschreibung von Nöten und Hoffnungen der Kulturgruppen in verschiedenen Weltreligionen. Sie verfolgt das Ziel, wahrzunehmen, wie das Evangelium in den gegenwärtigen sozialen, politischen und geistigen Konflikten und Zukunftserwartungen der Völker, die teilweise durch die Missionsgeschichte mitbedingt sind, als verändernde Kraft wirksam ist. Im Blick auf das lastende Erbe der Sklaverei bemerkt das Dokument: „Wir haben die Wut der afrikanischen Bevölkerung, des afro-karibischen Volkes, des afro-lateinamerikanischen Volkes und des afro-nordamerikanischen Volkes wegen des Greuels der Sklaverei empfunden; und wir haben wahrgenommen, wie der Glaube, obwohl er ihnen in verzerrter Form vorgestellt wurde, schließlich zur Hoffnung auf Befreiung geworden ist. Wir bewundern den festen Willen dieser Leute, sich nicht in unnützen Klagen über die Vergangenheit aufzureiben, sondern zu handeln, um Formen der Zusammenarbeit und Partizipation zwischen den Völkern Afrikas und der afrikanischen Diaspora zu schaffen".86

Auch in den Texten aus Salvador spielt das Konzept der Inkulturation eine wichtige Rolle. Die Konzepte, Bilder, Sitten, Riten und Gewohnheiten einer Kultur nähren das Evangelium. Durch sie geschieht symbolische Kommunikation. Das von der Kultur zur Verfügung gestellte Symbolsystem organisiert die Erfahrung und die Sinndeutungen des Lebens 84 Ebd., 10. 85 Ebd., 11 f. 86 „Sentimos a raiva do povo africano, do povo afro-caribenho, do povo afro-latinoamericano e do povo afro-norte-americano pelo horror da escravidào; e percebemos corno a fé, apesar de lhes ter sido apresentada em forma distorcida, tornou-se finalmente esperança de libertaçâo. Admiramos a firme vontade dessa gente em nao se desgastar em väs lamentaçôes sobre o passado, mas sim agir para criar formas de cooperaçâo e parceria entre os povos da Africa e a diàspora africana" (Conferencia Mundial sobre Missâo e Evangelizaçào. Salvador, Bahia, 1996. Mensagem da Conferencia e Atos de Compromisso, 4).

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der Christen. Die kulturellen Symbole „bilden die menschliche Stimme, die dem Ruf Jesu Christi antwortet". 87 Sie treffen auf die Symbole des Glaubens, die in das kulturelle Symbolsystem aufgenommen werden, es ergänzen und durch es modifiziert werden können. 88 Inkulturation jedoch ist mehr als nur eine Ubersetzung von Elementen der christlichen Uberlieferung in die Ausdrucksformen einer Kultur. Inkulturation bedeutet, daß der Kultur ein „neues Lebensprinzip" gegeben wird, welches das Leben der Menschen, die Haltungen, Wertesysteme und Handlungen von innen heraus verändert wie der Sauerteig den Teig durchsäuert. 89 Der Akzent liegt hier auf der Befreiung der Kultur und nicht auf der Affirmation kirchlichen Einflusses. Der dreieinige Gott kommuniziert durch das Evangelium so mit den Menschen, daß sie durch die Kraft des Heiligen Geistes von innen heraus transformiert werden. 90 Zwei Bereiche, die für unsere Untersuchung von besonderer Bedeutung sind, wurden in Salvador behandelt: die Frage der unterdrückten Identitäten (crushed Identities) von ethnischen Minderheiten, Migranten, Flüchtlingen und Völkern, deren Kultur durch die Globalisierung der westlichen Monokultur bedroht wird, und die interkulturelle Kommunikation des Evangeliums. Die Konferenztexte entwickeln eine interaktionistische und öko-systemische Sicht der menschlichen Identität. „Identity is an essential aspect of both personal and corporate human existence. In individuals life and grow, their identity is established by relating and interacting with other people and the environment. Consequently it can be misleading to speak of an individual or group as , having' an identity. Rather, a person or group is identified according to relationships with others or through certain images. Cultures and cultural attitudes play a central role in this process of identification."91 Die persönliche und kulturelle Identität wird als eine Gabe Gottes angesehen. Durch ihren Gottesbezug wird sie als „offene Identität" erkennbar, die auf den Dialog angelegt ist und die Anteilnahme an den Identitäten der anderen in einer „inklusiven Gemeinschaft." 92 Von diesem Standpunkt aus werden die Prozesse der Identitätszerstörung in den Blick genommen. Es wird festgestellt, daß heute praktisch alle Gesellschaften multikulturell, multireligiös, ethnisch diversifiziert und mehrsprachig sind. 93 In ihnen kann die Kultur positive Kräfte zersetzen und

87 „Culture shapes the human voice that answers the voice of Christ" (World Council of Churches. Conference on World Mission and Evangelism. Salvador, Bahia, 1996, Preparatory papers for Section Work, 15). 88 Ebd., 44. 89 Ebd., 17. 90 Ebd., 43. 91 Ebd., 25. 92 Ebd., 24. 93 Ebd., 23.

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sie kann befreiend wirken. Die Zerstörung der kulturellen Identität von Minderheiten wird vor allem mit den Kräften des globalen Marktes, der oft religiös begründeten aggressiven „Identitätspolitik" ethnischer Minderheiten oder mit Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit in Verbindung gebracht. Dabei wird der Prozeß der Globalisierung besonders kritisch bewertet. Man erkennt zwar, daß dieser Prozeß wohl nicht umkehrbar ist und daß er den Menschen die technische Möglichkeit bietet, schneller zu kommunizieren und der internationalen Öffentlichkeit lokale Angelegenheiten sofort zur Kenntnis zu bringen. Dennoch erscheint er in erster Linie als Bedrohung der lokalen Kulturen.94 „Globalization has become a vehicle of cultural invasion by the systems and ideologies within which it has been nurtured. The tendency is to create a m o n o culture' for the whole world . . . The process of globalization does have quasireligious overtones. While that process is indeed supported by some conservative religious groups, other evangelical Christian movements have been in the forefront of fighting the logic of the market". 95

Die Erfahrungen und Besorgnisse der Kirchen der 3. Welt reflektieren sich in dieser Position und sind auch wegweisend für den Vorschlag zum Umgang mit den Gruppen, z. B. den Frauen, Jugendlichen, Farbigen und indigenen Völkern, deren Identität an der Entfaltung gehindert wird. Es wird gezeigt, daß der Kontakt mit ihnen und der Schutz ihrer kulturellen Identität deshalb bedeutsam sind, weil sie oft beispielhaft gemeinschaftserhaltende Einsichten und Werte bewahrt haben wie Offenheit, Gastfreundschaft gegenüber Fremden, Solidarität untereinander, die Achtung der Schöpfung. Sie haben bewahrt, was die dominanten Kulturgruppen oft verloren haben. Ihr Beispiel soll in den Mittelpunkt der menschlichen Suche nach Gemeinschaft gerückt werden. Die aus Lateinamerika, aus den schwarzen Kirchen und der feministischen Bewegung kommende Befreiungstheologie ist die Wurzel dieser Argumentation. Es geht um „empowerment", um die Stärkung des Vertrauens in die eigene Kultur und die eigenen Handlungsmöglichkeiten durch die Bestätigung ihrer Werte und Überlieferungen und durch ihre Integration in die Gemeinschaft. Der heilige Geist selbst ist die Wurzel des empowerment. Die Spiritualität stärkt (empowers) die marginalisierten Gruppen, ihre Identität offen und dialogisch zu suchen. Durch die „Kommunion mit dem auferstandenen Christus" gibt der heilige Geist den Kirchen die Kraft, die Zentrierung auf sich selbst zu überwinden und zu erkennen, daß sie „den Anderen" brauchen, um eine vollständige Identität zu erlangen.96 Vom Evangelium her wird hier die Vision einer identitätsstiftenden und -bewahrenden Kirche entwickelt,. Sie ist „a community of communities 94 Ebd., 40. 95 Ebd., 38. 96 Ebd., 67.

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that accepts a plurality of identities in a non-threatening, mutually affirming way. In such a community life assumes its fullness in giving to the other in the love manifested by Jesus Christ". 97 Wie kann das eine Evangelium über die Grenzen der Kulturen hinweg mitgeteilt werden? Kontextualität, Katholizität, Dialog, interkulturelle Hermeneutik und interkulturelle Kommunikation sind Schlüsselbegriffe, mit denen die Konferenz diese Frage angeht. Sie bezieht sich immer wieder auf ein narratives Konzept des Evangeliums. Die Geschichte Jesu Christi trifft auf die vielen Geschichten von Menschen in ihren Kulturen und beide durchdringen sich gegenseitig. Die Kontextualisierung ist ein offener und unabgeschlossener Prozeß. Die Fusion des Evangeliums mit bestimmten Kulturelementen kann allerdings zum Synkretismus führen. Es ist bemerkenswert, daß die Konferenz kein ausschließlich negatives Bild des Synkretismus zeichnet. Sie erinnert daran, daß synkretistische Elemente von Christen als Bereicherung empfunden werden können, etwa die Rolle der Beziehungen zu den Ahnen in afrikanischer und asiatischer Theologie. Obwohl es unleugbar ist, daß Synkretismus die „Integrität des Evangeliums" beeinträchtigen kann, besteht ebenso die Gefahr, daß mit dem vorschnellen Synkretismusvorwurf der „komplexe" Inkulturationsprozeß blockiert werden kann. 98 Die Kontextualität und Katholizität des Evangeliums gehören zusammen. Das in der lokalen Kirche zum Ausdruck gebrachte Evangelium ist stets bezogen auf die universale Wirklichkeit Jesu Christi, die als Einheit den verschiedenen Ausdrucksformen zugrundeliegt. Die lokale Wirklichkeit partizipiert an der globalen Wirklichkeit und die globale an der lokalen, ohne sie zu zerstören. Die Katholizität des Evangeliums ist eine Gabe des heiligen Geistes, in der die kommende Fülle Gottes antizipiert wird. Sie ist die in der Uberlieferung der Apostel begründete und als eschatologische Möglichkeit aus der Zukunft auf die Kirchen zukommende Einheit des Reiches Gottes, die alle Partikularitäten relativiert und die Kirchen befähigt, ihre räumlichen oder zeitlichen Grenzen zu überschreiten und Gemeinschaft mit den Kirchen so zu pflegen, daß die kulturelle Verschiedenheit zur „wechselseitigen Bereicherung" und nicht zur Entfremdung beiträgt. 99 Kontextualität und Katholizität fordern den Dialog der kulturell Verschiedenen, in dem jeder bereit ist, vom anderen Kritik und Korrektur anzunehmen. 100 Dieser interkulturelle Dialog steht vor der Schwierigkeit, zum einen die Authentizität des biblischen Evangeliums zu bewahren und andererseits die komplexe Beziehung von Sprecher und H ö r e r im Kommunikationsprozeß zu berücksichtigen. Das Vorbereitungsmaterial der Konfe97 98 99 100

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

30. 71. 67. 68.

renz in Salvador greift hier auf Ergebnisse einer Konsultation des Weltkirchenrates über interkulturelle Hermeneutik (1996) zurück. In der Frage nach der Authentizität des Evangeliums geht es darum, Kriterien zur Unterscheidung der Geister zu finden, das heißt Kriterien, die helfen festzustellen, ob die Art und Weise, wie eine Kirche, eine Gruppe oder eine Person die christliche Botschaft verkündigt, ihrem Geist entspricht oder widerspricht. Drei Kriterien werden genannt: 1 ) der Bezug auf die Gesamtheit der Heiligen Schrift, 2) der Bezug der Interpretation zu einer liturgischen und gesellschaftlichen Praxis, die dem Reich Gottes entspricht, 3) die Suche nach der Wahrheit des Textes in der Gemeinschaft der Kirchen. 101 Die drei Kriterien (Schriftbezug, Praxis und Kirchengemeinschaft) sind nicht sehr genau definiert und im Einzelfall, wenn die Interpretation der Botschaft des Evangeliums vom Reich Gottes an der überlieferten Vorstellung des Reiches Gottes, wenn also das Evangelium an der evangeliumsgemäßen Praxis gemessen werden soll, in einem Zirkelschluß befangen. Dennoch sind sie in der Lage, in einem weiten Rahmen Grenzen abzustecken und damit die Beurteilung der Authentizität einer Interpretation des Evangeliums zu orientieren. Damit die Störungen der Kommunikation durch kulturelle Differenzen kontrolliert werden können, haben sich die Kirchen bemüht, einen Rahmen für das interkulturelle Reden und Hören abzustecken. Im interkulturellen Kommunikationsprozeß spielen Sprecher und H ö r e r eine aktive Rolle. Beide wollen die Botschaft in ihrer Vollständigkeit mitteilen und verstehen. Die Sprecher gehen unwillkürlich von ihrem kulturellen Kontext aus, müssen sich jedoch bei der Formulierung ihrer Botschaft mit der Frage auseinandersetzen, wie der andere das, was man sagen will, möglichst vollständig auffassen kann. Die Hörer beziehen das, was ihnen gesagt wird, notwendigerweise auf ihre eigene Erfahrung, also auf das, was sie schon wissen. Diese Verbindung kann den Sinn der Botschaft in einer Weise verändern, die vom Sprecher nicht beabsichtigt und gewünscht wird. Soll die Kommunikation an dieser Stelle nicht abbrechen, weil beide Partner angesichts des Unverständnisses mit Hilflosigkeit oder Zorn reagieren, so ist es unerläßlich, daß beide sich auf einen kontinuierlichen Dialog verpflichten, in dem sie sich darum bemühen, die Unterschiede zu erkennen und die Kommunikation zu vertiefen. 102 Wenn dieser Dialog über das Evangelium für beide Seiten befriedigend ist, kommt es zum wechselseitigen Verstehen der kulturellen Welt der anderen, zur Entdeckung bisher nicht berücksichtigter Aspekte des Evangeliums, der beide, Sprecher und Hörer, bereichert und herausfordert. 103 Diese Sicht der interkulturellen Kommunikation klingt sehr positiv. Sie geht nicht direkt ein auf die Barrieren, die durch die lebensfeindlichen 101 Ebd., 70; 15. 102 Ebd., 73 f. 103 Ebd., 74.

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Aspekte einer Kultur bestehen können und vertieft die Frage, wie man im interkulturellen Dialog mit kulturell verwurzelten Konflikten umgeht, nicht weiter. Dennoch ist die Frage der Macht im interkulturellen Dialog in den Konferenztexten durchaus präsent. Es wird deutlich festgestellt, daß die ungleiche Machtverteilung in der Welt und die schmerzliche Erinnerung an erfahrene Ungerechtigkeit die Begegnung zwischen den Kirchen verhindern können. Innerhalb der Kirchen wurden Machtpositionen bisweilen genutzt, um verhüllte Interessen einer Seite zu legitimieren und unliebsame Interpretationen des Evangeliums zu unterdrücken. Im interkulturellen Dialog ist es darum notwendig, die Machtproblematik im Blick zu haben und das Terrain zu klären, die Erinnerung an vergangenes Unrecht aufzuarbeiten, damit es zu ungestörter Kommunikation kommen kann. Die früheren Unterdrücker müssen es lernen, zuzuhören und Buße zu tun, die Unterdrückten erneut darum kämpfen, trotz der Erinnerung an den Machtmißbrauch eine Vertrauens- und respektvolle Beziehung zu entwickeln. Im Prozeß interkultureller Kommunikation teilen sie gegenseitig ihre Geschichten mit und nehmen Teil an der Geschichte des Evangeliums. 104 Die Konferenz in Salvador hat eine hochdifferenzierte und in ihrer Aktualität bislang unübertroffene theologische Interpretation des Verhältnisses von Evangelium und Kultur formuliert, auf die unsere Untersuchung in vielerlei Hinsicht aufbauen kann. Gemeinsame Ansatzpunkte sind: - die narrative Sicht des Evangeliums; - das konstruktivistische und interaktionistische Kultur- und Identitätsverständnis; - die dynamische Interaktion zwischen Evangelium und Kultur, in der beide sich wechselseitig herausfordern und erleuchten; - die Zentralität des Aspekts der Befreiung; - die Bedeutung der Perspektive der vom sozialen Prozeß Marginalisierten und die Berücksichtigung der Machtproblematik in der Beziehung von Kirchen und Kulturen; - das Konzept des im Wirken des Geistes begründeten „empowerment·, - die aus dem trinitarischen Gottesverständnis hervorgehende Bedeutung des Wirkens des Heiligen Geistes in der Schöpfung und in den christlichen oder nichtchristlichen Kulturen, die zum interkulturellen und interreligiösen Dialog auffordert; - die Einbindung der Beziehung von Evangelium und Kultur in den Prozeß des interkulturellen Dialogs; - die Formulierung einer interkulturellen Hermeneutik und der Rahmenbedingungen für interkulturelle Kommunikation.

104 Ebd., 72 f.

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Dennoch ist die in den Texten aus Salvador gebotene Sicht keineswegs einheitlich, an manchen Stellen zu positiv, an anderen möglicherweise verkürzend. Auch wenn der Schwerpunkt auf der befreienden Transformation der Kultur durch den Geist liegt, ist in der Theologie der Inkulturation die Konzeption der „christlichen Kultur" und der entsprechenden sozialen Dominanz der Kirche nicht letztlich ausgeschlossen. Obwohl Kriterien für das authentische Zeugnis des Evangeliums genannt werden, und obwohl seine Interpretation in den dynamischen Prozeß des interkulturellen Dialogs eingebunden wird, lassen manche Formulierungen das Schema von transkulturellem Inhalt (Jesus Christus) und kultureller Form (die menschliche Antwort) erkennen. Die Inkulturation des Evangeliums im interkulturellen Dialog ist mehr: sie ist die vom Heiligen Geist bewegte und orientierte gemeinsame (Re)-Konstruktion der christlichen Botschaft im Gespräch zwischen Text, Hörer, Sprecher und ihren kulturellen Kontexten. Bisweilen zu positiv und etwas verharmlosend wird der Beitrag des Christentums zur Kulturzerstörung in der Kolonialepoche dargestellt. Die fast ausschließlich kritische Sicht des globalen Marktes läuft Gefahr, die kulturellen Nischen und sozio-politischen Überlebensmöglichkeiten für Minderheiten zu übersehen, die er ebenfalls bietet. Die Chancen der globalen Kommunikation für die Kirchen werden kaum wahrgenommen, und die neue Valorisierung der lokalen und regionalen Realität aufgrund der Tendenzen zur Globalisierung der Kulturen nicht wahrgenommen. Trotz dieser Kritikpunkte bietet die auf der Weltmissionskonferenz in Salvador vorgestellte ökumenische Sicht des Verhältnisses von Evangelium und Kultur eine theologische Grundlage, die wir uns über weite Strecken zu eigen machen und im folgenden an einigen Punkten zu vertiefen suchen.

5.6. Evangelium und Kultur im Zusammenhang eines narrativen Ansatzes von Theologie 5.6.1. Narrativität als „Leitmetapher" in Anthropologie und Theologie 5.6.1.1. Das Narrative als „Leitmetapher1' in den Humanwissenschaßen Auf der Suche nach einem angemessenen Verständnis von Kultur haben wir uns die Sicht der „interpretierenden Kulturanthropologie" zu eigen gemacht, die davon ausgeht, daß Menschen ihr Handeln in der Interaktion mit anderen sinnhaft konstruieren und auf diese Weise ihre jeweilige Kultur stets von neuem „erfinden". Hermeneutik, Konstruktivismus und Interaktionismus bilden den theoretischen Bezugsrahmen dieser Theorie, die uns helfen soll, die Kommunikation zwischen Evangelium und Kultur anthropologisch und theologisch zu verstehen. Unsere Perspektive wird dabei von der Metapher der „Erzählung", des „Narrativen" 127

bestimmt. Das „Narrative" ist, so die These in diesem Abschnitt, eine „Leitmetapher" (root metaphor), die zwischen dem anthropologischen Kulturverständnis der Humanwissenschaften und dem Verständnis des Evangeliums in der Theologie vermittelt. Die Kritik am Positivismus in den Humanwissenschaften hat in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse an den metaphorischen und narrativen Aspekten des wissenschaftlichen Diskurses geweckt. Es ist zu so etwas wie einer „narrativen Wende" in den Humanwissenschaften gekommen. 105 Anthropologen, Psychologen, Soziologen, aber auch Computerwissenschaftler befassen sich mit der Bedeutung von Metaphern, die die Imagination der Forscher orientieren und dadurch auf ihre Fragestellungen, ihre Argumentation und die zur Interpretation herangezogenen Begründungsstrukturen Einfluß nehmen. Sie scheinen das Diktum des Aristoteles zu bestätigen, daß die Metapher am meisten Erkenntnis produziert. 106 Physiker reden von Teilchen und Wellen, wenn sie ihre Formeln sprachlich darstellen, Psychoanalytiker vom mechanischen Kräftespiel zwischen Ich, Es und Uber-Ich, Sozialpsychologen vom Ich als Schauspieler, das Rollen übernimmt und sie auf den verschiedenen Bühnen des Alltagslebens inszeniert, Soziologen und Politologen entwickeln Theorien ausgehend von der Metapher des Gesellschaftsvertrages. Metaphern werden in den Wissenschaften zum Ausgangspunkt der Bildung von Interpretationsmodellen und entwickeln sich zu Leitmetaphern. Der Philosoph Stephen Pepper beschrieb in den 30-er Jahren die Bildung von Leitmetaphern als eine für das Verstehen der Welt unumgängliche Vorgehensweise. Man bezieht sich auf einige Tatsachen, über die Konsens besteht, und versucht von ihnen ausgehend die anderen Tatsachen zu interpretieren. Die ursprüngliche Idee wird zur Basisanalogie oder Leitmetapher. Sie stellt die Kategorien zur Verfügung, welche die Phänomene strukturiert und an der sich Wahrnehmung und Deutung orientieren. 107 Die Leitmetaphern bilden den Kern von Weltanschauungen, etwa des animistischen, mystischen, mechanistischen, organischen oder kontextuellen Weltbildes. Die nordamerikanische Theologin Sally McFague spricht in diesem Zusammenhang von dominanten Metaphern als Modellen wissenschaftlichen Denkens. Ideen sind in den Wissenschaften von Bildern abgeleitet, die verschiedene Elemente in Beziehung setzen, assoziieren und vergleichen. Diese Metaphern haben einen heuristischen Wert und sind keineswegs nur Illustrationen von Gedanken, die

105 Katherine Kohler Riessman. Narrative Analysis. Boston, London, New Delhi: Sage Publications, 1993, 1). 106 Aristoteles. Rhetoric, II, 141b, vgl. Sally McFague. Metaphorical theology: Models of god in religious language. Philadelphia: Fortress Press, 1982, 67. 107 Vgl. Theodore R. Sarbin. H i e narrative as root metaphor for psychology. In: Ders. (Hg.) Narrative Psychology: The storied nature of human conduct. New York: Praeger Publishers, 1986, 5.

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auch ohne sie zustande kämen. In der Bildung von Metaphern zeigt sich, so McFague, eine Grundfunktion des menschlichen Geistes, der in nahezu unendlicher Mobilität eine Fülle sprachlicher Assoziationen herstellt. Wir können in der Sprache des Konstruktivismus das assoziative Denken als vorsprachliche und sprachliche Tätigkeit unseres Nervensystems auffassen, in dem durch die Interaktion hervorgerufene sensorische Impulse durch die innere Differenzierung des Nervensystems, durch die Verbindung einer Fülle verschiedener Erinnerungen (Bilder, Gefühle, Empfindungen, Worte, Geschichten) verarbeitet werden. Diese komplexen Konstrukte fungieren als Interpretationsmodelle für die Wirklichkeit und ermöglichen Lernprozesse, in denen sich unsere Wirklichkeitssicht und unser Verhalten verändern. 108 Das Potential der Metapher zur Erschließung neuer Sichtweisen liegt in ihrer Struktur. Sie setzt, so Ricoeur, auf der Ebene des Satzes in ihrer Bedeutung miteinander unvereinbare Worte in Beziehung. Eine wörtliche Deutung des Sinnes ist unmöglich. Um den Sinn der Prädikation des Satzes zu retten, muß „gegen den Widerstand der Worte" 109 eine die wörtliche Bedeutung übersteigende Sinndeutung gefunden werden. Die „Synthesis des Heterogenen" in der Metapher führt also zu einem Prozeß der Neubeschreibung, zur „semantischen Innovation." 110 Die Struktur des gleichzeitigen „ist und ist nicht" der Metapher nötigt die Imagination, neue Verbindungen herzustellen, die Sinn machen." 1 Die Metapher eröffnet eine neue Perspektive auf die Wirklichkeit. Man kann das Metaphorische als eine Funktion der Sprache verstehen, in der sich deren Mittlerfunktion in Bezug auf die Wirklichkeit manifestiert: sie verbindet einen mit und distanziert einen zugleich von der Wirklichkeit, die nur indirekt, durch Sprache vermittelt, erscheint. In diesem Sinne erschließt die Metapher eine Wirklichkeit, die anders nicht zugänglich ist. Man kann sie konstruktivistisch als eine Funktion der sprachlichen Interaktion auffassen, in der neue Verbindungen zwischen heterogenen Elementen hergestellt werden, die neue sinnhafte Beschreibungen von Verhalten in einem konsensuellen Bereich ermöglichen, beziehungsweise Beschreibungen hervorruft, die extravagant sind, das heißt den konsensuellen Bereich verlassen und deshalb zu einer Erweiterung auffordern. Die Metapher schafft dann eine Wirklichkeit, die anders nicht erfahrbar wäre.

108 Ebd., 33. 109 Paul Ricoeur. Zeit und Erzählung. Band I: Zeit und historische Wilhelm Fink Verlag, 1988, 7. HO Ebd. 111 Vgl. Sally McFague. Metaphorical theology, 34. Sie definiert die tion or judgement of similarity and difference between two thoughts with one another, which redescribes reality in an open-ended way well as affective power" (ebd., 42).

Erzählung. München:

Metapher als „asserin permanent tension but has structural as

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In jedem Fall sind Metaphern narrativ. Als Sätze, die etwas prädizieren, erfüllen sie die linguistischen Minimalforderungen an eine Erzählung, in der es zumindest ein handelndes Subjekt und eine durch Prädikat und Objekt beschriebene Handlung geben muß.112 Ein metaphorischer Satz wie ,die Natur ist ein Tempel, worin lebendige Pfeiler . . ( B a u d e laire) kann als Handlungssatz genommen werden und erzählt dann eine offene Geschichte. Nach Ricoeur findet sich das innovatorische Potential der Metapher auch in anderen Gattungen der Erzählung. „Bei der Erzählung besteht die semantische Innovation in der Erfindung einer Fabel, die ebenfalls ein W e r k d e r Synthesis ist: durch die Fabel werden Ziele, Ursachen und Zufälle z u r zeitlichen Einheit einer vollständigen und umfassenden Handlung versammelt. Diese Synthesis des Heterogenen ist es, die die Erzählung in die N ä h e der M e t a p h e r bringt"." 3

Metapher und Erzählung sind Formen dichterischer Sprache, in denen der Sinn imaginativ konstruiert wird. Im Anschluß an Aristoteles beschreibt Ricoeur die Fabel der Erzählung als ,mimesis' einer Handlung in einem dreifachen Sinn: Mimesis I: zur Nachahmung einer Handlung in der Erzählung bedarf es eines Vorverständnisses vom menschlichen Handeln, genauer eines Begriffsnetzes, das die Handlung charakterisiert (Ziel, Motiv, handelndes Subjekt, Interaktion), eines Symbolsystems im Sinne von Geertz interpretierender Kulturanthropologie, das durch die kulturellen Bedeutungen, Regeln und Normen einen „Beschreibungskontext" festlegt und einer Zeitvorstellung; Mimesis II: die Konfiguration der Erzählung, die heterogene Elemente wie „Handelnde, Ziele, Mittel, Interaktionen, unerwartete Resultate usw."114miteinander verbindet und dadurch fiktional eine Geschichte entwirft, in der verschiedene Handlungen in einen zeitlichen Bezug zwischen einem Anfangspunkt und einem Schlußpunkt gebracht werden115; Mimesis III: die Rezeption, in der der Sinn der Fabel in die Erfahrungswelt, in der wir leiden und handeln integriert wird und es zu einer Refiguration, zu einer „Neugestaltung der Welt der Handlung im Zeichen der Fabel" 116 kommt. Dieser Rezeptionsprozeß wird uns im nächsten Abschnitt noch weiter beschäftigen. Die Erzählung kann als Leitmetapher für die Humanwissenschaften dienen, weil sie ein universaler Grundzug menschlichen Verhaltens ist, den wir von Kindheit an lernen.117 Ihre Funktion ist, so Jerome Bruner, 112 Nach Ricoeur „ist der narrative Minimalsatz ein Handlungssatz der Form: X macht A unter diesen oder jenen Umständen und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß Y unter denselben und anderen Umständen Β macht" (Paul Ricoeur. Zeit und Erzählung, 92). 113 Ebd., 7. 114 Ebd., 106. 115 Ebd., 106 f. 116 Ebd., 113 ff., 123. 117 „Telling stories about past events seems to be a universal human activity, one of the first forms of discourse we learn as children ( . . . ) and used throughout the life course by

130

„to find an intentional state that . . . makes comprehensible a deviation from a canonical cultural pattern." 118 Mit Bruner können wir zwischen zwei Arten des Denkens, mittels deren wir die Wirklichkeit konstruieren, unterscheiden, dem paradigmatischen, das heißt dem widerspruchsfreien, argumentativen logisch-wissenschaftlichen Denken und dem narrativen Denken, das auf gute Geschichten und glaubwürdige historische Erzählungen aus ist.119 Das narrative Denken befaßt sich mit den menschlichen Absichten und Handlungen 120 . Es ist ein organisatorisches Prinzip menschlichen Handelns. „In successfully identifying and understanding what someone else is doing we always move towards placing a particular episode in the context of a set of narrative histories, histories both of the individuals concerned and of the settings in which they act and suffer. It is now becoming clear that we render the actions of others intelligible in this way because action itself has a basically historical character. It is because we all live out narratives in our lives and because we understand our own lives in terms of the narratives that we live out that the form of narrative is appropriate for understanding the action of others".'21 Die Erzählungen von unserem eigenen Handeln oder von dem der anderen sind sowohl in ihrer Form als auch in ihrem Inhalt von der Kultur determiniert. Sie bewegen sich in einem durch die Sprache und die anerkannten Erzählformen begrenzten konsensuellen Bereich. Ein Kind muß den Sinn für das „Kanonische" und als gewohnt Geltende (Bestimmungen des konsensuellen Bereichs) als Hintergrund in Hinblick auf den Erzählungen entworfen und interpretiert werden oder Abweichungen vom Normalen festgestellt werden, mit dem Spracherwerb lernen.122 Bruner vertritt die These, daß Kinder eine angeborene Tendenz haben, ihre Erfahrung narrativ zu organisieren, daß sie zur Bildung von Erzählungen und zu ihrer Meisterung als Instrument der sozialen Interaktion jedoch vier grammatikalische Konstitutionsbedingungen der Erzählung begreifen müssen. In ihnen geht es um zielgerichtetes Handeln, das von den Handelnden kontrolliert wird, eine Ordnung der Handlungssequenz, Sensitivität für das „Kanonische" und das Außerordentliche und die Perspektive des Erzählers, der die Geschichte im Hinblick auf seine

people of all social backgrounds in a wide array of settings" (Katherine Kohler Riessman. Narrative Analysis, 5). 118 Vgl. Jerome Bruner. Acts of meaning. Cambridge, Mass., London: Harvard University Press, 1990, 49 f. 119 Vgl. Jerome Bruner. Actual minds, possible worlds. Cambridge, Mass., London: Harvard University Press, 1986, 13ff. 120 Vgl. Jerome Bruner. Acts of meaning, 52. 121 Alasdair Mclntyre. After virtue. Notre Dame. University of Notre Dame Press, 1981, 201 (zit. nach Theodore R. Sarbin. The narrative as root metaphor for psychology. In: ders. (Hg.) Narrative Psychology, 15). 122 Vgl. Jerome Bruner. Acts of meaning, 67.

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eigene Situation entwirft. 123 Der konsensuelle Bereich der westlichen Kultur beispielsweise gibt vor, daß Erzählungen Anfang und Ende haben, zielgerichtet sind, also die erzählten Handlungen und Ereignisse in dramatischen Handlungssequenzen (plot, sjuzet) in einem zeitlichen Zusammenhang darstellen müssen. Die in der Literaturwissenschaft gängige Unterscheidung von story und plot wird hier auf die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte bezogen. Story bezeichnet „a narrative of events arranged in their time sequence" 124 und plot den Sinnzusammenhang dieser Ereignisse. Wir lernen es, unsere Erfahrungen und unsere Autobiographie auf dieser Basis erzählend zu konstruieren. Auch die Inhalte der biographischen Geschichten sind meist vorgegeben und keineswegs unbegrenzt. Kenneth Gergen hat beobachtet, daß die biographischen Erzählungen in der westlichen Kultur um ein Ereignis herum gebaut sind und eine positiv oder negativ bewertete Bewegungsrichtung aufweisen. Es sind entweder Erfolgs- oder Mißerfolgsgeschichten oder Variationen derselben. Die „Happily-Ever-After" Geschichte erzählt wie ein glücklicher Zustand eintrat (z. B. wie ich meinen Mann gefunden habe), die tragische Geschichte erzählt vom plötzlichen Fall einer hochangesehenen Person, die Geschichte des epischen Helden erzählt in Wellenbewegungen von den wechselnden Erfolgen und Mißerfolgen im Streben nach einem Ziel. Semantik und Syntax der Sprache geben schließlich vor, was in der sozialen Interaktion als Bedeutung möglich ist und als solche der biographischen Erinnerung zugänglich ist.125 Unsere narrativ organisierte Erfahrung ist ein kollektives Kulturprodukt, das von den Humanwissenschaften, sofern sie sich von der Metapher des Narrativen leiten lassen, angemessen untersucht werden kann. 5.6.1.2. Das Narrative als theologische

Leitmetapher

In der Theologie gilt die Erzählung als eine Grundform der Uberlieferung des Evangeliums. 126 Sie steht neben anderen literarischen Formen wie Lob, Bekenntnisformel, Spruch und Gebet. Durch ihre metaphorische Struktur ist sie jedoch besonders geeignet, die Spannung der von Jesus verkündigten neuen Gottesbeziehung (schon und noch nicht, ist und ist nicht) darzustellen, die die Hörer in ein imaginiertes analoges Verhältnis zu diesem Gott bringt. Im Überlieferungsprozeß des Evangeliums bilden die Gleichnisse (Parabeln) das „Urgestein" der Verkündigung Jesu.127 Sie sprechen auf indirekte Weise vom Reich Gottes, indem

123 Ebd., 77. 124 E. Lämmert zit. nach Henning Schröer. Art. Erzählung. In: T R E Bd. 228, 2 f. 125 Vgl. Kenneth Gergen. The saturated self: Dilemmas of identity in contemporary Basic Books, 1991, 161 f. 126 Vgl. Henning Schröer. Art. Erzählung, 227, 13. 127 Ebd., 229, 10.

132

life.

sie den Hörer imaginativ in die Spannung zwischen dem erwartbaren, konventionellen und unerwartbaren, dem unkonventionellem und extravaganten Verhalten bringen. Der plot, der Sinnzusammenhang der Parabel vom großen Gastmahl (Lk. 14, 16-24) etwa, bei dem das Ausbleiben der geladenen Gäste zum Anlaß wird die Marginalisierten von den Hekken und Zäunen einzuladen, durchbricht extravagant das Konventionelle und bringt dadurch gleichnishaft das neue, dem Reich Gottes angemessene Verhalten zur Sprache. Die Hörer des Gleichnisses werden in einen fiktionalen Prozeß der Imagination der erzählten Handlung einbezogen, in dem sie sich zu dem gleichnishaft dargestellten Gottesreich verhalten. Das Gleichnis führt den Hörer in einen Prozeß der Orientierung an konventionellen Standards, der Desorientierung durch das Durchbrechen oder Uberschreiten der Standards, der durch eine Neurorientierung korrigiert werden muß und dadurch zu einer Neubeschreibung des Lebens in der Welt führt, die dem im Gleichnis verkündigten Reich Gottes analog ist.128 In den Gleichnissen kommt die frohe Botschaft vom Reich Gottes also durch eine Inversion und Subversion der sozialen, ökonomischen, mythischen und religiösen Strukturen der alltäglichen Lebenswelt zum Ausdruck. Sie präsentieren in ihrer Erzählstruktur das Evangelium als befreiende Geschichte, die die konventionelle Ordnung der sozialen und kulturellen Welt durchbricht und Gottes Reich mit einer neuen Praxis menschlicher Beziehungen in Verbindung bringt. Sally McFague ist der Meinung, daß der metaphorische Ansatz auch bei der Interpretation anderer neutestamentlicher Uberlieferungsformen, den Weisheitssprüchen, Heilungs- und Wundergeschichten bis hin zur Gattung des Evangeliums, der Erzählung der Geschichte des Wirkens Jesu, zur Geltung kommen soll. Die Geschichte Jesu wird zum Gleichnis Gottes: er bestätigt und durchbricht die Konventionen des jüdischen Gesetzes in seiner Lehre, er bestätigt die menschlichen Grundbeziehungen zu Gott und den Nächsten und radikalisiert sie in der gelebten Beziehung zu Gott als geliebtem Vater, durch die Infragestellung der Familie, das Liebesgebot, die Zuwendung zu den sozial ins Abseits gedrängten, den Kranken, den Frauen, den Kindern, den Zöllnern, Prostituierten und den Ungläubigen - in alledem bis hin zu seinem Tod am Kreuz findet sich die metaphorische Struktur, die gleichnishaft Gottes Art zeigt, sich auf die Welt und die Menschen zu beziehen und mit dem Bösen umzugehen. Das Evangelium, die Geschichte Jesu wird bei McFague zum Modell einer „parabolischen Christologie", die an der Spannung von Identität und Differenz zwischen Jesus und Gott festhält und die Gläubigen in ein analoges Verhältnis zur Geschichte Jesu bringt, in der sie als seine Nachfolger seiner Geschichte zu entsprechen suchen, aber zugleich von ihm verschieden und entfernt sind.

128 Vgl. Sally McFague. Metaphorical theology, 46 f.

133

Die metaphorische Struktur des Evangeliums ist modellhaft auch für sein Verhältnis zur Kultur. Es ist nicht zu trennen von der Sprache, von Sprachstruktur, Grammatik, Syntax und den Wortbedeutungen, in denen von ihm geredet wird. Sein Sinn ist gebunden an den Sprachgebrauch und damit an die soziale Interaktion der Menschen, die die Jesusgeschichten erzählen. Kennzeichnend für das Evangelium ist jedoch der metaphorische, der analoge Umgang mit der Sprache, der die Wirklichkeit Gottes indirekt, durch das Zerbrechen der vorgegebenen Sinnzusammenhänge, zur Geltung bringt. Das System der symbolischen Bedeutungen wird zugleich bestätigt und herausgefordert, angenommen und subversiv überwunden, damit die Menschen ihr Verhalten an den Maßstäben Gottes ausrichten. Das Evangelium von Jesus Christus als Gleichnis für das Handeln Gottes zielt auf die Transformation der Kultur in der Dialektik von Annahme und Transzendierung der kulturellen Bedeutungen, Normen und Werte. Die „parabolische Christologie" wirkt zweifelsohne befreiend. Sie fordert die Menschen heraus, ihre kulturellen Bindungen kritisch infragezustellen, zu überprüfen, ob sie den Maßstäben Gottes, dem Modell der Geschichte Jesu entsprechen und steht der lateinamerikanischen, schwarzen oder feministischen Befreiungstheologie in ihrer Betonung der befreienden Praxis nahe. Durch den Verweis auf die Geschichte Jesu als Modell leitet die Geschichte des Evangeliums zu einer Interpretation an, die die gelebte Beziehung zu Gott und den Menschen in den Mittelpunkt stellt, sich an Jesu Praxis der Zuwendung zu den sozial Marginalisierten und an seiner, den Patriarchalismus überwindenden Gottesbeziehung zu orientieren. Die interpretierende Erzählung des Evangeliums und die theologische Reflexion werden in den Zusammenhang der „Orthopraxis" gerückt. 129 Die „parabolische Christologie" valorisiert nicht nur die symbolischen kulturellen Konstruktionen des Alltagslebens, die zum Gleichnis der Wirklichkeit Gottes werden können. Sie erlaubt es, den Anspruch anderer Religionen, die Wirklichkeit Gottes zum Ausdruck zu bringen, ernsthaft zu würdigen. „If Jesus is understood as a parable of G o d , then other religions can make the claim that they also contain metaphorical expressions of divine reality. In spite of the difficulties in adjucating alternative and conflicting claims, to deny such possibilities is to limit G o d to a ,tribal' status and ultimately to make an idol of Christianity". 1 3 0

Die Begründung dafür ist allerdings nicht, wie McFague annimmt131, eine im Verständnis Jesu als Gleichnis Gottes vorgegebene Selbstbegrenzung und Relativierung des Geltungsanspruchs der analogen Formulierungen der Wahrheit des Christentums, die dann das Recht analoger Formulie129 Ebd., 52. 130 Ebd., 51. 131 Ebd., 53.

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rungen in der Erzähltradition anderer Religionen erlaubt. D a s Verständnis d e r Geschichte Jesu als Gleichnis bestimmt vielmehr f ü r diejenigen, die es hören und seine Perspektive übernehmen, zugleich den Status der in diesem Gleichnis zum T h e m a werdenden Wirklichkeit der Welt. Sie wird ihrerseits zum Gleichnis der universalen Wirklichkeit des Gottes Jesu Christi. 132 Die vielfältigen religiösen und nicht-religiösen Interpretationen der Welt können metaphorisch auf den G o t t verweisen, von dem Jesus gesprochen und an dem er sein Leben ausgerichtet hat. In der symbolischen Sprache des D o g m a s wird dies als das Wirken des Heiligen Geistes in den Kulturen thematisiert. D e r Geist Gottes ist am W e r k , w o Menschen in der kulturellen Auslegung ihrer Lebenswirklichkeit nach G o t t suchen und durch W o r t e und Taten ein analoges Verständnis d e r göttlichen Wirklichkeit entwickeln. Die „parabolische Christologie" läuft allerdings G e f a h r , andere neutestamentliche Erzählstrukturen und Uberlieferungsgattungen „parabolisch" zu majorisieren oder außen vor zu lassen. Das Gleichnis oder die E r z ä h lung ist nicht exklusiv „die" G r u n d f o r m des neutestamentlichen Zeugnisses.133 Alle Gattungen des neutestamentlichen Zeugnisses sind jedoch auf eine s t o r f M , die vom Handeln Gottes berichtet, also auf eine narrative G r u n d s t r u k t u r bezogen. In diesem Sinne kann man mit Dietrich Ritsehl und H u g h Jones sagen, d a ß das Narrative, die story, das „Rohmaterial" der Theologie ist und sie als Leitmetapher christlicher Theologie b e s t i m m t Diese Feststellung ist nicht unbestritten. David Tracy etwa vertritt die Ansicht, d a ß die Erzählung zwar eine zentrale neutestamentliche Gattung ist, aber ebensowenig wie die Gleichnisse zum exklusiven Fundament christlicher Theologie erklärt werden dürfe. 135 Die Erzählung kommt neben anderen gleichberechtigten Gattungen zu stehen, mit denen sie in einem systematischen Zusammenhang gesehen werden. Verkündigung, Erzählung, Bild, Symbol und reflektierendes Denken (Doktrin) bilden bei Tracy eine Kette inhaltlich verbundener Uberlieferungsformen, in denen sich die Pluralität der Perspektiven auf das Evangelium zeigt. Die N a r r a tive des Evangeliums, die bekennend Zeugnis ablegt von seiner Verkündigung, seiner Liebe, seiner Zuwendung zu den Ausgeschlossenen, der H e r ausforderung an die Vertreter von Gesetz und O r d n u n g bis hin zum einsamen T o d am Kreuz und der Auferstehung hat eine , s c h o n / n o c h nicht' Struktur. Sie ist geschehen und hat dennoch ein offenes Ende; die noch ausstehende Erfüllung. Sie bezieht die einzelnen Christen ein in diese

132 Vgl., Christian Link. Die Welt als Gleichnis: Studien zum Problem der natürlichen Theologie. München: Kaiser Verlag, 1976. 133 Vgl. Henning Schröer. Art. Erzählung, 228, 52 f. 134 Ebd., 229, 5 ff., vgl. Dietrich Ritsehl, Hugh O. Jones. „Story" als Rohmaterial der Theologie. In: Theologische Existenz Heute 192. München: Kaiser Verlag, 1976. 135 Vgl. David Tracy. Analogical Imagination: Christian theology and the culture of pluralism. New York: Crossroad, 1989, 297 Anm. 81.

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Struktur, insofern sie sie in einen offenen Prozeß bringt, sich immer wieder für oder gegen den plot, den Sinnzusammenhang dieser Geschichte zu entscheiden. Tracy bezeichnet diesen Sinnzusammenhang als empowering. Die narrative Darstellung des Christusereignisses zielt auf die Befähigung, Begabung und Berufung von Menschen. 136 Die Erzählung erschließt jedoch Bilder und Symbole wie Kreuz, Auferstehung, Inkarnation, die zum Ausgangspunkt systematisch-theologischer Reflexion werden. Christologisches Denken funktioniert nur, wenn die neu interpretierten Antworten auf die Symbole den Gekreuzigten und Auferstandenen identifizieren, von dem die Erzählungen berichten, und wenn die Narrativen selbst Bekenntnis sind, das übereinstimmt mit der Verkündigung des Reiches Gottes und Jesu als des gekreuzigten und auferstandenen Herrn. 137 Tracy entwickelt hier einen wichtigen Gedanken. Er bindet das theologische Denken an die narrative Darstellung des Evangeliums zurück, ohne die es ihren konkreten geschichtlichen Bezug und ihr inhaltliches Profil verlieren würde. Darüber hinaus kann man schließen, daß die Symbole des Christentums sprachlich im Zusammenhang der metaphorischen Sprachstruktur stehen. Metapher, (Gleichnis )Erzählung und Symbol haben die gleiche dialektische Grundstruktur des „ist und ist nicht". Sie verweisen durch die Kombination sprachlicher Elemente auf etwas, das sie nicht direkt sagen, arbeiten also mit der Analogie und entsprechen damit Tillichs Begriff des religiösen Symbols, das durch die Dialektik von Verneinung und Bejahung, des Zerbrechens des Sinnes und der in ihr geschehenden analogen Verweisung auf einen neuen, transzendenten Sinn zum Schlüssel der religiösen Erfahrung schlechthin wird. Metapher, Erzählung und Symbol als Uberlieferungsformen des Evangeliums sind spezifische Formen religiöser Sprache. Wenn Tracy das harmonische Zusammenstimmen der Gattungen der christlichen Uberlieferung betont, verfolgt er jedoch ein weitergehendes Interesse. Es geht ihm in erster Linie um die theologische Begründung des katholischen Traditionsprinzips, das Schrift und kirchliche Doktrin in einem Kontinuum historischer und inhaltlicher Uberlieferung, also in der apostolischen Sukzession verankert. Mit Hilfe der von Gadamers Hermeneutik entliehenen Kategorie des „Klassischen" 138 sucht er dies argumentativ zu begründen. Klassisch sind für ihn Texte, die im hermeneutischen Rezeptionsprozeß immer wieder normsetzend wirken und ihre Bedeutsamkeit unter Beweis stellen, indem sie zu überraschenden, schockierenden, herausfordernden Erfahrungen führen, in denen sich die Wahrheit erschließt. 139 Wir müssen jedoch fragen, ob die Neuinterpretation des

136 Ebd., 307, 326. 137 Ebd., 308. 138 Vgl. Hans Georg Gadamer. Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1960, 269 ff. 139 Ebd., 107 ff.

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Evangeliums und des Kanons der Schriften mit dieser Kategorie, trotz gegenteiliger Bemühungen, die das Klassische auch in marginalisierten Gruppen zum Vorschein kommen sehen, und trotz des Plädoyers für eine von der „soziologischen Imagination" informierte christlich-theologische Ideologiekritik, nicht auf eine Bestätigung der klassisch-kanonischen Interpretation der story des Evangeliums durch das kirchliche Lehramt und die Hierarchie des Klerus hinausläuft. 140 Die Gefahr einer Legitimation des Kanons und anderer Elemente christlicher Tradition mittels der Kategorie des „Klassischen" besteht darin, daß sie das „Klassische" als ein auf jede Kultur anwendbares Interpretationsprinzip versteht, also die kulturelle Uberlieferung und die Interpretation des Evangeliums an einem aus der westlichen Kulturgeschichte stammenden Grundsatz mißt. Die Kategorie des „Klassischen" schließt die kritische Frage nach der Macht im interkulturellen Austausch nicht ein und hat darum eine Tendenz, die Interpretationen der dominanten Kulturen zu bevorzugen. Die Geschichten Jesu und die Geschichte Jesu sprengen den Rahmen des Klassischen, indem sie Gottes Zuwendung zu den Ausgeschlossenen in den Mittelpunkt stellen. Durch sie werden wir auf die Diskurse und Interpretationen derjenigen verwiesen, die nicht ins klassische Bild passen, in ihm nicht vorkommen, sondern, wie Vitor Westhelle sagt, wie der Holzwurm „den Bilderrahmen zu seiner Wohnung macht, die Normativität des Bildes zurückweist und an seinen Rändern nagt." 141 Die Pluralität der christlichen story stellt uns vor die Frage, von wem und wo sie angemessen interpretiert werden kann. Die christlichen Narrativen beschränken sich jedoch nicht auf das Handeln Gottes in Jesus und dürfen nicht christologisch verkürzt werden. Sie greifen aus auf die Erzählungen der jüdisch-christlichen Uberlieferungen des Handelns Gottes von der Schöpfung bis zum jüngsten Tag. Johann Baptist Metz 142 hat daran erinnert, daß der Anfang und das Ende der Geschichte nur narrativ, im Rückgriff auf den Mythos bedacht werden können. In diesem Sinne lebt die philosophische und theologische Vernunft von der Beziehung zur Erzählung. Die theologische oder säkular ausgerichtete Vernunft, die sich von der Erzählüberlieferung emanzipiert, würde damit den Bezug zur Geschichte verlieren und der Unmenschlichkeit verfallen, weil sie das Gedächtnis der Opfer der Geschichte, die Erinnerung an 140 Ebd., 327. 141 „Talvez seja uma tarefa , herética' esta de näo evocar nem a positividade ortodoxa nem o silêncio da mística apofática, e sim a linguagem transgressiva de um mito que nào apenas denota o ,real', nem se esquiva em uma espiritualidade .irreal*, mas que anuncia uma presença messiànica nos gritos e sussuros de quem, como cupim, faz da moldura seu habitat, recusando a normatividade do quadro e corroendo seus limites" (Vitor Westhelle. Outros Saberes. In: Estudos Teológicos 35 (3), 1995, 275. 142 Zum folgenden vgl. Johann Baptist Metz. Kleine Apologie des Erzählens. In: Concilium (D) 9, 1973, 334-341.

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das Leiden nicht mehr wachhält. Die Theologie selber würde damit den Bezug zur Erlösungsgeschichte verlieren, die nur konkret ist, wenn sie im Zusammenhang der Erfahrung von Leiden durch Unterdrückung, Gewalt, Ungleichheit, Schuld, Endlichkeit und Tod erzählt wird, die zur Nicht-Identität führen. Im Hinblick auf diese Erfahrung wird die jüdisch-christliche Erzählüberlieferung zur „gefährlichen Erinnerung". Sie hält die Erinnerung an die Geschichte als Leidensgeschichte wach und vermittelt sie mit dem Evangelium, mit der Heilsgeschichte. Ein wichtiges Beispiel dafür ist die Erzählüberlieferung im eucharistischen Gebet, die die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu Christi als heilbringende Erzählung im Rahmen der Lebens- und Leidensgeschichten der Zuhörer artikulieren sollte. Metz' Plädoyer für eine „narrative Theologie", das heißt für eine Rückbindung der theologischen Argumentation an die biblischen Erzählungen, steht im Unterschied zur Betonung des „Klassischen" bei Tracy im Dienst der Narrativen der sozial marginalisierten Gruppen, die sich der Sprache des Rituals und der Theologie verweigern. Der Kontext der Gemeinde, in der das Evangelium erzählt wird, und der individuelle Kontext der Biographien ist dem der Akademie als Ort der Tradition und Interpretation der Geschichte Gottes vorgeordnet. Die christliche Gemeinde ist, so mit Recht Metz, in erster Linie eine Gemeinde, in der Geschichten erzählt und Erfahrungen ausgetauscht werden. In ihr können die Jesusgeschichten als gefährliche, weil befreiende und sozial-kritische Geschichten erzählt werden. Das setzt jedoch voraus, daß sie im Dialog mit den Geschichten jener an den Rand gedrängten Menschen artikuliert werden. Wir werden an die Praxis der Bibellektüre in den lateinamerikanischen Basisgemeinden erinnert und darauf verwiesen, daß das Evangelium als story kontextbezogen ist und nur im Gespräch mit den Erzählungen vom Leben und Leiden im Alltag der Menschen konkret und effektiv erzählt und interpretiert werden kann. Dieses Gespräch und ihre Erzählungen bilden den primären Kontext einer angemessenen Interpretation des Evangeliums.

5.6.2. Interkulturelle Hermeneutik und interkulturelle Kommunikation Die narrative Verfaßtheit des Evangeliums als Geschichte in einem Universum von Geschichten stellt uns vor eine doppelte Aufgabe. Wir müssen uns die Frage vorlegen, wie in pluralistischen, multikulturellen Gesellschaften die Texte, in denen die Geschichte des Evangeliums erzählt wird, verstanden werden können. Wir haben gezeigt, daß dies im Kontext eines Gesprächs geschieht, an dem beliebig viele Menschen teilnehmen können. In pluralistischen Gesellschaften ist anzunehmen, daß sie aus verschiedenen kulturellen Zusammenhängen kommen. Das bedeutet, daß das Gespräch mit den biblischen Texten in einem doppelten Sinne interkulturell ist: es vollzieht sich zwischen der Kultur der biblischen Texte 138

und der Kultur jedes einzelnen Lesers oder Hörers der Texte; es vollzieht sich zugleich im Dialog zwischen Lesern oder Hörern aus verschiedenen kulturellen Kontexten, die sich über die Grenzen ihrer Kultur hinweg untereinander verständigen müssen. Der Kontext global vernetzter pluralistischer Gesellschaften bedarf einer interkulturellen Hermeneutik, die ihrerseits in die interkulturelle Kommunikation eingebettet ist. Wir müssen die Frage beantworten, wie es möglich ist, angesichts der historischen und kulturellen Differenz zwischen uns und den biblischen Texten deren Sinn zu verstehen. Wir müssen aber auch fragen, wie interkulturelle Kommunikation zwischen denen, die sich gemeinsam um das Verstehen bemühen, möglich ist und nach welchen Regeln sie sich vollzieht. Wir lassen uns bei unseren Überlegungen von der im zweiten Kapitel dargelegten Sprach- und Kommunikationstheorie des radikalen Konstruktivismus leiten und verbinden sie mit Elementen eines rezeptionsästhetischen Ansatzes der hermeneutischen Theorie. Auf diesem Hintergrund wird das „Unverständnis" zu einem zentralen Begriff für Hermeneutik und Kommunikationstheorie, der für die Interpretation des Evangeliums im interkulturellen Gespräch fruchtbar gemacht werden kann. Vom „Unverständnis" auszugehen bedeutet, daß wir eben nicht voraussetzen können, daß wir den Anderen in seiner Andersheit verstehen oder daß wir den ursprünglich vom Autor gemeinten Sinn der biblischen Texte verstehen können. Zwischen mir und dem Anderen, zwischen mir und dem biblischen Text besteht eine Differenz, die niemals ganz überwindbar ist. Der Wiener Systematiker Ulrich Körtner hat darum für eine „Hermeneutik des Unverständnisses" plädiert. Er bezieht sich auf die in der Literaturtheorie vollzogene Wende von einer „produktionsästhetischen" Hermeneutik zu einer „rezeptionsästhetischen" Hermeneutik. Während die vor allem von Schleiermacher ausgehende produktionsästhetische Hermeneutik den Text als „Lebensäußerung eines Individuums"143 auffaßt und sich dementsprechend darum bemüht, die ursprüngliche Intention des Autors zu verstehen, sind die Vertreter der „rezeptionsästhetischen Hermeneutik" der Meinung, daß dies ein aussichtsloses Unterfangen ist. Durch den Akt der Schriftwerdung wird nach Ricoeurs Texttheorie jeder Text gegenüber den Aussageabsichten seines Autors autonom. Diese Autonomie erstreckt sich auch auf den soziokulturellen Kontext, in dem er entstanden und von seinen ersten Lesern rezipiert worden ist.144 Sie fordert die interpretierende Arbeit des Lesers, um seinen Sinn zu konstituieren. Wir sind nicht in der Lage, hinter den Text zurückzukommen und seinen ursprünglichen Sinn zu rekonstruie143 Vgl. Ulrich H.J. Körtner. Der inspirierte Leser: Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1994, 97 f. 144 Ebd., 57 f.; vgl. Paul Ricoeur. Philosophische und theologische Hermeneutik. In: Ders./Eberhard Jlingel. Metapher: Zur Hermeneutik religiöser Sprache. München: Kaiser Verlag, 1974.

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ren. Dies kennzeichnet unser genuines Unverständnis gegenüber dem Text als Ausgangspunkt aller hermeneutischen Bemühungen und nötigt uns dazu, den Text im Zusammenhang unseres Lebens auszulegen. Der primäre Verweisungsbezug auf die Wirklichkeit der Welt, von der der Autor reden wollte, wird durch die Vertextung zerstört. Dadurch wird jedoch ein zweiter fiktionaler Verweisungsbezug eröffnet, indem der Leser durch seine Imagination einen Wirklichkeitsentwurf wagt, innerhalb dessen er den Sinn des Textes erfaßt. Damit versteht er in erster Linie sich selbst vor dem Text. Der Text wird verstanden als „ein Entwurf von Welt, die ich bewohnen kann, um eine meiner wesenhaften Möglichkeiten darin zu entwerfen." 145 Das Ideal eines eindeutigen und objektiven Textsinnes ist damit aufgegeben. Wir sind mit einer Pluralität von möglichen Bedeutungen konfrontiert, in denen verschiedene Individuen den Text als eine Lebensmöglichkeit innerhalb ihrer Biographie, ihres sozialen und kulturellen Kontextes rekonstruieren. In diesem Sinne bezeichnet Umberto Eco Texte als „Maschinen zur Erzeugung von Bedeutungen", die durch den Leser und durch das Gespräch der Leser untereinander erzeugt werden. 146 Geschriebene Texte sind also unvollständig, solange die Leser nicht ihre Bedeutung konstituieren. Der Leser ist somit ein Bestandteil des Textes. Bei der Erzeugung der Textbedeutung ist die Kultur durch Semantik und Syntax der Sprache des Lesers ebenso wie durch den pragmatischen sozialen und biographischen Kontext, innerhalb dessen und auf den hin er den Text liest, immer schon beteiligt. Wenn der verstehende Akt des Lesens ein notwendiges Element der Konstitution des Textes als bedeutsamer sprachlicher Einheit ist, dann muß auch die Kultur als konstitutiv für den Text angesehen werden. In diesem Sinne sind der biblische Text und die Kultur der Leser untrennbar verbunden. Die rezeptionsästhetische Theorie wirft die Frage auf, ob die pluralisierende Interpretation nicht zur Willkür wird, weil prinzipiell jedwede allegorisierende Textauslegung als Möglichkeit legitimiert wird. Um dies zu vermeiden, ist es sinnvoll, zwischen historischer Auslegung und der Interpretation im Sinne der Applikation, das heißt der Textanwendung auf eine Lebenssituation, zu unterscheiden. Die Applikation, in welcher der biblische Text nicht als historisches Dokument, sondern im Hinblick auf seine Heilswirkung ausgelegt wird, war in der theologischen Hermeneutik stets präsent und wurde im Pietismus ausdrücklich neben das Verstehen des Literalsinns gestellt. Gadamer hat die Applikation nach dem Vorbild theologischer und juristischer Hermeneutik als einen Grundaspekt allen historischen Verstehens dargelegt, in dem durch die Reproduktion etwa in einer Theateraufführung oder Lesung, aber auch

145 Ebd., 31 f., vgl. Ulrich H . J . Körtner. Der inspirierte Leser, 103. 146 Ebd., 89.

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in jedem anderen Akt des Verstehens der Geltungsanspruch des Textes zum Ausdruck kommt.147 Im Rahmen der Rezeptionsästhetik können wir sagen, daß jede Interpretation eine Anwendung ist. Sie ist dann legitimiert, wenn sie sich an den Text hält, sich „durch seine semantische und grammatische Struktur begrenzen läßt". 148 Die theologische Tradition hat das Verstehen des Evangeliums in verschiedener Weise als geistgewirktes Geschehen gedeutet. Die dogmatische Inspirationslehre sieht den Geist Gottes als Autor des Kanons. Orígenes Lehre vom dreifachen Schriftsinn geht davon aus, daß der allegorische Schriftsinn, der vom „Pneuma", von dem den Menschen eingegossenen Geist erfaßt wird, den ursprünglichen göttlichen Sinn der Schrift erfaßt. Eine rezeptionsästhetisch ausgerichtete theologische Hermeneutik kann auf die Pneumatologie keineswegs verzichten. Ausgehend von der Feststellung eines primären „Unverständnisses" begreift sie den Akt des Verstehens als ein unverfügbares Geschehen, das als „inspiriert" bezeichnet werden kann, sofern es zum glaubenden Verstehen wird. Durch glaubendes Verstehen „gerät" der Leser in den Text, konstituiert ihn als Wirkung und wird selbst durch ihn verwandelt. Durch den Text versteht er sich neu.149 Er wird zum „inspirierten Leser", in dessen Prozeß glaubenden Verstehens sich der Geist Christi geltend macht. Voraussetzung dieser Theorie vom inspirierten Leser ist bei Körtner die auf die Christologie Martin Kählers und Paul Tillichs zurückgreifende Annahme, die Geschichtlichkeit des Jesus, von dem das Neue Testament spricht, sei identisch mit seiner Wirkungsgeschichte im Glauben der Christen. „Der Christus extra nos existiert pro nobis nicht anders denn als Christus in nobis." 150 Dieser Christus ist das zentrale Thema aller neutestamentlichen Texte und stellt insofern den Bezugspunkt dar, der die vielfältigen Interpretationen dieser Texte im Ganzen des Kanon verbindet. Er bezeichnet das „Vonwoher gläubiger Existenz in der Gemeinschaft der Glaubenden", die es „je und je neu im Ereignis des Lesens und Verstehens neu zu entdecken" gilt.151

5.6.2.1. Fremdheit und interkulturelle

Kommunikation

Der rezeptionsästhetische und konstruktivistische Ansatz der Hermeneutik des Unverständnisses führt auch zu einer veränderten Sicht der interkulturellen Kommunikation. Die Interpretation biblischer Texte ist vom interkulturellen Dialog nicht zu trennen. Der Pluralität der Ausle147 Hans Georg Gadamer. Wahrheit und Methode, 290 ff. 148 Ulrich H.J. Körtner. Der inspirierte Leser, 102. 149 Ebd., 111. 150 Ebd., 110; vgl. Paul Tillich. Systematische Theologie II, 5. Aufl., Stuttgart: Evang. Verlagswerk, 1977, 108 f. 151 Ulrich H.J. Körtner. Der inspirierte Leser, 108.

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gungen tritt damit die Pluralität der kulturellen Kontexte an die Seite und wirft die praktische Frage auf, wie eine interkulturelle Verständigung möglich ist. Wenden wir die rezeptionsästhetische Sicht an, so müssen wir zunächst davon ausgehen, daß interkulturelle Kommunikation im Sinne der objektiv korrekten Transmission einer Information gerade nicht möglich ist. Wir müssen ausgehen von einer grundsätzlichen und nicht vollständig überwindbaren Fremdheit der Menschen aus verschiedenen Kulturen. Dies ist, wie Bernhard Waidenfels gezeigt hat, ein wichtiges Postulat, ohne das die interkulturelle Kommunikation einem ihrem Bemühen um die Verständigung über Grenzen hinweg, um die Überwindung der Fremdheit also, innewohnenden Paradox erliegt. Indem sie sich bemüht, das Fremde zu verstehen und sich mit den Anderen zu verständigen, nimmt sie ihm seine Fremdheit, verwandelt es in etwas Bekanntes, Zugängliches. Sie kann dies jedoch nur, indem die Verstehenden im Vorgang der Interpretation das Fremde mit dem schon Bekannten vergleichen und es in Analogie zu ihm deuten. Damit wird das Fremde domestiziert. Der Andere wird einer egozentrischen, die fremde Kultur einer ethnozentrischen Sicht unterworfen. 152 Wie ist über die kulturellen Grenzen hinweg Verständigung möglich, ohne dem Anderen seine Fremdheit zu nehmen? Die Fremdheit wird bewahrt, wenn man sie als Unzugänglichkeit begreift. Fremdheit, so Waidenfels im Anschluß an Husserl, „beruht auf einer ,bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen'". 153 Das Fremde ist das, wozu wir keinen Zugang haben. Es wird erfahren als die Anwesenheit des unüberwindlich Abwesenden. Als solches wird es gegen die Logik eines kolonisierenden Zugriffs als Fremdes festgehalten, wenn wir nicht in erster Linie fragen, „was das Fremde ist und bedeutet, wozu es da ist und woher es kommt" 154 , solange wir also nicht versuchen „zu bestimmen, was das Fremde ist, und wenn wir statt dessen das Fremde nehmen als das, worauf wir antworten und unausweichlich zu antworten haben, also als Aufforderung, Herausforderung, Anreiz, Anruf, Anspruch . . . Was Eigenes und Fremdes ist, bestimmt sich im Ereignis des Antwortens und nirgends sonst, das heißt, es bestimmt sich niemals völlig".155 Der Begriff der Fremdheit läßt uns die Bedeutung des Unverständnisses für die interkulturelle Kommunikation erkennen. Sie bleibt nur in dem Maße interkulturell, das heißt Kommunikation zwischen kulturell Anderen, als sie am primären Unverständnis des Anderen festhält. Das erinnert uns an die im zweiten Kapitel skizzierte Kommunikationstheorie Maturanas, die auf der Basis der organisationellen Geschlossenheit und

152 Bernhard Waldenfels. Topographie des Fremden: Studien zu einer Phänomenologie Fremden 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, 86. 153 Ebd., 90. 154 Ebd., 108. 155 Ebd., 108 f.

142

des

Autonomie lebender Systeme gegenüber ihrer Umwelt arbeitet. Kommunikation geschieht auf der Grundlage der Abgeschlossenheit, Unzugänglichkeit und letztlichen Fremdheit der verschiedenen Interaktionspartner. Ähnlich wie wir in der Bibelauslegung nicht den vom Autor ursprünglich gemeinten Sinn erfassen können, so sind die Interaktionspartner nicht in der Lage, den vom anderen ursprünglich gemeinten Sinn einer Botschaft zu denotieren und kommunikativ die Differenz zwischen beiden zu überwinden. In der Abfolge der Interaktionen stimmen sie ihr Verhalten auf das des Anderen ab und entwickeln ein „konventionelles, aber dennoch spezifisches System kommunikativer Beschreibungen". 156 Innerhalb dieses kooperativ erzeugten konsensuellen Bereichs, in dem die Interaktionspartner Syntax und Semantik jeder für sich in einer vergleichbaren Weise gebrauchen, orientiert die „Botschaft" des einen Partners den Anderen und stellt an ihn den Anspruch, seinen eigenen Zustand kognitiv zu beschreiben. Er wirkt autonom und unabhängig von dem, was die „Botschaft" für den, der sie geäußert hat, repräsentiert, auf seinen kognitiven Bereich ein und konnotiert damit, orientiert durch den anderen, aber unabhängig von ihm, eine Bedeutung für sich selbst.157 Das Unverständnis wird damit zur Bedingung der Möglichkeit des zwischenmenschlichen Verstehens und der zwischenmenschlichen Kommunikation. Der Andere ist und bleibt ein Fremder. Diese Sicht modifiziert die in der ökumenischen Diskussion formulierte Vorstellung vom interkulturellen Dialog, die im vorigen Abschnitt kurz angesprochen wurde und von Überlegungen des katholischen Theologen Robert Schreiter stark beeinflußt ist. Er vertritt ein semiotisches Kulturkonzept, definiert Kultur also als ein Zeichen- oder, wie Geertz sagt, Symbolsystem, das Bedeutungen konstituiert, die Teilnehmer an einer Kultur durch die Darstellung von gemeinsamen Werten und Geschichten verbindet und eine Quelle ihrer Identität bildet. 158 Ein Thema der interkulturellen Kommunikation ist die Übertragung von Botschaften aus einem Zeichensystem in ein anderes. Zur Beschreibung dieses Vorgangs greift Schreiter auf das Kommunikationsmodell von „Sender und Empfänger" zurück. Der Sprecher, der Hörer, der Kontext und die Botschaft sind die Grundelemente des Kommunikationsvorgangs. 159 Der Sprecher bemüht sich, seine Botschaft in der Welt des anderen zu verankern, sie ihm zugänglich zu machen. Der Hörer versteht, indem er in der von ihm konstruierten Welt eine Analogie zu der von ihm gehörten Botschaft sucht und die Botschaft in ihrer Nähe ansiedelt. Im idealen

156 Siegfried J. Schmidt. Der radikale Konstruktivismus, 28. 157 Ebd., 28. 158 Vgl. Robert J. Schreiter. Constructing Local Theologies. Maryknoll, New York: Orbis Books, 1985, 49 ff., hier 53; ders. Communication and Interpretation across cultures: Problems and Prospects (unveröffentlichtes Manuskript), Chicago o. J., 3 f. 159 Ebd., 4.

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Kommunikationsvorgang gibt er dann dem Sprecher an, wo er die Botschaft angesiedelt hat, so daß dieser beurteilen kann, ob die Transmission gelungen ist oder nicht. Im interkulturellen Gespräch ist eine wiederholte Vor- und Rückbewegung, ein Geben und Nehmen zwischen Sprecher und H ö r e r in einer nicht dominanten Art und Weise notwendig, damit die Botschaft angemessen übermittelt werden kann. 160 Die interkulturelle Kommunikation findet weder in der Kultur des Sprechers noch in der des Hörers statt. Beide konstruieren durch die Interaktion mit dem Anderen ein „Zwischen" (interstitial zone), eine Art gemeinsames Vorzimmer zur Kultur beider, in dem jeder von der Welt des Anderen so weit Kenntnis nimmt, daß er zu ihr als Gast Zutritt gewinnen kann. 161 Ihre Kommunikation gilt dann als kompetente interkulturelle Kommunikation, wenn der Sprecher das Gefühl hat, seine Botschaft sei angekommen, und wenn die Kommunikationsregeln in der Kultur des Empfängers nicht verletzt wurden. 162 Schreiters Sicht der interkulturellen Kommunikation fügt sich weitgehend in den von uns skizzierten konstruktivistischen Rahmen ein. Allerdings erscheint uns die Möglichkeit der Kontrolle darüber, ob das, was der andere in seinem Symbolsystem und in seiner kulturell konstruierten Welt als meine Botschaft formuliert, wesentlich komplexer, als Schreiter es darstellt. Sie setzt voraus, daß der Sprecher sein Symbolsystem und seine Sinnwelt verläßt, das Symbolsystem und die Perspektive des anderen übernimmt, innerhalb dieses Rahmens die vom Anderen gegebene Beschreibung seiner ursprünglichen Botschaft für sich (re)konstruiert, um sie dann mit seiner Botschaft zu vergleichen. Hier wird deutlich, daß interkulturelle Kommunikation nur möglich ist, wenn die Interaktionspartner einen gemeinsamen Bereich von Bedeutungen schaffen, indem jeder auf den Anspruch des Anderen antwortet und das Symbolsystem und die Perspektive des anderen übernimmt, das heißt für sich konstruiert. Dies aber läßt Sprecher und H ö r e r und die von jedem von ihnen konstruierte Welt nicht unverändert. Interkulturelle Kommunikation ist nicht die möglichst objektive und reibungslose Ubersetzung von Informationen von einem Symbolsystem in ein anderes, von einer Weltsicht in eine andere. Sie ist der Entwurf einer gemeinsamen Welt von Bedeutungen zwischen den Kulturen der Interaktionspartner. Sie schafft etwas kulturell Neues und wirkt auf die Interaktionspartner und ihre Kultur zurück, die ihrerseits als Kontext das Geschehen zwischen den Partnern beeinflußt, etwa durch die kulturelle Charakteristik des Kommunikationsverhaltens. Die Kompetenz interkultureller Kommunikation kann sich darum nicht daran festmachen, daß eine Botschaft zur Zufriedenheit des Sprechers ohne die Verletzung des Kommunikationscodes des Empieo Ebd., 5. 161 Ebd., 10. 162 Ebd., 4.

144

fängers übermittelt wird. Kompetent ist interkulturelle Kommunikation, wenn es den Beteiligten gelingt, einen gemeinsamen Bereich von Bedeutungen zu konstituieren, in dem jeder zugleich Sprecher und Hörer ist, und ein näherungsweiser Konsens über die Regeln der Kommunikation ausgehandelt wurde. Die interkulturelle Kommunikation kommt damit an der ethischen Frage nach der Freiheit zur Beteiligung am Diskurs und nach der Verteilung der Macht nicht vorbei. Schreiter thematisiert diese Frage im Zusammenhang von Überlegungen zu Sprecher- und hörerorientierter Kommunikation. Orientiert sich die Kommunikation an der Perspektive des Sprechers, dann hat sich der Hörer an Inhalt und Struktur der Botschaft anzupassen. Das Zeichensystem wird vom Sprecher kontrolliert, der dann auch die Angemessenheit der Transmission beurteilt.163 Die an der Perspektive des Hörers orientierte Kommunikation konzentriert sich auf die Fähigkeit des Hörers zur Integration der Botschaft in seine Welt. Der Sprecher bemüht sich, alternative Symbolisierungen der Botschaft zu suchen, um sie der Welt des anderen anzupassen und legt weniger Wert auf Kontrolle.164 Die Auffassung vom Primat des Evangeliums gegenüber der Kultur, die von vielen Christen geteilt wird, führt zu einer sprecherorientierten Kommunikation, in der mit dem Evangelium auch die Kultur der Sprecher mitgeteilt wird. Schreiter plädiert deshalb dafür, daß in fragilen, von Fragmentation bedrohten Kulturen von Minoritäten oder unterdrückten Gruppen, in Widerstandssituationen, in denen Christen sich gegen die ungerechte Herrschaft behaupten (Militärdiktaturen), und in Situationen, in denen sich Christen als bedrohte Minderheit gegenüber einer Majorität solidarisch zusammenschließen (China) die Kultur, also die hörerorientierte Kommunikation, den Primat haben sollte, während in Situationen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung oder angesichts des Fehlens von kulturellen Mitteln, um auf soziale Herausforderungen zu antworten, das Evangelium, also die Perspektive des Sprechers den Primat haben sollte. Durch diese pragmatische Strategie wird das Machtproblem in der interkulturellen Kommunikation nicht gelöst. Einen Schritt weiter kommen wir durch die Einführung des Kriteriums der Reziprozität der Perspektiven. Im Rahmen der ethnologischen Forschung besagt es, daß die Fremden, die zum Gegenstand ethnologischer Forschung werden, unserer eigenen Logik dann nicht geopfert werden, wenn auch wir als Fremde der Gegenstand ihres forschenden Blickes werden. Wenn der mir Fremde mich ebenfalls als Fremden betrachtet, bin ich einem Blick ausgesetzt, der den anderen nicht nur als Subjekt und Interaktionspartner bestätigt, sondern ihn darüber hinaus als mir trotz der Verständigung in vieler Hinsicht bleibend unzugäng-

163 Vgl. Robert J. Schreiter. Constructing Local Theologies, 59. 164 Ebd.

145

lichen Fremden charakterisiert, dessen Perspektive in bezug auf sich und mich niemals mit meiner Perspektive in bezug auf mich und ihn zusammenfallen wird.165 Es wäre kurzsichtig, ein Kriterium ethnologischer Forschung unbesehen auf andere Kommunikationssituationen zu übertragen. Es charakterisiert zwar die Beziehung der Interaktionspartner im „Zwischen" der interkulturellen Kommunikation, in der jeder dem anderen als Sprecher und Hörer gegenübertritt, sich in bezug auf ihn als Fremden also aus seiner eigenen Perspektive äußert. Es reduziert die interkulturelle Kommunikation jedoch auf das bloße Verstehen des Sinnes der Rede des Anderen. Sie bewegt sich dann, so Waidenfels, „im neutralen Vorfeld des Verstehens", das dann verlassen wird, wenn Geltungsansprüche geäußert werden und aufeinanderprallen166, die die Interaktionspartner dazu nötigen, sich zu verständigen. Das Aufeinanderprallen von Geltungsansprüchen dürfte der Normalfall interkultureller Kommunikation sein. Die Frage ist dann, wie die Reziprozität der Perspektiven der Interaktionspartner, die ihre Freiheit und Gleichberechtigung garantiert und jeden in seiner Eigenheit als Fremden bestätigt, bewahrt werden kann. Wie also kann die Verständigung über Geltungsansprüche daran gehindert werden, zur einseitigen Bemächtigung zu mißraten, die den Geltungsanspruch des Anderen reduziert, negiert, totschweigt oder unterdrückt? Waidenfels führt an dieser Stelle im Anschluß an Lévinas die Figur des „Dritten" ein. Der andere ist nie ausschließlich auf mich bezogen und jede Beziehung zum anderen wird von Dritten bezeugt und gesteuert. Der Dritte ist in der dualen Beziehung stets präsent: als Person, über die geredet wird, „als beteiligter oder unbeteiligter Zeuge, der einem Dialog beiwohnt oder schließlich als Ordnungsinstanz, die steuernd, verteilend und schlichtend in den Dialog eingreift."167 Wenn eine kommunikative Ordnung eingerichtet wird, also das „Zwischen" von den Interaktionspartnern konsensuell strukturiert wird, dann wird der persönliche Dritte zu einer neutralen Ordnungsinstanz wie etwa „Wahrheit, Gesetz, Gewissen, intentionaler Sinn oder Geltungsanspruch", die der andere ebenso wie ich selber übernehmen kann, wenn er etwa in seiner Rede einen Anspruch formuliert, der für die Allgemeinheit gelten soll.168 „Der Dritte bedeutet einen Gesichtspunkt oder Standpunkt, den ich dir und mir gegenüber einnehme, indem ich uns implizit oder explizit als jemanden betrachte und behandle. Diesem jemand wird eine bestimmte Rolle, eine bestimmte Funktion, ein bestimmtes Werk zugewiesen . . . Im Dritten verkörpert sich jenes Mittelglied, das uns kooperativ oder kompetitiv auf bestimmte Ziele ausrichtet, unser

165 166 167 168

146

Vgl. Bernhard Waidenfels. Topographie des Fremden, 99 f. Ebd., 111. Ebd., 116. Ebd.

Verhalten gemeinsamen Regeln unterwirft und auf diese Weise ein soziales Band zwischen uns knüpft."'69 Die Einführung des Dritten verwandelt die „Differenz zwischen Eigenem und Fremdem letzten Endes in eine kommunikative Indifferenz."'70 Interaktionspartner, die sich über ihre Interpretation einer biblischen Geschichte verständigen, sind als kulturell Verschiedene durch die Geschichte und die geregelte Kooperation in der Interpretation als Drittem miteinander verbunden. Die Instanz des Dritten ermöglicht es auch, die Machtproblematik zu thematisieren, den Umgang des anderen mit dem eigenen Geltungsanspruch in bezug auf eine allgemeine Instanz (Gerechtigkeit, Gesetz) kritisch anzusprechen. Darüber hinaus führt sie eine Differenz ein zwischen der durch den Dritten als Instanz aufgerichteten Ordnung und dem Außer-Ordentlichen, das sich ihr nicht fügt. Diese vom Dritten repräsentierte Differenz schützt das Fremde vor der vereinnahmenden Bemächtigung. In der interkulturellen Kommunikation über das Evangelium werden so die Kultur, der Glaube und die Person des Anderen zugänglich, zugleich wird aber auch ihre letzte Unzugänglichkeit, ihre Fremdheit als etwas ihnen eigenes geschützt. Es ist sinnvoll, im interkulturellen Dialog über die Bedeutung des Evangeliums Jesum Christum, dessen Bezeugung die Mitte der biblischen Texte bildet, als Dritten zu verstehen, im Hinblick auf den die Verständigung geschieht. Damit wird auch die pneumatische Dimension dieses interkulturellen Verständigungsprozesses deutlich. Der „inspirierte Leser" ist kein isoliertes Individuum und der „Akt des Lesens" eingebunden in den Erzähl- und Gesprächszusammenhang der christlichen Gemeinschaft in der kulturellen Pluralität. Wenn wir sagten, daß die Interpretation des Evangeliums in dem Maße zum pneumatischen Geschehen wird, als der Interpret durch sie in einen Prozeß des glaubenden Verstehens gerät, das ihn selbst verändert, so können wir dies auf die Auslegung des Evangeliums im interkulturellen Gespräch ausdehnen. Sie ist eine Gabe des Geistes des Gottes Jesu Christi, wenn sie die Gesprächspartner in eine Bewegung glaubenden Verstehens bringt, so daß jeder für sich mit den Mitteln seiner Kultur und in der Offenheit für und partiellen Übernahme der Kultur des Anderen auf den vom Evangelium formulierten Anspruch des Glaubens antwortet, und sich von der Antwort des kulturell Anderen bei seinem eigenen Versuch, den Glauben zu artikulieren, inspirieren läßt. Der Bezug zu Jesus Christus als Drittem im interkulturellen Dialog der Christen über das Evangelium ist inhaltlich bestimmt, insofern die biblischen Texte seine Existenz als Existenz für die Anderen charakterisieren, sie also unlösbar mit dem pro nobis verbinden. Die

169 Ebd., 124. 170 Ebd., 117.

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neutestamentlichen Texte stellen uns im interkulturellen Dialog immer wieder vor die Frage: „Wem bin ich der Nächste". Die interkulturelle Verständigung über das Evangelium, in dem sich die Geschichten von Jesus und die Geschichte Jesu Christi mit unseren Lebensgeschichten verschränkt wird davor bewahrt, zur Majorisierung und Dominanz der Starken über die Schwachen, der kulturellen Mehrheit über die Minderheiten zu mißraten, wenn sich die Beteiligten immer wieder dieser Frage stellen, also das Leben des Anderen, seine Eigenheit, seine Freiheit und sein Recht zum Maßstab des eigenen kommunikativen Verhaltens zu machen. 171

171 Theo Sundermeier hat in seiner „praktischen Hermeneutik" „Stufen zum Verstehen des Fremden" entwickelt, die den hier vorgestellten Überlegungen sehr nahe steht (Theo Sundermeier. Den Fremden verstehen: Eine praktische Hermeneutik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996). Sundermeier unterscheidet bei der interkulturellen Begegnung die Phänomenebene, die Zeichenebene, die Symbolebene und die Relevanzebene, die jeweils unterschiedliche Haltungen, objektive Erfassungen und Handlungstypen fordern (ebd., 155 ff.). Auf der Phänomenebene geht es um die beschreibende Analyse der Situation durch distanzierte Wahrnehmung. Auf der Zeichenebene wird der kulturelle Kontext durch teilnehmende Beobachtung erschlossen. Das setzt ein Minimum an Sympathie voraus. Auf der Symbolebene vollzieht sich die Interpretation. Mit Empathie versetzt man sich in die andere Welt und sucht durch vergleichende Interpretation zu verstehen, was die Situation f ü r den anderen bedeutet Auf der Relevanzebene wird es möglich, in einer Haltung des Respekts mit der Kultur des anderen zusammenzuleben (Konvivenz) und ihre Bedeutung anzuerkennen, den Transfer in die eigene Wirklichkeit zu leisten (ebd.). Sundermeier schreibt: „Das Ziel interkultureller Hermeneutik ist gelingendes Zusammenleben, bei dem jeder er selbst bleiben kann, niemand vereinnahmt wird und dennoch ein Austausch stattfindet, der die Würde des anderen respektiert und stärkt" (ebd., 183). Die Stärke von Sundermeiers interkultureller Hermeneutik ist, daß sie die „Besonderheit" des Fremden aushält und als Bedingung des Verstehens verteidigt. Der Kulturunterschied wird nicht durch die Horizontverschmelzung eingeebnet und das andere als Eigenes verstanden. Vergleichende Interpretation soll unterscheiden zwischen der Deutung d e s / r Gesprächspartners/in und der Deutung des Seelsorgers. Er kann nicht aus seinem Kontext heraus, in dem er die Phänomene interpretiert, aber er kann das von der Interpretation unterscheiden, die d e r / d i e andere in ihrem Kontext macht. An diesem Punkt zeigt sich eine Schwäche von Sundermeiers Position. Für ihn wird der Vergleich möglich, weil seiner Ansicht nach die verschiedenen Kultursysteme, die aneinander grenzen wie Körperzellen, durch „osmotischen Austausch" verbunden sind und sich gemeinsam stabilisieren, eine Homöostase bilden (vgl. ebd., 132 ff.). Sundermeier greift hier Begriffe aus der Systemtheorie auf, um zu begründen, daß es zwischen den Kultursystemen stabile, aber f ü r den Austausch offene Grenzen gibt. Der entscheidende Beitrag der Theorie der „lebenden Systeme" von Maturana, Varela und anderen zum Verständnis von Kommunikation besteht jedoch gerade darin, daß sie die Abgeschlossenheit lebender Systeme zeigt. Sie konstituieren sich „autopoietisch", das heißt: sie strukturieren und grenzen sich gegenüber der Umwelt ab, indem sie sich auf sich selbst beziehen. Durch sinnliche Wahrnehmung nehmen lebende Systeme die Umwelt nicht so in sich auf, daß das Gesehene oder Gehörte innerlich „repräsentiert" wird, sondern sie sind im Prozeß der Interaktion mit der Umwelt verkoppelt und schaffen Bedeutungen durch die Abfolge von miteinander verkoppelten nicht sprachlichen und sprachlichen Handlungen, die einen Konsens begründen. Hier findet, so die Quintessenz der konstruktivistischen Kommunikationstheorie, kein „Austausch" statt, sondern die Interaktionspartner konstruieren einen gemeinsamen Bereich von Bedeutungen, in

148

5.6.3. Konsequenzen für Seelsorge und Beratung Was trägt unsere bisherige Analyse für eine Theorie kulturell sensibler Seelsorge und Beratung, und speziell für die Familienberatung, aus? Unsere vorläufige Bilanz lautet: 1. Kulturell sensible Seelsorge und Beratung verstehen ihr eigenes H a n deln im Kontext pluralistischer Gesellschaften als potentiell interkulturelle Kommunikation. Sie gehen dabei aus von unterschiedlichen Graden kultureller Fremdheit je nach dem Grad der Sinnhaftigkeit der Lebensäußerungen des/der Anderen für ihr Gegenüber. Kulturell fremd sind einander nicht nur Ausländer und Inländer, die im Extremfall einen Dolmetscher brauchen, sondern auch Menschen, von denen jeder vorwiegend in sozialen Kontexten kommuniziert, die dem Anderen unbekannt sind. 2. Familien, Gruppen und Institutionen bilden in einem kulturellen Kontext ihre eigene (Sub)Kultur aus, die für die Identität ihrer Mitglieder bedeutsam ist. Sie entwickeln einen eigenen Sprachgebrauch, bewegen sich im Rahmen eines von ihnen festgelegten Horizontes von Bedeutungen, die sich in spezifischen Haltungen, Werten und Verhaltensweisen zeigen. Ihre (Sub)Kultur ist gleichsam ein Dialekt der bestimmenden Kultur, kann zu ihr aber in Spannung stehen. Für Seelsorge und Beratung, denen es darum geht, Einzelnen und Gruppen von der christlichen Uberlieferung und vom Glauben her bei der christlichen Lebensgestaltung und Konfliktbewältigung zu helfen, ist es unerläßlich, bewußt auch im Rahmen der jeweiligen (Sub)Kultur zu arbeiten, sie wahrzunehmen, die in ihr gegebenen Veränderungsmöglichkeiten zu nutzen und die von ihr gesetzten Bedingungen und Grenzen für konfliktlösendes Verhalten zu berücksichtigen. 3. Seelsorge und Beratung sind ein narratives Geschehen, in dem die Botschaft des Evangeliums einerseits indirekt durch die Glaubenshaltung und die in ihr vorausgesetzten theologischen Grundannahmen der Gesprächspartner präsent ist, und die andererseits konkret im Prozeß des Erzählens und Darstellens der Geschichten des Lebens welchem jeder die Äußerungen des anderen beobachtet und unabhängig für sich deutet, unter den Vorgaben des Kultursystems, der sozialen und individuellen Geschichte, für die er zuvor Bedeutungen gebildet hat (vgl. Francisco J. Várela. Erkenntnis und Leben. In: Fritz B. Simon (Hg.). Lebende Systeme: Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, 52-68). Interkulturelle Kommunikation geschieht durch die Konstruktion eines „Zwischen", in dem jeder Kommunikationsteilnehmer autonom, selbstbezüglich und einsam auf das antwortet, was der andere tut und sagt. Das hat nichts mehr mit seelsorgerlicher Empathie zu tun, die ein zweifelhaftes Konzept ist und gegenwärtig auch in der Psychotherapietheorie revidiert wird. Es kommt vielmehr darauf an, daß jeder für sich differenzierte Deutungen der Äußerungen des anderen entwerfen kann, von denen er annimmt, daß sie dem analog sind, wie der andere sein eigenes Handeln für sich deutet

149

einer Person oder einer Gruppe und ihre Verbindung mit den Geschichten der jüdisch-christlichen Uberlieferung als eine Hilfe zur Deutung und Umgestaltung von Lebenssituationen zur Geltung kommen kann. 4. Das Erzählen dieser Geschichten ist ein Prozeß der Konstruktion von Bedeutungen, in dem Menschen ihre persönliche, soziale und kulturelle Identität heranbilden und in dem sie die Geschichten des Evangeliums „inkulturieren", das heißt ihnen innerhalb des Bedeutungshorizontes der jeweiligen Kultur und (Sub)Kultur einen Sinn geben und sie stützend und kritisch auf die eigene Identität beziehen. Der narrative Prozeß bewirkt eine Verschränkung des Evangeliums mit der Biographie und ihrem sozialen und kulturellen Umfeld, die es den Gesprächspartnern ermöglicht, die Wurzel ihrer Identität im Handeln des dreieinigen Gottes zu erkennen und zu erleben. 5. Die Geschichten des Evangeliums können in diesem Prozeß als Ferment der Neuinterpretation und Umgestaltung wirken. Durch ihre metaphorische Struktur sind sie offen für die Bildung neuer Bedeutungen, für die Öffnung des Wahrnehmungshorizontes und für die Entdeckung neuer Verhaltensmöglichkeiten. Im Rahmen dieser hermeneutischen Prozesse werden vorgegebene kulturelle Deutungsmuster, Haltungen, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen bestätigt, infragegestellt, kritisiert und erneuernd umgestaltet. Der interkulturelle Dialog wird dadurch zu einem Prozeß glaubenden Verstehens, der als Wirken des Heiligen Geistes beschrieben werden kann. In ihm kann die Übereinstimmung von kulturellen Elementen mit dem christlichen Glauben deutlich werden und als Wirken des Heiligen Geistes in Schöpfung und Kultur unabhängig von der Wortverkündigung gedeutet werden. Der interkulturelle Dialog in Seelsorge und Beratung setzt deswegen einen vom Glauben her motivierten Respekt vor der Kultur der Anderen voraus. 6. Die Geschichten des Evangeliums haben Jesus Christus als gemeinsames Thema und betonen die Zuwendung Gottes zu den armen, ausgeschlossenen, entrechteten und leidenden Menschen. Die Fragmentierung oder Zerstörung ihrer kulturellen Identität durch die Folgen wirtschaftlicher Prozesse und politischer Ereignisse, also durch Armut, Migration, Flucht, Gewalt sind ein zentrales Thema für Seelsorge und Beratung. Sie müssen sich insbesondere der Minderheiten, die sich nicht gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben beteiligen können, annehmen. Dazu gehören insbesondere ethnische Minderheiten, Frauen und Kinder. 7. Seelsorger und Berater gehen im Verhältnis zu ihren Interaktionspartnern aus von einer Hermeneutik des Unverständnisses, die es nicht länger sinnvoll erscheinen läßt, die Wahrnehmungseinstellung von Seelsorgern und Beratern mit Begriffen wie „Empathie" und „Einfühlung" zu beschreiben. Aus der Perspektive der konstruktivi150

stischen Erkenntnistheorie und der rezeptionsästhetischen Hermeneutik betrachtet, versucht das aus der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers stammende Konzept der „Empathie" im Sinne des „einfühlenden Nachvollzugs" der „inneren Situation" des Anderen eine Unmittelbarkeit zwischen den Gesprächspartnern herzustellen, die der auch im Kommunikationsvorgang vorauszusetzenden individuellen Abgeschlossenheit widerspricht. „Empathie" und die von Augsburger zur Bedingung gelingender Verständigung in der interkulturellen Seelsorge erklärte „Interpathie", das heißt das einfühlende Verstehen des kulturell Anderen aufgrund der vorübergehenden Übernahme seiner kulturellen Sicht der Welt und seiner Werte, suggerieren vorschnell, daß es Seelsorgern und Seelsorgerinnen möglich sei, die Grenzen zwischen den Individuen zu überspringen oder sie fließend werden zu lassen. Sie laufen dann Gefahr, ihr tatsächliches Unverständnis nicht mehr wahrnehmen oder zugeben zu können. Aus der Sicht einer Hermeneutik des Unverständnisses stellt sich das, was man herkömmlich als „Empathie" bezeichnet, dar als „analoge (Situations) Beschreibung", in der Seelsorger und Seelsorgerinnen die Situation des anderen für sich beschreiben. Diese Beschreibungen sind in hohem Maße individuell und müssen im Dialog mit dem Gesprächspartner überprüft werden. 8. Seelsorger und Berater haben im Prozeß interkultureller Kommunikation die Aufgabe, ausgehend von der Annahme des gegenseitigen Nichtverstehens, gemeinsam mit ihren Interaktionspartnern immer weitergehende konsensuelle Bereiche zu konstruieren, innerhalb deren Verständigung möglich wird. Die sinnhaften Konstruktionen, mit denen Seelsorger und Seelsorgerinnen auf die von ihren Gesprächspartnern geschilderte Situation reagieren, sind in jedem Fall Beiträge, die das Gespräch aktiv strukturieren und in denen die zur Strukturierung des Alltags unreflektiert benutzten kulturellen Grundannahmen ebenso wie die theologischen und humanwissenschaftlichen Grundannahmen, mit denen er oder sie arbeitet, zur Geltung gebracht werden. Die bewußte Wahrnehmung und die Mitteilung dieser Grundannahmen im Sinne einer Bewußtmachung des eigenen „VorVerständnisses" und der eigenen „Vor-Urteile" ist notwendig, nicht um diese zu neutralisieren - das ist unmöglich - , vielmehr um den Gesprächspartnern die Möglichkeit zu geben, auf sie zu reagieren, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie gegebenenfalls zu korrigieren. 9. Alle am Kommunikationsprozeß Beteiligten sind Experten, was ihre eigenen Probleme, ihre Geschichte und ihre Kultur angeht. Seelsorgerinnen und Beraterinnen beteiligen sich an der Kommunikation als aktiv lernende Partner. In der Interaktion mit ihren Gesprächspartnern konstruieren sie vorläufige Modelle, mit deren Hilfe sie den 151

Sinn der Äußerungen ihrer Partner interpretieren und über die sie sich mit ihnen verständigen. Dabei achten sie besonders auf ihre eigenen positiven oder negativen Gefühlsreaktionen auf Äußerungen, die von ihrer eigenen Kultur abweichen und beziehen Wahrnehmungen möglicher kultureller Differenzen zum gegebenen Zeitpunkt in das Gespräch ein. 10. Die Gesprächspartner in Seelsorge und Beratung konstruieren durch ihre Äußerungen gemeinsam ein Netz von konsensuellen Bedeutungen, mittels deren sie gemeinsam die Wirklichkeit beschreiben. Dieses Netz von Bedeutungen ist etwas von der bisherigen Wirklichkeitsbeschreibung aller am Gespräch Beteiligten Verschiedenes und eröffnet ihnen die Möglichkeit, sich selbst, die anderen und die Situation auf veränderte Weise wahrzunehmen und ihr Verhalten entsprechend zu verändern. 11. Die konstruktivistische Sicht der Kommunikation in Seelsorge und Beratung betont die „Deutungskompetenz" aller Beteiligten. Sie wirft damit die Frage nach der Macht in Seelsorge- und Beratungsprozessen auf. Vor allem hauptamtliche Seelsorgerinnen und Beraterinnen haben durch ihr Amt und durch das „setting", in dem sie als „Spezialisten" auf dem Gebiet von Theologie oder Psychologie aufgesucht werden (Beichte, Kontakt in der Beratungsstelle, Besuch am Krankenbett) eine „Deutungsmacht", die ihre „Klienten" in eine abhängige Position bringen kann. Ihre „Deutungsmacht" wird, - darauf hat Foucault immer wieder hingewiesen - , durch ihr Fachwissen und ihre Fachsprache gestützt und bewirkt, daß sie, ob sie es wollen oder nicht, die Situation ihrer Gesprächspartner deutend definieren und strukturieren. Dadurch findet ein Kulturtransfer statt, der im Extremfall zur entfremdenden Akkulturation mißrät und deswegen kontrolliert werden muß. In der Regel besteht in Seelsorge- und Beratungsgesprächen ein Machtgefälle. Die einen suchen Rat oder Hilfe in einer schwierigen Situation bei einer Person, die sie aufgrund ihrer Lebenserfahrung, ihres Amtes oder ihrer Ausbildung für kompetent halten. Ein verantwortlicher Umgang mit der Macht bedeutet, daß Seelsorgerinnen und Seelsorger ihr Beachtung schenken und sie in den Dienst des „empowerment" ihrer Partner stellen. 12. „Narrativität" als Leitmetapher der Kommunikation in Seelsorge und Beratung und die Hermeneutik des Unverständnisses nötigen dazu, Seelsorger, Berater und ihre „Klienten" als gleichberechtigte Gesprächspartner zu verstehen. Beide sind Erzähler und H ö r e r von Geschichten, die sie sinnhaft interpretieren. 13. „Narrativität" als Leitmetapher relativiert den Status der Theorien, die Seelsorger und Berater ihren Sinndeutungen zugrunde legen. Im Gesprächszusammenhang sind ihre theologischen Grundannahmen ebenso wie ihre anthropologischen, soziologischen, psychologischen und psychotherapeutischen Theorien, selbst wenn diese den Anspruch 152

erheben, empirisch begründet, also durch die Ergebnisse quantitativer Untersuchungen abgesichert zu sein, stories, das heißt narrative Versionen, in denen die Erfahrung interpretierend dargestellt wird. Sie kommen neben die kulturell geprägten stories des Alltagswissens der Partner zu stehen und haben theoretisch zunächst keine größere Berechtigung. 14. Gleichberechtigung in kulturell sensibler Seelsorge und Beratung bedeutet, daß die ratsuchenden Gesprächspartner befähigt werden, ihre stories, ihr Wissen, ihre Version der Wirklichkeit möglichst umfassend zu artikulieren und daß sie die Möglichkeit finden, kulturell stimmige Konfliktlösungen und Möglichkeiten der Lebensgestaltung zu finden. Eine Voraussetzung dafür ist, daß die Seelsorgerinnen und Beraterinnen ihre theoretischen Grundannahmen offenlegen, und daß sie bereit sind, sie kritisch zu überprüfen und zu relativieren. Sie können und sollen, auch nach dem Willen derjenigen, die sie aufsuchen, weil sie ihre Hilfe wünschen, jedoch nicht auf ihre eigene „Deutungskompetenz" und „Deutungsmacht" verzichten. Ein kompetenter Umgang mit der eigenen Macht fordert von ihnen, daß sie sich durch ihre ratsuchenden Gesprächspartner infragestellen lassen und in Supervision ihr eigenes Verhalten regelmäßig kritisch überprüfen. Dabei muß insbesondere der Einfluß kulturell bedingter Einstellungen und Vorurteile als Thema aufgegriffen werden.

153

6. Kapitel: Modelle des Umgangs mit der Kultur in Beratung, Psychotherapie und Seelsorge: Die nordamerikanische Ber atungs litera tur 6.1. Problemstellungen und Hintergründe Wir sind darum bemüht, Grundelemente für eine kulturell sensible Seelsorge und Beratung zu identifizieren. Nach einer Vertiefung in die kulturanthropologischen und theologischen Aspekte des Themas wenden wir uns jetzt den psychologischen Aspekten zu. Wir untersuchen wichtige Theorie- und Therapieansätze, die sich mit der Frage der Kultur und speziell mit dem Problem interkultureller Psychotherapie befaßt haben, auf ihren Beitrag zu Theorie und Praxis der Seelsorge. Dabei konzentrieren wir uns in erster Linie auf die Beiträge der nordamerikanischen Beratungsliteratur 1 . In den letzten 20 Jahren ist in Forschung und Praxis von Beratung und Psychotherapie in den USA das Bewußtsein von der Bedeutung der Kultur als eines zentralen Elements psychischer Phänomene erheblich gestiegen. Das Erwachen des ethnischen Selbstbewußtseins der schwarzen und indigenen Minderheiten hat dazu ebenso beigetragen wie die starke Einwanderung aus Ländern der Dritten Welt, speziell aus Asien und Lateinamerika. 25 % der US-Bevölkerung gehörte nach Angaben der amerikanischen Zensusbehörde im Jahr 1991 zu ethnischen Minderheiten.2 Die Erkenntnis, daß die amerikanische Gesellschaft multikulturell ist und daß damit der Faktor Kultur in Therapie und Beratung als wichtiges Element in Betracht zu ziehen ist, ist unvermeidlich geworden. Sie wird verstärkt durch die Erfahrung der globalen Interaktion und wachsenden Verbundenheit der Kulturen durch neue Kommunikations1 Eine ausführliche Analyse des Beitrags der Ethnopsychoanalyse zur interkulturellen Seelsorge muß hier aus Platzgründen entfallen. Die Ergebnisse meiner Untersuchungen werden zusammengefasst in: Christoph Schneider-Harpprecht. Empowerment und kulturelle Sensibilität: Ziele und Methoden interkultureller Seelsorge. In Ders. (Hg.). Zukunftsperspektiven fiir Seelsorge und Beratung. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener-Verlag 2000, 5364. 2 Teresa D. Laframboise u. a. Ethics in Multicultural Counseling. In: Paul Β. Pedersen u. a. (Hg.). Counseling across cultures, 4. Ausgabe. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage, 1996, 58. 154

techniken, internationale Wirtschaftsbeziehungen und die damit zusammenhängenden Probleme. Die Einsicht, daß das Überleben der nordamerikanischen Gesellschaft und der sich formenden globalen Gemeinschaft abhängig sind von der Zunahme des Wissens über die Interdependenz der Kulturen, hat die Forderung nach einer (inter)kulturellen Psychologie nach sich gezogen. 3 Sie fordert die bisherigen Hauptrichtungen der psychologischen Forschung heraus und hofft, daß die Erforschung der Wirkungen der Kultur auf das menschliche Verhalten schneller zu einem umfassenderen psychologischen Verstehen führt. „As a discipline, mainstream psychology has been faulted both politically and scientifically for its traditional exclusion of diverse groups from study and its claim to have discovered universal laws governing human behavior based on a limited sample of the world's population. The ethnocentrism in identifying one small group of human beings as the ,real' people of the world whose ways of behaving have become the standard for understanding all of human behavior is challenged by all of the varieties of cultural study; their scholarship cannot help but move psychology toward more global perspectives."4 Die (inter)kulturelle Psychologie kritisiert den Ethnozentrismus der Psychologie, die Forschung und Therapie meist auf die weiße Mittelschicht beschränkt hat, aber meinte, universal gültige Regeln und Techniken ableiten zu können. Damit greift die cultural psychology das zentrale Anliegen des cross cultural counseling und der Psychotherapie mit ethnischen Minderheiten auf und sucht sie aus der Marginalisierung zu befreien. Solange die Beschäftigung mit der kulturellen Vielfalt das Anliegen einer speziellen Interessengruppe, der cross cultural psychology blieb und ihre Ergebnisse, meist vergleichende Studien des Verhaltens in verschiedenen Kulturen, in schwer zugänglichen Publikationen verstreut waren, hatte sie wenig Einfluß auf die Psychologie insgesamt. Die Herausforderungen des Feminismus und durch die konstruktivistische Theorie, die danach fragen, wie Personen und Kulturen einander „konstruieren" und den Blick auch auf den Einfluß von politischen und Sozialstrukturen auf das Verhalten richten, haben das Blatt gewendet. 5 3 Jody Bennet Veroff/Nancy Rule Goldberger. What's in a name? The case for „intercultural psychology". In: dies. The culture and psychology reader. New York, London: New York University Press, 1995, 7. 4 Ebd. 5 Ebd., 4. Die breite Beschäftigung mit Fragen der Kultur in Psychologie, Psychotherapie und Beratung spiegelt sich in einer Vielfalt von Subdisziplinen und Theorieansätzen wieder. John MacFadden hat sich um eine Klärung der Terminologie im Bereich der Beratungsarbeit bemüht. Er unterscheidet: mono-cultural counseling (die helfende Beziehung zwischen einem Berater und einem Klienten aus derselben Kultur), bi-lateral counseling (bezieht zwei verschiedene Gesichtspunkte, etwa „Ethnizität, Nationalität, Geschlecht, Religion" usw. in den Beratungsprozeß ein), bi-cultural counseling (Beratung, die zwei Kulturen, z. B. die deutsche und die brasilianische einbezieht), cross-cultural counseling (der individuelle oder gruppale Beratungsprozeß, der verschiedene kulturelle Hintergründe be-

155

6.2.

Die

„cultural

R i c h a r d S h w e d e r d e f i n i e r t cultural

psychology"

psychology

folgendermaßen:

„ C u l t u r a l p s y c h o l o g y is t h e s t u d y o f t h e w a y c u l t u r a l t r a d i t i o n s a n d s o c i a l p r a c t i c e s r e g u l a t e , e x p r e s s , a n d t r a n s f o r m t h e h u m a n p s y c h e , r e s u l t i n g less in p s y c h i c u n i t y f o r h u m a n k i n d t h a n in e t h n i c d i v e r s i t y in m i n d , s e l f a n d e m o t i o n . C u l t u r a l p s y c h o l o g y is t h e s t u d y o f t h e w a y s s u b j e c t a n d o b j e c t , s e l f a n d o t h e r , p s y c h e a n d c u l t u r e , p e r s o n a n d c o n t e x t , f i g u r e a n d g r o u n d , p r a c t i o n e r a n d p r a c t i c e , live together, require each other, and dynamically, dialectically, a n d jointly m a k e up each other".6 Das

Fundament

schen

d e r cultural

bildet die A n n a h m e ,

psychology

aufgrund der Offenheit und Unsicherheit

tuation

sinnhafte Bezüge

zur Umgebung

daß

Men-

ihrer existentiellen

herstellen.

Durch

Si-

Sinngebung

(Intentionalität) konstituieren sie ihre s o z i o k u l t u r e l l e U m w e l t . Sie s c h a f fen intentionale Welten wie etwa die Welt des amerikanischen o d e r die Welt des H e x e n g l a u b e n s nerhalb

dieser

geschaffen von

im E n g l a n d des

intentionalen Welten werden Vorstellungen

oder

erfunden,

intentionalen

die

Zuständen

keine

„natürliche"

Baseball

16. J a h r h u n d e r t s . Realität

(geglaubten Annahmen,

von

In-

Dingen

unabhängig

Wünschen,

Emo-

tionen) haben. Dinge wie die „ C o u c h des Psychoanalytikers" oder stände wie „ S ü n d e " ,

Ereignisse wie „Besessenheit",

„Exorzismus"

„ D i e b s t a h l " u n d „ B e s t r a f u n g " existieren innerhalb intentionaler in d e n e n i h n e n eine b e s t i m m t e B e d e u t u n g b e i g e l e g t w i r d . D i e s e

Zuoder

Welten, Bedeu-

t u n g ist s t ä n d i g i m Fluß. S i e w i r d in I n t e r a k t i o n s p r o z e s s e n n e u d e f i n i e r t u n d m o d i f i z i e r t . D i e Identität v o n S u b j e k t e n u n d O b j e k t e n ist ein dukt

dieses

bedingen

Prozesses.

einander.

Menschen

und

ihre

soziokulturelle

Pro-

Umgebung

I h r e I d e n t i t ä t ist i n t e r d e p e n d e n t u n d k a n n n i c h t

in

rücksichtigt und sich dabei auf bestimmte therapeutische Gebiete konzentriert), multi-cultural counseling („ist eine Situation, in der zwei oder mehrere Personen, die ihre soziale U m g e b u n g unterschiedliche verstehen, in einer helfenden Beziehung zusammenkommen" und sich um Veränderungen bemühen, indem sie die verschiedenen Kulturen besser verstehen lernen), pluralistic counseling (versteht den Pluralismus von verschiedenen kulturellen, ethnischen, sozialen und religiösen Komponenten der Gesellschaft als Grundlage der Interaktion mit Klienten in der Beratung), international counseling (bemüht sich darum, mit den Problemen und Entscheidungen in einer global interdependenten Gesellschaft zurechtzukommen und die d a f ü r notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben), intercultural counseling (diagnostiziert und analysiert Themen und Probleme im Rahmen einer multikulturellen Orientierung, bemüht sich um ein kulturelles Verstehen zwischen Klient und Berater), transcultural counseling (sucht die Stärkung der Klienten und Verbesserung ihrer Funktionen in einer Perspektive, die kulturelle Unterschiede anerkennt und überwindet, Berater überwinden die Grenzen ihrer eigenen kulturellen U m g e b u n g und werden theoretisch und praktisch befähigt, innerhalb anderer Kulturen zu arbeiten) (John M a c F a d den (Hg.). Transcultural counseling. Bilateral and international perspectives. Alexandria: American Counseling Association, 1993, 4 ff.). 6 Richard Shweder. Cultural psychology: What is it. In: Nancy Rule G o l d b e r g e r / J o d y Bennet Veroff (Hg.). The culture and psychology reader, 41. 156

objektive und subjektive, abhängige und unabhängige Variablen aufgeteilt werden. 7 Das markiert den zentralen Kritikpunkt der cultural psychology an der allgemeinen Psychologie: Ihr Ziel ist es, einen universalen, zentralen, abstrakten und transzendenten Mechanismus zu finden, der den Menschen inhärent ist und das Denken, Erleben, Handeln und Lernen ermöglicht. Durch ihre Fixierung auf diese abstrakte und universale innere Struktur, die sie mit quantitativen und qualitativen Methoden zu erforschen sucht, ist die allgemeine Psychologie zu einem platonischen Unternehmen geworden. Die cultural psychology dagegen bestreitet, daß die „Grundelemente des Seelenlebens von Natur aus festgelegt, universal, abstrakt, und innerlich" sind. Das Seelenleben ist für sie vielmehr das Leben intentionaler Personen, die ihre Handlungen auf Vorstellungen von Objekten beziehen, auf sie antworten. Dadurch sind sie an der Hervorbringung einer intentionalen Welt beteiligt. Die Teilnahme an diesem Prozeß wirkt auf sie zurück und führt zu intentionalen Wandlungen der Person. 8 Kultur wird in diesem Zusammenhang aufgefaßt als „the constituted scheme of things for intending persons, or at least that part of the scheme that is inherited or received from the past." 9 Kultur meint also die schon vorhandene intentionale Welt, auf die sich die intentionalen Akte der Personen beziehen, auf deren Grundlage sie interagieren. Zur Kultur gehören alle Arten von mentalen Repräsentationen, die in Institutionen, Handlungsweisen, Artefakten, Technologien, Kunstformen, Texten und Diskursmodi verkörpert und tradiert werden. Die cultural psychology grenzt sich ab gegen andere psychologische Disziplinen, die sich mit der Kultur befassen wie die cross-cultural psychology, die „psychologische Anthropologie" und die „Ethnopsychologie". Nach Shweder sind die cross cultural psychology und die „psychologische Anthropologie" abhängig von der Grundidee des universalen, zentralen psychischen Prozessors der allgemeinen Psychologie. Das Problem der cross cultural psychology besteht darin, daß sie kulturell unterschiedliche Ergebnisse psychologischer Tests mit dieser Grundidee in Einklang zu bringen versucht, etwa mit Hilfe der Argumente, daß Reifungsprozesse durch die soziokulturelle Umgebung verlangsamt wurden, oder daß bestimmte Umweltfaktoren das Verhalten beim Test beeinflußt haben. Das Problem der „psychologischen Anthropologie" besteht darin, daß sie zeigen möchte, wie der zentrale psychische Prozessor durch das soziokulturelle Milieu geformt und beeinflußt wird, jedoch kein dialektisches Verhältnis von Person und Kultur annimmt, das an der Ausbildung der psychischen und kulturellen Realität beteiligt ist. Die „Ethno7 Ebd., 43 f. 8 Ebd., 45 ff.; 66. 9 Ebd., 70.

157

psychologie" hingegen befaßt sich mit indigenen Theorien über das psychische Leben. Ihr Anliegen ähnelt dem der cultural psychology, beschränkt sich jedoch auf die ethnographische Erhebung verschiedener kultureller Vorstellungen vom Selbst, dem Körper und den Emotionen und kümmert sich nicht um das aktuelle psychische Funktionieren und das subjektive Leben von Individuen in verschiedenen Kulturen. 10 Die cultural psychology stellt sich selbst dar als eine „häretische" Art, Psychologie zu betreiben. Was ist ihr Ziel? „The aim of cultural psychology is to examine the different kinds of things that continually happen in social interaction and in social practice as the intentionality of a person meets the intentionality of a world as they jointly facilitate, express, repress, stabilize, transform, and defend each other through and throughout the life of a person or the life of a world. There are histories (narratives) that can be written about each, or both - the history of lives and the history of practices and institutions.""

Der cultural psychology geht es also um die qualitative Beschreibung von Interaktionsprozessen aus der Sicht des Individuums und der Gesellschaft. Sie versteht sich als „interpretierende Unternehmung im Sinne von Geertz." 12 Sie folgt einer narrativen Methode und arbeitet mit den Erzählungen von Personen und Gruppen. Die von Shweder mit der Devise „thinking through others" vorgeschlagenen Arbeitsweise der cultural psychology lehnt sich an die Methode der interpretierenden Kulturanthropologie an. Ihr erster Schritt ist die Anerkennung der Erfahrungen und Realitätskonstruktionen einer anderen Person oder Kultur als Information, die das eigene Selbstverständnis erweitern und verborgene Dimensionen unserer Selbst darstellen können. Andere Personen und Kulturen können Spezialisten im Umgang mit Trauer, Intimität, Erotik, Geschlechtsidentität usw. sein. In einem zweiten Schritt wird dann, immer noch in emischer Perspektive, die Sicht des anderen systematisch rekonstruiert, die Logik der Konstruktion der intentionalen Welt des anderen, zum Beispiel bestimmter Speisegebote oder des Verbots der Wiederverheiratung, wird herausgearbeitet. In einem dritten Schritt wird die Sicht des anderen „dekonstruiert". Der Forscher geht über sie hinaus, setzt sie in Beziehung zu anderen intentionalen Sichtweisen, transformiert sie etwa in ihr Gegenteil, um herauszufinden, was in ihr fehlt, was von ihr unterdrückt oder weggelassen wurde. Der vierte, abschließende Schritt wird getan, wenn der Forscher nun in etischer Perspektive ein kritisches Gesamtbild von der Sicht des anderen entwickelt. Dabei bezieht er sich selbst, seinen eigenen Standpunkt in der Beziehung zum anderen ein.

10 Ebd., 57; 59. 11 Ebd., 71. 12 Ebd., 77.

158

Indem er ein Porträt des anderen entwirft, beschreibt er auch sich selbst.13 Der Grundansatz und die vorgeschlagene Methodik der cultural psychology kommt der von uns bevorzugten Arbeitsweise und unserem anthropologischen Ansatz entgegen. Die Kritik an der generellen Psychologie trifft den Nagel auf den Kopf. Sie wird jedoch zu pauschal, wenn sie auch auf die cross cultural psychology und die „psychologische Anthropologie" angewendet wird. An dieser Stelle muß stärker zwischen unterschiedlichen Theorien und Praxisanweisungen differenziert werden. Die vorgetragene Kritik unterläßt es, die Bedeutung dieser Forschungszweige für die Entwicklung der cultural psychology zu würdigen, die selbst noch in den Kinderschuhen steckt. Es wäre nicht richtig und kurzsichtig, vor allem die kritischen Einsichten des cross cultural counseling als überholt zu übergehen. Das cross cultural counseling vertritt die Perspektive der sozial und kulturell Benachteiligten. Dies schärft die Wahrnehmung von Unterdrückungsprozessen im Bereich von Therapie, Beratung und psychologischer Forschung.

6.3. „ Cross cultural counseling" und die Kritik an der ethnozentrischen Beratung Rassismus und soziale Unterdrückung prägen in den USA das Leben von kulturellen Minderheiten, Schwarzen, Indianern und Einwanderern aus Ländern der 3. Welt. Ihr Anteil an der armen Bevölkerung ist zwar in absoluten Zahlen geringer als der der Weißen, im Verhältnis zu ihrem prozentualen Anteil an der Bevölkerung aber hoch. Armut und kultureller Minderheitenstatus sind also eng verbunden. Obwohl Beratung und Therapie notwendig sind, werden die Beratungsangebote von kulturellen Minderheiten weniger häufig wahrgenommen. Mehr als 50 % von ihnen bricht die Beratung nach der 1 Stunde ab. Die Abbrecherquote der Weißen beträgt 30 %.14 Die Gründe dafür sind nicht, wie ein herkömmliches Vorurteil sagt, in der Unbehandelbarkeit von ethnischen Minderheiten und Unterschichten zu suchen, sondern in der Ausbildung, Theorie und den Einstellungen der Beraters, sowie im Beratungsprozeß. 1. Generell waren Therapeuten und Berater nicht theoretisch oder praktisch auf den Umgang mit kulturell verschiedenen Menschen vorbereitet. Sie hatten keine ausreichenden Kenntnisse von den Werten und Eigenarten der jeweiligen Kultur, konnten ihre Interaktionen mit einer rassistischen Gesellschaft nicht genügend verstehen. Ausbildungspro13 Ebd., 76-79. 14 Derald Wing Sue/David Sue. Counseling the culturally different. 2. Aufl., New York: John Wiley & Sons, 1990, 7.

Theory & Practice.

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gramme halfen den künftigen Beratern und Therapeuten nicht, ihren eigenen Rassismus kennenzulernen. 15 2. Die Theorie von Beratung und Psychotherapie stellte implizit Verbindungen her zwischen dem kulturellen Minoritätenstatus und der Psychopathologie. Die kulturell Verschiedenen wurden ausgehend von den Maßstäben der weißen Mittelklasse leichter als neurotisch oder psychotisch diagnostiziert. Das Interesse der Forschung richtete sich eher auf die Feststellung von Pathologien als auf die gesunden und starken Anteile der Person. Erklärungsmuster für psychische Störungen wie das Modell der genetischen Defizienz, das etwa die Ursachen für geringere IQ-Test Resultate in genetischen Faktoren suchte, oder das Modell der kulturellen Defizienz, das die Gründe für Anpassungsprobleme der Minderheiten in ihrem Lebensstil, ihrer sozialen Umgebung (Leben im Ghetto, Fehlen von kulturellen Anregungen usw.), der Familienstruktur und den Folgen der Armut (Unterernährung) annahm, betonen den pathologischen Aspekt der kulturellen Identität. 16 Die Vorteile und Stärken der Bikulturalität wurden zuwenig berücksichtigt. Die Psychopathologie war sehr stark an der Untersuchung der universalen Struktur psychischer Krankheiten interessiert, die sich mit standardisierten Techniken diagnostizieren lassen. Die kulturvergleichenden Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation über Schizophrenie, Depression und Alkoholismus zum Beispiel zeigten signifikante kulturelle Ähnlichkeiten und signifikante kulturelle Unterschiede. Den Unterschieden wurde jedoch geringe Aufmerksamkeit zuteil. Hier dominiert ein Modell, in dem die psychische Krankheit als eine Einheit angesehen wird, die nur in kulturell unterschiedlicher Verkleidung auftritt, der Kultur also keinen Einfluß auf Entstehung und Verlauf der Erkrankung zugesteht. Damit kann der Kultur der Klienten in Diagnose und Therapie nur eine untergeordnete Bedeutung beigemessen werden. 17 3. Die Struktur des Beratungsprozesses und die Interventionstechniken orientieren sich am euro-amerikanischen Ideal des Individuums. „Grundwerte wie Optimismus, Individualität, Gleichheit, die Glorifizierung der sozialen Mobilität und Ermutigung zu persönlicher Flexibilität" beeinflussen das Ziel der Beratung. Es geht im Beratungsprozeß um „die Selbstbestimmung des Klienten". 18 Diese Zielvorgabe konnte zu Schwierigkeiten im Umgang mit Klienten führen, in deren Kultur

15 Ebd., 15. 16 Ebd., 16 f. 17 Vgl. Arthur Kleinman. D o psychiatric disorders differ in different cultures? The methodological questions. In: Nancy Rule Goldberger/Jody Bennet Veroff (Hg.). The culture and psychology reader, 631 ff. 18 Juris G. Draguns. Humanly universal and culturally distinctive. Charting the course of cultural counseling. In: Paul B. Pedersen . a. Counseling across cultures, 4 f.

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andere Wertvorstellungen vorherrschten. Viele Kulturen vor allem der Dritten Welt betrachten die Gruppe, die Familie oder den Stamm und nicht das Individuum als Grundeinheit des psychosozialen Handelns. Berater konnten Klienten, die ihre Vorgaben nicht teilten, als „unmotiviert, resistent, ohne Fähigkeit ihre Probleme und Erfahrungen zu durchdenken und zu kommunizieren" sehen. Die Klienten ihrerseits mochten den Berater als uninteressiert, zurückgezogen, kalt und in seinen Kommentaren inkompetent erleben. 19 Die Struktur des klassischen Beratungsprozesses ist darauf angelegt, daß in einer Zweierbeziehung zwischen Berater und Klient längerfristig an Zielen gearbeitet wird. Dabei wird zwischen körperlichem und seelischen Wohlbefinden unterschieden, nach Gründen des problematischen Verhaltens gesucht und vom Klienten eine gewisse Offenheit erwartet, über seine Probleme zu sprechen. 20 Diese Betonung verbaler und rationaler Aktivitäten kann ein Hindernis im Beratungsprozeß sein. In asiatischen Kulturen etwa gilt Schweigen als Ausdruck von Respekt. Emotionen werden eher zurückgehalten. Der Klient sucht nicht „insight", das Verständnis seiner Probleme, sondern Ratschläge. Er vermeidet es, über Schwierigkeiten und negative Gefühle zu sprechen. Schwarze Nordamerikaner aus den unteren Schichten sind an Aktionen stärker orientiert als an Worten, suchen augenblickliche oder kurzfristige Problemlösungen und betonen das non-verbale Verhalten. Ahnliches gilt für spanischsprachige Klienten. Sie sind handlungsorientiert, bevorzugen kurzfristige Beratungsziele und sind zurückhaltend im Ausdruck von Emotionen. Amerikaner indianischer, asiatischer und spanischer Herkunft bevorzugen aufgrund ihrer Familienstruktur klar definierte Rollen von Dominanz und Respekt. Beratung sehen sie als einen „autoritativen Prozeß, in dem der gute Berater direktiv und aktiv ist. Er stellt eine Vaterfigur dar." 21 Die Vernachlässigung kultureller Differenzen im Rahmen einer von rassistischen Vorurteilen besetzten kapitalistischen Gesellschaft führte dazu, daß Klienten aus kulturellen Minderheiten Psychotherapie und Beratung mit Mißtrauen begegnen. Wenn sie zur Beratung kommen, stellen sie implizit die Frage: „What makes you, a counselor/therapist, any different from all the others out there who have oppressed and discriminated against me?"22

Die Frage ist realistisch und angemessen, denn ethnozentrische Beratung ist in der Vergangenheit als ein Instrument einseitiger Anpassung an die kulturellen Normen des weißen Amerikas mißbraucht worden. 19 20 21 22

Ebd., 5. Derald Wing Sue/David Sue. Counseling the culturally different, 31 ff. Ebd., 43; vgl. 34 ff. Ebd., 6.

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„While counseling enshrines the concepts of freedom, rational thought, tolerance of new ideas, and equality and justice for all, it can be used as an oppressive instrument by those in power to maintain the status quo. In this respect, counseling becomes a form of oppression in mistreat large groups of people. When used to restrict rather than enhance the well-being and development of the culturally different, it may entail overt and covert forms of prejudice and discrimination."23 Um dies abzuwenden haben nordamerikanische Psychologen und ihre Verbände erhebliche Anstrengungen gemacht. Ausbildungsstandards wurden modifiziert, ethische Richtlinien für den angemessenen Umgang mit kulturell Verschiedenen ausgearbeitet und Ausbildungsprogramme (cross cultural training) entwickelt. Wie weitgehend die Bewußtseinsbildung und die Veränderung der Einstellung gegenüber kulturellen Minderheiten ist, zeigen die 1992 formulierten ethischen Prinzipien der American Psychological Association (APA), einer Dachorganisation nordamerikanischer Psychologen. Unter den generellen ethischen Prinzipien wird dort aufgeführt: „that psychologists accord appropriate respect to the fundamental rights, dignity, and worth of all people and remain aware of cultural, individual, and role differences, including those due to age, gender, ethnicity, national origin, religion, sexual orientation, disability, language, and socioeconomic status. Psychologists are also urged to ,try to eliminate the effect on their work of biases based on those factors'"24 Psychologen in der APA sind verpflichtet, Klienten vor Schädigung durch kulturelle Differenzen zu bewahren und sich um eine Erweiterung ihrer Kompetenz im Umgang mit kulturell Fremden zu bemühen. Dies ist unseres Erachtens wegweisend auch für die Arbeit im Bereich kirchlicher Beratung und Seelsorge. Die Bemühung um ethische Standards wird hier allerdings geleitet sein von theologischen Überlegungen. Die Sensibilisierung für den Faktor Kultur in der Praxis und Ausbildung von Beratern und Therapeuten scheint Früchte getragen zu haben. Eine im Jahr 1989, etwa ein Jahrzehnt nach den ersten Studien über Abbruchraten in Beratung und Psychotherapie, in Seattle durchgeführte Studie fand keine quantitativ konsistenten Unterschiede zwischen ethnischen Minoritäten und Amerikanern europäischen Ursprungs. Eine 1991 von Sue und anderen durchgeführte Studie ergab, daß Amerikaner afrikanischen Ursprungs eine höhere Abbruchrate aufwiesen, während sie bei Amerikanern asiatischer Herkunft geringer war als unter denen mit europäischem Hintergrund. 25 23 Ebd. 24 Teresa D . Laframboise u. a. Ethics in Multicultural Counseling. In: Paul B. Pedersen u. a. Counseling across cultures, 51 ; vgl. American Psychological Association. Ethical principles of psychologists and code conduct. In: American Psychologist, 47, 1597-1611, 1600. 25 Vgl. M.J. O'Sullivan, P. D . Peterson, G. B. Cox, J. Kirkeby. Ethnic Populations:

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Im folgenden soll der Beitrag der Erforschung der Kultur in Beratung und Psychotherapie in den USA unter zwei Gesichtspunkten dargestellt werden: 1 ) das Verständnis des Selbst und der Eingriff der Kultur in die individuelle Entwicklung, 2) Kultur und Familie im Beratungsprozeß.

6.4. Selbst, Person und Kultur 6.4.1. „Referentielles Selbst" und „Index-Selbst" Wie bereits erwähnt, ist das Verständnis des Selbst als Grundlage des Handelns des Klienten und als Bezugsgröße für Interventionen in Beratung und Therapie kulturell äußerst unterschiedlich. Man hat zwischen relationalen und analytischen Kulturtypen unterschieden, in denen sich das Verständnis des Selbst entsprechend der jeweiligen Grundorientierung ausformt. 26 Die westliche Kulturtradition ist analytisch orientiert und hat, so Hope Landrine in einer erhellenden Untersuchung kultureller Selbstbegriffe, ein „referentielles Selbst" ausgebildet, welches das individuelle Subjekt in den Mittelpunkt stellt.27 Relationale Kulturtraditionen sind vertreten in den soziozentrisch strukturierten asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Gesellschaften und haben ein „IndexSelbst" entwickelt, das die Identität von Personen von ihrem sozialen Ort und ihrer sozialen Rolle in der Gemeinschaft definiert. Dabei handelt es sich um weitgehend unbewußt gewordene Vorstellungen vom Selbst, die das Verhalten im weitesten Sinne bestimmen. Nach Landrine ist das referentielle Selbst der westlichen Kultur eine „abgegrenzte, einheitliche, einzigartige, in sich abgeschlossene, nichtkörperliche, geistartige und göttliche" Größe. 28 Das Selbst ist die geistige Seite des Körpers, „ein kognitives und emotionales Universum, das Zentrum von Bewußtsein, Emotion, Urteilsvermögen und Handeln". 29 Es kontrolliert alle kognitiven Prozesse und Aktionen. Das Selbst wird betrachtet als ein freier Akteur, der tut, was er wünscht, Rechte hat und moralisch für das Verhalten verantwortlich ist. Das Selbst ist der Grund, aus dem sich alles Verhalten erklärt. Es ist primär gegenüber dem „Wir" Community mental health services ten years later. In: American Journal of Community Psychology, 17, 1989, 17-30; S. Sue/D. C. Fujino, L. T. Hu, D. T. Takeuchi, N. W. S. Zane. Community mental health services for ethnic minority groups: A test of the cultural responsiveness hypothesis. In: Journal of Counseling Psychology, 59, 1991, 533-540. 26 Vgl. Farah A. Ibrahim, Existential worldview theory: Transcultural counseling. In: John MacFadden, Transcultural counseling, 26 f. 27 Zur folgenden Darstellung vgl. H o p e Landrine. Clinical implications of cultural differences: T h e referential versus the indexical self. In: Nancy Rule Goldberger/Jody Bennet Veroff (Hg.). The culture and psychology reader, 744-766. 28 Ebd., 747. 29 Ebd.

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der Gemeinschaft. Beziehungen des Selbst sind von ihm selbst abgeleitet, werden von ihm angeknüpft, aufrechterhalten oder abgebrochen. Die größeren sozialen Einheiten wie die Familie, Betriebe und Institutionen haben die Aufgabe, dem Selbst zu dienen, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Zwischen Selbst und Nicht-Selbst wird scharf getrennt. Das NichtSelbst ist alles, was kein eigenes Selbst besitzt. Es gilt damit auch als nicht menschlich und wird zum Objekt der Handlungen des Selbst. Das Selbst wirkt aktiv auf die Welt und andere Selbste ein, verändert sie entsprechend seinen Wünschen und Notwendigkeiten, vermeidet Schädigungen und Bestrafungen. Es erhält sich selbst aufrecht befindet sich ständig in einem Entwicklungsprozeß, in welchem es sich weiter differenziert, aktualisiert, kontrolliert und verändert. Das Konzept des referentiellen Selbst ist die normative Grundlage der westlichen Psychopathologie. Wer das Selbst als etwas fremdes, automatisches, außerhalb gelegenes erlebt, kann mit Diagnosen wie Derealisation, Depersonalisation, Illusion usw. belegt werden. Wer es verfehlt, Situationen aktiv zu meistern, seine Zeit zu organisieren, seine Emotionen zu kontrollieren, kann als passiv oder depressiv gelten. Wer nicht klar zwischen Selbst und Nicht-Selbst unterscheidet, scheint Denkstörungen zu haben und im magischen Denken steckengeblieben zu sein. Wer meint, daß seine Gedanken und Gefühle andere Ursprünge hätten als das Selbst, erregt ebenfalls den Verdacht, Denkstörungen, Illusionen oder Zwangsideen zu haben. Eine Person, die nicht fähig ist, über sich selbst zu reflektieren, sich um Selbstbestimmung, Selbstaktualisierung, Wachstum und Selbstkontrolle zu bemühen, gilt als psychisch gestört. Landrines Sicht des referentiellen Selbst als Konstrukt macht in eindrucksvoller Weise deutlich, wie stark die Psychopathologie auf kulturellen Vorstellungen und Wertigkeiten beruht. Menschen aus nicht-westlichen Kulturen werden dabei quasi automatisch als von der Norm abweichend und deshalb pathologisch eingestuft. Das Index-Selbst der soziozentrischen Kulturen ist keine „abgegrenzte, vollständig separate oder einzigartige" Größe. Es wird konstituiert und immer wieder von neuem geschaffen in sozialen Interaktionen, durch Kontexte und Beziehungen. Das Index-Selbst ist ein prozeßhaftes Geschehen, hat keine bleibenden Charakteristiken, keine Wünsche oder Bedürfnisse, die unabhängig vom sozialen Kontext wären. Es kann nicht als eine von der Gemeinschaft der Familie, der Gruppe, des Stammes abgetrennte Einheit betrachtet werden. Es trennt auch nicht zwischen natürlicher und übernatürlicher Welt, kann vielmehr Teile der Natur oder der übernatürlichen Welt der Götter, Geister, Ahnen einschließen. Das Index-Selbst ist je nach dem kulturellen Umfeld bestimmt von der sozialen Rolle, oder es wird als Empfänger immaterieller Kräfte oder als Illusion betrachtet. In den Kulturen Lateinamerikas und Afrikas wird das Selbst unbewußt mit der sozialen Rolle identifiziert. 164

„Persons [are] fundamentally citizens of the polis, members of their religious communities, spouses, soldiers, and so forth, not merely individuals as such . . . There [is] no stepping outside one's community and one's roles within the community and it's behalf. To be outside [is] in effect to be non-existent, a stranger, or dead .. ."30

Entsprechend suchen die Personen die Rollenerwartungen, die in der Familie und in anderen Gruppen an sie gestellt werden zu erfüllen. Verfehlen sie das, so fallen sie aus der Gemeinschaft und verlieren sich selbst. Sie sind sozial gestorben. Dies erklärt, warum das Versagen in sozialen Rollen, etwa die Arbeitslosigkeit des Vaters, der nicht mehr in der Lage ist, seine Familie angemessen zu versorgen, oder eine uneheliche Schwangerschaft zu agitierten Stress- und Panikreaktionen führen kann. Eine Anzahl von indianischen und asiatischen Kulturen versteht das Selbst als ein „Gefäß für immaterielle Kräfte und Entitäten". „The individual is understood as a more or less irrelevant and dead shell through which the spirits of ancestors and a multitude of immaterial entities pass, thereby lending the appearance or illusion that the individual has characteristics."3'

Im Hinduismus und Zen-Buddhismus erscheint das Selbst als eine Illusion. Für Hindus sind alle Dinge, Lebewesen, Geister und Götter illusionäre Verschleierungen des Brahman, der basalen Einheit des Seins. Es ist offensichtlich, daß diese Vorstellungen aus der Sicht westlicher Psychopathologie zu Diagnosen wie Borderline oder Schizophrenie führen. Personen aus Kulturen mit einem Index-Selbst in westlichen Ländern laufen Gefahr, als schwer psychisch krank abgestempelt zu werden. Es wäre vollkommen verfehlt, die Behandlung psychischer Störungen in diesen Kulturen an westlichen Maßstäben auszurichten. Wenn etwa in Lateinamerika das Index-Selbst als soziale Rolle aufgefaßt wird, ist es geboten, an den Störungen in der Rollenwahrnehmung und im Rollenverhalten zu arbeiten. Dabei muß die Familie und gegebenenfalls das soziale Netzwerk in die Beratung mit einbezogen werden. Es wäre ineffektiv, den Klienten individuell zu behandeln. Im Umgang mit Klienten, in deren Kultur das Selbst in Beziehung steht mit übernatürlichen Kräften, ist kognitive Flexibilität gefordert. Der Berater muß sich auf die Vorstellungen von Göttern, Geistern und Gespenstern einlassen können.

6.4.2. Kultur und psycho-soziale Entwicklung Die Entwicklungspsychologie hat lange mit universalen Modellen gearbeitet, die den Beitrag von Kultur, Rasse und Geschlecht nicht beachtet haben. Man suchte nach universellen Regeln optimaler Entwicklung und 30 Ebd., 754. 31 Ebd., 757.

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fand etwa, daß „enge soziale Beziehungen, besonders in den Monaten nach dem ersten Geburtstag ein auffallendes Merkmal im Leben von Kindern war, die sich am besten entwickelten". 32 Daraus wurde dann abgeleitet, daß Kinder aus Slums, Ghettos und Minoritätenkulturen in Schule und Gesellschaft weniger erfolgreich sind als die Kinder von „Ärzten, Anwälten oder Professoren", weil sie in einem Milieu aufwachsen, das geprägt ist von sozialer Not und Verzweiflung, die den Kindern von den Eltern übermittelt werden. Durch ihre Erziehungspraktiken hemmen sie die geistige Entwicklung und geben ihren Kindern nicht die notwendigen abstrakten Fertigkeiten mit. Man hat dann vorgeschlagen, diese „Defizite" nicht etwa durch Verbesserungen der sozialen Lage aufzuarbeiten, sondern den Eltern zusätzliche Erziehungspraktiken beizubringen. 33 Ein Versuch, sich von derartigen Verengungen zu befreien ist das von John Ogbu vorgeschlagene „kulturökologische Modell" der Entwicklung menschlicher Kompetenz. Wenn von Kompetenz die Rede ist, so geht es nicht um die psychosoziale Entwicklung insgesamt. Vielmehr wird nach den Fertigkeiten gefragt, die einem Individuum helfen, die in seiner Gesellschaft gegebenen Realitäten erfolgreich zu bewältigen. Dazu gehören kognitive oder intellektuelle, soziale, emotionale und praktische Fertigkeiten. 34 Das kulturökologische Modell der Kompetenzentwicklung entwickelt folgendes Argument: Jede Bevölkerungsgruppe hat bestimmte instrumenteile Kompetenzen erworben, um ihre sozialen Bedürfnisse zu befriedigen. „Diese sozialen Bedürfnisse können als kulturelle Aufgaben definiert werden, die je nach Lebensalter, Geschlecht oder anderen Kriterien spezifiziert werden" 35 Zu den kulturellen Aufgaben gehören die Sorge für den Lebensunterhalt, soziale Beziehungen, politische Organisation und anderes. Offensichtlich gelingt es den meisten Erwachsenen, die von der Kultur definierten Aufgaben mit ausreichendem Erfolg zu erfüllen. Es muß also Erziehungstechniken geben, die den Kindern helfen, die in ihrer Kultur geforderten Kompetenzen zu erwerben. Nach Ogbu verbinden sich kulturspezifische Bedürfnisse, daraus resultierende Aufgaben, Erziehungs- und Sozialisationspraktiken in einem ökologischen Regelkreis. Kindererziehung ist ein Prozeß, kulturell festgelegte Kompetenzen einzuschärfen und zu verinnerlichen. Eltern und Erzieher handeln dabei als Agenten der Gesellschaft. In der Regel folgen ihre Erziehungspraktiken den kulturellen Maßstäben, die ihrerseits von kollektiven Erfah32 B. L. White. The origins of human competence: The final report of the Harvard preschool project. Lexington, Mass.: Heath, 1979, (zit nach: John U. Ogbu. Origins of human competence: A cultural-ecological perspective. In: Nancy Rule Goldberger/Jody Bennet Veroff (Hg.). The culture and psychology reader; 247). 33 Ebd., 249. 34 Ebd., 247. 35 Ebd., 253.

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rangen geprägt sind, wie man die von der Umgebung gestellten Anforderungen effektiv bewältigen kann. In jeder Kultur gibt es eine populäre Theorie des Erfolges, wie man „es schafft". Sie schlägt sich in einer populären Theorie der Erziehung nieder. So stellt sich die Praxis der Kindererziehung dar als „kulturell organisiertes System" der Übermittlung von Erfahrungen und Fertigkeiten. 36 Das kulturökologische Modell der Kompetenzentwicklung verändert die Sicht der Entwicklung in kulturellen Minoritäten und von gesellschaftlichen Unterschichten. Dies wirft auch ein Licht auf die Sozialisation in der Subkultur der Favelas in lateinamerikanischen Ballungsgebieten. Kinder und Jugendliche in den Großstadtghettos der Schwarzen in den USA wachsen in einer Realität auf, die geprägt ist von Arbeitslosigkeit und untergeordneten Gelegenheitsarbeiten. Zur Subsistenzsicherung hat sich eine alternative „street economy" entwickelt. Wichtige Uberlebensstrategien sind „Zusammenarbeit, das Ausnutzen von Beziehungen, Gaunereien, Zuhälterei . . . , Entertainment, Sport und ähnliches." 37 Erfolgreiche Erwachsene müssen Kompetenzen in diesen Handlungsformen entwickeln. Die populäre Theorie des sozialen Erfolgs setzt nicht so sehr auf die Schule als Vorbereitung auf das Berufsleben. Die Instabilität der Straßenökonomie erfordert hohe Flexibilität und Mobilität vor allem der Väter. Das erschwert eine kontinuierliche Beteiligung an der Kindererziehung und stabile eheliche Beziehungen. Das soziale Netz von Verwandten und Freunden wird an der Kindererziehung beteiligt und Institutionen der Sozial- und Jugendhilfe werden ebenfalls zur finanziellen Unterstützung oder Kontrolle einbezogen. Erziehungsweisen wie die Pflege einer symbiotischen, sehr affektiven und emotional warmen Beziehung in der Kindheit, die in der Latenz und Adoleszenz umschlägt in eine emotional arme und unterkühlte Beziehung mit unklaren Rollenanforderungen, häufiger verbaler Zurückweisung und physischer Bestrafung, können als Strategien angesehen werden, überlebensnotwendige Haltungen und Fertigkeiten herauszubilden wie etwa Mißtrauen gegen Autoritäten, Selbstvertrauen, die Fähigkeit sich zu wehren, Leute und Situationen zu beeinflussen.38 Neben Familie, Schule und Kirche ist die Straße ein wichtiges Sozialisationsfeld, in dem Kinder und Jugendliche funktionale Kompetenzen erwerben. Die kulturökologische Sicht der Entwicklung betont die Funktionalität kultureller und subkultureller Erziehung und Sozialisation. Sie verzichtet auf eine negative Bewertung alternativer Kulturmuster, würdigt ihre Sinnhaftigkeit und betont Stärken und Kompetenzen. Sie verweist auf die ökonomische Organisation, die politische Situation und soziale Einstellungen gegenüber Rasse und Geschlecht als Umweltfaktoren, die auf die 36 Ebd., 257. 37 Ebd., 265. 38 Ebd., 266.

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Sozialisation einwirken. Das schärft den in Psychotherapie, Beratung und Seelsorge mit Personen und Gruppen aus Subkulturen Tätigen den Blick für die Notwendigkeit, die soziale und kulturelle Umgebung, das jeweilige Netzwerk von Beziehungen zu berücksichtigen und die eigene Arbeit auf breiterer Ebene mit der Suche nach Veränderungen der ökonomischen und politischen Lage zu verbinden.

6.4.3. Geschlecht und Rasse im interkulturellen Beratungsprozeß In der Literatur wird allgemein die fehlende Wahrnehmung der Situation von Frauen und der Geschlechterproblematik (gender) in der interkulturellen Beratung beklagt. 39 Entweder hat man Theorien über die rassenund kulturspezifische Identitätsentwicklung entworfen, die auf die Geschlechterfrage nicht eingingen, oder man hat, so Oliva Espins Einwand gegen Vertreterinnen der feministischen Psychologie, lange Jahre hindurch die Meinung vertreten, daß der Feminismus farbigen Frauen nichts anzubieten habe. Sie stellt fest, daß Rassismus und Sexismus machtvollen Einfluß auf das Leben dieser Frauen haben. Arme farbige Frauen sind davon besonders betroffen. „The oppression to which all women are subjected in one form or another is intensified in the case of poor and working-class women of color by the oppression of these [poor and working class] men." 40

Wir haben also zu unterscheiden zwischen der Geschlechtsidentität und Hautfarbe oder Rasse als kulturellen Faktoren, die sozial zusammenwirken und an der Realität von Armut und Unterdrückung mitwirken. Diese Differenzierung versteht sich nicht von selbst. Die psychologische Forschung in Nordamerika, auch wenn sie unter feministischem Vorzeichen stand, hat oft stereotyp Frauen aus der sozialen Unterschicht und farbige Frauen identifiziert. Das normative Bild der durchschnittlichen Frau, die weiß ist und zur Mittelklasse gehört, hat ein Gegenbild hervorgebracht, das suggeriert, daß die normale Unterschichtfrau farbig, das heißt afrikanischer, asiatischer oder lateinamerikanischer Herkunft ist.41 Diese Ste39 Vgl. L. Sunny Hansen, Elizabeth M. P. Gama. Gender issues in multicultural counseling. In: Paul P. Persen u. a. Counseling across cultures, 77; Oliva M. Espin. Feminist approaches. In: Lilian Comas-Diaz, Beverly Greene. Women of color. Integrating ethnic and gender identities in psychotherapy. New York, London: The Guilford Press, 1994, 265; Stephanie Riger. Epistemological debates, feminist voices: Science, social values, and the study of women. In: Nancy Rule Goldberger/Jody Bennet Veroff (Hg.). The culture and psychology reader, 139 ff. 40 Oliva M. Espin. Feminist approaches, 266. 41 Pamela Trotman Reid. Poor women in psychological research: Shut up and shut out. In: Nancy Rule Goldberger/Jody Bennet Veroff (Hg.). The culture and psychology reader, 192.

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reotypen haben dazu beigetragen, daß zum einen die Realität farbiger Frauen verzerrt wahrgenommen wurde, und zum anderen nicht erkannt wurde, daß die rassistische Feindseligkeit gegen ethnische Minoritäten ein wesentlicher Faktor bei der Entstehung von H a ß und Ablehnung von Armen und Obdachlosen ist.42 Eine der Konsequenzen ist die Vernachlässigung des Themas „Armut" in der Frauenforschung. Statistische Daten zeigen, daß 1991 zwei Drittel der armen Frauen in den USA weiß waren, daß aber überdurchschnittlich viele Frauen der afrikanischen (6 Millionen = 35 % aller schwarzen Frauen) und lateinamerikanischen Minderheit (3 Millionen = 30 % aller Latino-Frauen) unter der Armutsgrenze lebten. Das bedeutet, daß zwischen Rasse, Geschlecht und sozialer Schicht als Kulturfaktoren, die das Leben von Frauen beeinflussen zwar unterschieden, zugleich aber der jeweilige Zusammenhang beachtet werden muß. 6.4.3.1.

Die geschlechtliche

Identität

(gender) als kulturelles

Konstrukt

Weiblichkeit und Männlichkeit sind kulturelle Konstrukte. Das hat die Erforschung der Geschlechteridentität mit Sicherheit festgestellt. Die Untersuchungen von Stoller, die in den letzten Jahren zunehmend an Einfluß gewannen, bestätigen, daß sich die geschlechtliche Identität aufgrund kultureller Zuschreibungen ergibt. Jungen, die ohne Penis geboren wurden, fühlen sich als männlich, wenn sie so erzogen wurden. Transsexuelle Männer meinen, sie wären weiblich, wenn sie entsprechend erzogen wurden, obwohl sie männliche Geschlechtsteile haben. 43 Für beide Geschlechter ist die Mutter die primäre Identifikationsfigur. Nancy Chodorows psychoanalytische Theorie der psycho-sozialen Entwicklung der Weiblichkeit hat die Meinung vertreten, daß die Entwicklung der männlichen Geschlechtsidentität komplizierter ist als die von Frauen, da sie sich zunächst aus der Identifizierung mit der Mutter lösen müssen, um sich dann durch die Identifizierung mit der Figur des Vaters zu ersetzen. 44 Mit dem Erwerb der Sprache übernehmen Kinder kulturelle Stereotypen des Mannseins und Frauseins als Selbstverständlichkeiten. Eine von William und Best 1982 an 2.800 weiblichen und männlichen Studenten aus 28 verschiedenen Ländern durchgeführte Studie, in der sie 300 Adjektive, die psychologische Charakteristiken beschreiben, als weiblich oder männlich bewerten sollten, ergab zum einem erhebliche Unterschiede in der Sicht von Geschlechtsrollen, zum anderen aber einen erstaunlichen interkulturellen Konsens. Mehr als zwei Drittel der Testteilnehmer wählten als männliche Charakteristiken: 42 Ebd., 191. 43 Vgl. Katharina Liebsch. Vom Weib zur Weiblichkeit. Psychoanalytische in feministischer Theorie. Bielefeld: Kleine-Verlag, 1994, 63. 44 Ebd.

Konstruktionen

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„aktiv, abenteuerlustig, aggressiv, ehrgeizig, arrogant, durchsetzungsfähig, autokratisch, klar denkend, mutig, grausam, kühn, bestimmt, unordentlich, energisch, unternehmerisch, hartherzig, unabhängig, initiativ, erfinderisch, logisch, rational, realistisch, robust, voll Selbstvertrauen, stark und weise."

Frauen hingegen wurden charakterisiert als: „berührbar, liebevoll, attraktiv, charmant, neugierig, abhängig, träumerisch, emotional, furchtsam, nett, sanft, sensibel, sentimental, sexy, weichherzig, unterwürfig, abergläubisch, geschwätzig und schwach"45

Dieses interkulturell stereotype Männer- und Frauenbild wurde bestätigt durch eine Untersuchung von Williams und Best an Kindern der Altersgruppen 5 bis 6 und 8 bis 9 aus 24 Ländern. Die Beschreibung von Männern und Frauen stimmte mit der der Erwachsenen überein. Die Stereotypisierung war bereits bei Fünfjährigen feststellbar und verstärkte sich bei den Achtjährigen. Typisiert man, so wird Männern eher die Dimension „Kompetenz - Rationalität - Durchsetzungsfähigkeit" zugeschrieben, während auf Frauen eher die Dimension „Personalisierung Wärme - Expressivität" zutrifft. In allen untersuchten Ländern variiert das Bild der Geschlechtsrollen zwischen Gleichberechtigung und traditionellen Mustern. Die traditionellen Stereotypen werden perpetuiert, obwohl andere Untersuchungen keine signifikanten Unterschiede zwischen Männern und Frauen auf Gebieten wie „Kompetitivität, Dominanz, Fürsorglichkeit, Beeinflußbarkeit, Soziabilität, Aktivitätsniveau, Selbstwertschätzung, Willfährigkeit, analytische Fähigkeiten, Grad der Ängstlichkeit und Zielmotivation" gefunden haben. 46 „The consistent evidence of the existence of gender-role stereotyping within and across cultures should not suggest that men and women are each a homogeneous and monolithic group distinct from each other but with no internal differences."47

Die Stereotypenbildung ist ein Problem, das Klienten und Therapeuten im interkulturellen Beratungsprozeß betrifft und, wenn es nicht bewußt angegangen wird, die Kluft zwischen den Geschlechtern aufrechterhält oder vertieft. Die feministische Psychologie hat die Perpetuierung von Geschlechtsrollen-Stereotypen in der psychologischen Forschung aufgedeckt. An Erik H . Eriksons Modell der Identitätsentwicklung im Lebenszyklus wurde kritisiert, daß er eine Konzeption weiblicher Identität vermittelt, die definiert wird durch Attraktivität, die Aufgabe, einen Mann zu finden und sich um die Kinder zu sorgen. Er repräsentiert eine Vorstellung von weiblicher Identität, die von der Frau fordert, zuerst zu lernen, abhängig zu sein und danach, in einigen Ausnahmefällen, unabhängig zu werden. 45 L. Sunny Hansen, Elizabeth M. P. Gama. Gender issues, 84. 46 Ebd., 85. 47 Ebd., 86.

170

Berühmt geworden sind Carol Gilligans Untersuchungen zur Entwicklung des moralischen Urteils bei Männern und Frauen. Sie zeigt auf, daß Kohlbergs Modell der Entwicklungsstufen des moralischen Urteils von männlichen Denk- und Vorstellungsmustern ausgeht, während Frauen eine andere, personale und beziehungsorientierte Art haben, mit moralischen Fragen umzugehen und deswegen in Kohlbergs Schema im Vergleich zu den Männern leicht als moralisch weniger weit entwickelt erscheinen. Gilligan entwickelt differenzierte Konzepte männlicher und weiblicher Moral. Die männliche „Rechtsmoral" betont die Trennung, das faire Aushandeln von Ansprüchen und die Gleichbehandlung der Partner. Die weibliche „Verantwortungsethik" betont die persönliche Beziehung und Verbundenheit, sie stellt Werte wie Gerechtigkeit, Fürsorge, Empathie und die Anerkennung verschiedener Bedürfnisse in den Mittelpunkt. 48 Für die Theorie und Praxis von Beratung und Seelsorge bedeuten diese Erkenntnisse, daß sie mit einer geschlechtsspezifischen Orientierung von Männern und Frauen rechnen müssen, die dazu führt, daß diese ihre Beziehungsrealität unterschiedlich konstruieren und wahrnehmen. Frauen betonen den Aspekt der Bezogenheit stärker und Männer den Aspekt der Trennung. Der unterschiedliche Umgang der Geschlechter mit Emotionen, das Verhalten in Konflikten und die Art und Weise, Entscheidungen zu treffen müssen im Beratungsprozeß berücksichtigt werden. Angesichts der interkulturellen Unterdrückung von Frauen ist es geboten, Forderungen der feministischen Psychotherapie in die interkulturelle Beratung aufzunehmen. Es geht darum, Einseitigkeiten und Verengungen in der Theoriebildung aufzuzeigen, die biographische Erfahrung von Frauen in den Mittelpunkt zu stellen, Machtbeziehungen als Grundlage patriarchalischer Formen des sozialen Lebens zu erkennen, die aufgrund von Machtbeziehungen konstruierten Vorstellungen der Geschlechtsrollenidentität als zentralen Punkt in Theorie und Praxis zu berücksichtigen, auf Formen der Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen wie sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, physische und verbale Gewaltanwendung zu achten, sich um eine inklusive Sprache zu bemühen und politische Aktivitäten, die auf mehr Gerechtigkeit in den Geschlechterbeziehungen hinarbeiten, zu unterstützen. 49

48 Carol Gilligan, In a different voice, 156 ff.; vgl. L. Sunny Hansen, Elizabeth M. P. Gama. Gender issues, 88. 49 Ebd., 89.

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6.4.3.2. Der Einfluß psychologischer „nigrescence" auf den Beratungsprozeß50 Was bedeutet es, als Mensch schwarzer Hautfarbe in einer rassistischen Umgebung zu leben? Die seit Anfang der siebziger Jahre (Cross-Modell 1971) entwickelte nigrescence-Theorie hat die pauschale Idee vom „Selbsthaß der Schwarzen" abgelöst und versucht, den Prozeß systematisch zu erfassen, den eine Person durchläuft, die mit rassebedingten Vorurteilen und sozialen Benachteiligungen konfrontiert ist. Sie hat ein Modell mit mehreren Stufen entwickelt und eine direkte Beziehung zwischen der psycho-sozialen Identität im Sinne Eriksons und der Stufe der „nigrescence"-Entwicklung hergestellt. Die Stufen im Prozeß der nigrescenceEntwicklung sind: 1. Pre-encounter (vor dem feindlichen Zusammenstoß mit rassistischen Haltungen/Vorurteilen/Nachteilen): Charakteristisch sind niedrig entwickeltes ethnisches Selbst-Bewußtsein, gruppenbezogene Identität, Orientierung an Normen, Werten und Handlungsmustern der dominanten weißen Kultur, Wunsch nach Akkulturation in der weißen Gesellschaft, oft Entwertung des Faktums, ein „Schwarzer" zu sein. 2. Encounter (Ereignis oder Ereignisse, die der Person deutlich machen, daß sie mehr kulturelles Selbstbewußtsein und Akzeptanz ihrer Hautfarbe braucht): der erste Schritt ist das Erleben einer Krise der bisherigen Einstellung, die dann eine Umgestaltung der Weltanschauung einleitet. 3. Immersion-Emersion (das Ubergangsstadium des Hineingehens in die neue „schwarze" Identität und das Herausgehen aus der alten Identität): ein Ubergangsstadium, in dem der Stolz, ein „Schwarzer" zu sein, wächst, das Zurückblicken auf die Identifikation mit der weißen Kultur aber noch mit Schuldgefühlen und Wut verbunden ist. 4. Internalization (Verinnerlichung der neuen Identität): die inneren Identitätskonflikte sind gelöst. Globale Antipathien gegen Weiße und gegen die weiße Kultur treten zurück zugunsten einer „flexibleren, toleranteren bikulturellen/multikulturellen" Einstellung. 5. Internalization-Commitment (Verinnerlichung und Verpflichtung): schwarze Kultur und Hautfarbe bekommen wachsende Bedeutung für die Organisation des täglichen Lebens, weit über die ursprünglich verinnerlichte Einstellung hinaus. 51 50 Der Begriff nigrescence (im Portugiesischen negritude) ist eine nicht adäquat übersetzbare Neuschöpfung, die aus dem Französischen stammt. Er benennt die Selbsterfahrung und ethnische Identität der Bevölkerung afrikanischen Ursprungs in verschiedenen Kontinenten oder, mit anderen Worten, den Prozeß, in dem man ein „Schwarzer", „ein Farbiger" wird (vgl. William E. Cross, Peony Fhagen-Smith. Nigrescence and ego-identity development. Black identity patterns. In: Paul B. Pedersen u. a. Counseling across cultures, 111). 51 Ebd., 112; Derald Wing Sue/David Sue. Counseling the culturally different, 94 f.

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Neuere Untersuchungen haben Cross dazu veranlaßt, das Modell zu revidieren. Seine ursprüngliche Annahme trifft nicht zu, daß die Pre-Encounter Stufe generell durch Identitätsverwirrung (Selbsthaß, „geringes Selbstwertgefühl, verstärkte Depression, Hypersensibilität, Feindseligkeit, vermehrte Angst und eine defätistische Haltung") gekennzeichnet ist, während in der Immersion-Emersion Stufe alles im Fluß ist und die Internalization begleitet ist von „hohem Selbstwertgefühl, geringer Depression, hoffnungsvollen Zukunftsaussichten, hohem Niveau an persönlicher Effizienz, einem größeren Gefühl der Selbstaktualisierung." 52 H o hes Selbstwertgefühl und Ich-Stärke, die in Nordamerika generell als Indikatoren psychischer Gesundheit gelten, können einhergehen mit einem starken Bewußtsein „schwarzer" Identität. Sie können jedoch auch andere Wurzeln haben, etwa die Identifikation mit der HomosexuellenBewegung und ihren sexuellen Einstellungen, oder „Religion, Politik, sozialen Status, Zugehörigkeit zu einer Gang, Beruf." 53 Es ist also notwendig, die Vielfalt und individuelle Differenzierung der Identitätsentwicklung zu beachten. Sie kann bedingt sein durch sozio-kulturellen Kontext, die Familienstruktur, den sozioökonomischen Status, die Qualität und Dynamik der Nachbarschaft. „Any minority identity model, that is applied to the Black experience must be able to explain h o w the status of , achieved identity' can be found in Blacks w h o either d o or d o not make race salient to their worldview." 54

Atkinson, Morton und Sue haben das ursprünglich aus der Erfahrung schwarzer Nordamerikaner erwachsene Stufenmodell auf die Erfahrung anderer Minoritätengruppen übertragen, die „ähnliche Muster der Anpassung an kulturelle Unterdrückung" teilen, und ein leicht modifiziertes Schema entwickelt, das sie Minority Identity Model (MID) oder Racial/Cultural Identity Development Model (R/CID) genannt haben. Es umfaßt folgende Stadien: 1) Konformität, 2) Dissonanz, 3) Widerstand und Immersion, 4) Introspektion, 5) Integratives Bewußtsein, die inhaltlich weitgehend mit Cross' nigrescence-Modell übereinstimmen. Die jeweiligen Stadien stellen spezifische Anforderungen an den Berater: 1. Konformitäts-Stadium: Klienten können weiße Berater/innen bevorzugen und versuchen, dem Berater zu Gefallen zu sein, sich an ihn anzupassen und von ihm abhängig zu machen. Meist werden sie es bedrohlich finden, über Gefühle zu sprechen, weil dies Ängste oder das geringe Selbstwertgefühl anrührt. Sie bevorzugen die Arbeit an konkreten Aufgaben. Beraterinnen aus kulturellen Minoritäten können feindselig behandelt werden, weil sie all das repräsentieren, was der 52 William E. Cross, Peony Fhagen-Smith. Nigrescence and ego-identity development. In: Paul Pedersen u.a. Counseling across cultures, 112. 53 Ebd., 116. 54 Ebd., 117.

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Klient bei sich selbst ablehnt. Ziel der Beratung muß es sein, in einer Art „Reedukation" Konflikte zu thematisieren, die mit der Kulturund Rassenidentität zu tun haben. 2. Dissonanz-Stadium·. Klienten können Beraterinnen bevorzugen, die ihre kulturelle Gruppe gut kennen. In der Regel haben Beraterinnen, die aus Minoritäten stammen, mehr Kenntnisse und eine bessere Wahrnehmung der Gefühle des Klienten, der dennoch weiße Beraterinnen bevorzugen mag. Ziel der Beratung ist die vertiefte Auseinandersetzung mit Identitätskonflikten. 3. Widerstands- und Immersions-Stadium". Die Klienten neigen dazu, psychologische Probleme als „Produkte von Unterdrückung und Rassismus" zu verstehen. Sie bevorzugen Beraterinnen aus kulturellen Minoritäten, können feindselig auf weiße Beraterinnen reagieren und mißtrauisch gegen die Beratungsinstitution sein, die für sie ein Ausdruck des weißen Establishment ist. Sie testen ihre Beraterinnen ständig, unabhängig davon, ob sie weiß oder farbig sind. Beraterinnen sollen vermeiden, die Angriffe und die Feindseligkeit persönlich zu nehmen, sich als Person angegriffen zu fühlen und defensive Haltungen einzunehmen (die Gesellschaft zu verteidigen, sich schuldig zu fühlen usw.). Damit blockieren sie effektive Beratungsarbeit. Ihr Ziel muß es sein, dem Klienten zu helfen, neue Wege auszuprobieren, mit Minoritäten und mit Weißen umzugehen. Beratungsformen, die aktionsorientiert sind und an äußeren Veränderungen arbeiten, auch Gruppenberatung werden von den Klienten bevorzugt. 4. Introspektives-Stadium: Die Klienten können weiterhin Beraterinnen aus ihrer Kulturgruppe bevorzugen, akzeptieren aber auch Vertreter anderer Kulturen. Sie haben eine individuelle und autonome Position gefunden, in der sich die Wertschätzung der eigenen Rasse und Kultur verbindet mit Offenheit für andere Kulturen, der Bereitschaft zur Kooperation und zur Distanzierung von bestimmten negativen Qualitäten der eigenen Gruppe. Von außen kann dies fälschlich mit „Konformität" verwechselt werden. Ziel der Beratung ist es, bestimmte Themen anzugehen, die der Klient vertiefen möchte und die Wertschätzung der eigenen Kultur zu unterstützen. 5. Stadium integrativen Bewußtseins: Sicherheit und Autonomie in bezug auf die kulturelle Identität haben sich vertieft. Die Klienten können eine multikulturelle Perspektive übernehmen. Sie sind sich der Unterdrückungsproblematik bewußt und haben mehr psychische Kapazitäten, damit umzugehen. Ähnlichkeiten der Einstellung im Verhältnis zu Beraterinnen sind wichtiger als kulturelle Gruppenzugehörigkeit. 55 Derald und David Sue und andere Autoren betonen, wie notwendig es ist, daß sich weiße Berater mit den Kultur- und Rassenaspekten ihrer 55 Vgl. Derald Wing Sue, David Sue. Counseling the culturally different, 107 ff.

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Identität auseinandersetzen. Beraterinnen, die im Konformitäts-, Dissonanz oder Widerstands-Immersionsstadium sind, können großen Schaden anrichten. Mehrere Modelle weißer Identitätsentwicklung wurden ausgearbeitet. Gemeinsam ist ihnen die Grundannahme, daß der Rassismus ein Teil des Lebens in den USA ist, daß Weiße, die dort sozialisiert sind, an rassistischen Lebensäußerungen beteiligt sind. „Mit anderen Worten, alle Weißen sind wissend oder unwissend Rassisten." 56 Die Selbstwahrnehmung, was es heißt, ein Weißer zu sein, kann Stadien zugeordnet werden. Das jeweilige Stadium weißer Identitätsentwicklung beeinflußt den Beratungsprozeß. 57 Wendet man Sues Stufenmodell auf Weiße an, so ergibt sich folgendes Bild: 1. Konformitäts-Stadium: Die Person akzeptiert kulturelle Stereotypen wie die weiße Superiorität und die Inferiorität von Minoritäten und sieht ihre Kultur bewußt oder unbewußt als am höchsten entwickelt an. Sie hat widersprüchliche Meinungen, kann davon überzeugt sein, kein Rassist zu sein, aber die rassische Inferiorität von Minderheiten anführen, um deren diskriminierende Behandlung zu verteidigen. Viele leugnen es ab, einer Rasse zuzugehören. 2. Dissonanz-Stadium·. Die weiße Person macht Erfahrungen, die sie mit weißem Rassismus konfrontieren und erkennen lassen, daß und wie sie selbst an der Unterdrückung von Minoritäten beteiligt ist. „Schuldgefühle, Scham, Wut und Depression" kommen auf. Sie mögen zu tun haben mit der Erkenntnis, daß man selbst in der Vergangenheit zur Aufrechterhaltung des Rassismus beigetragen hat, oder mit der gegenwärtigen Erfahrung, rassistische Äußerungen und Handlungen widerspruchslos geschehen zu lassen. 3. Widerstands- und Immersions-Stadium: Der eigene und soziale Rassismus wird infragegestellt und herausgefordert. Zornige Reaktionen gegen Familie, Freunde und Institutionen, Schuldgefühle, negative Gefühle gegen Weiße, Selbsthaß und der Versuch, sich mit einer Minoritätengruppe übermäßig zu identifizieren charakterisieren dieses Stadium. 4. Introspektives Stadium: Die Person schwankt zwischen Zurückweisung und Annahme der weißen Identität. Sie sucht mehr Autonomie in ihrer Einstellung, setzt sich auseinander mit dysfunktionalen Schuldgefühlen. Sie verleugnet nicht länger, daß sie weiß ist und reduziert ihre defensive Haltung und ihre Schuldgefühle. 5. Stadium des integrativen Bewußtseins·. Es wird möglich, eine „nichtrassistische weiße Identität" zu entwickeln. Die persönliche Verantwortung für die Fortsetzung rassistischer Praktiken wird angenommen, 56 Ebd., 113. 57 Ebd.

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aber die Handlungsfähigkeit nicht durch Schuldgefühle oder Wut blockiert. Es wird möglich, die kulturelle Diversität zu schätzen und dabei eine Verpflichtung zur Bekämpfung des Rassismus zu übernehmen. 58 Eine unreflektierte rassistische Einstellung scheint das Selbstverständnis der Weißen auch in Europa und in anderen Teilen der Welt zu begleiten. Allerdings gibt es hier erhebliche nationale und regionale Unterschiede. 59 In der deutschen Realität ist es unumgänglich, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Rassismus in die Ausbildung von Beratern und Seelsorgern aufzunehmen.

58 Ebd., 113 ff. 59 Cf. Newsweek, February 17, 1997, 20.

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7. Kapitel: Kultur und Familie im Beratungsprozeß 7.1. Einleitung Der Zusammenhang von Kultur und Familie im Beratungsprozeß hat einen hohen Stellenwert in der nordamerikanischen Literatur zur interkulturellen Beratungsarbeit. Hier macht sich die zunehmende Bedeutung bemerkbar, die der Ansatz der systemischen Familientherapie in den letzten beiden Jahrzehnten bekommen hat, aber auch die Einsicht, daß die Familie und ein je spezifisches Verständnis der Familie in den meisten Kulturen so zentral ist, daß sie in die Arbeit von Beratung und Seelsorge unbedingt einbezogen werden muß. Ich beschränke mich an dieser Stelle darauf, den Umgang verschiedener familientherapeutischer Modelle mit der Kultur nur anzudeuten. Die Konzeptionen der narrativen Therapie und der strukturellen Familientherapie sollen ausführlicher dargestellt und auf ihren Kulturbezug hin untersucht werden, weil sie in der Beratungspraxis mit brasilianischen Familien, die dieser Studie zugrunde liegt, als methodisches Instrument zur Geltung kamen. Zu fragen ist, inwieweit diese Beratungsmodelle kulturelle Aspekte angemessen berücksichtigen und auch einen kritischen Umgang mit ihnen ermöglichen. Des weiteren sollen in diesem Kapitel theoretische Grundmodelle erläutert werden, die helfen, den Einfluß der Kultur auf die Familie zu erfassen. Dabei umreiße ich das Problemfeld kulturbezogener Familienkonflikte, wobei der familiäre Lebenszyklus eine besondere Rolle spielt, und suche mögliche Ziele von kulturell sensibler Familientherapie - und beratung zu erfassen.

7.2. Die Beziehung von Familie und Kultur -

Theoriemodelle

Bis zum Erscheinen des von Monica McGoldrick, John K. Pearce und Joseph Giordano herausgegebenen Sammelbandes Ethnicity and Family Therapy war es in der familientherapeutischen Literatur in den USA relativ still um die Frage der Kultur. Die Hauptrichtungen der Familientherapie (Bowen-Therapie, strategische Familientherapie (Jay Haley, Chloe Madanes), Kurzzeittherapie (Paul Watzlawick, John Weakland, Richard Fisch) räumten der Kultur keine besondere Stellung ein. Eine Ausnahme bildete die von Salvador Minuchin und seinen Mitarbeitern 177

an der Wyltwyck School und im Philadelphia Child Guidance Center entwickelte strukturelle Familientherapie. Sie arbeiteten zunächst mit den Familien schwarzer und lateinamerikanischer delinquenter Jugendlicher aus der Unterschicht. Die von ihnen entwickelte Therapiemethode, die auf kurzfristige Änderungen der familiären Interaktionsstruktur abzielt und sich nicht in erster Linie an Themen und Emotionen orientiert, ist erwiesenermaßen effektiv in der Therapie mit ethnischen Minderheiten und sozial marginalisierten Familien. Relativ einfache und klar umrissene Grundkonzepte wie die Hierarchie der Subsysteme (Ehepaar, Eltern, Geschwister) und die Annahme von flexiblen, rigiden oder verschwommenen Grenzen des Familiensystems nach außen und zwischen den Subsystemen, helfen dabei, elementare Strukturelemente des Familiensystems wahrzunehmen, Störungen zu erfassen und mit spezifischen Interventionen zu bearbeiten. Die Therapie ist direktiv und involviert die Therapeuten aktiv als Teil des Systems. Es besteht die Gefahr, daß sie die Familie nach ihren kulturellen Vorstellungen funktionierender familiärer Beziehungen zu verändern suchen. Sie wird dadurch relativiert, daß ein Therapeut bei der Erstellung der Diagnose die jeweilige Familienstruktur analysieren muß und dabei auf kulturspezifische strukturelle Muster stößt, an denen er sich bei der Therapie orientieren sollte. In diesem Sinne erweitern etwa Tseng und Hsu das strukturelle Modell, wenn sie fordern: „In summary, the profile of the normal and healthy family for each sociocultural setting needs to be defined not only to meet the universal ideals for the psychological life of the family but also conceptualized and modified in culturally-relevant ways."1 Im einzelnen ist zu bezweifeln, ob ein solches Ideal kulturspezifischer Normalität nicht die Anpassung der Familie an den kulturellen Kontext zu sehr in den Vordergrund stellt und zu wenig berücksichtigt, daß jedes Familiensystem selbst seine eigene Kultur und sein Verhältnis zu kulturellen Traditionen definiert. Jedenfalls wurde aus ähnlichen Motiven heraus seit Ende der 70-er Jahre in der Familientherapie verstärkt nach dem Spezifischen von schwarzen, jüdischen, irischen und spanischsprachigen Familien gefragt. Der Sammelband von McGoldrick und ihren Kollegen erweiterte und systematisierte diesen Forschungsbereich erstmals. Es ging darum, Grundkenntnisse über den Einfluß der Ethnizität auf den familiären Prozeß, das heißt auf das Verständnis von Familie, den familiären Lebenszyklus, auf bedeutsame Sitten und Riten, Wertorientierungen und charakteristische Probleme zu gewinnen. 2 Damit sollten den Familien1 Wen-Shing Tseng, Jung Hsu. Culture and Family: Problems and Therapy. New York, London, Sydney: The Haworth Press, 1991, 211. 2 Monica McGoldrick, John K. Pearce, Joseph Giordano (Hg.). Ethnicity and Family Therapy. New York, London: The Guilford Press, 1982, 10 f.

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therapeuten und -beratern Faustregeln an die Hand gegeben werden, die ihnen helfen, einen kulturell adäquaten Stil zu finden. Sie müssen beispielsweise wissen, daß in der schwarzen Kultur „Familie" die weitere Verwandtschaft, Nachbarschaft und Gemeinde umfaßt, daß die italienische Familie sich stets auf drei bis vier Generationen erstreckt und bei den Chinesen alle Ahnen und Nachkommen in die Familie eingeschlossen sind. Ebenso müssen sie verstehen, daß in den kulturellen Gruppen das Suchen äußerer Hilfe unterschiedlich bewertet wird. Hier einige Beispiele: Italiener halten sich an die Familie und nehmen Fremde erst als letztes Mittel in Anspruch. Schwarze mißtrauen fremden Institutionen, abgesehen von der Kirche. Chinesen, Puerto Ricaner und auch Norweger somatisieren psychischen Streß und bevorzugen ärztliche Hilfe, weil körperliche Symptome für sie akzeptabler sind als psychische. 3 Der kulturelle Pluralismus der USA und speziell die Situation von Immigrantenfamilien bilden den Problemhorizont, auf den sich die Arbeit von McGoldrick und ihren Mitarbeitern bezieht. Sie sehen die Ethnizität also in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Akkulturation an die US-Gesellschaft und ihre herrschenden Normen. Das spiegelt sich wieder in der Auswahl und Darstellung der Faktoren, welche die kulturellen Muster von Familien beeinflussen. Allen voran ist es der Streß der Migration, der über den Verlust der Heimat hinaus den Bruch mit der Vergangenheit und das Abschneiden emotionaler familiärer Verbindungen bedeuten kann. Probleme mit der neuen Sprache erschweren die Integration und die Verständigung zwischen den Generationen: Kinder verstehen Eltern und Großeltern immer weniger und haben keinen Zugang zu Teilen der Familiengeschichte und der Ursprungskultur. Diskrimination aufgrund von Hautfarbe oder Ursprungsland belasten die Eingliederung ebenso wie das Verkennen ethnischer Unterschiede (etwa zwischen Pakistanis und Indern, Mexikanern und Spaniern, die alle als „Hispanics" behandelt werden). Die Nachbarschaft und Region erleichtert oder erschwert die Verwurzelung. Sozialer Aufstieg, die Orientierung an den Zielen der dominanten Kultur, kann zur Entfremdung von der Ursprungskultur führen. Entsprechend dem Stadium im Lebenszyklus, in dem sich die Familienmitglieder befinden, wird die Anpassung an die neue Kultur verzögert oder beschleunigt. Junge Erwachsene haben die größten Chancen, sich umzustellen. Familien können sich, vor allem wenn sie sich diskriminiert fühlen, durch ethnische Identifikation emotional abschotten. Die Wahl eines Ehepartners mit einem anderen religiösen und kulturellen Hintergrund mag von der Familie als Bedrohung für das Überleben des Systems gewertet werden und wird zu Schwierigkeiten führen, wenn die Partner das kulturell verschiedene Verhalten des anderen und seiner Verwandten als persönlichen Angriff verstehen. Re-

3 Ebd.

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ligion und politische Zusammenschlüsse von Familien und Personen gleicher ethnischer Herkunft sind oft eine Quelle der Stärke, die eine bikulturelle Existenz erleichtern. 4 Auf diesem Hintergrund wird die Verarbeitung der Immigration und die Umstellung auf eine bikulturelle Lebensweise zum vordringlichen Ziel von Familienberatung und -therapie. D e r Umweltbezug der Familie, der ihren Umgang mit der Kultur definiert, ist jedoch weit umfassender als der Kontext von Migration und kultureller Anpassung. Alle familientherapeutischen Modelle, die offen sind für die Frage der Kultur, zeichnen sich durch eine ökologische Sicht aus, welche das Familiensystem als Teil eines umfassenderen kulturell geprägten Ökosystems begreift. D e r Einfluß der Kultur auf die Familie kann nur verstanden werden, wenn ihr Umweltbezug ins Auge gefaßt wird. Die Frage ist dann, unter welchem Gesichtspunkt er systematisiert werden kann. J o h n Spiegel und J o h n Papajohn 5 haben ein ökologisches Modell vorgelegt, in dem sie die Ethnizität von Familien als Teil eines globalen transaktionalen Feldes begreifen, das den Kosmos der unbelebten und belebten Natur umfaßt, den Körper und die Psyche der Individuen, ihre sozialen Gruppen, deren Transaktionen die Gesellschaft und die Kultur schaffen. Sie sehen die Familie als eine soziale Institution, Produkt der Transaktion von Individuen im Rahmen von Kultur und Gesellschaft. Kultur wird dabei im Anschluß an Kluckhohn und Strodtbeck verstanden als eine Gruppe von „Werten und Grundannahmen hinsichtlich der Natur der Welt und der menschlichen Existenz." Sie trägt bei zum Uberleben der Gesellschaft in bestimmten ökologischen Nischen und formt die Grundannahmen über die Natur des Universums. 6 Die Beziehung von Familie und Kultur wird in dieser Sicht von Wertorientierungen strukturiert. „A value orientation is a generalized and organized conception, influencing behavior of time, of nature, of man's place in it, of man's relation to man, and of the desirable and undesireable aspects of man - environment and inter-human transactions" 7

Wertorientierungen bestimmen, welche Verhaltensweisen und Weltanschauungen bevorzugt als verbindlich erlebt werden. Sie kommen bei der Lösung einer begrenzten Anzahl allgemein menschlicher Probleme zum Tragen, die das Feld der Kultur abstecken. Die kulturelle Vielfalt läßt sich elementarisieren und systematisieren als wertorientierte Variation 4 Ebd. 12-23. 5 John Papajohn, John Spiegel. Transactions in families: Resolving cultural and generational conflicts. Northvale, New Jersey, London: Jaron Aronson 1975; John Spiegel. An ecological model of ethnic families. In: Monica McGoldrick, John K. Pearce, Joseph Giordano (Hg.). Ethnicity, 31-51. 6 Ebd., 36. 7 Ebd., 37.

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von Lösungen dieser allgemein menschlichen Probleme. Im einzelnen handelt es sich dabei um: a) den bevorzugten Zeitbezug (Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft); (die weiße Mittelklasse in den USA lebt vorwiegend zukunftsbezogen, Iren und Italiener sind gegenwartsorientiert); b) bevorzugte Handlungsmuster (Tun, Sein, Bekommen); (Tun ist die in den USA vorherrschende Handlungsorientierung, Sein und Bekommen wird von Iren und Italienern bevorzugt); c) bevorzugte Beziehungsmuster (individuell, collateral = am Kollektiv orientiert, linear = hierarchisch); (weiße Amerikaner betonen die individuelle Gestaltung von Beziehungen, Italiener orientieren sich stark an der Großfamilie, bei den Iren dominiert der Ehemann und Vater in einer linearen Art und Weise); d)die Art, wie man sich auf die natürliche und übernatürliche Umwelt bezieht (Harmonie mit der Natur, Beherrschung der Natur, Unterwerfung unter die Natur); (die Beherrschung der Natur ist ein dominanter Zug in der weißen Kultur der USA, Iren und Italiener verstehen sich, beeinflußt von der katholischen Doktrin, als unterworfen unter die Natur und suchen, als zweite Möglichkeit, die Harmonie mit der Natur- und der Geisterwelt); e) die Natur des Menschen (neutral/gemischt, gut, böse); (der moralische Pragmatismus in den USA des 20. Jahrhunderts sieht den Menschen als neutral, weder gut noch böse an, der fähig ist, sich an Gesetze zu halten und es vermeiden soll, andere zu schädigen, unter Italienern gilt der Mensch als gemischt, fähig zum Guten und zum Bösen je nach Situation und Umwelteinfluß, die Iren sehen den Menschen als Böse und internalisieren Schuldgefühle, während bei Italienern Schuldbewußtsein von der äußeren Sozialkontrolle abhängt). 8 Es ist offensichtlich, daß diese wertorientierte Systematisierung der Beziehung von Familie und Kultur hilft, sich einen allgemeinen Uberblick über kulturspezifische Verhaltensweisen und Haltungen zu verschaffen. Sie können eine Analyse der speziellen Familienkultur nicht ersetzen und dürfen der Familie nicht als normatives Raster übergestülpt werden. Der Ansatz von Spiegel, Papajohn und McGoldrick erreicht seine Grenze, wenn die etische Kulturbeschreibung eine emische Analyse der kulturellen Situation im Gespräch mit den Familienmitgliedern ersetzt oder dominiert. Berater sind, auch wenn sie theoretische Kenntnisse ihnen fremder Kulturen haben, keine ethnologischen Spezialisten. Zudem ist es ihnen unmöglich, die relevanten Aspekte der Vielzahl von Kulturen zu erfassen, aus denen ihre Klienten stammen. Bei der Erhebung des ökosystemischen Rahmens, in dem eine Familie lebt, gibt das angeführte Modell wertvolle 8 Ebd., 37-45.

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Interpretationshilfen, bedarf jedoch der Erweiterung und Ergänzung durch systemtheoretische Erkenntnisse über die Transaktion von Systemen (Subsysteme, Grenzen, generationenübergreifende Interaktionsmuster usw.). Der Vorteil des ökosystemischen Ansatzes für die Beratung besteht darin, daß familiäre und individuelle Probleme nicht als Krankheiten, sondern funktional als Resultat gestörter Transaktionen betrachtet werden, die durch Umwelteinflüsse (Migration, Flucht, ökonomische Krisen usw.), dysfunktionale Hilfeangebote durch soziale Einrichtungen (unzureichende medizinische Versorgung, fehlerhafte Intervention von Sozialbehörden . . . ) , inadäquate Anpassungstrategien im Familiensystem, Rollenkonflikte oder unzureichende pädagogische und psychologische Ressourcen in der Umgebung bedingt werden. 9 Verschiedene Interventionen können im komplexen Zusammenspiel der Systeme zu ähnlichen Resultaten führen, so daß Berater in ökosystemischer Sicht kreativ nach kulturspezifischen Interventionen suchen können. Es ist sinnvoll und notwendig, wenn sie die Hilfsressourcen aus der Umwelt und Lebenserfahrung ihrer Klienten einbeziehen. 10 Dabei kommt der Religion eine zentrale Bedeutung zu. Gebete, religiöse Riten, Mythen, Magie und die Zusammenarbeit mit traditionellen Heilern werden von Tseng und Hsu als Modell einer folk family therapy vorgeschlagen. In der Arbeit mit Familien in Hawaii haben sie den Glauben an übernatürliche Mächte in die Therapie einbezogen und jede Zusammenkunft mit einem Gebet begonnen und geschlossen. 11 Die ökosystemische Regel, daß die Veränderung eines Teils des Systems das gesamte Familiensystem verändert, macht es auch möglich, mit einzelnen Subsystemen oder mit besonders für die Beratung aufgeschlossenen Familienmitgliedern zu arbeiten und dadurch den Prozeß der gesamten Familie zu verändern. 12 José Szapocznik und William Kurtines haben darauf hingewiesen, daß die Forschung generell mit der Vorstellung eines „idealisierten historischen und homogenen Kulturkonzepts" 13 gearbeitet hat, das der Realität der meisten Familien in der modernen Gesellschaft (auch der ethnischen Minderheiten) nicht gerecht wird. Sie leben in einem multikulturellen Kontext, in dem sie dem Einfluß verschiedener Kulturen ausgesetzt sind. In der Arbeit mit Adoleszenten aus kubanischen Familien in den USA haben beide Autoren ein Modell entwickelt, um die Einbettung von 9 Cf. Man Keung Ho. Family therapy with ethnic minorities. Newbury Park, London: Sage, 1987, 20. 10 Ebd. 11 Wen-Shing Tseng, Jing Hsu. Culture and Family: Problems and Therapy. New York, London, Sydney: The Haworth Press, 1991, 202 f. 12 Man Keung Ho. Family therapy with ethnic minorities, 20. 13 José Szapocznik, William M. Kurtines. Family Psychology and cultural diversity: Opportunities for theory, research, and application. In: Nancy Rule Goldberger/Jody Bennet Veroff (Hg.). The culture and psychology reader, 809.

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Individuen und Familien in einen pluralistischen kulturellen Kontext zu erfassen. Während in homogenen Kulturen die Familie den in ihr lebenden Individuen die Kultur übermittelt, kommt es im multikulturellen Kontext zu Divergenzen zwischen der Herkunftskultur, repräsentiert durch die Erwachsenen, und der main stream Kultur der Gesellschaft, die stärker auf Kinder und Jugendliche einwirkt. Nach Szapocznik und Kurtines führte dies in den Familien kubanischer Immigranten in den USA in der Phase der Adoleszenz zu einem Generationenkonflikt, in dem die ältere Generation an den Werten der Herkunftskultur festhielt und von den Kindern ein entsprechendes Verhalten erwartete, während die Generation der Adoleszenten die Werte und Verhaltensweisen der nord-amerikanischen Kultur verteidigten und lebten. Das Resultat des Konflikts war, daß die „Kinder die emotionale und soziale Unterstützung ihrer Familien und die Eltern ihre Führungsposition verloren." 14 Die Autoren schlagen zur Lösung dieser spezifischen Problematik eine Art von kurzzeitigem „bikulturellem Effektivitätstraining" für die Familie vor, die den Generationen- und den Kulturkonflikt gleichzeitig bearbeitet. Die Technik des Reframing deutet den Generationenkonflikt um und behandelt ihn als einen Teil des Kulturkonflikts. Der Adoleszente wird dadurch entlastet und eine schützende Grenze um die Familie gezogen, indem der Kulturkonflikt als eigentlicher Patient identifiziert wird. Danach wird ein Lernprozeß in Gang gesetzt, in dem die Erwachsenen von den Adoleszenten mit den Werten der herrschenden Kultur vertraut gemacht werden und die Adoleszenten von den Erwachsenen die Werte der spanischen Herkunftskultur lernen. Auf diese Weise werden neue Bündnisse zwischen den Generationen geschaffen, die Familienbindung gestärkt und eine bikulturelle Entwicklung gefördert. 15 Die Familientherapieforschung hat seit Ende der 80-er unter dem Einfluß des sozialen Konstruktivismus und der neueren französischen Sprachphilosophie (Michel Foucault, Jaques Derrida) verstärkt Wert auf sprachliche Prozesse gelegt. Familiensysteme erscheinen als sprachliche Systeme 16 , die ihre eigenen „Sprachspiele" entwickeln. Die sprachliche Interaktion bestimmt das Selbst, die Weltsicht, Einstellungen und Werte ihrer Mitglieder und verknüpft sie mit Narrativen, mit Geschichten, in denen sie kodiert sind und überliefert werden. Auf diesem Hintergrund versteht die von Michael White, David Epston, Tom Andersen, Harold Goolishian, Lynn Hoffman und anderen vertretene „narrative Therapie" den therapeutischen Prozeß als Dekonstruktion und Umerzählung von

14 Ebd., 814 f. 15 Ebd., 818 f. 16 Harlene Anderson, Harold Goolishian. Human systems as linguistic systems. Preliminary and evolving ideas about the implications for clinical theory. In: Family Process 27 (4), S. 371-393; vgl. Harlene Anderson. Conversation, Language and possibilities: A postmodern approach to therapy. New York: Basic Books, 1997.

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Lebens-Geschichten (re-authoring lives)}7 Probleme und Konflikte, die Menschen erleben, sind verbunden mit symbolischen Wirklichkeitskonstruktionen, mit Geschichten, die erzählt, verzerrt oder unterdrückt werden können. Veränderungen in Beziehungen sind möglich, wenn die Menschen die Geschichten verändern, die ihre Sicht der Realität definieren. Darum ermutigen narrative Therapeuten ihre Klienten dazu, ihre Geschichten zu erzählen. Sie sind besonders interessiert an Geschichten über alternative gelungene Problemlösungen (unie outcomes) und versuchen gemeinsam mit den Klienten Geschichten zu finden, in denen neue Formen, sich selbst und die anderen wahrzunehmen, symbolisiert werden. Die narrative Therapie zeichnet sich durch besondere kulturelle Sensibilität aus. Beraterinnen und Berater steuern den therapeutischen Prozeß zwar aktiv. Sie sind jedoch Teil eines Teams von teilnehmenden Beobachtern (reflecting team)1*, das in einen offenen Austausch mit der Familie tritt und die Möglichkeit hat, Kulturunterschiede und kulturbedingte Schwierigkeiten im Beratungsprozeß aufzudecken und zu bearbeiten. Die narrative Therapie arbeitet mit den Symbolisierungen der Klienten und ermutigt sie, Problemlösungen innerhalb des symbolischen Rahmens ihrer regionalen und familiären Kultur zu finden. Sie sucht die Auswirkungen des „kulturellen Kolonialismus" in Psychotherapie und Sozialarbeit zu überwinden und eignet sich gerade dadurch dazu, Identitäts und Beziehungsprobleme anzugehen, die sich im Kontext kultureller Konflikte entwickelt haben. Ihre Orientierung an der Sprache modifiziert den ökologischen Ansatz der systemischen Familienberatung, durchbricht ihn jedoch nicht.

7.3. Der Beitrag der strukturellen Familientherapie und der narrativen Therapie zur kulturell sensiblen Familienberatung In unserer Beratungsarbeit mit armen Familien in Brasilien haben sich von den dargestellten Theorieansätzen die strukturelle Familientherapie und die narrative Therapie besonders bewährt. Sie sollen deswegen als zwei wichtige methodische Instrumente kulturell sensibler Familienberatung ausführlicher behandelt werden.

17 Vgl. Sheila McNamee, Kenneth J. Gergen (Hg.). Therapy as social construction. London-Thousand Oaks-New Delhi: Sage, 1992; Tom Andersen (Hg.). The reflecting team. Dialogues and dialogues about the dialogues. New York: Norton, 1991 ; H. Anderson/Harold Goolishian. The client as the expert: a not knowing approach to therapy. In: Sheila McNamee, Kenneth Gergen (Hg.). Therapy as social construction, 25 ff.; Michael White, David Epston. Narrative means to therapeutic ends. New York: Norton, 1990. 18 Vgl. Tom Andersen (Hg.). The reflecting team.

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7.3.1. Die strukturelle Familientherapie Als Salvador Minuchin und seine Gruppe 1960 begannen, Jugendliche aus den Ghettos von Harlem in der Wiltwyck School zu behandeln, erkannten sie, daß die Jugendlichen in der Schule von ihren Familien isoliert waren, aber unter dem Druck des aggressiven Kontexts von Harlem standen, der sie fragilisierte. 19 Die Therapeuten begannen mit den Jugendlichen und ihren Familien zu kommunizieren und beobachteten die Familien durch einen Einwegspiegel. Sie waren mit Familien konfrontiert, deren Mitglieder kaum Introspektion zeigten. Sie waren aktionsorientiert, beschränkt in ihren Sprachgebrauch und konkretistisch. Einen zusammenhängenden und vernünftigen Dialog zu entwickeln fiel ihnen schwer. Sie entzifferten und interpretierten eher das Verhalten der anderen als den Inhalt der Worte. Für abstrakte symbolische Interventionen waren sie kaum erreichbar. 20 Sie begannen Hypothesen über den Zusammenhang des individuellen Verhaltens der Jugendlichen und den Mustern der familiären Interaktion zu entwickeln. Ein außerhalb der Familie aggressiv auftretender jugendlicher Delinquenter konnte in der Familie seine Mutter oder seine Brüder verteidigen. Die Frage war, ob und wie beides zusammenhing. 21 Die strukturelle Familientherapie, die von Minuchins Gruppe seit 1965 an der Philadelphia Child Guidance Clinic in der Arbeit mit multiproblematischen armen Familien, aber auch mit psychosomatischen Familien weiterentwickelt wurde, greift Grundkonzepte der allgemeinen Systemtheorie Bertalanffys, der Familiensoziologie von Talcott Parsons und der Kybernetik auf, die Bateson und die Gruppe von Palo Alto in die Familientherapie eingeführt haben. Bertalanffys allgemeine Systemtheorie beeinflußte die Familientherapie durch sein „concept of a system as more than the sum of the parts; emphasis on interaction within and among systems versus reductionism; human systems as ecological organism versus mechanism; concept of equifinality; homeostatic reactivity versus spontaneous activity; importance of ecological beliefs and values versus valuelessness; perspectivism or constructivism versus logical positivism"22.

Von Parsons übernahm die strukturelle Familientherapie ein hierarchisches Verständnis der Familienstruktur der Nuklearfamilie, das klar zwischen den Funktionen von Eltern und Kindern unterscheidet, dem Vater 19 Vgl. Salvador Minuchin u. a. Families of the slums. An exploration of their structure an treatment. N e w York: Basic Books, 1967, 31; vgl. die ausführliche Darstellung bei Valburga Schmiedt Streck. Terapia familiar, 52 ff. 20 Salvador Minuchin a. a. Families of the slums, 247. 21 Ebd., 31. 22 Michael P. Nichols, Richard C. Schwartz. Family Therapy: Concepts and methods. 3. Aufl., Boston: Allyn and Bacon, 1995, 92.

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als instrumenteilen Anführer, der Mutter als expressivem Anführer, dem Sohn als „Mitarbeiter" und der Tochter als „loyalem Familienmitglied" 23 . Sie findet Eingang in Minuchins Konzept der familiären Hierarchie. Aus der Kybernetik, die ursprünglich entwickelt wurde, um den Zusammenhang zwischen Systemkomponenten, die sich verändern (ζ. B. die Flugbahn eines Geschosses, das auf ein fliegendes Objekt gerichtet ist), hat die Familientherapie das Konzept des „selbstregulierenden Systems" aufgenommen. Dabei sind folgende Gesichtspunkte von Bedeutung: (1) family rules, which govern the range of behaviors that the family system can tolerate (i.e. the family's homeostatic range); (2) negative feedback processes that families use to enforce those rules (e.g., guilt, double messages, symptoms); (3) sequences of family interaction around a problem that characterize the system's reaction to it (i.e. the feedback loops around a deviation); and (4) what happens when the system's traditional negative feedback is ineffective, triggering positive feedback loop's"".

Die Idee der linearen Kausalität, die das Verhalten als Effekt einer oder mehrerer Wirkursachen auffaßt, wurde durch Batesons kybernetisches Konzept der zirkulären Kausalität erweitert. Dazu ein Beispiel: Eine junge Mutter, die sich von ihrem Ehemann vernachlässigt fühlt, beklagt sich darüber, daß sie ihren zweijährigen Sohn nicht kontrollieren kann. Je unfähiger sie sich fühlt, desto aggressiver wird er und desto notwendiger wird es, daß der Vater eingreift. So hilft der Junge seiner Mutter, den Vater in ihrer Nähe zu halten. 25 Sein Verhalten ist durch den Zirkel der Interaktion verursacht, nicht durch einen einzelnen Faktor. Ein weiterer wichtiger kybernetischer Begriff, den Bateson eingeführt hat, ist der des „Deutero-Lernens". Gemeint sind damit Lernprozesse zweiter Ordnung, in denen man sich nicht nur einen Inhalt aneignet, sondern das Lernen selbst erlernt. 26 Mit diesen Denkansätzen im Marschgepäck entwickelte Minuchins Gruppe in der Arbeit mit gestörten Familien eine Theorie der Familienstruktur und der effektiven therapeutischen Intervention in dieser Struktur. Wesentliche theoretische Bestandteile der strukturellen Familientherapie sind: die Familienstruktur, die Subsysteme und die Grenzen des Systems.

23 Vgl. Talcott Parsons, Robert F. Bales. The american family. In: dies. Family, socialization and the interaction process. New York: Free, 1955. 24 Michael P. Nichols/Richard C. Schwartz. Family Therapy, 93. 25 Vgl. Valburga Schmiedt Streck/Christoph Schneider-Harpprecht. Imagens da familia, 49. 26 Vgl. Gregory Bateson. Geist und Natur: eine notwendige Einheit. 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990.

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7.3.1.1. Die

Familienstruktur

Als Familienstruktur bezeichnet Minuchin das Muster der organisierten Interaktionen innerhalb einer Familie. Es handelt sich um ein Repertoire von aufeinander abgestimmten Verhaltenssequenzen, welche im Lauf vieler Jahre von den Familienmitgliedern eingeübt wurden und ihre Transaktionen bestimmen. Minuchin hebt hervor, daß sein Begriff der Struktur kein starres Schema ist, das eindeutig vorgibt und gleichsam berechenbar macht, wie die Mitglieder einer Familie sich verhalten. Als Arzt geht Minuchin aus von der Analogie des Organismus. Gleichwie der Körper als organisierte Struktur allen Handlungen zugrunde liegt und dafür eingesetzt werden kann, etwa eine Blume zu pflücken und festzuhalten, um eine ästhetische Neigung oder die Zuneigung zu einer Person auszudrücken, so haben auch Familien eine Struktur. Mit ihr sind einige Begrenzungen des Verhaltens gegeben und wird die Art und Weise organisiert, in der die Familienmitglieder vorzugsweise funktionierten. Der Strukturbegriff benennt funktionelle Begrenzungen, aber keinen unveränderlichen Zustand des Familiensystems. Die strukturbildenden Interaktionsmuster werden kontrolliert durch die Hierarchie der Macht und durch die wechselseitigen Erwartungen der Familienmitglieder. Zwischen Eltern und Kindern besteht ein strukturelles Autoritätsgefälle. Die Eltern haben mehr Entscheidungskompetenz und Verantwortung. Sie setzen Grenzen gestatteter und nicht gestatteter Interaktionen. In jahrelangen Interaktionen handeln die Familienmitglieder aus, was sie voneinander erwarten können. Eine Mutter etwa, die von ihrer adoleszenten Tochter über Jahre vermittelt bekommt, daß sie ihr gegenüber alles falsch macht, wird nicht mehr erwarten, daß sie sich an ihre Tochter annähern kann. Wenn sie zusammen sind, verebbt deshalb das Gespräch, es kommt kein Kontakt zustande. Die familiären Interaktionsmuster sind wandelbar. Sie unterliegen jedoch dem Prinzip der Homöostase, nach welchem das System nach einer Störung stets versucht, auf den alten Bahnen wieder seinen Ausgangszustand zu erreichen. Familien sind, so Minuchin, offene Systeme, die sich verändern. Veränderungen werden durch innere Wandlungsprozesse und durch äußere Einflüsse ausgelöst. Zwischen der Umwelt und dem Familiensystem besteht ein Verhältnis äußerer Komplementarität, während Individuum und Familiensystem durch ein Band innerer Komplementarität verbunden sind: beide passen sich aneinander an und erhalten sich wechselseitig. 27

27 Salvador Minuchin. Familie und Familientherapie. milientherapie. 9. Aufl., Freiburg: Lambertus, 1992.

Theorie und Praxis struktureller Fa-

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7.3.1.2. Subsysteme und Grenzen des Systems Innerhalb eines Familiensystems bilden sich Subsysteme, die durch ihre Funktionen definiert werden. Das Subsystem des Ehepaars unterscheidet sich vom Subsystem der Geschwister durch die sexuelle Beziehung, die wechselseitige Unterstützung und Förderung. Den Kindern gegenüber übernimmt dieses Paar die Elternfunktion. Das Subsystem der Eltern ernährt, diszipliniert, orientiert und sozialisiert seine Kinder. Die Geschwister bilden ein Subsystem von prinzipiell Gleichgestellten, differenzieren sich jedoch durch ihre Position in der Geschwisterreihe (ältester, mittlerer jüngster Sohn oder Tochter). Sie haben die Aufgabe, das Zusammenleben zu lernen, Konflikte auszutragen, sich zu respektieren und gegenseitig zu unterstützen. 2 8 Die Grenzen zwischen den Subsystemen wird markiert durch die zugelassenen und nicht zugelassenen Interaktionen. Sexuelle Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind nicht zugelassen. Die Streitigkeiten der Eltern untereinander sollte keine Angelegenheit der Kinder werden. Die Grenzen zwischen den Subsystemen und die Grenze des Systems nach außen sind rigide, wenn die Familienmitglieder wenig miteinander kommunizieren, wenn die Kontakte zwischen ihnen oder mit der Außenwelt durch feste Normen beschränkt und formalisiert sind. Dadurch wird Distanz geschaffen. Die Grenzen sind durchlässig, wenn Familienmitglieder häufig miteinander interagieren, flexible Interaktionsmuster benutzen können, einzelne Übertretungen von Interaktionsregeln tolerieren, ohne sich bedroht zu fühlen oder übermäßig auf Distanz zu gehen. Die Grenzen sind verwischt oder fehlen, wenn beispielsweise Kinder Elternfunktionen f ü r ihre Eltern übernehmen, wie es in Alkoholikerfamilien oft vorkommt. Durch die Aushandlung von Grenzen bildet sich im Familiensystem ein hierarchisches Macht- und Autoritätsgefälle. Die familiäre Hierarchie, die sich darin zeigt, wer letztlich die Entscheidungen fällt, Pläne durchsetzt, der Anführer in Aktivitäten ist, wandelt sich im Laufe des Lebenszyklus und wird neu ausgehandelt, wenn äußere Umstände wie Arbeitslosigkeit, ein Umzug oder Veränderungen in der Familie wie die Krankheit eines Familienmitglieds, Pensionierung, die zunehmende Selbständigkeit der erwachsenen Kinder es notwendig erscheinen lassen. Für die strukturelle Familientherapie sind Struktur und Anpassungsfähigkeit komplementär: „In ist pursuit of ist function, a family needs both to maintain a stable structure and to change it. On the one hand, the family's continued viability requires that members develop a mutual accommodation to each other's preferences, strengths and weaknesses; transactional patterns of distance an hierarchy need to be formed and maintained. On the other hand, existing structures may need to be challenged in response to new circumstances inside and outside the family, 28 Valburga Schmiedt Streck. Terapia familiar,

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66.

conflict may need to be raised and dealt with, hidden resources may to be actualized"".

Die zur Familienstruktur verfestigten Interaktionsmuster können funktional oder dysfunktional sein. Minuchin unterscheidet zwei Typen von dysfunktionalen Familien: die distanzierten und die distanzlos verschmolzenen (enmeshed). Beides sind Interaktionsmuster, die in jeder Familie vorkommen. Sie werden dysfunktional, wenn sie überwertig gelebt werden. In distanzierten Familien scheint jedes Familienmitglied seiner Wege zu gehen, ohne sich um die anderen zu bekümmern oder zu wissen, wie es um sie steht. Sie scheinen sich nicht gegenseitig zu unterstützen und die Mitglieder müssen in eine schwere Krisensituation kommen, um von den anderen Hilfe und Unterstützung zu bekommen. Kinder aus diesen Familien können schon früh extrem unabhängig werden. Distanzlos verschmolzene Familien hingegen haben Schwierigkeiten, sich zu trennen. Ihre Mitglieder stehen ständig im Kontakt und kommunizieren miteinander. Sie kümmern sich in übertriebener Weise um einander und sind sehr loyal, so daß es den Einzelnen schwer fällt, sich selbständig zu machen. 30 Außere Stressoren (wie die beengte und gewalttätige Wohnumwelt einer Favela, finanzielle Schwierigkeiten, Arbeitslosigkeit) können Familien ebenso wie innere Stressoren (Krankheit, Heirat, Geburt eines Kindes, Tod eines Familienmitglieds) so sehr belasten, daß sie nicht mehr fähig sind, mit ihnen zurechtzukommen und dysfunktional werden. Minuchins Gruppe beobachtete, daß das Ubermaß an äußeren Stressoren in der Familien der Jugendlichen von Wiltwyck zu distanzierten Strukturen führte. Die überlasteten Eltern wurden depressiv und konnten ihre Kinder nicht mehr adäquat kontrollieren. Hingegen war bei alleinerziehenden Eltern eine sehr starke Bindung zwischen Mutter und Kind festzustellen, die eher distanzlos miteinander verschmolzen waren. Diese Struktur herrscht auch vor, wenn Eltern ihre heranwachsenden Kinder behandeln als wären sie noch klein, oder wenn ein Ehepaar sich gegenüber anderen ängstlich verschließt und jeder Partner sich ganz auf den anderen konzentriert 31 . 7.3.1.3. Techniken der strukturellen

Familientherapie

Der therapeutische Prozeß zielt darauf ab, dysfunktionale Interaktionsmuster zu verändern und neue, funktionalere Muster einzuführen, die den Familienmitgliedern helfen, ihre Probleme zu lösen. Um dies zu erreichen bringen sich die Therapeuten aktiv in die Familie ein. Sie konstruieren ein „therapeutisches System", an dem sie selbst handelnd 29 Jorge Colapinto. Structural family therapy. In: Alan S. Gurman, David Kniskern (Hg.). Handbook of family therapy Bd. 2. New York: Brunner & Mazel, 1991, 425. 30 Vgl. Salvador Minuchin u. a. Families of the slums, 358. 31 Jorge Colapinto. Structural family therapy, 427; vgl. Valburga Schmiedt Streck. Terapia familiar, 68.

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und beobachtend teilnehmen. Sie versuchen so etwas wie eine Landkarte der Familienstruktur zu entwerfen, beobachten die Sitzordnung, wer mit wem wie häufig spricht, wer ständig unterbrochen wird oder nicht zu Wort kommt, wer an den Sitzungen teilnimmt und ihnen fernbleibt. Sie arbeiten je nach Situation mit dem gesamten Familiensystem, mit verschiedenen Subsystemen und mit Einzelpersonen. Der Therapeut bildet sich eine Hypothese über das Funktionieren der Familie, die er im Verlauf der Therapie ständig korrigiert. Zur Modifikation der Familienstrukturen setzen Therapeuten folgende Techniken ein32: - Hineingehen in das Familiensystem und Anpassung, der Therapeut versucht, sich in die Familie hineinzubegeben, paßt sich an ihren Interaktionsstil an, versucht Informationen über die Familie zu bekommen und beobachtet, um Hypothesen über die Struktur zu bilden; - Interaktion·, die Familienmitglieder werden zur Interaktion untereinander motiviert, die der Therapeut beobachtet, um Grenzen, Hierarchien, das Funktionieren der Subsysteme, Koalitionen von Familienmitgliedern, Zweier- und Dreierbündnisse festzustellen. Durch kognitive Konstrukte und direktes Eingreifen schafft er neue Grenzen; - Diagnose, während die Familie erwartet, daß der Therapeut das Verhalten des identifizierten Patienten ändert, bemüht sich dieser in der Diagnose, die er in der ersten Sitzung stellt, darum, das gesamte System zu erfassen; - Erweiterung und Modifikation der Interaktionen: der Therapeut ist nicht so sehr an den Inhalten der Kommunikation als an den familiären Interaktionsmustern interessiert. Um sie zu erweitern oder modifizieren schafft er „Intensität". Er fördert alternative Interaktionen durch Dramatisierungen, die Aufforderung, neue Verhaltensweisen auszuprobieren, oder durch den passiven Rückzug, mit dem er sich dem Wunsch verweigert, das Problem für die Familie zu lösen; - Grenzziehung, der Therapeut hilft den Einzelnen und den Subsystemen, Grenzen zu ziehen, die ihnen ein selbständiges Funktionieren ermöglichen. Er verbündet sich mit einzelnen Familienmitgliedern oder einer Untergruppe, kann eine Zeitlang nur mit ihnen arbeiten oder Teile der therapeutischen Sitzung zur Arbeit mit den Subsystemen nutzen. - Störung des familiären Gleichgewichts: um festgefügte Interaktionsmuster zu verändern, werden sie durch den Therapeuten gestört und aus dem Gleichgewicht gebracht. Er verbündet sich mit einem Familienmitglied, etwa mit dem als Patienten identifizierten und abgewerteten Vater, und stellt die anderen infrage. Einseitige Bündnisse, Infragestellungen, das Ignorieren von Familienmitgliedern sind Strategien zur Störung des Gleichgewichts; 32 Vgl. dazu Salvador Minuchin, H. Charles Fishman. Family therapy techniques, Valburga Schmiedt Streck. Terapia familiar, 71-73.

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- Infragestellung der familiären Realität der Therapeut stellt die in der Familie vorherrschende Sicht der Wirklichkeit infrage. Dazu führt er neue Konzepte und Sichtweisen ein, für die er persönlich der Familie gegenüber einsteht. Er kann Informationen und Orientierung geben. 7.3.1.4. Kritische Aspekte der strukturellen

Familientherapie

Zweifellos ist es Minuchins Gruppe gelungen, ein effektives Verfahren der Kurzzeitpsychotherapie zu entwickeln, das sich besonders in der Arbeit mit armen Familien bewährt hat. Die Klienten des ersten Projekts an der Wiltwyck-School waren 12 arme schwarze oder puertoricanische Familien. Die Jugendlichen hatten in ihrer Umwelt Kontakt mit Problemen wie Alkoholismus, psychischer Krankheit, sexueller Promiskuität, Homosexualität und Prostitution. Die Familien wurden in 13 Sitzungen behandelt, ihre Familienstruktur und -dynamik wurde mit der einer Kontrollgruppe von 10 Familien verglichen. Die Untersuchung zeigte, daß es möglich ist, therapeutisch mit Personen und Familien zu arbeiten, die zuvor als „nicht therapiefähig" galten. Die Therapeuten wurden zu Verteidigern der Familien, die keine Erwartung auf die Durchsetzung ihrer persönlichen Rechte in der Gesellschaft hegen konnten. Sie kritisierten das Rechts- und Sozialsystem, das die Familien oft entfremdete und in der Entfaltung ihrer Handlungsmöglichkeiten blockierte. Minuchin räumt ein, daß sie die Möglichkeiten zur Veränderung der sozialen Systeme, die auf die Familien Einfluß nehmen, nicht erforscht haben. 33 Die strukturelle Familientherapie hat sozialpolitische, kulturelle und geschlechtsspezifische Aspekte nicht genügend berücksichtigt. Sie arbeitet mit dem normativen Modell der amerikanischen Nuklearfamilie, das sie nicht einfach auf andere Kulturen übertragen kann ohne deren Familienstruktur von vorneherein zu pathologisieren. 34 Ihr Verständnis der familiären Hierarchie muß für jede Kultur neu überdacht werden. Feministinnen haben angemerkt, daß das Konzept der „distanzlosen Verschmelzung" (enmeshment) die Frauen zu Sündenböcken macht, wenn es ihre Art zu kommunizieren und auf den sozialen Rollendruck zu reagieren pathologisiert. 35 Die von der Gesellschaft vorgeschriebenen Rollenvorstellungen werden nicht infrage gestellt.36 Die therapeutischen Techniken, die den Interaktionsstrukturen mehr Bedeutung beimessen als dem Inhalt 33 Vgl. Salvador Minuchin, Michael P. Nichols, Family healing, (A cura da familia, 33). 34 Vgl. Michael P. Nichols, Richard C. Schwartz. Family Therapy, 81. 35 Vgl. Michele Bograd. Scapegoating mothers: Conceptual errors in system formulations. In: Mascha Pravder Mirkin (Hg.). The social and political context of family therapy. Cambridge, Mass.: Allyn and Bacon, 1990, 70. 36 Vgl. Froma Walsh, Michele Scheinkman. (Fe)male: The hidden gender dimension in models of family therapy. In: Monica McGoldrick, Carol Anderson, Froma Walsh (Hg.). Women in families: A framework for family therapy. New York, London: W.W. Norton, 1989, 16-49; 29.

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der Mitteilungen, können zur einseitigen Machtausübung von seiten des Therapeuten mißraten. Seine Macht wird durch die hinter dem Einwegspiegel verborgenen Beobachter verstärkt, aber auch kontrolliert. Die Familie steht einem Team von Wissenden gegenüber, denen sie die Macht zur Intervention zugesteht. Es ist notwendig, die strukturellen Interventionen einzubeziehen in ein neues Verständnis von Familientherapie, das die soziale Umwelt der Familie berücksichtigt, auf ihre kulturelle Eigenart eingeht und in einer transparenteren Weise die Kompetenz der Familien zur Problemlösung erweitert. Einen Schritt in diese Richtung hat Harry Aponte mit seinem Modell der ökostrukturellen (ecostmctural) Familientherapie getan, die er in der Arbeit mit Afro-Amerikanern entwickelt hat. 37 Er tritt dafür ein, den sozio-ökonomischen Kontext, die Kultur und Spiritualität in die Therapie einzubeziehen. Sie ist nur wirksam, wenn sie sich mit den in der ursprünglichen Kultur und im Glauben der Menschen liegenden Kräften verbindet. Kultur und Religion bilden die Grundlage für moralische und soziale Wertvorstellungen der Einzelnen. Nach Aponte soll die ökostrukturelle Familientherapie den Mitgliedern armer Familien helfen: - zu lernen, wie sie ihr Leben kontrollieren können und wie sie in der Gesellschaft Chancen nutzen und Machtmöglichkeiten einsetzen; - ein Ziel und Lebenssinn zu haben; - ein umfassendes Ökosystem von Beziehungen zu entwickeln, die Kohäsion und Organisation auf der Gemeindeebene stärken; - die persönlichen, familiären und sozialen Traditionen wiederzugewinnen; - sich gegenseitig zu stützen. 38 Nach Apontes Meinung sind arme Familien „unterorganisiert". Die vielfältigen Probleme der Armut greifen das „Selbst" der Menschen an und schwächen ihre Abwehr. Die Unterorganisation durchzieht alle Ebenen des Ökosystem vom persönlichen über das familiäre bis zum Gemeindeleben. Die ökostrukturelle Familientherapie reagiert darauf mit dem Bemühen, die strukturelle Selbstorganisation zu verbessern, sich besser nach außen abzugrenzen, die von Kultur und Religion vorgegeben Rollen zu übernehmen und auszufüllen, Beziehungen zu nutzen und die eigene Kompetenz zu verbessern. Der derart modifizierte Ansatz der strukturellen Familientherapie ist hilfreich für eine kulturell sensible Seelsorgeund Beratungsarbeit. Er gibt Seelsorgerinnen und Beraterinnen einfache Konzepte zur Analyse von Familienstrukturen an die Hand. Mit ihrer Hilfe können sie die Familiensituation interpretieren und eine „Landkarte" entwerfen, die natürlich stets ein relatives und jederzeit relativierbares 37 Harry J. Aponte. Bread and spirit. Therapy with the new poor: Diversity of race, culture and values. New York: Norton, 1994. 38 Ebd., 10.

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Konstrukt bleibt. Das ökostrukturelle Modell, das wir später mit dem Modell multisystemischer Familientherapie verbinden werden, ergänzt sich, - ganz im Gegensatz zu den scharfen Abgrenzungen, mit denen sich konstruktivistische Therapeuten von ihm distanzieren - , mit narrativen Ansätzen der Psychotherapie. Es hat den Vorteil, den Therapeuten ein Raster von Konzepten zur Verfügung zu stellen, mit denen sie die Situation für sich strukturieren können.

7.3.2. Die narrative Therapie Im Grunde genommen baut die gesamte systemische Familientherapie auf konstruktivistischen Grundsätzen auf. Batesons Wort, daß die Landkarte nicht das Territorium sei, daß man es in der Therapie also immer mit einer bestimmten Sicht der Welt zu tun hat, das auf geglaubten Grundannahmen aufbaut, galt unter den Vertretern des Mental Research Institute in Palo Alto stets ebenso wie in der Mailänder Schule und an dem von Minuchin geleiteten Philadelphia Child Guidance Center. Je stärker sich die Familientherapie verbreitete, desto mehr geriet jedoch in Vergessenheit, daß die Theorien über die Familienstruktur und -dynamik in erster Linie Metaphern sind. Die Kritik der neueren Vertreter einer konstruktivistischen Therapie wie Anderson, Goolishian oder White an den strategischen und strukturellen Modellen der Familientherapie erinnert diese an ihre eigenen Wurzeln. Sie haben eine Wende der strukturalistisch-systemischen Sicht zu einer hermeneutisch-narrativen Sicht der Therapie vollzogen, in der sie dem Inhalt dessen, was die Familien erzählen zumindest ebenso große Bedeutung beimessen wie den Interaktionen. Wie haben den theoretischen Hintergrund dieser Wende zur Narrativität in der Psychologie oben beschrieben. Den Therapeutinnen geht es darum, die Weltsicht der Familie zu verstehen, sich von ihr leiten zu lassen und ihr nicht vorgefertigte Theoriemodelle überzustülpen. Angesichts der Relativität der Wirklichkeitsperspektiven hat die von den Familienmitgliedern vorgetragene Sicht ihre eigenen Berechtigung und ist aus ihrer Geschichte verständlich. Gemeinsames Verstehen der Probleme ist darum unumgänglich. Das führt zu Veränderungen im Therapeutenverhalten. Die Therapeutinnen sind bereit, ihre eigene Sichtweise zu relativieren. Sie lassen sich verstehend und Fragen stellend auf die Familie ein. Die Klienten und nicht die Therapeuten sind die Experten für die Lösung der Probleme. Man kann dies als eine teilweise Rückwendung zur verstehenden und bedingungslos annehmenden Haltung der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers werten, auf jeden Fall jedoch als einen Versuch, die Machtposition des Therapeuten zu verlassen. In diesem Sinne hat der Norweger Tom Andersen die in der Familientherapie als klassisches Instrument eingesetzte life supervision durch die Beobachtergruppe hinter einem Einwegspiegel in ein reflecting 193

team verwandelt, das sich mit den Familienmitgliedern persönlich bekannt macht und ihnen am Ende seine Beobachtungen im Sinne eines positiven Feedbacks mitteilt.39 Nach Nichols und Schwartz hat die konstruktivistische Bewegung in der Familientherapie folgende Veränderungen gebracht: - die gleichwertige Berücksichtigung der Bedeutung der Kommunikation und der Interaktionsmuster; - größere Bescheidenheit was den Geltungsanspruch der Theoriemodelle angeht; - erhöhte Aufmerksamkeit für die Werte, die hinter den therapeutischen Grundannahmen stehen und auch für die politische Haltung; - Verminderung der Dringlichkeit, Personen zu verändern oder kontrollieren und eine Zunahme des Vertrauens in deren eigene Fähigkeiten.40 Der von dem australischen Psychiater Michael White und dem Neuseeländer David Epston entwickelte Ansatz der narrativen Therapie gewinnt weltweit an Aufmerksamkeit. Sie setzt bei Batesons Einsicht in den subjektiven Charakter menschlicher Wirklichkeitskonstruktionen und bei seiner Lerntheorie an, die betont, daß der Vergleich eines Ereignisses mit einem anderen in der Zeit eine Voraussetzung von Lernprozessen ist. White verbindet Batesons Metapher der „Landkarte" mit der Metapher der „Erzählung". Erstere erlaubt die Lokalisierung von Ereignissen im Raum, letztere lokalisiert sie auch im Fluß der Zeit, in der Geschichte.41 Menschen präsentieren ihr Leben in der Psychotherapie in Erzählungen. Deshalb geht es in erster Linie darum, die Erzählungen zu interpretieren und nicht darum, zugrundeliegende Strukturen zu finden oder eine Dysfunktion in der familiären Kommunikation.42 Die narrative Therapie arbeitet mit den „Texten" der Geschichten, in denen Menschen sich selbst und die Ereignisse ihres Lebens darstellen. Sie begibt sich in eine „intertextuelle Welt", in der Menschen miteinander kommunizieren. Sie beziehen sich so aufeinander wie es in den Texten ihrer Geschichten vorgegeben ist. Sie sind geprägt von den Einflüssen der sozialen Macht auf das menschliche Wissen. Michel Foucaults Theorie des Macht-Wissen Komplexes, der das soziale Leben bestimmt und das Erleben und Handeln der Individuen, welche die dominante Sicht der Wirklichkeit verinnerlicht haben, formt. Die Geschichten der Menschen sind also das Ergebnis des Einsatzes der Techniken der Macht, die sich ausgehend vom lokalen Bereich in den Individuen einnistet, sie unterwirft und sich ausbreitet. Was die narrative Therapie versucht, könnte als eine Opera39 New 40 41 42

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Vgl. Tom Andersen. The reflecting team·. Dialogues and dialogues about dialogues. York, London, 1991. Michael P. Nichols/Richard C. Schwartz. Family therapy, 131. Michael White, David Epston. Narrative means to therapeutic ends, 3. Valburga Schmiedt Streck. Terapia familiar, 91.

tionalisierung von Foucaults Ziel der „Ent-unterwerfung" als einer subjektiven Befreiung von den Einflüssen der herrschenden Machtkonstellationen verstanden werden. Sie arbeitet problemorientiert, das heißt: sie will den Menschen helfen, sich neu zu den Problemen, von denen sie erzählen, zu verhalten, und die Techniken der Macht, denen diese sich verdanken, zu identifizieren. Von zentraler Bedeutung ist darum die „Externalisierung des Problems", die Suche nach alternativen Problemlösungen, ihre Verstärkung und Einübung. Die narrative Therapie „is based on the understanding that problems are manufactured in a social, cultural, political context. The newly born child is instantly bathed in a cultural ,soup'. From a narrative perspective, problems may be seen as floating in this soup. The problem we encounter are multisorted, they are developed over a long period of time, and they come together through the medium of human language to construct and produce experience".·0

Menschen, die ihre Probleme nicht lösen können, beginnen sich ohnmächtig zu fühlen und meinen, zunehmend von dem Problem beherrscht zu werden, statt es zu beherrschen. Die narrative Therapie hilft den Klienten durch „Externalisierung" zur Distanzierung von ihrem Problem, die ihr ins Gedächtnis ruft, daß sie ein von dem Problem unabhängiges Leben haben, ihr Selbstvertrauen und das Vertrauen in ihre Fähigkeiten, die Situation zu kontrollieren stärkt. Das Problem wird durch die Erzählung externalisiert. Der Therapeut stellt Fragen, mit denen er den Klienten helfen will, den Einfluß des Problems auf ihr Leben und auf das ihrer Familie festzustellen, und mit denen er herauszufinden sucht, auf welche Weise sie dem Problem Einfluß einräumen und zum „Leben" verhelfen. Er fragt nach den Lebensbereichen, die es berührt, nach den Techniken, die es einsetzt, um die Oberhand zu behalten, nach den Reaktionen, die es verstärken oder schwächen, nach den Situationen, in denen es mit Vorliebe auftritt, nach seinen Verbündeten, nach den Problemlösungsversuchen, die schon unternommen wurden usw. Der Vergleich der jetzigen problembelasteten Lebenssituation mit der Erinnerung daran, wie das Leben gewesen ist, und die Benennung des Problems mit einem Namen, sind Techniken der Externalisierung. Ein Student litt nach dem Suizid eines Verwandten unter einer schweren Depression, wegen der er sich auch in psychiatrische Behandlung begab. Er fühlte sich vom „Geist" des Verstorbenen verfolgt, hatte Schlaf- und Arbeitsstörungen, kritisierte sich permanent selbst, weil er im Studium keine Höchsdeistungen erbrachte, hatte Schuldgefühle gegenüber seinen armen Eltern, denen er ein sorgenfreieres Leben ermöglichen müsse und gegenüber G o t t Bei ihm erwies sich die Externalisierung des Problems als sehr wirkungsvoll. Er lachte auf, als er gebeten wurde, dem Problem einen Namen zu geben und nannte es den „Herrn Tortur". Anfangs empfand er ihn als allmächtig, konnte jedoch nach 43 Gerald Monk. How narrative therapy works, 27.

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und nach die Bereiche seines Lebens benennen, in die er eingedrungen und die von ihm frei geblieben waren. Er identifizierte die Techniken des „Herrn Tortur" und die Situationen, in denen er sich zu Wort meldete und seiner bemächtigte. Die Aufgabe, zu beobachten und zu notieren, wann und wo er sich zu Wort meldete und ihn zu bedrücken begann, verschaffte dem jungen Mann erhebliche Entlastung. Die Externalisierung war eine Form der Dekonstruktion des Problems und gab ihm das Gefühl zurück, ein wenig Kontrolle über sein Leben zu haben und nicht völlig unfähig und krank zu sein. Gemeinsam mit dem Berater überlegte er Strategien, wie er den „Herrn Tortur" in die Schranken weisen könne. Sein Zustand besserte sich in wenigen Wochen erstaunlich, auch wenn seine depressive Grunderkrankung dadurch nicht gänzlich beseitigt wurde.

Nach White und Epston hat die Externalisierung folgende Effekte: - sie vermindert interpersonale Konflikte, etwa um die Frage, wer für das Problem verantwortlich ist: - sie untergräbt das Gefühl des Versagens gegenüber dem Problem; - sie ebnet Wege zur Zusammenarbeit mit anderen im Kampf gegen das Problem; - sie eröffnet neue Möglichkeiten, aktiv zu werden und das Leben unabhängig vom Einfluß des Problems zu führen; - befreit die Menschen zu einem freieren, affektiv weniger belasteten und spielerischen Umgang mit dem Problem; - schafft Optionen für den Dialog über das Problem. 44 Die Dekonstruktion des Problems und die Konstruktion von alternativen Problemlösungen sind die zwei entscheidenden Schritte der narrativen Therapie. Die Therapeuten interessieren sich besonders für Erzählungen von „unic outcomes", von Situationen, in denen das Problem nicht auftrat oder einmal auf andere Weise gelöst wurde. Diese Erzählungen werden durch Fragen vertieft und ausgeweitet. Die Bedingungen und Ursachen der alternativen Problemlösung werden untersucht und die Möglichkeiten, sie erneut zu verwirklichen. Dadurch verändern sich die Erzählungen über das Problem. Die Realität, welche die Ratsuchenden narrativ präsentieren, wird umerzählt und erscheint in einer neuen Perspektive. Die Erzähler entwerfen zunehmend Versionen, die sich von der dominanten Geschichte, in der das Problem über sie herrscht, unterscheiden. Sie schreiben einen Teil ihrer Lebensgeschichte neu und erleben sich dadurch in neuer Weise als Subjekte. Sie lernen dabei auch die kulturellen Bedingungen kennen, die sich in der dominanten Geschichte über das Problem niedergeschlagen haben. Im Fall des depressiven Studenten gehörte dazu die Verachtung, die ihm als Kind eines armen Bauern von Schulkameraden und von der Lehrerin in der Grundschule entgegengebracht wurde. Das Familiensystem und das soziale Netz werden von den Therapeuten einbezogen. Sie schaffen ein Netzwerk zur Unterstützung der Ratsuchen44 Vgl. Michael White, David Epston. Narrative means to therapeutic ends, 40.

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den und unterstützen sie selbst aktiv. White und Epston haben Techniken entwickelt, mit denen sie die Erzählungen alternativer Problemlösungen verstärken. Sie arbeiten mit Briefen, Dokumenten und Zertifikaten, in denen sie an das erreichte therapeutische Ergebnis erinnern.

7.4. Kulturbezogene

Familienkonflikte

Die Reflexion über kulturbezogene Familienkonflikte dient dazu, einen Überblick zu geben und ein Wahrnehmungsraster zu bekommen, das uns hilft, den Beitrag der Kultur und der kulturellen Differenzen bei der Entstehung und bei der Lösung von Problemen und Konflikten in Familiensystemen zu erkennen. Ein hilfreicher theoretischer Bezugsrahmen sind die Theorie des Lebenszyklus und die psychologische Krisentheorie. Wir werden versuchen, Konflikte als Krisen von Familiensystemen wahrzunehmen, die regulär in den Ubergängen des familiären Lebenszyklus auftreten oder durch außergewöhnliche streßerzeugende Ereignisse hervorgebracht werden.

7.4.1. Die Theorie des familiären Lebenszyklus Die Interpretation psychischer Konflikte in der Perspektive des Lebenszyklus hat ihre Wurzeln in Erik H. Eriksons Theorie der Entwicklung der psycho-sexuellen und psycho-sozialen Identität im Interaktionsprozeß zwischen Individuum, Familie und sozialen Institutionen. Sie hat schon früh Eingang in die Praxis der systemischen Familientherapie gefunden (Gruppe von Palo Alto, Jay Haley unter dem Einfluß von Milton Erickson, Salvador Minuchin), ist aber nicht exakt ausformuliert worden. Wichtige Beiträge zur systematischen Erforschung des familiäre Lebenszyklus als Grundlage für Diagnose und Therapieplanung haben Michael Solomon (1973) und der Soziologe Duvall (1977) geleistet. Autorinnen wie J.B. Miller (1976) und C. Gilligan (1982) haben den Aspekt des weiblichen Erlebens und der sozialen Rolle der Frauen in die Diskussion eingeführt. Duvall hat den Lebenszyklus der Drei-Generationen-Familie in acht Phasen eingeteilt, die alle durch das Hinzukommen oder Weggehen von Familienmitgliedern als zentrale Ereignisse (Knoten) charakterisiert sind und, ausgehend von der familiären Aufgabe der Kindererziehung, konzipiert wurden. Die Phaseneinteilung in der Literatur variiert stark, bis hin zu Rodgers (1960) Schema von 24 Phasen, bedingt durch die Berücksichtigung von Entwicklungsschritten der verschiedenen Kinder. Als Standardwerk, das die verschiedenen Theorieansätze aufarbeitet und theoretisch integriert, darf der von Betty Carter und Monica McGoldrick herausgegebene Sammelband The changing family life cycle angesehen werden. Dort wird die Familie als „emotionales System, das 197

mindestens drei, und heute oft vier Generationen" umfaßt, betrachtet. 45 Familien sind festgefügte Systeme, die Mitglieder nur durch Geburt, Adoption und Heirat hinzugewinnen und die, letztendlich, nur durch den Tod verlassen werden. Räumliche Trennung und Scheidung lösen das System der biologischen Verbundenheit zwischen Eltern und Kindern nicht auf und machen die gemeinsame Ehegeschichte nicht ungeschehen. Kein anderes Sozialsystem bewegt sich wie die Familie im komplexen Zusammenspiel der Generationen durch die Zeit und macht Wandlungsprozesse durch wie die Veränderung der Eltern-Kind-Beziehung und der Beziehung der Ehepartner. 46 Carter und McGoldrick betonen ausdrücklich, daß es ihnen nicht darum geht, eine bestimmte Familienstruktur, etwa die patriarchalische Mehrgenerationenfamilie, zum Ideal der Familientherapie zu erheben. Vielmehr wollen sie die Verbundenheit der Generationen innerhalb jedes beliebigen Typs von Familienstruktur aufzeigen.47 Die verschiedenen Generationen wirken aufeinander ein und beeinflussen einander: „ . . . the tremendous life-shaping impact o f one generation o n t h o s e f o l l o w i n g is hard to overestimate. For one thing the three or four different generations must a c c o m m o d a t e t o life cycle transitions simultaneously. W h i l e o n e generation is m o v i n g t o w a r d older age, the next is c o n t e n d i n g w i t h the e m p t y nest, the third w i t h y o u n g a d u l t h o o d , forming careers and intimate peer adult relationships and having children, and the fourth with being inducted in the system. Naturally there is an intermingling of the generations, and events at one level have a powerful e f f e c t on relationships at each other level." 48

An den Übergängen von einer Phase des Lebenszyklus zur nächsten sind Familien besonderen Streßfaktoren ausgesetzt, die erwiesenermaßen zu Störungen, Symptombildung und Dysfunktionen in der Familie führen können.49 Lebensereignisse wie Heirat, Geburt und Tod sind nach den Untersuchungen von Holmes und Rahe zur Social Readjustment Rating

45 Betty Carter, Monica McGoldrick. Overview: The changing family life cycle: A framework for family therapy. In: Betty Carter, Monica McGoldrick (Hg.). The changing family life cycle: A framework for family therapy. 2. Aufl., Boston, London, Sydney, Toronto: Allyn and Bacon, 1989, 6. 46 Ebd., 5. 47 Ebd., 7. 48 Ebd. 49 Carter und McGoldrick verweisen auf Studien von T. Hadley u. a. (The relationship between family developmental crisis and the appearance of symptoms in a family member. In: Family Process 17, 1978., 191-193), Froma Walsh (Concurrent grandparent death and the birth of a schizophrenic offspring: An intriguing finding. In: Family Process 17, 1978, 457-463), C. G. Thomas und D. R. Duszynski (Closeness to parents and the family constellation in a prospective study of five disease states: Suicide, mental illness, malignant tumor, hypertension and coronary heart disease. In: The John Hopkins Medical Journal 134, 1974, 251-270). 198

Scale äußerst streßbeladen.50 Carter und McGoldrick legen ein Modell vor, das horizontale und vertikale Stressoren unterscheidet, die an den Ubergängen des Lebenszyklus Angst erzeugen können. Horizontale Stressoren sind die voraussehbaren, entwicklungsmäßig vorgegeben Veränderungen der Familienstruktur im Lauf der Zeit (der Zugewinn und Verlust von Mitgliedern, von Kindern, die geboren werden und später das Elternhaus verlassen, oder Großeltern, die im hohen Alter mit den Kindern zusammenziehen etc.), aber auch nicht voraussehbare einschneidende Lebensereignisse wie der unerwartete Tod eines Familienmitglieds, chronische Krankheit, die Geburt eines behinderten Kindes, ein Unfall, Katastrophen und Krieg. Vertikale Stressoren sind familiäre Beziehungsmuster (z. B. komplementäre oder symmetrische Beziehungen, Geschwisterkonkurrenz, emotionaler Stil) und Funktionsmuster (z. B. Rollenverteilung, Arbeitsteilung), familiäre Einstellungen, Tabus, Erwartungen, Bewertungen, „Mythen, Geheimnisse, [emotionale] Erbschaften."51 Diese vertikalen Stressoren, vor allem Beziehungsmuster, Mythen und Geheimnisse werden von einer Generation an die nächste weitergegeben und beeinflussen die Art und Weise, wie die Familie die Angst bewältigt. Wenn sich genügend horizontale Streßfaktoren ansammeln, „wird jede Familie extrem dysfunktional wirken". In einer Familie, in der es viele vertikale Streßfaktoren gibt, genügt schon ein verhältnismäßig geringer „horizontaler Streß", um das System in die Krise zu bringen oder zusammenbrechen zu lassen. Hinzu kommen Streßfaktoren, die durch den „sozialen, ökonomischen und politischen Kontext" auf die Familie einwirken (Armut, Arbeitslosigkeit, Benachteiligung durch Rassismus), und kulturelle Streßfaktoren (Immigration).52 Der durch die Lebensübergänge erzeugte Streß wird auf verschiedenen Systemebenen verarbeitet, von Individuen, in der Kernfamilie, der erweiterten Familie, dem Kreis von Nachbarn und Freunden, auf der Ebene der sozialen Institutionen (soziales, politisches, ökonomisches, kulturelles Leben). Die Stadien des Lebenszyklus, den Carter und McGoldrick als Grundmuster vorschlagen, nehmen die „intakte amerikanische Mittelklassefamilie" als Ausgangspunkt. Die Phasen sind: 1 ) Das Verlassen des Elternhauses: junge alleinstehende Erwachsene, 2) die Verbindung von Familien durch Heirat: das neue Paar, 3) Familien mit kleinen Kindern, 4) Familien mit Adoleszenten, 5) die Ablösung von den Kindern, 6) Familien im Alter.53

50 T. H. Holmes, R. H. Rahe. The social readjustment rating scale. In: Journal of Psychosomatic Research 11, 1967, 213-218; zur neueren Forschung vgl. Sigrun-Heide Filipp (Hg.). Kritische Lebensereignisse. 2. Aufl., München: Psychologie Verlags Union, 1990; Dieter Ulich. Krise und Entwicklung: Zur Psychologie der seelischen Gesundheit, München-Weinheim: Psychologie Verlags Union, 1987. 51 Betty Carter, Monica McGoldrick. Overview, 8 f. 52 Ebd., 9 f. 53 Ebd., 15.

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Damit soll kein normatives Modell des Lebenszyklus geschaffen werden. Die Autorinnen sind sich über die historische und kulturelle Relativität ihres Konstrukts im Klaren und nennen es selbst „mehr oder weniger mythologisch", obwohl es mit der statistischen Norm übereinstimmt und das Ideal repräsentiert, an dem sich die Mehrheit der Familien in Nordamerika ausrichtet.54 Das Modell des Lebenszyklus ist im Fluß und verändert sich. Im 19. Jahrhundert wurde die Kindheit und im 20.Jahrhundert die Adoleszenz als eigenständige Lebensphase „entdeckt". Neue Formen des Zusammenlebens, Scheidung und Wiederverheiratung, Zusammenleben ohne Trauschein, Leben als alleinerziehender Elternteil mit einem leiblichen oder adoptierten Kind, homosexuelle Partnerschaften etc., nehmen zu und könnten zukünftig als eine Phase beziehungsweise als eine Variante des Lebenszyklus beschrieben werden.55 Kulturelle Faktoren beeinflussen die Anzahl der Phasen des Lebenszyklus, ihre Dauer, die Aufgaben, die in den Phasen zu bearbeiten sind, und die Art und Weise wie der durch sie erzeugte Streß oder die Krise bewältigt wird. In Familien der brasilianischen Unterschicht reduziert sich zum Beispiel durch Kinderarbeit und den Beginn des Sexuallebens ab dem 11-14. Lebensjahr die Zeit der Kindheit und Adoleszenz und modifizieren sich die Erwartungen, die Eltern an ihre Kinder richten. Kinder haben die Aufgabe, zum familiären Einkommen beizutragen und gehen deshalb vorzeitig von der Schule ab. Die Zahl der Adoleszenten, die ab dem 13, 14 Lebensjahr schwanger wird, abtreibt oder Mutter wird, steigt an. Damit verkürzt sich die Phase der Adoleszenz für Frauen und verstärkt sich die Bindung an die Familie, während es den Anschein hat, daß männliche Adoleszente die durch fehlende Schulbildung und Arbeitslosigkeit ausgelösten Schwierigkeiten „bewältigen", indem sie sich verstärkt jugendlichen Gangs anschließen und sich am Drogenkonsum und -handel beteiligen. Durch Veränderungen wie das biologische Wachstum und Altern von Familienmitgliedern, die irreversible Erweiterung oder Verkleinerung der Familie durch Heirat, Geburt und Tod, die vorübergehende Änderung der Familienstruktur durch das Zusammenleben mit Verwandten oder Freunden, den Wechsel der sozialen Umwelt (Umzug), die Wandlungen sozialer Verhältnisse, die Wachstums- und Alterungsprozesse begleiten (Eintritt in Kindergarten, Schule und Berufswelt, Arbeitsplatzwechsel oder -verlust, Pensionierung etc.) werden Interaktionsmuster als inadäquat erlebt, die bisher ein von der Familie und der Umwelt als angemessen erlebtes Funktionieren ermöglichten. Die Familie muß nach neuen Formen der Interaktion suchen, die es ihr ermöglichen, sich unter den veränderten Bedingungen stabil zu halten und die ihr beigemessenen

54 Ebd., 12. 55 Vgl. Ebd. 10, 12.

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Aufgaben zu erfüllen. Entweder es gelingt ihr, einen Sprung auf ein anderes Funktionsniveau zu tun, indem ihre Mitglieder neue, adäquatere Interaktionsformen entwickeln, oder das System bricht zusammen, weil es stets von neuem an der Bewältigung der veränderten inneren und äußeren Realität scheitert. An dieser Stelle können Familienmitglieder Verhaltensweisen entwickeln, die als Krankheitssymptom, als abweichend oder destruktiv bewertet werden. Der Zusammenbruch führt entweder zur Auflösung des Systems oder eröffnet der Familie die Möglichkeit, sich zu restrukturieren und ein neues Gleichgewicht zu finden. Wie müssen die krisenhaften Übergänge im Rahmen einer Theorie der lebenden Systeme beschrieben werden? Wir erinnern an den Gedanken der strukturellen Koppelung von System und Umwelt bei Maturana und Varela. Im Rahmen dieser Koppelung können vier Bereiche von Veränderungen unterschieden werden: 1. Zustandsänderungen, bei denen sich die Struktur des Systems wandelt (ζ. B. durch Wachstum, Altern, Anpassung an Umweltfaktoren); 2. destruktive Veränderungen durch Interaktionen, welche die Familie als Organisation auflösen; 3. Störungen, die Zustandsveränderungen auslösen und, 4. Störfaktoren, „die einen destruktiven Wandel herbeiführen." Die Zustandsänderungen des Familiensystems an den Übergängen des Lebenszyklus können gesehen werden als Störungen des Gleichgewichts der Interaktionen nach innen und nach außen. Sie kommen an einen kritischen Punkt, wenn sie sich so häufen oder eine solche Intensität erreichen, daß die Familienmitglieder die Interaktionen nicht mehr als funktional erleben, wenn sie also nicht mit ihren Erwartungen an die anderen Familienmitglieder in Einklang gebracht werden können. Sie meinen und erleben, daß die Aufgaben, Wünsche, Ziele, die sie für die Familie, für sich und die anderen anstreben, nicht mehr erfüllt werden. An dieser Stelle kommt es entweder zur Desintegration des Systems oder es macht einen „evolutionären" Sprung und erreicht eine neue Ebene der Integration. Nach Mony Elkaïm ist dieser sprunghafte Übergang das Resultat eines „evolutionären Feedbacks", das Analogien in biologischen Systemen hat, und besagt, daß die Komponenten offener Systeme ab einem bestimmten Punkt in einen Zustand der Instabilität geraten, der es ihnen erlaubt, sich in neuen Interaktionen aufeinander zu beziehen. Beim Sprung zur Reintegration ist nicht vorhersehbar, welche Form der Neustrukturierung das System wählt. 56 Dies hängt von den Ausgangsbedingungen, das heißt auch von seiner Geschichte ab. In dieser Geschichte ist der Faktor Kultur stets präsent. Die Kultur beeinflußt die Lösung der Krise also ebenso wie ihre Entstehung. Mit Lynn Hoffman können wir sagen:

56 Vgl. Mony Elkaïm. Wenn du mich liebst, 37-49 (bes.46-49).

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„ . . . that families, . . . , are like waterfalls or cascades, where the many-tiered pattern of the generation persists as an overall structure, even though individuals pass through it as they are born, grow old, and die."57

7.4.2. Die Phasen des familiären Lebenszyklus: kulturelle Aspekte Die folgende Beschreibung der kulturbedingten Konflikte und Lösungen in den Phasen des Lebenszyklus will die Bandbreite der Verhaltensmöglichkeiten aufzeigen, denen wir in der Praxis begegnen können. Sie beansprucht keine Vollständigkeit und nennt zur Illustration jeweils nur einzelne Beispiele. 7.4.2.1. Das junge

Erwachsenenalter

Junge Erwachsene stehen generell vor der Aufgabe, ihr eigenes, von den Eltern relativ unabhängiges Leben zu führen, einen Beruf auszuüben oder sich aufs Berufsleben vorzubereiten, in angemessener Form Intimität und Freundschaft zu leben und sich am öffentlichen Leben zu beteiligen (ζ. B. politisches, religiös-kirchliches Engagement, Teilnahme an künstlerischen Aktivitäten). Es gibt Kulturen, in denen junge Erwachsene so früh wie möglich das Elternhaus verlassen (Deutschland, Skandinavien, weiße protestantische Nordamerikaner (WASP)). Andere binden die erwachsenen Kinder so lange wie möglich ans Elternhaus (Italien, Japan), oder gehen davon aus, daß Eltern und erwachsene Kinder ständig zusammenleben. Oft wird den jungen Männern gestattet, sich selbständig zu machen und am öffentlichen Leben zu beteiligen, während unverheiratete junge Frauen bis zur Hochzeit im Elternhaus bleiben und einer strengen Sozialkontrolle unterliegen, weil sie als Jungfrau in die Ehe gehen sollen (islamische Länder, Lateinamerika). Patriarchalische Kulturen neigen dazu, Männern sexuelle Freiheit zu geben, während für Frauen Sexualität an die Ehe gebunden ist (Machismo). In der Stadtkultur westlicher Länder nimmt die Zahl der Singles, die ohne Partner leben, zu. Dort besteht die Tendenz, die Lebensphase des jungen Erwachsenenalters zeitlich auszudehnen. Hohe Lebenshaltungskosten, Armut und Arbeitslosigkeit führen in Ländern der 1. und der 3. Welt dazu, daß junge Erwachsene zwar selbständig leben, aber im Elternhaus wohnen bleiben. Diese Abhängigkeit von den Eltern kann zu Ablösungskonflikten führen. Weitere Konflikte im jungen Erwachsenenalter sind Drogenabhängigkeit, Alkoholismus und jugendliche Delinquenz. Untersuchungen zu kulturellen Aspekten des Alkoholmißbrauchs in verschiedenen Volksgruppen ergaben, daß Familien aus Kulturen mit den höchsten Raten an ausdrücklicher und akzeptierter sozialer Kontrolle 57 Lynn H o f f m a n . The family life cycle and discontinuous change, 93.

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des familiären Lebens auch die ernstesten Alkoholprobleme aufwiesen.58 Zu nennen sind hier in erster Linie die irischen Katholiken, bei denen die Mütter eine dominante Position einnehmen, das Sexualverhalten und die Geburtenkontrolle stark religiös sanktioniert werden, junge Männer Mühe haben, sich vom Elternhaus zu trennen und die peer-group von Männern eine große Rolle spielt. Während Iren trinken, um vor Schuldgefühlen, unterdrückter Sexualität und Aggressivität zu flüchten, ist Alkoholismus von Männern in spanischsprachigen Familien in den USA gebunden an das Wertsystem der Machokultur. Der Alkoholmißbrauch von nord-amerikanischen Indianern und Ureinwohnern des Pazifik dagegen ist ein Resultat des Verlusts der kulturellen und personalen Identität der Männer und der Dysfunktion der Familie durch den schnellen gesellschaftlichen Wandel. 59 Jugendliche Delinquenz ist eine weiterer Problembereich im jungen Erwachsenenalter. Die Kriminalität ist in vielen Fällen eine Folge des Drogenmißbrauchs. Untersuchungen weisen darauf hin, daß ein Zusammenhang zwischen der Delinquenz, dem Interaktionsstil in der Familie, sowie der Position von delinquenten Jugendlichen und ihren Eltern in der Geschwisterreihe bestehen kann. Familien delinquenter Jugendlicher in den USA sind gekennzeichnet durch instabile Strukturen, das Fehlen klar unterschiedener Rollen, wenig Affektkontrolle, offene Konflikte unter den Familienmitgliedern, sprunghafte Kommunikation. 60 Die Disziplinierung der Kinder ist wenig effektiv, das heißt, einerseits werden stark restriktive Normen gesetzt, zum anderen wird ihre Einhaltung wenig überwacht und werden Normübertretungen nachsichtig bestraft. 61 In der japanischen Kultur, die den erstgeborenen Sohn bevorzugt, wurde festgestellt, daß die Anzahl der Delinquenten, die in der Geschwisterposition an zweiter, dritter oder vierter Stelle stehen, höher ist als die der Erstgeborenen. Dies gilt auch für die Eltern der delinquenten Jugendlichen und legt die Interpretation nahe, daß in Japan die Erfahrung relativer Vernachlässigung der Eltern von Delinquenten sich in der Vernachlässigung der eigenen Kinder fortsetzt und zur jugendlichen Delinquenz beitragen kann. 62

58 J. Ablon. The significance of cultural patterning for the „alcoholic family". In: Family Process 19, 1980, 127-144. 59 Ebd., 161. 60 J . R. Stabenau u. a. A comparative study of families of schizophrenics, delinquents and normals. In: Psychiatry 28, 1965, 45-59 zit. nach Tseng, Hsu. Culture, 146. 61 M. Singer. Delinquency and family disciplinary configurations: An elaboration of the superego lacune concept. In: Archives of General Psychiatry 21, 1975, 303-306, zit. nach Tseng, Hsu. Culture, 146. 62 Ebd., 147.

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7.4.2.2. Die Phase der Heirat Gegenseitige Liebe und der Konsens, zusammenzuleben sind in westlichen Gesellschaften das vorherrschende Kriterium für die Partnerwahl. Psychische Faktoren wie die von Freud beschriebene Wahl des Partners nach dem Modell des Selbstbildes (narzißtisch) oder des Bildes der ersten Liebesobjekte (Objektlibido) spielen dabei eine Rolle.63 Für das neue Paar stellt sich zu Beginn der Partnerschaft die Aufgabe, sich kennenzulernen, die Rollenverteilung als Mann und Frau, sowie das wechselseitige Verhalten in den verschiedensten Alltagssituationen auszuhandeln, und die Beziehung zu den Herkunftsfamilien zu definieren. In der Ursprungsfamilie erworbene Verhaltensweisen, Werte und Haltungen werden dabei überprüft und in Frage gestellt. Dies kann zu belastenden Auseinandersetzungen führen, wenn die biographische Erfahrung eines oder beider Partner aufgrund von Traumen, Verlusten, Kränkungen, chronischen Konflikten mit Eltern und Geschwistern stark belastet ist und er sich in der Partnerschaft entsprechend den zuvor kulturell angeeigneten Verhaltensmustern verhält. Konflikte entstehen auch durch die einseitige Bindung und unzureichende Abgrenzung eines oder beider Partner in bezug auf ihre Ursprungsfamilie. Wenn zum Beispiel die Ehefrau ihren Familienverband verläßt und in die Großfamilie ihres Ehemannes einheiratet, die ihn ökonomisch und emotional eng bindet, kommt es häufig zu Konflikten zwischen der Ehefrau, den Schwiegereltern oder anderen Verwandten der Familie des Ehemannes. Ein Beispiel ist die Schwiegermutter, die ihrer Schwiegertochter die Schuld gibt, daß ihr Sohn sich von ihr entfernt hat, aber den Konflikt mit dem Sohn vermeidet. Der Konflikt mit der Schwiegertochter dient dazu, die Störung in der Beziehung zum Sohn zu verdecken. In der systemischen Familientherapie ist diese Interaktionsstruktur ein Beispiel für die „Triangulierung". In systemischer Perspektive sind folgende Positionen möglich: - Triangulierung des Ehemannes oder der Ehefrau durch die enge Bindung an die Ursprungsfamilie und komplementäre Konkurrenz des eingeheirateten Partners mit Mitgliedern der Schwiegerfamilie um den Ehepartner (Nähe, emotionale Zuwendung, Entscheidungskompetenz, Macht usw.); - Isolation des neuen Paares von den Ursprungsfamilien (starke räumliche Trennung, seltene Kontakte, Kontaktabbruch); klar definierte, aber durchlässige Grenzen zwischen den Subsystemen des neuen Paares und den Herkunftsfamilien.

63 Sigmund Freud. Zur Einführung des Narzißmus. Studienausgabe a. M., 1982, 56.

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Bd. III, Frankfurt

Die Isolation kann zur Überlastung der Paarbeziehung in Streßituationen (Krankheit, Geburt eines Kindes etc.) führen, weil ein wichtiger Teil des sozialen Netzwerks fehlt. Partner können versuchen, ihren Gefährten zum Verbündeten in Konflikten mit der Ursprungsfamilie zu machen und auf diese Weise zu triangulieren. Wenn eine Ehe nicht aus Liebe geschlossen, sondern arrangiert wurde, um die Geburt eines unehelichen Kindes zu vermeiden, um den beteiligten Familien ökonomische Vorteile zu sichern oder bestimmte traditionelle Regeln zu befolgen, ist die wechselseitige Anpassung der Partner besonderen Belastungen ausgesetzt. Kulturelle Regeln bestimmen, wie eng die Beziehung zur Ursprungsfamilie zu halten ist und wie die Rolle des Ehemannes und der Ehefrau gelebt werden. In Japan wird die Ehefrau traditionell ein Teil der Familie des Ehemannes, in schwarzen und italienischen Familien in den USA steht die Großfamilie zur Verfügung, um in Schwierigkeiten Rat zu geben und zu helfen. Weiße, protestantische Amerikaner betonen die Unabhängigkeit des neuen Paares und würden eine Intervention der Eltern als Einmischung verstehen.64 Manche Kulturen erwarten eine führende Rolle der Frauen in der Familie (Irland), andere unterscheiden zwischen der Öffentlichkeit als der männlichen Einflußsphäre und dem Haus als der weiblich dominierten Sphäre (Brasilien, Griechenland, Italien). Einige bevorzugen autoritäre Führungsstile (Lateinamerika), andere das demokratische Aushandeln des Verhaltens (jüdische Familien, weiße, protestantische Amerikaner). Der Grad an Emotionalität und Intimität, den Ehepartner sich gestatten, die Erwartungen hinsichtlich der sexuellen Beziehungen, der Wirkungskreis und die sozialen Beziehungen von Männern und Frauen (unabhängige Tätigkeit, eigener Freundeskreis) variieren in den verschiedenen Kulturen.65 In interkulturellen Ehen treffen zwei Kultursysteme mit unterschiedlichen Grundannahmen, Werten, Verhaltensweisen, Rollenerwartungen, Formen im Umgang mit Streß und Erziehungsstilen aufeinander. Konflikte stellen sich ein, wenn die Ursprungsfamilien den Partner aus der anderen Kultur stereotypisierend ablehnen. Das kann zu einer Isolation des neuen Paares und zu Loyalitätsproblemen führen. Die kulturell verschiedenen Stile der Alltagsbewältigung müssen offen aufgearbeitet werden. Differenzen, die sich durch die unterschiedlichen Arten, mit Situationen umzugehen, ergeben, führen zu Konflikten, wenn sie als persönlicher Angriff genommen werden. Ein Partner italienischer Herkunft kann die emotionale Distanz seines aus der weißen, protestantischen Mittelschicht stammenden Partners unerträglich kalt und steif finden, während dieser den italienischen Partner wegen des dramatisierenden, expressiven, emotionalen Stils für „hysterisch" und „verrückt" hält.66 Das 64 Monica McGoldrick. Ethnicity, 73. 65 Ebd. 66 Ebd.

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kulturell fremde Verhalten, das am Anfang der Beziehung anziehend wirkte, kann in späteren Jahren zum Stein des Anstosses werden.67 Die heute in der westlichen Kultur zunehmende Tendenz, später zu heiraten, mit einem Partner auf Zeit zusammenzuziehen, ohne die Beziehung zu legalisieren oder religiös zu sanktionieren, wird zum Konfliktpotential, wenn die Ursprungsfamilie aus Gründen der Tradition, der religiösen Uberzeugung oder der sozialen Anpassung an die in der Umgebung herrschende Moral diese Formen der Partnerschaft rigoros ablehnt. Kinder riskieren dann den offenen Bruch mit der Familie, oder sie verheimlichen ihren Eltern, daß sie mit einem Partner zusammenleben, verschweigen den vorehelichen Geschlechtsverkehr, verbünden sich mit dem liberaleren Elternteil und machen ihn zum Mitwisser und Anwalt gegenüber den rigideren Familienmitgliedern. Die Geburt eines Kindes in dieser Partnerschaft kann den Konflikt noch steigern. Die geschilderten Anpassungskonflikte in der Paarbeziehung und die besonderen Mehrbelastungen durch eine interkulturelle Partnerschaft gelten für Paare, die auf Zeit zusammenleben ebenso, wie für Verheiratete. Allerdings scheinen sie es leichter zu haben, in Konfliktsituationen auseinanderzugehen. Partnerschaften auf Zeit und die Zunahme der Scheidungsraten in den westlichen Ländern deuten einen tiefgreifenden Kulturwandel von der lebenslangen Einehe zur seriellen Monogamie an. Möglicherweise wird die Eheform des 21. Jahrhunderts das unabhängig von seiner offiziellen Legalisierung als Rechtsverhältnis angesehene zeitlich befristete Zusammenleben mit jeweils einem Ehepartner in einer bestimmten Lebensphase sein. Homosexuelle und lesbische Paarbeziehungen, die in einigen Ländern als eheähnliche Lebensgemeinschaften oder Familien anerkannt werden und das Recht haben, Kinder zu adoptieren, sind dabei, eine eigene Kulturform des Zusammenlebens zu entwickeln. Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Tabus ist, sofern sie von ihren Familien aufrechterhalten werden, der Stoff von Konflikten und endet nicht selten in Kontaktabbrüchen mit der Herkunftsfamilie, der Isolation des Paars, dem Rückzug in eine Subkultur oder der Inszenierung einer doppelten Identität, die der Familie eine heterosexuelle „Normalität" vorspielt und die homosexuelle Beziehung als Geheimnis behandelt. 7.4.2.3. Schwangerschaft, Geburt und Familien mit kleinen

Kindern

Die Geburt von Nachkommen sichert den biologischen Fortbestand der Familie und ist oft genug auch eine konkrete Garantie für die Altersversorgung der Elterngeneration. In einigen Kulturen werden von Seiten der Familie hohe Erwartungen an die Geburt von Nachkommen gerichtet, die von dem jungen Paar als belastend empfunden werden, das Sexual67 Ebd., 75.

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leben und eventuell auch die Empfängnis beeinträchtigen können. Unfruchtbarkeit wird bei hohem Erwartungsdruck zum Problem, das Angst, Selbstwertstörungen, Identitätskonflikte und Störungen in der Partnerbeziehung hervorzurufen vermag.68 Versuche, die Unfruchtbarkeit mit ärztlicher Hilfe zu überwinden (Medikamente, Fertilitätskurven, künstliche Befruchtung, Zeugung im Reagenzglas) erzeugen erheblichen Streß. Programme der Familienplanung mit dem Ziel der Minderung der Kinderzahl sind in Ländern der 3. Welt ein Kulturfaktor (der Zwang zur 1. Kind-Familie in China, massenhafte Sterilisation von oft noch sehr jungen Frauen in Brasilien). Vor allem in asiatischen Ländern, in denen die Familie einen männlichen Erben wünscht und Mädchen geringeren Wert haben, werden neue Techniken der vorgeburtlichen Untersuchung dazu benutzt, das Geschlecht des Fötus zu bestimmen und weibliche Föten abzutreiben.69 Der durch die Familie auf die Frauen ausgeübte psychische Druck ist dabei erheblich. Sie laufen Gefahr, einer schlecht gemachten Abtreibung zum Opfer zu fallen. Manche Kulturen betrachten die Geburt als Frauensache, bei der die Anwesenheit der Ehemänner nicht erwartet wird (Holland, Schweden). Andere beziehen die Männer ein (Yucatan-Indianer, mehr und mehr auch die westlichen Kulturen), erwarten, daß sie die Frau in der Schwangerschaftsvorbereitung begleiten, bei der Geburt anwesend sind70 oder sich gar selbst ins Kindbett legen. Die couvade, das Männerkindbett, in dem sich der Mann nach der Geburt des Kindes während kurzer Zeit, mehrere Tage bis hin zu einem Monat ins Bett legt, weint, klagt, für das Neugeborene sorgt und die Glückwünsche der Nachbarn entgegennimmt, als ob er selbst die Geburt erlebt habe, wird von Ethnologen als ein in einer ganzen Reihe von Kulturen verbreiteter Brauch beschrieben (China, Südindien, im letzten Jahrhundert in Spanien, Sardinien, Korsika, dem Baskenland).71 In Nordamerika und zunehmend auch in Lateinamerika findet die Geburt im Hospital statt, gehört in den Verantwortungsbereich des Arztes und der medikamentösen Behandlung. Die Schwangere wird dementsprechend als Patientin definiert und in zahlreichen Fällen ein Kaiserschnitt der normalen Geburt vorgezogen (25 % Kaiserschnitte in USA, Brasilien soll hier weltweit führend sein).72 Die Zeit der Schwangerschaft, Geburt und Säuglingspflege verlangt die Öffnung der Zweierbeziehung zur Dreierbeziehung und die Übernahme der Versorgung und Erziehung des Kindes. Ein häufiger Kon-

68 69 70 71 (frz. 72

Tseng, Hsu. Culture, 124 f. Vgl. Newsweek 4 - 9 - 9 5 , 12 f. McGoldrick. Ethnicity, 75. Bernard Thies. O pai: ato de nascimento. Porto Alegre: Artes Médicas, 1987, 145 f. Le pére: acte de naissance. Paris: Editions du Seuil, 1980). Monica McGoldrick. Ethnicity, 77.

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fliktpunkt ist die eheliche Untreue. Die Aufmerksamkeit und Kraft der Partnerin sind durch das Kind gebunden, der Partner rückt an die zweite Stelle; sexuelle Bedürfnisse und der Wunsch nach ungeteilter Aufmerksamkeit, deren Befriedigung er von der Partnerin wünscht, werden nicht mehr wie früher beantwortet. In Belau, Mikronesien konnte die Ehefrau in ihr Elternhaus zurückkehren, wenn sie merkte, daß sie schwanger war. Ihr Mann war zu sexueller Abstinenz gezwungen, außereheliche Affären waren häufig. 73 In Kulturen, in denen der Machismo dominiert (Brasilien, Philippinen) wird es stillschweigend akzeptiert oder gilt als ungeschriebene Regel, daß der Ehemann außereheliche Affären hat. 74 Ökonomische Abhängigkeit und Furcht vor gewalttätigen Reaktionen des Ehemannes ohne ausreichenden Schutz der Frau von seiten der Gesellschaft trägt dazu bei, daß viele Frauen in diesen Kulturen auch heute noch keine andere Wahl sehen, als die Beziehung fortzusetzen. Der wachsende Einfluß der Frauenbewegung ist dabei, einen kulturellen Wandel einzuleiten und bestärkt Frauen, ihre Forderungen in der Ehe geltend zu machen oder sich zu trennen. Jede Kultur prägt ihre eigenen Vorstellungen darüber, wie Kinder unter den gegebenen regionalen, klimatischen und ökonomischen Umständen zu erfolgreichen Erwachsenen erzogen werden. 75 Neben den Eltern sind Geschwister, Großeltern, Onkel, Tanten und andere Mitglieder der Familie an der Erziehung beteiligt. In der Kultur der weißen Mittelklasse Nordamerikas dominiert noch die Mutter als Bezugsperson. In schwarzen Familien, in denen es meist notwendig und selbstverständlich war, daß die Mutter arbeitet, haben Großmütter und andere Familienmitglieder elterliche Erziehungsfunktionen übernommen. 76 Die Wahrnehmung der Maskulinität des Vaters als männliches Modell beeinflußt unter Jungen den Grad der Präferenz für die männliche Geschlechtsrolle, während sie unter der Abwesenheit dieses Modells stärker leiden als Mädchen. 77 Kommen die Eltern aus verschiedenen Kulturen, so ist es notwendig, daß sie sich auf eine gemeinsame Linie der Kindererziehung einigen und darüber verständigen, wie sie mit den kulturellen Unterschieden umgehen wollen. Gegensätze wie eine harte Erziehung von seiten eines Partners und eine stark verwöhnende und gewährende Erziehung von seiten des

73 T. Polloi Belau. In: W. S. Tseng (Hg.). Culture and mental health in Micronesia. Department of Psychiatry, School of Medicine, University of Hawaii, Honolulu, 1986, zit nach Tseng, Hsu. Culture, 122. 74 Ebd. 75 Vgl. John U. Ogbu. Origins of human competence, 245 ff. 76 Monica McGoldrick. Ethnicity, 75. 77 J. F. Popplcwell, A. Sheikh. The role of the father in child development: A review on the literature. In: International Journal of Social Psychiatry, 25, 1979, 267-284, zit. nach Tseng/Hsu. Culture, 133.

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anderen Partners können die Kinder zum Gegenstand ständiger Auseinandersetzungen der Eltern machen und sie verunsichern. 78 Die konflikthaften Eltern-Kind-Beziehungen oszillieren zwischen den Extremen von Feindseligkeit/Gewalt/Mißbrauch, Uberbeschützung {overprotection) und Vernachlässigung {neglect). Kinder und Eltern können sich in konflikthafte trianguläre Beziehungen verstricken. Eine stark emotionale Eltern-Kind-Beziehung stabilisiert sehr durchlässige Grenzen zwischen den Subsystemen. Kinder werden lange gestillt, haben häufig körperlichen Kontakt mit den Eltern, halten sich meist in ihrer Nähe auf, schlafen zusammen mit den Eltern, haben keine festen Schlafenszeiten, werden darin gefördert, sich auszudrücken uns selbst darzustellen (Brasilien, Italien). Eine emotional distanzierte Erziehung betont die Grenzen zwischen Eltern und Kindern, räumliche Trennung, feste Zeiten, strenge Normsetzung und -Überwachung etc. 79 Der kulturspezifische Erziehungsstil kann für Mädchen und Jungen in verschiedenen Entwicklungsphasen eine unterschiedliche Behandlung vorsehen (ζ. B. für Mädchen: emotional gewährend in der frühen Kindheit und restriktiv-überbeschützend ab der Pubertät; für Jungen: streng und distanziert in der frühen Kindheit, gewährend ab der Pubertät). Kennzeichnend für überbeschützende Beziehungen ist der enge Kontakt zwischen Mutter und Kind, das Verhindern von unabhängigem Verhalten und die Infantilisierung des Kindes. 80 Dies trägt bei zur Verzögerung der emotionalen Entwicklung, einer fordernden Haltung, Selbstzentrierung, niedriger Frustrationstoleranz und, bei Jungen, zu verlangsamter psychosexueller Entwicklung. 81 Eltern von Einzelkindern ζ. B. in China zeigen eine Neigung zur Uberbeschützung. 82 Körperliche Bestrafung von Kindern ist eine sehr weit verbreitete Erziehungsmethode. In 74,4% aller 90 kleineren und bäuerlichen Gesellschaften, die Levinson in einer Studie über Familiengewalt anhand von Archivdaten über zwischenmenschliche Beziehungen analysierte, war es üblich, die Kinder körperlich zu bestrafen. In 13,3.% der Gesellschaften machte man davon regulär Gebrauch, 21,1 % häufig, 40% selten und 26,5% niemals. 83 Die Kultur nimmt darauf Einfluß, welche physischen Strafmethoden als üblich und zulässig gelten und welche geächtet sind. Sie stellt Argumente zur Verfügung, die den Mißbrauch legitimieren (ζ. B. eine Ohrfeige hat noch niemandem geschadet). Nach Levinson werden Kinder in Gesellschaften, in denen der Glaube an böse und bestrafende Geister verbreitet ist, mit größerer Häufigkeit 78 79 80 81 82 83

Ebd., 125. Vgl. Monica McGoldrick. Ethnicity, 75. Tseng, Hsu. Culture, 141. Ebd. Ebd. Ebd., 138.

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körperlich bestraft. 84 Es ist erwiesen, daß „elterliche Punivität, Feindseligkeit und Restriktivität mit verheerender Wirksamkeit auf der Seite des Kindes Aggression und Feindseligkeit gegenüber seinen Gleichaltrigen hervorrufen". 85 Die Folgen dieses Elternverhaltens variieren jedoch kulturell. Farbige Mädchen, die von ihren Müttern in starkem Maße sehr feindselig und aggressiv bestraft wurden, zeigten sich in ihrem Verhalten stärker und durchsetzungsfähiger als weiße Mädchen und ihre Mütter aus einer Kontrollgruppe. 86 Sie haben die elterliche Härte möglicherweise als autoritäre Form der Fürsorge verstanden. Beengte und prekäre Wohnverhältnisse, in denen mehrere Erwachsene und Kinder gemeinsam in einem Raum leben, fördern Aggression und Gewalt.87 Charakteristisch für Familien, in denen Kinder sexuell mißbraucht werden, ist das Fehlen einer klaren Grenze zwischen den Generationen und den Individuen. Sexueller Mißbrauch von Kindern durch den Vater ist in der westlichen Kultur gebunden an eine Triangulierung der Kinder in der gestörten Beziehung zwischen einem schwachen Mann und einer dominanten, aber sexuell frustrierenden Frau, in der das Kind zum Sexualobjekt wird, das die Partnerin substituiert.88 Die Inzestschranke sinkt in den Familien wiederverheirateter Geschiedener. Stiefeltern mißbrauchen ihre Stiefkinder häufiger als biologische Eltern.89 Kulturelle Vorstellungen determinieren, ab welchem Alter sexuelle Aktivität zulässig ist und wie die kindliche Sexualität bewertet wird. In lateinamerikanischen Familien kann die (Stief)Mutter die (Stief)Tochter beschuldigen, den (Stief)Vater verführt zu haben, ohne in Betracht zu ziehen, daß diese noch minderjährig ist. Die Vernachlässigung von Kindern geht zu großen Teilen zurück auf „Unterernährung und Unterstimulation", die in Ländern der 3. Welt eine Konsequenz der Armut im internationalen Wirtschaftszusammenhang ist. Unterernährte und sensorisch deprivierte Kinder weisen die gleichen Veränderungen des zentralen Nervensystems auf. Das stellt die Hypothese einer ernährungsbedingten Hirnschädigung in Frage. Die Entwicklungsverzögerung von unterernährten Kindern kann nach Ansicht einiger Autoren indirekt verursacht werden durch den „Verlust an Lernzeit" (größere Krankheitsanfälligkeit), „die Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit und Motivation" und die „Verschlechterung der sozialen Interaktio84 Ebd., 139. 85 G. D. Campbell. Peer Review of child development nach Klaus A. Schneewind. 86 Ebd. 87 Ebd., 77 f. 88 Tilman Furniss. Abuso Artes Médicas, 1993. 89 Tseng, Hsu. Culture,

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relations in childhood. In: M. Hoffman, L. Hoffman (Hg.). research. New York: Rüssel Sage Foundation, 1965, 305, zit. Familienpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer, 1991, 85.

sexual da criança: urna ahordagem multidisciplinar. Porto Alegre: 140.

nen." 90 Darüber hinaus besteht ein Zusammenhang zwischen der kindlichen Intelligenzentwicklung und der Anregung durch das in der Wohnumwelt zur Verfügung stehende Spielmaterial. 91 Nach Bronfenbrenner haben die strukturellen Veränderungen der Familie (Scheidung, Familie Alleinerziehender) eine „progressive Fragmentierung und Isolation der Familie in ihrer Kindererziehungsfunktion" zur Folge. Dabei ist „die Nachkommenschaft aus Familien mit niedrigem Einkommen . . . in einem besonders hohen Maße der Gefahr ausgesetzt, in physischer, intellektueller, emotionaler und sozialer Hinsicht Schaden zu nehmen." 92 . Nach Rutter tragen „sechs Familienvariablen" zu „fehlangepaßtem kindlichem Verhalten" bei: „(1) schwere Störungen der Partnerbeziehung; (2) geringer sozialer Status; (3) räumliche Uberbelegung oder eine kinderreiche Familie; (4) väterliche Kriminalität; (5) psychiatrische Auffälligkeiten der Mutter; (6) Einweisung in eine lokale Pflegeinstitution." 93 7.4.2.4. Familien mit

Adoleszenten

Die Aufgabe der Adoleszenten, ihre eigene Geschlechtsrollenidentität zu entwickeln, sich auf den Eintritt in den Arbeitsmarkt und auf die Übernahme von Rollen und Funktionen in der Gesellschaft vorzubereiten, führt zu einer kritischen Distanzierung von den Eltern und zur verstärkten Orientierung an der Gruppe der Gleichaltrigen. Die Adoleszenz, die erst im 20. Jahrhundert im Zuge der Verlängerung der Ausbildungszeiten und der Verschiebung des Heiratsalters als eigenständige Entwicklungsphase konzipiert wurde, ist nicht notwendigerweise in allen Kulturen mit Konflikten verbunden. Stammeskulturen in Afrika, Mikronesien und anderen Teilen der Welt kanalisieren die Konfliktpotentiale in einem rituell organisierten Ubergang vom Kindesalter in das Erwachsenenalter, der die Trennung von den Eltern, das nach Geschlechtern getrennte Zusammenleben in der Peer-Group, die Initiation ins Sexualleben, die Erfüllung bestimmter Aufgaben, um den Status des Erwachsenen zu erwerben, verlangt. Der Statusübergang kann durch mehrere rituelle Zelebrationen begangen werden. Religiöse Akte wie die Konfirmation, Firmung oder Bar Mizwa mit den entsprechenden Vorbereitungszeiten markieren in den christlichen Kulturen und im Judentum den Übergang von der Kindheit in die Adoleszenz. In traditionellen Kulturen ist die Adoleszenz oft weniger konfliktreich als in individualisierten westlichen Gesellschaften. Die Jugendlichen übernehmen Pflichten und Rechte von Erwachsenen und verhalten sich ent90 91 92 93 nach

Klaus A. Schneewind. Familienpsychologie, 76. Ebd., 79. U. Bronfenbrenner zit. nach Klaus A. Schneewind. Familienpsychologie, 83. M. Rutter, N. Madge. Cycles of disadvantage. London: Heinemann, 1979, 52, zit Schneewind, 87.

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sprechend vorgegebenen und von der Familie akzeptieren Normen. In bi- oder multikulturellen Gesellschaften, in hybriden Kulturen und Familien von Immigranten kann es, wie oben am Beispiel der kubanischen Immigranten in den USA gezeigt, zu einer Verschärfung des Konflikts zwischen den Adoleszenten und ihren Eltern kommen. Die Werte und Verhaltensweisen der Adoleszenten entsprechen nicht mehr denen der Herkunftskultur der Eltern. Oft sprechen Eltern und Kinder nicht mehr dieselbe Sprache. Immigranten der ersten Generation können sich nicht angemessen in der Landessprache ausdrücken, während die Kinder die Heimatsprache der Eltern nicht mehr ausreichend beherrschen. Die Auseinandersetzungen verschärfen sich, je mehr die Eltern rigide an ihrer Position festhalten und die Kommunikation verweigern. Töchter aus Familien, in denen Frauen traditionell auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter beschränkt wurden (Italien, Puerto Rico, islamische Länder), müssen, sofern sie in westlichen Ländern leben, oft hart darum kämpfen, in der Rolle der unabhängigen, berufstätigen Frau anerkannt zu werden. 94 Das Verhalten von Adoleszenten gegenüber den Anforderungen ihrer Familie schwankt zwischen Rebellion/Flucht und Überanpassung. Sie können sich von den Gleichaltrigen isolieren oder völlig an ihre Normen anpassen und der Familie den Rücken kehren. Untersuchungen von Li, Fang, Tsen und Hsu in China zeigten, daß das problematische Verhalten von Adoleszenten in Beziehung stand mit dem Fehlen einer adäquaten Kommunikation zwischen Eltern und Jugendlichen. Rebellion und Flucht können verbunden sein mit der Familienstruktur, ζ. B. der Ablehnung des Stiefvaters oder der Stiefmutter in Zweitfamilien von Geschiedenen, auch mit der Auflehnung gegen Mißbrauch und Gewalt durch die (Stief)Eltern. Uberanpassung und Isolierung kann ein Ergebnis von Triangulierung durch die Familie sein. Im einzelnen sind sehr viele Formen der Triangulierung Jugendlicher denkbar. Die kulturspezifischen Vorstellungen über die sexuelle Aktivität der Adoleszenten und ihre Beteiligung am Arbeitsleben sind prägend für die Adoleszenz. Der weiße Mittelstand in den USA fördert Ferien- und Nebenerwerbsjobs von Jugendlichen, während die Tochter einer lateinamerikanischen Familie, in der die Mutter den Lebensunterhalt mit Putzen bestritten hat, in der Vorstellung aufwächst, daß sie, anders als ihre Mutter, niemals ihr Geld mit Putzen verdienen wird, weil sie eine Schulausbildung haben und zum Mittelstand gehören will. Die Gesellschaft definiert, ab welchem Alter Kinder und Jugendliche mitarbeiten. Die Armut in Ländern der 3. Welt zwingt viele Adoleszente dazu, die Schule abzubrechen, Gelegenheitsarbeiten oder billige Arbeitsstellen anzunehmen, um zum Familieneinkommen beizutragen. 94 Monica McGoldrick. Ethnicity, 76; M. F. El-Islam. Cultural change and intergenerational relationships in Arabian families. International Journal of Family Psychiatry, 1983, 4, 321-329 zit. nach Tseng, Hsu. Culture, 137).

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7.4.2.5. Die Ablösung von den Kindern Diese Phase stellt nicht nur, wie oben besprochen, die jungen Erwachsenen, sondern auch die Eltern vor die Aufgabe, die Trennung von den Kindern zu verarbeiten. In Kulturen, die stärker bindend sind, verzögert sich der Übergang in die Unabhängigkeit. Besitzverhältnisse, wie etwa die Eigentumsrechte der Eltern an Grund und Boden in ländlichen Gesellschaften, definieren ein Machtgefälle, das die erwachsenen Kinder in ökonomischer Abhängigkeit von den Eltern hält und ein Konfliktpotential darstellt. Kulturen, welche die Trennung fördern, verlangen den allein zurückbleibenden Eltern ab, daß sie sich neu orientieren, um die Lücke auszufüllen. Die Neuorientierung schließt die stärkere emotionale Bindung der Ehepartner, Wiederaufnahme der Berufstätigkeit, berufliche Wechsel, Übernahme von ehrenamtlicher Arbeit in Kirche und Gesellschaft ein. Die Menopause und, in kapitalistischen Gesellschaften, die berufliche Perspektive, die meist Stagnation und allmählichen Rückzug bis zur Pensionierung impliziert, sind zusätzliche Streßfaktoren. Konflikthafte Ehen, die oft um der Kinder willen aufrecht erhalten wurden, werden geschieden. Männer gehen in wesentlich stärkerem Maße als Frauen neue Partnerschaften ein und gründen neue Familien.95 Motive, eine Scheidung hinauszuzögern oder nicht zu realisieren sind in westlichen Ländern: 1. Die Eltern wollen den Kindern kein schlechtes Vorbild geben; sie fürchten, von den Kindern abgelehnt zu werden oder nicht mehr mit ihnen zusammenleben zu können. 2. Religiöse Aspekte, besonders die Ablehnung der Ehescheidung durch die katholische Kirche. 3. Die Angst vor Einsamkeit. Sie wird besonders von Frauen empfunden, die nach der Scheidung mehrheitlich alleine leben. 4. Ökonomische Fragen und Schwierigkeiten, eine neue Wohnung zu finanzieren 96 . Eine Untersuchung von Wallerstein und Blakeslee über die Situation von Geschiedenen und ihren Kindern in den USA 10 Jahre nach der Scheidung zeigt, daß ältere Männer und Frauen, die länger andauernde Ehen hinter sich haben, sich allein und verlassen fühlen. Sie sehen dem Alter mit zunehmenden Angstgefühlen entgegen.97 Frauen in mittleren Jahren heiraten oft nicht mehr, weil die Männer ihres Alters jüngere Partnerinnen suchen. Die Sexualmoral der Kultur entscheidet darüber, ob es ihnen freisteht, intime Freundschaften zu pflegen, ob sie ein unabhängiges Leben führen oder in den Kreis ihrer Urspungsfamilie zurückkehren. Untersuchungen ergaben, daß verheiratete Männer sich in der Regel für glücklicher halten als die alleinstehenden Männer, und, möglicherweise 95 Vgl. Fredda Herz Brown. The postdivorce family. In: Betty Carter, Monica McGoldrick (Hg.). The changing family life cycle, 371 ff. 96 Vgl. Valburga Schmiedt Streck, Christoph Schneider-Harpprecht. Imagens da familia, 91. 97 Judith S. Wallerstein, Sandra Blakeslee. Sonhos e realidade no divorcio: Marido, mulher e filhos dez anos depois. Säo Paulo: Saraiva, 1991, 396.

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aufgrund der Fürsorge ihrer Frauen, weniger geistige und körperliche Krankheiten entwickeln.98 Dagegen zeigen unverheiratete Frauen ein größeres Maß an Glück und Zufriedenheit. Alle befragten Geschiedenen in den USA sind der Meinung, daß ihre Fähigkeit, die Kinder zu erziehen, abgenommen hat, weil sie weniger Zeit haben, mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind und in den Streitigkeiten vor der Scheidung einen Teil ihrer Autorität gegenüber den Kindern eingebüßt haben." Die emotionale Nähe der Partner, die nach der Pensionierung räumlich zusammenrücken und mehr Zeit miteinander verbringen, führt in Industriegesellschaften mit stark geprägten Rollenbildern, (Korea, Japan) zu Spannungen. Die Ehefrau kann die Übernahme der Haushaltsarbeit durch den Mann als Störung empfinden.100 In bäuerlichen Gesellschaften ist der Ubergang in den Ruhestand ein allmählicher Rückzugsprozeß, der es erlaubt, die bisherige Tätigkeit in reduziertem Maß fortzusetzen. Die verminderte Lebenserwartung in vielen Entwicklungsländern und die damit verbundene frühere Ablösung der Kinder vom Elternhaus konfrontieren die Generation der über 50-Jährigen vorzeitig mit den Problemen des Alters. Die steigende Lebenserwartung in den Ländern der 1. Welt und in der Mittel- und Oberschicht von Dritte-Welt-Ländern dagegen dehnt die mittlere Lebensspanne über einen Zeitraum von bis zu 20 oder 30 Jahren aus. Dadurch steigen die Anforderungen an die Ehepartner, sich aneinander anzupassen und Bereicherungen des Ehealltags durch Tätigkeiten und Kontakte außerhalb zu suchen. Eine besondere Aufgabe in den mittleren Lebensjahren ist die Fürsorge für die alternden Eltern. Oft übernehmen Frauen, nachdem die Kinder das Haus verlassen haben, die Pflege der alten und kranken Eltern. Verschiedenen Studien in den USA haben gezeigt, daß alte Menschen generell die Fürsorge und Pflege in der Familie vorziehen und erst in zweiter Linie Dienste der ethnischen Gemeinde oder des Staates in Anspruch nehmen. Die jeweilige Kultur bestimmt mit, ob informelle oder formale Hilfe bevorzugt wird.101 In Kulturen, die, wie etwa die Skandinavier und die weißen protestantischen Nordamerikaner, die Unabhängigkeit von Eltern und Kindern betonen, bleiben die alten Menschen eher alleine, ziehen in altersgerechte Wohnungen oder Altersheime, leben von ihrer Pension oder werden vom Staat unterhalten. Die Verpflichtungen der Kinder konzentrieren sich stärker auf private familiäre Kontakte, während grundlegende Pflegeaufgaben von Institutionen übernommen werden. Es gibt zum Beispiel in Deutschland Anzeichen dafür, die Familie stärker in Pflege98 99 100 101 don,

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Fredda Herz Brown. The postdivorce family, 336. Judith S. Wallerstein, Sandra Blakeslee. Sonhos e realidade no divorcio, 397. Tseng/Hsu. Culture, 126 f. Kyriakos S. Markides, Charles S. Mindel. Aging and ethnicity. Newbury Park, LonNew Delhi: Sage Publications, 1987, 118 f.

aufgaben einzubeziehen. In Kulturen, die wenig Wert auf eine Trennung zwischen Eltern und Kindern legen, gehört die Übernahme der Fürsorge und Pflege der Eltern zu den mehr oder weniger selbstverständlichen Verpflichtungen der erwachsenen Kinder. Eine Untersuchung von Guttmann (1979) fand, d a ß Griechen und Juden in den USA im Alter stärker als alte Menschen italienischer oder polnischer H e r k u n f t öffentliche oder von ihrer Volksgruppe angebotene Hilfsdienste in Anspruch nahmen. Die Griechen sind in der Familienhilfe für alte Menschen jedoch führend unter allen osteuropäischen Gruppen. 102 Im sozialen Kontext der Armut sind die Kinder nach wie vor die Alterssicherung f ü r die Eltern. Dies ist in einer ganzen Reihe von Ländern nicht nur ein bleibendes Motiv f ü r Kinderreichtum. Die soziale Unsicherheit der alten Menschen begründet auch Abhängigkeiten zwischen Eltern und Kindern in Kulturen, in denen die ältere Generation normalerweise ein unabhängiges Leben pflegt. So gehörte es beispielsweise nicht zur mexikanischen Familientradition, in Mehrgenerationenhaushalten zu leben. Dies war nur in besonderen Streßzeiten in der Kern- oder G r o ß familie und in Zeiten „allgemeiner sozialer Desorganisation" üblich. Altere Amerikaner spanischer oder lateinamerikanischer H e r k u n f t legen Wert auf die Unabhängigkeit von den erwachsenen Kindern, auch wenn sie mit ihnen in einem Haushalt leben. 103 Ein Migrationsphänomen in kapitalistischen Gesellschaften ist die Trennung der Eltern, die auf dem Land bleiben, von den erwachsenen Kindern, die in die Stadt ziehen, aber aufgrund prekärer ökonomischer Verhältnisse nicht dazu in der Lage sind, den alten Eltern finanziell zu helfen. Block hat in einer Untersuchung herausgestellt, d a ß bei verschiedenen nordamerikanischen Indianerstämmen das traditionelle familiäre Unterstützungssystem f ü r ältere Menschen versagt, nachdem die Jüngeren in die Städte abgewandert sind, kein Geld in die Reservationen schicken konnten, und der Stamm nicht in der Lage war, f ü r die Alten zu sorgen. 104 7.4.2.6. Alter, Sterben und

Witwenstand

Einige Aspekte der familiären Beziehungen im Alter wurden schon angesprochen. Generell verlangt das Alter von den Individuen, daß sie sich an Begrenzungen ihrer physischen und geistigen Leistungsfähigkeit anpassen, mit der Verkürzung der Lebensperspektive zurechtkommen und ein angemessenes Verhältnis zu ihrem gelebten Leben finden. Es verlangt ihnen ab, die soziale Rolle als alter Mensch in der Kern- und G r o ß f a milie, als Großmutter und Großvater, Witwe und Witwer in ihrer Kultur anzunehmen und persönlich zu gestalten. Im Hinblick auf die Gesell102 Ebd., 118 f. 103 Ebd., 106. 104 Ebd., 109.

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schaft nötigt es sie, sich mit der sozialen Situation und Rolle des Ruheständlers zurechtzufinden. Die Wertschätzung des Alters in der kulturellen Tradition und die Klarheit der Rollenvorgaben erleichtert oder erschwert die Anpassung an das Alter. In der Familientradition vieler Völker haben die Alten eine Führungsstellung und nehmen die Position von Entscheidungs- und Verantwortungsträgern ein. Diese Konstruktion findet sich etwa in der traditionellen mexikanischen Familie, in Puerto Rico, in der herkömmlichen japanischen Familie, die jeweils von einem alten Mann geleitet werden, und bei einigen Indianervölkern. Die Immigration und die Anpassung an die industrielle Stadtkultur läßt die Wertschätzung der Alten schwinden. Gallego stellte fest, daß Mexikaner der zweiten und dritten Generation, die in Nordamerika aufgewachsen sind, dazu neigen, den Wert familiärer Bindungen und die Wertschätzung der Alten herabzumindern. 105 Nordamerikanische Indianer haben seit den 60-er Jahren im Zuge des Kampfes um ihre ethnische Identität und ihre Kultur die Alten aufgewertet. Sie werden nun als Kenner und Hüter der Tradition, Geschichtenerzähler, religiöse und persönliche Berater gesucht. 106 In den Ländern der 1. Welt nimmt der Prozentsatz von alten Menschen in der Bevölkerung durch Geburtenrückgang und steigende Lebenserwartung dramatisch zu. Im Wirtschaftsleben und im Beruf werden jüngere Menschen bevorzugt, sie haben mehr Chancen. Entsprechende soziale Altersdefinitionen hinterlassen ihre Spuren in individuellen Biographien, etwa in der Selbsteinschätzung eines 45 oder 50 jährigen Menschen als „zu alt", um eine bestimmte Aufgabe zu übernehmen, um eine Ausbildung oder Karriere zu beginnen. Inzwischen sind jedoch die Alten nicht nur als Markt entdeckt und damit valorisiert worden. Die Gesellschaft, etwa in Deutschland, beginnt auch nach dem Beitrag der über 65 Jährigen zu politischen Entscheidungsprozessen zu fragen, will ihre Repräsentation in politischen Entscheidungsgremien. Dies zeigt, wie sehr die Definitionen und die soziale Wertschätzung des Alters im Fluß sind. Armut und soziale Unsicherheit verstärken die Abhängigkeit der Alten von den Kindern und zwingen sie, oft über das Rentenalter und über ihre Kräfte hinaus, zu arbeiten. Wo die staatlichen Sicherungssysteme versagen, tritt die Familie ein und verzögert sich der Abschied aus dem Arbeitsleben. In Brasilien ist es üblich, daß jemand, der nach dreißig Berufsjahren in Rente geht, weiterarbeitet oder eine neue Berufstätigkeit beginnt, weil er in der Regel allein von der Rente nicht leben kann. Im einzelnen gehen Alter, Armut und Abhängigkeit oft Hand in Hand. Traditionelle Familienstrukturen werden dadurch verschoben. Soziale Umstände zwingen Familien, die es gewohnt sind, daß die Generationen

105 Ebd., 107. 106 Ebd., 110.

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unabhängig voneinander leben, dazu, in einem Mehrgenerationenhaushalt zu leben, oder reißen Mehrgenerationenfamilien, die stets füreinander gesorgt haben, auseinander. Eine wichtige Variante der durch Veränderungen im Arbeitsprozeß (Frauenarbeit) und Armut bedingten kulturellen Verschiebungen ist die Abhängigkeit der erwachsenen Kinder vom Geld und der Arbeit der Alten. In schwarzen Familien in den USA tragen die Alten oft einen großen Teil der finanziellen Lasten, helfen bei der Kindererziehung. Eine Studie aus dem Jahr 1981 zeigt, daß 26 % der Indianer in den USA wenigstens für ein Enkelkind gesorgt haben und daß 2 / 3 aller Indianer in einem Radius von fünf Meilen Entfernung zu ihren Verwandten lebten, was ihnen die gegenseitige Unterstützung ermöglicht hat.107 Alte Menschen in schwarzen Familien geben ihren Kindern mehr finanzielle Unterstützung als Weiße. 108 Das Zusammenleben in Mehrgenerationenhaushalten ist in Familien von Schwarzen und Hispanics in den USA stärker als in weißen Familien. Das gilt auch für die Zahl der von älteren Frauen geleiteten Haushalte. 109 Die Großmütter können in diesen Haushalten so sehr die Mutterrolle übernehmen, daß ihre arbeitenden Töchter, deren Kinder sie hüten, ihren eigenen Kindern gegenüber nicht die Mutterposition einnehmen. Sie sind eher eine ältere Schwester und werden von ihren eigenen Kindern auch als solche behandelt, während die Großmutter auf ihrer Machtposition beharrt. In Agrargesellschaften sichert der Grundbesitz den sozialen Status der älteren Generation, zementiert aber patriarchalische Strukturen und hält die erwachsenen Kinder in einer ökonomisch abhängigen Position. Chronische und lebensbedrohliche Erkrankungen und das Sterben gehören zu den am stärksten belastenden und einschneidenden Ereignissen im familiären Lebenszyklus, die das Gleichgewicht des Systems stören. Die zunehmende Lebenserwartung rechtfertigt es, das Thema Sterben und Trauer im Zusammenhang mit dem Alter zu verhandeln, auch wenn damit die Krise des Sterbens in früheren Lebensphasen nicht angesprochen wird. Krankheit und Tod im Alter sind erwartbare Lebensereignisse. Der alte Mensch steht am Ende des individuellen Lebenszyklus, hat viele Aufgaben erfüllt und Verantwortlichkeiten an die jüngere Generation abgegeben. Wie streßbeladen Krankheit und Sterben im Alter sind, hängt ab von der Schwere und Dauer der Krankheit, von der Position des Sterbenden oder Verstorbenen in der Familie und von der Familiendynamik. Plötzliche Todesfälle durch Herzinfarkt oder Unfall, Mord oder Suizid lösen Schockreaktionen aus und können zu schweren Schuldgefühlen und Depressionen führen. Es ist nicht mehr möglich, Abschied zu nehmen. Das Sterben nach langdauernden Krankheiten, das der Familie erhebliche Anstrengungen in der Begleitung, Pflege und finanziellen 107 Ebd.,109. 108 Ebd., 102. 109 Ebd., 102, 106 f.

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Unterstützung eines Mitglieds abverlangt, ist ein emotionaler Langzeitstreß. Gefühle von Hilflosigkeit angesichts des Schmerzes des alten Menschen, der Strapazen des Krankenhausaufenthaltes und der Behandlung, das Schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung, die beständige Unsicherheit sind kennzeichnend für den Krankheitsverlauf bei Krebspatienten. Familien, die der Belastung nicht standhalten, laufen vor allem Gefahr, die Kommunikation einzustellen, um sich gegenseitig zu schonen. Dadurch wird der Sterbende isoliert.110 Die Bedeutung des Sterbens eines Familienmitglieds, das eine zentrale Position im Familiensystem eingenommen hat, zum Beispiel eines Großvaters, der das Oberhaupt des Familienclans war, oder einer Person, von der andere emotional abhängig waren, wird stärker empfunden als das Sterben eines funktional nicht so bedeutsamen Familienmitglieds. Die in der Familie vorherrschende Beziehungsstruktur, die im Zusammenhang mit ihrer Geschichte und Kultur gesehen werden muß, wirkt sich aus auf den Umgang mit dem Verlust. Je stärker die Fusion und die emotionale Abhängigkeit zwischen den Ehepartnern, desto stärker die Reaktion auf den Tod. 111 Die Einstellung zum Tod und das Trauerverhalten sind in hohem Maße kulturell beeinflußt. Die Erkenntnisse der Kulturanthropologie zum Trauerverhalten sind seit den 80-er Jahren in die Beratungsliteratur eingeflossen und gewinnen zunehmend an Bedeutung. 112 Dabei müssen die Ausformungen des jeweiligen kulturellen Systems ebenso beachtet werden wie die spezifischen Formen der Aneignung durch eine Familie. „Each generation and each society has come up with its own solutions to the problem of death and has enshrined them in a complex web of beliefs and customs which, at first glance, seem so diverse as to be impossible to digest. Yet there are common themes that run through all of them.""3 „A family's dependence on cultural beliefs and practices varies enormously with its culture, immigration status, and socioeconomic class, as well as with many other dimensions of family circumstances and history.""4 Nach Shapiro ist Trauer eine familiäre Entwicklungskrise. Sie ist verwoben mit der Familiengeschichte und dem gegenwärtigen Entwicklungsmoment der Familie, und richtet den künftigen Verlauf der gemeinsamen 110 Fredda Herz Brown. The impact of death and serious illness on the family life cycle. In: Betty Carter, Monica McGoIdrick The changing family life cycle, 470. 111 Ebd., 474. 112 A. Harwood. Ethnicity and medical care. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1981; M. Eisenbruch. Cross-cultural aspects of bereavement. In: Culture, Medicine and Psychiatry 8, 1984, 283-309, 315-347; J. Stigler, R. Shweder, G. Herdt. Cultural psychology : Essays on comparative human development. Cambridge, Engl.: Cambridge University Press, 1980; Ester S. Shapiro. Grief as a family process : A developmental approach to clinical practice. New York, London: The Guilford Press, 1994; Colin Murray Parkes, Pittu Laungani, Bill Young (Hg.). Death and Beravement across cultures. New York: Routledge, 1997. 113 C. M. Parkes u.a. (Hg.). Death and bereavement, 8. 114 Ester S. Shapiro. Grief as a family process, 219.

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Entwicklung neu aus. Trauer ist eine Beziehungs- und Identitätskrise, die das familiäre Gleichgewicht und die damit zusammenhängenden „Emotionen, Interaktionen, sozialen Rollen und Bedeutungen" stört. Trauer „mobilisiert die Kapazitäten der Familie, mit intensiven Gefühlen zurechtzukommen, die alltäglichen Interaktionen zu reorganisieren und die Identität des komplexen, kooperierenden Selbst zu redefinieren."115 Shapiros Trauerverständnis verbindet John Bowlby's ethologische Theorie der Bindung und des Verlusts mit der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie und einer systemischen Perspektive. Für unseren Zusammenhang wichtig ist ihre Beschreibung der universalen Aufgaben der Trauerarbeit, die dann kulturspezifisch gestaltet werden. Nach John Bowlby ist die Bindung ein bei Menschen und in der Tierwelt ein biologisch notwendiger Prozeß, der durch die Abhängigkeit des Uberlebens der Jungen von der sozialen Beziehung zur Mutter und zur Gruppe seiner Artgenossen bedingt ist. Die Trennung kann das Uberleben bedrohen und ruft im Verhalten Traurigkeit und Protest hervor, um die Pflegeperson herbeizurufen. In der Trauerreaktion wird dieses biologisch determinierte Verhalten wachgerufen, um die verlorene Person zurückzurufen. Es dauert an, auch wenn es nicht zum Erfolg führt. 116 „Different cultural traditions approach the following social and personal issues of bereavement differently: defining the relationship between the dead and the living, describing the nature of life after death, and enabling the social reconstruction of the ruptured relationship within family and community. Each culture defines the processes of bereavement and reconstruction in ways that are consistent with its beliefs regarding life, death and afterlife, emphasizing certain aspects of the broad range of human experience while diminuishing the importance of others" "7.

Die (a) Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten, (b) die Natur des Lebens nach dem Tod und (c) die Rekonstruktion der sozialen Beziehungen sind die großen Themen der Kultur der Trauer. a. In nahezu allen Gesellschaften wird der Tod als Übergangsstadium angesehen.118 Die Kulturanthropologie hat diesen Übergangsstatus ausgehend von van Genneps Studie über die rites de passage als „Liminalität" (liminality) bezeichnet. Die meisten Kulturen gehen davon aus, daß der Verstorbene in irgendeiner Weise weiterexistiert." 9 Das Konzept der Liminalität benennt den „spirituellen Übergang" zwischen Leben und 115 Ebd., 17. 116 Ebd., 224. 117 Ebd., 220. 118 C. M. Parkes u.a. (Hg.). Death and bereavement, 8; P. Laungani. Conclusions I. In: C. M. Parkes u.a. (Hg.). Death and bereavement 119 Ebd., 232; Paul C. Rosenblatt. Grief in small scale societies, in: C. M. Parkes u. a. (Hg.). Death and bereavement, 31.

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Tod und lokalisiert den Toten in einem heiligen Raum. 120 Während die westlichen Kulturen unter dem Einfluß des Humanismus eine Person entweder als lebendig oder als tot ansehen, ist der Ubergang in vielen kleineren Kulturen, aber auch im Hinduismus und Buddhismus fließend. Der Tod kann als ein schritt- oder stufenweises Geschehen definiert werden. Metaphern, die den Tod als „lange Reise", stufenweise Entfernung von der Welt der Lebenden oder Erhebung der Seele auf höhere Stufen der Integration beschreiben, helfen den Lebenden, die Situation der Toten und ihre Stellung zu bestimmen. Die Beziehung zu den Toten wird oft als fortdauernd erlebt und die Kommunikation mit ihnen rituell geregelt.121 Beerdigungsriten erfüllen in allen Gesellschaften die Aufgabe, deutlich zu machen, daß der Tod tatsächlich geschehen ist. Sie identifizieren die Trauernden, legen also fest, wer dazu verpflichtet ist, an Trauerriten teilzunehmen. Sie geben dem Tod einen Sinn, dienen dazu, die Toten auf den Weg zu bringen und Rollenvorschriften für das Verhalten der Trauernden zur Verfügung zu stellen.122 „In many societies, death rituals are f a r more elaborate and are extended over quite a bit more time than is c o m m o n in Euro-American societies. T h e rituals occurring at the time of what Westerners might call physical death may last f o r d a y s , weeks, months or years. T h e y may require isolation of the bereaved, the wearing of special mourning clothing or special markings, and may require actions that seem to some outsiders to be pointlessly destructive or unpleasant - f o r example, tearing one's clothing, not bathing, tearing at one's skin, beating oneself or shaving one's head. In quite a few societies, the rituals f o r dealing with a death are spread out in a series of ceremonies that span months or even years. «173

In einigen Kulturen gibt es keine Spezialisten für die Durchführung der Trauerriten. Sie werden von Familienmitgliedern gestaltet. Spezialisten wie Schamanen, Priester, Pfarrer oder Arzte verfügen über ein besonderes Wissen. Sie kennen Aspekte der kulturellen Tradition, die für das Verhalten in der Trauer und die Bewältigung des Verlusts wichtig, den Betroffenen aber zum Teil unbekannt sind. Die Bandbreite der Beteiligung der Familie an Beerdigungsritualen reicht von der aktiven Gestaltung mit oder ohne Anleitung eines Spezialisten bis hin zur passiven Partizipation, die charakteristisch für die Kultur in Westeuropa und Nordamerika ist. Spezifische Vorschriften bestimmen, welche rituellen Pflichten Männer und Frauen zu erfüllen haben. In islamischen Ländern dürfen nur Männer den Körper eines toten Mannes und Frauen eine tote Frau waschen. Kinder 120 E. Shapiro. Grief as a family process, 227. 121 P. Rosenblatt. Grief in small scale societies, 31; C. M. Parkes. Conclusions II. In: Ders. u. a. (Hg.). Death and bereavement, 242. 122 Ebd. 123 P. Rosenblatt. Grief, 32.

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werden von den Trauerzeremonien ferngehalten.124 In hinduistischen Beerdigungszeremonien wird erwartet, daß ein Familienmitglied, nach Möglichkeit der älteste Sohn, den Holzstoß, auf dem der Verwandte verbrannt wird, anzündet 125 Eine Gruppe von Frauen versammelt sich zwölf Tage lang täglich, um mit der Witwe zu trauern.126 In vielen kleineren Gesellschaften nehmen Kinder selbstverständlich an den Trauerriten teil und haben Kontakt mit dem Körper des Verstorbenen. b. Die westliche Kultur hat unter dem Einfluß des Humanismus ein stark rationales Verhältnis zum Tod entwickelt und ihre eigenen Rituale gestaltet. Sterben und Tod gehören unter die Aufsicht der Medizin, finden meist im Krankenhaus statt, wo Spezialisten der Familie die Verantwortung abnehmen und durch medikamentöse Behandlung auf die Gestaltung der letzten Tage und Stunden Einfluß nehmen. Die Toten werden von den Lebenden isoliert. Der Kontakt mit ihrem Körper reduziert sich auf ein Minimum. Die Skepsis gegenüber dem Weiterleben nach dem Tod schneidet die Kommunikation mit den Verstorbenen ab. Kinder werden von den Toten möglichst ferngehalten mit dem Argument, dies belaste sie zu sehr. Trost wird in der Erinnerung gesucht. Die Begleitung am Grab und die Trauerarbeit ist Aufgabe von Spezialisten, zu deren Aufgabe auch Trauerberatung und Trauertherapie gehören. Der öffentliche Ausdruck von Emotionen ist erlaubt, wird aber nicht gefördert. Das Durcharbeiten der Emotionen gehört in den Privatbereich, geschieht in der Beratung und im engeren Familienkreis. Eine Veränderung der westlichen Trauerkultur ist durch die Einrichtung von Hospizen und die von ihnen betriebene Förderung der Hauspflege eingeleitet worden. Die Hospizbewegung versteht den Tod als „natürlichen Prozeß, nicht als medizinischen Fehler", und bemüht sich um ein humanes Sterben, das die Person respektiert, ihr das Recht auf ihre Gefühle und auf die Selbstbestimmung läßt.127 Jüdisch- christliche Vorstellungen vom ewigen Leben als eschatologisches Heil nach dem Gericht Gottes am jüngsten Tag oder als Eingehen der Seele in die jenseitige Welt erweitern die Möglichkeiten rituellen Handelns mit Sterbenden und Trauernden (Krankenabendmahl, Krankensalbung, Gedächtnisgottesdienste der Gemeinde am Ewigkeitssonntag, Gedächtnismessen am 7. Tag, und an Jahrestagen). Sie haben die Kraft, die Identität der Individuen und der familiären Gruppe angesichts des Todes zu bewahren und eröffnen den Sterbenden 124 Gerdien Jonker. The many facets of Islam: Death, dying and disposal between orthodox rule and historical convention. In: C. M. Parkes u. a. (Hg.). Death and bereavement, 153 f. 125 Pittu Laungani. Death in a Hindu family, in; C. M. Parkes u.a. (Hg.). Death and bereavement, 61. 126 Ebd., 63. 127 Tonz Walter. Secularization. In: C. M. Parkes u.a. (Hg.). Death and bereavement, 182.

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und denen, die um sie trauern, eine Zukunftshoffnung, die ihnen hilft, das Leiden, das Sterben und die Trauer zu bewältigen und das Leben zu bejahen. Die rationale Einstellung gegenüber dem Tod in den säkularisierten Industrieländern wird dadurch allerdings nicht grundlegend gewandelt. Die Auferstehungshoffnung war in der Geschichte des Christentums oft ein Argument dafür, die Trauer zu unterdrücken und hat den säkularen Rationalismus vorbereitet. Kulturen, die wie der Hinduismus und Buddhismus vom Glauben an die Wiedergeburt ausgehen, rücken das rituelle Weggeleit für die Seele, die den Körper verlassen hat und eine neue Inkarnation finden wird, in den Mittelpunkt. Dabei spielt im Hinduismus die Familie, die unter Anleitung eines Priesters die Beerdigungszeremonien ausrichtet, eine wichtige Rolle. Die Hoffnung, durch den Tod das Rad der Wiedergeburten zu verlassen und ins Nirwana einzugehen, führt im Buddhismus zu einem bewußten und nüchternen Verhältnis zum Tod. In ihm „nehmen die Menschen ihre wahre Identität an."128 Die Beherrschung der Emotionen und die Uberwindung des Egozentrismus durch die Anerkennung und Teilnahme am weltweiten Leiden befreit aus der Gefangenschaft des „kharma" und läßt das Individuum eingehen in den universellen Fluß des Lebens.129 Die islamische Hoffnung auf die körperliche Auferstehung nach dem Tod macht die Pflege und Bewahrung des Körpers des Verstorbenen zum zentralen Element der Trauerrituale. Die Sterbenden sollen das Gesicht gen Mekka wenden, die Anwesenden sprechen Gebete. Der Körper des Verstorbenen wird rituell gewaschen und binnen 24 Stunden möglichst rein und unversehrt beerdigt. c. Die Rekonstruktion der sozialen Beziehungen vollzieht sich in einem zeitlichen Rahmen und ist bezogen auf Rollenerwartungen, die kulturell vorgegeben sind. Die offizielle Trauerzeit kann sich über mehrere Monate, ein Jahr oder mehrere Jahre erstrecken. Die von der Kultur festgelegten Rhythmen sehen teilweise Riten vor, die öffentlich den Abschluß der Trauer und die Reintegration der Witwe oder des Witwers in die Gesellschaft deklarieren. Die jüdische Kultur schreibt vor, daß der Verstorbene 24 Stunden nach dem Tod beerdigt wird, und die Familie danach eine Trauerwoche hält, in der Freunde und Verwandte zu Besuch kommen. Nach einem Jahr, in dem bei verschiedenen Gelegenheiten Gebete gesprochen werden, wird ein Gedächtnisgottesdienst gehalten, die „Entschleierung" (unveiling)130. Dem Abschlußritual kann eine „enorme soziale, religiöse und persönliche Bedeutung" zukommen.131 Nach

128 Uwe P. Gielen. A death on the roof of the world: The perspective of Tibetan Buddhism. In: C. M. Parkes u. a. (Hg.). Death and bereavement, 96. 129 Ebd., 95. 130 Monica McGoldrick. Ethnicity, 81. 131 Paul Rosenblatt. Grief, 49.

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Abschluß dieser Trauerzeit ist dann in vielen Gesellschaften eine Wiederverheiratung möglich. Die Witwe eines Hindu darf nicht wieder heiraten, lebt aber in ihrem Haushalt weiter, der nun vom ältesten Sohn und seiner Ehefrau geleitet wird. Der Ubergang in den Witwenstand ist ein sozialer Statuswechsel, der mit dem Verlust an Macht, Einkommen, Orts- und Wohnungswechsel verbunden sein kann. Der Ausdruck von Emotionen zur Bewältigung der Trauer wird von vielen Gesellschaften gefördert, andere verlangen die Unterdrückung von Gefühlsäußerungen. Die Kulturen haben ihre eigenen indigenen Vorstellungen von pathologischer Trauer, die bei der Beratung ebenso berücksichtigt werden müssen wie ihr Umgang mit Gefühlen. Generell gilt, daß in Kulturen, die Gefühlsäußerungen fördern, die Zurückhaltung von Emotionen ein Zeichen von Schwierigkeiten in der Trauerverarbeitung ist, während in Gesellschaften, die sparsam im Gefühlsausdruck sind, emotionale Äußerungen des Leidens als problematisch einzuschätzen sind.132 Eine Untersuchung von Stroebe und Stroebe (1991) über vermeidende und konfrontative „Trauerstile" ergab, daß eine Korrelation zwischen der von Männern berichteten Vermeidung der Erinnerung an die Verstorbenen mit Depression festzustellen war, bei Frauen jedoch nicht. Die Autoren vermuten, daß Männer durch ihre kulturellen Rollen der Trauer eher gestört werden und die Trauervermeidung darum hinderlich ist, während Frauen mit größerer Wahrscheinlichkeit mit dem Verlust als „natürliches Ergebnis ihrer instrumentalen und emotionalen sozialen Rollen" konfrontiert sind. Immigranten, die einer Minderheitenkultur angehören, haben in westlichen Ländern das Problem, daß ihr Trauerverhalten auf Unverständnis stößt und sie ihre Trauerriten nicht oder unzureichend durchführen können, weil keine Spezialisten zur Verfügung stehen, weil sie selbst nicht über das notwendige Wissen verfügen, weil über die Familie hinaus keine tragfähigen Bindungen mit der ethnischen Gruppe bestehen, oder weil sie schlicht zu arm sind, um die Kosten für die Zeremonie aufzubringen. Westliche Trauerbegleitung, die darauf Wert legt, über den Verstorbenen und die eigene Trauer zu sprechen und das Durcharbeiten der Gefühle beabsichtigt, ist in vielen Fällen nicht angemessen, da es als schädlich oder unangemessen angesehen wird, über den Toten zu sprechen oder Gefühle zu zeigen. Es besteht die Gefahr, Trauerreaktionen von ethnischen Minderheiten zu pathologisieren. Die Somatisierung von Streß in Familien von Hispanics, von Portugiesen und Puertoricanern, oder das verstärkte Auftreten von Halluzinationen über einen langen Zeitraum nach dem Tod eines Angehörigen in verschiedenen Kulturgruppen (Hopi)

132 C. M. Parkes. Help for the dying and the bereaved. In: Ders. u.a. (Hg.). Death and bereavement, 217.

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macht deutlich, wie notwendig es ist, auf pathologisierende Einschätzungen zu verzichten, zumal Familien bei Übergängen im Lebenszyklus, in Streß- und Krisensituationen dazu neigen, auf ihre „ideologische Ethnizität", das heißt auf Gewohnheiten und Grundannahmen zurückzugreifen, die im täglichen Leben nicht fundamental sind, aber ein sinnstiftendes Potential haben. Eine Zusammenarbeit mit rituellen Spezialisten der jeweiligen Kultur, selbst wenn sie einen wesentlich niedrigeren Ausbildungsstandard haben, ist vorzuziehen. Es ist wichtig, die Beziehungen zur ethnischen Gemeinde zu nutzen und die Trauerriten in diesem Kontext zu beachten.

7.5. Exkurs: Psychische Krankheit, Familie und Kultur Der Umgang der systemischen Familientherapie mit psychischen Erkrankungen war von Anfang an geprägt durch die kritische Distanz zur Psychiatrie. Die Erklärung psychischer Erkrankungen als Resultat der gestörten Kommunikation im Familiensystem wurde gegen biologische oder psychodynamische Ätiologien der Psychiatrie ins Feld geführt. Ein Beispiel dafür ist die Schizophrenie: Frieda Fromm-Reichmann sprach von der „schizophrenogenen Mutter". Die Schule von Palo Alto (Bateson, Jackson, Weakland, Haley) meinten, in der double-bind-Theoñe die Ursache der Schizophrenie gefunden zu haben. Theodore Lidz führte die Idee der familiären „Übertragung von Irrationalität" als Erklärung ein. Lyman "Wynne und andere beschrieben die „Pseudomutualität" in der familiären Kommunikation als Ursache. 133 Ein großer Teil der Psychiater geht heute jedoch davon aus, daß die Schizophrenie in ihren verschiedenen Formen auf biologische Ursachen zurückzuführen ist.134 Damit stellt sich die Frage, wie der Zusammenhang von psychischer Erkrankung, Familie und Kultur zu verstehen ist. Die Fronten der psychiatrischen Diskussion um die psychischen Erkrankungen gehen von der Ablehnung psychiatrischer Diagnostik und Ätiologie in der Bewegung der Antipsychiatrie (Thomas Szasz) bis hin zu biologisch-genetischen Modellen, die Umwelteinflüsse als sekundär betrachten. Beide Extreme scheinen problematisch zu sein. Das Antipsychiatrie-Modell, dessen Intention die Befreiung der Patienten von den Stigmata der Diagnostik und der sozialen Kontrolle durch die Rituale der Therapie mit Psychopharmaka und der Disziplinierung durch die Psychotherapie ist, entpuppt sich, wie Prilleltensky gezeigt hat, als politisch konservativer und moralisch problematischer Diskurs, wenn sie, wie es Szasz konsequenterweise getan hat, für die volle Verantwortlich133 Lyman Wynne nach Tseng, Hsu. Culture, 152. 134 Tseng, Hsu. Culture, 153.

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keit und Straffähigkeit der psychisch Kranken eintritt.135 Damit stimmt sie in gewisser Weise mit der Argumentation des rechten Flügels der Psychotherapiekritik überein, der meint, der Umgang mit seelischer Erkrankung in der westlichen Psychiatrie und Psychotherapie sei zu liberal und diene als „Entschuldigung" für von der Normalität abweichende Subjekte. 136 Arthur Kleinman hat auf die Problematik einer vorwiegend an der biologischen Ätiologie interessierten Psychiatrie aufmerksam gemacht. Er zeigt, daß die von der Weltgesundheitsorganisation ( W H O ) durchgeführten internationalen Studien über die Häufigkeit des Auftretens und den Verlauf von Schizophrenie 137 und depressiver Störungen138 vom Interesse geleitet sind, in verschiedenen Kulturen Ähnlichkeiten und „Universalien" zu finden, auf die einheitliche, standardisierte diagnostische Techniken angewendet werden können.139 Methodologisch vernachlässigen die Studien diejenigen Daten, die kulturelle Unterschiede anzeigen und stützen sich vorwiegend auf die klinischen Daten, die dafür sprechen, daß die Inzidenz und Symptomatologie von Schizophrenie und depressiven Störungen in verschiedenen Kulturen ähnlich ist. „There is then, a tacit professional ideology that exaggerates what is universal in psychiatric disorder and deemphasizes what is culturally particular. The crosscultural findings for schizophrenia, major depressive disorder, anxiety disorders, and alcoholism disclose both important similarities and equally important differ"14 η enees. 0

Das biologistische Modell geht davon aus, daß die schwereren psychischen Erkrankungen (Psychosen: Schizophrenie, Depression, Manie, bipolare psychische Störungen, Suchterkrankungen) körperlich verursacht und strukturiert sind. Kulturelle und soziale Faktoren beeinflussen höchstens den „Inhalt" der Störung. Im Fall der Schizophrenie sind die Symptome wie ζ. B. paranoide Wahnideen formal in allen Kulturen vertreten, aber ihr Inhalt (Verfolgung durch den CIA, K G B , Außerirdische, ein feindlicher Nachbarstamm) variiert kulturell141. Mit diesem Ansatz kann man nicht erklären, weshalb Depression von Frauen in Pakistan vorwie135 Isaac Prilleltensky. The politics of abnormal psychology. In: Nancy Rule Goldberger, Jody Bennet Veroff (Hg.). The culture and psychology reader, 658 (vgl. T. Szasz. The

therapeutic state. Buffalo: Prometheus, 1974, 31). 136 Ebd., 657. 137 N. Sartorius, A. Jablensky. Early manifestations and first contact incidence of schi-

zophrenia. In: Psychological Medicine

16, 1986, 909-928; WHO. The international

pilot

study of schizophrenia. Genf: WHO, 1973; WHO. Schizophrenia: An international follow-up study. Chichester: John Wiley, 1979.

138 N. Sartorius, A. Jablensky. Depressive disorders in different cultures. Genf: WHO, 1983. 139 Arthur Kleinman. Do psychiatric disorders differ in different cultures? The methodological questions, In: Nancy Rule Goldberger, Jody Bennet Veroff (Hg.). The culture

and psychology reader, 631. 140 Ebd., 636. 141 Ebd., 638 f.

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gend als Rückenschmerzen, die es ihnen unmöglich machen, ihren Pflichten nachzukommen, beschrieben wird, während in einem westlichen Land das bekannte Bild von Erschöpfung, Schlafstörungen, Schuldgefühlen, Suizidgedanken usw. geschildert wird. Obwohl es sich um dieselbe Störung (disease) handelt, wird die individuelle Erkrankung (illness), das Verhalten des Kranken, die Symptome der Krankheit, die Art, wie er nach Hilfe sucht und die Reaktion auf die Behandlung durch die Kultur bestimmt. 142 „Kleinman (among others) has pointed out, that an experience of any kind includes not only what is happening to you (or in you) but what you make of it. What is experienced is not just Repression' but the subjects own interpretation of it".'43 Die Wahrnehmung der Symptome der Erkrankung ist abhängig von subjektiver Interpretation und von der Sprache, in der die Menschen ihre Kultur erfinden. Die Terminologie der indigenen Psychologie differiert oft erheblich von der des Westens. In Ghana werden alle Spielarten unangenehmer Gefühle durch drei Worte ausgedrückt: eines davon meint die körperlichen Empfindungen und eines das „Verletztsein". Die Yoruba, ein Volk im Südwesten Nigerias, benutzen für „Wut" und „Trauer" dasselbe Wort. Familienbeziehungen werden in verschiedenen Termini dargestellt, die auch andere Beziehungsstrukturen ausdrücken. 144 Ein angemesseneres Modell der Beziehung von psychischer Krankheit und Kultur sollte ausgehen von der dialektischen Wechselwirkung von biologischen, sozialen und kulturellen Faktoren. Einmal ist das Krankheitsbild stärker durch biologisch-körperliche Faktoren geprägt, ein andermal ist es die Umgebung, die eine Schizophrenie zum Ausbruch kommen läßt oder nicht, die Entstehung und Verlauf der Depression, den Umgang mit der Angstsymptomatik oder den paranoiden Phantasien beeinflußt. 145 In diesem Zusammenhang kann der Beitrag der Familie zur psychischen Erkrankung folgendermaßen gesehen werden: a. „Die Familie als pathologisches System": Ihre Struktur, unklare oder rigide Grenzen zwischen den Subsystemen, verschwommene Rollenzuschreibungen, Kommunikationsstörungen, die Triangulierung von Mitgliedern, Mythen, Geheimnisse machen die Familie in der Interaktion mit dem sozialen Umfeld zu einer problembeladenen und mit Symptomen belasteten Gruppe. b. „Die Familie als Wiege der Krankheit": Im Zusammenspiel mit der 142 Ebd., 639. 143 Philip Rack. Race, culture and mental disorder. London, New York: Tavistock Publications, 1982, 106. 144 Ebd., 107. 145 Arthur Kleinman. Psychiatric disorders, 640.

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sozialen Umwelt prädisponiert die Familie ein Mitglied, eine bestimmte Symptomatik zu entwickeln. Die erwähnte jugendliche Delinquenz, Schwangerschaften in der Adoleszenz, die sich in jeder Generation wiederholen, sind Beispiele. c. „Die Pathologie der Familie als Begleiterscheinung der individuellen Erkrankung" : Ein Individuum erkrankt aufgrund einer genetischen Prädisposition, andere ähnlich disponierte Familienmitglieder beginnen ähnliche Symptome zu zeigen. Die Depression eines Familienmitglieds affiziert andere. Mehrere Familienmitglieder übernehmen die paranoide Phantasie des Patienten. d. „Die Familie als Katalysator der Krankheit : Die Struktur und Interaktion der Familie fördert die Symptombildung bei prädisponierten Individuen (Asthma, Allergien, reaktive Depression). e. „ Die Familie reagiert auf die Krankheit" : Die körperliche oder psychische Erkrankung eines Familienmitglieds provoziert eine Streß-Reaktion der Familie, in der sie sich auf eine mehr oder weniger adäquate Weise an die Situation des Zusammenlebens mit einem Schizophrenen, Alkoholiker, Drogenabhängigen usw. anpaßt. 146 Diese fünf Möglichkeiten bilden ein Grundraster, anhand dessen der Zusammenhang von Familie, Krankheit und Kultur systematischer erfaßt werden kann. Spezielle kulturgebundene psychische Krankheitssyndrome wie die „ataque de nervios" oder das Phänomen des „susto" (Erleben einer zeitweisen Dissoziation der Seele vom Körper aufgrund von Streß) 147 in lateinamerikanischen Kulturen sind nicht einfach mit den Kategorien westlicher Psychopathologie zu beschreiben (z. B. als Formen von Hysterie), ihre Beziehung zum Familiensystem kann aber durch das angegebene Schema erfaßt werden.

7.6. Ziele kulturell sensibler

Familienberatung

7.6.1. Kritik an den Zielen der Familienberatung: Die Vernachlässigung des politischen Kontexts Die Pioniere der Familientherapie sind angetreten mit dem Bestreben, weit mehr einzuführen als eine neue Form der Psychotherapie. Sie meinten, mit Hilfe des systemischen Denkens, neue Formen der Problemlösung in Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen erreichen zu können. Ihre Arbeit implizierte eine gesellschaftliche Reformbewegung und hatte politische Konsequenzen. Mit einer gewissen Enttäuschung nehmen manche zur Kenntnis, daß die politischen Folgen nicht eingetreten sind. 146 Vgl. Tseng, Hsu. Culture, 149-152. 147 Philip Rack. Race, 148; Arthur Kleinman. Psychiatric disorders, 640.

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Von Anfang an haben sich Forschung und Ausbildung in Familientherapie außerhalb traditioneller Gesundheitsinstitutionen entwickelt. Sie waren an einem Markt orientiert, auf dem sich in kurzer Zeit gut verdienen ließ und der, so Nichols und Schwartz, deswegen schnell wuchs und von vielen verschiedenen Anbietern bedient wurde. 148 Das führte zu einer Vielfalt teils konkurrierender therapeutischer Modelle und zur impliziten Orientierung an den Problemfeldern der Mittel- und Oberschicht. Familientherapie und Familienberatung sind inzwischen in vielen Ländern der ersten Welt zu einem festen Bestandteil des Systems der Gesundheitsfürsorge geworden. Das bestehende Gesundheitssystem dieser Länder hat sie weitgehend integriert, ohne sich deswegen grundlegend zu wandeln. Es hat Impulse des systemischen Denkens aufgenommen, bemüht sich vor allem um eine integrative Zusammenarbeit verschiedener Institutionen und Dienste (Beratungsstellen, Arzte, Sozialarbeiter, Psychologen), die mit einem Patienten und seiner Familie befaßt sind und hat neue Formen kontextnaher Krisenintervention und Familienbegeleitung gesucht (ζ. B. die home based therapy). Es ist jedoch zurecht kritisiert worden, daß es die Familientherapie trotz ihrer ökologisch-kontextuellen Perspektive verfehlt hat, auf die sozialen und politischen Kräfte einzuwirken, denen die Familien ausgesetzt sind und die ihr Gleichgewicht stören. „A minimalist reading of systems theory has led the field to perceive the family as the ultimate system to be concerned with, and to pay only lip service to the wider societal systems. Systems family therapy has been operating under the working (not theoretical) assumption that intervention is with all the family, and nothing but the family . . . By depicting the family as a central perpetrator in the infliction of psychological distress, attention is deflected from social conflicts that may actively shape and perpetuate the mental health of the population."149

Solange die Familientherapie sich also nicht darauf einläßt, Familienprobleme im Kontext gesellschaftlicher Probleme zu betrachten und Arbeitslosigkeit, die Dynamik des Marktes, die ältere Menschen an den Rand drängt, den Mangel an sozialen Sicherungssystemen, angemessener Gesundheitsfürsorge und der Ausbeutung durch Niedriglöhne, hohe Wochenarbeitszeiten, Kinderarbeit, die Belastung durch Umweltgifte am Arbeitsplatz ohne angemessenen Schutz in Ländern der dritten Welt in die Diagnose und Behandlung einzubeziehen, wird sie dazu neigen, die Pathologie im Familiensystem festzumachen und zu behandeln. Die Familie wird dann unabhängig von ihrer Situation als „krank" oder „gestört" eingestuft. 150 Unter der Hand werden dadurch soziale Probleme

148 Michael P. Nichols, Richard C. Schwartz. Family Therapy, 75 ff. 149 Isaac Prilleltensky. The politics of abnormal psychology. In: Nancy Rule Goldberger/Jody Bennet Veroff (Hg.). The culture and psychology reader, 660 f. 150 Ebd. 652, 656.

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„familiarisiert" und der „Patient Familie" muß mit dem Stigma leben, „dysfunktional" oder „pathologisch" zu sein. Diese Feststellung macht es zu einem dringenden Anliegen systemischer Familientherapie- und -beratung, den weiteren sozialen und politischen Kontext, der das kulturelle Umfeld prägt, bei der Arbeit mit Familien zu berücksichtigen. Empowerment wird darum zu einem vorrangigen Ziel von Therapie, Beratung und Sozialarbeit mit Familien, speziell mit Familien aus der Unterschicht und kulturellen Minoritäten.

7.6.2. Empowerment als Ziel in Sozialarbeit und „multisystemischer" Familientherapie Das von A. C. Powell und St. Carmichael auf dem radikaleren Flügel der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung 1965/66 geprägte Schlagwort „Black Power" formulierte die Forderung, daß sich die Schwarzen auf ihre eigene Identität, den Reichtum und die Überlegenheit ihres kulturellen Erbes besinnen, um Zugang zu Machtpositionen in der Gesellschaft kämpfen und sie entsprechend ihrer ethnischen und kulturellen Eigenart verändern. Empowerment der schwarzen Minderheit wurde zu einer zentralen politischen Zielvorstellung der Bürgerrechtsbewegung, die von dort aus in die Sozialarbeit 151 und Psychotherapie 152 Eingang fand. Der Begriff des Empowerment ist zum „Signum einer neuen Philosophie des Helfens" geworden. 153 Er wurde von Barbara Solomon 1976 in die sozialwissenschaftliche Diskussion eingeführt und bezog sich auf eine von der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen und einer „radikal-politischen Gemeinwesenarbeit" beeinflußte soziale Arbeit in „schwarzen Ghettos". 154 In der historischen Entwicklung dieses Begriffs zum programmatischen Konzept von Sozialarbeit und Therapie in den USA waren nach Herriger vier weitere soziale Bewegungen bedeutsam: 1 ) Der Feminismus, der die soziale Ungleichheit von Frauen analysierte und in seinen politisch radikalen oder liberalen Spielarten die Freiheit der Frauen zu einem stärker selbstbestimmten Leben forderte. 2) Die Selbsthilfe-Bewegung der 70-er Jahre, in denen die von Problemen Betroffenen selbst damit beginnen, unterstützende Netzwerke aufzubauen, sich gegen „entmündigende Staatsfürsorglichkeit" auflehnen und Hilfsangebote entwickeln, die sich 151 Vgl. B. Solomon. Black empowerment: Social work in oppressed communities, New York: Columbia University Press, 1976; D. Wwaver, Empowering treatment skills for helping black families. In: Social Casework, 6, 1982, 100-105; Norbert Herriger. Empowerment in der sozialen Arbeit. Eine Einführung. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer, 1997. 152 E. Pinderhughes. Empowerment for our clients and for ourselves. In: Social Casework, 64(6), 331-338; Nancy Boyd-Franklin. Black families in therapy: A multisystems approach. New York, London: Guilford Press, 1989. 153 Norbert Herriger, Empowerment, 18. 154 Ebd.

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durch die „Betonung der Betroffenenperspektive", soziale „Nähe und Gemeinschaft" und die „Einübung der Betroffenen in die Rolle von ,kritischen Konsumenten' sozialer Dienstleistungen" auszeichnen. 3) Die von Saul Alinsky in den suburbs von Chicago initiierten Community Action Programme propagierten eine konfrontative „Politik der Bürgereinmischung" und 4) die „Gemeindepsychologie" suchte auf der Basis eines ganzheitlichen Gesundheitskonzepts leicht zugängliche Netze psychosozialer Unterstützung aufzubauen, die Bürger in ihrer Wohnumgebung zu beheimaten und demokratische Bürgerinitiativen zu fördern. Bei der Verbesserung der psychosozialen Versorgung spielte die Prävention eine entscheidende Rolle. 5) Die von dem brasilianischen Pädagogen Paulo Freire formulierte Pädagogik der Unterdrückten beeinflußte die „Empowerment-Bewegung" vor allem durch die methodische Arbeit an der „Bewußtseinsbildung" (conscientizaçâo) im Dialog, bei dem sich Schwerpunktthemen herausbilden (temas geraderes), die zum Gegenstand vertiefter Problemanalyse werden und zur sozialen Aktion führen.155 Der Begriff des empowerment verbindet also eine politische Orientierung an der sozialen Praxis der Gemeinschaft, eine Basisorientierung, die von der Initiative der von einem Problem Betroffenen ausgeht und eine Orientierung an den Kompetenzen und Ressourcen der einzelnen und ihrer sozialen Netzwerke. In Sozialarbeit und Therapie fordert dieser Begriff einen „Perspektivenwechsel", der sich von einer „entmündigenden sozialen Expertokratie" abwendet156 und darum bemüht, eine „neue Kultur des Helfens" zu etablieren, die solidarisch „das Selbstbestimmungsrecht der Adressaten und die Anerkennung ihrer Lebensentwürfe auch dort, wo diese aus den Normalitäts- und Toleranzzonen herausfallen, zum Fundament beruflichen Handelns macht."157 Dieser Perspektivenwechsel schlägt sich nieder in einer neuen „Philosophie der Menschenstärken". Sie kehrt die in Sozialarbeit, Therapie, Beratung und Seelsorge oft vorherrschende „Defizitperspektive" um, sieht den anderen also nicht „im Fadenkreuz seiner Lebensunfähigkeiten und Hilflosigkeiten". Vielmehr betrachtet sie auch die problembeladenen Menschen als „Regisseure der eigenen Biographie", die Fähigkeiten besitzen, ihren Alltag zu bewältigen.158 Die „Philosophie des empowerment setzt sich, so Herriger, aus fünf Bausteinen zusammen: 1) das Vertrauen auf die Fähigkeit des einzelnen, sein Leben selbständig zu gestalten, 2) der Respekt vor „unkonventionellen Lebensentwürfen" und dem „Eigensinn" der Klientinnen, 3) das Akzeptieren von Störungen, Verzögerungen und Umwegen der empowerment-Prozesse aufgrund des eigenen Zeithorizonts der Klientinnen, der nicht mit dem rationell geplanter Interventionen 155 156 157 158

230

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

23-34. 34. 35. 73.

der Helfer zusammenpaßt, 159 4) „eine nicht beurteilende Grundhaltung"160, die davon ausgeht, daß die Klientinnen Experten für ihr Leben sind und sich darum „entmündigende(r) Expertenurteile" enthält; die Zukunftsorientierung, die darauf ausgerichtet ist, mit ihm neue Möglichkeiten zu erschließen und seine Ressourcen zu entdecken. Sie benutzt Aspekte der Lebensgeschichte eines Menschen nur, insofern es zu diesem Prozeß beiträgt, verzichtet also auf eine Vertiefung der biographischen Aspekte des Scheiterns und der Schwäche, beziehungsweise erinnert diese im Blick auf die Zukunft unter der Fragestellung: „Was würdest Du heute anders machen"?161 In diesen „Bausteinen" des empowerment-Prozesses ist die formende Kraft der Kurzzeittherapie der Gruppe von Palo Alto, vor allem aber des lösungsorientierten Ansatzes Steve de Shazers162, spürbar. Der zeigt sich in der entschiedenen Hinwendung zur Zukunft, dem Bauen auf die Stärken, die Sicht der Klientinnen als Experten. Man bekommt jedoch fast den Eindruck, man habe es hier auch mit einer Variante der sogenannten „Philosophie des positiven Denkens" zu tun, zumal, wenn als Begründung des empowerment der Grundsatz vertreten wird, „daß jede Person eine innere Kraft besitzt, die man als , Lebenskraft', ,Fähigkeit zur Lebenstransformation', ,Lebensenergie', Spiritualität', ,regenerative oder heilende Kraft' bezeichnen mag . . . Der Prozeß des Empowerment erweckt oder stimuliert diese eigene natürliche Kraft des einzelnen".163 Hier besteht, wie Herriger selbst sieht, die Gefahr, die menschlichen Schwächen und die tatsächliche Ohnmacht nicht ernst zu nehmen. Das kann zur Folge haben, daß die Helferinnen gerade in solchen Situationen in eine Abwehrhaltung gehen, das Sterbezimmer meiden, flüchten, „hoffnungslose Fälle" vernachlässigen, sich an falsche Hoffnungen klammern, dabei aber zukunftsorientiert optimistisch und immer geschäftig bleiben, die tatsächliche Situation des anderen jedoch verfehlen. In der Sprache fällt auch eine stark „gewinnorientierte" Einstellung auf, wenn es zum Beispiel in der Arbeit mit der Lebensgeschichte darum geht „zukünftige Lebensgewinne anzustoßen" und dafür „auf lebensgeschichtlich bereits , angesparte' Lebensgewinne zurückzugreifen". 164 Der Verdacht ist dann doch nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, daß hier die egozentrische und kalkulistische Perspektive des „Ellenbogen-Menschen"165 die Uberhand gewinnen kann. Hier schleicht sich ein falscher Ton ein, 159 Ebd., 75-79. 160 Ebd., 79. 161 Ebd., 81. 162 Steve de Shazer. Kurztherapie. Zielgerichtete Entwicklung von Lösungen. In: Familiendynamik 3, 1986, 182-205; Ders., Investigating solutions in brief therapy. New York, 1988. 163 Ebd., 74 164 Ebd., 81. 165 Ebd., 83.

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der Mißklang einer westlich-kapitalistischen Sicht des Menschen, die ganz auf Stärke setzt. Darum soll es jedoch im Prozeß des Empowerment gerade nicht gehen, vielmehr um die Entdeckung der Stärke in der Schwäche und der Kraft der Solidarität, die aus dem gemeinsam geteilten Leid kommt, wenn die Betroffenen einander helfen, die Gründe ihres Elends zu verstehen, ihren Lebensanspruch gegenseitig bestärken, wachsen lassen und politisch artikulieren. Aus christlich-theologischer Perspektive ist darum eine Begründung der Empowerment-Perspektive mit dem Verweis auf die „Lebensenergie" unzulänglich. Die paulinische Tradition im Neuen Testament verweist auf das Paradox des Wortes vom Kreuz, das die Kraft Gottes als göttliche Schwachheit, die stärker ist als die Menschen (1. Kor 1.25) verkündet. Sie gründet sich in einem Gottesverständnis, das die Stärke Gottes in seiner Hingabe an die Schwachheit, an das Leiden und Sterben der Menschen und in ihrer Uberwindung in der Auferstehung Jesu Christi zum neuen Leben sehen lehrt. Sie gewinnt von diesem Gottesverständnis her eine Wahrnehmung der Schöpfung und des Menschen, die gezeichnet ist vom Paradox der Stärke in der Schwäche. Sie begreift den kosmischen Prozeß der Schöpfung und des Seins der Geschöpfe als bewegt und durchdrungen vom Geist Gottes, der aus dem Nichts schafft, aus der Vernichtung und dem Tod Neues entstehen läßt, Tod und Vergänglichkeit zur natürlichen Bedingung der Entstehung von neuem Leben macht, Sein und Leben nur in der Ambivalenz der Teilhabe und der schmerzlichen Entfremdung vom göttlichen Ursprung möglich sein läßt, der selbst teilnimmt am kosmischen Prozeß. Diese Ambivalenz oder dieses Paradox zieht sich durch in der christlichen Sicht des Menschen, wenn Paulus sich seiner Schwachheit rühmt, weil sie ihn darauf verweist, daß für ihn Gottes Gnade genug ist und daß Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist (2. Kor 12.9). Der Glaube wird hier zum Ausgangspunkt des Empowerment, der in Leiden, Nöten und Verfolgungen Mut gibt, weil der Glaubende die Situation der Schwäche im Vertrauen auf den Gott Jesu Christi umdeuten kann in Stärke („Wenn ich schwach bin, so bin ich stark" (2. Kor 12.10)) und so weit geht, die eigene Schwäche zugunsten des Empowerment der anderen zu akzeptieren (2. Kor 13.9). Christlich verstanden ist also die Wurzel des empowerment der Glaube an die Gnade Gottes, in dem die Dialektik von Stärke und Schwäche als Teil des geschöpflichen Lebens angenommen wird und auf der Basis von gnädiger Annahme durch Gott und Vergebung eine Zukunftsperspektive gewonnen wird, die es nun allerdings unnötig macht, ständig auf sein Leben zurückzuschauen, sich seine Fehler, Sünden und Schwächen vorzuhalten. Vielmehr wird es möglich, Ressourcen in der eigenen Geschichte, im eigenen Körper, in der Familie und den anderen Netzwerken des sozialen Lebens zu entdecken und zu nutzen.166

166 In der deutschsprachigen Seelsorgeliteratur wird der Begriff des Empowerment

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auf-

Kehren wir zurück zur Familientherapie. Nancy Boyd-Franklin greift den Begriff empowerment in ihrem Vorschlag der multisystemischen Familientherapie mit Familien der „schwarzen" Minderheit in der U S A auf und definiert ihn wie folgt: „Empowerment . . . is defined as the process whereby the therapist restructures the family to facilitate the appropriate designation and use of power within the family system and to mobilize the family's ability to successfully interact with external systems . . . It is important to give this concept consideration because it is central to the initiation of effective therapeutic change when treating Black families. Many of these families have a multigenerational history of victimization by poverty and racism. Unlike other cultural and ethnic groups who can ,blend in' or become part of the ,melting pot', Black people by virtue of skin color are visible reminders of the inequities of society. Empowerment therefore consists in helping people to gain the ability to make and implement basic life decisions in their own lives and the lives of their children. Empowerment often involves helping parents to take back the control of their own families and feel that they can effect important changes for themselves."167 Das empowerment-Konzept in der Familientherapie rückt die Befähigung von Familienmitgliedern, sich aktiv mit ihrer Lebenssituation auseinanderzusetzen, Entscheidungen zu treffen, die Rolle als Eltern einzunehmen, die den Kindern Grenzen setzen und in der Lage sind, sie zu kontrollieren in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang von rassischer und sozialer Benachteiligung der schwarzen Minderheit. D a s heißt: die Intervention in der Familienberatung ist ein erster Schritt zur Veränderung der sozialen Lage. D a s Konzept geht davon aus, daß die Familienmitglieder selbst die Subjekte des Veränderungsprozesses sind {agents of change). Empowerment- Strategien haben deshalb o f t pädagogischen Charakter: „Using empowerment strategies with our clients would emphasize teaching them about power dynamics and the systems in which they live. They can come to understand the way in which the social systems supports or undermines their functions as individuals and as a family. They can learn to sort out the factors in their predicament that belong to external systems and those that belong to them. In doing so, they will not assume blame for systemic influences but will take responsibility for ways in which they collude in reinforcing their own powerlessness. "168 Boyd-Franklin operationalisiert das Beratungsziel empowerment in einem multisystemischen Modell der Familientherapie mit schwarzen Familien (multisystems approach), das uns auch für die Arbeit mit Familien aus anderen Kulturen exemplarisch erscheint, da es den kulturellen Aspekt gegriffen bei Urs Baumann u. a. Seelsorgerliche Gesprächsfiihrung. Ein Lernprogramm. Düsseldorf: Patmos, 1996, 85 ff. 167 Nancy Boyd-Franklin Black families in therapy, 22 f. 168 E. Pinderhughes. Empowerment, 335.

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der Strukturierung der Familie und ihrer sozialen Umwelt berücksichtigt und besonderen Wert darauf legt, natürliche Helfersysteme wie Kirchengemeinden und kulturelle Traditionen, ζ. B. die Bedeutung der Religion in schwarzen Familien einzubeziehen. Das multisystemische Modell lehnt sich stark an die strukturelle Familientherapie an, bezieht den von Jay Haley entwickelten Ansatz der problemlösenden Familientherapie ein und verbindet ihn mit Konzepten der Sozialarbeit. Es bewegt sich um zwei Achsen. Die erste Achse wird gebildet durch einen 6 methodische Schritte umfassenden Therapieplan, die zweite Achse bildet das „Multisystem" des sozialen Netzwerks, innerhalb dessen die Familie lebt. Die 6 Schritte des Therapieplans auf Achse 1 sind: Schritt 1: Kontaktaufnahme und therapeutisches Bündnis (joining and engaging). Der Berater nimmt persönlich mit jedem Familienmitglied Kontakt auf, kommt mit ihm ins Gespräch bis er den Eindruck hat, daß es möglich ist, gemeinsam an den familiären Problemen zu arbeiten. Boyd-Franklin sieht diesen Schritt als den schwersten in der Arbeit mit schwarzen Familien. Rassismus und soziale Benachteiligung durch Generationen haben in ihnen ein starkes Mißtrauen wachsen lassen. Mit diesem Mißtrauen haben auch Berater zu kämpfen, die mit anderen ethnischen Minderheiten oder mit armen Bevölkerungsgruppen arbeiten. Männer in verschiedenen Kulturen zögern oft, an der Beratung teilzunehmen und bedürfen besonderer Aufmerksamkeit. Es ist üblich, daß nur ein Familienmitglied oder eine kleine Gruppe kommt. Wichtige Schlüsselfiguren fehlen und müssen direkt durch Briefe, Telefonate oder Hausbesuche angesprochen und einbezogen werden. Dabei ist es wichtig, mit den Personen, die kommen, zu arbeiten. Man kann auch mit Individuen „multisystemisch" arbeiten. Schritt 2: Initiale Beobachtung und Einschätzung (initial assessment). In allen Familienberatungen ist es wichtig darauf zu achten 1) welche Sitzordnung die Familie einnimmt, 2) wer der Sprecher ist, 3) ob die Familienmitglieder einander unterbrechen oder zu sprechen erlauben, 4) wer von der Familie anwesend ist und wer fehlt, 5) wie die Grenzen der Familie nach außen und zwischen den Subsystemen beschaffen sind, 6) wer in der Familie die Macht hat und ob er anwesend ist. In der Arbeit mit schwarzen Familien muß zusätzlich darauf geachtet werden, ob sich ein Vertrauensverhältnis aufbauen ließ, wer die Familie überwiesen hat, ob der Unterschied zwischen der überweisenden Institution (z. B. Familiengericht, Jugendamt, Pastor etc.) und dem Berater genügend deutlich gemacht wurde, wie sich die anwesenden und die abwesenden Familienmitglieder angesichts der Tatsache fühlen, in Therapie/Beratung zu gehen, weswegen die Familie meint, in die Beratung zu kommen und was sie vom Beratungsprozeß erwarten. 234

Schritt 3: Problemlösung (problem solving). In der Arbeit mit schwarzen Familien ist es vorteilhaft, von Anfang an der Lösung konkreter Probleme zu arbeiten, da die Familien dadurch 1) schnell lernen in der Therapie mitzuarbeiten, 2) die frühe Identifikation der dringendsten Probleme und das Setzen von Prioritäten der Familie, die oft unter multiplen Problemen leidet, hilft, ihre Fähigkeiten zur Problemlösung zu entdecken, 3) die Glaubwürdigkeit des Beraters und das Vertrauen der Familie in die Problemlösung erhöht. Schritt 4: Familien-Rollenspiel, Verschreibungen und Aufgaben (Family enactment, prescriptions and tasks). Die strukturelle Familientherapie fördert die Darstellung familiärer Interaktionen in Rollenspielen. Sie helfen schwarzen Familien, sich stärker in den Beratungsprozeß einzubringen und nicht einfach auf eine schnelle Lösung (quick fix) der Probleme zu hoffen, Interaktionsmuster kritisch wahrzunehmen, den Zusammenhang zwischen dem was in der Beratung besprochen wird und den Problemen des Zusammenlebens zuhause zu verstehen. Dadurch wird ihr Interaktionsrepertoire und ihr Handlungsspielraum erweitert. „Hausaufgaben" wie etwa die Aufgabe, daß die Mutter mit der abwesenden Großmutter über das Problem sprechen soll, beziehen abwesende Familienmitglieder in die Interaktion ein und helfen neue Arten des Umgangs mit dem Problem zu finden. Schritt 5: Sammeln von Informationen: Das Genogramm (information gathering: the genogram) Die aus der Schule Murray Bowens stammende Arbeit mit Genogrammen, standardisierten Familienstammbäumen über mehrere Generationen ist ein wirksames Instrument, mit dem Familientherapeuten Informationen über die Familiengeschichte, über intergenerationelle Muster und Probleme gewinnen können. Die Arbeit mit Genogrammen setzt eine Vertrauensbeziehung voraus und kann darum in der Arbeit mit schwarzen Familien, die eine ihrer sozialen Situation angemessene und heilsame „kulturelle Paranoia" entwickelt haben, nicht am Anfang eingesetzt werden wie es in der Familientherapie mit weißen Mittelschichtfamilien üblich ist. Schritt 6: Restrukturierung der Familie und des Multisystems (restructuring the family and the multisystems). Dieser Schritt formuliert das eigentliche Therapieziel. Er setzt voraus, daß die Berater die Beziehung der Familie zu den verschiedenen, von Boyd-Franklin als Achse II bezeichneten Ebenen des öko-sozialen Multisystems, in dem sie lebt, wahrnehmen und in den Problemlösungsprozeß einbeziehen.169 169 Nancy Boyd-Franklin. Black families in therapy, 135-148.

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In Anlehnung an Theorien Bronfenbrenners und Apontes beschreibt Boyd-Franklin sieben Ebenen des Multisystems, die in konzentrischen Kreisen immer weitere soziale Bereiche umfassen: 1) Individuum, 2) familiäre Subsysteme, 3) Familie, die in einem Haushalt zusammenlebt, 4) Großfamilie, 5) Nicht blutsverwandte Bezugspersonen und Freunde, 6) Kirche und Ressourcen der Gemeinde, 7) Einrichtungen der Wohlfahrt, soziale Dienste und andere Systeme. 1 7 0 „The multisystems approach expands the ,road map' of the therapist in working with Black families, helping to highlight the levels to be explored and allowing the therapist to maintain a problem-solving focus and to explore the ways in which each system level contributes to the problem that a particular family is struggling to resolve .. .The multisystems approach also enables the therapist to explore systematically each of the levels in looking for resources of people and services that might aid in finding a solution of a particular problem". 17 ' Besondere Aufmerksamkeit muß dabei auf das tatsächliche familiäre Netzwerk (Ebene 2 und 3) gerichtet werden, das sich bei schwarzen Familien nicht auf die Klein- oder Großfamilie beschränken muß. Es ist wichtig, zu erfragen, wer bei der Kindererziehung mithilft oder aushilft, wer stets oder zeitweise im Haushalt lebt, ob die Kinder alle denselben oder verschiedene Väter haben. D a s Netzwerk der Großfamilie und der nicht blutsverwandten Bezugspersonen und Freunde (Ebene 4 und 5) kann an der Kindererziehung beteiligt sein, eine Funktion als Berater und H e l f e r in Schwierigkeiten übernehmen, sich einmischen, durch Krankheit oder T o d das familiäre Gleichgewicht beeinflussen. Kirche und Gemeinde (Ebene 6) sind ein zentrales Element im Leben schwarzer Familien und leisten in Krisenzeiten wichtige soziale Dienste. „ . . . the crisis of fire, homelessness, hospitalization, illness, isolation, and so forth can often be helped by the support of the church ,family'. For many Black clients and families who are emotionally cut off or geographically isolated from their biological extended family, helping them find a church family and address their fears about doing so can have a long-term therapeutic effect. For many overburdened single-parent mothers who have no particular religious orientation but who are feeling burdened, overwhelmed and isolated, a Black church can provide social life for mother and children, free child care and school and after-school programs and meaningful activities for children to keep them of the streets. For some mothers who have difficulty organizing to seek help, Black churches can provide a structure to help them mobilize. They can also ,pass their hat', when a family has lost their possessions in a fire or provide a temporary sanctuary if a family is homeless".172 Die Beziehung zu anderen sozialen Institutionen wie Schule oder Einrichtungen der Sozialhilfe und Wohlfahrt (Ebene 7) spielt besonders im 170 Ebd., 148-156. 171 Ebd., 156 f. 172 Ebd., 155 f.

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Leben von armen schwarzen Familien eine wichtige Rolle. Sie sind auf diese Einrichtungen angewiesen, um elementare Bedürfnisse (Wohnung, Nahrung, Kleidung etc.) zu befriedigen, haben es aber oft mit einer unüberschaubaren Bürokratie, Kompetenzstreitigkeiten zwischen Institutionen und Unklarheit über Zuständigkeiten zu tun. Gerichte, Jugendbehörden und Schulen können erheblichen Druck auf die Familie ausüben und direkt intervenieren (Entziehung der Vormundschaft, Plazierung der Kinder in verschiedenen Pflegefamilien und Heimen, die gerichtliche Anordnung von Therapie . . . ) . Der Eingriff sozialer Institutionen in das Leben dieser Unterschichtfamilien kann das Gefühl der Ohnmacht verstärken. Die Familienmitglieder fühlen sich unfähig, das eigene Leben zu organisieren und zu steuern. Abgesehen von der zur Überwindung des Mißtrauens notwendigen Klärung der Beziehung des Beraters und der Beraterin zu diesen Institutionen, ist es notwendig, daß sie ihre eigenen Vorurteile und Einstellungen gegenüber armen Menschen kritisch überprüfen, die Bemühungen der Eltern um eine Verbesserung ihrer Lage oder der Lage ihrer Kinder würdigen und sich mit diesem Wunsch nach Besserung verbünden. Sie müssen die Priorität konkreter Probleme wie „Geld, Wohnung, Essen, Sicherheit", die von den meisten familientherapeutischen Schulen nicht berücksichtigt werden, anerkennen. Die Erfahrung, die wir in der Familienberatung mit brasilianischen Familien aus der Unterschicht und der unteren Mittelschicht machen konnten, hat uns gelehrt, daß sie mit einer ganzen Reihe von ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben wie die multiproblematischen Unterschichtfamilien in Nordamerika. Zu nennen sind hier vor allem der Eingriff von sozialen Institutionen und Hilfsorganisationen in das Familienleben, das Gefühl von Hilflosigkeit, Mißtrauen gegenüber den Beraterinnen aufgrund von negativen Vorerfahrungen mit Vertretern des Gesundheitswesens und der Sozialbehörden, die Hilfeleistungen oft durch bürokratische Hürden so sehr erschweren, daß sie die Betroffenen nicht mehr erreicht. Dieses Mißtrauen war besonders ausgeprägt bei Familien, die von der örtlichen Jugendbehörde oder vom Jugendgericht in die Beratung verwiesen wurden. Auch wenn es sich nicht um schwarze oder farbige Familien handelte, spielten die Großfamilie, die Nachbarschaft und die religiöse Gemeinde, zu der die Familie gehörte, ein wichtige Rolle im Familienleben und im Beratungsprozeß. Arme Familien in Brasilien haben mit einer Vielzahl von Problemen zu kämpfen, die oft gleichzeitig auftreten (ζ. B. Arbeitslosigkeit, Schulden, Ehekonflikte, Probleme der Kinder in der Schule, Drogenmißbrauch, gewaltsame Auseinandersetzungen etc.). Entsprechend muß die Beratung problemorientiert arbeiten, auf kurzfristige Lösungen aus sein, die ein Gefühl von Erleichterung geben, die Familie von der Effektivität der Beratung überzeugen und helfen Mißtrauen abzubauen. Es ist unumgänglich, die soziale Lage der Familie zum Ausgangspunkt der beraterischen Intervention 237

zu machen und mit Schlüsselfiguren des sozialen Netzwerks (Pfarrer, Sozialarbeiter, Nachbarn, Freunde etc.) zusammenzuarbeiten. Dies alles spricht für eine Anwendung des problemorientierten, multisystemischen Ansatzes der Familientherapie in der Beratung mit armen Familien in Brasilien und Lateinamerika. Wer mit diesem Ansatz arbeitet, darf jedoch nicht dem Trugschluß verfallen, als wären die Erfahrungen schwarzer Familien der nordamerikanischen Unterschicht einfach auf die brasilianischen Verhältnisse übertragbar. Dort wird das Verhältnis der Familien zu den Beratern und zu anderen Vertretern sozialer Hilfssysteme stark durch das verbreitete paternalistische Verhältnis zwischen dem Patron und seinen Untergebenen bestimmt. Medizinische, soziale und beraterische Hilfe wird leicht als paternalistischer Gunsterweis verstanden und ruft entsprechende ambivalente Reaktionen auf seiten der Klientlnneen und der Beraterinnen hervor. Die Klientinnen suchen die Beratungssituation zu nutzen, um für sich gewisse Erleichterungen und Vorteile im Umgang mit Jugendbehörden, Ärzten, Sozialarbeitern zu erlangen. Sie akzeptieren die Beraterinnen und Berater in der Funktion als „padrinho" oder als „madrinha", als Pate und Patin, die in gewisser Weise zur Großfamilie gehören und die Familie in ihren väterlichen und mütterlichen Schutz nehmen. Sie geraten leicht in die Situation, die ihnen angetragene Rolle des Paten und der Patin aktiv wahrzunehmen. Sie machen dann jedoch oft die Erfahrung, daß ihre aktive Hilfe, etwa die Vermittlung einer kostenlosen ärztlichen Behandlung, nicht wahrgenommen wird. Die Familien nutzen die Möglichkeit, die ihnen eröffnet wurde, nicht. Wer in diesem kulturellen Kontext das Ziel des „empowerment" verfolgt, muß sich über die assistenzialistischen Erwartungen seiner Klienten im klaren sein und ihnen behilflich sein, ihre Fähigkeiten zur Selbsthilfe zu verbessern.

7.6.3. Ziele multikultureller Familienberatung Familienberatung, die in einem multikulturellen Kontext arbeitet, wird die Elemente der kulturellen Tradition, die für die Klienten selbstverständlich und relevant sind, einbeziehen, wenn sie die Beratungsziele festlegt und den Verlauf der Beratung plant. Der systemische Ansatz der Familienforschung legt es nahe, davon auszugehen, daß eine Familie, welcher Kultur sie auch angehört, gewisse Grundaufgaben zu meistern hat, damit sie als System im Wandel der Zeit bestehen kann. Tseng und Hsu beschreiben diese Aufgaben folgendermaßen: „It must maintain stable cohesion among members for family identity and emotional support while keeping certain boundaries between members for individual autonomy (...), move and go through progressively different stages of family development and meet and perform various tasks required for each stage of

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development (...), and adjust and cope with various stressors or problems encountered in family life with a certain degree of flexibility and with appropriate coping mechanisms (.. .)"'"· Ziel der Familienberatung ist es, das familiäre System zu befähigen, diese Aufgaben unter den jeweiligen kulturellen Voraussetzungen wahrzunehmen. Dabei sollen die an der Beratung teilnehmenden Familienmitglieder im Dialog mit den Beratern bestimmen, welche Ziele sie erreichen wollen und welche der kulturell vorgegebenen Beziehungsmodelle, -normen und Verhaltensmuster für sie angemessen sind. D a dies zu Beginn einer Beratung oft nicht eindeutig festgelegt werden kann, muß die Frage der Zieldefinition im Beratungsprozeß immer wieder aufgegriffen und mit den Familienmitgliedern neu ausgehandelt werden. Die von Tseng und Hsu auf der Basis einer Studie von Glick, Clarkin und Kessler 174 über verschiedene Sichtweisen der Ziele der Familientherapie vorgelegte Ubersicht über die Ziele und Strategien kulturell angepaßter Familientherapie hält sich im Bereich genereller Formulierungen, die dann jeweils vom kulturellen Kontext her gefüllt werden müssen. „Ziele der Therapie und Therapeutische Strategien Ziele der Therapie

Therapeutische Strategien

Verstärkter Gebrauch von existierenden adaptiven Bewältigungsmustern Förderung der Kommunikation Verstärkung von angemessenen emotionalen Ausdrucksformen 3. Entwicklung interpersonaler Verbesserung der Kommunikation und Kompetenz kommunikativer Fertigkeiten 4. Reorganisation der Familienstruktur Klärung von Grenzen 5. Verstärkung des Selbstverständnisses Vergrößerung der Wahrnehmung von Verhal(insight) tensmustern und des Charakters von Problemen 6. Angemessene Bewältigung von Stimulierung von Fortschritten in der Entwicklungsaufgaben Entwicklung 7. Pflege einer , Familienkultur' Wiedereinführung von Grundüberzeugungen und Regeln, die in der Familie beachtet werden sollen 8. Verbesserung des soziokulturellen Aufbau eines adäquaten außerfamiliären Funktionierens der Familie sozialen Netzwerks 9. Wiedererlangung der kulturellen Suche nach und Bildung eines Gefühls Identität der Familie von Zugehörigkeit und Identifikation mit einer bestimmten Gruppe" Aus I.D. Glick, J.F. Clarkin, D.R. Kessler. Marital and Family Therapy. 3.Aufl., Orlando: Grüne and Stratton, zit. nach Tseng, Hsu, Culture and Family. 207. 1. Unterstützung von Allpassungsmechanismen 2. Erweiterung der emotionalen Erfahrung

173 Tseng, Hsu. Culture, 210. 174 I. D. Glick, J. F. Clarkin, D. R. Kessler. Marital and Family Therapy. 3. Aufl., Orlando: Grüne and Stratton, zit. nach Tseng, Hsu, Culture and Family. 207.

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Tseng und Hsu nennen eine Reihe von kulturellen Implikationen der Familientherapie, die in den Zielen 4, 7 und 8 angesprochen sind und teilweise über sie hinausgehen. Sie fordern, daß die „kulturelle Norm" angemessener „Familienfunktionen" wiederhergestellt werden muß. Sie gehen davon aus, daß jede Gesellschaft über ein kulturell sanktioniertes Verständnis angemessener Funktionen in einer Familie verfügt und plädieren dafür, daß die Familientherapie darauf abzielen soll, der Familie dabei zu helfen, kulturell erwartete Funktionen zu leisten. In polygamen Gesellschaften ginge es dann in erster Linie um das harmonische Zusammenleben der Frauen eines Ehemannes. In einer anderen, westlichen Gesellschaft hat die Autonomie und Unabhängigkeit der jungen Erwachsenen Vorrang. Es besteht die Gefahr, daß Familienberatung dann zum reinen Anpassungsinstrument wird. Dieses Problem wird aufgefangen durch die Forderung, daß eine Familie ein eigenes kulturelles System von Regeln und Werten entwickeln soll, die für die Mitglieder verbindlich sind und ihnen klar machen, wie sie sich zu verhalten haben. In Familien, die durch Migration, Katastrophen oder aus anderen Gründen ihr „traditionelles kulturelles System" verloren haben, ist die Wiederherstellung des kulturellen Bezugsrahmens durch „Anerkennung der Bedeutung der ursprünglichen kulturellen Wurzeln" vordringliches Beratungsziel. Therapie und Beratung sollten darüber hinaus daran arbeiten, das „Grundvertrauen" und die „Fähigkeit, die Familie zu organisieren und zu führen wiederherzustellen", sowie die Identität der Familie im Rahmen der „ethnisch/kulturellen Identität der eigenen Gruppe" zu befestigen. 175 Wenn in einer Ehe zwischen Partnern aus verschiedenen Kulturen oder zwischen den Generationen große kulturelle Differenzen bestehen, ist es wichtig den „kulturellen Austausch in der Familie zu fördern", die Empathie und die Ubersetzung von Meinungen, Grundannahmen und Haltungen der Familienmitglieder verständlich zu machen und die Kommunikation zu fördern. Darüber hinaus empfehlen Tseng und Hsu eine „kulturelle Aus-Zeit", in der Mitglieder einer bikulturellen Familie den Kontakt mit ihrer Herkunftskultur pflegen können und sich von der Anstrengung der beständigen Anpassung an einen ihnen fremden Lebensstil erholen können, und den Kontakt zu „kontra-kulturellen Systemen" zu suchen. Durch die Beschäftigung mit der Gegenkultur können Engführungen der eigenen Regeln, Meinungen und des Lebensstils mit Alternativen konfrontiert werden. Der Horizont der Wahrnehmung und die Handlungsmöglichkeiten erweitern sich.176

175 Ebd., 206. 176 Ebd., 207-209.

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8. Kapitel: Ein ökologisches Modell kulturell sensibler Seelsorge und Beratung 8.1. Einleitung Im bisherigen Verlauf unserer Untersuchung haben wir nach einführenden Überlegungen zum Problemfeld, das durch die Kultur als Kontext von Seelsorge und Beratung abgesteckt wird, nach einer ethnologischen Analyse und Bestimmung des Kulturbegriffs im Zusammenhang der kulturellen Veränderungen der postmodernen Gesellschaften und nach einer ersten Fühlungnahme mit dem kulturellen Kontext Lateinamerikas versucht, Einblick in die theologischen und psychotherapeutischen Grundaspekte unseres Themas zu bekommen. Beiträge aus den Bereichen von Theologie, Hermeneutik und Kommunikationstheorie wurden ebenso analysiert und ausgewertet wie die Ethnopsychoanalyse und die nordamerikanische Beratungsliteratur. Unsere Leitfrage war, welche Elemente der Kulturanthropologie, der theologischen Theorie und der Psychotherapietheorie uns helfen können, ein Modell kulturell sensibler Seelsorge und Beratung zu entwickeln. Unser Ziel in diesem Kapitel ist es nicht, ein globales Praxismodell zu entwerfen, das ohne weiteres interkulturell anwendbar ist. Wir wollen vielmehr ein kontextuell und methodisch begrenztes Theoriemodell entwickeln, an dem sich die Beziehung von Seelsorge, Beratung und Kultur exemplarisch so darstellen läßt, daß sie für die Praxis fruchtbar gemacht werden kann. Wir beschränken uns auf den Kontext Südbrasiliens und auf die Beratung von Familien aus der Unterschicht und der unteren Mittelschicht, suchen also ein Modell kulturell sensibler Familienberatung, das für die Bevölkerung in einem Land der 3. Welt angemessen ist. Diese Vorentscheidung hat schon die Auswahl der bisher verarbeiteten Literatur bestimmt. Wir haben die Hoffnung, durch die Untersuchung eines kontextuell und methodisch begrenzten Modells Zusammenhänge zu entdecken, die für Theorie und Praxis der Beratung in anderen sozio-kulturellen „settings", etwa in der Beratungsarbeit mit Familien von Ausländern in Deutschland, aber auch mit sozio-kulturell marginalisierten Gruppen wie Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, Migranten, sozial benachteiligten Frauen und Kindern relevant sind. Die Reflexion über die Begründung und die Aufgaben der Seelsorge in der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland steckt noch in den Anfängen. Sie verbindet sich mit zwei Tendenzen: zum einen mit der Kritik 241

am Modell der therapeutischen Seelsorge und dem Bemühen, sie unter dem von Henning Luther in die Diskussion eingeführten Stichwort der „Alltagsseelsorge" oder einer Erschließung der spirituellen und der gesellschaftspolitischen Dimension zu erweitern; zum anderen sind therapeutische Seelsorger seit Mitte der 80-er Jahre in ein interkulturelles Gespräch eingetreten, das zu einer Infragestellung, Erweiterung und Neuorientierung ihrer Konzeptionen angeregt und 1995 zur Gründung einer „Gesellschaft für interkulturelle Seelsorge und Beratung" geführt hat. Albrecht Grözinger hat die theologische Begründung und Aufgabenbestimmung dieser Alltagsseelsorge zur multikulturellen Gesellschaft am weitesten vorangetrieben 1 . Er fordert eine Politik der Anerkennung der verschiedenen kulturellen Lebenswelten. Sie impliziert zum einen deren politische und rechtliche Gleichbehandlung, also eine „Differenz-Blindheit", zugleich aber auch eine „Differenz-Aufmerksamkeit", die Wahrnehmung der kulturell verschiedenen Menschen mit „demselben Ernst . . . , mit dem wir selbst wahrgenommen werden wollen" 2 . Diese Differenzwahrnehmung ist ein ästhetisches Phänomen und basiert auf dem, was Gadamers Hermeneutik als Horizontverschmelzung bezeichnet 3 . Darauf baut Grözingers „Leitthese" auf: „Christliche Seelsorge soll die Menschen dazu befähigen, befreiende und produktive Differenzerfahrungen zu machen" 4 . Begründet wird dies im Rückgriff auf das biblische Gottesverständnis, seine Reflexion in der Trinitätslehre Karl Barths und die entsprechende Anthropologie. Ausgehend von der inneren Differenz des dreieinigen Gottes machen die Menschen nun analog eine doppelte „Differenzerfahrung". Sie erfahren den Mangel an Sein, der bewirkt, daß sie sich zu sich selbst als einem Anderen und damit auch zu den Anderen verhalten können, also soziale Wesen werden. Dies ist eine theologische Interpretation der vom Neostrukturalismus eines Lacan und Derrida, aber in seiner Weise auch von Ernst Bloch betonten Grunderfahrung der „différance". In der Begegnung mit Gott wird nun die Differenz des Mangels an Sein neu als Gewinn verstanden: Gott kommt dem Menschen in der Menschwerdung näher als er sich selbst - er tritt dazwischen, tritt für ihn ein - und ermöglicht ihm dadurch, sich von seinen Erfahrungen zu unterscheiden und produktive Differenzerfahrungen zu machen 5 . Das seelsorgerliche Gespräch will helfen, solche Differenzerfahrungen zu machen. Es ist ein „Eingriff", der die Alltagssprache kreativ verwandelt und hat seine Grundlage in der Bezogenheit auf die biblische Gottes-Erzählung, kann sich aber gerade darum offen „dem Fremden, dem Anderen, in einem ,Wagnis der Bewillkomm-

1 Vgl. Albrecht Grözinger. Differenz-Erfahrung: sellschaft. Waltrop: Spenner, 1995. 2 Ebd., 24. 3 Ebd., 25 f. 4 Ebd., 27. 5 Ebd., 46 f.

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Seelsorge in der multikulturellen Ge-

nung' (...) aussetzen"6. Seelsorge wird somit ein narratives Geschehen, in dem die individuelle Lebensgeschichte gemeinsam mit der biblischen Gottes-erzählung rekonstruiert wird7. In letzterem stimme ich Grözinger ebenso zu wie seiner Einsicht, daß das Gelingen dieser Rekonstruktion als unverfügbar, als Werk des Heiligen Geistes bezeichnet werden kann8. Ich kritisiere jedoch eine Tendenz zur Harmonisierung. Der Konflikt, das Unverständnis zwischen den kulturell Fremden wird bei Grözinger als etwas im Grunde Überwundenes und darum kreativ zu Uberwindendes angesehen. Dies geschieht durch Horizontverschmelzung im Akt erzählender Rekonstruktion. In dieser Sicht kommt das Leiden am Rassismus, den gewalttätigen ethnischen Gegensätzen, der Konflikt zwischen Männer- und Frauenkultur, die Aufspaltung der Welt in dominante und dominierte Kulturen nicht vor. Multikulturalität wird zur idealen Zielvorstellung. Der seelsorgerliche „Eingriff" wird als ästhetisches Phänomen nicht auf seine sozialen und politischen Implikationen hin untersucht. Ein Modell der Seelsorgeausbildung hat Grözinger noch nicht entwickelt. Die Einbeziehung psychologischer Methoden wird von ihm im Grunde abgelehnt, weil die Gottes-Erzählung den seelsorgerlichen Dialog auf eine eigene narrative Methodik ausrichtet. Diese Narrative steht jedoch, wie Grözinger weiß9, neben den Narrativen der Psychologie und der Humanwissenschaften, die unter dem Einfluß des sozialen Konstruktivismus dabei sind, ihre eigene narrative Struktur und ihre kulturelle Vielfalt zu entdecken. Das Grundproblem seines Ansatzes ist, daß im Dialog die Gottes-Erzählung als universale, alle Kulturen versöhnende und verbindende Prämisse vorausgesetzt und damit die Fremdheitserfahrung von vorneherein grenzüberschreitend relativiert wird. Grenzüberschreitung, die ermöglicht wird durch eine universale, alle Menschen und Kulturen verbindende Prämisse, findet sich auch in Manfred Josuttis' Entwurf einer „energetischen Seelsorge", die ihn behaupten läßt, Seelsorge sei „im Kern Mystagogik", „Seelenführung, gemeinsamer Weg in die verborgenen und verbotenen Zonen des Lebens"10. Josuttis greift das Thema der Interkulturalität in der Seelsorge nicht ausdrücklich auf, praktiziert in seinen Schriften jedoch beständig den interkulturellen Dialog. Er zieht Beispiele aus anderen Kulturen und Religionen heran, um in ihnen Aspekte der eigenen Wirklichkeit, die vergessen oder unterdrückt wurden, neu zu entdecken. Durch Grenzüberschreitung setzt er sich und seine Leser ständig einem Verfremdungseffekt aus, der in Spannung versetzt und neue Möglich6 Ebd., 52. 7 Albrecht Grözinger. Seelsorge als Rekonstruktion von Lebensgeschichte. In: Wege zum Menschen 38, 1986, 178 ff, 185. 8 Ebd., 185. 9 Ebd., 182. 10 Manfred Josuttis. Die Einfiihrung in das Leben: Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität. Gütersloh: Chr. Kaiser, Gütersloher Verlagshaus, 1996, 129.

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keiten entdecken läßt. Dabei behandelt er das kulturell Fremde als etwas uns potentiell Eigenes oder von uns Anzueignendes. Sein zentrales Argument, das diese Grenzüberschreitung legitimiert, findet er in der Phänomenologie des Kieler Philosophen H . Schmitz, der aufzeigt, daß Gefühle keine introjektierten, auf das Subjekt beschränkten Erlebniswirklichkeiten sind, sondern „umgreifende Atmosphären", „transpsychische, transmentale, transindividuelle Gebilde", die den Einzelnen affektiv ergreifen 11 . Die von Josuttis sehr positiv gewertete therapeutische Seelsorge muß darum ihre psychologische und anthropologische Orientierung auf „transpsychische Realitäten" hin überschreiten und mit der „Wirklichkeit des Heiligen" kommunizieren 12 . Die religiöse Sprache ist wörtlich zu nehmen als Hinweise auf das Heilige, und das Ziel der Seelsorge ist die „Einübung zur Kontaktfähigkeit mit dieser Lebensmacht" 13 . In der Seelsorgeausbildung geht es dann darum, künftige Pfarrerinnen und Pfarrer dazu anzuleiten, nicht nur wie bisher die kognitive und emotionale Kommunikation zu verbessern, sondern darüber hinaus die Kommunikation auf dem „energetischen Kanal" „zu entwickeln" 14 . Josuttis besteht darauf, daß Seelsorgeausbildung gezielt betrieben werden muß, orientiert sie jedoch am Modell der „religiösen Initiation", einem Prozeß von „spiritueller Praxis" und „Heiligung", um die „Fähigkeiten der Gottesschau zu entwickeln, aber auch Möglichkeiten energetischer Heilungspraxis". Dieser Prozeß ist „mindestens so intensiv, langwierig und persönlichkeitsverändernd wie eine Lehranalyse" 15 . Die Tradition der fremden Kulturen hilft ihm, neue Leitbilder zu finden, etwa Pfarrerinnen im Anschluß an Max Weber als „Gurus" 16 zu beschreiben und das Beispiel des Lehrer-Schüler Verhältnisses im Zen-Buddhismus heranzuziehen, um die Ausbildung als Initiation zu erläutern 17 . Werden hier nicht bestehende kulturelle Grenzen unter phänomenologischem Vorzeichen einfach ausgeblendet und das Fremde in einer Weise angeeignet, die ihm seine Fremdheit nehmen und es benutzen, um die in Europa weithin erfahrene religiöse Leere und Krise der pastoralen Identität auszufüllen? Der phänomenologische Ansatz Edmund Husserls definiert das Fremde als das Unzugängliche, das uns zugänglich wird, weil es immer schon auf ein „Zwischen", das die Subjekte verbindet und Erkenntnis ermöglicht, bezogen ist18. Als Zu-

11 Ebd., 124. 12 Ebd., 125. 13 Ebd., 126. 14 Ebd., 127. 15 Manfred Josuttis. Von der psychotherapeutischen zur energetischen Seelsorge. In: Wege zum Menschen 50, 1998, 82. 16 Manfred Josuttis. Die Einführung in das Leben, 25. 17 Ebd., 159. 18 Vgl. Bernhard Waidenfels. Topographie des Fremden, 26; Theo Sundermeier. Den Fremden verstehen. Göttingen; Vandenhoeck & Ruprecht, 1996, 56 ff. 244

gängliches verliert es aber paradoxerweise seine Fremdheit. Dies haben Menschen der südlichen Halbkugel sehr oft als eurozentrische Aneignung erfahren, gegen die sie heute das Recht auf die Eigenheit ihrer Kultur verteidigen. Einen ganz anders gearteten Versuch, an der Theoriebildung interkultureller Seelsorgepraxis zu arbeiten, haben Seelsorgerinnen und Seelsorger aus verschiedenen Ländern unternommen, die, angeregt durch eine Gruppe um den Düsseldorfer Pfarrer und Supervisor Helmut Weiss, seit 10 Jahren auf internationalen Konferenzen ein interkulturelles Gespräch über ihre Seelsorgekonzeptionen und -praktiken führen. In diesem Gespräch können keine universalen Annahmen vorausgesetzt werden. Vielmehr geht der Prozeß der interkulturellen Kommunikation der Theoriebildung voraus. Das oft schmerzliche Zusammenprallen von Weltanschauungen, Zielvorstellungen und Methoden der Seelsorge gehört zum interkulturellen Dialog, stellt den Geltungsanspruch und die Reichweite der eigenen Sicht infrage und setzt Lernprozesse in Gang, bei denen beispielsweise deutlich wird, wie unterschiedlich die Gottesbilder in verschiedenen Kontexten sind, daß in Indien die Beratungsbeziehung eine eher private Beziehung zur Familie der Gesprächspartner einschließt und das Private nicht strikt vom Beruflichen getrennt werden kann, oder daß es in bestimmten Kulturen unmöglich ist, „nicht-direktive" Ziele zu verfolgen 19 . In der interkulturellen Seelsorge und Beratung geht es nun darum, „Interkulturalität mit religiösen Wahrheiten, christlichem Glauben und psychosozialen Erkenntnissen" zu verbinden, den Angehörigen helfender Berufe dabei zu helfen, „ihre Professionalität mit ihrer kulturellen Identität zu verknüpfen, und zu einer angstfreieren, weniger vorurteilsbeladenen und hilfreichen Begegnung mit den Nachbarn aus anderen Kulturen anzuregen" 20 . Dieser Ansatz beim interkulturellen Dialog verbindet humanwissenschaftliches Denken und Theologie, ist erfahrungsorientiert, geht auf den sozialen und politischen Kontext ein und faßt die prophetisch-politische Dimension von Seelsorge und Beratung ins Auge. Problematisch bleibt jedoch die Beschränkung des Dialogs auf die Gruppe der therapeutisch ausgebildeten Seelsorgespezialisten, die einer neuen internationalen Elitebildung Vorschub leisten kann und den befreiungstheologischen Impuls kontextualisierter Seelsorge, die im Volk Gottes, den Gemeindegliedern die Subjekte der Seelsorge erkennt, ausklammert. Wir gehen davon aus - dies sei hier nochmals wiederholt - , daß die Prozesse der Globalisierung der Wirtschaft, der Medien, der Kommunikation und des Informationsaustauschs dazu geführt haben, daß alle

19 Vgl. Karl H. Federschmidt. Intercultural Pastoral Care and Counseling: Reflections on the Background of the Intercultural Seminars in 1995 and 1996. In: Intercultural Pastoral Care and Counseling No. 2, 10 f. 20 Helmut Weiß. Vielfalt und Anpassung: Beobachtungen zum religiösen Leben in Singapur. In: Interkulturelle Seelsorge und Beratung Nr. 3, 1998, 53.

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Gesellschaften mit dem kulturellen Pluralismus entweder schon leben oder sich zumindest mit ihm als einer Zukunftsperspektive auseinandersetzen müssen. Das ist ein wohl unaufhaltsamer Prozeß, der die Menschheit immer enger im „globalen Dorf" zusammenschließt und die Besonderheiten der regionalen Kultur Wandlungsprozessen unterwirft, die wir als Hybridisierung bezeichnet haben. Das kann zu Kulturzerstörung, zu oft radikalen Abgrenzungs- und kulturellen Selbstverteidigungsbewegungen wie dem religiösen Fundamentalismus oder militanten ethnischen Auseinandersetzungen, aber auch zur neuen Wertschätzung der regionalen Kulturen oder zu flexibler Anpassung durch einen kulturellen Synkretismus führen. In jedem dieser Fälle wird den einzelnen Menschen und ihren Familien in erster Linie die Last aufgebürdet, die kulturellen Veränderungen und die damit verbundenen Identitäts- und Beziehungskonflikte zu verarbeiten. An dieser Stelle sind Seelsorge und Beratung herausgefordert, ihren Beitrag zu leisten. Erinnern wir uns an die zu Beginn der Arbeit gegebene Definition von Seelsorge als „befreiende Hilfe zur christlichen Lebensgestaltung durch die christliche Gemeinde", die sich in Alltagsbegegnungen, aber auch in speziellen Beratungsgesprächen mit dafür ausgebildeten Beraterinnen und Beratern um ein glaubendes Verstehen der Themen und Konflikte des Lebens im Dialog mit der jüdisch-christlichen Uberlieferung bemüht und darüber zu Verhaltensänderungen zu gelangen sucht. Im Fortgang unserer Untersuchung werden wir nun zu zeigen haben, inwiefern sich ein Modell kulturell sensibler Seelsorge und Beratung auf der Basis der von uns gewählten Definition entwickeln läßt. Dabei entsteht auf den ersten Blick der Eindruck, als handele es sich um eine allgemeine, überzeitliche und überregionale Definition. Dieser Eindruck täuscht. In ihr schlagen sich der biographisch verwurzelte persönliche Standpunkt des Verfassers ebenso nieder wie seine Wahrnehmung der sozialen, kulturellen und kirchlichen Situation der Bevölkerung im Süden Brasiliens, mit der er seit mehr als sechs Jahren als Seelsorger und Berater arbeitet. Die Nähe zu Klaus Winklers Definition von Seelsorge „als Freisetzung eines christlichen Verhaltens zur Lebensbewältigung" und als „Bearbeitung von Konflikten unter einer spezifischen Voraussetzung" ist unverkennbar. 21 Der Transfer eines solchen Ansatzes nach Lateinamerika mutet zunächst vielleicht wie ein weiteres Beispiel der Einführung europäischer, mehr noch, deutscher Theologie in Brasilien an, könnte also eine Wiederholung und Verstärkung von kultureller Dominanz sein. Er scheint jedoch aus einem doppelten Grund ins Bild zu passen und legitim zu sein: Zum einen reflektiert er sehr genau die Situation speziell der Gemeinden der Evangelischen Kirche lutherischen Bekenntnisses in Brasilien, die trotz des kulturellen Öffnungsprozesses für den lateinameri-

21 Klaus Winkler. Seelsorge. Berlin, New York: de Gruyter, 1997, 3.

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kanischen Kontext noch bewußt den Austausch mit der nordatlantischen, speziell deutschen Theologie pflegen. Zum anderen hat gerade die spezielle kulturelle Situation in Brasilien dazu geführt, daß das in der Tradition des Luthertums und der neueren westlichen Pastoralpsychologie stehende Seelsorgekonzept modifiziert wurde: die „befreiende Hilfe" wird in den Zusammenhang der lateinamerikanischen Befreiungstheologie gerückt. Dadurch tritt der soziale und politische Kontext der Seelsorge stärker in den Vordergrund. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hat in den letzten Jahren auch in den USA zu einer sozialpolitischen Schwerpunktbildung der Seelsorge geführt, die nun wieder auf die im Allgemeinen sehr vernachlässigte Seelsorgetheorie in Lateinamerika zurückwirkt und die Frage nach der Gerechtigkeit in sozialen Beziehungen besonders ins Blickfeld rückt.22 Ebenso wird im Anschluß an die Betonung der Mitarbeit der „Laien im Volk Gottes" auf seiten der Basisgemeinden und des „allgemeinen Priestertums der Gläubigen" in den meisten protestantischen Kirchen Brasiliens besonderer Wert auf den Gemeindebezug und die Tätigkeit von „Laienseelsorgern" gelegt. An dieser Stelle gibt es also Konvergenzen: diesseits und jenseits des Atlantik knüpft man immer mehr an das im Calvinismus noch stärker als im Luthertum vertretene Konzept der „gemeindlichen Seelsorge", des „mutuum colloquium et consolatio fratrum an.23 Dem entspricht auch die Betonung der „Lebensgestaltung", die über die schlichte „Lebensbewältigung" und „Konfliktlösung" noch hinausgeht und die Seelsorge stärker mit der gegenseitigen Orientierung im alltäglichen Zusammenleben, also mit dem Bereich der Ethik verbindet. Der lateinamerikanische Kontext, so wie wir ihn wahrnehmen, fordert folglich die Entwicklung von schwerpunktmäßigen Zielvorstellungen: Befreiung zur christlichen Lebensgestaltung, Gerechtigkeit in den sozialen Beziehungen und glaubendes Verstehen der eigenen Lebenssituation im Dialog mit der Tradition. Diese Ziele lassen sich unterscheiden und voneinander abgrenzen, aber nicht voneinander trennen. Gemeinsam beschreiben sie Seelsorge und Beratung als Dimension des Lebens der christlichen Gemeinde in Brasilien und in anderen Ländern Lateinamerikas. Diese Beschreibung der Seelsorge kann dann auch in anderen 22 Vgl. Pamela D. Couture, Rodney Hunter (Hg.). Pastoral care and social conflict Nashville: Abingdon, 1995; Pamela D. Couture. Blessed are the poor? Women's poverty, family policy an practical theology. Nashville: Abingdon, 1991; George M. Fumiss. The social context of pastoral care: Defining the life situation. Louisville (Kentucky): Westminster John Knox Press, 1994; Larry Kent Graham. Care of persons, care of worlds. 23 Vgl. zum Beispiel Helmut Tacke. Glaubenshilfe als Lebenshilfe: Probleme und Chancen heutiger Seelsorge. 3. Aufl., Neukirchen Vluyn: Neukirchener Verlag, 1993; Christian Möller. Seelsorglich predigen: Die parakletische Dimension von Predigt, Seelsorge und Gemeinde. 2. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990; Henning Luther. Alltagssorge und Seelsorge: Zur Kritik am Defizitmodell des Helfens. In: Ders. Religion und Alltag: Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts. Stuttgart: Kohlhammer, 1992. 247

kulturellen Zusammenhängen aufgegriffen und auf vergleichbare Situationen angewandt werden, die ihrerseits wiederum Modifikationen in der Zielsetzung, den Schwerpunkten und Methoden seelsorgerlicher Arbeit fordern werden. Auf dem Hintergrund der hier nur kurz angesprochenen internationalen Verflechtung der Diskurse über Theologie und Seelsorge, das heißt der wechselseitigen Beeinflussung und der Parallelität einiger Tendenzen, wird deutlich, daß die Seelsorgetheorie heute, gerade wenn sie sich um Kontextualität bemüht, das Ergebnis einer internationalen und interkulturellen Diskussion ist. Sie ist also selbst ein selbst ein hybrides Gebilde und nimmt Teil an den Wandlungsprozessen der postmodernen Kulturen. Wie können die genannten Schwerpunkte und die von uns im Verlauf dieser Untersuchung erarbeiteten theologischen und psychotherapeutischen Grundaspekte konzeptionell verbunden werden? Wir schlagen vor, sie als Elemente in einen ökologischen Ansatz von Seelsorge und Beratung zu integrieren. Der Begriff der Ökologie erlaubt es, systemisches Denken und Theologie zu verbinden. Er gibt uns die Möglichkeit, die verschiedenen sozio-kulturellen Kontexte von Seelsorge und Beratung systemtheoretisch zu erfassen und sie in Anlehnung an den multisystem approach der Familientherapie als ein komplexes Handeln im Multisystem des psychosozialen Netzwerks zu begreifen. Dieses Netzwerk verankert sich in verschiedenen Subsystemen (Natur, Gemeinwesen, Kirchengemeinde, Familie, der Einzelne), in denen die Lebensgestaltung problematisch werden kann, die aber auch Ressourcen zur Lebensgestaltung zur Verfügung stellen. Ökologische Seelsorge und Beratung arbeiten aktiv an und mit den Beziehungen im psychosozialen Netzwerk. Ihr Handeln in den verschiedenen Subsystemen soll auf den folgenden Seiten unter bestimmten Perspektiven beleuchtet und dargestellt werden, die jeweils einen konstitutiven Aspekt der seelsorgerlichen Haltung und einen Schwerpunkt von Seelsorgesituationen ins Blickfeld rücken. Mit jeder dieser Perspektiven läßt sich eine zentrale Zielvorstellung von Seelsorge und Beratung verbinden, die zu ihr eine Affinität besitzt. Das heißt, aus der jeweiligen Perspektive können wir am besten wahrnehmen und beurteilen, ob und wie ein bestimmtes Ziel angestrebt und erreicht wird. So verbinden wir die Zielvorstellung des glaubenden Verstehens mit der Perspektive von interkultureller Hermeneutik, interkultureller Kommunikation und mit der Perspektive der Spiritualität, das Ziel der Befreiung zur christlichen Lebensgestaltung mit der Perspektive der Ethik, und das Ziel der Beziehungsgerechtigkeit mit den Perspektiven von „Macht" und „Geschlecht". Wir beschränken uns auf diese fünf Perspektiven, obwohl noch weitere hinzugefügt werden können 24 , da sie die Schwerpunkte der 24 Das hier entwickelte Darstellungsschema knüpft lose an Gert Ottos Aufriß der Praktischen Theologie an. Otto unterscheidet die Handlungsfelder der praktischen Theologie von verschiedenen theoretischen Perspektiven, unter denen sie untersucht und gestaltet

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in Lateinamerika zu leistenden Arbeit ausreichend erfassen. Die Beschreibung des ökologischen Ansatzes von Seelsorge und Beratung durchläuft also in einem ersten Durchgang das Multisystem des psychosozialen Netzwerks und in einem zweiten Durchgang die für das seelsorgerliche Handeln zentralen Perspektiven, um jeweils herauszustellen, wie hier angemessen an und mit der Kultur gearbeitet werden kann. Am Ende des Kapitels stellen wir dann ein exemplarisches Projekt multisystemischer Beratung vor. Es handelt sich um das Projekt der Terapia Comunitaria, das in einer Favela der Stadt Fortaleza im Bundesstaat Ceará entwickelt wurde und seit 1997 von der Pastoral da Criança, der für die Arbeit mit Kindern zuständigen Institution der katholischen Kirche Brasiliens, die in ca. 20.000 Gemeinden Arbeitsgruppen unterhält, als Modell gemeindeorientierter Beratung verbreitet wird und landesweit in der Ausbildung von Laienseelsorgern eingesetzt werden soll.

8.2. Kontexte von Seelsorge und Beratung 8.2.1. Die Natur Die Bedeutung der Beziehung zur Natur wurde in der Seelsorge trotz der viel beschworenen „Ganzheitlichkeit", der Sorge um den „ganzen Menschen", bisher kaum reflektiert. Eine Veränderung zeichnet sich ab in einigen psychotherapeutischen Veröffentlichungen und in Howard Clinebells Buch Ecotherapy, in denen das vor allem auf der nördlichen Halbkugel enorm gewachsene ökologische Bewußtsein sich im Bemühen niederschlägt, ein spirituelles Verhältnis zur Natur zu entwickeln, das heilend wirkt. 25 Es geht darum, einen neuen Zugang zur Schöpfung, die es zu bewahren gilt, zu gewinnen, und dadurch auch sich selbst als Geschöpf, das eingebunden ist in das Ökosystem und nur (über)leben kann, wenn es mit ihm in Harmonie lebt, neu zu entdecken. Am Beispiel des ökologischen Bewußtseins wird offensichtlich, daß unser Naturverhältnis stets kulturell geprägt ist. Das von Descartes und Bacon formulierte Projekt der modernen Wissenschaft und Technik gebot es, die Natur als Objekt zu analysieren, das heißt, sie zu zerstören, in ihre Bestandteile zu zerlegen und deren Funktion dann nach den Regeln der Logik des Verstandes zu rekonstruieren. Es ging darum, der werden können (vgl. Gert Otto. Praktische Theologie Bd. 1: Grundlegung der Praktischen Theologie. München: Kaiser, 1986; Ders. Praktische Theologie Bd. 2: Handlungsfelder der Praktischen Theologie. München: Kaiser, 1988). Die im Text genannte „Perspektive der Kommunikation" wurde bereits im 4. Kapitel ausführlich behandelt und wird im folgenden nicht weiter vertieft. 25 Howard Clinebell. Ecotherapy: Healing ourselves, healing the earth. Minneapolis: Fortress Press, 1996; Ders., Okotherapie: Ein Paradigma für eine ökologisch-soziale Identität. Wege zum Menschen, 50, 1998, 160-174.

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Natur ihre Geheimnisse abzupressen und sie zum Nutzen des Menschen auszubeuten. Diese Haltung hat weltweit verheerende Folgen. In Lateinamerika war sie ein konstitutiver Bestandteil der Conquista. Bei der Eroberung der „neuen Welt" war man darauf aus, ihr rücksichtslos alle Reichtümer zu entreißen. Dagegen hatte das von den einheimischen Kulturen gepflegte Bewußtsein, daß die Natur etwas Heiliges sei, keine Chance. Es hat jedoch unterschwellig überlebt, hat sich in Nischen und Winkeln der religiösen Tradition und der Riten von Indianern und Afrikanern verborgen, aus denen es nun mit neuer Kraft hervorkommt. Psychoanalytiker haben die These aufgestellt, die Conquistadores und die europäischen Immigranten, die den lateinamerikanischen Kontinent besiedelten, hätten mit dem Verlust ihres Vaterlandes auch die Instanz verloren, die den Inzest verbietet, und dadurch gleichsam ein perverses inzestuöses Verhältnis zur Mutter Erde in ihrer neuen Heimat aufgebaut. Ausbeutung und Zerstörung der Natur wären dann Ausdruck von einer Art perverser Inzestschranke, durch die sich die Heimatlosen vor der Psychose schützten. Wahrscheinlicher klingt die Annahme, daß in Lateinamerika die Conquista der Natur als Projekt der Moderne durchgeführt wurde und daß die Immigranten die Natur auf dem Hintergrund der neuzeitlichen Einstellung als Feind erlebten. In Brasilien sahen sie sich bis ins 20. Jahrhundert hinein der Ubermacht des unendlich scheinenden Urwaldes ausgesetzt, dem sie den Ackerboden abringen mußten. Die Natur der Tropen verlangte ihnen im Kampf mit dem Klima, mit Krankheiten, mit wilden Tieren, Schlangen und giftigen Spinnen äußerste Anstrengungen ab und fügte ihnen schwere Verluste zu. Sie war „der Feind", vor dem es auf der Hut zu sein und den es zu bekämpfen galt. Diese Haltung prägt das Naturverhältnis vieler Brasilianer bis heute und trägt dazu bei, daß in der Vergangenheit die Regenwälder bedenkenlos abgeholzt wurden und immer noch nicht effektiv geschützt werden. Dennoch hat sich vor allem unter der Landbevölkerung, unter den Kleinbauern und Landarbeitern, die Subsistenzlandwirtschaft betreiben, die die Erde mit oft sehr einfachen Werkzeugen bearbeiten und von ihren Früchten leben, ein anderes Verhältnis zur Natur bewahrt. Viele sagen, auch wenn sie inzwischen in die Städte gewandert sind, daß sie den Kontakt mit dem Boden, die Arbeit in Feld und Garten brauchen, um sich gesund und wohl zu fühlen. Die Beziehung zur Natur, das Bebauen und Bewahren der Erde, die Kenntnis von Pflanzen und Tieren und das Zusammenleben mit ihnen ist eine Quelle der Lebensqualität. Die ökologische Krise hat den lateinamerikanischen Subkontinent schon lange eingeholt - zum Schaden der Menschen und ihres Naturverhältnisses. Die industrielle Bearbeitung und Ausbeutung der Natur ist verantwortlich für den Schwund des Regenwaldes, für die Versteppung im Nordosten Brasiliens, die zu Armut und Hunger geführt hat, für Klimaveränderungen, verheerende Überschwemmungen, die Jahr für Jahr Todesopfer fordern und Tausende zu Obdachlosen machen. Durch über250

mäßigen Gebrauch von Pestiziden und Herbiziden, die von ungeschulten Kräften, auch von Kindern, oft unsachgemäß angewandt werden, werden Böden unbrauchbar, Flüsse vergiftet und die Menschen krank. Vergiftungen durch Pflanzenschutzmittel mit Todesfolge sind auf dem Land keine Seltenheit. Die Industrialisierung und die mit ihr verbundene Migration in die Städte hat die Menschen der Natur entfremdet. Fehlende oder nicht eingehaltene Umweltschutzbestimmungen, die neben den niedrigen Lohnkosten ja ein Standortvorteil für Industrieansiedlungen in Lateinamerika sind, wirken sich aus. Verschmutzte Luft, mit Schadstoffen belastetes Trinkwasser, schadstoffhaltige Nahrungsmittel, unzureichende Müllentsorgung und Lärmbelästigung sind Alltagsphänomene, die die Stadtbewohner in der 3. Welt wohl noch unmittelbarer betreffen als in Ländern, in denen der Umweltschutz zu einem wichtigen Bestandteil der Politik geworden ist. Das Leiden an der Zerstörung der Umwelt wird Thema in Seelsorge und Beratung. In ihnen bietet sich die Gelegenheit, das eigene Verhalten, mit dem man sich selbst und andere schädigt, zu überprüfen, die Folgen des fehlenden Bezugs zur Natur zu untersuchen, den Ursachen des Leidens an der modernen Zivilisation auf die Spur zu kommen und ein neues Verhältnis zur Umwelt einzuüben. Es ist zu hoffen, daß das ökologische Bewußtsein in Lateinamerika wächst. Ein Signal könnte dabei von der Theologie und von den Kirchen ausgehen. Leonardo Boff hat sich in seinen Veröffentlichungen der vergangenen Jahre zum Vorreiter einer Bewegung gemacht, in der sich die Befreiungstheologie für die Okologieproblematik öffnet. Dies ist eine wichtige und zukunftsträchtige Tendenz, in der die Befreiungstheologie, die in die Krise geriet, nachdem ihr nach dem Fall des Sozialismus ihr gesellschaftspolitisches Leitbild abhanden gekommen war, ihr berechtigtes soziales Anliegen, daß die Armen sich solidarisch zusammenschließen, um ihr Recht in Gesellschaft und Kirche zu erkämpfen, in einen neuen, umfassenderen theologischen Entwurf eines ökologisch orientierten gesellschaftlichen Zusammenlebens einbringt. In seinem Buch „Ökologie: Aufschrei der Erde, Aufschrei der Armen"26 definiert Boff Ökologie im Anschluß an Ernst Haeckel als „das Studium der wechselseitigen Beziehung (inter-retro-relacionamento) aller lebenden und nicht lebenden Systeme untereinander und mit ihrer Umwelt"27. Die Ökologie mündet ein in ein holistisches Denken, das alle Erfahrungen und Verstehensweisen als komplementär begreift und sie in den Rahmen der als organische Ganzheit begriffenen Wirklichkeit einordnet28, in dem nur eine ethische 26 Leonardo Boff. Ecologia: Grito da terra, grito dos pobres. Säo Paulo: Editora Atica, 1995. 27 „ . . . a ecologia é o estudo do inter-retro-relacionamento de todos os sistemas vivos e näo vivos entre si e com o seu meio ambiente" (Ebd., 17). 28 Ebd., 19.

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Haltung „kosmischer Solidarität" angemessen ist. Boff fordert damit einen Paradigmenwechsel im Wirklichkeitsverständnis. In dem neuen Paradigma verbindet sich eine zweite, nach-kritische Naivität, die in den Respekt vor dem Universum und der Würde des Lebens mündet, mit den Ergebnissen wissenschaftlichen Denkens, der Evolutionsgedanke mit der Sicht der Erde und des Universums als eines Organismus, die Naturwissenschaft mit Spiritualität, Theologie und Ethik. 29 Boff ist überzeugt, daß die moderne Naturwissenschaft selbst uns dazu führt, die Evolution des Universums vom Urknall an bis zum Auftreten des „homo sapiens/'demens" als Werk einer übergeordneten Intelligenz, als Werk Gottes, des Schöpfers zu begreifen, und die Erde als einen Organismus zu betrachten, in dem alle Ökosysteme gemeinsam das Leben in seinen vielfältigen Formen ermöglichen, hervorbringen und erhalten. Die Erde ist in der neuen Kosmologie wieder die Pacha Mama der Mythologie der Andenvölker, sie ist Gaia, der Superorganismus, der das Leben trägt. 30 Das Naturverhältnis franziskanischer Spiritualität, die den Zusammenhang alles Seienden preist, den Menschen als Geschöpf einordnet in den Kosmos und die Natur, die Sonne, die Gestirne, die Tiere und Pflanzen als seine Brüder und Schwestern anspricht, setzt sich bei Boff um in ein Grundprinzip des ökologischen Wirklichkeitsverständnisses: die „dialogische oder perichoretische Logik". „Die Logik des Universums ist dialogisch: alles interagiert mit allem an allen Punkten und unter allen Umständen".31

Die Griechen haben diese Zirkularität und Inklusivität der Beziehungen „Perichorese" genannt, ein Begriff mit dem in der Trinitätslehre die Beziehung der drei göttlichen Personen untereinander und die Beziehung Gottes zum Universum erfaßt wird. Durch die dialogische oder perichoretische Logik will Boff Theologie und Kosmologie verknüpfen. Er entwickelt eine „panentheistische" Sicht der Realität. Er identifiziert die Wirklichkeit des Universums, die Natur nicht einfach mit Gott wie es die Pantheisten tun. Er unterscheidet zwischen Gott und der Schöpfung, stellt sie einander jedoch nicht als Getrennte gegenüber. Alles ist in Gott geschaffen und Gott kommt in der Schöpfung zu sich selbst. In Anlehnung an die Prozeßtheologie von Whitehead und seinen Schülern formuliert Boff: „Gott und das Universum sind nicht so wie ein einziger Kreis, der nur einen Mittelpunkt besitzt. Sie beziehen sich aufeinander wie in einer Ellipse die zwei Mittelpunkte besitzt - Gott und die Welt - aber sie stehen in Beziehung und implizieren sich gegenseitig. G o t t . . . bewahrt seine Souveränität gegenüber dem Universum. Er ist der Welt immanent, nimmt an ihrem offenen Prozeß teil, 29 Ebd., 31 f. 30 Ebd., 30. 31 Ebd., 49.

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offenbart sich in ihm und wird durch ihn bereichert. Er ist auch in der Welt und durch die Welt hindurch erkenntlich (portugiesisch: transparente), und bewirkt, daß diese in ihrer Totalität und in ihren Einzelheiten ein unvergleichbares göttliches Sakrament bildet. In seiner Eigenart als absolutes Mysterium, das jede Vorstellung und kosmische G r ö ß e übersteigt, ist er der Welt gegenüber aber auch transzendent. Er ist in der Welt jenseitig, schafft sie beständig, durchdringt sie und zieht sie hinan zu immer komplexeren, partizipativeren und gemeinschaftlicheren Formen". 32

Gottes Sein ist in der Welt im Werden. 33 Die Welt ist nach dem Bild des dreieinigen Gottes geschaffen. Daher ist alles aufeinander bezogen und bildet Netze von wechselseitigen Abhängigkeiten. Der Geist Gottes, des Vaters und des Sohnes schafft und durchdringt alles. Darum trägt auch alles im Prozeß der Evolution die Markierung des Christus. Jesus Christus ist der kosmische Erlöser, nicht nur der Erlöser der Menschen. Jesus von Nazareth ist der Mensch, in dem sich der Geist Gottes vollkommen verwirklicht. Er repräsentiert zusammen mit Maria, der Frau, die, so Boff, unabhängig von Christus durch den Geist erfüllt und erhoben wurde, um den Erlöser zu gebären, die Menschheit in ihrer göttlichen Bestimmung und er nimmt als gekreuzigter Knecht Gottes teil am Leiden der Welt.34 Als Geschöpf partizipiert der Mensch am göttlichen Geist. Gemeinsam mit den anderen Kreaturen ist er ein „Co-Kreator", indem er als lebendes Wesen Beziehungen schafft, in denen sich der Prozeß des Lebens abspielt, in denen die Schöpfung voranschreitet. Der Mensch, wie Boff im Anschluß an Ilya Prigogine sagt, gehört zu den „lebenden Systemen". Charakteristisch für sie ist eine „dissipative Struktur". Damit ist gemeint, daß sie sich selbst organisieren und im Gleichgewicht halten, indem sie im Austausch mit der Umwelt Energie konsumieren und dadurch komplexe innere Strukturen bilden. Charakteristika lebender Systeme sind die „Selbstorganisation" (autopoiesis), also die organische Verbindung der Teile, die Differenzierung und Komplementarität von Funktionen, die Autonomie, durch die das System von der Umwelt abgegrenzt ist und sich auf sie beziehen kann, die Anpassungsfähigkeit an die Umwelt, die 32 „Deus e o universo näo sào como um único círculo que possui apenas um centro de coincidência. Relacionam-se como em urna elipse que possui dois centros - Deus e mundo - mas relacionados e mutuamente implicados. Deus . . . conserva sua soberanía face ao universo. Ele é imánente ao mundo, participa de seu processo aberto, revela-se nele e se enriquece com ele. E também transparente no mundo e através do mundo, fazendo que este em sua totalídade e em seus detalhes se constitua num incomensurável sacramento divino. Mas é também transcendente ao mundo no seu caráter de mistério absoluto para além de qualquer imaginaçào e grandeza cósmica. Ele está no mundo para além dele, continuamente criando-o, pervadindo-o e atraindo-o para formas cada vez mais complexas, participativas e comunionais" (Ebd., 227 f.). 33 Vgl. Eberhard Jiingel. Gott als Geheimnis der Welt: Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus. 6. Aufl., 1992, auf den Boff sich ausdrücklich bezieht. 34 Leonardo Boff, Ecologia, 261 f.; 267 ff.

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Reproduktion und die Selbsttranszendenz, das heißt die Öffnung des Systems für die Entwicklung neuer Ausdrucksformen in der Evolution. 35 Der Unterschied zwischen lebenden und nicht-lebenden Systemen ist graduell und nicht qualitativ. Leben ist Beziehung. Da alles von Anfang an im Evolutionsprozeß in Beziehung steht, kommt auch der Materie Leben, Innerlichkeit und Bewußtsein zu.36 Boffs Argumentation stützt sich hier auf die aus der Quantentheorie bekannte Unschärferelation Heisenbergs, die besagt, daß man nicht gleichzeitig den Ort und die Geschwindigkeit von Elementarteilchen bestimmen kann. Boff schließt daraus, daß alle Materie für einen Beobachter je nach der experimentellen Anordnung als Welle oder Teilchen erscheinen kann, setzt dies in Analogie zum Evolutionsprozeß und identifiziert die Welle, das Energiefeld, das in der Quantenphysik „Boson" genannt wird, als Dimension der „Relation", das Teilchen, das „Fermion" genannt wird, als Dimension der „Materie". Das Bewußtsein ist nun nichts anderes als eine hochkomplexe und permanente Einheit von Beziehungen, das folglich allen Beziehungen der Materie zu eigen ist. Alles Seiende hat in mehr oder weniger starkem Maße Bewußtsein. In den Menschen sind die Fermions die individuelle und körperliche Dimension, die Bosons die Dimension der Beziehung und des Geistes. 37 Der Körper, die Psyche und der Geist sind zwei wechselseitig bezogene Dimensionen der „inneren Ökologie". 38 Boff nimmt hier die Archetypenlehre C. G. Jungs auf. Die Erfahrungen der Lebewesen im Verlauf der Evolution werden mit den Hirnstrukturen weitergegeben und fokussieren sich in den Archetypen als Indikatoren möglichen Verhaltens, die angeben, wie wir uns in den vielfältigen Interaktionen mit der Umwelt verhalten können.39 Boff bezeichnet Jungs „kollektives Unbewußtes" als „spirituelles Unbewußtes" und versteht es als „Ausdruck der eigentlichen Spiritualität der Erde und des Universums" 40 „ V o m ihm gehen im Menschen die Haltungen aus, die am meisten Affinität mit der Solidarität und dem dynamischen Gleichgewicht unter allen Dingen haben". 4 1

Diese tiefe Spiritualität ist in der Uberlieferung der „Aborígenes", in den Mythen und großen Narrativen der „Urvölker", deren Kultur sich noch auf dem Niveau des Neolithikums befindet, gegenwärtig und muß in der

35 Ebd., 87. 36 Ebd. 37 Ebd., 89. 38 Ebd., 211. 39 Ebd., 213. 40 „Esse inconsciente espiritual, em ultimo termo, é expressäo da pròpria espiritualidade da Terra e do universo" (Ebd., 213). 41 „É por ele que emergem no ser humano as atitudes mais afinadas com a solidariedade e o equilibrio dinámico entre todas as coisas" (Ebd., 213). 254

globalen Zivilisationskrise als Botschaft der Integration mit der Natur und Harmonisierung in den Beziehungen gehört werden.42 Für Boff verbinden sich der Diskurs der Befreiungstheologie und der Diskurs der Ökologiebewegung, denn es ist die Logik desselben Systems der Akkumulation von Kapital und der sozialen Organisation, die zur Ausbeutung, zur Verarmung und zum Hungertod von Millionen Menschen, aber auch zur Zerstörung der Natur führt. 43 Es geht darum, diese Logik zu überwinden, indem man zunächst nach einem Minimum von sozialer Gerechtigkeit sucht, die das Überleben und ein Mindestmaß an Menschenwürde garantiert. Die soziale Gerechtigkeit setzt jedoch die „ökologische Gerechtigkeit" voraus, den Bund der Menschen mit den übrigen Lebewesen und die Entwicklung einer „Ethik und Mystik der Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit mit der gesamten kosmischen Gemeinde".44 Boffs Konzept wird hier so ausführlich behandelt, weil es zeigt, wie die Verbindung von Befreiungstheologie und systemischem Denken, genauer der Theorie lebender Systeme, in einen ökologischen Ansatz mündet, wie wir ihn analog auch für die Seelsorge vorschlagen. Eine Übereinstimmung findet sich auch in der narrativen Orientierung. Boffs Entwurf einer ökologischen Theologie ist eine „Narrative", die er den „großen Narrativen" der Völker, den Mythen der Weltschöpfung an die Seite stellt. Sie leitet als wissenschaftlich fundierte Schöpfungserzählung jedoch über in die Ethik und Spiritualität, wird zur konkreten Forderung nach einer spirituellen Verbundenheit mit der Erde und dem Kosmos. An dieser Stelle meldet sich Skepsis. Boff legt einen bewußt unscharfen, mystischen Begriff der Beziehung zugrunde, der in Analogie zu den Energiewellen der Quantenphysik gebildet wurde, die bloße Beziehungsmöglichkeiten, Aufenthaltswahrscheinlichkeiten ausdrücken. Von daher kann er dann Gott und die Evolution des Kosmos mystisch verknüpfen und die Welt als Sakrament ansehen. Diese Analogie ist nicht zwingend. Beziehung kann auch konstruktivistisch als Abfolge von Interaktionen, die einander wechselseitig orientieren gedacht werden. Dann ist die Grenze, die bleibende Verschiedenheit und das Verfehlen als Bedingung der Interaktion betont. Daß es trotzdem zu Beziehungen kommt, kann als geistgewirktes Geschehen verstanden werden. Der Geist Gottes, so die Symbolik in der Trinitätslehre, verbindet die bleibend verschiedenen Personen. Nur auf der Basis der Trennung ist er das Band der Einheit in Gott und im Universum. Damit wird der Weg aus der Zivilisationskrise durch eine ökologische Spiritualität schwieriger. Wir können dann nicht einfach darauf vertrauen, daß uns der Erfahrungsschatz der Evolution im kollektiven Unbewußten zuhanden ist. Wir sind auf unsere eigene 42 Ebd., 191. 43 Ebd., 173. 44 Ebd., 175.

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Geschichte zurückgeworfen und müssen anfangen, das Netz sinnhafter Bezüge zu weben, das uns die Natur als Organismus erkennen lassen und uns mit der Erde und dem Universum verbindet. W i r müssen eine geschwisterliche Haltung gegenüber dem Kosmos einüben, in der die moderne Feindschaft gegenüber der Natur überwunden wird. Die Welt ist uns nicht als Sakrament, sondern als Gleichnis des dreieinigen Gottes gegeben, der uns aufgetragen hat, mit ihr so umzugehen, daß seine heilende Präsenz in ihr als Gleichnis erfahren wird. 45 W i r erfahren uns durch unsere körperliche Existenz als ein Teil der Natur. W i r leben als Körper bezogen auf andere Körper. Die Haltung der Entfremdung und Feindschaft gegenüber der Natur oder die Versöhnung mit ihr manifestiert sich zuerst im Verhältnis zu unserem eigenen Körper. D e r Umgang mit ihm ist exemplarisch für unseren Umgang mit der Natur. D e r „Leib" ist im Christentum seit Augustin und unter dem Einfluß des Piatonismus über Jahrhunderte „zugunsten einer höheren, unsterblichen Seele" abgewertet worden. 46 Dem steht in den westlichen Industriegesellschaften „eine Uberbewertung des Leibes als des einzig wesentlichen, was den Menschen ausmacht" gegenüber. 47 D e r Körper wird hier idealisiert, diszipliniert und vermarktet. D e r prüfende Blick in den Spiegel ist geleitet vom Ideal des makellosen, schlanken und athletischen Körpers. Fitneßtraining und Hochleistungssport stehen im Dienst dieses Schönheitsideals und nutzen den Körper als Objekt, über das die Subjekte, die ihn haben oder die mit ihm große Leistungen vollbringen, Anerkennung finden. Die Industrie stellt eine breit gefächerte Angebotspalette zur Pflege, Disziplinierung und Therapie des Körpers zu Verfügung, mit der sie die Uberbewertung des Leibes im Interesse des Gewinns betont. O b in dualistischer Leibfeindlichkeit oder narzißtischem Körperkult, jedesmal ist der Körper eingebunden in die Kultur, die unsere Einstellung zu ihm formt. Im Anschluß an Foucault können wir sagen, daß der Körper stets ein „politischer K ö r p e r " ist. D e r kulturelle Diskurs, in dem sich das gesellschaftliche Wissen gemäß vorgegebenen Machtkonstellationen organisiert, formiert den „politischen K ö r p e r " „als Gesamtheit der materiellen Elemente und Techniken, welche als Waffen, Schaltstationen, Verbindungswege und Stützpunkte den Macht- und Wissensbeziehungen dienen, welche die menschlichen Körper besetzen und unterwerfen, indem sie aus ihnen Wissensobjekte machen" 4 8 . Die kultu-

45 Vgl. Christian Link. Die Welt als Gleichnis. München: Kaiser-Verlag, 1976. 46 Vgl. dazu Michael Kiessmann. Die Ethik des Leibes. In: Ders./Irmhild Liebau (Hg.). „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes." Körper - Leib - Praktische Theologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1997, 85. 47 Ebd. 48 Hermann Steinkamp. Der Körper als Produkt der Gesellschaft: Michel Foucaults Topos des politischen Körpers'. In: Michael Kiessmann, Irmhild Liebau (Hg.). „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes", 224.

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relie Formung des Körperbildes, der Einstellung zum Körper und des Körpers selbst ist möglich, weil der Körper für die Menschen stets zugleich Subjekt und Objekt ist. Jeder lebt in der dialektischen Beziehung zwischen dem Leib, der er ist und dem Körper, den er hat 49 . Weil unser Körper für uns selbst Objekt ist, kann unsere Beziehung zu ihm von anderen kulturell geformt werden. Weil er gleichzeitig aber auch Subjekt ist, bleibt stets die Sehnsucht wach, in der Unmittelbarkeit des Leibes und in Harmonie mit unserem biologischen Sein die „wahre Bestimmung" des Menschen als Subjekt leben zu können. Diese Sehnsucht wird vor allem von den modernen Körpertherapien, allen voran von der auf Wilhelm Reich und Alexander Löwen zurückgehenden Bioenergetik, gepflegt. Die Bioenergetikerin Angela Klopstech etwa vertritt in einem Aufsatz über „Anmut/Gnade und bioenergetische Therapie" das Ideal der spirituellen Befreiung durch die körpertherapeutische Lösung der Muskelverspannungen 50 . Sie vertraut ebenso wie Alexander Löwen auf die „Spiritualität des Körpers" 51 und behauptet daß „Anmut und Gnade in ihrem Wesenskern mit körperlicher und seelischer Gesundheit gleichgesetzt werden können". „Bioenergetische Analyse zeigt einen gnadengeleiteten und mit Anmut beschrittenen Erdenweg auf, indem sie versucht, die Herrschaftsbeziehung des Ich über das Selbst aufzulösen und eine Ausgewogenheit zwischen Körper, Seele und Geist herzustellen" 52 . Irmhild Liebau verbindet diesen Gedanken mit feministischen Überlegungen zu Leiblichkeit und Geschlecht. Sie sucht „zwischen Himmel und Erde, theologischer Geisteswissenschaft und bioenergetischer Körpertherapie" einen Weg, auf dem „Gott und Körper sich begegnen können" 53 . Sie träumt von einer „Körperkirche", in der Sinnlichkeit, Erotik und Ästhetik ihren Platz haben. So wichtig und erstrebenswert eine solche ganzheitliche Gemeinschaft von Männern und Frauen in der Gemeinde und in ihrer Beziehung zu Gott ist, so problematisch ist es jedoch, wenn der Körper undialektisch als das eigentliche Subjekt, in dem sich das Ich harmonisch integriert, verstanden wird und eine mystische Spiritualität des Körpers die Beziehung zu Gott trägt. Es ist nur möglich zu integrieren, wo „Differenzen" sind. Wir lehnen darum die „Vorstellung eines in sich reibungslos funktionierenden Organismus", wie sie sich bei Reich, Löwen 49 Vgl. dazu den Abschnitt „Trost durch Körperkontakt" in: Christoph Schneider-Harpprecht. Trost in der Seelsorge. Stuttgart: Kohlhammer, 1989. 50 Angela Klopstech. Anmut/Gnade und bioenergetische Therapie. In: Michael Kiessmann, Irmhild Liebau (Hg.). „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes 51 Alexander Löwen. Die Spiritualität des Körpers. In: Michael Kiessmann, Irmhild Liebau (Hg.). „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes136. 52 Angela Klopstech. Anmut/Gnade, 145. 53 Irmhild Liebau, Zwischen Himmel und Erde: Leiblichkeit und Geschlecht - aus bioenergetischer und theologischer Sicht. In: Michael Klessmann/Irmhild Liebau (Hg.). Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes, 175.

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und Perls findet, ab: „Es gibt ein ausgewogenes organismisches Funktionieren, aber es gibt keine ,wisdom of the organism'.. ,"54. Ökologische Seelsorge und Beratung bemühen sich in Zusammenarbeit mit Medizin und körperorientierter Psychotherapie um ein solches „ausgewogenes organismisches Funktionieren". Ihnen kommt es darauf an, den Körper mit dem Wort zu verbinden 55 , die Körpererfahrung, den Schmerz, die Lust und die Sinneseindrücke zur Sprache zu bringen und dadurch blinder Manipulation zu entziehen. Sie wollen die spirituelle Erfahrung mit dem Körper, die Genesung von der Krankheit, das seelische Heilwerden in der körperlichen Hingabe der Liebe, die Öffnung, Erregung und Erschöpfung der Ekstase bewußt und kommunikabel machen. Im brasilianischen Kontext finden wir ein ausgesprochen sinnliches und erotisches Verhältnis zum Körper, das seinen Ursprung in den afrikanischen und indianischen Kulturen hat und auf andere Kulturen im Land ausstrahlt. Der schöne Körper genießt große Wertschätzung. Man genießt es, ihn zu zeigen, gesehen und anerkannt zu werden. Man investiert, auch wenn man arm ist, in Kleidung, die sinnlicher und erotischer wirkt als die Bekleidung in anderen Kulturen. Dennoch geht man höchst selten so weit, den Körper völlig nackt in der Öffentlichkeit zu zeigen. Der Tanz, in dem man sich ganz dem Rhythmus der Musik hingibt und die Ekstase sucht, ist ein Kennzeichen besonders der afrobrasilianischen Kultur und Religion, das weit in die Kultur anderer Volksgruppen ausstrahlt, dann aber neben deren eigener Tanztradition besteht und sich nicht mit ihr vermischt. Ein traditioneller Ball von Deutsch-Brasilianern beginnt mit Walzer, Foxtrott und Polonaise, bis man sich zu fortgeschrittener Stunde schweißgebadet in den SambaRhythmen der Karnevalsschlager aus Rio und Salvador verliert. Der Körperkontakt ist sehr wichtig, die Umarmung (abraço) bei der Begrüßung und beim Abschied, das Schulterklopfen bei den Männern und das Küßchen bei den Frauen. Auf dem Land ist es teilweise noch üblich, beim Abschied den Segen vom Hausvater oder der Hausmutter zu erbitten. Der Segen wird dann unter Handauflegen erteilt. Von daher sind die Berührung, das Umarmen und ritualisierte Segenshandlungen mit Handauflegung unveräußerliche Elemente der Seelsorge. Eine abstinente, den Körperkontakt vermeidende Haltung wird dem gerade nicht gerecht, kann jedoch angemessen sein, wenn man bemerkt, daß Klienten etwa die Umarmung bei der Begrüßung und beim Abschied erotisch mißverstehen. Mit der Hochschätzung des Körpers, der Berührung, der Sinn-

54 Hilarión Petzold, Ilse Orth. Heilende Bewegung - Überlegungen aus der Sicht der integrativen Leib- und Bewegungstherapie. In: Michael Klessmann/Irmhild Liebau (Hg.). „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes", 187. 55 Vgl. Robert Eidam. „... den Körper mit dem Wort verbinden ..." Gedanken zur Leiblichkeit des Wortes. In: Michael Klessmann/Irmhild Liebau (Hg.). „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes", 26.

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lichkeit und Erotik des Tanzes geht in Brasilien ein strenger Dualismus zwischen Körper und Seele einher, in dem sich der Einfluß des Popularkatholizismus mit dem Geisterglauben der Indianer, dem afrikanischen Ahnenkult und in diesem Jahrhundert auch mit dem Spiritismus Alain Cardecs vereint hat. Der Körper ist in der populären Vorstellungswelt die Wohnung der Seele, die unsterblich ist oder sich, so die Spiritisten, auf dem Weg der Reinkarnationen vom „Karma" befreien muß. In den afrobrasilianischen Kulten „inkorporieren" sich die Götter, die Orixas, in eigens von ihnen erwählten und in einer langen spirituellen Vorbereitungszeit dazu befähigten Menschen, etwa der „Mutter des Heiligen (tnäe do santo)" oder den „Söhnen des Heiligen (filho do santo)". Dieser Dualismus wird bis heute von einer Reihe von katholischen Priestern und Bischöfen gefördert, indem sie den Gläubigen das „Purgatorium", das Fegefeuer, in dem sie Seele geläutert wird, vor Augen stellen. Er bewirkt jedoch auch ein spirituelles Verhältnis zum Körper, der zur vorübergehenden Wohnung der Geister ausersehen werden kann. Die populäre Vorstellung, daß die Geister der Verstorbenen zurückkehren und sich in einer anderen Person „inkorporieren" können, zeigt uns auch eine besondere Gefährdung, die Angst, nicht mehr der Herr des eigenen Körpers zu sein, nicht mehr leibliches Subjekt zu sein, sondern willenloses körperliches Instrument eines anderen Subjekts. Der Dualismus mag ein Grund dafür sein, daß in Brasilien die Dialektik zwischen dem Leib als Subjekt und dem Körper als Objekt bis ins Extrem der völligen Dichotomie, Entfremdung und Instrumentalisierung des Körpers ausgedehnt werden kann. Während sich viele Mitglieder der Mittel- und Oberschicht mit Gewichtsproblemen herumschlagen, darum kämpfen dem westlichen Ideal von Gesundheit, Fitness und Schönheit zu entsprechen oder durch verschiedene Körpertechniken die Harmonie von Körper, Seele und Geist anstreben, ist der Körper der breiten Masse der Armen von Kindheit an instrumentalisiert. Schlecht ernährt, dürftig bekleidet, durch Kinderarbeit schon früh überlastet, durch mangelnde Hygiene und Gesundheitsversorgung in abgelegenen Dörfern oder in den Elendsvierteln vernachlässigt, ist der Körper der Armen zuerst schlecht bezahlte Arbeitskraft, dann auch Lustobjekt, das mit Drogen ekstatisch aufgeputscht wird und in der Prostitution zur Ware werden kann, mit der sich die Frau, der Mann oder das Kind, das sie verkauft das Uberleben sichert. Das Gespenst des Organhandels organisierter Banden, die Kinder entführen, ihre Organe stehlen und in die 1 .Welt verkaufen, beschäftigte die Phantasie von einer ganzen Reihe unserer Gesprächspartner. Das zeigt, unabhängig davon ob diese Verbrechen real sind und welches Ausmaß sie haben, daß man in diesem Land mit der äußersten Erniedrigung und rücksichtslosen Ausbeutung des Körpers rechnet. Der athletische Körper des Fußballspielers oder die Brillanz und Anziehungskraft des Körpers der jugendlichen Gewinnerin einer der zahlreichen Schönheitskonkurrenzen gibt der flüchtigen 259

Hoffnung Nahrung, Wertschätzung auf sich zu ziehen, finanziellen Erfolg zu haben, groß heraus zu kommen und es zu etwas zu bringen. Viele dieser jungen Heldinnen und Helden verblühen, nachdem sie kurze Zeit im Rampenlicht gestanden haben, am Rand der Städte. Die Entfremdung vom eigenen Körper zeigt sich in Akten der Selbstausbeutung und Selbstzerstörung. Sie kann zu Zuständen der Dissoziation vom Körper führen, durch die besonders Männer unfähig werden, sich zu spüren, ihrem Körperempfinden zu trauen, sich sinnlichen Eindrücken hinzugeben, zärtliche Berührungen zuzulassen und zu erwidern. Unter den Deutschbrasilianern fällt ein rigides Verhältnis der Menschen zum eigenen Körper auf, die mit der beschriebenen Reduktion des Körpers zur Arbeitskraft durch die sozio-ökonomischen Bedingungen viel gemeinsam hat, aber insgesamt aus einer kälteren Kultur kommt, in der wenig Raum für zärtliche Berührung ist, körperliche Züchtigungen aber zum alltäglichen Erziehungsrepertoire gehören. Ein ökologisch angepaßter Umgang mit der Natur beginnt beim eigenen Körper. Seelsorge ist darum auch Leibsorge. Im Kontext der Armut muß sie die Menschen dazu anleiten, ihrem Körper Respekt zu zollen, ihn zu hegen und zu pflegen, auf seine Signale zu achten, die Grenzen der Leistungsfähigkeit anzuerkennen, keinen Raubbau an den eigenen Kräften zu betreiben, Tendenzen zur (Selbst)Ausbeutung und (Selbst) Zerstörung wahrzunehmen. Sie muß sich im Interesse des leiblichen Wohls in Zusammenarbeit mit der Diakonie mit elementaren körperlichen Bedürfnissen befassen, mit Fragen der Ernährung, der Hygiene, der Gesundheitsvorsorge und Krankenpflege, der Sexualhygiene und Sexualkunde, der Wohnumwelt und der Arbeitsbeziehungen. Dabei wird ein Schwerpunkt darin liegen, die zur Verfügung stehenden Ressourcen kennenzulernen und zu nutzen. Seelsorge kann an den traditionellen Bezug zur Natur und an die Tendenz, sich Naturheilern und Gesundbeterinnen (Benzedeiras) anzuvertrauen, anknüpfen und sollte versuchen, mit ihnen zusammenzuarbeiten, ihr Tun als Charisma zu verstehen, das in der Gemeinde willkommen ist. Gemeindeveranstaltungen, die über Möglichkeiten gesunder Ernährung informieren, Schulungen in elementarer Gesundheitsfürsoge, die Einrichtung von medizinischen Kräutergärten, in denen der Gemeinde die Nutzung der Heilkraft einheimischer Kräuter nahegebracht wird, sind ebenso angebracht wie Schulungen in ökologisch verträglichen landwirtschaftlichen Anbaumethoden. Ausgehend von der Sorge um den eigenen Körper kann durch solche Maßnahmen ein ökologisches Bewußtsein und die heilsame Reintegration in die Natur gefördert werden. Seelsorge und Beratung stoßen bei diesem Bemühen schnell auf die Grenzen ökonomischer Zwänge: Es ist schwer, einem Fernfahrer, der von seinem Chef unter einen immensen Zeitdruck gesetzt wird, klar zu machen, daß er aufhören sollte, sich mit Aufputschmitteln künstlich wach zu halten und dadurch seine Gesundheit zu zerstören. Das kann ihn den Arbeitsplatz kosten. Theologiestudenten, die während eines Kurses in klinischer Seelsorgeaus260

bildung Besuche bei Bauernfamilien in der Umgegend von Campinas (Sao Paulo) machten, welche durch die Vergiftung mit Pflanzenschutzmitteln erheblich gelitten hatten, bekamen immer wieder zu hören, daß man um die Gefahren wisse, aber auf eine hohe Produktionsquote angewiesen sei, die man nur durch die Benutzung von Pflanzenschutzmitteln erreicht, um fällige Bankkredite zurückzubezahlen. Ökologische Seelsorge wird in ihrer Sorge um den Leib und um unser Verhältnis zur Natur unumgänglich in wirtschaftliche und politische Konflikte hineingezogen, in denen die Menschen Beistand und Orientierung brauchen.

8.2.2. Die Gesellschaft Die Seelsorgebewegung in den Vereinigten Staaten und in Europa hat das seelsorgerliche Handeln seit ihren Anfängen stark am Modell medizinischer und psychologischer Hilfe orientiert und sich vorwiegend dem Einzelnen zugewandt. In einer säkularen Gesellschaft, welche die traditionellen Formen von Seelsorge (Beichte, Krankensalbung, Kirchenzucht, Exorzismus) als überkommen und autoritär ablehnte, mußten neue Formen seelsorgerlicher Kommunikation entwickelt werden, die allgemein als plausibel und legitim angesehen wurden. Seelsorge orientierte ihr Handeln am Modell von Psychoanalyse und Psychotherapie mit dem Anspruch, speziell die in der Gesellschaft ausgeklammerten religiösen Aspekte in das helfende Gespräch einzubeziehen. Anton T. Boisen, der Vater der modernen Seelsorgebewegung hatte zwar einen soziologischen Ansatz, er erkannte die Bedeutung von sozialen Bezugsgruppen und Sozialisation für die Entwicklung von psychischer Krankheit und betonte den Beitrag besonders religiöser Gemeinschaften, die hohe moralische Standards haben, für Prävention und Heilung. Dennoch ging es ihm in erster Linie darum, die Zusammenarbeit von Arzt und Seelsorger auf der Basis der gemeinsamen Erkenntnis, daß Religion für das soziale und individuelle Leben relevant sei, zu fördern. 56 Boisens sozialer Impuls wurde nicht fortgesetzt als sich Seelsorge und Beratung seit den fünfziger Jahren konzeptionell und methodisch auf Carl Rogers klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie oder auf die Psychoanalyse (Sigmund Freud, Erich Fromm) und jungsche Tiefenpsychologie konzentrierten. Mit Larry Kent Graham können wir die bis in die achtziger Jahre vorherrschende Form der therapeutischen Seelsorge, auch wenn sie die Familientherapie oder gruppentherapeutische Methoden wie das Psychodrama aufgenommen hat, als „existentiell-anthropologisches Modell" bezeichnen. Seine Charakteristika sind: Zentrierung auf das Individuum, Orientierung an 56 Vgl. den Exkurs über Boisens soziologische Orientierung bei George M. Furniss. The social context of pastoral care: Defining the life situation. Louisville, Kentucky: Westminster John Knox Pres, 1994, 41-47.

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Autonomie, Selbstverwirklichung, persönlicher Erfüllung. Seine Grundlage wird durch die Philosophie, Theologie und Psychologie der Existenz gebildet. Soziologische Theorieansätze werden ebenso vernachlässigt wie Fragen der moralischen Verantwortung und die Einbindung in die Tradition. 57 Seelsorge und Beratung haben sich in den USA noch stärker als in Europa professionalisiert, von der sozialen Bindung an die Gemeinden abgekoppelt und bieten ihre Dienste gegen Bezahlung auf dem Psychotherapiemarkt und im Bereich des öffentlichen und privaten Gesundheitswesens an. Vor allem in den achtziger Jahren hat es in den USA einige Versuche gegeben, die Gesellschaft als Dimension für die Seelsorge zu erschließen. Don Browning hat schon vorher die Berücksichtigung des moralischen Aspekts der Seelsorge eingefordert. 58 Charles Gerkin hat von Gadamers Hermeneutik und von der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie herkommend versucht, den sozialen Kontext und den prophetischen Auftrag der Seelsorge zu erfassen, ist aber letztlich doch im nordamerikanischen Pragmatismus befangen geblieben. 59 Archie Smith hat auf dem Hintergrund der schwarzen Kirchen in den USA und der Befreiungstheologie eine Theorie des „bezogenen Selbst {relational selfi" entwickelt, das die soziale Verankerung des Individuums betont. Er schlägt ein Modell von Seelsorge vor, das den Kampf um soziale Emanzipation mit der individuellen Bewußtseinsbildung und der Arbeit an den zwischenmenschlichen Beziehungen verbindet. 60 Howard Clinebell schließlich hat erkannt, daß der soziale Kontext in Seelsorge und Beratung einbezogen werden muß. Hinter jedem persönlichen Problem stünde ein Komplex von sozialen Problemen, auf die eine stärker holistisch ausgerichtete, „sozial verantwortliche Seelsorge", die ihr „prophetisches Erbe" bewußt in Anspruch nimmt, eingehen müsse.61 „To respond effectively to this challenge, we must rethink the interdependence of power and love, theologically and psychologically, and make empowerment, (not adjustment) a central goal in all our counseling, therapy and growth work. Liberation theology should become a major conceptual resource in both our theory and practice. Hyperindividualistic, privatized pastoral care can cut the

57 Larry Kent Graham. Care of persons, care of worlds, 32 ff. 58 Don S. Browning. The moral context of pastoral care. Philadelphia: Westminster, 1976. 59 Charles V. Gerkin. The living human document: Re-visioning pastoral counseling in a hermeneutical mode. Nashville: Abingdon, 1984; Ders. Widening the horizons: Pastoral responses to a fragmented society. 2. Aufl., Philadelphia: Westminster, 1986; Ders. Prophetic pastoral care: A christian vision of l i f e together. Nashville: Abingdon, 1991. 60 Archie Smith. The relational self: Ethics and therapy from a black church perspective. Nashville: Abingdon Press, 1982; Ders. Doing theology with peoples images and symbols: A systemic perspective on pastoral family care. In: Asian Journal of Theology (AJT), 3:2/89, 651-657. 61 Howard J. Clinebell Jr. „Toward Envisioning the Future of Pastoral Counseling and

AAPC". In: The Journal of Pastoral Care 37, no. 3 (1983), 189 ff.

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nerve of prophetic awareness and motivation to action. For persons who are economically exploited, and persons oppressed by the social malignancies of racism, sexism, ageism, classism, materialism, speciesism, militarism, and tribal nationalism, such pastoral care can be misused as a therapeutic tranquilizer. The recovery of the sight by the blind must never be separated from releasing the captives and enabling the broken victims of societal pathology to go free through counseling".62 Clinebell hat sein klassisches Buch Basic types of pastoral care entsprechend umgearbeitet und ein holistisches Verständnis von Seelsorge entwickelt, das auf das Wachstum des Menschen in allen seinen Lebensbezügen zielt. 63 In diesem Buch, das in den für die soziale Problematik aufgeschlossenen theologischen Seminaren Brasiliens zum Klassiker geworden ist, werden die moralische und soziale Dimension der Seelsorge zwar angesprochen, es bleibt jedoch eine kulturelle Differenz, so daß gerade die Probleme der Armut nicht ausreichend erfaßt werden. 64 Die zunehmenden sozialen Probleme in den USA, aber auch finanzielle Kürzungen von Kostenträgern für Psychotherapie und Beratung haben seit Beginn der neunziger Jahre eine Revision des „existentiell anthropologischen" Seelsorgemodells eingeleitet, die Clinebells Impuls aufnimmt. Pamela D. Couture ist in einer Studie dem Zusammenhang zwischen der Armut alleinerziehender Mütter, Familienpolitik und Seelsorge nachgegangen. 65 Gemeinsam mit Richard Hester kritisiert sie die Marktorientierung von Seelsorge und Beratung, die sich, nachdem sie die Gemeinde als Plausibilitätsstruktur aufgegeben hätten, dem Gesetz und dem Credo des (medizinischen) Marktes unterwerfen müßten, der für Gott keinen Platz läßt, sondern sich selbst als von „Gott freier" Raum an seine Stelle setzt. 66 Seelsorge und Beratung hätten das Bild des allmächtigen Gottes gegen das Bild eines Gottes, der mit den Menschen solidarisch mitleidet, ausgetauscht, hätten damit jedoch tendenziell das Handeln Gottes und der Menschen identifiziert und damit die vom Markt vorgeschriebene Säkularisierung mitgemacht. Ihre Marktorientierung bewirke, daß sie sich mit denjenigen befassen, die bezahlen, und verhindere, daß sie sich um die Armen kümmern. Die Fähigkeit, mit den Armen zu arbeiten sei unter diesen Umständen bei den aus der Mittelklasse kommenden Seelsorgern niemals gut entwickelt worden. Daher stelle sich die Frage:

62 Ebd. 63 Howard Clinebell Jr. Basic types of pastoral care and counseling: Resources for the ministry of healing and growth. 2. Aufl., Nashville: Abingdon, 1986. 64 Howard J. Clinebell. Aconselhamento pastoral 2. Aufl., Sào Leopoldo: Editora Sinodal, 1998. 65 Pamela D. Couture. Blessed are the poor? Nashville: Abingdon, 1991. 66 Pamela D. Couture, Richard Hester. The future of pastoral care and counseling and the God of the market. In: Pamela D. Couture, Rodney Hunter (Hg.). Pastoral care, 44 ff.

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„How can we extend God's care to the most vulnerable in our midst, to those who cannot pay as well as those who can?"67

Die Studie des Engländers Stephen Pattison, der als erster Europäer die lateinamerikanische Befreiungstheologie auf den Bereich der Seelsorge angewandt hat, resultiert ebenfalls in einer radikalen Kritik des individualistischen Modells professionalisierter und spiritualisierter Seelsorge. Er zeigt am Beispiel der Seelsorge in Englands Psychiatrischem Gesundheitsdienst wie dieses Modell den sozialen Kontext vernachlässigt, Themen wie die soziale Klasse, den Status, das Geschlecht, Gerechtigkeit und soziale Ungleichheit vermeidet 68 und das Leiden der armen Menschen vermehrt, indem sie versucht, sie therapeutisch dazu zu bringen, „zufriedener" in unbefriedigenden sozialen Verhältnissen zu leben.69 „ . . . my thesis is that pastoral care in the Northern hemisphere needs both to be liberated from some of ist own practical and theoretical limitations and narrownesses, and to become socially and politically aware and committed to the cause of those who are oppressed" 70 .

Anhand der befreiungstheologischen Literatur der siebziger und achtziger Jahre erarbeitet Pattison ein methodisches Instrumentarium, um den sozialen und politischen Kontext der Seelsorge zu analysieren und die Kirchen zu einer grundsätzlichen Änderung ihrer Seelsorgepraxis herauszufordern. 71 Er transformiert J. L. Segundos hermeneutischen Zirkel in eine „methodologische Spirale", durch welche die soziale Analyse immer tiefer eindringt: Einsichten und Methoden der Befreiungstheologie wecken den Verdacht in Bezug auf verborgene soziale und politische Implikationen der Seelsorge und motivieren dazu, den Kontext, die Theorie und die Praxis der Seelsorge zu analysieren, um ihre soziale und politische Praxis neu auszurichten. Diese neue Praxis ist dann wiederum Gegenstand einer Hermeneutik des Verdachts und der sozialpolitischen Analyse. 72 Auch wenn die marxistische Terminologie der von Pattison zugrundegelegten befreiungstheologischen Texte überholt ist und gewiß kein unabdingbares ideologisches Fundament für die sozialpolitische Analyse bildet, so kommt Pattison doch zu alarmierenden Einsichten, was die Anpassung und den Machtmißbrauch von Seiten therapeutisch orientierter Seelsorger in psychiatrischen Institutionen angeht. Er plädiert für eine Seelsorge, in der „repräsentative Christen" daran arbeiten, Sünde und Leid zu eliminieren oder zu vermindern, indem sie die kollektiven 67 Ebd., 53. 68 Stephen Pattison. Pastoral care and liberation versity Press, 1994, 190. 69 Ebd., 214. 70 Ebd., 6. 71 Ebd., 221 ff. 72 Ebd., 60 f.

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theology.

Cambridge: Cambridge Uni-

Strukturen der Sünde entdecken und sich in soziale und politische Aktivitäten verwickeln. Pattison macht aus den Seelsorgern „organische Intellektuelle", die Lebenshilfe für die Armen leisten. Sie unterscheiden sich im Grunde nicht von Sozialarbeitern mit christlichem Selbstverständnis. So wertvoll sein Ansatz zur sozialen Analyse ist, so unzureichend ist die Beschreibung des theologischen Propriums der Seelsorge. Das aber wird von Seelsorgerinnen und Seelsorgern erwartet, in Europa, in Lateinamerika und anderswo in der Welt. Fragen wir nach dem sozialen Bezug von Seelsorge und Beratung in Brasilien, so ergibt sich ein etwas verändertes Bild. In den letzten Jahren hat sich in den größeren Städten der Markt von Psychotherapie und Beratung, in dem nahezu alle auf der Nordhalbkugel der Erde vertretenen therapeutischen Richtungen vertreten sind, stark entwickelt. Er wird von den zahlenden Klienten der Mittel- und Oberschicht frequentiert, während die Armen zu ihm meist nur Zugang haben, wenn die Therapeuten über Entwicklungsprojekte finanziert werden, oder wenn Universitäten oder psychotherapeutische Ausbildungszentren Möglichkeiten eröffnen, sich durch Praktikanten in Ausbildung gegen geringes Entgelt behandeln zu lassen. Nur sehr vereinzelt haben kirchliche Seelsorger den Versuch gemacht, nach einer Therapieausbildung auf dem Beratungsmarkt Fuß zu fassen. In den Kirchen können wir drei Typen von Seelsorge identifizieren: das traditionelle Modell ritualisierter Seelsorge, das noch stark von der katholischen Kirche vertreten wird (Beichte, Krankensalbung, vereinzelt auch der Exorzismus), dem sich aber auch die Pfingstkirchen anschließen, die Exorzismen, das gemeinsame Gebet und ritualisierte Segenshandlungen bevorzugen. Ein pastoralpsychologisch orientiertes Modell findet sich vor allem unter evangelikalen Seelsorgern, Psychotherapeuten und Psychiatern, die sich in der „Körperschaft christlicher Psychologen und Psychiater" (Corpo de Psicólogos e Psiquiatras Cristäos) zusammengeschlossen haben und zunehmend Beachtung finden. Ein drittes Modell ist befreiungstheologisch orientiert. Die Befreiungstheologen haben sich über viele Jahre hinweg auf gesellschaftspolitische Veränderung konzentriert und gingen davon aus, daß individuelle psychische Probleme im Zusammenhang einer politischen Neuordnung der Gesellschaft angegangen werden müssen. Ein Aspekt der Krise der Befreiungstheologie war die Erfahrung des persönlichen Scheiterns vieler ihrer Vorkämpfer. Sie hatten ihr persönliches Leben, ihre Familie, Freundschaften und private Beziehungen zurückgestellt oder geopfert für die Verwirklichung einer sozialen Utopie. Nachdem sie gescheitert war, standen sie vor einem Scherbenhaufen. 73 Daraus hat man die Konsequenz gezogen, daß es unerläßlich ist, sich mit der Subjektivität, mit der Person

73 Vgl. dazu Ernildo Stein. Waisenkinder der Utopie, (port.: Arfaos da Utopia. 2. Aufl. Porto Alegre: Ed. da Universidade Federal, 1995).

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und ihrem Bedürfnis nach affektiven Beziehungen zu befassen, sie zu würdigen und dies mit dem sozialen Engagement zu verbinden. Ein allerdings noch rudimentärer Ansatz befreiungstheologischer Seelsorgetheorie ist von dem Lutheraner Lothar Carlos Hoch vorgelegt worden. Er setzt bei der Inkarnation an, die den Seelsorger und die Seelsorgerin dazu veranlaßt, in der Nachfolge Jesu Christi für die Armen zu optieren und sich dem Leiden des Volkes auszusetzen. 74 Durch den Stellungswechsel an den Ort des Armen macht er die Erfahrung seiner Unfähigkeit, die Situation zu verändern, und muß jeden paternalistischen Versuch, Hilfe zu leisten oder die Armen zu belehren, der Kritik unterziehen. Die Transformation der Situation der Armen fordert, sich in der Nachfolge Jesu auf den Weg des solidarischen Zusammenlebens im Lebenszusammenhang dieser Menschen zu begeben. Seelsorgerinnen und Seelsorger, die das Leiden teilen, müssen ihr Sündenverständnis ändern und weg von einer individualistischen Sicht der Sünde, die den Armen dazu veranlaßt, sich noch mehr zu entwerten, zu einer prophetischen Erkenntnis der strukturellen Sünde gelangen. Seelsorge soll die Menschen befähigen, die strukturelle Sünde der ungerechten Gesellschaft in ihrem individuellen, familiären und sozialen Leben zu entdecken und ihnen dabei zu helfen, ihre Situation infragezustellen und sich im Kampf für die Befreiung zu engagieren. 75 Entscheidendes Kriterium der Seelsorge ist ihr Beitrag zur politischen Bewußtseinsbildung und Aktivierung. 76 Im Rahmen der befreienden Praxis wird Seelsorge die Aufgabe aller. Sie dient dazu, daß die einzelnen Menschen und Basisgruppen ihrer Identität finden und gemeinsam wachsen. In methodischer Hinsicht hat die Gruppenseelsorge dieselbe Bedeutung wie die Einzelseelsorge, die ihrerseits stets die Beziehung zur Gruppe im Auge hat. Seelsorge geht aus vom akuten Leiden der Menschen. Ihre Instrumente - Zuhören und Sprechen - dienen dazu, den Protest zu artikulieren und zur konkreten Aktion zu schreiten. 77 Die Psychologie, deren Bedeutung Hoch verteidigt 78 , integriert sich in dieses Unternehmen und verwandelt sich im Rahmen der befreiungstheologischen Seelsorge in eine kontextualisierte Pastoralpsychologie. Anders als Pattison gelingt es Hoch, den positiven Beitrag der Psychologie zur Seelsorge zu würdigen, die sozialpolitische mit ihrer therapeutischen und spirituellen Dimension in einer Weise zu verbinden, die der brasilianischen Religiosität und Frömmigkeit, der Hochschätzung von religiösen Symbolen und Riten entgegenkommt. Ein Problem bleibt

74 Vgl. Lothar Carlos Hoch. Aconselhamento Pastoral e libertaçào. In: Estudos Teológicos 29 (1), 1989, 7-17. 75 Ebd., 139 f. 76 Ebd., 140. 77 Ebd., 142. 78 Vgl. Lothar Carlos Hoch. Psicologia à Serviço da Libertaçào. Possibilidades e Limites da Psicologia na Pastoral de Aconselhamento. In: Estudos Teológicos 25 (3) 1985, 249ss.

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die Integration dieses Ansatzes in die Praxis der meist mittelständischen Kirchen des historischen Protestantismus in Brasilien. Hoch entwickelt keine sozialwissenschaftlich fundierte Theorie der Gesellschaft, die uns hilft, das Sozialsystem operativ genauer zu analysieren und methodisch reflektiert in sozialen Beziehungen zu intervenieren. An dieser Stelle führt Grahams systemischer Ansatz weiter, der eine Verbindung der Theorie sozialer Systeme, der Befreiungstheologie, der feministischen Theologie, der Prozeßtheologie und der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie versucht. Ahnlich wie Boff geht seine systemische Sicht des Lebens davon aus, daß das Universum ein Ganzes ist, dessen Teile alle miteinander in Beziehung stehen. Es ist ein System, dessen Subsysteme relativ autonom sind, sich bis hin zu Subsystemen wie Gesellschaften, sozialen Gruppen, Familien und Individuen differenzieren, die alle nach den Prinzipien der Homöostase und der inneren Organisation funktionieren. Das heißt, sie suchen sich durch Abgrenzung nach außen und Kommunikation selbst zu erhalten; und zwischen ihren Elementen gibt es verschiedene Niveaus von Komplexität, Zuständigkeit, Macht und Einfluß. Systemisch orientierte Seelsorge befaßt sich mit der strukturierten Organisation von Personen und mit der der Natur ihrer Machtbeziehungen untereinander und mit der Umwelt. 79 Sie geht davon aus, daß Systeme relativ stabil und offen sind. Im Austausch ihrer Elemente mit der Umwelt durchlaufen sie Veränderungsprozesse, bei denen die Modifikation eines Teils das Ganze verändert. Im Sinne der Prozeßtheologie versteht Graham den universalen Prozeß als concrescence process, als ein gemeinsames Wachsen und Zusammenwachsen, in dem die Entstehung jedes Wesens das Resultat der Interaktion des schon Bestehenden {past), des Subjektes selbst und Gottes ist. Das positive Ergebnis des „Zusammenwachsens" ist „Schönheit" (beauty) als optimale Kombination von Intensität und Harmonie der Erfahrung 80 , die dem „Bösen" als Resultat der Zerstörung von Kreativität und Ordnung gegenübersteht. Gott wird nicht als ein schon fertiges vollkommenes Wesen gedacht, sondern als aktiv und passiv beteiligt am universalen Prozeß. Er schafft auf jeder Realitätsebene aufgrund des Bestehenden die optimalen Bedingungen für die Entstehung neuer Möglichkeiten und nimmt in sein Wesen auf, was auch immer ins Dasein kommt. 81 So übt er persuasiv Einfluß. Er interagiert mit der Totalität der Umwelten und kommt dadurch ins Dasein, so wie ein Mensch durch vielfältige Interaktionen mit verschiedenen Umwelten lebt.82 Graham entwirft ein Modell der psychosystemischen Organisation des Universums, das die Person, die Familie, die Gesellschaft, die Kultur und die Natur als Subsysteme umfaßt, die keine 79 80 81 82

Vgl. Larry Kent Graham. Care of persons, care of worlds, 40. Ebd., 53. Ebd., 67. Ebd.

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Hierarchie bilden, sondern wie konzentrische Kreise aufeinander bezogen sind. 83 Die Interaktion zwischen ihnen wird durch „psychosystemische Verbindungsglieder" (connectors)"4 geleistet: Es handelt sich um die „kontextuelle Organisation", also die Elemente, die dem System Kontinuität geben (ζ. B. der Körper, Grenzen des Familiensystems, Gesetze, Sitten) und die ihr entgegengesetzte „kontextuelle Kreativität", das heißt die Fähigkeit eines Systems, neue Möglichkeiten zu entwickeln. Die „bipolare Macht" ist die Kapazität des Systems, Einfluß aus der Umgebung zu rezipieren und Einfluß auszuüben. „Contending values", miteinander im Streit liegende Werte sind stets vorausgesetzt, wenn etwas entsteht. Alles ist das Ergebnis einer Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten, die durch das Bestehende determiniert werden und aus denen sich bei bestimmten Einflüssen eine feste Machtkonstellation ergibt. Reziproke Transaktionen wie beispielsweise Erkenntnis, Wahrnehmung und Handeln sind Vorgänge, durch welche die Organisation gebildet, Kreativität ausgespielt, Einfluß ausgeübt oder Werte vermittelt werden. Innerhalb dieser Weltsicht wird die Gesellschaft folgendermaßen definiert: „Society is the structured public organization of collective human experience. It refers to the institutional, political, racial, ethnic and economic embeddedness of persons and families. It incorporates local, regional and national laws, mores and customs" 85 .

Die Gesellschaft nimmt fundamentalen Einfluß auf die Personen. Die Weltanschauung, das Lebensgefühl, Werte, Selbsteinschätzungen etc. werden weitgehend durch gesellschaftliche Gruppen, zu denen man gehört, definiert. Die gesellschaftliche Einschätzung des ökonomischen Status, der Hautfarbe oder des Geschlechts beeinflussen unser Wohlbefinden positiv oder negativ. 86 Graham nennt sein Schema eine „psychosystemische Landkarte". 87 Ihr Vorteil ist es, daß sie es erlaubt, die Beziehung zwischen Individuen, Familien und anderen gesellschaftlichen Gruppen in jedem Einzelfall differenziert wahrzunehmen und in ein Gesamtbild zu integrieren, an dem sich die psychosystemische Seelsorge orientiert. Ihr Ziel ist es, den religiösen Auftrag (ministry) zu erfüllen, die Liebe zu sich selbst, zu Gott und zum Nächsten zu vermehren, eine gerechte Sozialordnung zu befördern und für eine lebenswerte Umwelt einzutreten. 88 Es geht ihr darum, gegenwärtig zu sein, individuell und kollektiv Strategien zu entwickeln, um in der Psyche und im Verhalten

83 84 85 86 87 88

268

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd.,

52 ff. 62 ff. 57. 66. 43.

der Hilfesuchenden, die Folgen von Ungerechtigkeit, Lieblosigkeit und ökologischer Zerstörung zu beseitigen. 89 Ihre Prinzipien sind: Organizität Erfassen des Beziehungsrahmens der pastoralen Situation (Zusammenhang von symptomatischem Verhalten mit der Familie, sozialen Gruppen, der Kultur . . . ) ; Simultanität Erkennen aller durch Interaktion zwischen den Systemen hervorgerufenen Konsequenzen und Widerstände gegen die seelsorgerliche Intervention; Bewußtmachung. Hilfe zur Wahrnehmung der Einflüsse der sozialen Ordnung auf die persönlichen Schwierigkeiten und zur Entwicklung von Strategien, destruktive Einflüsse zu verändern, auszuschalten oder zu neutralisieren, mit dem Ziel, symptomatisches Verhalten zu modifizieren; Verteidigung. Eintreten für Menschen, die nicht genug Einfluß haben, um in der Gesellschaft gehört zu werden, den Schwachen seine Stimme geben und politischen Einfluß nehmen, um ihre Umwelt und Lebensumstände zu verbessern; Abenteuer. Veränderung symptomatischer Situationen, indem der Seelsorger und die Seelsorgerin Menschen anleitet zu erkennen, daß Gott gegenwärtig ist und ein Verbündeter der befreienden Veränderung, die immer als Geschenk der Gnade und Frucht der Hoffnung anzusehen ist.90 Die Stärke dieses Konzepts besteht darin, daß es den mächtigen Einfluß der Gesellschaft auf die Situation von Individuen und Familien zwar genau erfaßt und einen Blick für die Ungerechtigkeit hat, aber stets mit neuen Möglichkeiten rechnet, die im Zusammenwirken von Gott und den Menschen geboren werden. Das motiviert dazu, auch in scheinbar ausweglosen Situationen kreativ zu bleiben und sich zu engagieren. 91 Wie stellt sich nun die soziale Situation von Familien aus der Unterschicht und der unteren Mittelschicht dar? Dies soll im folgenden knapp skizziert werden. 8.2.2.1. Das soziale Gesicht der Armut in Brasilien Die Armut in Ländern der 3. Welt ist generell eine Konsequenz der ökonomischen Spiele auf dem Weltmarkt und der internationalen Kapitalbewegungen, die große Bevölkerungskontingente aus dem Produktions- und 89 Ebd., 45. 90 Ebd., 46. 91 Der gesellschaftliche Auftrag der Seelsorge in postmodernen Gesellschaften wird erläutert von Uta Pohl-Patalong. Seelsorge zwischen Individuum und Gesellschaft. Elemente zu einer Neukonzeption der Seelsorge. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer, 1996.

269

Konsumprozeß ausschließen. 92 Das spiegelt sich in Brasilien. Das Land, das größer ist als die USA ohne Alaska, ist reich an natürlichen Ressourcen und Industrieanlagen. Seine Bevölkerung umfaßt ca. 150 Millionen Menschen. 75 % leben in den Städten und nur 25 % auf dem Land. Ökonomisch nimmt Brasilien den achten Platz auf der Weltrangliste ein, steht jedoch an zweiter Stelle, was die die Ungleichheit in der Verteilung des Einkommens und Eigentums angeht. Zehn Prozent der Reichsten verdienen 48,1 % des nationalen Einkommens, während fünfzig Prozent (die Armen) sich mit 12% begnügen muß. 93 Zehn Prozent (die Ärmsten) verdienen 0,8% des Volkseinkommens. Der Mindestlohn liegt 1998 bei 130 Dollar, und dies bei Preisen für Nahrungsmittel, Wohnungen und Luxusartikel, die leicht unter dem europäischen Niveau liegen. Es gibt regional, ethnisch und geschlechtlich bedingte Einkommensdifferenzen: Im Bundesstaat Säo Paulo verdienen 7,9 % der Bevölkerung einen Mindestlohn, während diese Zahl in Piaui, einem Staat im armen Nordosten auf 44 % ansteigt. Eine Frau verdient ein Drittel weniger als ein Mann, und das Einkommen der schwarzen Bevölkerung beläuft sich allgemein auf die Hälfte dessen, was die Weißen verdienen. 94 Schwarze, alleinstehende Frauen und ihre Kinder bilden die ärmste Bevölkerungsgruppe. In der ökonomischen Elite muß weithin ein Mangel an sozialer Verantwortung konstatiert werden. Brasilien ist wegen der relativen Stabilität seiner Währung in den letzten Jahren, sowie wegen seines natürlichen Reichtums und günstiger Bedingungen durch eine liberale Wirtschaftspolitik allerdings auch ein interessanter Handelspartner geworden. Die Migration in die Städte hat seit den achtziger Jahren signifikant nachgelassen, die Geburtenrate ist von 4,3 Kindern pro Familie im Jahr 1970 auf schätzungsweise 2, 9 im Jahr 1990 gefallen. Die Lebenserwartung steigt und damit auch die Zahl der alten Menschen in der Bevölkerung. Diese positiven Tendenzen sollten uns nicht über die Dimension der sozialen Problematik hinwegtäuschen. Viele Menschen (ca. 32 Millionen?) leiden noch unter Hunger und Unterernährung. Die Kindersterblichkeit ist gesunken, belief sich im Jahr 1989 jedoch immer noch auf 35 von 1000 neugeborenen Kindern im Süden des Landes und 92 von 1000 Neugeborenen im Norden. 95 Die medizinische Gesundheitsfürsorge

92 Hugo Assmann. Exterioridade e Dignidade Humana. Notas sobre os bloqueios da solidariedade no mundo de hoje. In: Idem. Desafios e Falacias. Ensaios sobre a Conjuntura atual. Sao Paulo: Paulinas, 1991, Bff. 93 J o a o Díaz. Açào contra a misèria e a fome. In: Almanaque Brasil 95/96. Rio de Janeiro: Hg. Terceiro Mundo, 1995, 186. Wichtige Informationen über die aktuelle Situation von Familien in Brasilien und Lateinamerika finden sich in Naciones Unidas. Comision Economica para America Latina y el Caribe. Cambios en el perfil de la familia: La experiência regional. Santiago de Chile, 1993. 94 Ebd. 95 Luiz A. de Castro Santos, O desafio contemporáneo da saúde pública. In: Almanaque Brasil, 199.

270

ist prekär. Sie konzentriert sich in den Städten und fehlt auf dem Land oder ist stark unterentwickelt. Öffentliche Krankenhäuser befinden sich konstant in der Krise wegen fehlender finanzieller Zuwendungen von Seiten der staatlichen Krankenversicherung. Die Renten sind niedrig, oftmals reichen sie nicht zum Überleben. Alte Menschen sind gezwungen weiterzuarbeiten, oder sie hängen vom Wohlwollen ihrer Familie ab. Das Wohnungsproblem in den Städten ist nicht gelöst. Familien in den Hütten der Favela oder in einer Einfachwohnung (cohabitaçào) drängen sich in einem oder zwei kleinen Räumen. Sie haben keine Privatsphäre, oft nicht einmal genügend Matratzen für alle Familienmitglieder. Die Stadtverwaltungen sind überfordert. Der Anschluß an die Wasserversorgung, die Elektrizität die Entsorgung von Abwässern verzögert sich oft um Monate und Jahre. Eine beachtliche Anzahl von Familien ist obdachlos. Ein kleiner Teil hat sich politisch organisiert in der Bewegung der Landlosen und der Bewegung der Obdachlosen, die durch eine geschickte Politik der Okkupation von Brachland von der Regierung die Zuteilung von Ackerboden für die Familien erstreiten. Diese Lebensbedingungen halten die Familien unter permanentem Streß. Als Folge können wir Veränderungen in der Familienstruktur, im familiären Lebenszyklus und im Lebensstil beobachten. Diese Situation konfrontiert Seelsorge und Beratung mit der Frage, wie sie den sozialen Wandel befördern können, ohne in die Falle einer Abhängigkeiten verstärkenden welfare mentality zu geraten. 8.2.2.2. Das soziale Netzwerk: Analyse und

Intervention

Welche Art seelsorgerlicher Intervention kann dem komplexen Zusammenhang der Individuen und Familien mit der Gesellschaft in der beschriebenen Situation am ehesten Rechnung tragen? Uns scheint, daß eine systemische Analyse und Intervention im Bereich des sozialen Netzwerks von Personen und Familien, die in anderen Ländern mit Erfolg in der Arbeit mit multiproblematischen Familien angewandt wurde, am ehesten Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten bietet. Sie verknüpft sich mit dem zuvor beschriebenen multisystemischen Ansatz der Familientherapie und erweitert ihn im Hinblick auf eine umfassendere soziale Intervention. Als Netzwerk können wir eine Gesamtheit miteinander interagierender Systeme bezeichnen. Das soziale Netzwerk von Personen kann konkret folgendermaßen definiert werden: „We can consider a social network as the entirety o f social links between persons in a finite c o m m u n i t y of relationships. A n y given person is therefore part o f many interlocking social networks". 9 6

96 Gary S. Hund, E. Mansell Pattison, Robert Llamas. Models of social network intervention. In: International Journal of Family Therapy, Winter 1981, 247.

271

Ebenso wie ein System nur durch den Beobachter definiert, also von seiner Umwelt abgegrenzt wird, so ist auch die Bestimmung eines Netzwerkes abhängig vom Beobachter. Die sozialen Beziehungen zwischen Personen haben vielfältige Funktionen. Je nach der Funktion in der Interaktion lassen sich darum auch verschiedene Netzwerke unterscheiden: ein Netzwerk von Freizeitbeziehungen, berufliches Netzwerk, Netzwerk von Freunden, Netzwerk für Informationen, für die Unterstützung in Notsituationen, ein religiöses Netzwerk usw.97 Die Analyse des sozialen Netzwerks untersucht die Struktur und die Funktion der vielfältigen sozialen Beziehungen. Strukturell bilden Personen die Knoten des Netzwerks und konstituieren es durch ihre Interaktion. Für die Analyse sind folgende strukturelle Merkmale wichtig: Größe (Anzahl der Knoten im Netzwerk), Verbundenheit (Anzahl der realisierten Interaktionen), Fließen (das Muster der parallelen oder aufeinander folgenden Beziehungsaufnahmen), Komposition (Art und Anzahl der im Netzwerk enthaltenen Beziehungen: einfache (ζ. B. Berufskollege), oder Mehrfachbeziehung (ζ. B. Berufskollege, Tennispartner und Freund)). 98 Funktionelle Merkmale des sozialen Netzwerks sind: „instrumenteile Funktionen" („Häufigkeit, Menge, Qualität der gewährten, geforderten oder verweigerten materiellen Hilfe"), „affektive Funktionen" (Qualität, Menge und Frequenz des positiven oder negativen emotionalen Austausche), Reziprozität (Qualität und Intensität der eingegangenen affektiven oder instrumentellen Verpflichtungen). 99 Unter den Funktionen des sozialen Netzwerks sind folgende für den Zusammenhang von Therapie, Beratung und Seelsorge bedeutsam: Mitgliedschaft und Zugehörigkeit, das Angebot von Modellen für das Verhalten in sozialen Rollen, die Interpretation sozialer Aktionen, Unterstützung, Normsetzung und der Zusammenhalt zwischen verschiedenen Generationen. 100 Es ist ein Irrtum zu glauben, Netzwerke hätten stets eine stützende Funktion. Sie können auch destruktiv oder bedeutungslos sein.101 Es ist wichtig, zu beobachten, wie ein Netzwerk ohne die Person aussieht und funktioniert, auf die hin wir es fokussieren („identifizierter Patient"). Netzwerke können eine lose Struktur haben und zerfallen, wenn sie nicht durch diese Person zusammengehalten werden, oder sie können auch unabhängig von ihr weiter funktionieren. In diesem Fall üben sie eventuell einen hohen Anpassungsdruck aus.102 Generell lassen sich folgende Typen von Störungen in der Funktion sozialer Netzwerke

97 98 99 100 101 102

272

Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

249. 248. 251. 248. 250.

unterscheiden, die durch spezifische soziale Interventionen angegangen werden können 103 : - personbezogene Funktionsstörungen: eine Person hat Schwierigkeiten ihre Verpflichtungen im Rahmen des Netzwerks zu erfüllen (eine übernommene Rolle ist zu komplex, die Kommunikation nicht effektiv, Rollenerwartungen widersprüchlich, die Anpassungsfähigkeit (coping skills) zu gering. Ziel der Intervention ist eine Veränderung der Funktion der Person innerhalb des Netzwerks (ζ. B. die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten, Klärung der Rollenerwartungen, Modifikation der Verhaltensroutine); - funktionelle Störung des Netzwerks: die Funktionsstörung des Netzwerks reflektiert sich in den Verhaltensproblemen seiner Mitglieder (das Netzwerk fehlt oder ist schwach entwickelt (impoverished), es fehlt an Ressourcen, oder die Vielfalt der Probleme bindet alle zur Verfügung stehenden Ressourcen, die Variabilität der Funktionen ist eingeschränkt, so daß das Netzwerk unflexibel durch Wiederholung gleicher Verhaltensweisen auf unterschiedliche Probleme reagiert). Ziel der Intervention ist eine Stärkung der funktionellen Beziehungen im Netzwerk (ζ. B. durch eine „network session", die Wiederanknüpfung und Intensivierung von Verbindung, die Erweiterung des Netzwerks). - personbezogene strukturelle Störungen: durch Beschränkungen der Netzwerkbeziehungen einzelner Personen entstehen Schwierigkeiten für andere (ζ. B. durch Scheidung kommt es zur Aufspaltung der Familien und des Freundeskreises, was für Kinder, die weiterhin Kontakt mit dem Netzwerk beider getrennter Partner haben, problematisch werden kann). Ziel der Intervention ist es, die Struktur des Netzwerkes zu verstehen, die eigene Position auszumachen, die Struktur des Netzwerkes zu verändern, indem man das Verhalten einer Reihe seiner Mitglieder verändert. - strukturelle Störung des Netzwerks: das Bestehen des Netzwerks ist gänzlich von einer Person abhängig; die anderen Teilnehmer am Netzwerk können es nicht restrukturieren. Ziel der Intervention ist es, das Netzwerk als solches zu restrukturieren oder für Menschen, die aus den sozialen Beziehungen herausgefallen sind (ζ. B. Patienten nach einem längeren Psychiatrieaufenthalt) ein neues Netzwerk aufzubauen. Inwiefern sind Interventionen auf der Ebene des sozialen Netzwerks für die Seelsorge und Beratung in Brasilien bedeutsam? - Sie eignen sich besonders für die Arbeit mit multiproblematischen Familien, die infolge der Armut häufig in den Gemeinden anzutreffen sind, aber auch mit isolierten Personen (delinquente Jugendliche, Straßenkinder, alleinstehende alte Menschen). 103 Zum folgenden vgl. ebd., 252 ff.

273

- Sie helfen die strukturellen Störungen im sozialen Netzwerk aufzufangen, die durch Migration, Arbeitslosigkeit, das Verlassen der Familie, Gelegenheitsarbeit an häufig wechselnden Arbeitsplätzen, Trennung und Scheidung hervorgerufen werden, und orientieren sich an einer Restrukturierung der sozialen Beziehungen. - Sie versuchen die funktionellen Störungen im sozialen Netzwerk zu mildern oder zu beseitigen, die durch die Wohnumwelt in Favelas mitbedingt sind. Dazu gehört die Sozialisation in Netzwerken, die durch Alkoholismus, Drogensucht, Kriminalität und Gewalt geprägt sind, der Mangel an materiellen Ressourcen, die Fragmentierung des Netzwerks von Nachbarschaft, Freunden und Familie durch Streitigkeiten, die Unterversorgung im Bereich des Gesundheitswesens, psychosozialer Dienste, Kindergärten und Schulen bei gleichzeitiger vermehrter Abhängigkeit von diesen Einrichtungen. - Sie beziehen die „natürlichen Helfer" ein, die in den Netzwerken zur Verfügung stehen und Aufgaben übernehmen können, und betonen den Gesichtspunkt der „Hilfe zur Selbsthilfe". Je nach Situation kann ihre Aufgabe in der stützenden Zuwendung oder in der sozialen Kontrolle liegen (im Fall von Gewalt oder sexuellem Mißbrauch in der Familie). Ihre Präsenz und ihre Hilfe hat besonderen Wert für die Krisenprävention und für die Intervention in akuten Krisen. - Sie machen Gebrauch von den Ressourcen, die in der kulturellen Uberlieferung des Volkes liegen (medizinische Kenntnisse, Weisheitssprüche, Mythen, Riten, Sitten und Gebräuche). - Sie tragen der besonderen Bedeutung der Großfamilie und der familienähnlichen Beziehungen (das System des compadrio, der Patenschaften) in Brasilien und anderen Ländern Lateinamerikas Rechnung und suchen die darin enthaltenen Ressourcen zu nutzen (z. B. Re-tribalisierung antisozialer Jugendlicher und Adoleszenter). 104 - Sie tragen der Bedeutung der Religion und der religiösen Gemeinschaften für das soziale Netzwerk Rechnung und nutzen die materiellen, sozialen und spirituellen Möglichkeiten, die damit gegeben sind. Religiöse Gemeinschaften können Sinn, Werte und Normen vermitteln, eine emotionale Stütze sein, ein alternatives soziales Netz bilden, was besonders für Alkoholiker, Drogensüchtige, die Opfer von Mißbrauch und Gewalt in der Familie, für Jugendliche und alleinstehende alte Menschen wichtig ist. Sie sind in der Lage, den Menschen neue soziale Aufgaben zuzuweisen, die ein neues Rollenverhalten und mehr Rollenflexibilität mit sich bringen. - Sie fördern die Kooperation der verschiedenen professionellen Helfer, koordinieren ihre Aktivitäten, integrieren sie mit denen der „natürlichen

104 Vgl. David M. Trimble. Social network intervention with antisocial adolescents. In: The Journal of Family Therapy, Winter 1981, 268-274.

274

Helfer" und ermöglichen eine Erfolgskontrolle. Kriterien für den Erfolg der Intervention im sozialen Netzwerk sind: Wurde das Netzwerk gestärkt (Anzahl der Mitglieder, Häufigkeit und Qualität der Interaktion)? Konnte es fehlende oder zu wenig vorhandene Funktionen entwickeln? War es in der Lage, eine Person oder eine Familie zu stützen, zur Problemlösung beizutragen und zu selbständigerem Verhalten zu aktivieren? Konnte es die Fähigkeiten der betroffenen Personen, ihre Lebenssituation zu bewältigen und Konflikte zu lösen verbessern? Seelsorge und Beratung sollten eine Schlüsselfunktion bei Netzwerkinterventionen übernehmen. Sie verfügen über einen Stamm an hauptamtlichen Mitarbeitern, welche die für eine Intervention nötigen theoretischen und praktischen Kenntnisse erwerben können, offenen Zugang zu vielen sozialen Netzwerken haben, meist über eine gewisse soziale Autorität verfügen, einen Vertrauensvorschuß bekommen und auf begrenzte materielle Ressourcen zurückgreifen können. Gemeinden verfügen über einen Stamm von ehrenamtlichen Mitarbeitern, die in verschiedene soziale Netzwerke integriert sind und vielfältige Möglichkeiten haben zu intervenieren.

8.2.3. Die Gemeinde Der systemisch-ökologische Ansatz der Seelsorge erkennt in der christlichen Gemeinde ein soziales Netzwerk, in dem verschiedene (Sub-)Systeme zur Stützung und Heilung von einzelnen Menschen und Familien zusammenwirken. Sie ist „therapeutische Gemeinde" der kulturell Verschiedenen. Das heißt, viele ihrer Aktivitäten haben eine therapeutische Dimension, weil sie Menschen mit sich selbst, mit Gott und dem Nächsten in Beziehung bringen. Diese Beziehungen sind identitätsstiftend und darum heilend. In ihnen erfährt sich der Einzelne als Akteur, der, obwohl er in hohem Maße fremdbestimmt ist, gestaltend auf sein Leben und auf das Leben seiner nahen und fernen Nächsten einwirken kann. In ihnen wird er als jemand angesprochen, der vor Gott und den Menschen eine Identität besitzt. Er ist ein verantwortliches Subjekt, ein Sünder und durch Gnade Gerechtfertigter, dem es zugemutet wird, sich im sozialen Rahmen der Gemeinde als Christ zu verstehen und sein Handeln entsprechend zu gestalten. Die therapeutische Dimension der Gemeinde besteht darin, daß sie den Menschen in den post-modernen Gesellschaften eine „geistliche Identität" zuspricht, sie als von Gott begnadigte, zum Leben in der Gemeinschaft befreite Sünder ansieht. Dadurch erlaubt sie es ihnen, die soziale und kulturelle Fragmentierung ihrer Identität anzuerkennen, also zu akzeptieren, daß sie in den vielen sozialen Gruppen, zu denen sie gehören, ganz unterschiedlichen Sprachspielen und Diskursen, damit aber auch unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Wertesy275

stemen ausgeliefert sind. Die Gemeinde ist der Ort, an dem diese Menschen sich annehmen können, weil sie von Gott angenommen sind. Sie sind in ihrer Individualität und kulturellen Partikularität gerechtfertigt, können sie pflegen und im Gemeindeleben zum Ausdruck bringen. Das bedeutet aber auch, daß in der Gemeinde die persönlichen, sozialen und kulturellen Unterschiede der Menschen aufeinanderprallen und Konflikte erzeugen, die ausgetragen und gelöst werden sollen. In der Gemeinde wird die Fragmentierung der Identität und des sozialen und kulturellen Lebens spürbar. Soziale und kulturelle „Gewinner" und „Verlierer" kommen zusammen, Vertreter dominanter und marginalisierter Kulturen, Erfolgreiche und Erfolglose, Arbeitslose und „Arbeitsbesitzer", psychisch stabile und psychisch Gestörte, Gesunde und Kranke. Sie ist der Ort, an dem die fragmentierte Identität schmerzhaft erfahren, aber auch zur Sprache gebracht wird. Sie wird in der Gemeinde vor Gott gebracht, das heißt auf Gott hin als einen Dritten ausgerichtet. Damit wird es möglich, ein Band der Verständigung zwischen den Verschiedenen zu knüpfen. Sie werden in der Fragmentation ihrer Lebenssituation und Identität gemeinsam zu Hörern und Interpreten der Botschaft des Evangeliums, die ihnen die „Fülle des Lebens" zusagt, sie aber auch immer wieder vor die Frage stellt: „Wer ist Dein Nächster?" Indem es Identität stiftet, bezieht das Evangelium den Einzelnen auf die Anderen. Es spricht Menschen an, die um die Erhaltung ihres Lebens kämpfen, in die Begrenztheit ihrer persönlichen, kulturellen und sozialen Situation als Täter und Opfer verstrickt sind und stets nach einer Mehr an Leben, einem Mehr an Lust, Macht, Sinn und Anerkennung, einem Mehr an Lebenszeit und Lebensmöglichkeiten suchen. Es rechtfertigt und verwandelt ihren Wunsch nach Leben, nach kultureller, sozialer und persönlicher Verwirklichung, indem es ihn auf Gott als Grund und Grenze des Lebens bezieht. Das Evangelium zeigt Gott als schöpferischen Grund, als Schöpfer, dessen Geist der Lebenshauch in allen Geschöpfen ist, der sie vorwärtstreibt und die Erfüllung in der Einheit mit Gott suchen läßt. Es offenbart ihn als Grenze, als absolute Transzendenz, angesichts deren jeder Mensch auf sich selbst zurückgeworfen ist, zurückverwiesen wird in die Einsamkeit und Schwachheit seines Körpers, die Fragilität und Relativität seiner individuellen Sinnkonstruktionen, die Ambivalenz seiner moralischen Haltungen und Handlungen, auf die Unfähigkeit, wirklich über sich hinauszugelangen. Das Evangelium verweist ihn auf das Modell Jesu Christi, der um Gottes willen sein Leben als Leben für den Anderen führte. Für ihn war dieser Andere besonders qualifiziert: Der Andere ist arm, bedürftig, krank, leidend. Er gehört zu einer Minderheit, der die soziale, religiöse oder kulturelle Anerkennung verweigert wird. Die anderen in den Geschichten Jesu sind Frauen, Kinder, als „unrein" abgestempelte Kranke, Menschen aus anderen Ethnien und Kulturen wie die Syrophönizierin oder die Samaritanerin. Jesus Christus verweist die Menschen im Doppelgebot der Liebe an den Nächsten und verknüpft ihren eigenen Wunsch nach 276

Leben mit dem der anderen. Es eröffnet die Möglichkeit, zu sich selbst zu kommen, eine, wenn auch begrenzte Identität zu gewinnen, indem man die eigene Einsamkeit überschreitet und seinen Lebensentwurf mit dem der anderen verknüpft. Es gebietet Beziehung. Damit stiftet und ermöglicht es diese auch. Beziehung der voneinander Verschiedenen, in der es zu relativen Verständigung kommt, können wir als ein inspiriertes, geistgewirktes Geschehen begreifen. Die Botschaft des Evangeliums knüpft so ein identitätsstiftendes Band, das den Einzelnen mit sich, mit G o t t und dem Nächsten heilsam in Verbindung bringt. Drei Aspekte an der von G o t t in Jesus Christus durch das Evangelium gestifteten Gemeinschaft mit den anderen sind uns für eine kulturell sensible Seelsorge wichtig: die Gemeinde als Erzählgemeinschaft, als soziales Netzwerk und als Ort, an dem das allgemeine Priestertum der Gläubigen die Organisation der Beziehungen bestimmen soll. Wenn wir die Gemeinde mit Johann Baptist Metz 1 0 5 als Erzählgemeinschaft charakterisieren, so hat dies eine eminent theologische und eine praktisch-pragmatische Bedeutung. Die Gemeinde konstituiert sich im Alltagsleben, weil und insofern Menschen einander ihre Geschichten erzählen und sie, um glaubendes Verstehen bemüht, auf die Geschichten der biblisch-christlichen Uberlieferung beziehen. Dies geschieht in den verschiedenen Feldern pastoralen Handelns, besonders jedoch in Seelsorge und Beratung. Durch die Geschichten, die sie erzählen, werden die Menschen, so sagt es die narrative Therapie, zu „Autoren" ihres Lebens. Sie stellen sich selbst dar, externalisieren in den Geschichten ihre Wirklichkeitssichten, ihre Probleme und Schwierigkeiten, ihre Bedürfnisse, Wünsche, Interessen, Werte ; Normen und Sinnkonstruktionen. Sie können sich im Prozeß des Erzählens, der Externalisierung zu ihren Geschichten verhalten, sie verändern, neue Versionen entwickeln, sich distanzieren, Aspekte unterdrücken, andere hervorheben. Sie passen ihre Geschichten formal und inhaltlich in den Sprach- und damit auch Kulturund Sozialzusammenhang ein. Sie erzählen sie im Hinblick auf die G e schichten, die sie von den Anderen gehört und für sich gedeutet haben. Sie bilden so etwas wie eine Autorengemeinschaft, in welcher jeder seine Geschichte nicht ohne die der Anderen zu erzählen vermag. Dieser Prozeß kann hilfreich und destruktiv sein, eine Bereicherung oder Verarmung an Lebensmöglichkeiten mit sich bringen. Wenn sich für den Einzelnen und die Gruppe neue Lebensmöglichkeiten erschließen, dann wird die menschliche Erzählgemeinschaft zur heilenden, therapeutischen G e meinschaft. Darum geht es in einem pragmatischen Sinne in Seelsorge und Beratung. D e r Bezug zur jüdisch-christlichen Uberlieferung rückt die menschlichen Erzählungen in einen neuen Sprachzusammenhang ein. 105 Vgl. Johann Baptist Metz. Para salvar a razäo. In: Emildo Stein, Luis de Boni (Hg.). Diatètica e liberdade: Festschrift em homenagem a Carlos Roberto Cime Lima. Petrópolis Porto Alegre: Vozes, Ed. da Universidade, 1993, 263 ff

277

Damit bringt sie Gott ins Spiel, begründet also eine Erzählgemeinschaft zwischen Gott und den Menschen. Charles Gerkin hat den Erzählzusammenhang der menschlichen Geschichten mit den Geschichten vom Handeln Gottes in der jüdisch-christlichen Uberlieferung im Anschluß an Gadamer als hermeneutische „Horizontverschmelzung" gedeutet, in dem biblische Erzählungen zum Deutungshorizont persönlicher Geschichten werden und umgekehrt. 106 Sie können etwa eine Schwierigkeit oder das Erleben einer Krisensituation symbolisieren und dadurch verändern. Die Geschichte von den Emmausjüngern kann von Trauernden als symbolischer Ausdruck ihrer Situation aufgefaßt werden und ihnen die Verheißung der Gegenwart des auferstandenen Christus als eine tröstliche Realität erschließen. Der metaphorische Prozeß der Erzählung bezieht ihre Geschichte ein in die biblische Erzählung und läßt sie an deren Bedeutung teilhaben. Aus der Sicht der von uns vorgetragenen Kommunikationstheorie, die auf der Andersheit und primären Unzugänglichkeit des Anderen und seiner Geschichten beharrt, mutet der Gedanke der Horizontverschmelzung etwas unbestimmt mystisch an. Es scheint sinnvoller zu sagen, daß es hier nicht zur Verschmelzung von Bedeutungshorizonten kommt, sondern zu analogen Beschreibungen, in denen Menschen die Bedeutungen ihrer Geschichten auf die der Geschichten anderer und der Geschichten Gottes beziehen, in denen sie sich die Bedeutung dieser Geschichten erschließen und durch welche die Deutung ihrer Lebensgeschichten „inspiriert" wird. Theologisch gesprochen realisiert sich so die koinonia, die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen, zwischen Jesus Christus und der christlichen Gemeinde. Das Band zwischen Gott und den Menschen ist vom heiligen Geist gewirkt, eine semantische Verbundenheit der Verschiedenen und voneinander Getrennten, die „Inspiration", die Männer, Frauen und Kinder dazu führt, sich als Geschöpfe Gottes inmitten der Schöpfung zu entdecken, als Brüder und Schwestern Jesu Christi in der Gemeinde von Schwestern und Brüdern, als Kinder Gottes an der Seite seines Sohnes. Koinonia, die Gemeinschaft von Gott und Mensch ereignet sich im metaphorischen Prozeß des Erzählens. In ihm werden Gott und die Menschen zu „Co-Autoren". Gemeinsam schreiben sie die individuelle Lebensgeschichte und schreiben sie ein in die Geschichte Gottes mit den Menschen. Die biblische Überlieferung stellt uns diese Geschichte in Erzählungen von der Befreiung vor. Lebensgeschichten, in denen die biblischen Erzählungen erinnernd einbezogen werden und in denen Gott und Mensch zu „CoAutoren" werden, sind „Befreiungsgeschichten". Dieser biblische Zug der Befreiung bestimmt die Erzählgemeinschaft der Gemeinde von Grund auf. Sie sensibilisiert sie für die unterdrückten Geschichten, für das Leiden und die Schuld, die mit dem Mantel des Schweigens bedeckt wird,

106 Vgl. Charles Gerkin. The living human document, 278

DERS. Widening the

horizons.

für die Geschichten der Ausgeschlossenen, der sozialen und kulturellen Minderheiten, denen die Macht den Mund verschlossen hat. Die therapeutische Gemeinde ist eine Erzählgemeinschaft, in denen die Geschichten dieser Menschen zu Gehör gebracht werden können und sollen. Das Verständnis der Gemeinde als soziales Netzwerk hat seinen ersten und klassischen Ausdruck in der paulinischen Metapher von der Gemeinde als „Leib Christi" gefunden Rm. 12. 3-8; 1. Kor. 12.12-31; Kol. 1.18). Wir können aus diesen Texten drei wichtige Themen ablesen, die von der Metapher des Leibes Christi spezifisch gestaltet werden: Einheit und Vielheit der Gemeindeglieder, Begabung und Aufgabe, Uberordnung und Unterordnung. Der in der Taufe ausgegossene heilige Geist gliedert die Menschen in die Gemeinde ein. Die Leibmetapher sagt, daß jeder zu einem Teil Jesu Christi wird. Der Geist begründet die Identität des Getauften: sie ist partikular und korporativ, er ist er selbst durch die Zugehörigkeit zu Jesus Christus, und er ist er selbst nur als ein Teil des Körpers, ein in seiner Funktion begrenztes Glied. Christen sind sie selbst nur als funktionaler Bestandteil eines größeren Ganzen. Sie sind Subsysteme, in und durch welche das Ganze sich realisiert. Ihre individuelle und kulturelle Vielfalt widerspricht der Einheit der Zugehörigkeit zu Jesus Christus nicht, solange sie ihre spezielle Eigenart als Funktion für das Ganze leben. Ihre persönliche und kulturelle Eigenart wird durch die Zugehörigkeit zu Christus nicht „gleichgeschaltet". Vielmehr wird sie als „Charisma", als Geistesgabe entdeckt, gewürdigt und genutzt, durch die eine Person zu einem spezifischen Glied des Leibes wird. Die Metapher des Leibes macht es unumgänglich, die Beziehung der Glieder als eine wechselseitige Abhängigkeit und als ein Angewiesensein des einen auf das andere zu denken. Alle Glieder sind vom Wohlergehen oder Leiden eines Gliedes betroffen. Der Leib und jedes einzelne Glied nimmt Schaden, wenn ein Glied auf Kosten der anderen dominiert. Darum führt Paulus die Umkehrung des Prinzips der Dominanz des Stärkeren ein: die schwächsten Glieder sind die nötigsten und haben einen höheren Wert. Auf diese Weise wird Jesu „Option für die armen Anderen" in eine konstitutive Bestimmung der christlichen Gemeinde umgesetzt. Sie ist Leib Christi nur, wenn den armen Anderen die Ehre gegeben wird, wenn sie in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Die Funktion der einzelnen Glieder und ihr Zusammenwirken realisiert die Einheit in der Vielfalt nur, wenn sie diesen schwächsten Gliedern dienen. Die Gemeinde als Leib Christi bildet ein soziales und funktionales Ökosystem von Beziehungen, das sich durch die Subsysteme von Individuen, Familien und Gruppen formt. Ihre Grundlage bildet die Beziehung zu Jesus Christus (koinonia). Sie vollzieht sich im Modus erzählender Erinnerung in verschiedenen Funktionen des Gemeindelebens wie Gottesdienst, Unterricht, Diakonie und Seelsorge. Sie bilden funktionale Subsysteme des Ökosystems der Gemeinde. Sie baut sich auf, indem sie diese Funktionen übernimmt. Darin dient sie ihren Mitgliedern und erhält 279

sich selbst als soziales System (Struktur). Sie kann die Funktionen (Organisation des Systems) jedoch nur übernehmen, wenn ihre sozialen Subsysteme, die Familien und Gruppen, Menschen zur Verfügung stellen, die bereit sind, den Dienst der Gemeinde zu empfangen und zu geben, sich also aktiv und passiv an den Funktionen des Gemeindelebens zu beteiligen. 107 In diesem Sinne muß die christliche Gemeinde, wenn sie sich als Leib Christi verstehen will, ein soziales Netz bilden, in dem Einzelne, Familien und Gruppen sich gegenseitig stützen, vor allem aber das Leben und das Wohl der armen Anderen zu ihrer Sache machen. Die Gemeinde als living human web übernimmt hier eine seelsorgerlich-politische Funktion, in die sich die Beratungsarbeit eingliedert. Durch vielfältige Aktivitäten in Diakonie, Gottesdienst, Gruppenarbeit, im Kontakt zwischen den Mitgliedern, zwischen Nachbarn, Freunden, Bekannten und Verwandten stehen die Christen einander bei, trösten sich gegenseitig, helfen sich durch Gespräche und konkrete materielle Zuwendungen. In der Gesellschaft treten sie als Anwalt der armen Anderen auf und verteidigen deren Rechte und Interessen. Dabei sind die armen Anderen in erster Linie Subjekte, die für sich selbst eintreten, und nicht Objekte mildtätiger Hilfeleistungen. Die Ekklesiologie der Befreiungstheologie, die diesen Gedanken in den Mittelpunkt gestellt hat, formuliert hier ein wichtiges Kriterium für Seelsorge und Beratung. Leonardo Boff kann sagen: Der Prozeß der Bewußtmachung und Partizipation an Gruppen und Assoziationen, in denen Menschen, die bisher passiv und ohne Kenntnis ihrer Situation lebten, sich organisieren, ihre Interessen vertreten, die Situation der sozialen Marginalisierung begreifen, ein Projekt für ihre Zukunft konstruieren und anfangen, andere zu mobilisieren, um ihre soziale Wirklichkeit zu ändern, ist ein Modell für die „Ekklesiogenesis", die Bildung der Kirche als Basisgemeinde aus den Wurzeln des Volkes.108 Alle Gemeindeglieder konstruieren durch ihren Prozeß der Partizipation und Bewußtwerdung gemeinsam die christliche Gemeinde. Sie werden aus unbeteiligten, unwissenden und machtlosen „Kunden" einer Dienst-

107 Vgl. Valburga Schmiedt Streck/Christoph Schneider-Harpprecht. Imagens da familia, 152 ff. Die Interpretation der Gemeinde als funktionales Ökosystem lehnt sich an James Fowler an, der die Gemeinde als Ökosystem von vielfältigen Formen des Gemeinschaftslebens ansieht, die von Menschen geteilt werden, welche den Glauben auf unterschiedliche Weise leben und sich in verschiedenen Entwicklungsstufen des Glaubens und der Persönlichkeit befinden. Fowlers Interesse konzentriert sich auf die Glaubensentwicklung des Individuums und auf seine aktive Beteiligung am Gemeindeleben. Uns geht es im Unterschied dazu darum, den Gemeinschaftsaspekt zu betonen und den Individualismus des kirchlichen Lebens zu überwinden (vgl. James W. Fowler. Stufen des Glaubens: Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1991). 108 Leonardo Boff. E a igreja se fez povo. Eclesiogênese : A igreja que nasce da fé do povo. 3. Aufl., Petrópolis: Vozes, 1986, 59 f.

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leistungen anbietenden Kirche der Amtsträger zu „historischen Subjekten", die sich als „Volk Gottes" auf den Weg machen.' 09 Für Protestanten, die vom Grundsatz des „allgemeinen Priestertums der Gläubigen" ausgehen, ist es nicht schwierig, sich dies zu eigen zu machen. Sie entdecken im befreiungstheologischen Verständnis der „Basisgemeinde" ein im Ansatz protestantisches Modell: Alle Getauften sind zum Dienst in der Gemeinde berufen und konstruieren sie gemeinsam. Sie haben ein „Charisma", mit dem sie etwas beitragen, eine Funktion, einen Dienst übernehmen können. Ihre Autorität und Macht ist streng an die Ausübung dieser Funktion gebunden, beweist sich also im Zusammenwirken mit den Anderen und ist legitim, insofern sie den Gemeindegliedern hilft, als von Gott durch die Rechtfertigung aus Glauben befreite Subjekte zu handeln. Seelsorge und Beratung sind vom „allgemeinen Priestertum der Gläubigen" her eine Angelegenheit aller Gemeindeglieder. Das hat Konsequenzen für die Seelsorgeausbildung und für das Arbeitskonzept etwa von kirchlichen Beratungsstellen. Ihr Ziel muß die Stärkung der seelsorgerlichen Kompetenz der Gemeindeglieder sein und die Einbindung der professionellen Kompetenz der „helfenden Berufe" in der Kirche in ein Projekt der „Gemeindeseelsorge", in welchem hauptamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger als „Multiplikatoren" arbeiten. Sie suchen nach neuen Formen, in denen sie der Gemeinde helfen, ihre seelsorgerliche Aufgabe zu übernehmen. Dabei geht es vor allem um die Bildung eines sozialen Netzwerks und um die Ausbildung ehrenamtlicher Seelsorgerinnen und Seelsorger, die in Krankenhäusern, Altenheimen, in den Familien und Gruppen präsent sind. In diesem Modell arbeiten professionelle Helfer daran, daß bestehende Gemeindegruppen die seelsorgerliche Dimension des Gruppenlebens wahrnehmen. Sie fördern die Bildung von Selbsthilfegruppen, in denen sich Personen mit besonderen Problemen, Kranke, Behinderte, Trauernde . . . ) organisieren und einander zu Seelsorgern werden. Sie bieten haupt- und ehrenamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern Supervision an. Auf diese Weise kommt es zu einer engen Verzahnung der Arbeit von Beraterinnen und Beratern mit der Gemeinde. Sie trägt dazu bei, daß die „kulturelle Sensibilität" der Gemeindeglieder gestärkt wird und daß die Kompetenz wächst, mit der kulturellen Vielfalt zu leben und in den daraus erwachsenden Konflikten angemessene Lösungen zu suchen.110

109 Ebd. 110 Die hier vertretene Position steht John Pattons „communal contextual" Modell der Seelsorge nahe, das die Grundaspekte des klassischen, biblisch orientierten, und des klinischen Modells der Seelsorge integriert. Auch Patton betont die Aspekte der Erinnerung, der Gemeindeseelsorge, in denen haupt- und ehrenamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger die Aufgaben teilen, die Bildung eines Netzes solidarischer Beziehungen und das Eingehen auf die Kultur der Gesprächspartner (John Patton. Pastoral care in context).

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8.2.4. Die Familie und das Individuum Wir definieren Familien im psychologischen und soziologischen Sinne als „intime Beziehungssysteme". 1 " Damit haben wir einen möglichst weiten Begriff gewählt, der es erlaubt, auch dauernde Partnerschaften von nicht offiziell Verheirateten und dauerhafte homosexuelle Partnerschaften als Familie zu begreifen. Ein solch inklusives Verständnis von Familie scheint am besten geeignet, auf die Veränderungen in der Auffassung der Partnerbeziehungen in den postmodernen Gesellschaften einzugehen und sie in Seelsorge und Beratung einzubeziehen. Es ist zudem umfassend und formal genug, um für verschiedene kulturelle Familienstrukturen gültig zu sein. Als „Kontext der Seelsorge" bedarf diese Sicht allerdings einer theologischen Begründung, zumal sie sich darum bemüht, „klassische" theologische Definitionen abzulösen, welche die Familie funktional von der Bestimmung zur Zeugung und Erziehung von Kindern ableiten. Der erste Schöpfungsbericht im Alten Testament versteht die Ehe als eine göttliche Institution. Gott schafft Mann und Frau als Beziehungswesen.112 Als solche sind sie sein Ebenbild, und ihre Beziehung ist mit der Verheißung und dem Gebot zur Vermehrung der Gattung verbunden (Gen. 1.26 ff.). Den Auftrag, sich fortzupflanzen und dadurch zu erhalten, haben die Menschen mit den Tieren gemeinsam; er ist ein allgemeiner Ausdruck ihres geschöpflichen Lebens. Die Bindung der Gottebenbildlichkeit an die Geschlechtlichkeit, wie sie sich etwa in der Interpretation Karl Barths findet, der Mann und Frau gerade in ihrer Beziehung als geschlechtliche Wesen als Gottes Ebenbild versteht, ist nicht unproblematisch. Die Gottebenbildlichkeit von Gen 1.27 kann auch als eine Bestimmung des Menschen als Beziehungswesen aufgefaßt werden. Er ist er selbst als Bild Gottes in seiner Bezogenheit und Angewiesenheit auf den Anderen. Dem gegenüber ist die Geschlechtlichkeit sekundär. Der zweite Schöpfungsbericht betont die Komplementarität und Intimität der Beziehung von Mann und Frau: sie sind „ein Fleisch" und stammen aus demselben Fleisch und Blut. Eva wird von Adam „jubelnd" als seine Partnerin begrüßt (Gen. 2.23).113 Diese Partnerschaftlichkeit unterscheidet sich von der ansonsten im Alten Testament vorherrschenden patri111 Vgl. Klaus A. Schneewind. Familienpsychologie, 16 f. 112 John Patton und Brian Child haben eine biblische Begründung der Ehe- und Familienseelsorge vorgelegt, die ebenfalls von der Schaffung des Menschen als „Beziehungswesen" nach der Genesis (Gen. 1-11) ausgeht. Sie leiten daraus die generationenübergreifende „Fürsorge" der aufeinander Bezogenen als eine für das Menschsein unabdingbare Haltung ab, die theologisch, anthropologisch und psychologisch die Grundlage der Ehe- und Familienseelsorge bildet (vgl. John Patton, Brian H. Childs. Generationenübergreifende Eheund Familienseelsorge. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995, 22 ff.). 113 Vgl. Frank Crüsemann, Hartwig Thyen, Als Mann und Frau geschaffen: Exegetische Studien zur Rolle der Frau. Gelnhausen,Berlin: Burckhardthaus Verlag, 1978; Erhard Gerstenberger, Wolfgang Schräge. Mann und Frau. Stuttgart: Kohlhammer, 1978.

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archalischen Sicht der Familie, in der die Frau dem Mann untergeordnet und als sein Besitz weitgehend rechtlos ist, und in welcher der Zweck der Institution „Ehe" die Fortpflanzung in der Generation der Kinder ist. Das Alte Testament kennt verschiedene polygame und monogame Familienstrukturen, von denen keine als überzeitlich gültig und interkulturell verbindlich abgeleitet werden kann. Die Beziehungen von Menschen, die Beziehungen von Mann, Frau und Kindern, in denen sich jeder zum Leben entfaltet, entsprechen dem Willen Gottes und werden gesegnet. Die Ethik Jesu relativiert Ehe und Familie als gegenüber dem kommenden Gottesreich „vorletzte" Wirklichkeiten, denen das zölibatäre Leben als Möglichkeit an die Seite gestellt wird. Jesu Gebot bestätigt die Beziehung von Mann und Frau in der Ehe als göttliche „Institution", führt sie jedoch, wenn er die alttestamentlichen Scheidungsgesetze als Konzession an die menschliche „Herzenshärtigkeit" ablehnt (Mk. 10.5 ff.), radikal auf Gottes Willen einer intimen, liebevollen Partnerschaft zurück. Jesus nimmt Frauen in den Jüngerkreis auf und nimmt sich der Kinder an - damit durchbricht er patriarchalische Machtverhältnisse und macht respektvolle Beziehungen, in denen die Würde des Anderen gewahrt wird und die Vergebung den Vorrang bekommt, zum Modell christlichen Verhaltens in Ehe und Familie. Die Inkulturation des Evangeliums in der griechisch-römischen Welt brachte die Einpassung der Ethik Jesu in die traditionellen patriarchalischen Familienstrukturen. Die paulinischen Texte sind in der Frage des geistlichen Rechtes der Frau widersprüchlich (1. Kor. 11 ), betonen jedoch die Verbundenheit und Gleichheit von Mann und Frau in und aufgrund der Christusbeziehung (Gal. 3.28). Es wird schon im Urchristentum notwendig, die Frage von Scheidung und Wiederverheiratung von Gemeindegliedern zu regeln (1. Kor 7). Die Ethik der Haustafeln der deuteropaulinischen Briefe schlägt eine christliche Gestaltung der Familienstruktur im Hellenismus vor und legitimiert dadurch die Unterordnung der Frauen theologisch. Der Text Eph. 5.22-33, in dem der Mann zum Haupt der Frau erklärt wird, dem diese ebenso Untertan zu sein hat wie die Gemeinde ihrem Haupt Jesus Christus, ist eine Schlüsselstelle für das sakramentale katholische Eheverständnis geworden, das die monogame patriarchalische Familienstruktur als universale und heilswirksame Form menschlichen Zusammenlebens festlegt. Nach der Auffassung des katholischen Kirchenrechts ist der Konsens, in dem die Brautleute, assistiert von einem Priester, aus freiem Willen erklären, daß sie heiraten wollen, ein sakramentaler Akt, in welchem den Ehepartnern die Gnade Gottes, die sie heiligt, gegeben und die damit geschlossene Ehe eine vor Gott unauflösliche Wirklichkeit wird. Die eheliche Liebe wird durch die göttliche Gnade geheiligt und die Ehepartner werden durch sie gestärkt, so daß sie zu einer vollkommeneren christlichen Existenz heranwachsen. Aus dem Neuen Testament, speziell 283

aus Eph. 5.22 ff. kann die Sakramentalität der Ehe nicht abgeleitet werden. Das „Mysterium" der Beziehung von Christus und der Gemeinde ist nicht identisch mit der „Essenz der Ehe". Das protestantische Eheverständnis verwehrt sich der Sakramentalisierung. Luther erkannte in der sexuellen Anziehung von Mann und Frau, die jeden nach einem Partner suchen läßt, Gottes Schöpfungsordnung, in der sich das Gebot, fruchtbar zu sein und sich zu mehren, verwirklicht. Als Schöpfungsordnung ist der Ehestand eine göttliche Berufung, von der nur sehr wenige Menschen ausgenommen sind. Sie gilt unabhängig von der Religion für alle Menschen. Die Ehe ist „ein weltlich Ding", das von staatlichen Gesetzen geregelt wird. Trennung, Scheidung und die Wiederverheiratung Geschiedener sind möglich und müssen durch rechtliche Bestimmungen geordnet werden. 114 Im Unterschied zum katholischen Kirchenrecht anerkennen die protestantischen Kirchen die Autonomie der staatlichen Regelungen des Ehe- und Familienlebens, solange sie nicht gegen die Menschenwürde verstoßen. Die ursprüngliche Intention lutherischer Eheethik war die Befreiung von Männern und Frauen vom spirituellen Zwang des Zölibats als höherwertiger Lebensordnung und der unauflöslichen sakramentalen Ehe, die einer doppelten Moral Vorschub leisten konnte. Sie zielte darauf, Ehe und Familie als lebenserhaltende soziale Ordnungen, in denen Menschen durch intime Beziehungen verbunden sind, zu stärken. Während im Katholizismus die Beziehung der Familienmitglieder aus der mystischen Beziehung zwischen Gott, Kirche und Familie abgeleitet wird, wurde die patriarchalische lutherische Hausstandsethik über Jahrhunderte zum Modell für das Verhältnis von Kirche und Staat. Vater und Mutter zu sein, ist eine göttliche Berufung, die auch für den Fürsten im Gegenüber zu seinen Untertanen gilt. Das Haus, in dem die Ehefrau, die Kinder, das Gesinde und das Vieh zusammenleben bildet eine ökonomische Einheit, die durch den Hausvater dirigiert wird, der auch die Rollen des Richters, des Lehrers und der geistlichen Autorität übernimmt. Die Familie war ein Mikrokosmos, in welchem sich die soziale Ordnung spiegelte.115 Die biblische Überlieferung nimmt eine weitgehend negative Haltung gegenüber homosexuellen Beziehungen ein, die in den verschiedenen Kirchen dominant geworden ist. Zurecht ist darauf hingewiesen worden, daß sie das Phänomen der homosexuellen Liebe zwischen zwei Partnern, die eine dauerhafte Beziehung eingehen, nicht kennt, daß die biblischen Aussagen folglich nicht als absolute transkulturelle Norm behandelt werden dürfen. Unabhängig davon, wie Kirchen und Gemeinden sich in der

114 Vgl. Martin Luther, Vom ehelichen Leben. In: Ders., Ausgewählte Schriften (Hg. Karin Bornkamm, Gerd Ebeling). 2. Aufl., Frankfurt am Main: Insel, 1983, 165-199. 115 Vgl. Wolfgang Steck. Im Glashaus: Die Pfarrerfamilie als Sinnbild christlichen und bürgerlichen Lebens. In: Martin Greiffenhagen (Hg.). Das Evangelische Pfarrhaus: Eine Kultur- und Sozialgeschichte. Stuttgart: Kreuz Verlag, 1984, 109-127.

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Frage der Segnung homosexueller Paare entscheiden, stehen sie vor der Aufgabe, diese Beziehungen von einer Liebesethik her zu verstehen, in der Menschen ihre Bestimmung zum Miteinander der geschöpflichen Bezogenheit auf eine spezifische Weise leben und als Liebende dem Gebot Jesu nachstreben können. Für die Familienseelsorge bedeutet dies, daß sie homosexuelle Beziehungen und die daraus für die Lebensgestaltung erwachsenden Probleme als ihre Zuständigkeit erkennt. Das kirchliche Eheverständnis hat in jedem Fall eine Verrechtlichung des Verhältnisses von Kirche und Familie mit sich gebracht, die in der Seelsorge zum Tragen kam. Die Kirchen setzten in den vom Christentum geprägten Gesellschaften die kulturellen Normen für das Familienleben und trugen dazu bei, daß sie rechtlich verbindlich wurde. In der Seelsorge wurde dann gefragt, ob eine Partnerbeziehung legitim sei, ob eheliche Probleme mit einer Normverletzung zu tun haben. Es wurde zwischen legitimen und illegitimen Nachkommen unterschieden. Im Fall von Trennung oder Scheidung wurden Rechtskataloge erstellt, die helfen sollten, die Schuldfrage zu klären und damit die Möglichkeit und die Modalitäten der Scheidung zu regeln, beziehungsweise die Ungültigkeit der Ehe zu erklären. Es war unumgänglich, daß sich das Verhältnis von Kirche und Gemeinde zu den Familien als „Kontrolle" gestaltete. Dies wirkt sich bis heute aus, wenn es um die Wiederverheiratung Geschiedener geht oder um die Frage der Mitwirkung der Kirchen bei der Schwangerschaftskonfliktberatung, die zu einer aufgrund kirchlicher Intervention legitimierten Abtreibung führen kann. Dieses Kontrollverhältnis kann sich in Seelsorge und Beratung als hinderlich und schädlich erweisen, zumal wenn es quer steht zu einer Kultur der Autonomie des Subjekts und die Menschen sich gegen eine „kirchliche Bevormundung" wehren. Für die evangelische Seelsorge und Beratung stellt sich darum die Aufgabe, selbstkritisch zu fragen, inwiefern sie kontrollierend und bevormundend mit den Familien umgeht. Ihre Devise sollte lauten: Begleitung statt Kontrolle. Sie respektieren die Handlungsfreiheit der Subjekte im Rahmen der geltenden Gesetze. Sie bemühen sich darum, ihnen zur verantwortlichen Lebensgestaltung zu helfen, sind jedoch weder bereit noch in der Lage, erwachsenen Menschen die Verantwortung für ihre Entscheidungen und Handlungen abzunehmen. Im Gespräch suchen sie die selbständige Konfliktlösung und ethische Urteilsbildung zu stärken. Dabei kann das Eheverständnis der Seelsorger, ihre ethische Position, als eine mögliche Sichtweise und als ein Vorschlag ins Spiel gebracht werden, mit der sich die Gesprächspartner auseinandersetzen. Begleitung statt Kontrolle ist nur möglich, wenn die kirchliche Institution für Seelsorge und Beratung einen Freiraum offenhält und nicht durch normativ bindende Verordnungen in sie „hineinregiert". Partnerschaftsbeziehungen und das Verhältnis von Eltern und Kindern sind nach biblischem Zeugnis von Gott gesegnet. Wenn aus Anlaß einer Eheschließung in der Kirche ein Gottesdienst gefeiert wird, in dem die 285

Gemeinde um Gottes Segen für das Paar bittet, wenn Kinder getauft und mit der Bitte um Gottes Segen in die Gemeinde aufgenommen werden, übernimmt die Kirche ihre Verpflichtung, eine Familie zu begleiten. Die Gemeinde ist der Ort, an dem die Verheißung des Segens Gottes öffentlich zugesagt wird und eine besondere Beziehung der Ehepartner, Eltern und Kinder mit Gott als Drittem, der ihre Beziehung zueinander ermöglicht und bestimmt, zum Ausdruck gebracht wird. Die Gemeinde bezeugt der Familie die göttliche Segensverheißung. Sie ist durch ihr Handeln in Gottes Beziehung zu diesen Menschen, die ihr als Glieder angehören, aber darüber hinaus auch zu allen Menschen, denen Gottes Segensverheißung gilt, involviert. Daraus leitet sich für sie die Verpflichtung ab, diesen Menschen „Begleitung" anzubieten, sich darum zu kümmern, daß und wie der verheißene Segen in ihrem Leben Gestalt gewinnt. Unser Vorschlag ist, daß sich die Begleitung der Familie in Seelsorge und Beratung einfügt in ein umfassenderes Modell der Beziehung von Familie und Gemeinde, dessen Achse der familiäre Lebenszyklus bildet. Es ist nicht zufällig, daß sich in den Kasualien (Taufe, Trauung, Beerdigung) als Passageriten an Knotenpunkten und Übergängen des familiären Lebenszyklus das Verhältnis zwischen Gemeinde und Familie verdichtet. Victor Turner hat die in den Passageriten erlebte Loslösung aus einer Lebensphase und sozialen Gruppe mit ihren Aufgaben, Normen und Werten und den Ubergang an die Schwelle einer neuen Lebensphase und Gruppe als Eintreten in ein Stadium der „liminality" bezeichnet. In ihm sind Menschen besonders ungesichert und verletzlich. Sie werden auch von der Gesellschaft als „außerhalb der Ordnung stehend" und darum für die Ordnung und die in der Ordnung lebenden als potentiell gefährlich angesehen. Die Passageriten strukturieren den Übergang. Sie schützen, stabilisieren und restrukturieren dadurch das Familiensystem. Die Bedeutung, welche den Passageriten in der Anthropologie und Familientherapie in den letzten Jahren beigemessen wurde, wirft ein neues Licht auf die theologische Diskussion um die Frage, ob die Kasualien eine missionarische Gelegenheit seien oder ob sich die Pfarrer in ihnen als Zeremonienmeister zum Büttel einer ungerechte soziale Verhältnisse stabilisierenden civil religion machen. Der Verlust der Übergangsriten in den westlichen Gesellschaften wird für Familientherapeuten zum Anlaß, sie in der therapeutischen Praxis nachzuholen, zu reinszenieren oder neue Rituale zu schaffen, etwa um die Trennung in einer Scheidungsfamilie zu bearbeiten. Die Therapeuten übernehmen eine ursprünglich religiöse Funktion, die in postmodernen Gesellschaften einem starken sozialen Wandel unterworfen ist und von den Kirchen nicht mehr ausreichend erfüllt wird. Die Gemeinde sollte dem menschlichen Bedürfnis nach religiöser Begleitung an den Lebensübergängen entgegenkommen und es nutzen, um Gottes Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Der nordamerikanische Rabbiner Edwin H. Friedman hat die Dynamik von Familienprozessen in Verbindung mit den Passageriten unter286

sucht und ihre seelsorgerliche Bedeutung unterstrichen. Ein Ereignis wie eine Hochzeit oder die Geburt eines Kindes fällt nicht vom Himmel. Die Familie setzt sich schon Monate vorher mit den Erwartungen auseinander, die sie diesem Ereignis und der Kasualhandlung entgegenbringt. In einem bestimmten Moment kreuzen sich die Wege der Familienmitglieder. Die verschiedenen Generationen, aber auch verschiedene Familiensysteme nähern sich in den Monaten vor dem Ereignis aneinander an. Die religiöse Feier und die Begegnung der Familie hinterlassen Spuren im Leben jedes Einzelnen, verändern die Beziehungskonstellation der Familie, führen zu Annäherungen und Distanzierungen, die noch Monate danach besprochen werden. Wenn die Gemeinde und ihre hauptamtlichen Mitarbeiter die Gelegenheit solcher Krisen im familiären Lebenszyklus nutzen können, um größeren gegenseitigen Respekt zu fördern, dann wird auch das religiöse Verhalten jedes einzelnen auf ein höheres Niveau gehoben. 116 Etwas weniger technisch können wir sagen: Die Gemeinde hilft in der Krise des familiären Lebenszyklus, das Leben unter der Verheißung des Segens Gottes zu gestalten. Wenn sie die Begleitung am familiären Lebenszyklus orientiert, dann kann sie die verschiedenen Funktionen kirchlichen Handelns (Gottesdienst, Unterricht, Diakonie, Seelsorge . . . ) auf die jeweiligen Phasen des Lebenszyklus abstimmen, in denen die Familienmitglieder bestimmte emotionale Aufgaben zu bewältigen haben und sich auf Veränderungen des Familiensystems einstellen müssen. Gemeinsam mit der Brasilianerin Valburga Schmiedt Streck habe ich einen Vorschlag der Familienbegleitung entwickelt, der die Theorie der Passageriten mit der des familiären Lebenszyklus und mit James Fowlers Konzept der Glaubensentwicklung in verschiedenen Lebensphasen verbindet. 117 Wir gehen davon aus, daß besonders die Glaubensentwicklung von Kindern auch die Eltern erfaßt, ihnen abverlangt, sich an ihr eigenes ähnliches Erleben zu erinnern und die familiären Ausdrucksformen des Glaubens an die Kapazitäten und

116 Vgl. Edwin H. Friedman. Generation to generation: Family process in church and synagogue. New York: The Guilford Press, 1985, 167; vgl. Valburga Schmiedt Streck, Christoph Schneider-Harpprecht. Imagens da familia, 161. 117 Ebd., 157 ff. Fowler versteht den Glauben als eine fundamentale Kategorie der menschlichen Suche nach der Transzendenz. Der Glaube ist ein universales Charakteristikum des menschlichen Lebens. Trotz der Verschiedenheit von Formen und Inhalten des religiösen Lebens ist er überall ähnlich: eine Orientierung der ganzen Person, die ihre Beziehungen von Vertrauen und Loyalität zu anderen Menschen durch das gemeinschaftlich entwickelte Vertrauen in und der Loyalität gegenüber transzendenten Zentren von Wert und Macht vertieft und sanktioniert (vgl. James W. Fowler. Stufen des Glaubens.). Fowler entwickelt ausgehend von Eriksons Stufen der psycho-sexuellen Entwicklung und Kohlbergs Stadien ein Modell von sieben aufeinanderfolgenden Stadien der Glaubensentwicklung (undifferenzierter, intuitiv-projektiver, synthetisch-konventioneller, individuativ-reflexiver, konjunktiver und universaler Glaube). Die verschiedenen Stadien des Glaubens lassen sich Stufen des familiären Lebenszyklus zuordnen, in denen sie von einzelnen Familienmitgliedern überwiegend gelebt werden.

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Bedürfnisse der Kinder anpaßt. Familien mit kleinen Kindern werden elementare Formen bevorzugen, Gesten des Vertrauens und der Zuneigung, Kinderlieder und einfache Geschichten, kindgerecht gestaltete Feste. Familien mit Adoleszenten hingegen können den Zweifel und Protest betonen. In einer interdisziplinären Equipe aus haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern plant die Gemeinde ihre Aktivitäten in verschiedenen Bereichen für Familien in einer Phase des Lebenszyklus. Dadurch wird die Integration von Seelsorge und Beratung in andere Bereiche des Gemeindelebens verstärkt. Die Begleitung im familiären Lebenszyklus als pastorales Programm ist so weit gefaßt, daß es offen ist für die kulturelle Situation. Es kann auf kulturelle Eigenarten der Familien eingehen und sozio-kulturell bedingte Familienkonflikte aufgreifen. Ebenso wie der familiäre Lebenszyklus kulturell variabel ist, so kann die kirchliche Begleitung im familiären Lebenszyklus auf die jeweilige Kultur abgestimmt werden. Dies sei am Beispiel der Phase der Hochzeit erläutert: Die Partner stehen vor der Aufgabe, sich sozial und emotional aufeinander einzustellen, gemeinsame Werte und Rollenvorstellungen zu entwickeln, die Aufgabenverteilung in Beruf und Familie zu klären, Formen zu finden, wie sie Intimität beiderseits befriedigend leben können und ihre Freizeit gestalten. Die jeweiligen Herkunftsfamilien müssen mit dem Verlust und dem Zugewinn eines Familienmitglieds zurechtkommen. Sie erweitern ihre Systemgrenze und nehmen auch Beziehung auf zur Familie der Schwiegertochter oder des Schwiegersohnes. Es läßt sich beobachten, daß die Phase der Heirat in der Kultur der Deutschbrasilianer und der Gauchos durch folgende Probleme geprägt sein kann: -

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das oft sehr niedrige Heiratsalter und der Mangel an Erfahrung; unzureichende Ablösung des Sohnes von der Mutter; Ablehnung der Schwiegertochter durch die Schwiegermutter; Isolation der Ehefrau im Familiensystem des Mannes; Schwierigkeiten der Ablösung der Braut von ihrer Familie; Eifersucht des Brautvaters gegenüber dem Schwiegersohn; Ablehnung durch die Schwiegerfamilie wegen der Hautfarbe oder der sozialen und kulturellen Herkunft; Dominanzverhalten des Brautvaters, der das von ihm ausgerichtete Hochzeitsfest zur grandiosen Selbstdarstellung benutzt; Eifersucht von Braut und Bräutigam aufeinander wegen ihrer früheren Partnerbeziehungen und die Furcht, diese Beziehung würde weitergehen; massive Wünsche nach Mutterschaft oder Vaterschaft, die eine Delegation der Elterngeneration sein können und mit den Erfordernissen von Arbeit und Ausbildung kollidieren; patriarchalische Besitz- und Kontrollansprüche des Ehemannes gegenüber der Frau;

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- Phantasien der Braut, den Mann zu Verantwortlichkeit erziehen zu können, wenn sie ein Kind, möglichst einen Sohn, bekommt; - der Mythos der Jungfräulichkeit als Bedingung einer „richtigen" Eheschließung in der Kirche. Diese Probleme können angegangen werden, wenn sich in der Vorbereitung und im Anschluß an die Hochzeitsfeier ein längerer Kontakt mit der Gemeinde ergibt. Die Teilnahme an einem Ehevorbereitungsseminar sollte darum verpflichtend gemacht werden. Neben Fragen der Familienplanung und der Liturgie, müßte es den Paaren Raum geben, ihre Situation zu besprechen, sich mit den Aufgaben, die sich bei der Heirat ergeben, auseinanderzusetzen, ihre Interessen zu formulieren und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Der Kontakt mit anderen Brautpaaren kann ihnen neue Horizonte eröffnen, fördert die Gruppenbildung und die Einbindung in die Gemeinde. Nach Möglichkeit sollte dieser Kontakt in einer Gruppe junger Ehepaare fortgesetzt werden, die auch Aufgaben in der Gemeinde übernehmen kann oder angesichts der Arbeitslosigkeit und sozialen Not ihrer Mitglieder eine Aktion zur konkreten Verbesserung der Situation startet. Seelsorge- oder Beratungsgespräche mit dem Ehepaar und unter Umständen mit Mitgliedern ihrer Herkunftsfamilien können in diesem Rahmen geführt werden. Dabei kommt in Brasilien den padrinhos de casamento, den Trauzeugen, die eine Art von Patenfunktion für das neue Paar übernehmen, ihnen also besonders nahe stehen und sich für das Gelingen der Ehe mitverantwortlich fühlen, eine besondere Bedeutung zu. Es ist möglich, das Brautpaar und die Trauzeugen als eine Art von Multiplikatoren neuer Ideen zu trainieren, die sie in ihre Familien hineintragen, um notwendige Veränderungsprozesse in Gang zu setzen. Als Gesprächsmethode empfiehlt sich die oben beschrieben Vorgehensweise und Gesprächstechnik der narrativen Therapie und der strukturellen Familientherapie, die auch von ehrenamtlichen Seelsorgern in Grundzügen erlernt werden kann. Wichtig sind die Fokussierung auf das Problem, die ungehinderte Erzählung der Schwierigkeiten (Externalisierung), die zur Klärung beiträgt, die Auseinandersetzung der Familienmitglieder mit den Sichtweisen der anderen, die gemeinsame Entwicklung alternativer Versionen, die zur Problemlösung hinführen. Die strukturelle Familientherapie und die Technik des Genogramms liefern den Seelsorgerinnen und Seelsorgern ein Raster, mit dessen Hilfe sie den Familienprozeß für sich strukturieren können: die „identifizierten Patienten" des Familiensystems ermitteln, rigide, durchlässige oder fehlende Grenzen zwischen Subsystemen feststellen, Interaktionsmuster erkennen und das Problem im Zusammenhang der Familiengeschichte erfassen.

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8.2.4.1. Empowerment postmodernen

von Individuen im Zusammenhang Individualisierungstendenz

der

Die strukturellen Wandlungen der postmodernen Gesellschaften sind grenzüberschreitend und ziehen Menschen in verschiedenen Kulturen und Sozialsystemen in den Sog einer uniformierenden, globalen Transformation der Lebenswelt, auf die diese jedoch, aufgrund ihrer sozialen Situation und kulturellen Eigenart unterschiedlich reagieren und damit eine Vielfalt hybrider sozialer und kultureller Konstruktionen schaffen. Ein wichtiges soziologisches Instrument zur Beschreibung der globalen Wandlungsprozesse ist das Individualisierungstheorem. Es zeigt auf, daß die derzeitigen Gesellschaften einen Individualisierungsschub durchmachen. Individualisierung wird dabei verstanden als „ein Prozeß der Herauslösung und der Freisetzung der Menschen aus historisch vorgegebenen Sozialbindungen und Kon trollzusammenhängen, das ist ein Vorgang radikaler Enttraditionalisierung, der die Subjekte aus selbstverständlich gegebenen sozialen Lebenszusammenhängen und Sicherheiten ,freisetzt'. Das Individuum der Gegenwart - befreit von den Kontroll- und Sicherheitskorsetts traditionaler Bindungen an Familie, Milieu, Glaubenssystemen und verpflichtender gemeinschaftlicher Moral - wird zunehmend und notwendigerweise zum aktiven Gestaltungs- und Organisationszentrum seiner sozialen Verkehrsformen und Lebenspläne". 118 Die Traditionsbindungen der Individuen lösen sich auf. Sie sind nicht mehr wie in prämodernen Gesellschaften eingebunden in ein starres Korsett von statischen hierarchischen Ordnungen, klar vorgegebenen Normen, feststehenden Rollen in der Geschlechterbeziehung und im ständisch organisierten Berufsleben. Ihre Biographie folgt nicht mehr gleichsam automatisch dem vorgefertigten Muster einer „Normalbiographie", bei der voraussehbar war, welche berufliche und private „Karriere" ein Individuum aus dem Bauernstand, ein Handwerker oder Bürger einschlagen und welche lebensgeschichtliche bedeutsamen Weichenstellungen es vornehmen wird. Die kapitalistische Gesellschaftsform hat festgefügte soziale Bindungen der Agrargesellschaften aufgelöst. Die Individuen sind als Arbeiter und Angestellte Anbieter von Arbeitskraft auf dem Markt geworden, die zeitlich flexibel und ortsungebunden sind. Dieser erste Individualisierungsschub hat die einzelnen gezwungen, Entscheidungen zu treffen, die ihr Überleben sichern, sich in Interessenvertretungen wie Gewerkschaften und Parteien zu organisieren, um politische Abhilfe für die elementare Not zu schaffen. Die Individualisierung war also begleitet von einer sozialen Empowerment-Bewegung der Arbeiterschaft zur so-

i l s N. Herriger. Empowerment in der sozialen Arbeit, 37; vgl. Ulrich Beck. Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main, 1986; Ders. Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.). Riskante Freiheiten·. Zur Individualisierung von Lebensformen in der Moderne. Frankfurt am Main, 1994.

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zialen Absicherung und der Kontrolle von Lebensrisiken. 119 Die Globalisierung des Marktes, von Technologien, Informationssystemen und Massenmedien hat die moderne Individualisierungstendenz in den letzten Jahrzehnten auch in traditionelle, prämoderne Gesellschaften getragen. In den postmodernen westlichen Gesellschaften bewirkte die Globalisierung und Informatisierung einen zweiten Individualisierungsschub (Verkürzung der Arbeitszeit, Entwertung privater Solidargemeinschaften durch den Wohlfahrtsstaat, „Erosion traditionaler Geschlechtsrollenmuster", Diskontinuität des Berufslebens mit Zeiten von Arbeit und Arbeitslosigkeit, ständiger beruflicher Weiterbildung, häufiger Wechsel des Arbeitsplatzes, Anonymisierung des Zusammenwohnens), der jedoch auf einem hohen Wohlstandsniveau aufgefangen wird und es den Individuen ermöglicht, trotz der Risiken ein materiell verhältnismäßig gesichertes Leben zu führen. 120 Die Individuen der Unter- und Mittelschicht in Osteuropa oder in den Ländern der dritten Welt hingegen sind mit dem vollen Maß der sozialen Risiken der neoliberalen Wirtschaft konfrontiert. Aus ihren traditionellen Bindungen herausgerissen, müssen sie die Last von Wirtschaftskrisen und Markteinbrüchen in vollem Umfang persönlich tragen. Das kann bedeuten, daß sie hungern, keine Krankenfürsorge in Anspruch nehmen können, sich mit Gelegenheitsjobs durchbringen, in die Kriminalität abgleiten, sich aus familiären und sozialen Bindungen zurückziehen, auf der Flucht vor der Not schnelle Ortswechsel vornehmen. Sie partizipieren in hohem Maße an den globalen Veränderungen der postmodernen Gesellschaften, tragen persönlich alle Risiken, haben jedoch wenig Möglichkeiten, die Chancen des sozialen Wandels zu nutzen. Dort, wo die Bindung an kulturelle Traditionen noch stark ist, provoziert der Individualisierungsschub zusätzliche Konflikte, so etwa wenn Frauen sich weigern, dem herkömmlichen Rollenbild zu folgen. Individuen in diesen Gesellschaften stehen also vor dem Dilemma, als Regisseure ihrer eigenen Lebensgeschichte handeln zu müssen, aber wenig materielle Handlungsmöglichkeiten zu besitzen und eventuell an Traditionen gebunden zu sein, die sie als hinderlich erleben. Sie müssen im Kampf um soziale Chancen Entscheidungen treffen, haben dazu aber nicht die Bildungsvoraussetzungen. Ihr Überleben hängt ab von der Partizipation am Arbeitsmarkt, dessen hohe Anforderungen an Qualifikation und Ausbildung sie nicht erfüllen können, weil ihnen die Mittel fehlen oder weil ihr traditionsgebundenes soziales Milieu solche Schritte nicht fördert. Von ihnen wird erwartet, daß sie eine Vielfalt von sozialen Rollen in „verschiedenen Lebensbereichen" übernehmen, dabei den Übergang von einem Bereich in den anderen flexibel gestalten und den „äußerst ver-

119 Vgl. Norbert Herriger. Empowerment, 39. 120 Ebd.

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schiedenen Anforderungen, Erwartungen und Normen" der sozialen Rollen gerecht werden, weitgehend ohne darauf vorbereitet zu sein.121 Sie erleben den Plausibilitätsverlust der althergebrachten Sinnangebote der Religion, müssen sich in der chaotischen Vielfalt von Sinnangeboten auf dem Markt der Weltanschauungen zurechtfinden und laufen dabei Gefahr, zu orientierungslosen „Nomaden" „auf der Suche nach geistiger und gefühlsmäßiger Heimat" zu werden. 122 Sie erleben die „Pluralisierung der normativen Koordinaten", können dadurch aber von ihrer traditionellen Lebenswelt (Eltern, Familie) entfremdet werden oder leben in einer Situation gesellschaftlicher Anomie, in denen die normativen Koordinaten so weit verloren gegangen sind, daß der andere in erster Linie als Objekt der eigenen Interessen, Wünsche und Triebe betrachtet wird und es keine verläßlichen sozialen Kontrollinstanzen gibt, welche die elementaren Rechte des Individuums schützen. Diese Darstellung der postmodernen Individualisierung bleibt vorerst eher skeptisch, was die tatsächlichen Chancen der individuellen Befreiung im Kontext von Gesellschaften und Kulturen der armen Länder angeht. Die Gefahr des „Orientierungsverlustes" und der Flucht in simplifizierende, rigide Sinngebungssysteme liegt auf der Hand. „Mit der Erosion rigider Identitätsformen eröffnen sich Entfaltungsmöglichkeiten für Lebenssouveränität (ein Stück ,eigenes Leben' läßt sich das auch nennen). Aber gleichzeitig etablieren sich neue Rigiditäten und Identitätszwänge, o f t gerade unter der Flagge der großen Freiheiten, Wahrheiten und Authentizitäten."' 23

Dennoch haben die Individuen in vielen Industriegesellschaften derzeit keine Alternative. Sie stehen unter dem Zwang, Entscheidungen für ihr Leben zu treffen, die Art der Gestaltung der Geschlechterbeziehung, den Beruf, den Arbeitsplatz, die Art der Freizeitgestaltung, den Lebensstil selbst zu wählen und dafür alleine die Verantwortung zu übernehmen. Sie sind mit der Anforderung konfrontiert, eine Identität zu entwickeln, die sich trotz Sinn-Brüchen, unterschiedlichen und unzusammenhängenden Rollenerwartungen, dem ständigen Wechseln zwischen teilweise widersprüchlichen Lebensbereichen stabil zu halten vermag und ein kohärentes Gefühl entwickelt, man selbst zu sein. Man hat in der Literatur dafür den Begriff der „multiplen Identität" geprägt 124 , ein Konzept, das aus einer konstruktivistischen Position einleuchtet, die davon ausgeht, daß die Identität eines Individuums ein flexibles Konstrukt ist, das in der Autopoiesis lebender Systeme in verschiedenen Lebensbereichen je-

121 Ebd., 44. 122 Ebd., 43. 123 Heiner Keupp. Ambivalenzen postmoderner Identität. In: Ulrich Beck. Elisabeth Beck-Gemsheim(Hg.). Riskante Freiheiten, 336 (zit. nach Norbert Herriger. Empowerment, 46). 124 Vgl. dazu. Uta Pohl-Patalong. Seelsorge, 131 ff.; Norbert Herriger. Empowerment, 47.

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weils neu gebildet wird. Die Biographie ist als interprétatives Geschehen sozusagen eine „Selbsterfindung der Subjekte" (Maturana, Varela) 125 . Hier geht es um die auch von Krappmann126 schon vor langer Zeit in der Identitätsdebatte erörterte Rollenflexibilität, die Ambiguitätstoleranz und die Fähigkeit, trotz massiver Unsicherheiten der Lebenswelt ein zukunftsoffenes „Identitätsprojekt", ein Projekt der eigenen Biographie so zu entwickeln, daß das Individuum entscheiden kann, mit welchen Elementen der kulturellen Tradition es sich identifiziert und wie es sie in seinem Leben zur Geltung bringt. Empowerment in Seelsorge und Beratung zielt also auch in den nichtwestlichen Gesellschaften und Kulturen, sofern sie unter dem Druck des globalen Marktes stehen, auf die Entwicklung einer dieser Situation angemessenen und (über)lebenswichtigen, den pluralen Bedingungen angemessenen flexiblen Identität. Ihr primäres Anliegen wird jedoch sein, die prekären Voraussetzungen der individuellen Identitätsbildung zu bearbeiten. Damit ist sie schon im Ansatz auf das Soziale verwiesen. Sie kann sich, wie Uta Pohl-Patalong hervorgehoben hat, nicht darauf beschränken, nur in Krisen- und Konfliktsituation zu intervenieren, sondern wird sich um die „Entwicklung grundlegender Kompetenzen zu einer für sich und andere befriedigenden Lebensbewältigung" bemühen.127 Das aber ist ohne den systemischen Aspekt nicht zu machen, verweist also zurück auf die Arbeit an der Gestaltung der sozialen Beziehungen im sozialen Netzwerk und zeigt auf, daß es notwendig ist, in der Seelsorge pädagogische Elemente zu berücksichtigen. Fehlen den Menschen der armen Länder oft die elementaren Kenntnisse und Bildungsvoraussetzungen, um die Pluralität der Lebenswelt wahrzunehmen, ihre Forderungen adäquat zu deuten und in ihr die Interessen der eigenen Person oder Gruppe zu vertreten, so bedeutet Empowerment hier zunächst Ermutigung und Anleitung zum Lernen. Paulo Freires dialogische Pädagogik kann dabei zu einem Praxiselement werden, das Menschen verschiedener Lebensalter dazu anleitet, sich mit ihrer Lebenswelt auseinanderzusetzen, sie wahrzunehmen, zu lesen, sie zu interpretieren und handelnd auf sie einzuwirken. Konkret bedeutet dies, daß die Bildungssituation der einzelnen Mitglieder einer Familie in seelsorgerlichen Gesprächen zum Thema gemacht werden. Die Ermutigung, sich zu öffnen, den bisherigen Ausbildungshorizont zu überschreiten, die eigene berufliche Zukunft konkret zu planen, differenziert sich je nach dem Bildungsstand der Gesprächspartnerinnen. Die aktive Bemühung um Weiterbildungsangebote, die Teilnahme an Kursen, die Wiederaufnahme des Schulbesuchs ist, wie die praktische Erfah-

125 Ebd., 101; vfgl. Humberto Maturana, Francisco Varela. The tree of knowledge. 126 L. Krappmann. Soziologische Dimensionen der Identität. 3. Aufl., Stuttgart, 1973. 127 Vgl. Uta Pohl-Patalong. Seelsorge, 255.

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rung gezeigt hat, ein sehr wichtiges Element bei der Ausbildung eines stärkeren Selbstbewußtseins und einer flexibleren Identität. Inés, eine 48 Jahre alte Altenpflegerin, suchte Beratung, weil sie nach dem Unfalltod ihrer Schwester und dem Verlust ihres Arbeitsplatzes in eine Depression geraten war. Sie hatte keinen Schulabschluß, weil sie als Kind nach dem Tod ihres Vaters bei Verwandten aufwuchs, bei denen sie gegen Kost und Logis im Haushalt arbeitete. Sie selbst hielt sich immer für dumm, wertete ihre Lernfähigkeit ab und fühlte sich gegenüber anderen, die einen Schulabschluß hatten und speziell gegenüber Akademikern klein und minderwertig. Im Verlauf der Beratung tat sie einen wichtigen Schritt, die depressive Hilflosigkeit hinter sich zu lassen, als sie sich zur Abendschule anmeldete. Der Schulabschluß war ein Meilenstein bei ihrer Rückkehr ins Berufsleben, die Erfahrung, sich um Stellen zu bewerben und als Bewerberin ernst genommen zu werden, ein weiteres wichtiges Element im Prozeß, das eigene Leben aktiv zu gestalten. Empowerment bedeutet in diesem Zusammenhang zum einen die Herausforderung, sich auf die Zukunft auszurichten, neue Ziele zu suchen, sich selbst etwas zuzutrauen, und die Bearbeitung von Ängsten, Gefühlen von Unzulänglichkeit und Abwehrversuchen. 128 Mit dem Ziel, die „Individualisierungskompetenz" und die „Pluralisierungskompetenz" 129 der Gesprächspartnerinnen zu stärken, werden konkrete Ziele der Veränderung (Problemlösung) definiert, geduldig stützend die Einwände und die Motive ihrer Angst gehört und relativiert. Gemeinsam suchen die Gesprächspartnerinnen nach Ressourcen, um das anvisierte Ziel zu erreichen, planen möglicherweise konkrete Schritte und werten das bisher Erreichte, die Erfolge und Fehlschläge aus. Lydia, eine 22 Jahre alte, unverheiratete Frau, kam in die Beratung, weil sie nach einem halben Jahr intensiveren Kontakts mit einer charismatischen lutherischen Gemeinde von Phantasien geplagt war, Gott werde sie strafen, sie werde in die Hölle kommen, weil sie nicht glaube. Wenn sie ein Kind gebäre, so werde es ein Kind des Teufels sein. Lydia hatte panische Angst vor dem Tod und vermied Ärzte und Krankenhäuser. Ein zugezogener Psychiater diagnostizierte eine psychotische Depression, medikamentierte sie einige Monate und empfahl begleitende Beratung. Lydia war ausreichend intelligent, hatte mit großer Anstrengung die Hochschulreife erreicht. Mehrere Arbeitsversuche scheiterten. Sie war nicht introspektionsfähig, drückte sich undifferenziert aus, meist wiederholte sie wie eine Leier ihre Ängste und Symptome. Ihre Familie war nicht bereit, zur Beratung zu kommen. In der über vier Jahre gehenden begleitenden Beratung suchte sie durch konkrete zukunftsorientierte Schritte nach und nach in verschiedene hochgradig angstbesetzte Lebensbereiche vorzudringen. Einzelne Schritte waren: das Aufsuchen des Psychiaters und einer Gynäkologin, es riskieren in ein Labor zu gehen und eine Spritze zu bekommen, deren Nadel kontaminiert sein könnte, sich um Arbeitsstellen bemühen, Bewerbungsgespräche führen, die Schwangerschaftsvertretung einer Zahnarzthelferin übernehmen, die Aufnahme128 Vgl. ebd., 257. 129 Ebd., 255. 294

priifung an einer privaten Universität machen, zum Unterricht gehen, auch wenn sie vor allem Angst hat, Prüfungen machen, sich um Nachhilfe bemühen, einen Computerkurs machen, sich um Geld zur Bezahlung des Studiums bemühen, das Interesse für das männliche Geschlecht zugeben, es wagen, auf Männer zuzugehen, Brieffreundschaften anzufangen, die eigenen sexuellen Wünsche wahrnehmen, eine sexuelle Beziehung versuchen. Auf diesem langen Weg des Empowerment konnte vieles nicht oder in geringerem Umfang erreicht werden, als Lydia sich das wünschte. Es gelang ihr über Jahre nicht, Arbeit zu finden. Sie weigerte sich konsequent, Putzstellen anzunehmen oder Gelegenheitsarbeiten zu machen, weil sie fürchtete, dadurch nur die berufliche Karriere ihrer Mutter zu wiederholen und als Hausmädchen zu enden. Sie wünschte sich, von der Familie loszukommen und ihre eigenes Leben zu führen, schaffte den Absprang jedoch nicht, weil sie die Mutter nicht alleine lassen wollte und weiterhin vom Einkommen ihrer Schwester abhängig blieb. Sie weigerte sich nach der Erfahrung in der evangelischen Gemeinde konsequent, Gruppen aufzusuchen und beschränkte sich auf Einzelkontakte. Es gelang ihr aber, eine Zeit lang einen Freund zu finden und mit ihm Intimität zu erleben. Sie gab das Studium nicht auf, obwohl sie nicht genug Geld hatte, um voll zu studieren und es zum Abschluß zu führen. Der Prozeß des Empowerment von Lydia kam an seine Grenzen, weil sie durch die Traditionen eines rigiden Familiensystems gehalten war, das ihr die Rolle des Hausmädchens und der kleinen Schwester zuwies, die kein Recht auf ein eigenes Leben hat und für die alten Eltern sorgt. Der Berater übernahm während der gesamten Zeit eine stützende, vorsichtig fordernde, in Krisensituationen auffangende Funktion und mußte es lernen, die Grenzen zu akzeptieren, die Lydia sich setzte. Empowerment von Individuen meint, zur Verarbeitung von Krisen und Brüchen in der Lebensgeschichte beizutragen. 130 Hier leisten die M e t h o d e n der Krisenintervention 131 und der seelsorgerliche Trost 1 3 2 wichtige Dienste. D a s theologisch zentrale Element des Trostes besteht dabei in der Erschließung der Begründung der Identität der Christen in der Christusbeziehung, also in einer Dezentrierung des Subjekts, der Verankerung der Identität „extra nos" in der aus der Perspektive des Glaubens als Existenz fiir die Menschen aufgefaßten Lebensgeschichte Jesu Christi. 133 D a s ermöglicht ein Aushalten von Krisen und Brüchen in der Seelsorge unter Verweis auf eine transzendente Begründung in der von G o t t angenommenen Gebrochenheit der menschlichen Existenz und ihrer eschatologischen Uberwindung. Grenzen können akzeptiert werden. Erfahrungen des Scheiterns müssen nicht übersprungen oder vermieden werden. Zugleich ist eine Fixierung auf die Krise, das rückwärtsgerichtete Festhalten am Scheitern,

130 Vgl. Uta Pohl-Patalong. Seelsorge, 259. 131 Vgl. David K. Switzer. Krisenberatung in der Seelsorge. München, 1975; 132 Vgl. Christoph Schneider-Harpprecht. Trost in der Seelsorge. Stuttgart, Berlin,Köln: Kohlhammer, 1989. 133 Ebd., 153. Vgl. Ulrike Schneider-Harpprecht. Mit Symptomen leben: Eine andere Perspektive Jaques Lacans mit Blick auf Theologie und Kirche. Münster: LIT-Verlag, 2000, 20 f.

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am Leiden und Schmerz als Bedingung der Identität ausgeschlossen. Die in der Existenz Gottes in Christus „pro nobis" begründete Identität setzt die Menschen frei und eröffnet ihnen die Zukunft. Dem seelsorgerlichen Trost geht es deshalb um konkrete Erfahrungen der Relativierung des Leidens und der Uberwindung der Krise. In Beratungsprozessen findet eine Öffnung für die Pluralität der Lebenswelt und der Identitätsentwürfe statt. Die Gesprächspartner setzen sich in einem auf die offene Zukunft ausgerichteten biographischen Dialog mit ihren Lebensmöglichkeiten auseinander, erwägen Alternativen, oder sie erinnern sich und denken vielleicht darüber nach, was sie anders hätten machen können. Biographische Identität wird hier im Modus der Möglichkeit erschlossen. Dies entspricht der Befreiung und Zukunftseröffnung durch die Gründung der Identität in Jesus Christus. Empowerment in Seelsorge und Beratung geschieht darum in zukunftsorientierter Kommunikation. In ihr wird die postmoderne Freiheit zur Wahl jedoch oft als Zwang zur Entscheidung erfahren, bei der keine allgemeinen handlungsorientierenden Werte und Normen vorgegeben sind. Empowerment bedeutet dann, „Unterstützung in Konflikt- und Entscheidungssituationen"134 zu geben. Dabei können Verunsicherungen der Orientierung durch konkurrierende kulturelle Wertsysteme ebenso wie unterschiedliche Perspektiven der an einem Konflikt beteiligten Personen zur Geltung kommen. Lydia mußte sich, nachdem sie einen Freund gefunden hatte, zu dem sie eine intime Beziehung aufnehmen wollte, damit auseinandersetzen, daß rigide Vorstellungen von der Bewahrung der Jungfräulichkeit bis zur Hochzeitsnacht es ihrem Vater niemals erlauben würden, seiner erwachsenen Tochter vorehelichen Geschlechtsverkehr zuzugestehen. Sie stand zwischen der traditionellen kulturellen Orientierung des Vaters, die Ängste und Gefühle von Schuld und Illoyalität in ihr wachrufen, und der liberalen Sexualmoral der Moderne, der sie prinzipiell zustimmt, die sie jedoch aus Angst vor dem Vater nicht zu leben wagt. Erst eine Dekonstruktion beider moralischer Orientierungen half ihr, sich von dem inneren Widerspruch zu befreien. Dabei erwog sie mit dem Berater das Pro und Contra beider Orientierungen, bekam Informationen über die mögliche soziale Funktion des Mythos der Jungfräulichkeit in der Vergangenheit und die Gründe der Liberalisierung der Sexualität. Sie verglich die liberale Haltung des Vaters, wenn es um den vorehelichen Geschlechtsverkehr seiner Söhne geht, mit dem rigiden Sexualverbot im Fall seiner Töchter, bedachte schließlich, daß ihr Vater ihr möglicherweise im Interesse seiner Versorgung im Alter ein sexuelles Leben verbieten möchte. Diese Reflexionen ermutigten sie, sich dafür zu entscheiden, ihre sexuellen Wünsche zu leben und es dem Vater, den sie als gewalttätig und wegen Totschlags vorbestraft schildert, auf

134 Uta Pohl-Patalong. Seelsorge, 262.

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keinen Fall zu erlauben, sich in ihr Intimleben einzumischen. Da ihr klar war, daß sie von ihm abhängig sein würde, solange sie in seinem Haus lebte und da sie sich noch nicht in der Lage sah, auszuziehen und sich von ihrer Schwester und Mutter zu entfernen, beschloß sie, ihr intimes Leben ohne familiäre Erlaubnis zu führen, also bewußt mit der kulturellen Tradition zu brechen. In ähnlicher Weise kann die Dekonstruktion unterschiedlicher kultureller Werthaltungen und Verhaltensmuster derjenigen, die an einem zwischenmenschlichen Konflikt beteiligt sind, den Fortschritt zu einer Lösung in die Wege leiten. Dabei wird es wichtig sein, daß der/die Gesprächspartnerin auch die Perspektive der anderen übernimmt und seine Vorstellung von ihrer Sicht der Situation und der Logik ihrer Position entwirft. 135 Empowerment von Individuen ist neben der Arbeit am sozialen Netzwerk vor allem biographische Arbeit, die davon ausgeht, daß die Lebensgeschichten von Menschen situationsbezogene Konstruktionen sind, die jeweils neu geschaffen werden. Eine Biographie ist nichts festgelegtes. Sie ist offen für verschiedene Interpretationen der Gegenwart und der erinnerten Vergangenheit, offen 136 auch für völlig unterschiedliche Zukunftsentwürfe. Im Bemühen um eine der Pluralität der Lebenswelt Rechnung tragende Identität ist es wichtig, eine Sicht der eigenen Biographie zu gewinnen, der das Individuum trotz vieler Brüche und Erfahrungen des Scheiterns zumindest zustimmen kann, oder sich, entsprechend dem in westlichen Gesellschaften vorherrschenden Modell des Selbst als „Regisseur" begreifen kann, der den Lebensverlauf steuern und die verschiedenen Elemente der eigenen Geschichte kohärent verbinden kann. Christlicher Seelsorge wird es dabei darum gehen, herauszuarbeiten, welche Bedeutung Religion und Glaube im Rahmen der individuellen Lebensgeschichte haben, wie sich also in den biographischen Erzählungen die Geschichte eines Menschen mit der Gottesgeschichte verschränkt. Dabei wird sie auf die biblischen Erzählungen als Deutungshilfen für das biographische Material zurückgreifen, vom Gesprächspartner vorgeschlagene religiöse Sinndeutungen aufgreifen, mit ihm kritisch reflektieren und von Seiten des Seelsorgers eingebrachte Interpretationsvorschläge gemeinsam auf ihre Ausdruckskraft und Tragfähigkeit hin überprüfen. Seelsorge und Beratung können von den Methoden des Empowerment durch die Bearbeitung der Biographie, wie sie in der Sozialarbeit vorgeschlagen wird, lernen. Herriger hat drei methodische Modelle vorgestellt: 1) Erinnerungsarbeit und biographisches Lernen, 2) Die Kon tex tualisierung von Lebenserfahrungen im biographischen Dialog, und 3) der Kompetenzdialog.

135 Vgl. ebd., 263. 136 Vgl. Norbert Herriger. Empowerment,

97-120.

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Dem Konzept der Erinnerungsarbeit geht es darum, im Rückblick „noch offene Lebensfragen" zu bearbeiten, „die bisher nur halbwegs verstanden waren, die nach Abrundung oder nach Abschluß drängen. Auch um sich unbeschwerter der Gegenwart (und Zukunft.) zuzuwenden, kann ein bilanzierender Rückblick nötig sein." 137 Im einzelnen soll durch biographisches Erzählen die „Kontinuität und Lebenskohärenz" konstruiert werden, in der „die geraden Strecken, Wegkreuzungen, Umwege und Sackgassen" in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht werden und die Lebensgeschichte als Ausdruck eines identischen Individuums begriffen wird. Darüber hinaus zielt die biographische Erinnerungsarbeit auf „das Entdecken von lebensgeschichtlich verschütteten Stärken", „das Herstellen von Zugehörigkeit" durch den Rückblick auf wichtige Beziehungen und Rekonstruktion der individuellen Verbundenheit mit sozialen Gemeinschaften und Milieus. Retrospektiv werden „Lebensmarkierungen", entscheidende Weichenstellungen im Leben bearbeitet. Verluste, Versäumnisse, Fehlentscheidungen und schuldhafte Verstrickungen dabei noch einmal betrachtet und können in manchmal schmerzlichen Prozessen unter der Voraussetzung der Vergebung als sinnhaft angenommen und stehengelassen werden. Durch die Erinnerungsarbeit ergibt sich ein „Profil" der Lebensgeschichte, in dem Elemente enthalten sind, die auf die Zukunft verweisen, so daß die biographische Erinnerung ein Lernvorgang wird, der das künftige Handeln beeinflußt. 138 Der Rückblick auf die Lebensgeschichte kann auch „themenzentriert" geschehen und öffentlich inszeniert werden (Interview mit Zeitzeugen, Erzâhlcafé, Generationen-Dialog) und trägt dann bei zur Rekonstruktion der sozialen Geschichte. 139 Die Methode der „Kontextualisierung" von Lebenserfahrungen im biographischen Dialog der New Yorker Soziologen Rose und Black140 wehrt sich gegen die „Erklärungskonzepte individueller Defekte", die in der Sozialarbeit dazu führt, daß sozial verursachtes Leiden als individuell deklariert und individuell behandelt wird. Empowerment ist von daher „der Versuch, Menschen . . . ein handhabbares Wissen der strukturell bestimmten - biographischen, sozialen und räumlichen - Konstruktion ihrer Lebenswirklichkeit zu vermitteln, kurz, sie zu ,kontextualisieren'." 141 Kontextualisierung geschieht, wenn „Selbstbilder und Selbstpräsentationen" des Individuums ebenso kritisch reflektiert werden wie die sozialen und kulturellen Kontexte, die den Verlauf seiner individuellen Entwicklung und der seiner Probleme beeinflußt haben. Weitere Schritte

137 Kade zit. nach Herriger. Empowerment, 102. 138 Ebd., 104-107. 139 Ebd., 108. 140 Vgl. S. M. Rose, B. L. Black. Advocacy /Empowerment munity. Boston, London, 1985. 141 Ebd., 111.

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Mental health care in the com-

sind der konkrete Vorgriff auf die Zukunft, der einlädt, sich von der Uberzeugung, die gegenwärtige problembeladene Situation sei unveränderbar, zu verabschieden. Die Gesprächspartner werden ermutigt, gemeinsam mit den Beratern Zukunftsentwürfe zu konstruieren. Ein dritter Schritt ist die „Herstellung von Kollektivität", das Teilen von Erfahrungen mit anderen Betroffenen und die gemeinsame Organisation der Vertretung der eigenen Interessen. Sie will den gemeinschaftlichen „Abschied aus einer Position der Abhängigkeit und Defizienz und die gemeinsame Reise in eine Position der Stärke durch soziale Teilhabe und Sich-Einmischen."142 Empowerment durch den Kompetenzdialog greift die Grundsätze und methodischen Schritte der „lösungsorientierten Beratung" auf, einer von de Shazer143 und anderen entwickelten Variante der im folgenden Abschnitt erläuterten problemorientierten Kurztherapie. Ihre Grundsätze sind: Die Orientierung am Klienten als Experten, die Annahme „daß Veränderungsprozesse unvermeidlich sind und sich fortwährend ereignen", der Bruch mit der Annahme, es bestehe ein kausaler Zusammenhang zwischen den Faktoren, die zur Entstehung eines Problems geführt haben, und den „wirksamen Lösungsmitteln".144 Die Beratung fokussiert auf dier Entwicklung von konkreten und realistischen Zukunftsplänen, dem Entwerfen von Lösungen, die helfen, diese Pläne zu realisieren, die stützende Begleitung durch die Beraterinnen. Arbeitsphasen in der Beratung sind dann: (1) „Zielfokussierung: die Formulierung von wünschenswerten Lebenszielen; (2) Reframing; die Suche nach Zeiten und Settings des Lebensgelingens; und (3) stellvertretende Lebensdeutung und die Ko-Konstruktion von Lösungswegen."145 Alle diese methodischen Ansätze haben eine narrative Orientierung gemeinsam. Es geht ihnen nicht um einen Umgang mit der Lebensgeschichte nach dem Freudschen Schema „Erinnern - Wiederholen - Durcharbeiten". Sie sind daran interessiert, Elemente der Lebensgeschichte als Ressource für eine möglichst bewußte und selbständige Zukunftsgestaltung aufzugreifen. Dadurch sind sie natürlich an das westliche Modell des individuellen Selbstverständnisses gebunden und müssen im Einzelfall auf ihre kulturelle Verträglichkeit überprüft werden. Es scheint, als böten sie auch Menschen aus nicht-westlichen Kulturen die Chance, deren Selbst eher dem Typ des beziehungsorientierten Index-Selbst entspricht, ihren Standort im Stimmengewirr der Kulturen zu bestimmen, ihre Lebensgeschichte im Hinblick auf die sozialen und kulturellen Kontexte ihres Lebens zu untersuchen und neu zu schreiben oder zu erzählen und eine Position im Blick auf die persönliche Zukunft zu finden, Wünsche und 142 143 144 145

Ebd., 112. Vgl. Steve de Shazer. Investigating Ebd., 115. Ebd.

solutions in brief therapy. New York, 1988.

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Erwartungen auszusprechen, Pläne zu machen, Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen zu ihrer Verwirklichung zu überprüfen und erste Schritte einer gewünschten Veränderung einzuleiten.

8.3. Die Perspektiven von Seelsorge und Beratung 8.3.1. Die Orientierung an Problemen und Lösungen Es ist aus zwei praktischen Gründen sinnvoll, die Orientierung an Problemen und Lösungen als Perspektive f ü r Seelsorge und Beratung einzuführen: 1. Die Arbeit an der Lösung spezifischer Lebensprobleme ist zeitlich begrenzt und entspricht damit dem Profil der Erwartungen der Gemeindeglieder an Seelsorge und Beratung. Sie haben in der Regel in spezifischen Krisen- und Konfliktsituationen im Lebenszyklus Kontakt mit kirchlichen Seelsorgern oder suchen die Beratung auf, weil sie die Lösung bestimmter Probleme wünschen. Die seelsorgerliche Begleitung ist meist auf einen kurzen Zeitraum beschränkt. Ein großer Teil der Beratungen wird nach 12 oder 20 Sitzungen beendet. Langzeitberatung ist in Beratungsstellen seltener der Fall. 2. Familien, die im Kontext der Armut leben, sind mit einer Vielzahl von Problemen belastet (Arbeitslosigkeit, Geldmangel, Erziehungsschwierigkeiten, Schulprobleme der Kinder, Depression, Alkoholismus, Aggressivität, körperliche Erkrankungen, Gerichtsverfahren, Beziehungsschwierigkeiten mit Sozialarbeitern und anderen Vertretern helfender staatlicher Institutionen). Die Multiproblematik dieser Familien aufzuarbeiten, erweist sich als äußerst kompliziert. O f t suchen sie momentane Entlastung und brechen die Beratung ab, wenn ein bestimmtes Problem gelöst ist. Das erleichtert sie und setzt Kräfte frei, um sich anderen Problemen zuzuwenden. Sie kehren in die Beratung zurück, wenn andere Probleme anstehen und sie sich überlastet fühlen. Eine auf begrenzte Problemlösungen fokussierte Beratungsarbeit sollte sich darum bemühen, neben der Entlastung die Fähigkeit zur selbständigen Problemlösung zu verbessern. Im Bereich der Psychotherapie sind problem- und lösungsorientierte Verfahren schon seit langem etabliert und werden zunehmend auch von der Seelsorge übernommen, zumal ihre Prinzipien einfach sind und ihre Methodik mit Einschränkungen in der Praxis verschiedener helfender Berufe angewandt werden kann. 146 146 Vgl. z.B. den Abschnitt über den „Kontext des Problems" bei John Patton. Pastoral care in context, David C. Olson. Integrative Family Therapy. Minneapolis: Fortress Press, 1993, 21 f.

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D i e Problemorientierung hat, seit sie in der Kurzzeitpsychotherapie des Mental Research Institute in Palo Alto in die Psychotherapie eingeführt wurde, weite Verbreitung gefunden. Richard Fisch, Paul Watzlawick, John Weakland, Jay Haley und andere wehrten sich gegen das gängige Vorurteil, nachhaltige Veränderung sei nur in lang andauernden psychotherapeutischen Verfahren zu erreichen, in denen die Patienten ihre gesamte Lebensgeschichte bearbeiten, um von neurotischen Störungen frei zu werden. Die an einer kybernetischen Kommunikationstheorie und der Hypnotherapie Milton Eriksons orientierte Kurzzeittherapie {brief therapy) geht davon aus, daß die Unterbrechung des Kommunikationszusammenhanges, der das Problem produziert und aufrecht erhält, zu schnellen Problemlösungen und Besserungen der Situation der Patienten führen kann. In der Kurzzeitpsychotherapie definiert man eine Schwierigkeit, die jemand mit Hilfe des ihm zur Verfügung stehenden Verhaltensrepertoires nicht bewältigen kann, als Problem. D e r theoretische Schlüssel der Kurzzeitpsychotherapie liegt in der Annahme, daß die Versuche der Problemlösung, mit denen sich die Menschen aus der Schwierigkeit helfen wollen, das Problem erzeugen und erhalten. Es geht also darum, die Lösungen zu verändern, damit der problemerhaltende Feedback-Zirkel unterbrochen wird. Ein 13 Jahre alter Junge, Sohn eines Arbeiters und Nebenerwerbslandwirts, der Zweitälteste von 4 Geschwistern wird von der Mutter in Beratung gebracht, weil er in der Schule versagt, kleine Diebstähle begeht, lügt, unpünktlich nach Hause kommt und im Haus schon mehrfach Feuer gesetzt hat. Die Mutter fürchtet, daß er in einigen Jahren zum Kriminellen wird, wenn sie ihn nicht streng kontrolliert. Die problemorientierte Therapie fokussiert die Problematik, hilft der Mutter und dem Sohn also aus der Fülle der Probleme das auszuwählen, das jetzt am dringendsten ist. Es ist die „Zündelei" im Haus. Mit drei Jahren habe er unter ihrem Ehebett schon Feuer gemacht. Sie fürchtet, daß er das ganze Haus abbrennen wird. Das Problem wird definiert. Die Lösungsversuche, die von der Mutter berichtet werden, laufen alle darauf hinaus, ein Mehr an Kontrolle durch die Eltern zu gewährleisten. Daraus entwickelt der Therapeut die Hypothese: Je mehr Kontrolle, je mehr sie ihn beobachtet, schimpft, einsperrt oder schlägt, desto wahrscheinlicher ist es, daß er Feuer legt, um sich ein Ventil zu verschaffen und der Kontrolle zu entkommen. Der strategische Interventionsvorschlag, der in diesem Fall das Problem beseitigt hat, bestand darin, daß wir den Vater baten, er möge seinem Sohn beibringen, wie man innerhalb und außerhalb des Hauses auf sichere Weise Feuer macht. Wir gaben ihnen Artikel, die über die Geschichte des Feuers und verschiedene Techniken des Feuermachens informieren, schlugen ihnen also die aktive Beschäftigung und Inszenierung des „Symptoms" vor. Dadurch bekam es einen Rahmen (Re-framing). Das unkontrollierte Verhalten wurde zum Gegenstand einer Aufgabe, also innerhalb der Beziehung von Vater, Sohn und Beratern zum kontrollierten Verhalten. Der Kreislauf des negativen Feedback war unterbrochen. Dadurch konnte das Symptom verschwinden. D i e therapeutische Arbeit konzentriert sich auf die Definition des Problems, die Uberprüfung der bisher schon versuchten Lösungen und stra301

tegische Interventionen wie etwa die paradoxe Problemverschreibung oder das Reframing. Von Anfang an ist die Therapie streng auf das Problem und seine Lösung zentriert. Die Geschichte, der weitere Lebenszusammenhang interessieren nur, sofern sie mit dem Problem zu tun haben. Hervorzuheben ist, daß die Problemdefinition in erster Linie von den Patienten vorgenommen werden muß. Damit ist ein Freiraum geschaffen für den Ausdruck der kulturellen Eigenart. Als Problem, mit dem gearbeitet wird, gilt das, was der Patient im Rahmen seiner Kultur als Problem definiert. Die Aufgabe der Therapeuten besteht in dieser Phase darin, ungenaue Formulierungen zu präzisieren, sie in eine Form zu bringen, in der sie bearbeitbar sind, und dann Hilfen zur Erarbeitung von Lösungswegen zu geben. Die Kurztherapie, wie Steve de Shazer sie versteht, rückt die Suche nach Lösungen vollends in den Mittelpunkt: Die Therapeuten fragen nach Ausnahmen, also nach Erlebnissen, in denen das Problem nicht da war oder überwunden wurde, und bauen die Lösungsvorschläge, die sie dann „verschreiben", auf einer Analyse dieser Ausnahmen auf. Eine Gefahr der problemorientierten Kurzpsychotherapie sind strategische Interventionen, die zynisch wirken oder auf der Macht der Therapeuten basieren. Einer depressiven Frau, die sich mit Selbstvorwürfen quält, weil sie ihre hochfliegenden Ziele nicht erreicht habe, zu noch größeren Plänen zu raten, um sie auf paradoxe Weise zur Selbstbeschränkung und zu einer nüchterneren Einschätzung ihrer Möglichkeiten zu bringen, mag von der Theorie her korrekt sein. Es ist jedoch ethisch sehr bedenklich. Und die therapeutische Machtausübung, wie sie besonders Jay Haleys psychotherapeutischen Ansatz prägt, hat beispielsweise Gregory Bateson bewogen, sich von der Gruppe von Palo Alto zu trennen.147 Zynismus und Machtmißbrauch sind jedoch keineswegs notwendige Konsequenzen problem- und lösungsorientierter Arbeit in Psychotherapie, Seelsorge und Beratung. Die narrative Therapie verbindet das problem- bzw. lösungsorientierte Vorgehen mit der von Michel Foucault beinflußten Analyse der Techniken der sozialen Macht, die in das Leben des Körpers und der Seele eingreift und sie domestiziert. Er betrachtet die Probleme als Texte, sieht sie also durch die „Linse der Textanalogie": „ H e r e I m a k e the general assumption that, when persons experience problems f o r which they seek therapy, (a) the narratives in which they are storying their experience a n d / o r in which they are having their experience storied by others d o not sufficiently represent their lived experience, and (b), in these circumstances, there will be significant and vital aspects of their lived experience that contradict these dominant narratives".' 4 8

147 Vgl. Jay Haley. Problem solving therapy. San Fransisco: Jossey-Bass, 1976. 148 Michael White, David Epston. Narrative means to therapeutic ends, 40. 302

Der Therapie geht es nun darum, das Problem zu dekonstruieren, dem Subjekt die Möglichkeit zu geben, sich von der in ihm andrängenden dominanten Narrative zu befreien. Die Gesprächspartner sollen sich von ihrer „an Problemen saturierten" Beschreibung der Wirklichkeit distanzieren können.149 Oben haben wir das Verfahren der Externalisierung des Problems, in der sich das Individuum von seinem Problem unterscheidet und dadurch einen freien Blick für neue Möglichkeiten gewinnt, schon dargestellt. Wenn der Einfluß des Problems auf das Leben einer Person und ihrer Familie „kartographisch" genau beschrieben wird, dann ist es wichtig, das Problem konkret zu formulieren. Für Therapeuten ist dabei wichtig, daß sie Generalisierungen vermeiden und den Gesprächspartner bei einer möglichst klaren Definition ihres Problems helfen. Dazu gehört ein „politisches Bewußtsein" für die „lokale Situation", also die Wahrnehmung des Kontexts und die Wachheit für möglicherweise unterdrückte Problemerzählungen. Die Problemdefinition ist fließend und entwickelt sich im Lauf der Gespräche. Im einzelnen können Therapeuten durch ihre Fragen helfen, daß ihre Gesprächspartner eine zu enge Sicht des Problems erweitern und sich von „Experten-Definitionen", in denen sie sich selbst zum Objekt psychologischer Theorie machen, zu eher „populären" Beschreibungen vorarbeiten, denen gegenüber sie sich weniger als ohnmächtige Patienten fühlen und frei werden, Erfahrungen alternativer Lösungen wahrzunehmen.150 Nach White und Epston tragen die Menschen selbst dazu bei, dass ihre Probleme ungelöst bleiben. Hier werden jedoch nicht kybernetische Gesetzmäßigkeiten angenommen, die das Problem verfestigen, anstatt es zu lösen, sondern eine ausweglose Abhängigkeitsbeziehung, die durch die problembeladenen Narrativen und die Auswirkungen des Problems entsteht. Die Revision der Beziehung der Personen zu ihren Problemen, die Suche nach anderen Lösungen und die Uberprüfung seiner Bedeutung, stärkt die Widerstandskraft: „Considering the relation of dependence between the problem and its effects, it follows that, if persons refuse to cooperate with the requirements of the problem, then they are undermining it; refusing to submit to the effects of the problem renders the problem less effective". 1 5 '

Wir schlagen vor, diese eher technisch anmutende Art der Problem- und Lösungsorientierung in Beratung und Seelsorge zu integrieren, weil sie dort zum konkreten Ausdruck des christlichen Freiheitsimpulses werden können. Sie helfen gegen die innere Unterwerfung durch die soziale Macht anzugehen, in welcher Menschen sich selbst „markt-" und „machtförmig" definieren, sich als Anbieter und Konkurrenten, als „Gewinner" oder „Verlierer", als „zu alt", „zu unflexibel", mit einer „Auf149 Ebd., 4. 150 Ebd., 48 ff. 151 Ebd., 63.

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merksamkeitsstörung behaftet", als „Rentner, die abgemeldet und weg vom Fenster sind", als „Arme, die niemals eine Chance haben werden", als „Alkoholiker, für die es keinen Weg aus der Sucht gibt". Diese durch die verinnerlichten Wertvorstellungen der Gesellschaft vermittelten Selbstbeschreibungen schaffen Abhängigkeiten, gegen die eine problemorientiert arbeitende christliche Seelsorge und Beratung die christliche Freiheit als „Möglichkeit des Andersseins" stellen.

8.3.2. Die Perspektive der Spiritualität Wenn wir in Seelsorge und Beratung von Spiritualität reden, so benutzen wir einen „politisch" belasteten Begriff. Spiritualität ist die die Art und Weise, wie Menschen ihre Beziehung zu Gott leben und erleben.152 Sie ist eingebunden in den sozialen und kulturellen Zusammenhang und entfaltet sich unter Bedingungen, die von politischen Machtkonstellationen nicht unbeeinflußt bleiben. Diese sollten den Seelsorgerinnen und Seelsorgern bewußt sein. Die Bedingungen, unter denen sich menschliche Spiritualität entfaltet, sind in Europa anders als in Lateinamerika. Dennoch zeichnet sich in Leonardo Boffs Konzept einer „Öko-Spiritualität" eine Annäherung ab. Gabriel Garcia Marquez erzählt die Geschichte eines einfachen Mannes aus den Anden. Er muß erleben, wie der Tod seine Frau und später seine 11 Jahre alte Tochter hinwegrafft. Eines Tages werden die Bewohner seines Dorfes aufgefordert, an einen anderen Ort zu ziehen, weil man dort, wo sie leben, einen großen Stausee piazieren will. Wie alle anderen gräbt der Mann die sterblichen Überreste seiner Angehörigen aus. Dabei entdeckt er, daß der Körper seiner Tochter nach Jahren noch unversehrt ist, makellos und schön wie am letzten Tag ihres Lebens. Alle Dorfbewohner sind sich einig: Es ist ein Wunder. Das Mädchen muß eine Heilige sein. Sie legen ihr Geld zusammen, damit der Vater nach Rom fahren, den Körper seiner Tochter den Autoritäten an der Kurie zeigen und die Heiligsprechung erreichen kann. Dies wird von nun an über Jahrzehnte der Lebenszweck des Mannes. Er lebt in einer ärmlichen, kleinen Pension, hat den Kasten, in dem er seine Tochter aufbewahrt, stets bei sich und zeigt ihn aller Welt. Unermüdlich antichambriert er bei den päpstlichen Stellen, die ihn immer wieder abweisen und auf natürliche, chemische und biologische Ursachen verweisen. Lateinamerikanisches und europäisches Wirklichkeitsverständnis stehen quer zueinander. Der Mann muß seinen Standpunkt gegenüber Menschen vertreten, die, so sagt der Erzähler, nicht wissen, was die Wirklichkeit ist.153

In dieser tragikkomischen Geschichte spiegelt sich der Gegenstand lateinamerikanischer Spiritualität gegenüber europäischer Rationalität. 152 Zur theologischen Bestimmung des Begriffs der Spiritualität vgl. Brandt, Hermann. Espiritualidade: Motivaçôes e critérios. Sâo Leopoldo: Ed. Sinodal, 1978. 153 Vgl. Gabriel García Marquez. Zwölf Erzählungen. Frankfurt am Main: Luchterhand,

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Wir begegnen dem Familienvater, der sich über den Tod hinaus, um seine Familie kümmert und in der Sorge um sie seine Bestimmung lebt. Der Familiarismo, die Einstellung, welche die Familie als Zentrum der Lebenswelt betrachtet, macht auch vor dem Tod nicht halt. Die Grenzen zwischen Leben und Tod sind verschwommen. Der Tod ist gegenwärtig, ein Teil des Lebens. Die Toten sind und bleiben Bezugspersonen, mit denen und für die man lebt. Sie können Heilige sein, die für die Heiligkeit der Familie stehen. Die Wirklichkeit ist, ganz im Unterschied zum westlichen Rationalismus, das Ubernatürliche, das Wunder, das unerklärbare Wirken Gottes, die Präsenz der Geister. Doch diese spirituelle Wirklichkeitssicht des Volkes ist marginal. Sie bedarf der Sanktionierung durch die katholische Kirche als spirituelle Autorität. Ihr gegenüber wird der einfache Mann zum Bittsteller. Seine spirituelle Wirklichkeitssicht wird arrogant abgewiesen und von der bestimmenden spirituellen Macht als nichtig und inexistent behandelt. So wird die Geschichte zum Sinnbild der Marginalisierung der Spiritualität der Völker Lateinamerikas durch den europäischen Geist und die Institutionen, die er sich geschaffen. Den schwarzen Sklaven in Brasilien war es verboten, für ihre Götter, die Orixds, Kapellen und Altäre zu errichten. Die protestantischen Pastoren, aus Deutschland oder Nordamerika abgesandt, führten später in der Mission einen unermüdlichen Kampf gegen die „Superstition" des Volkes, das Naturheiler aufsuchte und seine Kinder durch die Benzedeiras in kleinen magischen Ritualen segnen ließ. Die Spiritualität des Volkes galt und gilt den Christen oft noch als Ausdruck bösen Heidentums. Besonders fundamentalistische und charismatische Seelsorger machen den Kontakt der Menschen mit dem Spiritismus, den afro-brasilianischen Kulten, mit Magie und Zauberei verantwortlich für ihre Leid und ihre Not. Die fundamentalistischen Pfingstkirchen, die auf ihre Weise ungebrochen am Glauben an das Wirken der Geister und übersinnlichen Mächte partizipieren und den Sieg Jesu Christi in diesem Sprachspiel artikulieren möchten, haben zum „spirituellen Krieg" gegen die afro-brasilianischen Kulte aufgerufen. Es scheint, als wolle sich in ihnen der Diskurs der christlichen Spiritualität wieder einmal aggressiv als allein geltende Wahrheit durchsetzen, um den Preis, die Spiritualität der kulturell Anderen zu verteufeln, zu verketzern und zu verfolgen. Wir rufen in Erinnerung, daß die afro-brasilianische Religiosität für die ihrer persönlichen und kulturellen Identität beraubten Sklaven eine Quelle des Widerstands und der Bewahrung von Menschenwürde und Identität war. Sie mußten ihre Götter unter der Gestalt der katholischen Heiligen verstecken, deren Statuen und Bilder sie auf ihre Altäre gestellt haben. In der Anbetung der Orixás, den Geistern der Ahnen oder mythologischer Gottheiten, von denen sie sich in nächtlicher Stunde durchdringen und besitzen ließen, konnten sie sich von der Wirklichkeit der sklavischen Unterdrückung distanzieren, die sie kulturell und persönlich 305

entwurzeln und zerstören wollte 154 . Sie gewannen Zugang zu ihrem kulturellen Universum, konnten Vertrauen fassen und Hoffnung schöpfen. Wenn sie eine spirituelle Entität verkörperten, dann hatten sie, die Namenlosen, zu Instrumenten Herabgewürdigten, einen Namen, entkamen der Anonymität und integrierten sich in die Familie der Ahnen und Geister. Die reale Isolation, die sie erlebten, weil man sie verkaufte und ihre Familien auseinanderriß, wurde spirituell aufgehoben. Sie gehörten zu einer spirituellen Familie. Nach und nach, als die Altäre im Garten, nahe dem Haus errichtet wurden, wurde diese spirituelle Familie eine soziale Größe. Die Anhänger der Orixds versammelten sich auf dem terreiro, dem Stück Land, an dem die spirituellen Mächte präsent wurden. „Die unsichtbare Familie verkörperte sich, nahm Raum ein, nahm sich ihrer verstreuten Kinder an, tröstete die Leidenden und heilte die Kranken". 155 Die Kultgemeinschaft wurde zu einem Raum, in dem man sich gegenseitig sozial unterstützte. Was sie zusammenhielt, war der Wunsch, als Afrikaner zu leben und einen sozialen Raum zu okkupieren. Die Kulte haben sich sehr diversifiziert. Das Candomblé hält an den afrikanischen Traditionen fest, die dort in einer Art von „inter-tribalem" Synkretismus verbunden wurden. Die Umbanda-Kulte haben die verschiedensten Symbole, Mythen und Wertvorstellungen aufgenommen. Sie sind synkretistisch, haben stärker spiritistische, afrikanische, esoterische oder christliche Orientierungen, und entwickeln sich dynamisch weiter. 156 Ihr gemeinsames Credo lautet: „Der Mensch ist ein Teil der Gottheit und Gott schläft im Stein, träumt in der Pflanze, erwacht im Tier und ist das Bewußtsein im Menschen."157 Der brasilianische Anthropologe und Psychiater Adalberto Barreto hat darauf aufmerksam gemacht, daß für die Mehrheit des brasilianischen Volkes, deren Realität seit den Zeiten der Conquista durch Ausbeutung, soziale Unterdrückung und Gewalt bestimmt war, das „Imaginäre" und insbesondere die Religion das Mittel war, um sich zu schützen und die bedrohte Identität zu bewahren. Darum kam es zu der „Inversion" im Wirklichkeitsverständnis, die auch den Volkskatholizismus und die populare Spiritualität in den protestantischen Kirchen prägt:

154 Vgl. Adalberto Barreto. Os espirites que govematn o Brasil 500 anos depois. Vortrag vor der internationalen Konferenz in Santo Domingo „América 500 anos depois", November 1992, maschr., 5 f.; zur afrobrasilianischen Religiosität vgl. Droogers, André. E a umbanda. Säo Leopoldo: Ed. Sinodal, 1985. 155 „Era a fanília invisível tornando-se carne, ocupando um espaço, acolhendo os filhos desagregados, consolando os que sofriam, curando os doentes" (Adalberto Barreto. Os espirites, 7). 156 Ebd., 7 f. 157 „O homem é urna partícula da divindade e Deus dorme no minerai, sonha vegetai, desperta no animai e é consciéncia do homem" (Ebd., 8).

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„Die ,Wirklichkeit' wird für den Brasilianer sein Imaginäres und die gemeine Realität wurde zum Alptraum, zur Bühne des Disputs, des Zerfalls . . . und eines endlosen Kampfes ums Uberleben auf allen Ebenen." 1 5 8 „Die religiösen Kulte sind für den Brasilianer Brücken, die den Menschen mit dem mythischen Universum ,verbinden', das kohärent, strukturierend ist, in dem das Individuum Identität und Respekt v o r Seinesgleichen und den Brüdern erwirbt, welche dieselben Glaubensüberzeugungen teilen und dasselbe religiöse Gefühl. Brasilianer zu sein, heißt an einem Bündnis mit den Kräften der Geisterwelt teilzuhaben, einem Bündnis, das zum Bezugsrahmen für die Stärkung der Identität wird, die ihm in der Gesellschaft verweigert wird . . . Brasilianer zu sein, heißt zu fühlen, daß man zu einer großen Familie, einer großen Nation gehört, in der die Heiligen Priester sind, und Oxalá der große V a t e r und Beschützer." 1 5 9

Auch wenn diese aus der Erfahrung der Realität des Nordostens Brasiliens hervorgegangenen Schlußfolgerungen zu sehr generalisieren und idealisieren, so treffen sie doch den Kern der spirituellen Bindung in verschiedenen Kulturen Brasiliens und die zentrale Bedeutung der Religion für das Leben des Volkes. Seelsorge und Beratung müssen auf diesem Hintergrund mit der popularen Spiritualität in Dialog treten. Voraussetzung dafür ist, daß sie alle religiösen Äußerungen ihrer Gesprächspartner zulassen, ernst nehmen, sich mit Wertungen und rationalisierenden Deutungen zurückhalten und sich die in den Reaktionen von Seelsorgerinnen und Seelsorgern impliziten Wertungen bewußt machen. Es kommt darauf an, die spirituelle Auseinandersetzung, die eine Form kultureller Repression war und ist, in Seelsorge und Beratung nicht fortzusetzen, die verschiedenen religiösen Diskurse ins Gespräch zu bringen und, falls möglich, mit den Heilerinnen und Heilern (curandeiros) aus diesen Gruppen zusammenzuarbeiten. Das Verbot der Spiritualität des Volkes durch die offiziellen Kirchen hatte nur zur Folge, daß sie sich ins Verborgene zurückzog, zum geheimen Diskurs wurde, einer Praxis, die man nicht zugibt. Wenn sie auf Akzeptanz stößt, sind die Menschen bereit, das Geheimnis zu lüften und können dadurch spirituelle Probleme ansprechen und bearbeiten. 160

158 „O ,real' para o povo brasileiro passa a ser o seu imaginário e a ,realidade comum' passou a ser um pesadelo, o palco da disputa, da desagregaçâo, da expoliaçâo e de urna luta sem firn para a sobrevivência, em todos os níveis" (Ebd., 4). 159 „Os cultos religiosos para o brasileiro, sào pontes que ,religam' o homem a um universo mítico, coerente, estruturante onde o individuo adquire identidade e respeito diante de seus semelhantes e irmâos que partilham as mesmas crencas e o mesmo sentimento religioso. Ser brasileiro é fazer parte de urna alianca com as forças do mundo dos espíritos, alianca que se torna referencia para o reforco de urna identidade que lhe é negado na sociedade . . . Ser brasileiro é sentir-se pertencendo a urna grande familia, a urna grande naçào, onde os santos sao ministros, e Oxalá é o grande pai e protetor" (Ebd., 14 f.). 160 Vgl. jedoch die positive Würdigung der Spiritualität des Volkes als Ausdruck „natürlicher" Religion bei Pedro Casaldaglia, José Maria Vigil. Espiritualidade da libertaçào. Petrópolis: Vozes, 1993.

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In den Ländern der 1. Welt hat in den letzten Jahren eine spirituelle Renaissance begonnen, die weit über die Kirchen und das Christentum hinausgeht. Ihr politischer Kontext ist die Krise des Wirklichkeitsverständnisses der Aufklärung, die postmoderne Relativierung aller Werte, die Diversifizierung des Wahrheitsbegriffs, die Fragmentierung der Identität, die ökologische Krise, die wachsende soziale Differenz zwischen Armen und Reichen und die Pluralität religiöser Traditionen aus verschiedenen Regionen der Welt auf einem freien Markt der Religionen. In den USA ist Spiritualität zu einem wichtigen Thema in Psychotherapie und Beratung geworden. Ursache dafür ist weniger das Wachsen der fundamentalistischen Kirchen und Gruppierungen als eine immense Nachfrage nach spiritueller Erfahrung und eine Zunahme der religiösen Angebote. Dadurch wird die traditionell religionskritische oder religiös neutrale Haltung der Psychotherapeuten und ihrer Schulen infrage gestellt. Der Einfluß der spirituellen Haltung und Praxis auf die körperliche und seelische Gesundheit ist zum Gegenstand empirischer Forschungen geworden und wird in renommierten medizinischen Fachkreisen diskutiert 161 , auch wenn viele Therapeuten skeptisch bleiben. Einen wichtigen Brückenschlag zwischen Psychotherapie und Spiritualität hat das Programm der 12 Schritte der Anonymen Alkoholiker vollbracht, in der die Anerkennung einer transzendenten Kraft den Prozeß der Therapie bestimmt und geistliche Werte wie die Bitte um Verzeihung und die Wiedergutmachung des Schadens, den der Süchtige angerichtet hat, eine wichtige Rolle spielen.162 Gregory Bateson hat die Ubergabe des Lebens der Anonymen Alkoholiker an eine „höhere Kraft" als eine bedeutende kognitive und emotionale Wende vom Selbst zum Kontext gedeutet, die von Familientherapeuten dann anthropologisch als Initiationsritus gedeutet wurde. 163 Neben der Tiefenpsychologie C.G.Jungs, der Logotherapie (V. Frankl) und der transpersonalen Therapie (A. Maslow) war die systemische Familientherapie von Anfang an offen für die Arbeit mit den spirituellen Wirklichkeitskonstruktionen der Ratsuchenden. Der Zugang zu ihnen war zunächst vor allem pragmatisch. Sie wurden ohne inhaltliche Wertung strategisch eingesetzt. Die religiöse oder spirituelle Orientierung der Familientherapeuten wurde etwa am Mental Research Institute nicht als Faktor eingebracht. Ende der 80-er Jahre hingegen können Familientherapeuten mitteilen, daß sie vor jeder Therapiesitzung beten 164

161 So beteiligt sich etwa die „Harvard Medical School" an einer Tagungsreihe zum Thema „Spiritual Healing" (im Dezember 1997 und März 1998 am Institute of Religion in Houston/Texas). 162 Katy Butler. Spirituality reconsidered. In: The Family Therapy Networker, September/October 1990, 26-37; 30. 163 Vgl. David Dan. Recovery: A modern initiation rite. In: The Family Therapy Networker, September/October 1990, 28 f. 164 Vgl. Katy Butler. Spirituality reconsidered, 34.

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oder, ausgehend von Martin Bubers Ich-Du Philosophie, die Präsenz Gottes im „Zwischen" der menschlichen Beziehung hervorheben und sagen: „In all my clinical work these days, I am aware that the change is not coming from any particular intervention I formulate. Rather, my connection to a higher power catalyzes clients' connection both to their own sense of higher power and to each other. A widening circle of rapport spreads through the therapeutic and family system, like a healthy contagion that heals my clients and nourishes me".'65

Man möchte zusammenbringen, was von der Aufklärung getrennt wurde: Vernunft und Spiritualität. Dabei geht man das Risiko ein, die Grenzen zwischen Psychotherapie und Seelsorge, aber auch die zwischen therapeutischem Verfahren, Bekenntnis und religiöser Handlung zu verwischen, versucht mit Passageriten zu arbeiten und betont die Wertorientierung der therapeutischen Arbeit. Die Frage drängt sich auf, wie man in Psychotherapie, Seelsorge und Beratung in einem methodisch klaren und verantwortbaren Verfahren mit der Spiritualität der Gesprächspartner arbeiten kann, ohne sie durch die eigenen Position zu überfremden, ohne ihre spirituelle Orientierung zu unterdrücken und ohne ihre Bedeutung für die Problematik der Person und des Familiensystems zu verkennen. Layne Prest und James Keller haben hierzu einen hilfreichen Vorschlag gemacht. Sie begreifen Spiritualität formal als „multifaceted relationship or connection between human and metaphysical systems". 166 In menschlichen Systemen, die sich durch sprachliche Interaktion konstituieren, entwickeln sich „spirituelle Muster" durch den Prozeß intersubjektiver Konsensbildung. 167 Es handelt sich also um Grundannahmen und rituelle Verhaltensweisen, deren Bedeutung die Familienmitglieder in einem Prozeß der Konsensbildung aushandeln. Diese Bedeutungen stehen im Zusammenhang mit den übrigen Wirklichkeitskonstruktionen der Familienmitglieder und können ein Teil ihres Problems sein. Wenn eine Frau etwa davon ausgeht, daß es ihre religiöse Bestimmung ist, sich in der Hausarbeit aufzuopfern, wird sie kaum eine berufliche Karriere beginnen und kann leicht als „koabhängig" diagnostiziert werden. 168 Es kommt darauf an, das für sie leitende System spiritueller Bedeutungen zu erforschen und festzustellen, ob es hilft, die von den Ratsuchenden gewünschten Ziele zu erreichen oder nicht. Es mag sich als notwendig erweisen, dieses System auszudehnen, neu zu definieren oder flexibler zu gestalten. Therapeuten, Berater und Seelsorger müssen dabei die Balance halten zwi165 David Berenson. Between I and Thou. In: The Family Therapy Networker, September/October 1990, 32. 166 Layne A. Prest, James F. Keller. Spirituality and family therapy: Spiritual beliefs, myths and metaphors. In: Journal of Marital and Family Therapy Bd. 19, Nr. 2, 1993, 137-148; 138. 167 Ebd. 168 Ebd., 140 f.

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sehen der Bestätigung der Position der Ratsuchenden und der direkten oder indirekten Herausforderung zur Veränderung. Stets haben sie zu respektieren, daß es sich um die Sicht der Wirklichkeit eines Individuums, eines Paars oder einer Familie handelt, die gleichberechtigt neben ihrer eigenen steht. Wenn sie auf „Widerstand" stoßen, sollen sie dies zum Anlaß nehmen, mehr über die spirituellen Annahmen ihrer Gesprächspartner zu lernen. Diese sind auch eine Quelle für alternative Problemlösungen, die genutzt werden kann. 169 Für die Arbeit mit Familien, deren spirituelle Orientierung eher traditionell ist, werden folgende Strategien vorgeschlagen: 1. Identifikation der Lösungen, die ein Teil des Problems geworden sind und ihrer möglichen Zusammenhänge mit der familiären Spiritualität; 2. Das Aufrufen von fundamentalen Glaubensannahmen: Ziel ist es, festzustellen, inwiefern Glaubensannahmen zur Aufrechterhaltung des Problems beitragen, und gemeinsam mit den Gesprächspartnern wahrzunehmen, daß die von ihnen praktizierte Spiritualität von ihren spirituellen Grundannahmen abweicht (ζ. B. ein Ehepaar vertritt zwar die religiöse Auffassung seiner Kirche, daß in der Kindererziehung keine körperliche Bestrafung eingesetzt werden darf, bestraft jedoch die Kinder in Konfliktsituationen durch Schläge); 3. Dialoge über inkongruente spirituelle Landkarten: Das Gespräch dreht sich um die mangelnde Ubereinstimmung zwischen der Landkarte von spirituellen Grundannahmen, Werten und Verhaltensweisen und die gegenwärtige Situation der Gesprächspartner (ζ. B. in einer Familie mit 2 kleinen Kindern geht die Frau arbeiten und macht den Hauptteil der Haus- und Erziehungsarbeit. Sie fühlt sich überfordert und wird depressiv. Der spirituelle Hintergrund der familiären Arbeitsteilung ist die Vorstellung von der patriarchalischen christlichen Kleinfamilie). Der Dialog greift auf, daß die Wirklichkeit ihrer Beziehung nicht mit diesem Bild übereinstimmt und wird zur Suche nach einer adäquateren spirituellen Begründung ihrer Beziehung, die ihren Bedürfnissen und den Erfordernissen der Situation gerecht wird. 4. Der Gebrauch von religiösen Texten (Bibel, Talmud, Koran . . . ) , um die gewünschten Veränderungen voranzutreiben; 5. Die aktive Anteilnahme am spirituellen Prozeß: Der Therapeut teilt eigene spirituelle Erfahrungen oder Uberzeugungen mit, um eine Vertrauensbasis zu schaffen oder die Gesprächspartner dazu anzuregen, ähnliche symbolische Konstruktionen zu versuchen. 170 Stets geht es darum, sich in die symbolische Welt der Gesprächspartner zu begeben, Metaphern zu gebrauchen, die ihren spirituellen Uberzeu169 Ebd., 141. 170 Ebd., 142-144.

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gungen nahestehen, um in Kontakt zu bleiben. Das gilt auch für den Umgang mit nicht kirchlich gebundener Spiritualität. Seelsorge und Beratung haben ungleich größere Möglichkeiten, auf die Spiritualität der Menschen einzugehen als die systemische Familientherapie. Sie können trösten, beistehen, herausfordern. Das Gebet, die Beichte, das gemeinsam gefeierte Abendmahl sind Gelegenheiten, gemeinsam spirituelle Erfahrungen zu machen, die über einen strategischen Umgang mit der Spiritualität in der Therapie weit hinausgehen. Dennoch sollte der Kontext des Problems, für das in Seelsorge und Beratung auch spirituelle Lösungen gesucht werden, nicht vergessen werden. Therapeutinnen, Seelsorgerinnen und Beraterinnen werden von den Ratsuchenden nach ihrer spirituellen Orientierung gefragt und haben die Chance, diese im Dialog ins Spiel zu bringen. Das kann sie an Grenzen bringen, etwa wenn eine Klientin erwartet, der Berater würde mit ihr Reinkarnationstherapie machen und ihr helfen, regressiv vergangene Inkarnationen zu erinnern, dort erfahrene Traumen zu bearbeiten. Er wird angeben müssen, aus welchen Gründen er dies nicht tun kann und will. Leonardo Boff hat eine „Öko-Spiritualität" gefordert und formuliert.171 Sie könnte eine Hilfe für Seelsorgerinnen und Seelsorger sein, ihre eigene Position zu formulieren. „Gott ist Geist" (Jo. 4.24), und der „Geist ist das Leben" (Rom. 8.10). Leben aber ist Beziehung. Sie wird vom Geist gestiftet. Christliche Spiritualität ist ausgerichtet auf die Realität der Lebens, nicht der Macht, des Reichtums oder der Lust. Sie sucht die Würdigung allen Lebens, fördert und verteidigt es, indem sie sich den am stärksten bedrohten Lebewesen zuwendet. Sie sucht und schafft Beziehungen, bemüht sich, alle Beziehungssysteme in Familie, Schule Gemeinde, Wohnviertel . . . offen zu halten, damit gemeinsames Leben möglich wird. Christliche Spiritualität steht gegen den Tod mit seinen vielen Gesichtern und sucht die Heilung des Zerbrochenen, die Verbindung des Getrennten. Sie erkennt im Universum, in allen Dingen, im Geschenk des Lebens die Gnade Gottes. Sie gründet im Glauben, sucht vertrauend das Geheimnis Gottes zu verstehen. Sie ist individuell und kreativ, die gelebte Beziehung des Einzelnen zu Gott. Sie ist kommunikativ und sucht die Beziehung zum Ganzen des Universums. Sie weiß, daß diejenigen, die Gott anbeten, ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten (Jo. 4.23 f.), und geht davon aus, daß Gottes Geist, der weht, wo er will, auch in anderen Kulturen und Religionen am Werk ist.172

171 Vgl. Leonardo Boff. Ecologia, 285-309. 172 Vgl. Hoch, Lothar Carlos. A voz de Deus em outras culturas. In: Estudos Teológicos 35 (2), 1995, 177-185.

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8.3.3. Die Perspektive der Macht Macht ist eine Perspektive von Seelsorge und Beratung, der ähnlich wie dem Gesellschaftsbezug über lange Zeit hinweg wenig Bedeutung beigemessen wurde. Im Hinblick auf den Kontext von Ländern der 3. Welt und nicht nur dort - ist es ausgeschlossen, nicht danach zu fragen, inwiefern das Leiden, das in Seelsorge und Beratung zur Sprache kommt, durch problematische Machtbeziehungen bedingt ist. Das gilt für Familienprobleme ebenso wie für Krankengeschichten, Todesfälle, Delinquenz, Probleme am Arbeitsplatz und wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Machtproblematik betrifft auch das Arbeitsfeld von Seelsorgern und Beratern, die berufliche Einbindung in Kirchengemeinden, Beratungszentren oder Entwicklungsprojekte, die ihrer Berufsrolle beigemessene Autorität und ihren Umgang mit den Klienten. Eine Schlüsselstellung nimmt dabei die Erfahrung traditioneller kirchlicher Einzelseelsorge in der Beichte als einer Form der Machtausübung ein, die zum Gegenstand der befreiungstheologischen Hermeneutik des Verdachts geworden ist. Der Terminus „Seelsorge" (cure d'âme/cura de almas) wurde in ökumenischen Institutionen Lateinamerikas bewußt beiseite gelassen und durch den Begriff „pastoral de la solidaridad/pastoral da solidariedade" ersetzt. 173 Man wollte gegen ein Modell, das unter dem Verdacht pastoraler Kontrolle und Anpassung an eine ungerechte Gesellschaft stand, ein kollektives, egalitäres und politisches Konzept von Seelsorge setzen. Der Begriff pastoral da solidariedade hat sich allerdings nicht durchgesetzt und wird heute zunehmend durch aconselhamento pastoral (pastorale Beratung) ersetzt. Die Frage nach dem Umgang mit der Macht ist damit nicht erledigt. Ein Blick auf die internationale Diskussion dieses Themas in der Seelsorgeliteratur kann uns helfen, kulturelle Spezifika des seelsorgerlichen Umgangs mit der Macht zu erfassen. Wir begegnen hier drei Ansätzen: der Rezeption des religionssoziologischen Diskurses über Macht, einer gegen den Machtmißbrauch antretenden Theologie der Macht und einer von Michel Foucault herkommenden konsequenten Kritik der Macht in der Seelsorge. In der nordamerikanischen Seelsorge haben die sich verschärfende soziale Ungleichheit, die feministische Theologie und die Debatte über das Problem von Gewalt und sexuellem Mißbrauch zu einer vertieften Beschäftigung der Seelsorge mit Macht und Machtmißbrauch geführt. George M. Furniss behandelt Macht soziologisch als einen Aspekt des gesellschaftlichen Kontexts der Seelsorge im Rahmen der funktionalistischen Theorie und der Konflikttheorie sozialer Machtverteilung. Er weist 173 Die im Lateinamerikanischen Kirchenrat (CLAI) f ü r Seelsorge und Beratung zuständige Abteilung trägt den Namen „Pastoral das Solidariedade", ebenso wie die einschlägigen Forschungsrichtungen in den Curricula der ökumenischen Postgraduiertenausbildung in Sao Bernardo de Campo - SP und in Säo Leopoldo - RS.

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auf den Einfluß hin, den Talcott Parsons funktionalistische Gesellschaftstheorie auf die Seelsorge gehabt hat. Parsons vertrat die Idee, daß soziale Gruppen Machtstrukturen entwickeln, um zu funktionieren. In ihnen übernimmt ein „instrumenteller Leiter" die Rolle der organisatorischen Führung und ein anderes Gruppenmitglied die Rolle des „expressiven Leiters", oft eine Persönlichkeit, welche die Fähigkeit besitzt, ein positives emotionales Klima zu schaffen, Spannungen abzubauen, Konflikte tragbar zu machen und integrierend zu wirken. Pastoren wurden als „instrumentelle Leiter" der Gemeinde als einer moralischen Institution verstanden, die moralische und spirituelle Anforderungen an die Gemeindeglieder richteten, während die Berater ähnlich wie ein Psychiater als „expressive Leiter" die Atmosphäre in Konfliktfällen entspannten und halfen, sich individuell den moralischen und spirituellen Zielen anzunähern. 174 Parsons definiert Macht als die Fähigkeit einer Gesellschaft, ihre Ziele zu erreichen. Die Zuschreibung und Verteilung von Macht beruht, ähnlich wie der Geldwert, auf dem Vertrauen, das man in die Kreditwürdigkeit der Währung beziehungsweise in die Fähigkeit der politischen und wirtschaftlichen Führer setzt. 175 Parsons liberale Gesellschaftstheorie sieht es nun als Aufgabe der Gesellschaft, die Fähigsten an Führungspositionen zu bringen, also eine streng an den Verdiensten des Einzelnen orientierte Macht- und Einkommensverteilung zu gewährleisten, durch die sich verschiedene Gesellschaftsschichten bilden. 176 Seelsorge und Beratung haben dann „expressive" Stützungs- und Anpassungsfunktionen innerhalb einer Gesellschaft, die extreme Einkommensunterschiede aufweist und, wie Parsons selbstverständlich annimmt, die Frauen vom Arbeitsmarkt ausschließt. Die Konflikttheorie der sozialen Macht hat ihre Wurzeln im Marxismus und wird vor allem von Max Weber zu einem „multidimensionalen Modell" der gesellschaftlichen Schichtenbildung ausdifferenziert. Ökonomischer Reichtum, politische Macht und soziales Prestige sind drei Faktoren, die den sozialen Status definieren. Pastoren etwa haben traditionell im Kontext der Gemeinde relativ viel Macht und ein hohes soziales Prestige, jedoch ein vergleichsweise geringes Einkommen. Ihr sozialer Status wird dadurch inkonsistent. 177 In Webers Religionssoziologie werden charismatische und institutionalisierte Macht in der Kirche unterschieden, die von ihren Trägern jeweils unterschiedliche Formen der Machtausübung und Legitimation verlangen (z. B. charismatische Erfahrungen versus theologische Kenntnisse). Jede religiöse Gruppe durchläuft einen Prozeß der Säkularisierung, in dem sich nach charismatischen Anfängen eine institutionalisierte religiöse Gemeinschaft bildet, die dann durch immer weitergehende Anpassung an die soziale 174 175 176 177

Vgl. George M. Fumiss. The social context of pastoral care, 61 ff. Ebd. Ebd., 63 ff. Ebd., 65 ff.; 70.

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Umgebung verweltlicht. 178 Seelsorger und Berater haben versucht, ihre Statusinkonsistenz und den Machtverlust durch die Säkularisierung mittels einer Orientierung der Seelsorge an Medizin und Psychoanalyse aufzufangen. In ihnen wird Macht durch die Asymmetrie der Beziehungen zwischen Patient und Arzt/Psychologe ausgeübt. Ein Psychoanalytiker hat keinerlei Verpflichtung, dem Analysanden seine Reaktionen zu offenbaren oder sich verletzbar zu zeigen. 179 Das wirft die Frage auf, inwiefern sich „therapeutische Seelsorger/Seelsorgerinnen" des Machtaspektes der von ihnen bevorzugten professionellen Rolle bewußt sind. Sie laufen Gefahr, wie Pattison am Beispiel der Seelsorge in psychiatrischen Einrichtungen in England gezeigt hat, sich an die Normen der Institution anzupassen und ihre Macht zu mißbrauchen. 180 Sie benötigen eine bewußte Einstellung gegenüber ihren eigenen Machtinteressen und der Macht, die ihnen in ihrer Berufsrolle zugestanden wird. Es ist nötig, daß sie wahrnehmen, wo sie aufgrund ihrer Machtposition die Beziehung zu ihren Seelsorgepartnern verhindern, blockieren oder beeinträchtigen. Die theologische Auseinandersetzung mit dem sexuellen Mißbrauch aufgrund langjähriger Erfahrungen in der Beratungsarbeit mit Opfern und Tätern wird für James Poling zum Anlaß, eine theologische Theorie der Macht zu entwerfen. Sexueller Mißbrauch ist für ihn ein Mißbrauch von Macht, den die Kirche bis in die Gegenwart entweder nicht wahrgenommen, totgeschwiegen oder, wie im Fall von Pastoren, die Gemeindeglieder mißbrauchten und ohne weitere Disziplinierung in eine andere Gemeinde versetzt wurden, gedeckt hat. Macht und Machtmißbrauch müssen theologisch verstanden werden, damit die Opfer in der Kirche gehört werden und damit Kirche und Gesellschaft Ressourcen für die Heilung und Prävention des Mißbrauchs zur Verfügung stellen.181 Poling entwickelt ein in der Prozeßtheologie verankertes ideales Konzept von Macht: Er definiert Macht allgemein als Anspruch zu leben. Leben heißt, ein Beziehungsnetz knüpfen. Macht ist somit die „power of existence-asa-relational-procès s". Sie ist „relationale Macht", die Fähigkeit, innerlich Beziehungen aufzunehmen und aufrechtzuerhalten. 182 „In its ideal form, power as the ability to engage in internal relationships is virtually synonymous with life itself. In this sense, power is potentially nearly identical with sexual energy. Erotic power, or sexual power, is the holistic

178 Ebd., 94 ff. 179 Ebd., 68. Vgl. Reinhard Schmidt Rost. Seelsorge zwischen Amt und Beruf: Studien zur Entwicklung einer modernen evangelischen Seelsorgelehre seit dem 19. Jahrhundert, Göttingen, 1988. 180 Vgl. Stephen Pattison. Pastoral care and liberation theology. 181 James Newton Poling, The abuse of power. A theological problem. Nashville: Abingdon, 1991, 11 ff. 183. 182 Ebd., 24 f.

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expression of communion and freedom between persons in ways that are appropriate to their relationships. Sexual violence is both a violation of the telos of sexuality and an abuse of power".' 8 3

Liebende Macht knüpft Beziehungen und läßt damit die Menschen in Übereinstimmung mit ihrer göttlichen Bestimmung leben, frei werden und an dem kreativen Prozeß der wachsenden Gemeinschaft mit Gott und dem Nächsten teilnehmen. 184 Machtmißbrauch beginnt für den Einzelnen mit der Furcht, die erhoffte Gemeinschaft nicht zu finden, die dazu führt, daß er beginnt, die Macht der lebendigen Gemeinschaft zu kontrollieren. Machtmißbrauch ist die Zerstörung von Beziehungen, um über sie die Kontrolle zu bewahren. 185 Eltern, die ihre Kinder lieben, können sie mißbrauchen, indem sie sich weigern, sie so zu lieben, wie es das Leben vorgibt, indem sie ihnen einseitig ihre Art von Beziehung aufzwingen. Einseitige Machtausübung ist Machtmißbrauch 1 8 6 , den Poling theologisch als „böse" qualifiziert. Eine ungerechte Gesellschaft, in der zum Beispiel Frauen, Farbige, Homosexuelle und Lesbierinnen unterdrückt werden, und die imperialistisch arme Völker beherrscht, schafft Gelegenheiten für den Machtmißbrauch und ist die größte Quelle des Leidens. 187 Die Erlösung vom Mißbrauch hat ihre Wurzel in der Erfahrung einer elastischen Zähigkeit, mit der Uberlebende gegen den Mißbrauch Widerstand leisten und um ihre menschliche Würde kämpfen. Der Grund ihres Widerstands ist die elementare Hoffnung auf Gemeinschaft und Freiheit. Die Erfahrung des Mißbrauchs und des Widerstandes sind für Poling Kriterien zur Beurteilung des biblischen Gottesbildes. Jesu Widerstand gegen den Machtmißbrauch war für viele Opfer eine Quelle der Inspiration. Gegen das Bild eines mißbrauchenden Gottes, das sich in biblischen Texten findet, offenbart er das Bild eines Gottes, der dem Machtmißbrauch zäh widersteht. 188 Konsequent fordert er, daß Kirche und Gesellschaft den Opfern von Mißbrauch Möglichkeiten der Heilung bieten, effektivere Krisenintervention leisten, die Methoden verbessern, Männer mit dem Mißbrauch zu konfrontieren, sie dafür zur Verantwortung zu ziehen, sie zu kontrollieren und zu heilen. Gesellschaftliche Grundannahmen wie etwa die Unverletzlichkeit der Kleinfamilie müssen kritisch überprüft werden. 189 In gewisser Hinsicht knüpft Poling an das calvinistische Modell der Seelsorge als Kirchenzucht an, und tritt dafür ein, zum Schutz möglicher 183 184 185 186 187 188 189

Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

25. 27. 28. 29; 31. 32 f.; 153 ff. 183 ff. 315

Mißbrauchsopfer, den Bereich der öffentlichen Machtausübung auszudehnen. Staat und Kirche kooperieren, wenn es darum geht, für Gerechtigkeit zu sorgen. Die Gemeinde übernimmt eine Vorbildfunktion für die Machtausübung in der Gesellschaft. Sie besteht auf Klarheit, Transparenz, Kontrolle des Umgangs mit der Macht, die Einhaltung der Gesetze zum Schutz des Lebens und der Menschenwürde. Eine offene Frage ist, inwieweit sie sich damit nicht das moderne Ideal des durch die Gesellschaft und ihre internalisierten Normen vollkommen kontrollierten Bürgers zu eigen gemacht hat und zum Ziel der Seelsorge erklärt. Diese Frage stellt sich, wenn man Michel Foucaults Analysen der Machtbeziehungen in der Gesellschaft auf die Seelsorge bezieht. Im Bereich der deutschen Seelsorge haben Eva Erdmann, Norbert Mette und Hermann Steinkamp besonders Foucaults Konzept der „Pastoralmacht" untersucht. 190 Foucault hat in seinen großen Studien über die „Geschichte des Wahnsinns", die „Geburt des Gefängnisses", die „Archäologie der Humanwissenschaften", die Geschichte der Sexualität eine historisch-philosophische Forschungsmethode entwickelt, mit der er die Ideengeschichte der modernen Gesellschaft rekonstruiert. Er knüpft an Nietzsches Theorie der Macht und seine Methode, die Geschichte philosophischer Ideen als „Genealogie", also als Ergebnis eines von Machtkonstellationen beeinflußten Prozesses der Konstruktion und Weitergabe von Wissen zwischen den Generationen zu betrachten. Foucaults Ansatz ist materialistisch. Er geht davon aus, daß sich der gesellschaftliche Wissensbestand, die Sozialstruktur ebenso wie die individuelle Struktur des Subjekts historisch im Rahmen eines Feldes herausbilden, in welchem Macht und Wissen interagieren. Macht ist dabei für ihn „eine bestimmte Form augenblickhafter und beständig wiederholter Zusammenstöße innerhalb einer bestimmten Anzahl von Individuen." 191 Es ist „anzunehmen, daß die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen, daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert. Diese Macht/Wissen-Beziehungen sind darum nicht von einem Erkenntnissubjekt aus zu analysieren, das gegenüber dem Machtsystem frei oder unfrei ist. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, daß das erkennende Subjekt, das 190 Vgl. Eva Erdmann. Die Macht unserer Kirchenväter: Über die „Geständnisse des Fleisches". In: Wege zum Menschen 47, 1995, 53-60; Martin Weimer. Das Verdrängte in der Hirtenmetapher: Kritische Reflexionen zu Foucaults Begriff des „Pastorats". In: Wege zum Menschen 47, 1995, 61-76; Norbert Mette. „Pastoralmacht": Praktisch theologische Anmerkungen zu einem Theorem M.Foucaults. In: Wege zum Menschen 47, 76-83; Hermann Steinkamp. Die ,Seele' - „Illusion der Theologen": Michel Foucaults Bestimmung der ,Seele' als Anfrage an die Seelsorge. In: Wege zum Menschen 47, 1995, 84-93. 191 Michel Foucault. Die Macht und die Norm. In: ders. Mikrophysik der Macht: Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin. Berlin, 1976, 99.

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zu erkennende Objekt und die Erkenntnisweisen jeweils Effekte jener fundamentalen Macht/Wissen-Komplexe und ihrer historischen Transformationen bilden". 192 Nach Foucault zielen die Strategien und Technologien der Macht auf die totale „Unterwerfung" des Subjekts durch die Gesellschaft. Er zeigt auf, wie sich im 18. und 19. Jahrhundert die Technik der Disziplinierung von der öffentlichen Marter und körperlich grausamen Strafritualen unter der Uberschrift einer „Humanisierung" der Strafe zur Manipulation und Unterwerfung der Seele wandelt. Die Seele im modernen Sinne wird durch Techniken der sozialen Disziplinierung konstituiert. Sie verdankt sich der „politischen Besetzung" des menschlichen Körpers durch die soziale Strafgewalt. Foucault spricht hier von der „historischen Wirklichkeit dieser Seele, die im Unterschied zu der von der christlichen Theologie vorgestellten Seele nicht schuldbeladen und strafwürdig geboren wird, sondern aus Prozeduren der Bestrafung, der Überwachung, der Züchtigung, des Zwangs geboren wird. Diese wirkliche und körperliche Seele ist keine Substanz; sie ist das Element, in welchem sich die Wirkungen einer bestimmten Macht und der Gegenstandsbezug eines Wissens miteinander verschränken . . . Uber dieser Verzahnung von Machtwirklichkeit und Wissensgegenstand hat man verschiedene Begriffe und Untersuchungsgebiete konstruiert: Psyche, Subjektivität, Persönlichkeit, Gewissen usw.; man hat darauf wissenschaftliche Techniken und Diskurse erbaut; man hat darauf die moralischen Ansprüche des Humanismus gegründet. Doch täusche man sich nicht: man hat an die Stelle der Seele, der Illusion der Theologen, nicht einen wirklichen Menschen, einen Gegenstand des Wissens, der philosophischen Reflexion oder technischen Intervention gesetzt. Der Mensch, von dem man uns spricht, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine , Seele' wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt."193

Foucault läßt keinen Zweifel daran, wie er die Diskurse von Psychiatrie, Psychologie, Psychotherapie und Seelsorge einordnet: Sie sind Elemente des Macht/Wissen Komplexes, begründen und entwerfen „Selbsttechniken", durch welche das Subjekt als angepaßtes, jedenfalls sozial kontrolliertes und unterworfenes Wesen hervorgebracht wird. In seinen Studien über „Sexualität und Wahrheit" zieht Foucault die für die Entstehung des abendländischen Subjekts wichtige Verbindungslinie zwischen den Techniken der Selbstdisziplinierung in der Antike und im Christentum. Der zwar fertiggestellte, aber nicht veröffentlichte Band mit dem Titel „Die Geständnisse des Fleisches", über dessen Revision Foucault im Jahr 1984 gestorben war, zeigt auf, wie das Christentum die Technik der antiken Gewissensprüfung, in der es vorwiegend darum ging, das individuelle Verhältnis zu den kollektiven Verhaltensregeln zu überden192 Michel Foucault. Überwachen und Strafen, 39. 193 Ebd., 41 f.

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ken und zu einer Entscheidung zu kommen, umwandelt in eine Gewissensprüfung, die sich am Gesetz, das als Verbot formuliert ist, orientiert. Es geht nun um das „Geständnis der Einhaltung oder Übertretung" des Gesetzes, das die Norm christlicher Gewissensprüfung bildet 194 , die zum Kernstück der abendländischen Subjektivität wird. Foucault sieht in der „Pastoralmacht" ein in der alten Kirche etabliertes politisches Prinzip, welches die Machtbefugnisse auf die Person des „Hirten", des Priesters oder Bischofs konzentriert, dem die Aufgabe zukommt, den individuellen Tages- und Lebensverlauf vom Gebot her zu ordnen. „In einem Akt der Enteignung des Wissens, das der Mensch von sich selbst haben könnte, in der Beichte und in der Geste, die eigenen Sünden dem anderen anzuvertrauen, ja abzuliefern, wird die Pastoralmacht zu einer zwielichtigen politischen Technik, die die Unterwerfung unter die Gesetze noch durch den Einsatz des Gewissensgehorsams zu optimieren versucht"."5

Welche Chance hat das menschliche Subjekt angesichts der Machtstrukturen, die es hervorgebracht haben? Foucault ist pessimistisch, zeigt jedoch die Möglichkeit auf, durch gegenläufige Machttechniken, durch Kritik und befreiende Praktiken das unterworfene Subjekt in der Freiheit zu rekonstruieren. 196 Es geht ihm darum, die „Kunst, nicht regiert zu werden" einzuüben und „aus seinem Leben ein Kunstwerk" zu machen. 197 Mit Hermann Steinkamp müssen wir auf diesem Hintergrund fragen, ob Seelsorge und Beratung durch ihre theoretischen Systeme des Verstehens und ihre Techniken zur gesellschaftlichen „Disziplinierung" der Individuen, die der Kolonialisierung der Indianer Südamerikas gleicht, beitragen oder ob sie zur befreienden Seelsorge wird, die „Kritik" übt, an der Bewußtmachung von Zusammenhängen des individuellen Leidens mit der sozialen Situation und „Zeitdiagnosen" arbeitet, in der Seelsorgeausbildung die Aufmerksamkeit auf „die Versuchung zur Bemächtigung durch psychologisches Wissen" richtet, und aufgrund ihres Wissens um individuelle Schicksale das politische Engagement sucht.198 In der Realität der brasilianischen Gesellschaft sind Seelsorgerinnen und Seelsorger häufig mit dem Machtmißbrauch in Familien, Arbeitsverhältnissen und im Verhältnis der Individuen zu den sozialen Institutionen konfrontiert. In Familien dominieren Formen des Machtmißbrauchs - vor allem der physischen Gewalt, des sexuellen Mißbrauchs, des Verlassens und der Vernachlässigung - von Männer gegenüber Frauen und von Eltern gegenüber ihren Kindern. Die Familie ist für viele 194 Vgl. Eva Erdmann. Die Macht unserer Kirchenväter, 57 f. Vgl. Michel Foucault. Sexualität und Wahrheit Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983, 25 ff. 195 Ebd., 59. 196 Vgl. Hermann Steinkamp. Die ,Seele' - „Illusion der Theologen", 89 f. 197 Ebd., 89; 92; vgl. Michel Foucault. Was ist Kritik. Berlin, 1992, 12; Ders. Eine Ästhetik der Existenz. In: ders. Von der Freundschaft. Berlin, o.J., 133-141. 198 Vgl., Hermann Steinkamp. Die ,Seele' - „Illusion der Theologen", 91 f.

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Frauen, Kinder und alte Menschen, bisweilen aber auch für Männer kein sicherer Ort. Gesetzliche Instrumente zu ihrem Schutz (ζ. B. ein Kinder- und Jugendschutzgesetz) bestehen, ihre konsequente Anwendung muß aber vielerorts noch durchgesetzt werden. Bestehende Einrichtungen zur Verteidigung der Rechte des Opfers von Machtmißbrauch kranken oft an mangelnden finanziellen Mitteln, geringen Handlungsmöglichkeiten und nicht ausreichend ausgebildeten Mitarbeitern. In Arbeitsverhältnissen fallen autoritäre Machtstrukturen auf, in denen sich die Patrone ( p a t r ö e s ) zu Herren ihrer Arbeiter aufschwingen und diese die Abhängigkeit von ihnen derart verinnerlicht haben, daß sie nur denjenigen Autorität zugestehen, welche in der Rolle des väterlich benevolenten aber autoritären Herren auftreten. Die Arbeitsgesetze und die Macht der Gewerkschaften kontrollieren und dämpfen diese Tendenz. Dennoch gibt es noch keine ausreichende Rechtssicherheit, besonders im Umgang mit den mächtigen und oft korrupten staatlichen Einrichtungen. Militär, Polizei und die Verwaltungen erheben zwar einerseits immer noch autoritäre Geltungsansprüche, kämpfen jedoch in ihrem Inneren mit Gesetzesübertretungen, Kriminalität und Korruption. Sie gelten als nicht vertrauenswürdig. Von vielen werden die staatlichen Organe als ungerecht empfunden. Rechts- und Verwaltungsvorschriften werden zu bürokratischen Machtinstrumenten des Verwaltungsapparats, mit denen die Funktionäre ihren Status verteidigen und es den Bürgern, die sich in einem Dschungel von Vorschriften, undurchschaubaren Zuständigkeiten und Kompetenzgerangel nicht mehr zurechtfinden, schwer machen können, zu ihrem Recht zu kommen. Das berühmte jeitinho brasileiro kann als eine Form angesehen werden, in einer Situation der Rechtsunsicherheit, des Machtmißbrauchs und der Ohnmacht breiter Bevölkerungsschichten, pragmatisch Probleme zu lösen und seinen Vorteil zu sichern. Gemeint sind die Strategien, seine Interessen mit Hilfe persönlicher Beziehungen und gegenseitiger Verpflichtungen auf unkonventionelle Weise durchzusetzen, die den Buchstaben des Gesetzes zu den eigenen Gunsten auslegen oder einfach umgehen. Dabei werden besonders im Umgang mit Verwaltungen Mittelsmänner, die sogenannten despachantes eingesetzt, die über Beziehungen verfügen und diese gegen Bezahlung zur Erledigung von Verwaltungsangelegenheiten benutzen. Obwohl die öffentliche Kontrolle von Korruption und Amtsmißbrauch seit der Wiederherstellung der Demokratie gewachsen sind, ist in der armen Bevölkerung weiterhin ein Gefühl von Ohnmacht und eine Tendenz verbreitet, die eigenen Schwierigkeiten individuell durch ein jeitinho zu lösen. Was bedeutet dies für den Umgang mit der Machtperspektive in Seelsorge und Beratung? - Sie müssen in der sozialen Situation Brasiliens eine grundsätzlich kritische Wahrnehmung von Macht und Machtmißbrauch mit einem po319

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sitiven Umgang mit der Macht verbinden. Sie bedürfen der von Foucault vorgeschlagenen radikal kritischen Perspektive, um Machtstrukturen in der Lebenssituation der Menschen, die ihre Hilfe suchen, und in der seelsorgerlichen Beziehung selbst wahrzunehmen und infrage zu stellen. Sie hilft ihnen, Freiheit als „Selbstsorge des Subjekts" zu begreifen und die eigenständige Organisation der Beziehungen der Seelsorgepartner anzustreben. Sie können jedoch nicht bei Foucaults kulturpessimistischer Sicht der Macht stehenbleiben, sondern müssen sich im Interesse der oft wehrlosen Opfer des Machtmißbrauchs für „Beziehungsgerechtigkeit" (relational justice) einsetzen. Dieser von Larry Kent Graham für die USA eingeführte Begriff beschreibt auch klar ein Ziel ökologischer Seelsorge und Beratung in Lateinamerika. 199 Beziehungsgerechtigkeit heißt: Seelsorger/Seelsorgerinnen und Berater/Beraterinnen bestätigen und stützen die Individualität des Hilfesuchenden, ergreifen aber auch für ihn Partei in Kirche und Gesellschaft. Sie arbeiten daran, Strukturen von einseitiger Herrschaft und Unterwerfung durch kooperative Beziehungen zu ersetzen. Sie setzen sich für Lebensbedingungen ein, in denen Macht flexibel gebraucht und klar verteilt wird, also nicht verborgen, unzugänglich und einseitig bleibt. Diese Lebensbedingungen fördern die individuelle Selbstbestimmung, die Übernahme sozialer Verantwortung und die Teilnahme an der sozialen Ordnung. Beziehungsgerechtigkeit impliziert die Sorge um die Einzelnen und um kulturelle Gruppen. Sie führt zu einer kritischen Uberprüfung der Wertsysteme, Kommunikationsformen und Organisationsweisen von Institutionen. 200 Seelsorger und Seelsorgerinnen können nicht einfach hoffen, daß rückhaltlos vertrauensvolle und kompetente staatliche Organe und Institutionen zur Verfügung stehen, um den Machtmißbrauch in der Familie, der Arbeitswelt und im öffentlichen Leben zu kontrollieren. Sie selbst und ihre Gemeinden haben die Aufgabe, sich in den gesetzlich vorgesehenen demokratischen Institutionen zur Prävention, zum Schutz und der Verfolgung von Machtmißbrauch zu engagieren (z. B. die demokratisch gewählten Räte zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, deren Kompetenzen den deutschen Jugendämtern entsprechen) und mit ihnen im Rahmen ihrer Möglichkeiten kritisch zusammenzuarbeiten. Die Gemeinden stehen vor der Aufgabe, zur Prävention und Therapie des Machtmißbrauchs beizutragen. Dazu gehört, daß sie die Realität des Machtmißbrauchs thematisieren, daß sie den Opfern Möglichkeiten bieten, ihre Probleme anzusprechen, Schutz und Solidarität zu finden

199 Vgl., Larry Kent Graham. From relational humanness to relational justice: Reconceiving pastoral care and counseling. In: Pamela D. Couture, Rodney J. Hunter. Pastoral care and social conflict, 229 ff. 200 Ebd., 230 f.

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(ζ. Β. in Frauengruppen, Frauenhäusern und Netzwerken, die mißbrauchten Frauen und ihren Kindern zeitweise Obdach bieten, Kindertagesstätten, Beratungszentren, Ubergangsheimen f ü r Kinder und Jugendliche in Risikosituationen). - Eine vordringliche Aufgabe von Seelsorge und Beratung ist es, die O p fer zu ermutigen, ihre Erfahrungen auszusprechen, Widerstand gegen den Machtmißbrauch zu leisten, Möglichkeiten des Schutzes und der Gegenwehr zu erarbeiten, Familienmitglieder, die Mißbrauch betreiben zur Verantwortung zu ziehen und an einer Veränderung von Familienstrukturen zu arbeiten, die künftigen Mißbrauch verhindern. - D e r offene und flexible Umgang mit Macht erstreckt sich auch auf die Beziehung in Seelsorge und Beratung. Dies bedeutet, d a ß Seelsorger und Seelsorgerinnen die ihnen von den Hilfesuchenden zugeschriebene Machtposition kritisch überprüfen und, vorübergehend, eine ihrer Kompetenz und den Erfordernissen der Situation entsprechende Machtposition einnehmen. Das Kriterium ihrer Machtausübung ist empowerment; die Übernahme und Erweiterung der Beziehungsmächtigkeit der Seelsorgepartner. Innerhalb dieses Rahmens ist es ihnen gestattet, gezielte Interventionen vorzunehmen, die den Betroffenen zwar zunächst nicht einsichtig sein mögen, sie jedoch den von ihnen gewünschten und mit dem Seelsorger/der Seelsorgerin vereinbarten Zielen näher bringen können.

8.3.4. Die Perspektive von Geschlechtsrolle und Geschlechtsidentität {gender) Wir haben festgestellt, daß die geschlechtliche Identität von Männern und Frauen und die Geschlechtsrolle, die sie im sozialen Leben in Szene setzen, gesellschaftliche Konstrukte sind, die auf dem biologischen Geschlechtsunterschied aufbauen, ihn durch kulturell unterschiedliche, wenn auch in vieler Hinsicht ähnliche stereotype Bilder von dem, was das Sein als Mann und als Frau charakterisiert, interpretieren. Diese Bilder werden im Sozialisationsprozeß als normative Modelle des Frauund Mannseins von einer Generation zur nächsten tradiert. D e r Feminismus hat einen Forschungsansatz entwickelt, der in verschiedenen Disziplinen die Perspektive der Geschlechtsidentität einbringt. Sie ist ein wichtiger methodischer Gesichtspunkt f ü r Theologie und Seelsorge, die Momente der sozialen Beziehungen in Geschichte und Gegenwart ins Blickfeld rückt, die anderweitig nicht erfaßt werden könnten. Pastoraltheologinnen in Nordamerika und Europa haben begonnen, Theorie und Praxis der Seelsorge aus der Sicht von Frauen zu rekonstruieren. Es geht ihnen, so Carolyn Stahl Bohler, um eine „frauen-freundliche Seelsorge", die, indem sie die Belange von Frauen besonders berücksichtigt und darauf aus ist, einen „gerechten Frieden" in den sozialen Beziehungen 321

von Frauen und Männern zu stiften, auch „männer-freundlich" ist.201 Der feministische Ansatz beschränkt sich nicht auf den Kampf um „Gleichheit" zwischen den Geschlechtern, die so lange ein abstraktes Ideal bleibt als sie von anderen sozialen Beziehungen absieht. Er fordert eine Analyse der „Strukturen und Ideologien", die zu sozialer Ungleichheit aufgrund von Geschlechtsidentität, Rasse und Hautfarbe, Alter oder körperlicher Eignung beitragen, und prägt sich aus in einem prophetischen Ansatz von Seelsorge, der Machtstrukturen, die zerstörerisch für Individuen und Gemeinden sind, aufdeckt, infrage stellt und verändern will.202 Die Leitmetapher, mit der die menschliche Wirklichkeit beschrieben und die Zielsetzung pastoraler Arbeit definiert wird ist das „living human web", das Beziehungsnetz, das alles Seiende verbindet und das menschliche Selbst als eine auf Beziehungen basierende, dynamische Ganzheit begreift. Nach Catherine Keller drückt die Metapher des Spinnennetzes und der Aktivität der Spinne, die daran arbeitet, das zerrissene Netz zu flicken, Beziehungen zwischen Knoten wiederherzustellen, eine in der Mythologie seit langem präsente und konsequent unterdrückte weibliche Sicht der Realität aus, gegen die sich historisch die „männliche" Sicht der Trennung von Selbst und Welt durchgesetzt habe. 203 In der Metapher des Netzes konvergiert der feministische Ansatz in Theologie und Seelsorge mit dem von uns ins Auge gefaßten systemisch-ökologischen Ansatz. Er entwirft ein Verständnis der Seelsorge, das neben den psychologischen auch die kulturellen, sozialen und politischen Aspekte der menschlichen Situation einbezieht. Er geht damit über die von Boisen geprägte und in der Theologie der therapeutischen Seelsorge über Jahrzehnte wirksame Metapher des living human document hinaus. Es geht nicht darum, isolierte Individuen zu studieren, ihre Problematik und deren Lösung als religiöse Zeugnisse zu interpretieren und zu behandeln. Vielmehr ist es notwendig, daß sie und die Seelsorgerinnen und Seelsorger mit ihnen die vielfältigen Aspekte ihrer Situation erfassen und bearbeiten. Weaving the web, das Weben des sozialen Netzes wird zur vordringlichen Aufgabe der Seelsorge. Damit müssen, so Pamela Couture, grundlegende Aspekte dieser Disziplin umgeschrieben werden: „If we were to create a social ecological foundation for pastoral care and counseling, we would correlate theology not only with the implicit theology and practice in psychology, family systems theory, and general culture but also with the theology implicit in social institutions, including the congregation and go-

201 Carolyn Stahl Bohler, Female friendly pastoral care. In: Jeanne Stevenson Moessner (Hg.). Through the eyes of women: Insights for pastoral care. Minneapolis: Fortress Press, 1996, 27. 202 Vgl. Bonnie J. Miller-McLemore. The living human web: Pastoral theology at the turn of the century. In: Jeanne Stevenson Moessner (Hg.). Through the eyes of women, 16. 203 Vgl. Catherine Keller. From a broken web: Separatism, sexism and self Boston, Beacon Press, 1986 (zit. nach Bonnie J. Miller-McLemore. The living human web, 17).

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vernment, and the ecclesial and public policies and practices they produce. A social ecological framework for pastoral care would include attention to the potential sources and practices of care, and their implicit and explicit theologies, in culture, public policy, the formation of community institutions, families and individuals, as these dimensions of care intersect with one another. Such a framework would help the primary caregiver offer a critique of larger systems as they create undue suffering".204

Damit Seelsorge in diesem Sinne möglich wird, müssen diejenigen, die bisher zum Schweigen verurteilt waren, Frauen, ethnische Minderheiten, psychisch Kranke sprechen und ihre Erfahrungen einbringen. Für feministische Theologie und Seelsorge ist es ein zentrales Anliegen, das Schweigen von Frauen und anderen unterprivilegierten Gruppen zu beenden, ihnen zu helfen, ihre Stimme zu erheben. Bonnie Miller McLemore schreibt dazu: „Gender, feminist, and black studies all verify the knowledge of the underprivileged, the outcast, the underclass, and the silenced. If knowledge depends upon power, then power must be given to the silenced".205

Empowerment im living human web beginnt damit, daß die zum Schweigen Gebrachten zu sprechen beginnen und gehört werden. Dieser Ansatz berücksichtigt, daß Seelsorgerinnen und Seelsorger aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht, Rasse, Kultur oder Gesellschaftsschicht Verstehensbarrieren haben können. 206 Ein nordamerikanisches Beispiel dafür ist der Mythos von der afroamerikanischen Frau als „Matriarchin". Durch „kontrollierende Leitbilder" wird sie als gute „mammy" charakterisiert, die fürsorglich, vertrauensvoll, dienstbar und unterwürfig ist, und sich mit der Verantwortung für die Probleme der anderen belastet, aber auch als „böse", dominante Beherrscherin der Männer in der Familie, die ihre Kinder zugunsten ihrer eigenen Interessen vernachlässigt. Sie wird als passiv abhängige und hoffnungslose „Wohlfahrtsmutter" gesehen und als sexuell aggressive Frau mit wechselnden, instabilen Partnerschaften. 207 Seelsorgerinnen und Seelsorger können sich durch diese Bilder dazu verleiten lassen, die Stärke der Frau, die „alles hinkriegt", zu überschätzen, sie für ihre spirituelle Kraft zu bewundern und von ihr lernen zu wollen, ohne die Verzweiflung zu bemerken, die sie in Gott und der christlichen Gemeinde die einzige Zuflucht erkennen läßt. Sie können sie auch für ihre Unterwürfigkeit und Abhängigkeit oder für ihre kastrierende Dominanz kritisieren. Teresa Snorton tritt dafür ein, die destruktive Metapher der 204 Pamela Couture. Weaving the web: Pastoral care in an individualistic society. In: Jeanne Stevenson Moessner (Hg.). Through the eyes of women, 103. 205 Vgl. Bonnie J. Miller-McLemore. The living human web, 21. 206 Ebd. 207 Teresa E. Snorton. The legacy of the African-American matriarch: New perspectives for pastoral care. In: Jeanne Stevenson Moessner (Hg.). Through the eyes of women, 51 ff.

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Matriarchin zu verändern und die Kultur schwarzer nordamerikanischer Frauen als womanist, als Kultur der „selbstbewußt Weiblichen" zu beschreiben, f ü r die Individualität und Autonomie nicht so wichtig sind wie f ü r weiße Feministinnen, und die aufgrund von Armut und Rassismus einen Stil gefunden haben, mit Schwierigkeiten umzugehen, der vier Elemente umschließt: mit dem schlimmsten rechnen, andere schonen, sein Leben in Gottes H a n d legen und Stärke in der Gemeinschaft der Gemeinde zu finden. 208 Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine kulturell sensible Seelsorgetheorie die Perspektive des weiblichen Realitätserlebens im Rahmen einer kulturellen Gruppe respektvoll wahrnimmt und aufgreift. Vorausgesetzt sind eine selbstkritische Haltung, die eigene Wertvorstellungen und Leitbilder darüber, wie ζ. B. eine emanzipierte Frau zu sein hätte, infragestellen kann, das H ö r e n auf die Erfahrungen und das Selbstverständnis von Frauen und Männern in dieser Gruppe, die gemeinsame Dekonstruktion von „mythischen" Leitbildern über die Identität von Frauen und Männern und der religiös-ideologischen Grundannahmen, die sie untermauern, die (Re)Konstruktion von kulturell und ethisch angemessenen Leitbildern weiblicher und männlicher Identität und der Geschlechterbeziehung auf dem Wege des Dialogs mit den Betroffenen. Seelsorgerinnen und Seelsorger können nicht mit kulturell vorgestanzten normativen Leitbildern arbeiten, sondern müssen gemeinsam mit ihren Gesprächspartnern einen hermeneutischen Prozeß der Dekonstruktion und ( R e - K o n struktion durchlaufen, in dem diese, assistiert von den Seelsorgerinnen und Seelsorgern, f ü r sie gültige Leitbilder geschlechtlicher Identität finden und Erfahrungen mit einem entsprechenden Verhalten zur Lebensgestaltung machen können. Weiße feministische Theologinnen sind von ihren afro-amerikanischen Kolleginnen mit ihrer durch die soziale Schicht und die Rasse vorgegebenen kulturellen Begrenztheit konfrontiert worden. 209 Das hat ein Bemühen darum ausgelöst, den eigenen sozialen Standort von Seelsorgerinnen und Seelsorgern neu zu bestimmen und dies theologisch zu verantworten. Kathleen D. Billman hat sehr genau gesehen, daß sie eine „doppelte Identität" haben: Sie sind „Unterdrücker" und „Unterdrückte", auf irgendeine konkrete Weise verwickelt in die „systemische Sünde" der Gesellschaft und ihrerseits selbst „Opfer", die auf konkrete Weise leiden. 210 Pastorinnen und Pastoren können selbst in ihrer Ehe oder in der Kindererziehung gescheitert sein und bemühen sich trotzdem darum,

208 Ebd., 54 ff.; 57. 209 Vgl. Bell Hooks. Feminist theory: From margin to center. Boston: South End Press, 1984; Kathleen D. Billman. Pastoral care as an art of community. In: Christie Cozad Neuger (Hg.). The arts of ministry: Feminist-Womanist approaches. Louisville (Kentucky): Westminster John Rnox Press, 1996, 16. 210 Ebd., 29.

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Gemeindegliedern bei ihren Ehe- und Erziehungskonflikten beizustehen. Sie können Alkoholprobleme haben, dadurch in ihren kirchlichen „Karrieremöglichkeiten" blockiert werden, und sich in der Gemeinde für Alkohol- und Drogenabhängige einsetzen. 211 Damit wird nicht erneut das Bild vom Seelsorger als „wounded healer" bemüht, sondern eine soziale Standortbestimmung vorgenommen, die anerkennt, daß Seelsorgerinnen und Seelsorger in mehreren „sozialen Welten" angesiedelt sind, besser gesagt, daß sie auf der „Grenze" leben und zu mehreren sozialen Welten Zugang haben, eine Standortbestimmung, die zuerst auf die in der eigenen Position implizierte soziale Macht und auf die Wirkung dieser Macht auf andere achtet. Billman betont den Aspekt der rituellen Macht und Autorität, der den kirchlichen Amtsträgern von Gemeindegliedern entgegengebracht wird, und plädiert dafür, diese Macht ebenso wie die eigenen Erfahrungen von Marginalisierung dafür einzusetzen, die Beziehungsmacht anderer zu stärken. 212 Sie schlägt vor, Seelsorge als „conspiring and collaborating", als „Konspiration und Kooperation" mit den Gemeindegliedern inmitten der Spannungen des sozialen und persönlichen Lebens zu begreifen. 213 Das feministische Motiv einer positiven „Komplizenschaft" unter den Frauen zugunsten ihrer Lebensmöglichkeiten geht hier eine Verbindung ein mit der biblischen Metapher der „Hebammen" aus Ex. 1.8-22, die mit den Müttern der hebräischen Kinder gegen das Tötungsgebot des Pharaos konspirierten und kooperierten. Billmans seelsorgerliche Vision dabei ist Gesundheit als „Ganzheit", das heißt als ein „zuhause Sein" in der eigenen sexuellen, ethnischen und kulturellen Identität, das für sie kongruent ist mit dem, was das Christentum Gnade nennt, nämlich fähig zu sein, sich selbst als Kind Gottes zu sehen und anzunehmen. 214 Sie versteht den Kampf aller Menschen um Ganzheit, in der sie die Macht und die Erkenntnis, die ihnen zur Verfügung steht, einsetzen, als Gottes rettendes Handeln in einer Welt, in der es trotz der systemischen, das heißt der sozialen Sünde und trotz der persönlichen Ungerechtigkeit, Hoffnung gibt.215 Billmans Definition ist eine gute Leitmetapher für ein aus der weiblichen Perspektive entwickelte „frauen-freundliche" Theorie und Praxis von Seelsorge und Beratung. Seelsorge und Beratung im Kontext Lateinamerikas können von dieser Sicht lernen und sind herausgefordert, ihren Standort und ihre Vision zu bestimmen. Die soziale Situation von Frauen und Männern, in der sie arbeiten, stellt sich folgendermaßen dar:

211 212 213 214 215

Vgl. Billman. Pastoral care, 29. Ebd. Ebd., 25. Ebd., 32. Ebd.

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Frauen haben in Brasilien mit den besonderen Schwierigkeiten einer immer noch starken patriarchalischen Tradition und des Machismus zu kämpfen. Das Patriarchat hat die Welt in männliche und weibliche Bereiche aufgeteilt und damit die „natürliche" Geschlechtsidentität von Männern und Frauen definiert. 216 Der Bereich der Öffentlichkeit, die Straße und das Feld waren traditionell die Domäne der Männer. Dort treten sie auf, um ihre Interessen und die ihrer Familie zu vertreten und ihre Rechte als Bürger zu vertreten. Die Straße (rua) ist nach den ungeschriebenen Regeln der brasilianischen Kultur eine Art „gesetzesfreier Raum", in dem sich jeder Mann mit allen ihm zu Verfügung stehenden Mitteln behaupten muß. Auf der Straße ist es erlaubt, ein malandrò zu sein, ein mit allen Wassern gewaschener Geschäftspartner und companheiro, der in Geschäften auf der Hut sein muß, um nicht seinerseits betrogen zu werden, und, wenn er es für nötig hält, auch Gewalt anwenden kann. 217 Dieses traditionelle Bild wirkt in das rechtsstaatlich geregelte Sozialleben hinein und macht es etwas verständlicher, wie Männer und Männergruppen dazu kommen, auf der Straße, also im öffentlichen Leben ihren eigenen Regeln entsprechend zu handeln, auch wenn diese ungesetzlich sind. Das Haus dagegen ist traditionell die Domäne der Frauen, die sich hier der Kindererziehung widmen, die Familie ernähren und für Sauberkeit sorgen. Im Haus werden keine Geschäfte gemacht. In der patriarchalischen Familie ist der Mann das Haupt der Frau. Sie ist an Geschäften nicht beteiligt, hat keinen Zugriff auf die Finanzen der Familie und hatte bis zur Aufhebung des Scheidungsverbotes im Jahr 1977 eine schwache rechtliche Stellung im Fall einer Trennung. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es Frauen gestattet, die Schule zu besuchen. Seit 1871 können sie sich als Lehrerin ausbilden lassen. Im Vergleich dazu ist die Position, die sie sich in der Gesellschaft erarbeitet haben, erstaunlich: „Nach den Daten des brasilianischen statistischen Jahrbuches von 1992 haben 57 % der Frauen einen kompletten Schulabschluß, aber nur 43 % der Männer. Sie bilden 52 % der Studentenschaft, 42 % der Studienabschlüsse in Jura, 62 % in Medizin 19% im Ingenieurswesen".218

Auf dem Arbeitsmarkt sieht die Situation anders aus. Die meisten Frauen arbeiten als Hausangestellte (empregadas), Sekretärinnen, Grundschullehrerinnen, einem Beruf, den man bisher mit einem speziellen Abschluß der Sekundarstufe 2 erreichen konnte, als Verkäuferinnen und Krankenschwestern. Etwa 30 000 Frauen haben 2,8 % der Posten in den Chef-

216 Vgl. Valburga Schmiedt Streck, Christoph Schneider-Harpprecht. Imagens da familia, 25. 217 Vgl. Roberto Damatta. A casa e a rua. 218 Vgl. die Sonderausgabe der brasilianischen Wochenzeitschrift Veja: Veja Especial Mulher, August-September 1994, 36.

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etagen der Unternehmen und öffentlichen Institutionen inne. Das ist im Vergleich zu den USA (6 %), Deutschland (3,5 %) und Japan (0,8 %) eine ansehnliches Ergebnis und zeigt den Trend, daß in Zukunft mehr Frauen der Mittel- und Oberschicht in Führungspositionen aufrücken werden. 219 Es scheint, daß es diesen Frauen gelingt, ihre eigenen Akzente in der Arbeitswelt zu setzen. Nach einer Umfrage sagen sie von sich, daß sie doppelt so viel arbeiten wie Männer, im Beruf mehr nach Selbstverwirklichung als nach Geld und Macht suchen, lieber als Vermittlerinnen denn als Chefinnen angesehen werden, die Intuition als ihren großen Triumph ansehen, die Arbeitsethik stärker betonen als die Männer, geduldig und unabhängig agieren, Positionen befürworten, in denen sie sich nicht so stark exponieren und in Konfliktfällen mit den in der Familie gelernten Strategien intervenieren. 220 Diese Frauen haben zweifellos eine Vorbildfunktion für andere. Sie sind allerdings gezwungen, das bis heute von Männern definierte Spiel des Marktes mitzuspielen. Die meisten arbeitenden Frauen leben mit dem Streß der Doppelbelastung von Beruf und Hausarbeit. Ihre Bezahlung ist meist gering. In Brasilien - und dies ist die andere Seite der Medaille - bilden die Frauen wie in vielen anderen Ländern der 3. Welt die ärmste und am stärksten unterdrückte Bevölkerungsgruppe. Viele von ihnen erleben täglich ein immenses Drama von Hunger, Ausbeutung am Arbeitsplatz und in der Familie, Gewalt, Mißbrauch, Vernachlässigung und Verlassenheit. Die folgenden Beispiele illustrieren einige der Hauptprobleme von Frauen, die in Seelsorge und Beratung zum Thema werden: Ana, 28 Jahre, Tochter eines Kleinbauern, ist deutscher Abstammung. Nach ihrem Schulabschluß hat sie eine Ausbildung abgebrochen, sich in verschiedene vorübergehende Beziehungen zu Männern verwickelt und dann aus Liebe einen gleichaltrigen Arbeiter geheiratet, von dem sie ein Kind erwartete. Mit ihm hat sie 2 Jahre lang in einer kleinen Holzhütte auf dem Grundstück seiner Eltern in einem der ärmeren Viertel einer Großstadt gelebt. Nach der Geburt des Kindes wurde sie depressiv und teilweise unfähig, für ihr Kind zu sorgen. Sie konnte die familiäre Umgebung, die Streitereien zwischen den Schwiegereltern und das von Gewalt geprägte Milieu nicht ertragen. Sie fühlte sich isoliert und wünschte die Unterstützung und Anerkennung ihrer Mutter, die 600 Kilometer weit entfernt lebte, sich aber aus Enttäuschung über die Ehe der Tochter und ihr berufliches Versagen nicht bereit erklärte, ihr zu helfen. Ihr Mann nahm sich eine Geliebte, mit der er im Lauf des ersten Trennungsjahrs ein Kind hatte. Ana trennte sich von ihm und kämpft darum, wie sie sich alleine mit ihrem Sohn durchbringen kann. Themen in der Beratung sind unter anderem: Ihre Depression, ihre Angst vor der Macht und Rache des Ehemannes, wenn sie Unterhalt und die offizielle Scheidung fordert, ihre Isolation in der Familie, die ihre Ehe mit diesem Mann und die Trennung nicht akzeptiert hat, ihr Konflikt mit dem Vater, dessen körperliche Annäherungen sie als Mißbrauch erlebt. 219 Ebd., 32. 220 Ebd., 30.

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Inés, 56 Jahre, ist verheiratet, und hat 4 Kinder. Bei einem Verkehrsunfall ist ihre älteste Tochter verloren. Sie kann es nicht verstehen, sagt beim Trauergottesdienst aber, daß sie sich in Gottes Willen fügen muß. Ihre Schwester ist voller Zorn. Vania, 22 Jahre, ist die uneheliche Tochter einer Frau portugiesischer Abstammung. Sie lebt seit 2 Jahren mit dem gleichaltrigen Roberto, dessen Familie italienische Wurzeln hat, zusammen. Beide arbeiten als Verkäufer mit kleinem Einkommen und leben in einer Hütte auf dem Grundstück seiner Eltern. Vania liegt in ständigem Streit mit ihrer Schwiegermutter, weil diese sich in die Beziehung einmischt, Roberto nicht losläßt und von seinem Geld lebt. Die Schwiegermutter jedoch ist auf die Zahlungen Robertos angewiesen. In Konfliktsituationen kann Roberto gewalttätig werden. Vânia beklagt sich über Schwierigkeiten im sexuellen Leben. Sie ist in ihrer Kindheit von ihrem Stiefvater über Jahre brutal geschlagen worden, bis sie mit 16 Jahren das Haus verließ, um bei einer Schwester der Mutter zu leben. Als Jugendliche überlebte sie einen Versuch, sie zu vergewaltigen. Bevor sie Roberto kennenlernte, lebte sie mit einem Mann zusammen, der drogenabhängig war, mit anderen Frauen schlief und sie mit einer Geschlechtskrankheit infizierte. Roberto hat sie aus dieser Beziehung und einer sozial prekären Lage herausgeholt. Wenn sie sich von ihm trennte, hätte sie keine Bleibe. Rita, 55 Jahre alt, Deutschbrasilianerin, ist eine erfolgreiche Akademikerin. Sie hat mit der Doppelbelastung in Beruf und Familie zu kämpfen, fordert jedoch von sich, daß sie den Haushalt „tiptop" in Ordnung hält und bestreitet die Ausgaben für die Ernährung der Familie im wesentlichen aus ihrer Tasche. Sie hat sich geschworen, niemals finanziell von ihrem Mann abhängig zu werden wie ihre Mutter es war, merkt aber, daß ihr das schwer wird. Sonia, 42 Jahre alt, aus einer Familie deutscher Abstammung ist mit Joäo, einem 50 Jahre alten Luso-Brasilianer verheiratet, der als Angestellter recht gut verdient. Sie hat zwei erwachsene Töchter, die noch zu Hause leben. Die ältere ist ledig, hat eine 6 jährige Tochter und arbeitet als Sekretärin. Die jüngere Tochter studiert auf Kosten der Eltern an einer privaten Universität. Beide Töchter haben Freunde, die zum Teil mit der Familie leben. Sonia lebte Jahre im Konflikt mit ihrer ältesten Tochter, die als Kind von einem Verwandten mißbraucht wurde und große Schwierigkeiten in ihren Beziehungen mit Männern hat. Sonia erlitt einen traumatischen Schock, nachdem ihr Mann ihr nach 25 Ehejahren gestand, daß er ein außereheliches Verhältnis hatte, und sie einsehen mußte, daß er sie während der gesamten Zeit ihrer Ehe betrogen hat. Sie will sich trennen, doch der arbeitslos gewordene Mann will an der Ehe festhalten, in der sie durch ihre Einkünfte inzwischen zur Ernährerin der Familie geworden ist. Sie macht über mehrere Wochen eine bedrohliche posttraumatische Streßreaktion durch, in der sie die emotionale Kontrolle verliert und neben der Beratung medikamentöse Behandlung durch einen Psychiater braucht. Maria, 35 Jahre alt, ist Mutter von 4 Kindern im Alter zwischen 5 und 15 Jahren. Ihre Ehemann Jorge, 39 Jahre alt, ist Arbeiter. Er kommt aus einer Alkoholikerfamilie und wird, jedesmal wenn er getrunken hat, gewalttätig gegen seine Frau und vor allem gegen seinen ältesten Sohn. Maria wurde mit 6 Jahren von ihrer Mutter in eine andere Familie gegeben, in der sie als Hausmädchen arbeiten 328

mußte. Sie wurde von ihrer Schwiegermutter abgelehnt, da diese eine andere Frau für ihren Sohn wollte. Die Familie lebt in einem kleinen Holzhaus in einem ärmeren Stadtteil, in dem es viele Einbrüche und Gewaltverbrechen gibt. Maria arbeitet in einer ca. 25 km entfernt gelegenen Schuhfabrik und ist von morgens 5.30 bis abends 6.30 außer Haus. Sie macht sich Sorgen um ihre kleinen Kinder, die unter der Aufsicht der größeren zuhause sind. Sie ist deprimiert, suizidal, ohne Perspektive, ohne Vertrauen, hilflos, voller Zorn und Verzweiflung. Lydia ist 25 Jahre alt, ledig und arbeitslos. Sie lebt mit ihrer Schwester, die Grundschullehrerin ist und etwa 400 D - M a r k verdient, bei ihren Eltern. Die Schwester ernährt die Familie. Der Vater, ein pensionierter Bauarbeiter, lehnt es ab, für die Familie aufzukommen. Die Mutter und die Töchter fürchten seine Härte und Gewalt, die ihn Jahrzehnte zuvor schon einmal ins Gefängnis gebracht hat. Lydia spricht seit Jahren nur das Notwendigste mit dem Vater. Sie ist empört, daß weder er noch einer ihrer Brüder, die in der Nachbarschaft leben, finanziell zum Haushalt beitragen. Sie selbst ist eingeschriebene Studentin an einer Universität, kann jedoch aus Geldmangel jedes Semester nur eine Vorlesung belegen. Sie wünscht sich selbständig zu leben, eine Familie zu gründen. Kinder zu haben ist ihr wichtiger als der Beruf. Sie ist jedoch so depressiv, eingeschüchtert und gehemmt, daß es ihr nicht gelingt, einen Gelegenheitsjob zu finden oder Freundschaft mit einem Mann zu schließen. Adriana, 23 Jahre alt, ist eine erfolgreiche Studentin an einer privaten Universität. Sie sucht den Seelsorger auf, weil sie sich, seit sie vor einigen Monaten das Elternhaus verlassen hat und in eine Wohnung in der Nähe der Universität gezogen ist, zunehmend deprimiert fühlt und unter Arbeitsstörungen leidet. Sie hält es schwer aus, alleine zu sein und ist unglücklich, weil ihre Freundschaft mit einem 30 Jahre alten Bankier von diesem stets unverbindlich gehalten wird. Beide haben viel zu tun und sehen sich manchmal eine oder zwei Wochen lang nicht. Sie wünscht sich eine dauerhafte intime Beziehung, aber das sei nicht möglich, weil jeder sich ganz seinem Beruf widmen müsse. Rosa, 35 Jahre alt, stammt aus der „deutschen Kolonie", das heißt einem von Deutschbrasilianern besiedelten Landstrich im Süden Brasiliens. Sie arbeitet im Nachtdienst als Hilfskrankenschwester in einer Großstadt, ist Mutter einer 6 Jahre alten Tochter, geschieden und lebt seit 3 Jahren mit einem Afrobrasilianer zusammen, der von seiner Frau getrennt ist und mit ihr ebenfalls eine Tochter hat. Rosa hat sich verschuldet, um eine kleine Wohnung zu kaufen. Sie fürchtet, ihren Lebensgefährten zu verlieren, der seine Tochter wöchentlich in der Wohnung der Mutter besucht. Sie ist in eine akute Krise geraten, als sie eines Morgens einen „Despacho" vor ihrem Haus fand. Das ist ein aus einem H u h n , Früchten, Gemüsen, Körnern, Blumen etc. bestehendes Opfer, das in einigen, nicht in allen, afrobrasilianischen Kultzentren benutzt wird, um die Götter oder Geister zu beschwören, damit sie Wünsche des Opfernden erfüllen. Rosa fürchtet, daß die erste Frau ihres Lebensgefährten eine „Arbeit" in Auftrag gegeben hat, mit der sie ihren Mann durch Magie zurückholen oder zumindest sie selbst, Rosa, schädigen will. Sie fürchtet sich, hat Schlafstörungen, leidet unter Verfolgungsideen und depressiven Symptomen. Carolina, 17 Jahre, ist die Tochter eines Polizeibeamten in einer Großstadt. Sie ist nach der 6. Klasse aus der Schule abgegangen und hat sich zu Hause um die 329

kleineren Geschwister gekümmert. Nachdem sie schwanger wurde, haben ihre Eltern sie in ein von einer lutherischen Gemeinde geführtes Heim für ledige Mütter gegeben. Ihr Freund, ein 20 Jahre alter Arbeitsloser, hat zunächst die Vaterschaft abgelehnt, später aber darauf gedrungen, daß sie zu ihm zieht. Carolinas Eltern sind zunächst strikt dagegen, lassen sich dann aber erweichen. In einer Seelsorgegruppe raten ihr die meisten Gruppenmitglieder davon ab und zeigen auf, daß ihr Freund erst unter Beweis stellen müßte, daß er für das Kind sorgen kann. Carolina liebt ihn leidenschaftlich. Sie entscheidet sich, trotzdem zu ihm zu gehen und meint: „Ich hoffe, daß ich ihn dazu bringen kann, verantwortlicher zu leben, regelmäßig zu arbeiten und keine Drogen zu nehmen".

An diesen Beispielen ist ersichtlich, wie stark patriarchalische Strukturen das Leben der brasilianischen Frauen bestimmen. Sie sind von ihren Vätern, Ehemännern oder Lebensgefährten oft wirtschaftlich abhängig und haben ein Bild der romantischen Liebe verinnerlicht, das sie oft trotz widriger Erfahrungen in der Ursprungsfamilie hoffen läßt, in der Liebe zu einem Mann und in der Sorge für ihre Kinder ein erfülltes Leben zu finden. Frauen übernehmen von früh an die Verantwortung für die familiären Beziehungen und sind die caregiver der Familie. Sie arbeiten, versorgen die Kinder, machen die Hausarbeit und sind eine emotionale Stütze für ihren Mann und die Kinder. Die Haltung, in der sie sich für die Familie opfern, zahlt sich für sie nicht aus. In zahlreichen Familien leben sie mit Männern, für die eine patriarchalische Einstellung selbstverständlich ist. Sie betrachten die Frauen als ihren Besitz, über den sie sexuell und anderweitig verfügen können. Sie halten es für selbstverständlich, daß Frauen den Männern Untertan sind, gestehen ihnen das Recht zu, zu arbeiten oder sind auf ihr Einkommen angewiesen, verweigern ihnen aber ein Mitspracherecht in finanziellen Fragen. Von den Frauen wurde traditionell verlangt, daß sie als Jungfrau heiraten und treu sind, während die Männer ein promiskues Leben führen konnten, ohne dafür öffentlich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Emanzipation und die Veränderung sexueller Wertvorstellungen hat dieses Frauenbild zwar brüchiger werden lassen. Viele Frauen der Mittelschicht haben sich emanzipiert und werden von ihren Männern dabei unterstützt. Dennoch bleibt das patriarchalische Leitbild der Frau mächtig und prägt gerade die Einstellung in der Unterschicht und der unteren Mittelschicht. Frauen machen die Erfahrung, daß sie im Fall einer unehelichen Schwangerschaft von der Familie ausgestoßen und vom Vater des Kindes verlassen werden. Im Fall einer Trennung oder Scheidung bleiben sie oft ohne finanzielle Unterstützung. Ihre Schönheit und Attraktivität ist eine der hauptsächlichen Quellen sozialer Anerkennung und ein Grundpfeiler ihres Selbstverständnisses. Biologische Veränderungen wie die Menopause, normale Alterungsprozesse, aber auch Operationen wie die Hysterektomie oder Mastektomie beschädigen ihr Selbstbild und geben Anlaß zu einer tiefgreifenden Sorge, ob sie von ihrem Mann noch akzeptiert werden. Männern gelingt es oft nicht, diesen Anpassungsprozeß zu leisten. Sie brechen 330

aus der Partnerschaft aus oder trennen sich und gehen eine Verbindung mit einer jüngeren Partnerin ein. Viele brasilianische Frauen befinden sich in einem Teufelskreis von Abhängigkeit und Gewalt, aus dem sie sich aus eigenen Kräften kaum befreien können. Eine im Jahr 1997 im Bundesstaat Rio Grande do Sul durchgeführte Studie zeigt, daß jede zehnte Frau sexuell mißbraucht wurde. 221 Diese Zahl ist doppelt so hoch wie die Mißbrauchsrate in Europa und zeigt ein kulturelles Spezifikum. Dies scheint eine unmittelbare Konsequenz des „Machismo" zu sein. Im Fall der Anwendung physischer Gewalt gegen Frauen und Kinder spielt der Alkoholmißbrauch eine große Rolle. Untersuchungen der Vereinten Nationen ergaben, daß 67 % der häuslichen Aggressoren Alkohol mißbraucht haben. 222 Dies wird durch eine im Großraum von Porto Alegre durchgeführte Studie über die sozio-ökonomischen Verhältnisse von Familien mit niedrigem Einkommen bestätigt. Die Befragten gaben an, daß Alkohol einer der hauptsächlichen Auslöser von Ehe- und Familienkrisen ist.223 Marcela Bosch hat die Erfahrungen mit mißhandelten Frauen in Argentinien anhand eines von Leonor Walker entwickelten 3 Phasenmodells des Zyklus der Gewalt beschrieben. Phase I: Unterminierung des Selbstwertgefühls der Frau durch verbale Abwertung und emotionalen Mißbrauch (Schweigen, verletzende Bemerkungen, Anschreien); Phase II: Kontrollverlust und Übergang zu Tätlichkeiten (Schläge, Verbrennungen etc.) Phase III: Reue und Affektivität (der Mann zeigt sich als liebenswürdig, bereut den Kontrollverlust und scheint wieder der Liebhaber zu sein, in den sich die Frau einst verliebt hat). 224 Bosch zeigt auf, daß das „patriarchalische Makrosystem" der Gesellschaft, das „familiäre Mikrosystem" und das „religiöse Exo-System" diesen Zyklus ideologisch stützen. Solche theologischen Vorurteile sind zum Beispiel die von Aristoteles und Augustin ins Christentum eingegangene Annahme, daß die Frau sinnlich und verführerisch sei und dadurch die Sünde in die Welt gebracht habe, das Dogma der Unauflöslichkeit der Ehe, die Annahme, daß eine christliche Frau in der Nachfolge Jesu ihr Kreuz auf sich zu nehmen habe, oder daß sie ihr Verhalten 221 Eliane Brum. Inocência violada. In: ZERO HORA, Porto Alegre 9/11797, 48. 222 Leonore E. Walker. The battered woman syndrome. New York: Springer, 1984, 59. 223 Vgl. Marco A. Fetter. Características sócio-económicas e políticas de familias de baixa, média e alta renda residentes no municipio de Sao Leopoldo, maschr. Sào Leopoldo, 1993, 8; vgl. Valburga Schmiedt Streck. Terapia familiar, 248 ff. 224 Vgl. dazu Marcela Bosch. Que fizeste com tua irma? - Urna proposta ética para enfrentar o rosto sofrío e mulheres que sofrem maus-tratos conjugáis. In: Simposio Bd. 8 (4), ano X X X , August 1997, Nr. 40, 327-336.

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verbessern, im Glauben wachsen und nach dem Vorbild Jesu immer wieder vergeben müsse.225 Die Dekonstruktion dieser Ideen, die Seelsorger dazu verleiten, sich den Opfern der Gewalt gegenüber unsolidarisch zu verhalten, etwa indem sie nicht Initiativ werden oder sich aus dem Konflikt zurückziehen, ist vordringlich. Die von Bosch geforderte „gelebte Ethik", deren Grundsatzforderung lautet, sich zum Anderen (Nächsten) der Anderen (Frau) zu machen, weist in die Richtung des Motivs der „Konspiration und Kooperation". Positive „Konspiration" für das Leben von Frauen sind angesichts der noch bestehenden männlichen Ubermacht in Brasilien und anderen Ländern Lateinamerikas angeraten. Nach unseren Erfahrungen ist der Schutz von Frauen, ihr Zusammenschluß in Selbsthilfegruppen, die Prävention von Gewalt durch die Zusammenarbeit mit Behörden, eine Intervention in der Familie, aber auch die Arbeit am weiblichen Selbstverständnis und die Schaffung eines kritischen Bewußtseins vordringliche Aufgaben der Seelsorge. Besondere Bedeutung im Sinne der „Konspiration" bekommen informelle Frauengruppen in den Gemeinden, in denen sie sich artikulieren, ihre Erfahrungen austauschen, durch Bibelstudium und thematische Gespräche neue Erkenntnisse und Elemente eines neuen Selbstbildes gewinnen können, aber auch private Kontakte schließen und dadurch das soziale Netz, das sie stützt, verstärken. 226 Das 227 patriarchalische Selbstbild der Männer in Brasilien ist durch den Übergang zu einer pluralistischen, industriellen, Urbanen, informatisierten und von den Regeln des Marktes bestimmten Gesellschaft, ins Wanken geraten. Sie erleben den täglichen Streß im Kampf um Marktanteile, Umsätze und Arbeitsplätze. In immer weiteren Bereichen des Arbeitslebens sind Frauen zu ihren Konkurrentinnen und Kolleginnen geworden. Die Männer erfahren ihre Schwäche, sind angewiesen auf das Einkommen der Frau, oft ohne ausreichende soziale Sicherheit, den übermächtigen Bewegungen des Kapitals ausgesetzt, das in schnellem Wechsel Arbeitsplätze schafft und abbaut. Sie gehen weniger feste Bindungen zu Frauen ein, heiraten weniger häufig und später, scheiden und trennen sich mehr. Dadurch nimmt ihre Verwurzelung in den Familien ab. Sie werden zu Randsiedlern oder passageren Figuren, die sich aus der Verantwortung zurückziehen. Wenn und solange sie präsent sind, versuchen sie meist ihre traditionelle Funktion als Ernährer der Familie und Autorität für die Kinder zu übernehmen. Das Ideal, daß ein Vater der Freund seiner Kinder zu sein hätte, greift allerdings immer stärker um sich und 225 Ebd., 332-334. 226 Vgl. Paula Buford. Women's study groups as pastoral counseling. In: Jeanne Stevenson Moessner (Hg.). Through the eyes of women, 285-303. 227 Die folgende Skizze basiert auf dem Abschnitt „Crise do homem" in: Valburga Schmiedt Streck, Christoph Schneider-Harpprecht. Imagens da familia, 32-39.

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wird zum Beispiel am Vatertag, der eine enorme öffentliche Bedeutung gewonnen hat, gepflegt. Als Migranten, die in die Städte gegangen sind, haben die Männer ihre Wurzeln in der Landwirtschaft verloren und damit einen Teil der Plausibilitätsstruktur für ihr traditionelles Selbstbild. Dadurch verändert sich auch ihre Religiosität. Männer, die auf dem Land mehr Abstand zur Kirche hielten, frequentieren in den Städten die verschiedenen religiösen Angebote. Ein Motiv dafür dürfte die Suche nach Halt, Bestätigung und Hoffnung angesichts der sozialen Unsicherheit und der individuellen Schwäche im Kampf ums wirtschaftliche Uberleben sein. Religion war traditionell mehr Sache der Frauen, die ihre Männer indirekt in der Kirche vertraten. Die Protestanten distanzierten sich unter dem Einfluß lutherischer und calvinistischer Arbeitsethik stärker von der Kirche, standen den Pastoren, die in den Herkunftsländern der Immigranten oft mit dem mächtigen Adel verbündet waren, kritisch gegenüber, übernahmen jedoch Führungspositionen in den Gemeinden, wo sie eine gewisse Kontrolle über die Pastoren ausüben konnten. Als Katholiken hielten und halten sie fest an der Verehrung von Nossa Senhora Aparecida, der Nationalheiligen Brasiliens. In dieser Verehrung zeigt sich vielleicht stärker als irgend sonst, wenn auch im religiösen Gewand, die Mutterbindung vieler dieser Männer. Sie bleiben ihrer Mutter ein Leben lang treu ergeben, kommen für sie finanziell auf, wenn es nötig ist, unterstützen sie emotional oder in praktischen Alltagsfragen und bleiben auf jeden Fall im Kontakt. Dies ist nach unserer Beobachtung vor allem ein Charakterzug der Lusobrasilianer und der Nachkommen italienischer Immigranten, während Deutschbrasilianer ein distanzierteres Verhältnis zu ihren Müttern haben können. Ein Kleinbauer in einem entlegenen Landstrich Rio Grande do Suis beklagte sich dem Pfarrer gegenüber, daß er mit dem Bauernhof die Verpflichtung übernommen habe, für die 74 Jahre alte gehbehinderte Mutter zu sorgen, daß sich seine Geschwister jedoch nicht bereit fänden, das Geld für eine Operation aufzubringen, die sie wieder gehfähig machen würde. Sie würden ihn mit der Mutter alleine lassen. Mit der Tendenz zur „matrifokalen Familie" scheint es hinsichtlich der Mutterbindung allerdings einen kulturellen Angleichungsprozeß zu geben, der durch Beispiele belegt werden kann. Frauen übernehmen in der Ehe oft mütterliche Funktionen, indem sie die Fürsorge, die der Mann bei der Mutter genossen hat, fortsetzen und er sich bei der herkömmlichen Rollenverteilung an Arbeiten im Haushalt und der Kinderpflege nicht beteiligt. Alejandro Moreno Olmedo 228 hat auf die Homophobie als Hintergrund des Machismo hingewiesen. Die an ihre Mutter gebundenen Männer, die sich ihrer männlichen Identität nicht sicher sind, nehmen im Machismo eine kompensatorische Haltung ein, die jene Unsicherheit überspielt. 228 Vgl. Alejandro Moreno Olmedo. El aro y la trama.

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Diese Konstruktion macht nach unseren Beobachtungen auch in Brasilien Sinn, w o Homosexualität einerseits stark tabuisiert wird, die homosexuelle Szene andererseits aber eine nicht zu übersehende soziale Rolle spielt. Aus psychoanalytischer Sicht könnte man die Faszination der Brasilianer für den Fußball damit in Verbindung bringen, in der Männer sich als Spieler oder Zuschauer in einer hierarchisch strukturierten Situation treffen, die eine Mischung aus Kompetition und Kameradschaft ( C o m panheirismo) anbietet, und eine Art ekstatische Artikulation männlicher Stärke und Verbundenheit suchen. D i e zunehmende öffentliche Selbstdarstellung und Akzeptanz der Homosexuellen in den vergangenen Jahren zeigt eine kulturelle Verschiebung in Richtung auf eine größere Toleranz der Männer gegenüber der eigenen „Feminilität" an. D i e folgenden Beispiele illustrieren einige zentrale Aspekte der männlichen Situation und des männlichen Selbstverständnisses, wie es in Seelsorge und Beratung artikuliert wird. Rodrigo, 58 Jahre, Lusobrasilianer, seit wenigen Wochen in den Ruhestand versetzt, suchte mit seiner Frau Miriam, 60 Jahre, eine kirchliche Beratungsstelle auf. Zu Beginn des Gesprächs beschuldigte er seine Frau, sie würde ihn betrügen und sich jedesmal, wenn er das Haus verließe, mit anderen Männern treffen, weil er sexuelle Schwierigkeiten hätte. Die Ehefrau beteuert vergeblich, daß dem nicht so sei und gibt an, daß er diese Vorstellung etwa zum Zeitpunkt seiner Pensionierung entwickelt hätte. Rodrigo hat in der Krisensituation der Pensionierung, die er offensichtlich als eine Art Potenzverlust empfindet und mit altersbedingten sexuellen Schwierigkeiten in Verbindung bringt, einen Eifersuchtswahn entwickelt. Er kann sich nicht vorstellen, daß seine Frau ihn trotz der Schwierigkeiten akzeptiert und daß sie, wie sie sagt, mehr an Zärtlichkeit interessiert ist als an einer „kompletten" sexuellen Beziehung. Seine Frau will sich von ihm trennen, wenn seine Verfolgungsideen nicht nachlassen. Oliver ist ein 23 Jahre alter, verheirateter Student, Deutschbrasilianer. Er hat seine Frau kennengelernt, als sie 16 Jahre alt war und geheiratet, nachdem sie schwanger wurde. In seiner Ursprungsfamilie lebte er in ständigem Konflikt mit dem Vater, der Alkoholiker war bis dieser einige Jahre zuvor verstarb. Er hängt sehr stark an seiner Mutter, besucht sie, wenn es möglich ist. Sie wünscht, daß er eines Tages für sie sorgt. Seine Frau fühlt sich von der Schwiegermutter abgelehnt. Sie beklagt sich, daß ihr Mann täglich am liebsten mehrmals mit ihr schlafen wolle, obwohl ihr das zu viel sei. Er halte dies für natürlich und bedränge sie so sehr, daß sie gefühlsmäßig kalt geworden sei, sich deprimiert fühle, an Trennung und Suizid denke. Oliver hat große Schwierigkeiten, die von seinen Bedürfnissen verschiedenen sexuellen Bedürfnisse seiner Frau zu verstehen und zu akzeptieren. Er verdächtigt sie, ihn zu betrügen, weil ihre Reaktion nicht „natürlich" sei, und empfindet ihre Verweigerung als sehr machtvolle und immens kränkende Bedrohung seiner Männlichkeit. Darüber ist es zwischen den beiden schon zu Handgreiflichkeiten gekommen. Gustavo, 24, stammt aus einer weitverzweigten deutschbrasilianischen Familie. Er durchleidet eine Krise, seit ihm klar wurde, daß er homosexuell ist und es ihm nicht gelingt, das durch heterosexuelle Beziehungen zu unterdrücken. Er ist 334

gläubiger Christ, fühlt sich schuldig, hat Angst von seiner Familie und von der Gemeinde verstoßen zu werden. Er hat gelernt, daß Homosexualität Sünde ist und kommt zum Seelsorger mit der Bitte, ethische Informationen zu bekommen und zu lernen, wie er heterosexuell leben könne. Sein Argument: Er wolle ein Familie, Kinder wie alle anderen auch. Er wolle anders leben als sein Vater, der viele außereheliche Beziehungen hatte und sich von der Mutter getrennt hat. Hans, 45, Deutschbrasilianer, verheiratet, zwei Kinder, leitet ein kleines Unternehmen. Auf Drängen seiner Frau, die aus einer lusobrasilianischen Familie stammt, akzeptiert er es, einige Male in die Familienberatung zu kommen. Seine Frau beklagt sich über verbal eskalierende Ehekonflikte vor den Kindern, zu denen es stets käme, wenn sie sich darüber beschwert, daß ihr Mann nur für den Betrieb da sei, nicht mit ihr spreche, ihr nicht mitteile, wenn er später nach Hause komme. Hans sagt von sich, daß er sehr deutsch sei. Er versteht das als arbeitsam, pünktlich, korrekt, extrem perfektionistisch und kirchentreu. Er habe Schwierigkeiten, mit anderen Menschen Beziehung aufzunehmen, fahre leicht aus der Haut, wenn etwas nicht so geht, wie er es will, mache am liebsten alles selbst. Er sei schon immer ein Einzelgänger gewesen, ertrage es nicht, von jemand abhängig zu sein und bringe deshalb bei Einladungen die Getränke selbst mit. Mit den Männern aus der Familie seiner Frau versteht er sich nicht, weil sie alles im lässigen brasilianischen Stil machten und deshalb schon große Summen Geldes verloren hätten. Hans versteht nicht, was seine Frau an ihm auszusetzen hat. Er sorge doch für sie und die Kinder. Da er schon einige Male überfallen wurde, ist er sehr ängstlich. Marco, 29 Jahre alt, erkrankte zu einer Zeit an AIDS, als es noch keine wirksame Behandlung gab. Kurz bevor er ins Endstadium der Krankheit eintrat, wurde er depressiv. Seine Eltern, mit denen er in einer kleinen Hütte zusammen wohnte, der Seelsorger und mehrere Menschen aus der Gemeinde versuchten ihn zu stützen. Er beschloß dennoch, sich das Leben zu nehmen, weil er den Schmerzen und dem Siechtum zuvorkommen wollte. Alberto, 35, geschieden, Fabrikarbeiter ist ein alleinerziehender Vater. Er wurde von den Nachbarn bei der Jugendbehörde denunziert, weil er seinen Sohn regelmäßig mit dem Gürtel schlage und vernachlässige. Vor die Alternative gestellt, angeklagt zu werden oder gemeinsam mit dem Sohn eine Beratung aufzusuchen, wählt er die Beratung. Er ist überpünktlich, zunächst sehr verängstigt und mißtrauisch. Er berichtet, seine Frau habe ihn wegen eines anderen Mannes verlassen. Er habe keinen Kontakt mehr mit ihr. Der 12 Jahre alte Sohn müsse für den Haushalt mit die Verantwortung übernehmen. Sie wohnten in einem Stadtviertel mit hoher Drogenkriminalität. Er wolle nicht, daß sein Sohn mit Jugendlichen aus einer Gang Kontakt habe. Der Junge würde nicht auf ihn hören, keine Schulaufgaben machen und sich auf der Straße herumtreiben, wenn er nicht da sei. Die Strafe sei eine Erziehungsmaßnahme. Er erziehe ihn so wie es sein Vater mit ihm getan habe. Alberto mußte von Kind an arbeiten. Der Vater hat nicht mit ihm gespielt und ihn durch Schläge schwer mißhandelt. Es fällt ihm schwer, sich loszulassen, mit dem Jungen zu spielen, zärtlich zu sein und Gefühle zu zeigen. Franz, 48 Jahre alt, arbeitet seit seiner Kindheit auf dem elterlichen Bauernhof. Der Vater, obwohl schon über 70, ist noch nicht bereit, dem Sohn den Hof zu

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übergeben. Die Geschwister wollen ihr Anteil. Das Geld würde jedoch nicht reichen, um sie auszubezahlen. Ohne den Anteil der Geschwister wird Franz seine Familie nicht ernähren können. Er fühlt sich ausgenutzt, ohne Perspektive. Etwas neues kann er nicht anfangen, da er keinen anderen Beruf gelernt hat. Die Bevormundung durch den Vater erträgt er nicht mehr.

Selbstzweifel an der sexuellen Identität und Kapazität, Beziehungsprobleme, die durch ein Klischeebild von Männlichkeit und Weiblichkeit und von einem sexuellen Leistungsdenken geprägt sind, sind ein häufiges Problem von Männern in Seelsorge und Beratung. Insbesondere die Deutschbrasilianer, die auf dem Land aufgewachsen sind, zeigen einen Mangel an Sensibilität für das Erleben oder die Belange von Frauen und fühlen sich selbstverständlich als „Herren im Haus". Sie sind oft rigide, haben wenig Zugang zu ihren Gefühlen, Schwierigkeiten Gefühle zu verbalisieren. Viele sind eher schweigsam, fleißig, ordentlich und pünktlich. Sie haben immer wieder Schwierigkeiten zu verstehen, weswegen ihre Frauen unzufrieden sind und mit ihnen im Konflikt leben. Ihre soziale Situation ist oft prekär, besonders wenn sie aus Familien von Kleinbauern oder aus der Arbeiterschaft kommen. Das Selbstbewußtsein der Männer hängt stark vom beruflichen Erfolg, von ihrem Einkommen, ihrer Position, oder von der Größe des Landes, das sie besitzen und den Ernteerfolgen ab. Wir haben zuvor gesagt, daß eine „frauenfreundliche Seelsorge und Beratung" auch „männerfreundlich" sei, weil sie zu einem „gerechten Frieden" zwischen den Geschlechtern hinführen wolle. Carolyn Stahl Bohler benennt 10 Punkte, durch welche sich dies konkretisiert und die sich unseres Erachtens gut in ein ökologisches Seelsorgekonzept einfügen: - Zuhören; - innere Konflikte zwischen der Sorge für sich selbst und der für Andere erwarten, die besonders Frauen umtreiben können; - Widerstandsfähigkeit ebenso erwarten wie Verzweiflung, Erleichterung ebenso wie Schmerz; - die persönliche Verantwortlichkeit mit den Einflüssen des Systems ausbalancieren; - alle Aspekte in Betracht ziehen (ζ. B. ökonomische, politische und psychologische); - die Gottesbilder, die benutzt werden, wahrnehmen und ausweiten, denn die Gottesbilder stehen in einem Zusammenhang mit dem Selbstbewußtsein der Frauen; - die Autorität von Frauen wachrufen (und damit der Macht von Männern über sie Grenzen setzen und sie ermutigen, dies mehr und mehr selbst zu tun); - mit Familienmitgliedern gemeinsam und getrennt sprechen; denn in der Gegenwart von gewalttätigen Männern, Vätern oder Müttern, oder in 336

der Gegenwart von jemanden, der die soziale, emotionale, physische oder ökonomische Kontrolle über einen andern hat, ist es zunächst nicht möglich, offen zu sprechen; - Bilder und Metaphern gebrauchen. Im Sinne der Prävention ist es unerläßlich, weibliche und männliche Sexualität zu thematisieren und sexuelle Fragen mit Männern und Frauen in verschiedenen Phasen des Lebenszyklus zu diskutieren. Darüber hinaus ist es wichtig, bei allen Gemeindeaktivitäten zu bedenken, wie eine Aussage, Aktion etc. auf Frauen wirkt. 229 Mit Luther können wir die Zielvorstellung des „gerechten Friedens" zwischen Männern und Frauen noch etwas ausweiten. Der Reformator besaß die Kühnheit, zu hoffen, Männer und Frauen könnten „Freunde werden in Christus". 230 Das bedeutet: sie teilen die Freuden und Schwierigkeiten des Lebens in einer Beziehung, in der einer den anderen respektiert, trägt, versucht für ihn da zu sein, ihn aber auch herausfordert, kritisiert und ihm Grenzen setzen kann. Das impliziert eine Infragestellung und Relativierung männlicher und weiblicher Machtpositionen, ermutigt dazu, gemeinsam kreative Lösungen für die Beziehung zu finden, schließt aber auch ein, daß man seine Grenzen erkennt, das Versagen eingesteht und notwendigen Trennungen nicht im Namen eines sakrosankten Ideals der „christlichen Familie" im Wege steht.

8.3.5. Die ethische Perspektive Die ethische Perspektive von Seelsorge und Beratung war natürlich immer schon angesprochen, wenn wir von Macht und Beziehungsgerechtigkeit gesprochen haben. Ihr Ziel der „Hilfe zur christlichen Lebensgestaltung" ist unverkennbar „ethisch". 23 ' Wie konkretisiert es sich im kul229 Carolyn Stahl Bohler. Female-friendly pastoral care, 28-46. 230 Vgl. Gerta Scharffenorth. Den Glauben ins Leben ziehen: Studien zu Luthrs Theologie. München: Kaiser, 1982. 231 Jürgen Ziemer hat die „Dringlichkeit der Aufgabe" ethischer Orientierung in der Seelsorge pluralistischer Gesellschaften unterstrichen. Er fragt, ob es in ihnen vielleicht „gar keinen Wertewandel" gebe, „sondern nur einen Wertepluralismus, der die Orientierung erschwert und die einzelnen, wenn es wirklich darauf ankommt, eine ethische Entscheidung zu fällen, in krisenhafte Turbulenzen stößt" (Jürgen Ziemer. Ethische Orientierung als seelsorgerliche Aufgabe. In: Wege zum Menschen, 45, 1993, 389). Ziemer plädiert dafür, daß Seelsorge eine „ethische Struktur" besitze und daß es ihre „ erste" Aufgabe sei, ethische Kompetenz zu fördern. Im Vordergrund stehe nicht die Frage „Was soll ich tun?", sondern die Frage nach dem, was einen hindert, eine ethische Entscheidung zu treffen (ebd., 392). Seelsorgerinnen stehen vor der Aufgabe, ihr eigenes ethisches Konzept zu klären (Normethik, Gesinnungsethik, Verantwortungsethik) und ihr eigenes Erleben im Hinblick auf ein ihnen gestelltes ethisches Problem oder einen Problembereich bewußt wahrzunehmen, um nicht unterschwellig ihre Position zur Norm zu erheben. Die sekundäre Aufgabe der Seelsorge ist es, den ethischen Diskurs zu fördern, also orientierende Argumentationshilfen

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turellen Pluralismus? Seelsorgerinnen und Seelsorger werden mit praktischen Problemen konfrontiert, die alle mit der Frage zu tun haben, wie das Ethos einer partikularen Kultur und der Universalismus der christlichen Ethik zusammengehen können. Wir illustrieren das durch einige Beispiele: - Ein junger Mann aus Kamerun, der sechs Jahre in Deutschland gelebt und sein Studium abgeschlossen hat, meinte in einem Gespräch über weibliche Arbeitslosigkeit: „In Afrika haben die Frauen immer Arbeit, auch wenn sie nicht dafür bezahlt werden. Ich denke, daß die Frauen in den Haushalt zurückkehren und sich um die Kinder kümmern sollten, dann gäbe es weniger Arbeitslose". Später berichtet er, daß er sieben Monate mit einer deutschen Frau verheiratet war. Die Ehe sei geschieden worden, weil seine Frau nicht bereit war, wie die Frauen in Afrika zu leben. Dieser Mann universalisiert die Rollenerwartungen seiner Kultur und überträgt sie auf deutsche Frauen. Weder er noch seine Frau können einen ,modus vivendi' finden, der den Ansprüchen der Kultur des Anderen Rechnung trägt. - Eine Theologiestudentin begleitet ein 14 Jahre altes Mädchen, das im dritten Monat schwanger ist und in einem Heim für ledige Mütter einer brasilianischen lutherischen Gemeinde aufgenommen wurde. Gemeinsam mit der Schwangeren erwägt sie die Möglichkeit einer Abtreibung. Die von der Hausleitung vertretene ethische Norm ist, daß Abtreibungen ein für Christen nicht mögliches Vergehen gegen das Leben sind. Deswegen muß eine Frau, die abtreiben will, das "Wohnheim verlassen. Das Mädchen hat jedoch keinen Ort, wo es bleiben kann. Die Seelsorgerin, die eine andere Vorstellung von dem hat, was in dieser Situation christlich ist, weiß, daß sie das Vertrauen der Hausleitung verliert und ihre Arbeit unterminiert, wenn sie auf eine Abtreibung hinarbeitet. Die Universalisierung von partikularen moralischen Werten und ethischen Haltungen führt leicht zu kultureller Bevormundung. In den Kirchen werden die christlichen Grundwerte zum moralischen Maßstab für das Handeln anscheinend „diabolischer" Institutionen und für die Praxis der Seelsorge, die von den Betroffenen als Entmündigung empfunden werden kann und jedenfalls ein Machtfaktor ist. Umgekehrt kann das zu geben. Dazu muß sie auf „Leitkriterien zurückgreifen", die Ziemer im Anschluß an die Werte des konziliaren Prozesses definiert als Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung (des Lebens), und ein Modell ethischer Urteilsfindung entwickeln. Hier orientiert sich Ziemer an H.J. Tödt. Der ethische Diskurs in der Seelsorge ist letztlich jedoch nur sinnvoll, wenn er zur ethischen Entscheidung führt. „Wenn ich den Weg gegangen bin, die Entscheidungsmöglichkeiten sorgfältig geprüft habe, dann muß ich Ja sagen und zu handeln wagen. Seelsorge könnte gerade darin für Menschen heilvoll sein, daß sie dieses Ja bekräftigt und dabei ein gutes Gewissen macht - nach dem Diskurs, nicht vorher" (ebd., 397).

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Beharren auf einer kulturspezifischen Praxis von anderen als lebensverachtend oder als Übertretung der Menschenrechte angeprangert werden. Die Rechtsprechung nach dem Koran durch islamische Fundamentalisten wird im Westen als menschenrechtswidrig empfunden. Die islamischen Fundamentalisten verweigern sich ihrerseits der Idee einer universalen Geltung der Menschenrechte mit dem Argument, diese seien ein Ausdruck westlicher Dominanz und imperialer Ansprüche. Gerade auch die feministische Forderung nach gerechten Beziehungen zwischen den Geschlechtern wird im Islam als westlicher Kulturexport zurückgewiesen. Welche Kriterien haben wir in Seelsorge und Beratung, um uns zu orientieren? Das faktische Leiden, das von den Betroffenen mitgeteilt wird, ist ein wichtiges Argument. Wenn Frauen in einer patriarchalischen Kultur artikulieren, daß sie sich durch männliche Gewalt bedroht, verletzt oder beschädigt fühlen, wenn es um die körperliche Integrität oder ums nackte Uberleben von Menschen geht, dann ist für Christen Handlungsbedarf, zumal man davon ausgehen kann, daß diese Frauen nicht mit den patriarchalischen Normen übereinstimmen. Dennoch sollte man die ethische Argumentation nicht einfach durch ein „Notfallethos" suspendieren. Wir bleiben als Christen letztlich nur handlungsfähig und können Tendenzen zur Bevormundung einschränken, wenn wir über die Gründe unseres Handelns Klarheit besitzen. Wir plädieren dafür, die Spannung zwischen dem universalen und partikularen Aspekt der Ethik festzuhalten und beide kritisch aufeinander zu beziehen. Im Einzelfall kann dann gefragt werden: Entspricht die Regel des Verhaltens dieser Person der universalen Regel oder nicht. Umgekehrt kann eine Person fragen: H a t die universale Regel für mich in dieser Situation Geltung und was bedeutet sie konkret? Um welche Regel handelt es sich? Wir schließen uns hier an Gedanken von Johann Baptist Metz und Ernst Tugendhat an, die den Zusammenhang zwischen der universalen Ethik der Aufklärung und der christlichen Ethik zeigen. Metz erinnert daran, daß zentrale Werte der Aufklärung „Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit" aus der Traditionslinie des Christentums hervorgegangen sind. Die biblischen Uberlieferungen haben, herkommend von der „gefährlichen Erinnerung" an den Bund Gottes mit seinem Volk, an das Leiden und die Befreiung, eine „anamnetische Vernunft" herangebildet, eine Vernunft der Erinnerung an Gottes befreiendes Handeln in der Geschichte. Wer so denkt, setzt die Historizität gegen den Mythos, die Form des Wissens, das den Mangel wahrnimmt, gegen die universale Abstraktion des Piatonismus. 232 Der befreiende Aspekt der biblischen Überlieferung fällt also mit dem Freiheitsgedanken der Aufklärung zusammen. Dieser konkretisiert sich ethisch im katego-

232 Johann Baptist Metz. Para salvar a razâo. In: Ernildo Stein, Luis de Boni. Diatètica e liberdade: Festschrift em homenagem a Carlos Roberto Cime Lima, 263 ff.

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rischen Imperativ Kants, der besagt: die Prinzipien des individuellen Handelns sollen für die gesamte Menschheit Gültigkeit besitzen, und man soll die eigene Person und die Person des anderen niemals als Mittel benutzen, sondern stets als Zweck des Handelns auffassen. Nach H a bermas reformuliert die moderne „Diskursethik" den kategorischen Imperativ dialogisch. 233 Das heißt, oberstes ethisches Prinzip sind die Regeln des ethischen Diskurses, deren Geltung nur dann universalisiert werden kann, wenn sie von allen ohne Zwang angenommen werden, oder, so die konkretere Formulierung, wenn sie von allen am Diskurs Beteiligten akzeptiert werden. Durch dieses Verfahren fallen kulturell partikulare und universale Ethik im Idealfall zusammen. Das Problem des Gegensatzes wird im Diskurs überwunden. Tugendhat kritisiert an der Form der Diskursethik, daß sie in einem Zirkelschluß befangen ist, also die universale Geltung der Regel des „herrschaftsfreien Diskurses", die sie begründen möchte, schon voraussetzt. 234 Er setzt an ihre Stelle den Gedanken, daß man das moralisch „Gute" so formulieren kann, daß es für alle plausibel ist und den ethischen Relativismus überwindet, der sich auf moralische Konzeptionen beschränkt, die nur für bestimmte Gruppen gelten. Er findet die adäquate Formulierung des für alle plausiblen Imperativs in Kants Forderung, stets so zu handeln, daß wir niemanden als Mittel benutzen, sondern als Zweck. Für Tugendhat ist dies das Prinzip einer Ethik des universalen Respekts. Er bringt sie auf die Formel: „Instrumentalisiere niemanden" 235 . Im Christentum findet sich diese universale Ethik des gegenseitigen Respekts in der goldenen Regel (Mt. 7.12; Lk. 6.31). Alle begrenzt geltenden, kulturspezifischen oder privaten ethischen Werte und Haltungen, jede Situation moralischen Handelns muß sich an diesem universalen Maßstab messen lassen: Instrumentalisiere niemanden! Damit ist das kulturspezifische Ethos gerade nicht ausgeschlossen. Es wird allerdings an einem für die Vernunft plausiblen Kriterium gemessen. Dies schließt eine narrative Begründung der Werte, die handlungsleitend sind, nicht aus. Es ist davon auszugehen, daß in den verschiedenen Kulturen ganz unterschiedliche Werte und entsprechende Handlungsweisen in den großen Volkserzählungen, den Mythen, der religiösen Überlieferung und der Spruchweisheit begründet und als sinnvoll erachtet werden. Es kann sein, daß diese von einem anderen kulturellen Standpunkt her als unmenschliche Instrumentalisierung angesehen werden, von den Betroffenen aber nicht so empfunden werden. Die

233 Vgl. Jürgen Habermas. „Moralität und Sittlichkeit". Treffen Hegels Einwände auch auf die Diskursethik zu?. In: Wolfgang Kuhlmann (Hg.). Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, 18. 234 Ernst Tugendhat. Vorlesungen über Ethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 199X, (port Ausgabe S. 172 ff., 182s). 235 Ebd.

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Tatsache, daß etwa eine islamische Frau die Beschränkungen, die ihr das Recht des Koran auferlegt, als eine Lebensform verteidigen kann, die sie freiwillig übernommen hat und in der sie ihre Würde findet, kann ihrerseits schon das Resultat der Techniken der sozialen Macht sein, muß aber dennoch ernst genommen werden. Der interkulturelle Dialog kommt hier an eine Grenze, die wohl auch durch die Forderung des herrschaftsfreien Diskurses nicht übersprungen werden kann. Moralische Urteile und Entscheidungen im interkulturellen Dialog von Seelsorge und Beratung müssen auf alle Fälle im offenen Gespräch daraufhin untersucht werden, ob sie dem Minimalkriterium, niemanden zu instrumentalisieren, entsprechen. Christliche Wertvorstellungen beider Seelsorgepartner wie etwa die „Liebe", das „Dienen", die „Pflicht zur Vergebung" müssen in der konkreten Situation unter Beweis stellen, daß sich in ihnen die Ethik des Respekts ausdrückt, die für alle, also auch für die Christen als moralisches Minimum plausibel ist.

8.4. Das Modell der „terapia comunitària" als Beispiel für eine „ökologische Seelsorge" Seit mehr als 5 Jahren existiert im Nordosten Brasiliens, in einer Favela der Stadt Fortaleza im Bundesstaat Ceará, das Projekt der „terapia comunitària", einer therapeutischen Gemeinde, die beispielhaft zeigt, wie interdisziplinär arbeitende ökologische Seelsorge und Beratung in Lateinamerika gestaltet werden können. In dem Projekt Quatro Varas arbeitet der Psychiater Adalberto Barreto, Professor am Institut für Gemeindepsychiatrie der Bundesuniversität in Ceará, zusammen mit Studenten, einem Rechtsanwalt, Sozialarbeitern, Priestern und einer Vielzahl von natürlichen Heilern (curandeiros), Gesundbetern, Kräuterfrauen und -männern (raizeiros), Kunstgewerblern, Musikern und Künstlern in einem Projekt gemeindenaher Gesundheitsfürsorge zusammen, das durch vielfältige Angebote auf die Probleme der Favelabewohner eingeht. 236 Im Jahr 1996 hat die mit vielen Gruppen national stark vertretene Pastoral da Criança der katholischen Kirche die Equipe beauftragt, ausgehend von ihrem Arbeitskonzept, Gemeindetherapeuten (terapeutas comunitarios) auszubilden. Diese sollen über das ganze Land verstreut in ihren Gemeinden und Diözesen als Multiplikatoren wirken. Die Arbeit dieser Gruppe geht von folgender Analyse der sozio-kulturellen Situation in den brasilianischen Favelas aus: Die Migranten, die sich auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen in die Städte auf236 Vgl. Elaine Contini. Un psychiatre dans la favela. Rond. Les empêcheurs de penser en rond, 1995; Adalberto Barreto. Un movimiento ¡negral de salud mental comunitària en Fortaleza, Brasil. In: Temas de Actualidad. Bol. Oficina Sanit. Panam, 117(5), 1994, 453-465.

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g e m a c h t h a b e n , s t r a n d e n in d e n H ü t t e n a u s K a r t o n , W e l l b l e c h u n d H o l z . Sie l e b e n auf e n g s t e m R a u m z u s a m m e n , o f t 1 0 - 1 2 P e r s o n e n in e i n e r kleinen H ü t t e , ohne ausreichende Sanitäranlagen, o h n e Arbeit und o f t auch o h n e Essen. Beide Eltern sind tagsüber a u ß e r H a u s , die älteren K i n d e r p a s s e n a u f die j ü n g e r e n G e s c h w i s t e r a u f , b e t t e l n , s c h l i e ß e n sich schnell e i n e r G a n g a n . A l k o h o l i s m u s , D r o g e n s u c h t u n d G e w a l t s i n d w e i t verbreitet. „Die Passivität der Gesellschaft angesichts von so großem Leiden ist die schlimmste Gewaltausübung gegen das menschliche Wesen. Das Recht zu negieren, eine W o h n u n g zu haben, zu arbeiten und Zugang zur Gesundheitsversorgung zu haben, ist eine eklatante Form der Verweigerung des Rechtes auf ein soziales Leben. Das Individuum fühlt sich als Fremdkörper und wird als Ergebnis in seiner Existenz als soziales Wesen angegriffen. Es lebt f ü r sich und kämpft in erster Linie um das Überleben. Die Aggression, die seinen Körper verstümmelt, verstümmelt schließlich seine Seele und seine Identität. In diesem . . . Kontext fungieren das neue soziale und politische Leben (der Stadt (Vf.)) und die ökonomische Aktivität als Elemente, welch die kulturelle Identität angreifen, die personale Identität in Mitleidenschaft ziehen, Entgleisungen und Störungen des Gleichgewichts provozieren. D e m gegenüber lösen sie auch eine große kreative Anstrengung und einen großen Wunsch nach sozialer Integration aus, der in unzähligen religiösen Kulten oder Assoziationen zum Ausdruck kommt. Das Gefühl der Verlassenheit und der Ungerechtigkeit und das Gefühl, ein G e f a n gener der Ereignisse zu sein bewirken, d a ß große Energien in die Abwehr gegenüber der Idee investiert werden, durch okkulte Kräfte oder Geister besessen zu sein. In diesem Sinne spricht der ,encosto', diese populare Form der Besessenheit, vom Verlust der vitalen Freiheit, vom Verlust der Autonomie und dem Zustand der Abhängigkeit vom Anderen, vom sozialen D r u c k in der Urbanen Welt." 237 D i e D e k o n s t r u k t i o n d e r sozialen Bindungen beschädigt die kulturelle u n d persönliche Identität. D i e religiöse G e m e i n s c h a f t w i r d z u m Z u fluchtsort, in d e m d i e M e n s c h e n ein G e f ü h l d e r s o z i a l e n Z u g e h ö r i g k e i t rekonstruieren. Auf d e r G r u n d l a g e dieser Analyse verfolgt das P r o j e k t d e r „ t e r a p i a c o m u n i t à r i a " f o l g e n d e Ziele: 237 „La pasividad de la sociedad frente a tanto sufrimiento es la peor de las violencias contra el ser humano. Negar el derecho a tener una casa, a trabajar y tener acceso a la salud es una forma contundente de negar el derecho a la vida social. El individuo se siente un cuerpo extraño y resulta afectado en su existencia como ser social. Vive para si y lucha sobre todo para sobrevivir. La agresión que mutila su cuerpo finalmente mutila su alma y su identidad. En este contexto . . . la nueva vida social y política y la actividad económica funcionan como elementos agresores de la identidad cultural, afectan la identidad personal y provocan desajustes y desequilibrios. No obstante, también desencadenan un esfuerzo creativo y un gran deseo de integración social expresado en innumerables cultos religiosos o movimientos asociativos. El sentimiento de abandono e injusticia y la sensación de ser prisionero de los acontecimientos hacen invertir grandes energías en la defensa frente a la idea de estar poseído por fuerzas o espíritos ocultos. Quizá el encosto, esa forma popular de posesión, hable de la pérdida de la libertad vital, de la pérdida de autonomia y del estado de dependencia del otro, de las presiones sociales del mundo urbano" (Ebd., 455).

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- Valorisierung der traditionellen kulturellen Institutionen, welche das Wissen des Volkes und die kulturelle Identität bewahren; - Wiederherstellung der sozialen Bezüge zur Prävention der Desintegration der Individuen; - Vermeidung des sozialen Ausschlusses der Ärmsten in Situationen der sozialen und kulturellen Entwurzelung durch die Suche nach sozialer und kultureller Wiedereingliederung; - Berücksichtigung der kulturellen Eigenart im gesamten Therapieprojekt; - Wiederherstellung der Popularkultur ausgehend von den unterdrückten Elementen der kollektiven Erinnerung und der Reaktualisierung indianischer Mythen in der brasilianischen Kultur; - Durchbrechen der Schranke, die das akademische Wissen vom Wissen des Volkes trennt und Zusammenarbeit der modernen Psychiatrie mit den popularen Heilungstraditionen. 238 Die terapia comunitaria setzt auf die heilende Wirkung der Integration in das soziale Netzwerk und der Rückbindung an die kulturellen Wurzeln des Volkes. Das Projekt „Quatro Varas" arbeitet in verschiedenen Gruppenaktivitäten, die alle miteinander vernetzt sind. Familienmitglieder in akuten Krisen können vorübergehend in einem Haus Zuflucht suchen, in dem sie sich selbst ernähren und an den therapeutischen Aktivitäten teilnehmen. In einem Zentrum zur Verteidigung der Rechte von Kindern und Jugendlichen nehmen täglich bis zu 50 Kindern im Alter von 6-12 Jahren an Kursen teil (Nähen, Werken, Malen, Gartenbau usw.), die durch die wechselnden Partnerschaften ihrer Eltern in ihren Familien marginalisiert sind und zu Straßenkindern werden können. Ein Rechtsanwalt bietet im „Zentrum für Menschenrechte" Rechtsberatung an und kümmert sich mit einer Equipe darum, den Ratsuchenden in Rechtsstreitigkeiten Orientierung zu geben und bei Behördengängen zu helfen. Es existiert ein Zentrum für „Kunsttherapie" mit Jugendlichen, die durch den Verkauf ihrer Arbeiten (bemalte Postkarten . . . ) Einnahmen erzielen und damit lernen, sich aktiv am Wirtschaftsleben zu beteiligen. In einem Kräutergarten werden professionell Heilkräuter angebaut und in einem dafür eingerichteten Laboratorium getrocknet, verpackt oder zu Naturheilmitteln verarbeitet. Das Projekt bietet Raum für kulturelle Begegnungen, in denen die entwurzelten Favelabewohner zum Beispiel von Indianergruppen aus dem Landesinneren besucht werden und sich um die Erinnerung an die Mythen und das Volkswissen ihrer indianischen oder afrikanischen Ahnen bemühen. Die körperliche Berührung hat in der brasilianischen Kultur große Bedeutung. Darum gehört zu dem Projekt ein „Casa da Cura", ein „Haus der Heilung", in dem Massagen verabreicht werden. Die große Mehrheit dieser Dienstleistungen wird durch Bewohner der Favela selbst geleistet, die sie

238 Ebd., 456 f.

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zuvor einmal selbst in Anspruch genommen und dann erlernt haben, oder die ihre Begabung der Gemeinde zur Verfügung stellen. Das Herzstück dieser therapeutischen Gemeinde bildet die einmal wöchentlich am Nachmittag stattfindende systemische Großgruppentherapie, in der sich etwa 70 Menschen zusammenfinden. Ihr liegt das systemische Konzept der Kurzpsychotherapie zugrunde, das von Watzlawick und anderen in Palo Alto entwickelt wurde, und von Barreto in einem Gruppenverfahren angewendet wird. Die Arbeit ist streng problemorientiert. Die therapeutische Aktivität liegt bei der Großgruppe, deren Mitglieder durch die Erzählung ihrer eigenen Erfahrungen mit dem Problem, durch Lösungsvorschläge, durch den Ausdruck von Solidarität mit den Hilfesuchenden, durch gemeinsames Singen und die Erinnerung an Volkserzählungen oder Weisheitsregeln den sozialen und emotionalen Zusammenhang stärken. Die Therapie folgt den Prinzipien der Partizipation, der Bewußtmachung und der Veränderung.239 Die Therapeuten sind im Grunde genommen Animateure des Gruppenprozesses. Deswegen können auch Laien, das heißt Bewohner der Favela, die die Situation kennen, zu terapeutas comunitarios ausgebildet werden. Sie motivieren dazu, sich zu äußern, strukturieren das Gespräch, fassen zusammen und konfrontieren verschiedene Narrativen oder Lektüren der Wirklichkeit miteinander. Die Probleme, die hauptsächlich in die Großgruppe eingebracht werden, sind: Alkoholismus, Gewalt, Selbstmordversuch, nervöse Störungen, Ehekonflikte, Verlassenheit, sexueller Mißbrauch, Depression und akute psychotische Krisen.240 Eine Großgruppensitzung verläuft in 6 Etappen241: 1. Der Empfang. Die Gruppe findet sich zusammen, wird begrüßt. Durch Musik wird ein angenehmes Klima geschaffen. Die Therapeuten geben einige Grundinformationen: schweigend Zuhören, wenn andere reden; von den eigenen Erfahrungen sprechen; keine Ratschläge geben; jeder kann unterbrechen, um ein Lied vorzuschlagen, einen Weisheitsspruch oder einen Witz zu erzählen, der mit dem Thema zu tun hat. 2. Auswahl des Themas: Der Therapeut fragt, wer sich zu Wort melden möchten, um von einem Problem zu sprechen, unter dem er leidet. 3. Kontextualisierung. Durch Fragen werden mehr Informationen über das Problem und den Kontext, in dem es entstand, gewonnen (Familiensituation, Anzahl der Kinder, Geschichte des Problems ...).

239 Ebd., 462. 240 Ebd., 460. 241 Der Verlauf der Gruppenarbeit ist beschrieben in: Adalberto «Barreto. Manual do terapeuta comunitàrio da pastoral da crianca. Fortaleza: Movimento Integrado de Saúde Mental Comunitària, Universidade Federal do Ceará - Departamento de Saúde Comunitària, maschr., 1997, 9. 344

4. Problematisierung. Der Therapeut fokussiert das Thema durch die Formulierung einer Schlüsselfrage. Dabei kann er es auf verschiedenen Ebenen problematisieren (Ebene des Individuums, der Familie, der Gemeinde, der Gesellschaft). Er bittet um Kommentare und Antworten auf die Schlüsselfrage (mote) und hilft der Gruppe zu einer vertieften Reflexion. Er notiert die wichtigsten Antworten, um sie am Schluß zusammenfassend an die Gruppe zurückzugeben. 5. Abschluß: Aggregationsriten und positives Feedback: Der Therapeut schafft ein positives affektives Klima (Aufstehen, sich an den Händen fassen, um ein Netz zu bilden, Singen . . . ) , in dem sich die Gruppenmitglieder aufgehoben fühlen. Er lädt beispielsweise diejenigen, die von ihren Problemen gesprochen haben ins „Boot" ein, eine am Boden liegende Matratze, und bittet Freiwillige aus der Gruppe, sich zu ihnen zu setzen und sie zu berühren. In diesem warmen und offenen Klima faßt er die positiven Aspekte dessen, was die Gruppe zum Thema gesagt zusammen. Barreto beendet die Sitzung regelmäßig mit einem Gebet, in dem er noch einmal wichtige Aspekte des Themas aufgreift. 6. Auswertung. Die Equipe der Therapeuten, die die Sitzung geleitet hat, wertet den Gruppenprozeß aus. Sie sucht Antworten auf die Fragen: Wie wurde geleitet? Welche Schwierigkeiten haben die Einzelnen empfunden? War die Schlüsselfrage gut oder gäbe es bessere? Wie war die Musik und die Lieder? Was kann in der nächsten Sitzung besser gemacht werden? Bemerkenswert ist der große Stellenwert der Religion in der Therapie und die Offenheit für Beiträge aus verschiedenen christlichen und nicht christlichen religiösen Gruppen. Ein wichtiges Moment der Therapie ist die Infragestellung kurzschlüssiger religiöser Erklärungen (Der Mann trinkt, weil er nicht an Gott glaubt). Barreto hat in der Kultur des brasilianischen Nordostens eine Tendenz beobachtet, stets einen Schuldigen für das Problem zu finden, die Schuld zu verschieben und dabei die Einwirkung übernatürlicher Kräfte für selbstverständlich zu halten. 242 Dieses interdisziplinäre Modell der „Gemeindetherapie" verwirklicht in mustergültiger Weise die von uns entwickelten Aspekte ökologischer Seelsorge und Beratung in Lateinamerika. Es wurde als Projekt der Gemeinwesenarbeit und der Gemeindepsychiatrie entwickelt, muß also modifiziert werden, wenn es als diakonisches Projekt einer Kirchengemeinde realisiert wird. Dennoch wird seine leitende theologische Perspektive, die Erzählung von der „Brotvermehrung" (Mt. 15.32-39) durch das Teilen in der Gemeinschaft, sich durchhalten lassen.243 Dabei müssen kulturelle Unterschiede ebenso beachtet werden, wie die Schwierigkeiten, die viele Ge242 Interview von Valburga Schmiedt Streck mit Dr. Adalberto Barreto am 19.7.1997 in Fortaleza, abgedruckt in: Valburga Schmiedt Streck. Terapia familiar, 375 ff. 243 Ebd., 160.

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meinden mit dem religiösen Synkretismus haben. Er bietet eine Möglichkeit zur Arbeit in ökumenischer Offenheit. Gerade dies wird jedoch von vielen Christen als bedrohlich und als eine Verwässerung ihrer konfessionellen Identität und Zugehörigkeit erlebt. Ein anderer kritischer Punkt ist das Fehlen der Perspektive der geschlechtlichen Identität. Vorwiegend Frauen lassen sich zu „terapeutas comunitários" ausbilden. Sie bleiben damit in der „fürsorglichen" Rolle. Es wird notwendig sein, auch die Männer zu gewinnen, deren Identität durch das Leben in der Favela oft noch stärker fragmentiert ist als die der Frauen.244 Nicht überall ist es kulturell angebracht, in der Großgruppe zu arbeiten, also an so etwas wie die „Stammeskultur" anzuknüpfen. Das Verfahren der terapia comunitària kann auch in kleineren Gruppen angewendet werden.

244 Ebd., 161.

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Namenregister Ablon, J. 203 Aborígenes 254 Acre 62 Adam 282 Afrika, Afrikaner, afrikanisch 15, 17, 162, 164, 168 f., 250, 338 Afro-Amerikaner 114, 167, 172 ff., 229, 233, 236 ff., 259 Alberto 335 Alinsky, Saul 230 Almeida, Maria Suley K. de 76 Altmann, Walter 114 Alvarez, Pater Goncalvo 96 Amazonien 58, 62 American Psychological Association (APA) 162 Ana 328 Andenvölker 252 Andersen, Tom 183 f., 193 Anderson, Carol 191 Anderson, Harlene 183, 193 Anonyme Alkoholiker 308 Aponte, Harry J. 192 f., 236 Argentinien 60 Aristoteles 128, 130, 331 Asien, asiatisch 17, 161 ff., 165, 168 f. Assmann, Hugo 270 Augsburger, David W. 24, 151 Augustinus, Aurelius 120, 256, 331 Auschwitz 19 Ayala, Felipe Guarnan 96 Aymara 69

Belau 208 Belém 101 Berenson, David 309 Berg, Daniel 101 Berger, Peter L. 92 Bertalanffy, Ludwig 185 Bethlehem 17 Billman, Kathleen D. 324 f. Black, Mary R., 40 Blakeslee, Sandra 213 Bloch, E m s t 242 Blumenau 62 Boas, Franz 36 Boff, L. 267, 280, 311, 251, 253 ff. Bograd, Michele 191 Bohler, Carolyn Stahl 321 Boisen, Anton T. 261 Boni, Luis de 339 Bosch, Marcela 331 Bowen, Murray 177, 235 Bowlby, John 219 Boyd-Franklin, Nancy 229, 233 ff. Brandao, Carlos Rodrigues 20 Brandt, Hermann 304 Brasilia 62

Bacon, Francis 249 Bales, Robert F. 186 Bandeirantes 60, 76 Barreto, Adalberto 306 f., 341 ff. Barth, Karl 89 f., 97, 242, 282 Baske, Baskin, Baskenland 22, 207 Bastian, Jean Pierre 100 Bateson, Gregory 186, 193, 224, 302, 308

Brasilianer, Luso-Brasilianer ( = portugiesischer Abstammung) 328 Brasilien 5, 13, 15, 30, 53, 60 ff., 75, 83, 93, 101, 184, 200, 205, 207, 208, 209, 237 f., 250, 263, 266, 270 ff., 307, 326, 332 Brasilien, Nordosten 97, 102, 104, 250, 307, 341, 345 Brasilien, Südbrasilien 5, 53, 60, 83, 104, 246 Bronfenbrenner, U. 211, 236 Browning, Don 262 Brueghel, Pieter 17 Brum, Eliane 331 Bruner, Jerome 130 f. Buenos Aires 67 Butler, Katy 308

Baudelaire, Charles 130 Baumann, Urs 233 Beck, Ulrich 290 ff. Beck-Gernsheim, Elisabeth 290 ff.

Caldeirao 98 Cámara, Dom Helder 108 Campbell, G.D. 210

369

Campinas 261 Canclini, Nestor Garcia 56 f., 63 ff. Càndido, Antonio 76 Canudos 98 Cardec, Alain 15, 259 Cardenal, Fernando 118 Carmichael, St. 229 Carolina 329 Carter, Betty 197 ff., 213, 218 Casaldaglia, Pedro 307 Casas, Bartolomé de las 98 Castro Santos, Luiz Α. 270 Ceará 341 Chiapas 69 Chicago 230 Childs, Brian 282 Chimborazo 102 China, Chinesen, chinesisch 179, 207 Chodorow, Nancy 169 Cirese Alberto M. 56 Cime Lima, Carlos Roberto 339 Clarkin J.F. 239 Clinebell, Howard 249, 262 f. Colapinto, Jorge 189 Colston, Lowell 17 Comas-Diaz, Lilian 168 Comblin, José 108, 112, 118 Contestado 98 Contini, Elaine 341 Correa, Mariza 76 Couture, Pamela D. 34, 247, 263, 320, 322 f. Cross, William E. 172 f. Criisemann, Frank 282 Damen, Frans 68 David, Dan 308 DDR 91 Derrida, Jacques 71 Descartes, René 249 Deutschbrasilianer 61, 76, 84, 87, 104 f., 260, 328, 334 f., 336 Deutschland, Deutsche, deutsch 5 f., 93, 202, 213, 247, 329 Devereux, Georges 23 Diaz, Joao 270 Draguns, Juris G. 160 Dreher, Martin 61 Dussel, Enrique 73 Duszynski, D.R 198 Eco, Umberto 140 Eisenbruch M. 218 El-Islam, M.F. 212

370

Elkaim, Mony 201 Engels, Friedrich 36 Epston, David 5, 33, 183 f., 194, 196 f., 302 f. Equador 99, 102 Erdmann, Eva 316 Erickson, Milton 197, 301 Erikson, Erik H. 170, 197, 287 Espin, Oliva 168 Espirito Santo 5, 104 f., 108 Europa, europäisch 6, 15, 28 f., 53 ff., 60 f., 77, 94, 162, 215, 220, 261, 304, 321 Europa, Osteuropa 215 Europa, Westeuropa 15, 22, 220 Eva 282 Federschmidt, Karl H. 245 Fetter, Marco A. 331 Fhagen-Smith, Peony 172 f. Filipp, Sigrun Heide 199 Fisch, Richard 177, 301 Fishman, Charles H. 190 Fonseca, Claudia 81 Fortaleza 341, 345 Foucault, Michel 54, 70 f., 194 f., 256, 312, 316,f 341, 345 Fowler, James 280, 287 Franz 335 Franzose, französisch 22 Freire, Paulo 20, 230 Freud, Sigmund 261, 299 Freyre, Gilberto 61, 75 Friedman, Edwin H. 286 f. Fromm, Erich 261 Fromm-Reichmann, Frieda 224 Füllkrug-Weitzel, Cornelia 89 Furniss, George M. 247, 312 f. Furniss, Tilman 210 Gadamer, H. G. 23, 141, 262, 278 Gaia 252 Gama, Elizabeth 168, 170 Gaucho 58, 60, 61 Geertz, Clifford 20, 41 ff., 45, 51, 130, 143, 158 Gergen, Kenneth 132, 184 Gerkin, Charles 262, 278 Ghana 226 Gielen P. 222 Gilligan, Carol 171, 197 Giordano, Joseph 177 f., 180 Glick, I.D. 239 Goethe, Johann Wolfgang von 94

Goldberger, Nancy Rule 155 f., 160, 163, 168, 182, 225, 228 Goodenough 39 f. Goolishian, Harold 183, 193 Grabner, Wolf Jürgen 92 Graf, Friedrich Wilhelm 89 Graham, Larry Kent 34, 247, 261 f., 267 ff., 320 Griechenland, Griechen, griechisch 17, 205, 215 Grözinger, Albrecht 242 f. Guatemala 67 f. Gurman, Alan S. 189 Gustavo 334 Gutierrez, Tomás 99 Habermas, Jürgen 70 f., 340 Hadley, T. 198 Haley, Jay 177, 224, 234, 301 f. Hans 335 Hansen, Sunny 168, 170 Harlem 185 Harnack, Adolf von 90 Harris, Marvin 37 f. Harwood, A. 218 Hawaii 182 Heisenberg, Werner 254 Herder, Johann Gottfried 36 Herdt, G. 218 Herms, Ellert, 94 Herriger, Norbert 229 ff., 290 f., 297 Herz Brown, Fredda 213, Fredda 218 Hester, Richard 263 Hiltner, Seward 17 Hinduismus, hinduistisch 221, 222 f. Hoch, Lothar Carlos 266 f., 311 Hoffman, Lynn 183, 201 f. Holanda, Sérgio Buarque de 76 Holmes, T.H. 198 Homann, Harald 91 Honigman, John J., 40 Hopi 223 Houston/Texas 308 Hsu, Jung 178, 182, 203, 207, 209 f., 212, 227, 239 f. Hund, Gary S.271 Hunsrück 5, 61 Hunter, Rodney 34, 247, 320 Husserl, Edmund 244 Ibrahim, Farah A. 163 Indien, Inder, indisch 179, 207, 245 Ines 328 Ingolsby, Born B. 73 f.

Inka 96 Institute of Religion 308 Irland, Iren, irisch 178, 181, 203, 205 Islam, islamisch 22 f., 212, 222 Italien, italienisch 61, 76, 179, 181, 202, 205, 209, 212 Jablensky, A. 225 Jackson, Don 224 Jakobson, Roman 40 Japan, japanisch 202 f., 205 Jesus Christus 17, 26, 31, 90, 98 ff., 110, 113, 106, 121, 123 f., 133 ff., 136 f., 141, 147 f., 150, 253, 276 f., 278 f., 279, 283, 331 Johannes Paul II. 111 Jones, Hugh O. 135 Jonker, Gerdien 221 Josuttis, Manfred 243 f. Judentum, Jude, jüdisch 17, 27, 89, 215, 205, 222, 246, 277 f. Jung C.G. 254, 308 Jüngel, Eberhard 139, 253 Kahler, Martin 141 Kamerun 338 Kant, Immanuel 94, 340 Karibik 102 Karle, Isolde 33 f. Kazaren 112 Keesing, Roger 38 Keller, Catherine 322 Keller, James F. 309 Kelley, William H. 37 Kessler, D.R. 239 Keung Ho, Man 182 Keupp, Heiner 292 Kirst, Nelson 100 Kleinman, Arthur 160, 225 f. Kiessmann, Michael 256 Klopstech, Angela 257 Kluckhohn, Clyde 35, 37 Kniskern, David 189 Koenig, Harold G. 93 Kohlberg, Lawrence 171 Kohler Riessman, Katherine 128, 131 Kolumbien, kolumbianisch 58 König, René, 37 Korse, Korsin 22 Korsika 207 Körtner, Ulrich 139 ff. Krappmann, L. 293 Kroate, Kroatin 22 Kroeber 35

371

Kuba, Kubaner, kubanisch 182 f., 212 Kuhlmann, Wolfgang 340 Kurde, Kurdin 22 Kurtines, William M. 182 f. Kyrill 111 Lacan, Jacques 242 Laframboise, Teresa D. 154, 162 Lämmert E. 132 Landrine, Hope 163 Laporta V., Héctor 99 Laraia, Roque de Barros 36, 38 Lateinamerika, lateinamerikanisch 6, 17 ff., 30, 31 f., 53, 55, 60, 63, 65, 88, 93, 98, 101 f., 104, 106, 123, 138, 163 ff., 168 f., 202, 207, 210, 227, 332 Laungani, Pittu 221 Leipzig 91 f. Lévi-Strauss, Claude, 40 f. Lewis, Oscar 77 f. Li Fang 212 Lidz, Theodore 224 Liebau, Irmhild 256 f. Liebsch, Katharina 169 Link, Christian 135, 256 Llamas, Robert 271 Löwen, Alexander 257 Luhmann, Niklas, 34 Luther, Henning 242, 247 Luther, Martin 284, 337 Lydia 329 Macedo, Edir 101 MacFadden, John 16 Madge Ν. 211 Mahan, Jeffrey Howard, 59 Malinowski, Bomislaw 37 Marco 335 Marcos, Subcomandante 68 Maria 253, 328 Marquez, Gabriel Garcia 304 Martyr Justinus 109 Maruyama 25 Marx, Karl 36 Maslow, Abraham 308 Mato Grosso 62, 86 Matthes, Jochen 95 Maturana, Humberto 45, 47, 49 f., 142, 148, 293 Maya 67 f. McFague, Sally 128 f., 133 f. McGoldrick, Monica 177 ff., 180 f., 191, 197 ff., 205, 207, 212 f., 218, 222 Mclntyre, Alasdair 131

372

McNamee, Sheila 184 Medellin 112 Mekka 222 Mello, Manoel de 101 Mental Research Insitute 193, 301, 308 Mestizen 114 Methodius 111 Mette, Norbert 316 Metz, Johann Baptist 137 f., 277, 339 Mexiko, Mexikaner, mexikanisch 65, 67, 77, 93, 102, 179, 216 Mikronesien 208, 211 Miller, J.B. 197 Miller-McLemore, Bonnie 322 f. Minuchin, Salvador 5, 33, 177, 185 ff., 189 f. Miranda, Davi 101 Moessner, Jeanne Stevenson 34, 322 f. Möller, Christian 247 Monk, Gerald 195 Moreno Olmedo, Alejandro 70 f., 73, 333 Mozart, Wolfgang Amadeus 35 Müller, Hans Martin 89, 94 Nichols, Michael P. 186, 191, 194, 228 Nietzsche, Friedrich 316 Nigeria 226 Nóbrega, Manuel de 96 Nordamerika, nordamerikanisch (siehe: USA) 17, 19, 30, 101, 168, 177, 183, 200, 202 f., 207 f., 214, 216, 220, 312 Norwegen, Norweger, norwegisch 179 Nossa Senhora Aparecida (Nationalheilige Brasiliens) 333 O'Sullivan, M.J. 162 Ogbu, John U. 166 Oliver 334 Olson, David C. 300 Otto, Gert 248 f. Oxalá 307 Pacha Mama 252 Pakistan, Pakistani, pakistanisch 179 Palästina 17 Palo Alto 193, 224, 301 f., 344 Papajohn, John 180 ff. Pará 58, 101 Paraná 5, 62 Parkes, Colin Murray 218 ff., 222 Parsons, Talcott 185 f., 313 Pattison, Mansell E. 271 Pattison, Stephen 26, 314 Patton, John 18 ff., 281 f.

Paulus 232 Pearce, John K. 177 f., 180 Pedersen, Paul B. 154, 160, 162, 172 Pepper, Stephen 128 Peresson Tonelli, Mario L. 56 f. Perls, Fritz 258 Peru, peruanisch 96, 100 f. Petzold, Hilarión 258 Philadelphia Child Guidance Center 185, 193 Philippinen 208 Piaui 270 Pinderhughes, E. 229, 233 Piatonismus 339 Pohl Patalong, Uta 269, 292 ff., 296 Polen, polnisch 61, 76 Poling, James Newton 314 Pommern 5, 61, 104 Porter, Richard E. 35 Porto Alegre 29, 81, 331 Portugal, Portugiese, portugiesisch 75 f., 223 Powell, A.C. 229 Pravder Mirkin, Mascha 191 Prest, Layne A. 309 Prien, Hans Jürgen 61, 98 Prilleltensky, Isaac 224 f., 228 Puebla 102, 112 Puerto Rico, Puerto Ricaner, puertoricanisch 179, 191, 212, 216, 223 Quatro Varas (Projekt der Gemeindepsychiatrie) 343 Quechuas 102 Quito 68 Rack, Philip 226 f. Radcliffe-Brown 37 Rahe, R.H. 198 Ranke, Leopold von 94 Reich, Wilhelm 257 Reyes Novaes 102 Ribeiro, Darcy 61 Ricoeur, Paul 129 f., 139 Rio de Janeiro 62, 258 Rio Grande do Sul 5, 81, 331 Rita 328 Ritsehl, Albrecht 89 Ritsehl, Dietrich 135 Rodrigo 334 Rogers, Carl 151, 193, 261 Rom, Römer 17 Rondônia 62, 86 Roraima 58

Rosa 329 Rosenblatt, Paul C. 219 f., 222 Rothe, Richard 89 Ruiz, Rubén 99 Russe, Russen 76 Rutter, M. 211 Salvador da Bahia 88 f., 96, 119, 121 f., 125 f., 258 Samowar, Larry A. 35 Santa Catarina 5, 62 Santo Domingo 112, 115 Santos, Catalina 99 Säo Bernardo de Campo 312 Sào Leopoldo 29, 312 Sao Paulo 62, 78, 270 Sarbin, Theodore R. 128, 131 Sardinien 207 Sarti, Cynthia Andersen 78 Sartorius, Ν. 225 Saussure, Ferdinand de 40 Scharffenorth, Gerta 337 Scheinkman, Michele 191 Schleiermacher, Friedrich Daniel 89, 139 Schmidt Rost, Reinhard 314 Schmidt, Ervino 114 Schmidt, Siegfried J. 45, 49, 143 Schmidt-Kowarzik, Wolfdietrich 36, 40 Schmiedt Streck, Valburga, 5 ff., 74, 76, 82, 84, 185, 188, 213, 287, 331, 345 f. Schmitz, Hermann 244 Schneewind, Klaus A. 210 f., 282 Schneider-Harpprecht, Christoph 96, 154, 186, 213, 257, 287 Schreiter, Robert J. 143, 145 Schröer, Henning 132, 135 Schwaben 22 Schwartz, Richard C. 98, 186, 191, 194, 228

Sebastian 98 Segundo, Juan Luis 264 Serbe, Serbin 22 Seyferth, G. 61 Shapiro, Ester S. 218 f. Shazer, Steve 231 f., 299, 302 Shorter, Aylward 108 Shweder, Richard 156 f., 218 Sierra Norte 102 Simon, Fritz B. 149 Singer, M. 203 Skandinavien 202 Slaven 111 Smith, Archie 262 Snorton, Teresa E. 323

373

Solomon, Barbara 229 Solomon, Michael 197 Sonia 328 Spanien, Spanier, spanisch 22, 32, 96, 178 f., 203, 207, 215, 217, 223 Spiegel, John 180 ff. Stabenau, J.R. 203 Stahl Bohler, Carolyn 337 Stein, Ernildo 94, 277, 339 Steinkamp, Hermann 256, 316 f. Stigler, J. 218 Sue, David 159, 163, 172 ff. Sue, Derald Wing 159, 162, 172 ff. Suess, Paulo 21, 114 ff. Sundermeier, Theo 148 f. Szapocnik, José 182 f. Szasz, Thomas 224 f. Tacke, Helmut 247 Tenbrock Friedrich H. 95 Thiel, Josef Franz 37 Thies, Bernard 207 Thomas, C.G. 198 Thyen, Hartwig 282 Tillich, Paul 32, 136, 141 Tocantins 58 Tracy, David 135 ff. Trimble, David M. 274 Troeltsch, Ernst 89, 94 Trotman Reid, Pamela 168 Tseng, Wen Shing 178, 182, 203, 207, 209 f., 212, 227, 239 f. Tugendhat, Ernst 339 f. Tupi 96 Türkei, Türken, türkisch 22 Turner, Victor 286 Tylor, Edward Burnett 36 Ulich, Dieter 199 USA 6, 15, 28, 65, 154 f., 159, 161, 182 f., 205, 207, 261, 262 f., 270,

374

67, 73, 84, 93, 167, 177, 179, 181, 212 f., 217, 233, 247, 320

Vânia 328 Varela, Francisco 45, 148, 293 Vargas, Getúlio 61 Venezuela 58, 70 f. Vereinte Nationen 74 Verissimo, Erico 61 Veroff, Jody Bennett 155 f., 160, 163, 168, 182, 225 Vigil, José Maria 307 Vingreen, Gunnar 101 Wagner, Richard 35 Wagner, Roy 41 ff. Waidenfels, Bernhard 142, 146 f., 244 Walker, Leonor 331 Wallerstein, Judith S. 213 Walsh, Froma 191, 198 Walter, Tonz 221 Watzlawick, Paul 177, 301, 344 Weakland, John 177, 224, 301 Weber, Max 41, 103, 244, 313, 316 Weimer, Martin 316 Weiß, Helmut 245 Weiß, Johannes 94 Weltgesundheitsorganisation (WHO) 225 Westfalen 5, 61 Westhelle, Vítor, 53, 137 White, B.L. 166 White, Leslie, 38 White, M. 196 f. White, Michael 5, 33, 183 f., 193 ff., 196, 302 f. Whitehead, Alfred North 252 Wiltwyck School 185, 191 Winkler, Klaus 246 Wittgenstein, Ludwig 42 Woortmann, Ellen F. 83 f. Wynne Lymann 224 Yoruba 226 Zentralamerika 67, 102 Ziemer, Jürgen 337 f. Zwetsch, Roberto 96, 98

Sachregister Abendmahl 138, 310 Ablösung von den Kindern 213 ff. Abschied 219 ff. Abtreibung 81, 116, 207, 338 Aconselhamento Pastoral 312 Adoleszenz 81, 182, 183, 199 f., 211 ff., 227 Adoption 81 f., 198, 206 Afrikanisch 121, 163, 168, 169, 306, 343 Afroamerikaner 59, 117, 154, 159, 161, 168, 172, 178 f., 191, 210, 217, 315 Afrobrasilianer 15, 21, 60, 74, 329 Afrobrasilianische Kulte 259, 305 Afro-karibisch 121 Afro-lateinamerikanisch 121 Aggression/Aggressivität 203, 210, 342 (siehe: Gewalt) Ahnen 84, 164, 179, 305 f., 343 Ahnenkult 97, 259 AIDS 82, 335 Akkulturation 102, 106 f., 110, 117, 152, 179 Alkoholismus 79, 99, 160, 202 f., 274, 300, 304, 325, 328, 331, 342, 344 Alleinerziehende 211 Alleinstehende 189, 202, 213 f., 273 f. Alltag, Alltagsleben 28, 63, 77, 79, 100, 102, 128, 133, 172, 204 f., 246, 251, 277 Alltagsseelsorge 242 Alter 199 f., 213, 215 ff., 228, 273, 296, 319, 322, 330 Alterität 115, 117 Alterozentrismus 114 Amt 25 f., 152 314 Analogia fidei 90 Andenvölker 99 Anderer, d e r / d i e Andere 21 f., 23, 115, 117, 123, 139, 142, 144, 146 ff., 242, 276 f., 279 f., 283, 332 Angst 13, 23, 96, 118, 173, 199, 207, 213, 259, 294 ff., 327 Anomie 292 Anthropologie 36 f., 40 f., 115, 127, 157, 157 f., 252 Anthropologie, interpretierende 41 ff., 51

Antipsychiatrie 224 Applikation 140 Arbeiterpriester 104 Arbeitslosigkeit 62, 64, 165, 188 f., 200, 202, 276, 300 Arme 59, 99, 114, 117, 151, 168 f., 169, 184, 258, 263, 266, 304 Arme, Option für Armen 21, 112, 116 f., 279 Arme, Rechte der Armen 117 Armut 28 f., 62, 77 ff., 84, 103, 117, 150, 159, 168 f., 192, 195, 199, 202, 210, 215, 216 f., 250, 258, 260, 269, 273, 300, 324 Armut, Kultur der Armut 77 f. Asyl 22 Atheismus 95 Auferstehung 135 f., 222, 232 Ausländer, ausländisch 6, 34, 65, 149, 241, 308 f., 339 Autonomie, autonom 3, 93, 118, 143, 174, 253, 262, 284 Autopoiesis, autopoietisch 45 ff., 50, 148, 253, 292 Autoritarismus 72, 118, 210 Autorität 83, 167, 188, 281, 336 Bar Mizwa 211 Barmer Theologische Erklärung 89 Basisgemeinde 19, 104, 138, 247, 280 Beerdigung, Bestattung 219 ff., 286 Befreiungsbewegungen 18 Befreiungstheologie 18 f., 20 ff., 29, 104, 108, 117, 123, 134, 247, 251, 254, 262, 264 ff., 280, 281, 285 f. Begleitung 221, 286, 300 Behaviorismus, behavioristisch 37, 39, 194 Beichte 152, 261, 265, 310, 312, 318 Bekehrung 100, 105, 112, 260 Beobachter 47 ff., 292 Berater, Beraterin 16, 27 f., 30, 150 f., 160 ff., 173, 174 f., 184, 192, 234 ff., 299, 309, 311, 314, 320 Beratung 5 f., 7, 13 f., 17, 22, 28 f., 30 f., 34, 51, 83, 108, 149 ff., 152 ff., 159, 160 f., 163, 168, 171, 174, 177 ff.,

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227 ff., 234, 237, 238 f., 241, 245 f., 248, 249, 258, 260 f., 263, 272, 275, 277, 281 f., 285 f., 288, 300 ff., 304, 307, 309, 312, 321, 327, 341, 345 Beratung ethnozentrische 159 ff. Beratung, kulturell sensibel 29, 241 ff. Beratung, lösungsorientierte 299 Beratungsstelle 5, 13, 228, 300 Besessenheit 156, 342 Beziehungsgerechtigkeit 248, 320 Beziehungsnetz (siehe: Netzwerk) Bibel, Heilige Schrift, Altes und Neues Testament 27, 94, 120, 124 f., 136 f., 138 f., 141, 143, 147 f., 232, 242, 282 ff., 285, 297, 339 Bikulturalität, bikulturell 22, 160, 172, 180, 183, 208 f., 212, 240 Bildung 293 (siehe: Erziehung) Biographie, biographisch 51, 138, 140, 171, 184, 196, 204, 216, 231, 243, 246, 290, 293, 297, 299, 301 Biographiearbeit, „themenzentrierte" 298 Bischofskonferenz, lateinamerikanische 112 Black Power 229 Blut 85 f. Borderline Syndrom 165 Böse, Das Böse 19, 181 Braut 288 f. (siehe: Heirat, Trauung) Bruder 252, 329 Buddhismus 165, 219, 222, 244 Calvinismus 247, 315 Candomblé 306 Centro de Cultura Gaúcha (CTG) 58 Charisma, charismatisch 260, 279, 281, 305, 313 Chimarräo 58 Christologie 26, 31, 91, 98, 115 f., 120, 133 f., 136, 141, 147 f., 232, 242, 253, 295 Christus „pro nobis" 296 Clan 74 Coca 69 Code 40, 55, 78 f., 144 Community Action Programme 230 Compadrio 67, 76 f., 274 Conquista 53, 55, 57, 68, 99, 250, 306 Corpo de Psicólogos e Psiquiatras Cristäos 265 Counseling, bi-cultural 155 Counseling, cross-cultural 6, 30, 155, 159 Counseling, intercultural 156 Counseling, transcultural 156

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Couvade (Männerkindbett) 20759 Cultural Anthropology 37 f. Cultural psychology 6, 30, 155 ff. Curandeiro 307, 341 Dämonen 102 f. (siehe: Geister) Dekollektionierung 64, 114 Dekolonialisierung 114 Dekonstruktion 158, 183 f., 196, 296 f., 303, 324, 332, 342 Demokratie, demokratisch 117 Dependenz, Dependenztheorie 104 Depression, depressiv 160, 173, 189, 195 f., 217, 223, 225 f., 294, 300, 327, 329, 344 Despachante (Mittelsmann) 319 Despacho 329 Deterritorialisierung von Wissen 64 Deutsche Christen 8 8 f. Diagnose 14, 28, 51, 164, 178, 197, 318 Diakonie 27 f., 207, 260, 280 Dialektik 20, 136, 232 Dialektische Theologie 90 Dialog, dialogisch 24, 28, 95, 115, 122, 124 ff., 138, 141, 143, 14 f., 150 f., 151 f., 196, 242 f., 245, 252, 293, 296 f., 310 f., 341 Dialog, interreligiöser 24, 126 Diskurs 27, 28, 31, 43, 51, 60, 70 f., 100, 128, 137, 157, 248, 275, 307, 312, 317, 338, 340 Diskurs, herrschaftsfreier 340 Diskursethik 340 Dissonanz-Stadium 174 f. Double-bind-Theorie 224 Dritte Welt 5 f., 88, 24, 29, 121, 123, 161, Dritter, Drogen 328,

202, 214, 228, 241, 270, 291, 312 der Dritte 145 ff. 62, 79, 200, 203, 237, 274, 325, 330, 335, 342

Ecotherapy 249 Ehe 14 f., 32, 40, 44, 82, 189, 198, 202, 204, 213, 237, 282 ff., 324 f., 328, 331, 335, 344 Ehebruch 208, 330 f. Eheethik, lutherische 284 Eheschließung 32 Eheverständnis, katholisches 283 f. Ehrenamtliche (siehe: Laien) 213, 275, 281 Eifersucht 13 f., 288 Einwanderer, Immigranten 5, 6, 104, 159, 183, 212, 223, 250

Ekklesiogénesis 280 Ekklesiologie 280 Ekklesiozentrismus 114 Ekstase 102, 258 f. Eltern 13, 179, 183, 185, 187, 198, 200, 202, 204, 208 f., 213, 215, 233, 285, 315, 318 Emisch 40, 158 Emotion, Gefühl, Affekt 15, 25, 58 f., 72, 77, 152, 158, 161, 163 f., 166 f., 171, 173, 177, 179, 195, 197 f., 199, 203, 205, 213, 218 f., 221, 223, 244, 266, 328, 331, 336, 337, 342, 345 Empathie 25, 148, 150 f., 171 Empowerment 123, 152, 154, 229 ff., 238, 290, 292 f., 295, 297, 299, 321 Encosto (Besessenheit) 342 Energie, Lebensenergie 231 f. Enkel 72 Enkulturation 39, 106 f. Entschleierung (unveiling) 222 Episteme 70 f., 73 Erbe 86 Erfahrung 7, 132, 136, 153, 258, 297, 310 f. Erfahrung, religiöse 7, 92, 136 Erfahrung, spirituelle 258, 310 f. Erfindung 43 ff., 53 f., 130 Erinnerung 126, 129, 132, 137 f., 195, 223, 279, 297 f., 299, 305, 339 Erinnerungsarbeit 297 f. Erotik, erotisch 158, 257, 258 Erzahlcafé 298 Erzählung, erzählen, Erzähler (siehe: Narrative, narrativ) 17, 54, 60, 127, 129, 131 ff., 134 ff., 138, 147, 149f., 152, 183 f., 193 f., 197, 216, 242, 277 f., 297 f., 340, 344 Erziehung 14, 62, 80, 82, 99, 118, 166 f., 169, 174, 182 f., 186, 197, 207 ff., 211, 213, 217, 236, 244, 293, 300, 310, 324 f., 335 Escola Superior de Teologia 6 Esoterik 306 Ethik, Ethik des universalen Respekts 340 Ethik, ethisch 50, 117, 161, 171, 247 f., 251, 252, 255, 283, 332 f., 337 f., 340 Ethik, ethische Urteilsfindung 338 Ethik, partikulare 340 Ethik, protestantische Arbeitsethik 103, 333 Ethik, universale 340 Ethnologie, Ethnographie 20 f., 23, 37 f., 39, 181, 241

Ethnopsychoanalyse 23, 154, 241 Ethnopsychologie 157 f. Ethnozentrismus, ethnozentrisch 53, 99, 142, 155, 159, 161 Ethos, kulturspezifisch 338, 340 Etisch 40, 181 Eurozentrisch 245 Evangelisation 99, 106, 110, 115 Evangelium 17, 28, 87 ff., 90, 94 f., 97, 106, 109, 112, 114, 116, 116, 119 f., 122, 123, 124, 125, 127, 132 f., 134, 137 f., 141, 145, 147 f., 150, 276, 277 Evangelium der „Prosperität" 103 Evolution 36 ff., 201, 251 ff., 254 f. Evolutionismus, evolutionistisch 36 f. Ewiges Leben 221 Exorzismus 156, 261, 265 Experte 151, 158, 221, 230f., 245, 299 Externalisierung des Problems 195, 277, 289, 303 Fabel 130 Familiarismo 305 Familie (passim) 29 f., 33, 44, 70 ff., 74 ff., 108, 133, 149, 161, 163 f., 174 ff., 177 ff., 182 f., 184, 197 ff., 199, 204, 216, 225, 246, 248, 265, 282 ff., 290, 306, 311, 318 f. Familie, brasilianische 74 ff., 84 ff. Familie, dysfunktionale 189, 203, 229 Familie, Großfamilie 32, 79, 81 f., 85, 181, 199, 215, 236 f., 274 Familie, Kleinfamilie 215, 236, 310, 315 Familie, matrifokale 70, 83, 87, 333 Familie, Mehrgenerationenfamilie 217 Familie, multiproblematische 271, 273, 300 Familie, Nuklearfamilie 185, 191, 215 Familie, patriarchalische 32, 70, 79, 83, 198, 283 Familienberatung 6, 30, 32, 84, 88, 229 ff., 238 ff., 241 (siehe: Familientherapie) Familiengeheimnis 199, 226 Familiengeschichte 17, 84, 179, 218, 235, 289 Familienoberhaupt 80 Familien-Rollenspiel 235 Familienstruktur 17, 70 ff., 160, 161, 173, 185, 186 f., 189, 191, 200, 282 f. Familientherapie 5, 33, 180, 183, 186, 224, 227 f., 233, 239 f., 248, 261, 310 Familientherapie, lösungsorientierte 234

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Familientherapie, multisystemische 193, 233 ff., 248 f. Familientherapie, strukturelle 3, 177 f., 184 ff., 234, 235 Favela 71, 78, 80 f., 119, 189, 249, 271, 274, 341, 343 Fazenda 75 Feminismus, feministisch 15,18, 123, 134, 155, 168 ff., 171, 229, 312, 322 ff., 325 Fest 67, 81 Fiktion (siehe: Erfindung) Filhos de Santo (Söhne der Heiligen) 259 Flucht, Flüchtling 22, 150, 182, 212, 292 Folk family therapy 182 Folklore 57 f., 106 Frau 15, 33, 41, 72, 80, 83, 86, 123, 168 ff., 191, 197, 200, 202, 204, 207, 208, 212, 220, 241, 243, 259, 276, 278, 282 f., 309, 310, 315, 318, 321 ff., 323, 325 ff., 338, 341, 346 Frau, afroamerikanische 324 Frauenbewegung 208 Frauenhaus 321 Freiheit, Befreiung 27, 91 f., 97, 99, 113 f., 116f., 119, 122, 126, 146, 161, 195, 224, 247 f., 275, 278, 281, 284 f., 292, 303, 318, 320, 339, 342 Fremder, fremd 7, 13, 22 f., 105, 123, 142 ff., 145 ff., 162, 242 ff. Fremdheit, Fremder, fremd 22 f., 25, 141 ff., 142, 145 f., 149, 162, 244, 245 Frieden 336 f., 338 Führung, Führer 205, 216, 313, 327 Fundamentalismus 87, 101, 117, 246, 304, 308 Fußball 62, 259, 334

141, 147, 155, 164 f., 230, 298 Gender 19, 99, 168 ff., 191, 248, 268, 321 ff. Genogramm 235, 289 Gerechtigkeit 17, 27, 97, 117, 147, 171, 247, 248, 255, 320, 336, 338, 339 Gericht Gottes 221 Geschichte 17, 19 f., 24, 29, 36, 38, 44, 59, 88, 94, 95 f., 98, 104, 120 f., 123, 129, 130 ff., 137 f., 147 f., 152, 184, 194, 196, 201, 218, 231, 255, 277, 278 f., 297, 304 f., 344 Geschichten 41, 150, 152, 184, 194 f., 277 f. Geschichtstheologie 94 Geschlecht 165 f., 167 ff. Geschlechtlichkeit 282 Geschlechtsrolle 34, 321 (siehe: Rolle) Geschöpf 31, 106, 232, 252 f., 276 Geschwister 26, 63, 72, 80, 93, 94 f., 117, 178, 185, 188, 199, 203, 204, 208, 278, 301, 330, 336, 342 Gesellschaft 16, 19, 22, 36 f., 39, 41, 116, 119, 122, 138, 154 f., 159, 161, 179 f., 182, 191, 204, 208 f., 211, 213, 215 f., 229, 241, 261 ff., 266, 268, 282, 290 f., 304, 313, 316, 317, 318, 342

Ganzheit, ganzheitlich 249, 251, 257, 267, 322, 325 Gebet 132, 182, 222, 310, 311 Geburt 81, 189, 198, 200, 205, 206 ff., 287 Geburtenkontrolle 203 Geburtstag 81 Gegenreformation 54 Geheimnis, Mysterium 14, 250, 284, 307, 311 Gehirn 39, 42, 46, 210, 254 Geist 254 f. Geister 7, 102, 125, 129, 164, 181, 195, 209, 259, 305 f., 329, 342 Gemeinde 5, 18, 25 ff., 28, 33, 93, 102, 104 f., 120, 123, 138, 179, 213 f., 221, 224, 236, 245, 246, 248, 255, 260,

Gesetz 96, 135, 146 f., 181, 268, 283, 316, 318 f. Gespräch 138, 147, 151, 187, 193, 242, 285, 289, 293, 310 Gesprächspartner 13, 17, 147, 151 f., 153, 296, 299, 303, 310 Gesundheit 173, 259, 325 Gesundheitswesen 62, 79, 228, 237, 259 f., 264, 270 f. Gewalt 13, 15, 62, 115, 138, 150, 171, 189, 208, 209 f., 243, 274, 296, 306, 312, 318, 327 ff., 331, 336, 342, 344 Gewalt, Zyklus der Gewalt 331 f. Gewissen 146, 317, 338 Glauben 17, 25, 28, 96, 105, 114, 122, 147, 149 f., 192, 232, 245, 247, 281, 287, 295, 297, 310 f., 332 Glaubensentwicklung 287

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262 f., 275 ff., 277, 278 f., 285 f., 288, 295, 311, 312, 316, 320, 322 f., 330, 332, 341 Gemeinde als Erzählgemeinschaft 277 ff. Gemeinde, therapeutische 104, 275, 344 Gemeindepsychologie 229 Gemeindepsychologie 230 Gemeinschaft 16 f., 28, 65, 111, 122,

Gleichgewicht (siehe: Homöostase) 47, 253 f. Gleichheit 99, 160 Gleichnis, Gleichnisse 134 f., 132 f., 136, 256 Globalisierung 66, 87, 119, 122 f., 124, 127, 139, 245, 290 f. Gnade 27, 109, 113, 119, 232, 275, 311, 325, 340 Goldene Regel 340 Gott 25 f., 27, 31, 93, 106, 119 f., 122, 124, 126, 132 f., 134, 137, 147, 150, 221, 232, 242, 252, 255 f., 263, 267, 275, 277 f., 281, 284 ff., 304, 306, 315, 323 Gottebenbildlichkeit 282 Götter 164 f., 305, 329 Gottesbild 245, 263, 315, 336 Gottesdienst 15, 27, 93, 100, 104, 221 f., 280, 287 Gotteskasten 104 Grenzen 51, 63, 65, 87, 124 f., 139, 142, 148, 178, 182, 186 ff., 190, 204, 234, 209, 226, 234, 244, 255, 260, 268, 276, 305, 309, 325, 336 Großeltern, Großmutter, Großvater 208, 215, 217 f., 235 Großgrundbesitzer 76 Guerilla 116 Guru 244 Haus und Straße (casa e rua) 326 Heilen, Heiler, Heilerin 41, 260, 306, 307, 314 f., 341 Heilige 250, 259, 304 f. Heiliger Geist 32,101, 120 f., 122 f., 126 f., 135, 141, 147, 150, 255, 259, 278 f., 305, 311 Heiligung 244 Heilung 41, 51, 102, 105, 260, 277, 311, 325, 343 Heirat, heiraten 22, 32, 81, 85, 189, 198 ff., 202 f., 204 ff., 211, 332 Helfer, natürliche 274 f. Hermeneutik, hermeneutisch 21, 23, 94, 120, 125 ff., 136, 138 ff., 147 f., 150 f., 193, 241, 248, 264, 278, 312 Hexenglauben 156 Hierarchie 46, 64, 136 f., 187 f., 190 f., 268 (prüfen) Hinduismus 165, 219, 221 Hochzeit (siehe: Heirat) 287 ff. H o m o convivialis 73 H o m o oeconomicus 73

Homöostase 28, 47, 50, 148, 187, 190, 201, 217, 236, 267 Homosexualität 173, 191, 206, 282, 284 f., 315, 334 Hospiz 221 Humanwissenschaften, humanwissenschaftlich 31 f., 127 f., 130, 151, 243, 245, 316 Hybridisierung 64 f., 66, 78, 87, 119, 212, 246 Hypnotherapie 301 Hysterie 14 Ich 46, 128 Ich-Du Philosophie 309 Identität, 34, 60, 63 ff., 66 f., 68 f., 72, 76, 79, 84, 87, 92, 99, 100, 122 f., 150, 156, 168, 170, 172, 175, 174 f., 184, 206 f., 219, 221 f., 240, 244, 245, 275 f., 277, 292 f., 295 f., 305, 306, 308, 325, 336, 342, 343, 346 Identität, Begründung in Jesus Christus 295 f. Identität, ethnische 60, 63 ff., 67, 69, 172 f., 174, 216, 229 Identität, Geschlechtsidentität 34, 158, 168 f., 211, 321 ff., 346 Identität, Identitätsentwicklung 170, 175 Identität, kulturelle 66, 68 f., 87 Identität, pastorale 244 Identitätsverwirrung 173 Identitätszerstörung 122 f. Ideologie 22, 39, 89, 99, 322 Imaginär/das Imaginäre 14, 306 f. Imagination 129, 133, 137 Indexpatient, identifizierter Patient 190, 289 Indianer, Indio, indianisch 21, 55, 60, 75 f., 96, 98, 100, 102, 104, 112, 117, 119, 154, 159, 165, 203, 207, 215, 217, 250, 318, 343 Indianermission 60 Individualisierungstendenz, postmoderne 44, 291 Individualisierungstheorem 290 ff. Individualität 97 Individuum 16, 32 f., 37, 51, 62, 64, 67, 75, 80, 92, 94, 103, 139, 158, 160 f., 180, 183, 194, 211, 215, 221, 234, 236, 244, 246, 261, 262, 267, 275 f., 290 ff., 303, 310 f., 320, 322, 342 f. Initiation 211, 244 Inkarnation / Menschwerdung Gottes

379

25 f., 108 ff., 114 ff., 222, 242, 266, 311 Inkulturation 28, 88, 106 ff., 110, 113 f., 117, 119, 121, 126 f., 150, 283 Interdisziplinarität 31 Interkulturation 106 Interpathie 25, 151 Introspektives Stadium 174 f. Inzest 250, Inzestphantasie, 14, Inzestverbot 41, 44, 188, 210, 250 Islam, islamisch 22, 54, 341 Jeitinho brasileiro 76, 319 Jesuit, jesuitisch 54, 60, 96 Joining 234 Judentum, Jude, jüdisch 54, 178 Jugendliche 123, 167, 178, 183, 185, 189, 21 I f f . , 273 f., 320 f., 328, 343 Jugendschutz 320 f., 343 Junges Erwachsenenalter 202 ff. Jungfräulichkeit 296, 330 Kanon, Das Kanonische 131 f., 141 Karneval 62, 258 Kasualien 286 f. Kategorischer Imperativ 340 Katholizismus 15, 18, 32, 61, 92, 97, 99, 102, 110, 124, 203, 259, 305 f. Kausalität, lineare und zirkuläre 186 Keim 85 f. Kerb 85 (Kirchweihfest) Kharma 259 Kind, Einzelkind 209 Kind, Kinder 32, 80 f., 131, 166, 179, 183, 185, 187, 189, 198, 199 f., 202, 205, 206 ff., 209, 211, 214, 215, 221, 233, 236, 241, 259, 276, 278, 285, 288, 300, 310, 315, 318, 325, 331 f., 343 Kinderarbeit 200, 228, 251, 259 Kindergarten 79, 200 Kinderschutz 320 f., 343 (siehe: Jugendschutz) Kirche 5, 19, 28, 30, 33, 91, 95 f., 114, 120, 123, 126, 213, 236, 251, 285, 305, 308 Kirche, Assembléia de Deus 101 Kirche, Bekennende Kirche 89 ff. Kirche, Deus é Amor 101 Kirche, EKLBB/IECLB, 5, 103 ff. Kirche, hauptamtliche kirchliche Mitarbeiter 5 Kirche, lateinamerikanischer Kirchenrat (CLAI) 68 f.

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Kirche, Kirche, Kirche, Kirche, Kirche, Kirche: Kirche:

O Brasil para Cristo 101 ökumenischer Rat 29, 97, 119 orthodoxe 120 Pfingstkirchen 101 ff., 305 schwarze 2, 123 EKLBB/IECLB 246 Igreja Universal do Reino de

Deus 101 f. Kirche: Igrjea do Evangelho Quadrangular no Brasil 102 Kirchen, Lateinamerikanischer Kirchenrat CLAI 312 Kirchenzucht 315 Klassisch, das Klassische 136 ff. Klient, Klientin 13, 15, 23, 87, 152, 160 ff., 173 f., 181, 184, 193, 238, 258, 265, 299, 311 ff. Koabhängig 309 Koalition, Allianz 190 Kognition 45, 49 Koinonia 278 f. Kolonial 99, 115 Kolonialepoche 96, 99, 126 Kolonialismus 75, 125 f., 127, 84, 318 Kommunikation 22, 28, 30, 33 f., 35, 45, 47 ff., 51 f., 59, 63, 71, 120, 122, 124, 125 ff., 138 ff., 141 ff., 148 f., 151, 190, 194, 203, 212, 219, 221, 224, 226, 240 f., 244 f., 248, 272, 296, 301, 320 Kompetenz 30 f., 34, 76, 144 f., 152 f., 166 f., 170, 192, 204, 237, 281, 293 f., 320 f. Kompetenzdialog 297, 299 Konfirmation 211 Konflikt 15, 28, 80, 86, 121, 126, 149, 153, 171, 174, 177, 182, 183 f., 196, 197 ff., 202, 204 ff., 209, 211, 213, 237, 246 ff., 276, 281, 291, 285, 296, 300, 313, 324, 327, 336, 344 Konformitäts-Stadium 173, 175 Konspiration, protestantische 100 Konstruktion 32 ff., 45 ff., 49 f., 54, 99, 116, 127, 129, 150 f., 158, 169, 184, 193, 276, 290, 297, 299 Konstruktivismus 32 ff., 45 ff., 49 f., 54, 127, 129, 148, 151, 155, 182, 193 f., 243, 255, 292 Kontext 13, 17 ff., 23, 44, 73, 95, 120, 124, 127, 138 f., 142, 173, 183, 184, 192, 228, 241, 245, 247 f., 260, 268, 282, 298, 342, 344 Konzil, II. Vatikanisches 108 f. Koppelung, strukturelle 47, 201

Koran 310, 339, 341 (aufarbeiten) Körper 47, 51, 72, 82, 115,158, 161, 163, 179 f., 187, 209 f., 215, 220, 221 f., 227, 232, 254, 256 ff., 268, 276, 300, 304, 317, 342 f. Korruption 33, 119, 319 Krankenabendmahl 221 Krankenhaus 271 Krankensalbung 221, 261, 265 Krankheit 32, 41, 51, 81, 103, 133, 182, 188 f., 201, 205, 210, 217 f., 226, 236, 250, 258, 276, 300, 312 Krankheit, psychische 160, 221, 224 ff., 273, 276 Kränkung 204 Kreuz 135 f., 232, 331 Krieg, spiritueller 305 Kriminalität, Delinquenz 81, 177, 185, 200, 202, 203, 211, 227, 273 f., 301, 312, 319, 329 Krise 22, 31, 33, 40, 182, 189, 197, 200 f., 217, 219, 224, 228, 236, 259, 278, 295, 300, 308, 315, 343 f. Krisenintervention 295 Kult, Kulte 209, 259, 305 f., 342 Kultur 5 f., 13, 15 f., 17, 19 f., 23 f., 28, 30 f., 34 ff., 41 ff., 45 ff., 49, 51 ff., 56 f., 65, 66 f., 77, 92, 94, 100, 106 f., 108, 111, 131, 139, 143, 147, 149 f., 163 (passim) Kultur, authentische 65 Kultur, Autonomie der 92 Kultur, christliche katholische 108, 111 Kultur, der Armut 77 Kultur, des Anderen 21 Kultur, des Widerstands 57 Kultur, dominante 14, 21, 23, 49, 56 f., 66 f., 98 f., 107, 148, 161, 179, 183, 246 Kultur, Elitekultur 55 f. Kultur, Erfindung der 41 ff. Kultur, globale 15 f., 20 Kultur, hegemoniale 56 f., 66 f., 99 Kultur, hybride 53, 63 ff., 67 Kultur, Kulturbegriff, Kulturverständnis 35 ff., 45 ff., 53, 241 Kultur, kulturelle Protokomponente 100 Kultur, lokal, regional 15 f., 20, 44, 115 Kultur, Massenkultur 55 f. Kultur, mündliche Kultur 112 Kultur, Popularkultur, 20 f., 53, 57 f., 59 ff., 63, 65 f., 67, 70 ff., 74, 83 ff., 87 Kultur, primitive 57 Kultur, Religion und Kultur 92

Kultur, Schriftkultur 112 Kultur, subalterne 57, 66 f. Kultur, urbane 63 Kultur, verborgene 55 Kulturanthropologie 29, 40, 106 f., 127, 219, 241 kulturelle Aus-Zeit 240 Kulturkreis 38 Kulturprotestantismus 90, 91 ff. Kulturträger 117 Kulturunterschied 13, 16, 31, 117, 184 Kulturzerstörung 96, 107 f., 115, 127, 246 Kurzpsychotherapie 191, 231, 299, 344, 301 f. Kybernetik 33, 185, 301 f., 303 Laien, Laienseelsorger 31, 34, 112, 247, 249, 344 (siehe: Ehrenamtliche) Laienseelsorge 34 Landkarte des Problems 303 Landkarte, psychosystemische 119, 190, 192 ff., 268, 303 Landkarte, spirituelle 310 Landlose 119, 271 Lebensbewältigung 27, 59, 293 Lebenserwartung 270 Lebensgemeinschaft, nicht-eheliche 32 Lebensgestaltung 27, 149, 153, 246 ff., 337 Lebenszyklus 27, 31, 177 f., 188, 197 ff., 202 ff., 217, 224, 286 ff., 300 Lebenszyklus, Phasen 337 Leib 256 f. Leib Christi 279 Leibsorge 260 Leid, Leiden 13, 26, 138, 150, 232, 243, 253, 26 ff., 278, 295, 305 f., 312, 315, 318, 339 Leitbild 324, 330 Leiter, funktionaler und expressiver 313 Lernen (siehe: Erziehung) Liberalismus 98 Liebe 204 f., 258, 268, 276, 283, 285, 330 Liminalität 39, 130, 219, 286 Liturgie 112, 120, 288 Liturgie 114, 120, 125 Logos spermatikós 109 Lösung 149 Lösung 16 f., 24, 153, 180, 183 f., 189, 192, 196 f., 201, 227, 235, 247, 281, 285, 299 ff., 310, 319, 322 lösungsorientierte Therapie 231 Luthertum 247

381

Machismo 14 f., 72, 75 f., 78 f., 202 f., 331, 333 Macht 19, 54 f., 58, 62, 65, 67, 77, 102, 152 f., 171, 187 f., 192, 194 f., 204, 229, 234, 248, 256, 264, 268, 281, 302 f., 305, 312 ff., 322, 325, 327, 336, 337, t 341 Macht/Wissen-Komplex 316 ff. Madrinha (Patin) 238 Magie 103, 164, 169 ff., 182, 305, 329 Mann 14 f., 32 f., 72, 76, 78 f., 83, 86, 169 ff., 202, 204, 208, 213, 220, 234, 243, 259, 278, 282, 304, 318, 321 f., 325 f., 330 f., 332 ff., 336, 338 Marginalisierung 62, 68, 155, 178, 280, 305 Marianismo 75 Marxismus, marxistisch 36, 100, 108, 264, 313 Maternismo 75 Matriarchat/Matriarchin 324 Medium 13 f. Medizin 16, 30, 51, 182, 221, 238, 258, 261, 263, 274, 308, 314 Menopause 213, 330 Menschenrechte 339, 343 Menschenwürde 305, 316 Messianismus 102 Mestizen 59 Metapher 17, 37, 127 f., 129 f., 132, 134, 136, 152, 193 f., 219, 278 f., 310, 322 f. Methode, methodisch 6 f., 21, 23, 98, 154, 159, 233 ff., 241, 243, 266, 295, 300, 316 Methodismus, methodistisch 98 Migration, Migranten, Migrantinnen 29, 62, 65, 78, 86, 98, 122, 150, 179, 182, 215, 240 f., 333, 341 Militär, Militärdiktatur 62, 65, 106, 145 Mimesis 130 Minderheit 175, 323 Minderheiten 5, 17 f., 60, 63, 130, 122 f., 150, 154 f., 159, 161 f., 166 f., 169, 173 f., 182, 223, 229, 233, 241, 279 Mißbrauch 82, 209, 210, 264, 274, 312, 314 ff., 318, 321, 327, 331 f., 344 Mission 27, 88, 98, 101, 104, 121, 107 f., 110, 119 ff., 124, 127 Missionsprotestantismus 98, 102 Mißtrauen 161, 234, 237 Mißverständnis 13, 16, 31 Mittelschicht 6, 53, 155. 160, 168, 212, 213, 228, 235, 259, 265, 269, 291, 327, 330

382

Moderne 34, 53 f., 63, 114, 116 f., 119 Monogamie 74, 206 Moral, moralisch 19, 26, 78, 109, 171, 181, 192, 206, 213, 284, 338, 340f. moralisches Urteil 171 Movimento Enconträo 105 Multikulturalität, multikulturell 67, 172, 182, 212, 238, 241 f., 243 Multisystem, multisystemisch 235, 234, 248, 271 Musik 344 f. Mutter 13, 72, 169, 185 f., 189, 210 f., 217, 263, 295, 301, 327, 329, 336 Mutterschaft 288 Mystagogik 243 Mystik 255, 257 Mythologie, mythologisch 200, 322 Mythos, Mythen 37, 41, 57, 137, 182, 199, 200, 226, 254, 274, 296, 305 f., 324, 340, 343 Nachbarn, Nachbarschaft 22, 73, 80 f., 179, 199, 207, 280 Nachfolge 26, 105, 113, 133, 266, 331 Nächster 27, 133, 268, 275 ff., 315, 332 Narrative, narrativ 35, 54, 127 ff., 132, 135 f., 137 f., 149, 152, 153, 183, 193 f., 243, 254, 277, 288, 299, 302 f., 340, 344 Nation, national 24, 51, 60, 65, 90, 99, 108, 110, 123, 176 Natur 36, 38, 44, 61, 109, 113, 115, 130, 157, 164, 180 f., 219, 248, 249 ff., 254 ff., 267 Nepotismus, 33 Nervensystem 45 ff., 129 Netzwerk, living human web 322 f. Netzwerk, Netz 28, 78 f., 87, 103, 152, 165, 167, 196, 205, 229 f., 232, 234, 236, 248, 271 ff., 280, 293, 297, 314, 321, 322 f., 343 Nigrescence 172 f. Nirwana 222 Normalität, normal 51, 178, 200, 206, 225, 290 Oberkirchenrat, preussischer 60 Oberschicht 62, 213, 228, 259, 265, 327 Objektbeziehungstheorie 262, 267 Offenbarung 90, 110, 120 Offenbarung und Kultur 90 Okkultismus 342 Ökologie, ökologisch 7, 19, 29 f., 33, 48, 106, 115, 122, 166 f., 180, 181 f., 184,

192 f., 228, 241, 248 f., 250 f., 254, 258, 260, 275, 308, 320, 341, 345 Ökumene 88, 102, 106, 119 f., 143, 312, 338, 346 Onkel 79 f., 208, 324, 332 Opfer 15, 92, 137, 265, 274, 314, 316, 319 ff., 324, 329 f. Organhandel 259 Orixás 15, 259, 305 Pädagogik 115, 129, 293 f. (siehe: Bildung, Erziehung) Pädagogik, pastorale 115 Padrinho (Pate) 238 Papst 109, 111 f., 304 Paranoial 4 Partnerwahl 179 Partnerwahl 85, 179, 204 Passageriten 286, 309 (siehe: Ritus, Riten, Ritual) Pastoral da Crianca 249, 341 Pastoral da Solidariedade 312 Pastoral de Convivência 104 Pastoralmacht 317 f. Pastoralpsychologie, pastoralpsychologisch 34, 247 Pastoraltheologie 29 Pate 289 Patient, Indexpatient 183, 289 Patriarchalismus, patriarchalisch 77, 134, 171, 266, 284, 288, 319, 330, 334 Patronat, Patron 76 Pensionierung, Ruhestand 188, 200, 213, 216 Person 21, 24, 146, 157, 163 ff., 175, 180, 191, 194, 217, 219, 221, 234, 265, 267, 272 f., 303, 340 Pfarrer, Pfarrerin 13, 220, 234, 244 f., 259, 313, 324 Pfingstbewegung 101 ff. (siehe: Kirchen) Pfingsten 120 Pflege der alten Eltern 214 f., 217 Phantasie 14 Phasen des familiären Lebenszyklus 197 ff., 202 ff., 206, 211, 288, 337 Plot 132 f., 135 Pluralismus 16,19, 29, 49 f., 111, 116, 119 f., 138 f., 140 ff., 149, 156, 179, 183, 246, 292, 296, 308, 338 Politik, politisch 20, 24, 33 f.,38, 53, 103, 106, 117 f., 150, 166 ff., 171, 173, 180, 191, 194, 216, 227, 242, 263, 303 f., 308, 317 f., 336, 342 Polygamie, polygam 240

Popularkultur, siehe: Kultur Populismus, populistisch 57 Positivismus 36, 128 Postmoderne, postmodern 53, 63, 114, 116, 121, 282, 290, 308, 114 Praktische Theologie 5 Prämoderne, prämodern 14, 53 Prävention 320, 337 (aufarbeiten) Priester 97, 259, 318 Priestertum 247, 277, 281 Problem 14, 16, 19 f., 24103, 155, 157, 177, 184, 189, 192, 195, 227 f., 234 ff., 237 f., 262 f., 275, 277, 285, 294, 298, 300 ff., 310, 312, 319, 322, 338, 345 Produktionsästhetik 139 Professionalität, Professionalisierung 26, 245, 264, 281 Prophet, prophetisch 119, 245, 262, 322 Prostitution 191, 259 Protestant, protestantisch 60 f., 93, 98 f., 202, 214, 281, 284, 306, 333 Protestantismus 15, 18, 99, 102 f., 266 Prozeßtheologie 252, 266, 276, 314 Psychiatrie 20, 224 ff., 264 f., 294, 317, 328, 341, 343 Psychoanalyse 14, 156, 219, 261, 314, 334 Psychodrama 261 Psychologie 30, 152, 155, 157 ff., 165, 68, 170, 193, 243, 266, 317 Psychologie, Familienpsychologie 31 Psychologie, indigene 31, 84 f., 223, 226 Psychopathologie 160, 164 f., 227 Psychose 225, 344 (siehe: Schizophrenie, Depression) Psychotherapie 6, 15 f., 30, 149, 152, 154, 160 f., 171, 184, 194, 224 f., 227, 229, 241, 249, 258, 261 ff., 265, 300 ff., 308, 317 Pubertät 209 (siehe: Adoleszenz) Rassismus, rassistisch, Rasse 19, 24, 69, 75, 85, 87, 116, 159 f., 161, 165, 167 ff., 172, 174 f., 233 f., 243, 288, 322, 324 Rationalismus, Rationalität 222, 304 f. Recht 15, 99, 109, 150, 163, 171, 191, 211, 213, 221, 242, 280, 284 f., 339, 343 Rechtfertigung 27, 101, 232, 275 f., 281 Re-Ethnisierung 68 f., 88, 102 Reflecting team 184, 193 f. Reframing 183, 299, 301

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Regenwald 24, 250 Reich Gottes 119 f., 125, 132 f., 136, 283 Reinkarnation 259, 311 Reinkarnationstherapie 311 Religion 16, 28, 35, 39, 51, 60, 88, 92 f., 95, 109, 120 f., 133, 135, 173, 179, 192, 211, 243 f., 245, 250, 261, 286, 297, 306 ff., 310, 311, 333, 340, 342, 345 Religion, afrikanische 97, 124 Religion, afro-brasilianische 15, 103 Religion, asiatische 124 Religion, Entscheidungsreligion 93 Religion, New Age 15 Religionskritik 308 Ressourcen 28, 182, 230, 236, 248, 260, 270, 274, 294, 299, 314 Reterritorialisierung von Wissen 64 Rezeptionsästhetik 139 ff., 151 Ritual. Ritus, Riten 37, 41, 68, 100, 103, 138, 178, 182, 211, 219, 223 f., 250, 266, 274, 286, 309, 317, 103 Rolle 78, 80, 86, 146, 154, 167, 169 f., 182, 191 f., 197, 205, 212, 216, 223. 230, 233, 235, 273, 291, 292, 293, 313, 332 ff., 346 Sakrament, sakramental 255 f., 283 f., 310, 313 Säkularisierung 95, 313 Schamane 220 Scheidung 13, 32, 80, 198, 210 f., 213, 273, 274, 283 ff., 327, 330 (siehe: Trennung) Schizophrenie 160, 165, 224 ff. Schizophrenogene Mutter 224 Schmerz 295, 336 Schöpfer 115, 252, 276 Schöpfung 51, 120, 126, 137, 150, 232, 249, 252, 255, 282, 284 Schuld, Schuldgefühl 112, 138, 172, 175, 176, 181, 195, 203 f., 217, 226, 278, 285, 296, 298, 317, 345 Schule 62, 79 f., 98, 166, 196, 200, 212, 236, 237, 294, 300, 301, 311 Schwangerschaft 206 ff., 285, Schwangerschaft, voreheliche 81, 165, 200, 205 f., 338 Schwarzer, Schwarze, schwarz (siehe: Afrikaner, Afro-Amerikaner, Afro-Brasilianer) Schwester 41, 252, 294 Schwiegermutter 204, 288, 328, 329 Schwiegertochter 204, 288

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Sebastianismus 98 Seele 51, 97, 157, 161, 180, 219 f., 221, 254, 259, 268, 317, 342 Seelenführung 243 Seelsorge 5 f., 7 f., 13, 16 f., 19, 22, 24, 26f., 28, 34f., 51 ff., 148, 149ff., 152, 168, 171, 241, 245 f., 247 ff., 258, 260 f., 262, 264 f. 266 ff., 272, 275, 277, 279, 280 f., 285 f., 287 f., 293, 296 f., 300, 302, 304, 307, 309, 311 f., 316, 318, 321, 323, 337 f., 341, 345 Seelsorge, cura animarum 28 Seelsorge, energetische 243 f. Seelsorge, existentiell anthropologisch 263 Seelsorge, frauenfreundliche 321 ff., 336 f. Seelsorge, klinische 18 Seelsorge, kulturell sensible 2 f., 149, 153, 192, 241 ff., 246 Seelsorge, Laienseelsorge 31, 34 Seelsorge, ritualisierte 265 Seelsorge, therapeutische 242 Seelsorge: existentiell-anthropologisches Modell 261 Seelsorgeausbildung 152, 159 f., 162, 244, 260 f., 281, 318 Seelsorgebewegung 17, 261 Seelsorger, Seelsorgerin 16 f., 19, 21, 25, 30, 150 f., 192, 263, 265 f., 281, 297, 304, 307, 309, 311, 314, 320 ff., 325, 338 Segen, Segnung 102 f., 258, 285 ff. Selbst 34, 46, 158, 160, 163 ff., 172, 183, 192, 204, 207, 219, 260, 297, 299 Selbst, als Regisseur 297 Selbst, Index-Selbst 163 f., 299 Selbst, referentielles Selbst 163 f., 262 Selbstbestimmung 160, 164, 320 Selbstbilder, Selbstpräsentationen 298 Selbstsorge 320 Selbstwertgefühl 173, 331 semantisch 47 f., 130, 132, 141, 143, 278 Semiotik, semiotisch 41 ff., 143 Sensibilität, kulturelle 17, 281 Sexualität, sexuell 53, 55, 75, 81, 86, 188, 191, 202 f., 206, 208, 211 ff., 260, 284, 295 f., 314, 317, 330, 336, 337 Signifikant 51, 70 f. Signifikat 71 Single (siehe: Alleinstehende) Sinn 43 f., 49, 51, 93, 95, 107, 115, 121, 132 f., 136, 140 f., 146, 149, 151 f., 192, 276 f., 292, 309 Sinnlichkeit 257, 260

Supervision 193, 281 Symbol, symbolisch, Symbolsystem 16 f., 41 ff., 44, 48, 51, 54, 65, 100, 113, 119, 121 f., 134 ff., 144 f., 148, 184, 255, 266, 306, 310 Symbolischer Raum 99 Symptom 27, 110, 198, 201, 226 f., 294, 301, 329

Sklaverei, Sklave, Sklavin 15, 53, 55, 76, 97, 119, 121, 305 Slavenapostel 111 f. Social Readjustment Rating Scale 198 f. Sohn Iii., 79f., 86, 186, 204, 210, 259, 289, 301, 328, 335 Solidarität, solidarisch 63, 65, 72, 115 ff., 232, 252, 254, 266, 286, 312, 320 Sozialarbeit 5, 17, 184, 228 ff., 234, 236, 238, 265, 300, 341 Sozialisation 80 f., 82, 87, 93, 166 ff., 274, 321 Spiritismus 13, 15, 62, 259, 305 f. Spiritualität, ökologische 255 Spiritualität, spirituell 14, 109, 123, 192, 219, 231, 242, 244, 248, 252, 254, 257, 258, 259, 266, 304 ff. Sprache 14, 35, 47 ff., 96,107, 113, 115 f., 129, 131, 134, 136, 139 f., 149, 169, 171, 179, 183 f., 212, 231, 242, 258, 275, 277 Sprachspieltheorie 42, 275 Stadt, städtisch 59, 63 f., 70, 78 f., 84, 166 f., 216, 250 f., 260, 271, 329, 333, 341 Stamm 15, 40, 84, 112, 215 Stammbaum 84, 235 Stärke 84, 114, 167, 173, 180, 188, 232, 281, 298, 312, 323, 332, 336 Status, sozialer 223, 313 f. Sterbebegleitung 34, 217 ff. Sterben 112, 215, 217 f., 222, 232 Sterilisation 207, 210 Stieffamilie 212 Stiefvater 328

Talmud 310 Tante 208 Tanz 58, 258 f. Taufe 26, 97, 102, 258 f., 279, 281, 286 Taufe durch den Heiligen Geist 101 f. Telenovelas 62, 65, 78 Telepartizipation 63 Terapeutas comunitárias 344 ff. Terapia Comunitaria 249, 341 ff., 344 f. Terreiro (afrobrasilianisches Kultzentrum) 306

Störung 190, 198, 201, 204, 211, 213, 226, 272 ff., 301, 342, 344 Störung, neurotische 301 Story 20, 120, 132, 135, 137, 138, 153 Strafe, Bestrafung 82, 156, 167, 209 f., 225, 260, 273, 294, 296, 310, 317 Straßenkinder 273 Streß 80, 165, 179, 189, 198 f., 205, 213, 215, 217 f., 223, 224, 271, 328, 332, 335 Strukturalismus 40, 44 Subjekt 50, 59, 117, 130, 156, 244, 256 f., 259, 275, 280 f., 285, 293, 316, 318, 320 Suizid 113 f., 116, 156, 195, 217, 226, 264 f., 266, 275, 318, 344 Sünde 24, 113 f., 116, 120, 232, 264 f., 266, 275, 318, 324 f. Sündenbock 191

Text 139 ff., 194 f., 302 f. Therapeut, Therapeutin 15 f., 160, 189 f., 191, 193, 195 f., 302, 308, 310, 311 Therapie, narrative 33, 184, 177, 193 ff., 289, 302 Therapie, therapeutisch 14, 16 f., 28, 154, 159, 160, 178, 224, 234, 303, 320, 343, 345 Tochter 13, 41, 72, 79 ff., 86, 99, 116, 129, 138, 186, 198, 200, 210, 212, 217, 221 f., 232, 236, 305, 312, 328 Tod 115, 116, 135, 138, 189, 198, 200, 218 ff., 232, 236, 294, 304 f., 312 Toleranz 99 Trance 14 Transkulturell 90, 109, 127 Trauer 31, 158, 217 ff., 221 ff. Traum, Träume 13 f. Trauma 204, 311, 328

Synkretismus 15, 62, 97, 102, 110, 124, 306, 346 System 33, 38, 45, 51, 86 f., 94, 97, 143, 148, 167, 179, 187 f., 197 f., 201, 218, 226, 236, 253, 267, 268, 282, 288, 309, 336 (passim) System autopoietisches 45, 47 System Homöostase 217 System, lebende Systeme 45 ff. System, Organisation 280 System, Struktur 46, 280 System, therapeutisches 189 Systeme, lebende 46, 51, 255 Systeme, Organisation 46 f. Systemtheorie 33, 45 ff., 148, 182, 185

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Trauung 285 f. Trauzeuge, padrinho de casamento 289 Trennung 13, 22, 89 ff., 171, 198, 209, 213, 215, 219, 274, 284 f., 285, 311, 327 f., 330, 335 Triangulierung, Triangulation 21, 204 f., 212 Trinität, Trinitätslehre 31, 120, 122, 126, 150, 242, 252 f., 255 f. Trost, trösten 221, 280, 294, 296, 306 Überbeschützung (ovcrprotection) 209 Übertragung 14 Umbanda 15, 306 Umwelt 36 f., 45, 46 f., 148, 156 f., 167, 180 f., 187, 191 f., 200 f., 224, 227 f., 244, 251, 253, 268 Umweltschutz 251 Unbewußtes, unbewußt 14, 16, 254, 255 Ungerechtigkeit 145, 315, 325 Unie outcome 184, 196 Universal, Universalität 20, 35, 109, 115, 157, 165 f., 267 Universalisierung 338 Unterdrückung 19, 24, 31, 107 f., 112, 138, 145, 159, 168, 171, 173 f., 223, 243, 278, 305 f., 317, 324, 327 Unterernährung 210, 270 f. Unterschicht 53, 71, 159, 168, 178, 200, 212, 237, 291 Unverständnis 23, 25 f., 125, 139 ff., 150 f., 152, 223, 243 Urteil, moralisches im interkulturellen Dialog 341 Utopie 265 Vater 42, 72 f., 80, 86, 133, 161, 165, 169, 208, 210, 236, 284, 288, 294, 296, 304, 327, 332, 336 Vaterschaft 288 Vergebung 232 Vergewaltigung 171 Verkündigung 98, 104, 105, 118 f., 120, 124, 132, 135 Verlust 204, 298 Vernunft, anamnetische 137, 339 Verschreibung 235 Verstehen 23, 30, 141, 143, 146 f., 150 f., 246 f., 276 f., 318 Vertrag von Tordesillas 60

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Vertrauen 7, 123, 167, 170, 195, 230, 235, 240, 275, 288, 305 f., 313, 320, 329, 338 Volk Gottes 245, 247, 281 Volk, Völker 19 f., 22, 38 f., 53, 55, 59, 63, 68, 75, 88, 105 f., 108 f., 112 f., 115, 121, 245, 255, 266, 274, 281, 307, 339, 343 Vorsehung 94 Wahrheit 107, 109, 119, 134, 245, 308, 317 Weißer, Weiße, weiß 159 f., 172, 174 ff., 235, 324 Weltanschauung 16, 24, 43, 128, 172, 180 f., 183, 268, 292 Weltmissionskonferenz 97 Wert, Werte 17, 21, 24, 35, 59, 50, 78, 93, 97, 99, 107f., 113f., 119, 122, 150 f., 159, 161, 171 f., 180 f., 183, 192, 194, 203, 204, 258, 268, 275 f., 277, 288, 296 f., 304, 306, 308, 310, 330, 338, 324, 340 Werte, narrative Begründung 340 Widerstand 17, 97, 145, 173 ff., 305, 310, 315, 336 Widerstands- und Immersions-Stadium 174 f. Wiedergeburt 222 Wiederverheiratung Geschiedener 200, 283 ff. Wilde, schöne Wilde 100 Wirklichkeit, Realität 14, 24, 29, 40, 44, 49 f., 55, 78, 113, 115, 117, 129, 131, 134, 135, 135, 148 f., 153, 156, 158, 182, 191, 193, 196, 243, 251 f., 283, 304, 306 ff., 317, 322, 324 Wirtschaft 32 f., 65, 73, 75, 77, 86, 104, 150, 155, 167, 182, 202, 210, 212, 216, 245, 250, 260, 269, 290, 312, 326, 330, 343 Wirtschaft, neo-liberal 32 Witwe, Witwer, Witwenstand 215, 221 ff. Wort Gottes 31, 91,115 Würde 15, 106, 283 Zauberei 305 Zwischen, Da-Zwischen 144 f., 145, 244, 309

Seelsorge in Studium und Praxis Jürgen Ziemer

Heinz Schmidt,

Seelsorgelehre

Stefan Scholpp (Hg.)

Eine Einführung für S t u d i u m und Praxis UTB2147 M.

A u f dem Weg zu einer seelsorglichen Kirche

2000. 360 Seiten, kartoniert

Theologische Bausteine.

ISBN 3-8252-2147-4

Christian Möller zum 60. Geburtstag

Das Buch führt in die Grundzüge der Seelsorgelehre und in die seelsorgerlichen Handlungsfelder der Gegenwart ein. Das Konzept orientiert sich an folgenden Eckpunkten: - Seelsorge wird im Dialog mit humanwissenschaftlichen Erkenntnissen verantwortet und bezieht soziologische Kategorien zur Kontexterhellung ein. - Seelsorge wird verstanden als Funktion der Gemeinde, nicht als eine davon isolierte Therapiepraxis. - Seelsorgetheorie wird im Gespräch mit praktischer Erfahrung entfaltet.

2000. 295 Seiten, kartoniert

Martin Weimer

ISBN 3-525-60403-3

Ein dreiteiliges Sammelwerk mit Beiträgen zu Grundsatzfragen der Seelsorge, zur Seelsorge in Gemeinde, Kirche und Öffentlichkeit sowie zur Seelsorge durch Gottesdienst und Predigt. Daraus ergibt sich ein aspektreiches Bild einer seelsorglichen Kirche. Kurt Lückel

Gratwanderungen zwischen Sinn und Widersinn Transparent, Band 47. 1998. 127 Seiten, kartoniert

Psychoanalytische Tugenden

ISBN 3 - 5 2 5 - 0 1 8 2 1 - 5

Pastoralpsychologie in Seelsorge und

Nach dem Einbruch einer Psychose in das Leben haben viele Menschen meist den Zusammenbruch ihrer bisherigen Lebenswerte zu bewältigen. Seelsorge in der Psychiatrie heißt vor allem, sich diesen Sinnkrisen zu stellen, in denen sich biblische Geschichten notgedrungen oft ganz neu erschließen.

Beratung 2001. 226 Seiten, kartoniert ISBN 3 - 5 2 5 - 6 2 3 6 5 - 8

Die markanten Entwicklungen der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert werden am Beispiel von S. Freud, S. Ferenczi, M. Klein, W.R. Bion, D.W. Winnicott, M. Balint sowie J. Lacan dargestellt. Wichtig ist dabei die Untersuchung religiöser Apekte in der klinischen Praxis dieser Analytiker, soweit sie Fallberichte veröffentlicht haben. Das Buch führt in das Werk der genannten Analytiker als auch in die psychoanalytischen Grundlagen der Pastoralpsychologie ein.

V&R

Vandenhoeck & Ruprecht

Arbeiten zur Pastoraltheologie Herausgegeben von Peter Cornehl und Friedrich Wintzer

39: Jochen Cornelius-Bundschuh

33: Anne M. Steinmeier

Die Kirche des Wortes

Wiedergeboren zur Freiheit

Zum evangelischen Predigt- und Gemeindeverständnis. 2001. 352 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-62366-6

Skizzen eines Dialogs zwischen Theologie und Psychoanalyse zur theologischen Begründung des seelsorglichen Gesprächs. 1998. 220 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-62355-0

38: Jan Hermelink

Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft Interdisziplinäre Untersuchungen zur Gestaltung kirchlicher Beteiligung. 2000. 413 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-62362-3

37: Sabine Bobert-Stützel

Frömmigkeit und Symbolspiel Ein pastoralpsychologischer Beitrag zu einer evangelischen Frömmigkeitstheorie. 2000. 424 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-62360-7

36: Detlev Prößdorf

Die gottesdienstliche Trauansprache Inhalte und Entwicklung in Theorie und Praxis. 1999. 284 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-62359-3

35: Birgit Weyel

Ostern als Thema der Göttinger Predigtmeditationen

32: Thomas Stahlberg

Seelsorge im Übergang zur „modernen Welt" Heinrich Adolf Köstlin und Otto Baumgarten im Kontext der Praktischen Theologie um 1900. 1998. 347 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-62352-6 Wie sehr das moderne Seelsorgeverständnis mit der Entstehung der „modernen Welt" zusammenhängt, zeigt diese Studie zur Seelsorgelehre um 1900. Die Herausforderungen dieser spannungsvollen gesellschaftlichen Übergangszeit werden bündig rekonstruiert, um die Wandlungsprozesse in der pastoralen und seelsorgerlichen Praxis verständlich werden zu lassen. Dabei bezieht der Autor insbesondere auch neuere religionssoziologische und theologiegeschichtliche Forschungen ein.

Eine homiletische Analyse zu Text und Wirklichkeit in der Predigtarbeit. 1999. 292 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-62358-5

34: Anna Christ-Friedrich

Der verzweifelte Versuch zu verändern Suizidales Handeln als Problem der Seelsorge. 1998. 238 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-62356-9

Y&R

Vandenhoeck & Ruprecht