Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik: Politikwissenschaft, politische Praxis und Soziale Arbeit im Dialog [1. Aufl.] 9783658300968, 9783658300975

​Wie kann die Politik Innovationen vorantreiben und zugleich Legitimation und demokratische Unterstützungsbereitschaft i

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German Pages XII, 350 [348] Year 2020

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Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik: Politikwissenschaft, politische Praxis und Soziale Arbeit im Dialog [1. Aufl.]
 9783658300968, 9783658300975

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Innovation und Legitimation in der Migrations- und Flüchtlingspolitik – eine Einführung (Katrin Toens, Roswitha Pioch)....Pages 1-16
Front Matter ....Pages 17-17
Legitimation durch wirtschaftliches Nutzenkalkül und dezentrale Verfahren der Entscheidungsfindung: Das kanadische Migrationsregime (Oliver Schmidtke)....Pages 19-40
Was Einwanderungsländer (nicht) voneinander lernen können – ein Blick hinter die Kulissen Kanadas, Australiens und Deutschlands (Lorenz Wiese)....Pages 41-53
Innovationspotentiale und Legitimationsprobleme eines Punktesystems in Deutschland (Sascha Krannich, Uwe Hunger)....Pages 55-70
Von nationalem Nutzen!? Legitimationsprobleme eines Punktesystems aus Sicht der Sozialen Arbeit (Susanne Spindler)....Pages 71-76
Front Matter ....Pages 77-77
Die Handlungslogiken der Europäischen Union in der Asyl- und Flüchtlingspolitik (Natascha Zaun)....Pages 79-100
Überarbeitung der Rückführungsrichtlinie – ein Einblick in die Arbeitsweise der Europäischen Kommission (Yorck Wurms)....Pages 101-111
Krisen in der EU – die EU in der Krise: Das Ringen um eine gemeinsame europäische Asylpolitik als Herausforderung für den europäischen Zusammenhalt (Julia Maria Eichler, Katrin Hatzinger)....Pages 113-121
Innovation und Legitimation an den Außengrenzen der EU: Die Situation der Geflüchteten in Sizilien (Danielle Gluns)....Pages 123-145
Front Matter ....Pages 147-147
Refugee struggles in Germany between universal and particular claims (Abimbola Odugbesan, Helge Schwiertz)....Pages 149-168
Lokal, transnational, global? – Zur politischen Selbstorganisation von Migrant*innen und Geflüchteten (Stefan Rother)....Pages 169-174
Über einige Vorläufer des „Summer of Migration“ – Flüchtlingsbewegung und Soziale Arbeit als Innovationsprodukte und Innovationsgeneratoren (Andreas Kewes)....Pages 175-196
Flucht, Flüchtlingsbewegungen und Netzwerke der Solidarität (Roland Roth)....Pages 197-202
Front Matter ....Pages 203-203
Vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Altersarmut (Christian Brütt)....Pages 205-238
Gesundheitsversorgung Geflüchteter und Asylsuchender am Beispiel der Therapiezugänge in Berlin – ein Erfahrungsbericht (Miriam Meyer)....Pages 239-246
Bildung regieren. Bildungspolitische Ansätze von Innovation und Legitimation im Kontext von Migration und Flucht (Anselm Böhmer)....Pages 247-269
Fördern, Fordern und Verbieten. Widersprüche in der Asyl- und Integrationspolitik aus Sicht der Sozialen Arbeit (Sebastian Muy)....Pages 271-291
Migrant*innen im städtischen Sozialraum. Grenzen der kommunalen Handlungsfähigkeit (Werner Schönig)....Pages 293-313
Kommunale Migrationspolitik: ‚Control Gaps‘ als Innovationsmotoren? (Hannes Schammann)....Pages 315-322
Front Matter ....Pages 323-323
Migrations- und flüchtlingspolitische Herausforderungen aus Sicht der Sozialen Arbeit (Michaela Köttig)....Pages 325-330
Möglichkeiten und Grenzen von Innovation und Legitimation in der Migrations- und Flüchtlingspolitik – Schlussbetrachtung (Roswitha Pioch, Katrin Toens)....Pages 331-350
Erratum zu: Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik (Roswitha Pioch, Katrin Toens)....Pages E1-E1

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Studien zur Migrations- und Integrationspolitik

Roswitha Pioch · Katrin Toens Hrsg.

Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik Politikwissenschaft, politische Praxis und Soziale Arbeit im Dialog

Studien zur Migrations- und Integrationspolitik Reihe herausgegeben von Danielle Gluns, Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland Uwe Hunger, Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland Roswitha Pioch, Fachhochschule Kiel, Kiel, Deutschland Ina Radtke, Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland Stefan Rother, Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland

Migration ist eines der zentralen Globalisierungsphänomene des 21. Jahrhunderts. Entsprechend groß ist das Interesse an Fragen der politischen Regulierung und Gestaltung der weltweiten Migration, den Rechten von Migrantinnen und Migranten und der Integration von der lokalen bis zur globalen Ebene. Die Buchreihe ist interdisziplinär ausgerichtet und umfasst Monographien und Sammelwerke, die sich theoretisch und empirisch mit den Inhalten, Strukturen und Prozessen lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Migrations- und Integrationspolitik befassen. Sie richtet sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Studierende der Geistes-, Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften sowie an Praktikerinnen und Praktiker aus Medien, Politik und Bildung. Die Herausgeberinnen und Herausgeber werden in ihrer Arbeit durch einen wissenschaftlichen Beirat unterstützt, den die ehemaligen Sprecherinnen und Sprecher des Arbeitskreises bilden: Prof. Dr. Sigrid Baringhorst, Universität Siegen, Prof. Dr. Thomas Faist, Universität Bielefeld, Prof. Dr. Karen Schönwälder, Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multi-ethnischer Gesellschaften, Göttingen, Apl. Prof. Dr. Axel Schulte i. R., Leibniz Universität Hannover, Prof. em. Dr. Dietrich Thränhardt, Universität Münster.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/11808

Roswitha Pioch · Katrin Toens (Hrsg.)

Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik Politikwissenschaft, politische Praxis und Soziale Arbeit im Dialog

Hrsg. Roswitha Pioch Fachhochschule Kiel Soziale Arbeit und Gesundheit Kiel, Deutschland

Katrin Toens Evangelische Hochschule Soziale Arbeit Freiburg, Deutschland

ISSN 2567-3076 ISSN 2567-3157  (electronic) Studien zur Migrations- und Integrationspolitik ISBN 978-3-658-30096-8 ISBN 978-3-658-30097-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Peer reviewed – alle Beiträge dieses Bandes wurden zusätzlich zu den Herausgeberinnen extern begutachtet. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

1 Innovation und Legitimation in der Migrations-und Flüchtlingspolitik – eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Katrin Toens und Roswitha Pioch Teil I: Innovation und Legitimation in der politischen Steuerung von Zuwanderung 2 Legitimation durch wirtschaftliches Nutzenkalkül und dezentrale Verfahren der Entscheidungsfindung: Das kanadische Migrationsregime. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Oliver Schmidtke 3 Was Einwanderungsländer (nicht) voneinander lernen können – ein Blick hinter die Kulissen Kanadas, Australiens und Deutschlands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Lorenz Wiese 4 Innovationspotentiale und Legitimationsprobleme eines Punktesystems in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Sascha Krannich und Uwe Hunger 5 Von nationalem Nutzen!? Legitimationsprobleme eines Punktesystems aus Sicht der Sozialen Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Susanne Spindler

V

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Inhaltsverzeichnis

Teil II: Die Legitimationskrise der Asyl- und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union 6 Die Handlungslogiken der Europäischen Union in der Asyl- und Flüchtlingspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Natascha Zaun 7 Überarbeitung der Rückführungsrichtlinie – ein Einblick in die Arbeitsweise der Europäischen Kommission. . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Yorck Wurms 8 Krisen in der EU – die EU in der Krise: Das Ringen um eine gemeinsame europäische Asylpolitik als Herausforderung für den europäischen Zusammenhalt. . . . . . . . . . . . . 113 Julia Maria Eichler und Katrin Hatzinger 9 Innovation und Legitimation an den Außengrenzen der EU: Die Situation der Geflüchteten in Sizilien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Danielle Gluns Teil III: Innovation von unten – Politische Selbstorganisation und demokratische Partizipation 10 Refugee struggles in Germany between universal and particular claims. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Abimbola Odugbesan und Helge Schwiertz 11 Lokal, transnational, global? – Zur politischen Selbstorganisation von Migrant*innen und Geflüchteten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Stefan Rother 12 Über einige Vorläufer des „Summer of Migration“ – Flüchtlingsbewegung und Soziale Arbeit als Innovationsprodukte und Innovationsgeneratoren. . . . . . . . . . . . . . . . 175 Andreas Kewes 13 Flucht, Flüchtlingsbewegungen und Netzwerke der Solidarität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Roland Roth

Inhaltsverzeichnis

VII

Teil IV:  Innovation und Legitimation im Föderalismus der BRD 14  Vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Altersarmut. . . . . . . . . . . . . . . . 205 Christian Brütt 15 Gesundheitsversorgung Geflüchteter und Asylsuchender am Beispiel der Therapiezugänge in Berlin – ein Erfahrungsbericht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Miriam Meyer 16 Bildung regieren. Bildungspolitische Ansätze von Innovation und Legitimation im Kontext von Migration und Flucht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Anselm Böhmer 17 Fördern, Fordern und Verbieten. Widersprüche in der Asyl- und Integrationspolitik aus Sicht der Sozialen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Sebastian Muy 18 Migrant*innen im städtischen Sozialraum. Grenzen der kommunalen Handlungsfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Werner Schönig 19 Kommunale Migrationspolitik: ‚Control Gaps‘ als Innovationsmotoren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Hannes Schammann Teil V: Perspektiven des Dialogs von Politikwissenschaft und Sozialer Arbeit 20 Migrations- und flüchtlingspolitische Herausforderungen aus Sicht der Sozialen Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Michaela Köttig 21 Möglichkeiten und Grenzen von Innovation und Legitimation in der Migrations- und Flüchtlingspolitik – Schlussbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Roswitha Pioch und Katrin Toens

Herausgeber- und Autor*innenverzeichnis

Über die Herausgeberinnen Prof. Dr. Roswitha Pioch Professorin für Politikwissenschaft am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, Fachhochschule Kiel, Forschungsschwerpunkte: Migrations- und Integrationspolitik, Wohlfahrtsstaatstheorie, Sozialpolitik, Europäische Integration. Sprecherin des Arbeitskreises Migrationspolitik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW), E-Mail: roswitha. ­­ [email protected] Prof. Dr. Katrin Toens Professorin für Politikwissenschaft am Fachbereich Soziale Arbeit, Evangelische Hochschule Freiburg, Forschungsschwerpunkte: Europäische Integration, politische Interessenvertretung, international vergleichende Sozialpolitikforschung, Policyanalyse mit den Schwerpunkten Migrations-, Sozial- und Familienpolitik. Mitglied der Sektion Politik Sozialer Arbeit der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA), E-Mail: Katrin. ­­ [email protected]

Autor*innenverzeichnis Prof. Dr. Anselm Böhmer  PH Ludwigsburg, Ludwigsburg, Deutschland Prof. Dr. Christian Brütt  Hochschule Darmstadt, Darmstadt, Deutschland Julia Maria Eichler  EKD – Dienststelle Brüssel, Brüssel, Belgien

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Herausgeber- und Autor*innenverzeichnis

Dr. Danielle Gluns  Stiftungs-Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland Katrin Hatzinger  EKD – Dienststelle Brüssel, Brüssel, Belgien Prof.  Dr. Uwe Hunger  Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland Andreas Kewes  Universität Siegen, Siegen, Deutschland Prof. Dr. Michaela Köttig  Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt, Deutschland Dr. Sascha Krannich  Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießen, Deutschland Miriam Meyer  Stockach, Deutschland Sebastian Muy  PH Freiburg, Freiburg, Deutschland Abimbola Odugbesan  Hamburg, Germany Prof. Dr. Roswitha Pioch  Fachhochschule Kiel, Kiel, Deutschland Roland Roth  Universität Magdeburg-Stendal, Magdeburg, Deutschland PD. Dr. Stefan Rother  Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland Prof. Dr. Hannes Schammann Stiftungs-Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland Prof. Dr. Oliver Schmidtke  University of Victoria, Victoria, Canada Dr. Helge Schwiertz  Osnabrück, Germany Prof. Dr. Werner Schönig  Kath. Hochschule NRW, Köln, Deutschland Prof. Dr. Susanne Spindler  Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Prof. Dr. Katrin Deutschland

Toens  Evangelische

Hochschule

Freiburg,

Freiburg,

Dr. Lorenz Wiese  Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland Yorck Wurms  Ferney-Voltaire, Frankreich Dr. Natascha Zaun  London School of Economics, London, United Kingdom

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Innovation und Legitimation in der Migrations-und Flüchtlingspolitik – eine Einführung Katrin Toens und Roswitha Pioch

Zusammenfassung

Ziel dieses Beitrags ist eine politikwissenschaftliche Einführung in das Verhältnis von Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik. In Phasen der starken Flucht- und Einwanderungsbewegung entsteht ein migrationspolitisch umkämpftes Spannungsfeld aus Innovation und Legitimation. Kreative Neuerungen, die häufig von unten, aus Zivilgesellschaft und Kommunalpolitik, angestoßen werden, rufen Legitimationsprobleme hervor, weil strittig ist, was jeweils als innovativ, ausweitbar und dauerhaft gelten soll. Der Analyse dieses Spannungsfeldes stehen unterschiedliche theoretische Zugänge offen, die sodann erläutert werden. Im abschließenden Überblick über Konzept und Beiträge der Publikation wird ein policy-analytischer Zugang beschrieben, der sich methodisch auf den internationalen Vergleich und den interdisziplinären Dialog zwischen Politikwissenschaft und Sozialer Arbeit stützt.

K. Toens (*)  Evangelische Hochschule Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected] R. Pioch  Fachhochschule Kiel, Kiel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_1

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K. Toens und R. Pioch

1 Wandel der Migrationspolitik Die Migrationspolitik, insbesondere die Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungspolitik der Europäischen Union, steht seit den starken Fluchtbewegungen nach Europa unter wachsendem Handlungsdruck. Im Zusammenhang mit der Aussetzung der Dublin-Verordnung und der Grenzöffnung für Geflüchtete durch die Bundesregierung im Sommer 2015 hat sich dieser Handlungsdruck für Deutschland auch innenpolitisch verstärkt. In der Europäischen Union ist Deutschland das Zielland mit der höchsten Zahl gestellter Asylanträge (Eurostat 2019). Inzwischen gehört der ‘lange Sommer der Migration‘ der jüngeren Vergangenheit an. Die Gegenwart der politischen Diskussion ist geprägt von der Zunahme des Rechtspopulismus in Europa und der Beobachtung einer restriktiven und gleichsam umstrittenen Migrations- und Flüchtlingspolitik. In Deutschland lässt sich dies festmachen an der Einführung sog. Zentren für Ankunft, Entscheidung, Rückführung (Ankerzentren), dem zum 1. März 2020 in Kraft getretenen Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG), dem Gesetz über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung (in Kraft ab 1. Januar 2020), dem Gesetz zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten (Familiennachzugsneuregelungsgesetz, ab 1. August 2018), und dem Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (Geordnete-Rückkehr-Gesetz, ab 21. August 2019). Die Annahme, dass sich im Politikfeld insgesamt und im Kontext des Rechtspopulismus nur noch restriktive Migrationspolitik durchsetzen lässt, wäre allerdings vorschnell und zu kurz gegriffen. Realistisch ist vielmehr ein migrationspolitisch umkämpftes Spannungsfeld aus Innovation und Legitimation, das sich im Kontext der letzten Jahre aufgetan hat: Auf Handlungsdruck folgen kreative Neuerungen, die häufig von unten aus der Zivilgesellschaft und der Kommunalpolitik entwickelt werden und Legitimationsprobleme hervorrufen, weil strittig ist, was jeweils als innovativ, ausweitbar und dauerhaft gelten soll. Für die Politikfeldanalyse gilt daher nach wie vor und gerade im Kontext der politischen Durchsetzung restriktiver migrationspolitischer Policies: Sie muss die Handlungs-, Steuerungs- und Innovationsfähigkeit der Politik empirisch ausweisen und Innovationspotentiale mit etwaigen Legitimationsproblemen ausloten können. In diesem Sinne greifen die Beiträge des vorliegenden Bandes die Frage nach dem Verhältnis von Innovations-, Legitimations- und Handlungspotenzialen unter der besonderen Berücksichtigung der Flucht- und Einwanderungsbewegungen in den Jahren 2015 und 2016 neu auf.

Innovation und Legitimation in der Migrations …

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2 Analytische und theoretische Zugänge zum Verhältnis von Innovation und Legitimation Die Publikation zielt auf die Analyse und Klärung des Verhältnisses von Innovation und Legitimation im Feld der Migrationspolitik, dies unter der besonderen Berücksichtigung von Einwanderungsregeln, Flucht- und Asylpolitik, und der Integration Eingewanderter. Mit Innovation ist ein intendierter umfänglicher Policy-Wandel gemeint, der substanziell ist in der Zieldimension, wie auch im Politikstil und in den Beteiligungsformen. Dabei legen wir einerseits einen bewusst offen gehaltenen Innovationsbegriff zugrunde, der am jeweiligen Forschungsgegenstand der Beiträge unterschiedlich aufgegriffen und konkretisiert werden kann. Andererseits wollen wir Innovation nicht in einem technokratisch enggeführten Sinne verstehen. Innovationen und ihre politische Durchsetzbarkeit sind Seismographen für die Handlungs- und Lernfähigkeit von Politik und Regierung in ihrer Regelungs- und Steuerungsfunktion. Insofern setzt Innovation die Offenheit für Neues und die Lernfähigkeit der Politik im internationalen Rahmen, wie auch im Austausch mit Gesellschaft, zivilgesellschaftlichem Engagement und migrantischen Selbstorganisationen, voraus. Im analytischen Bezugsrahmen der legitimationstheoretischen Fragestellung wird die normative Dimension des Innovationsbegriffs deutlich. Innovationen, bzw. die Motivation und Fähigkeit der Akteure, die sie auf den Weg bringen oder vorantreiben, speisen sich häufig aus konkreten Utopien und universellen Werten, wie den Menschenrechten, der Aufklärung und Emanzipation von Unterdrückung und Herrschaft. In diesem Wertebezug sind Innovationen politisch umstritten und umkämpft. Die Rechtfertigbarkeit ihrer Verbreitung und institutionellen Verankerung wird unter Bezugnahme auf demokratische Beteiligung ­(Input-Legitimation) und Funktionalität im Ergebnis (Output-Legitimation) infrage gestellt. Die Innovationsfähigkeit der Politik bildet aber auch ein konstitutives Moment der liberalen Demokratie, indem sie als Voraussetzung für die gelingende politische Steuerung und Ausgestaltung sozialen Wandels wirksam werden kann. Die Offenheit demokratischer Gesellschaft impliziert, dass soziale Herausforderungen politisch aufgegriffen, auf Innovationspotenziale geprüft, und ggf. für anstehende Reformen genutzt werden können. Gleichermaßen gilt ein durch politisch innovatives Handeln herbeigeführter Policy-Wandel als besonders rechtfertigungsbedürftig. Ohne die Rechtfertigbarkeit und politische Akzeptanz durch die Mehrheitsgesellschaft kann sich der innovative Policy-Wandel nicht nachhaltig entfalten und konsolidieren.

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K. Toens und R. Pioch

Die von Teilen der Aufnahmebevölkerung als Krise, von anderen Teilen als willkommene Öffnung demokratischer Gesellschaft interpretierte Einwanderung in den Jahren 2015 und 2016 bietet einen besonderen Anlass, die Innovationsund Legitimationsfähigkeit der Politik zu hinterfragen. Damit wählen wir einen politiktheoretischen Zugang zu Problemen der Steuerung und Steuerbarkeit von Migration in liberalen Demokratien, die bisher allenfalls punktuell und im Zusammenhang mit der Euro-, Schengen- und Asylkrise der EU adressiert wurden (einschlägig siehe etwa Börzel und Risse 2017; Nedergaard 2019). In diesen politikwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Krisen und Legitimationsproblemen wird Legitimation u. a. verstanden als die ordnungsund repräsentationspolitische Kongruenz von Regierungshandeln, der Legalität bestehender Gesetze, und der politischen Akzeptanz in der Bevölkerung (vgl. etwa Nedergaard 2019). Dieses Legitimationsverständnis ist unserer Auffassung zufolge für die Analyse des Verhältnisses von Innovation und Legitimation in der aktuellen Migrationspolitik nur bedingt aussagekräftig. Die aktuelle Krise der EU lässt sich zwar auch an einem Legitimationsdefizit festmachen, das aus dem Verlust der Kontrolle über die EU- Außengrenzen und über die Fluchtmigration außerhalb des asylrechtlichen Rahmens (unkontrollierte Einwanderung) herrührt. Für die Auseinandersetzung mit der politischen Gestaltbarkeit von Prozessen des sozialen Wandels, die ursächlich mit (Flucht-)Migration verbunden sind und über diese in den Aufnahmeländern mit geprägt und forciert werden, greift dieser Ansatz jedoch zu kurz. Die Gestaltungsspielräume und Problemlösungskapazitäten der Politik im Umgang mit den sozialen Herausforderungen der Migration lassen sich zielführender diskutieren aus der Perspektive einer empirisch fundierten Policy-Analyse des jeweils konkreten Verhältnisses von Innovation und ­ Legitimation. Aus dieser Perspektive kann sichtbar gemacht werden, dass Legitimationsprobleme die Innovationsfähigkeit behindern können oder auch zu Richtungskorrekturen innovativer Politik führen. Umgekehrt kann gezeigt werden, dass die Innovationsverweigerung Legitimationsprobleme erzeugt. In einer intakten Demokratie stehen beide Dimensionen des Regierens in einem konstruktiven Spannungsverhältnis und Wechselspiel. Legitimationsprobleme werden als Hinweise auf Innovationsbedarfe oder auch als Fehler in der Planung und Umsetzung von Innovationen ernst genommen und entsprechend geprüft. Bisweilen können die politische Innovation, sowie die Reflexion und ggf. Korrektur ihrer Planung und Umsetzung, aber auch gezielt genutzt werden, um Legitimationsproblemen vorzubeugen. Insofern ist das Zusammenspiel aus Innovation und Legitimation keineswegs festgefahren, sondern ein Prozess, der als solcher politisch gestaltbar ist (Hall 1993; Mayntz 2011; Rothstein 2009;

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Scharpf 1970; Suchmann 1995; Zimmermann und Zeitz 2002). Beispiele für die politische Gestaltung von Innovation und Legitimation sind die Erzeugung eines Legitimationsvorschusses für die Regierung durch demokratische Wahlen und die damit verbundenen I­ nput-bezogenen Legitimationseffekte, das Partizipationsmanagement im Verwaltungshandeln (Bürgerkommune, Konsultationsverfahren in der EU), das Ringen um die Herstellung von Legitimation im Rahmen von Rechtssetzungs- und Gerichtsverfahren (Gesetzeslobbyismus durch Menschenrechtsorganisationen, Klagen gegen menschenrechtswidriges Handeln) oder die gezielte Initiierung von Policy learning zur Erzeugung von Output-bezogenen Legitimationseffekten. Wir gehen davon aus, dass die Entstehung von Innovationen, aber auch von Legitimationsproblemen, durch die konkreten Kontexte und institutionellen Rahmenbedingungen der Politik begünstigt bzw. forciert werden kann. Krisen können die Innovationsbereitschaft der Politik befördern, indem sie auf Dysfunktionalitäten in den bestehenden Regelsystemen verweisen und dadurch Innovationsdruck erzeugen. Politik ist in Krisen jedoch auch anfälliger für Legitimationsprobleme als in Zeiten der relativen Systemstabilität (Alink et al. 2001; Black 2008; Verhoest et al. 2007). Je höher der Veränderungs- und Problemdruck desto eher steht Politik unter Beobachtungs- und Erfolgszwang. Die Abhängigkeit der Regierung von der politischen Akzeptanz in ihrer Wählerschaft wächst. Zugleich können Bürger*innen hochsensibel auf Unbekanntes und Neuerung reagieren. Aktuell ist beobachtbar, dass die politische Akzeptanz in der Bevölkerung insbesondere dann nachlässt, wenn Krisen kumulativ zusammenwirken. So begann die aktuelle Legitimationskrise der Europäischen Union schon vor der Zunahme der Einwanderung nach Europa und den dadurch forcierten Zusammenbruch des Dublin-Systems. Ausschlaggebend war diesbezüglich auch die innerhalb der Mitgliedstaaten umstrittene Krisenbewältigungsstrategie der Austeritätspolitik im Kontext der Finanzmarkt- und Eurokrise (Mittendrein 2015; Offe 2016). Im Kontext des Zusammenwirkens dieser unterschiedlichen Krisen haben sich die Legitimationsprobleme der Europäischen Union verschärft, was wiederum die Innovationsbereitschaft der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten negativ beeinflusst hat. Die Mobilisierung nationalistischer und populistischer Bewegungen ist möglicherweise ein Indikator für diese mangelnde politische Akzeptanz und Innovationsbereitschaft. Zumindest ist anzunehmen, dass die Erstarkung des Populismus in Europa nicht ursächlich mit der Krise der europäischen Asylpolitik zusammenhängt, sondern in dieser Krise lediglich weiteren Nährboden fand. Die grundlegende Reform des Dublin-Systems könnte durch die Innovationshemmnisse, die ggf. von dieser Situation ausgingen, erschwert worden sein.

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K. Toens und R. Pioch

Auch die strukturellen und institutionellen Eigenheiten von politischen Mehrebenensystemen können Innovationsblockaden und Legitimationsprobleme begünstigen. In der Europäischen Union sind Probleme der Input-Legitimation dadurch wahrscheinlich, dass die demokratische Kontrolle politischer Entscheidungen eher gering ist (Habermas 2014; Genschel und Jachtenfuchs 2016; Scharpf 1999a, 2015, 2016; Streeck 2016; Den Hajer et al. 2016). Deutschland hat gerade in der Migrationspolitik einen ausgeprägten Föderalismus mit starken subnationalen Entscheidungsebenen und einem hohen Grad der sektoralen Zuständigkeit in der Regierungsorganisation (Radtke und Fleischer 2019). Üblich unter Bedingungen der Politikverflechtung sind eher Entscheidungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner und das inkrementelle Reformieren im Modus des Trial and Error. Legitimationsprobleme sind dadurch nicht nur auf der Input-Seite durch die Exekutivlastigkeit politischer Entscheidungen zu erwarten (Scharpf 1999b, 1985); zudem begünstigt ein hoher Zeit- und Entscheidungsdruck Fehler des Politikmanagements, die sich hinderlich auf die ­Output-Legitimation von neuen Politiken auswirken können (Rüb 2014; Bröchler 2016). Politische Mehrebenensysteme eignen sich aber auch für die dezentrale Initiierung und Koordinierung von Lernprozessen, die der Legitimation von politischen Innovationen dienlich sein kann. Beispiele sind der Wettbewerbsföderalismus, in dessen Rahmen Länder und Kommunen zu Laboratorien und Experimentierfeldern migrationspolitischer Innovationen umgedeutet werden. Ähnliche Dynamiken soll die offene Methode der Koordinierung in der EU erzeugen, indem Mechanismen des Naming, Shaming und Blaming das Policy Learning in den Mitgliedstaaten durch das Lernen am Modell der Best Practices forcieren. Ob und inwieweit in derartigen Verfahren tatsächlich Legitimation erzeugt wird, ist eine empirische Frage. Indikatoren für Innovation sind die Diffusion von Ideen, paradigmatischer Policy-Wandel als Ergebnis von Lernprozessen (vgl. Hall 1993) und Zukunftsvisionen der EU, die über längere Zeiträume glaubwürdig bleiben. Legitimation bzw. Legitimationsprobleme zeigen sich u. U. anhand von Wahl- und Umfrageergebnissen, in öffentlichen Diskursen, durch Proteste, zivilen Ungehorsam oder auch in der Verweigerung seitens der Kommunen. Jenseits von Möglichkeiten der dezentralen Initiierung und Koordinierung von Lernprozessen lassen sich politische Mehrebensysteme strategisch für die Verdrängung von Legitimationsproblemen nutzen. So bietet das Dublin-System in der europäischen Asylpolitik ein Beispiel für die nationale Externalisierung von Legitimationsproblemen anhand der Verschiebung von Regelungsdruck und politischer Verantwortung auf die europäische Politikebene und die Länder an den EU-Außengrenzen, allen voran Griechenland und Italien.

Innovation und Legitimation in der Migrations …

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Aus der demokratietheoretischen Perspektive stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Innovation und Legitimation nicht nur mit Blick auf die Einwanderungsgesellschaft, sondern auch hinsichtlich der politischen Handlungsfähigkeit von Zugewanderten und deren Herkunftsländern (Odujans 2014; Knoth 2015; Rother 2016). So lässt sich etwa fragen, inwieweit die politische Organisation und demokratische Partizipation von Geflüchteten unter den erschwerenden Bedingungen einer unsicheren Bleibeperspektive ohne die Unterstützung der Aufnahmegesellschaft überhaupt möglich sind, welche sozialen und politischen Rechte Geflüchteten von der Aufnahmegesellschaft eingeräumt werden sollten, und ob nicht auch die Aufnahmegesellschaften und Herkunftsländer von der politischen Beteiligung Geflüchteter profitieren können. Migrantische Selbstorganisationen und Proteste können auf die Legitimationsprobleme europäischer und deutscher Migrationsregime hinweisen oder auch Innovationen in Gang setzen, sei es im Aufnahmeland durch die gelingende demokratische Teilhabe, sei es in transnationalen und globalen Institutionen oder den Herkunftsländern von Geflüchteten durch die globale Diffusion ihrer demokratischen Erfahrungen im Aufnahmeland (Rother 2016).

3 Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik: Konzeption und Beiträge des Bandes Der vorliegende Band verbindet zwei Zugänge zu der Ausgangsfrage nach den Impulsen und Dynamiken, die durch das Verhältnis von Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik angestoßen werden können. Erstens wird der internationale Vergleich als die älteste Methode des Erkenntnisgewinns innerhalb der Politikwissenschaft angewendet (Pickel et al. 2003; Hunger et al. 2014). Mit Blick auf unsere Fragestellung hat die Anwendung vergleichender Perspektiven die folgenden Vorteile: Der internationale Vergleich birgt das Potenzial, kulturell spezifische Verständnisse von Innovation und Legitimation und länderspezifische Ausprägungen des Verhältnisses von Innovation und Legitimation sichtbar werden zu lassen. Zudem können unterschiedliche Mehrebenensysteme oder Politikebenen innerhalb von Mehrebenensystemen und deren Verflechtung auf die Frage hin verglichen werden, auf welcher Ebene politische Innovationen angestoßen werden, und wo konkret Legitimation hergestellt bzw. verhindert wird. Für beide Felder des Vergleichs, den Ländervergleich und den Vergleich von Politikdynamiken und einzelnen Politikebenen

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in ­ Mehrebenensystemen, lassen sich Fragen des Politiklernens mit Blick auf Strategien und Prozesse differenziert untersuchen (vgl. Toens und Landwehr 2008). Zweitens stützt sich die Konzeption des Bandes auf den interdisziplinären Dialog zwischen Politikwissenschaft und Sozialer Arbeit. Der interdisziplinäre Dialog dient uns als Chance der Wissensgenerierung, der hier im Austausch mit der Sozialen Arbeit erprobt werden soll. Die Fachpraxis und angewandte Wissenschaft der Sozialen Arbeit bildet ein wichtiges Fundament für die empirische Rückbindung und Fundierung der politikwissenschaftlichen Diskussion. Auch gilt die Soziale Arbeit als Expertin der Lebenswelt von Migrant*innen und Geflüchteten. Ihren verbandlich organisierten Trägern kommt eine besondere Rolle bei der Vermittlung von migrationspolitischen Innovationen in die Zivilgesellschaft zu. Mit Blick auf die demokratische Teilhabe von Migrant*innen und Geflüchteten agiert die in öffentlichen Trägern, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und NGOs organisierte Soziale Arbeit als anwaltschaftliche Interessenvertretung und leistet Unterstützung bei der politischen Selbstorganisation. Insofern kann Soziale Arbeit über Implementations- und Legitimationsprobleme besonders gut informieren. In Deutschland ist die Migrationspolitik ein vergleichsweise junges, sich institutionell erst ausbildendes Politikfeld, das zugleich der rasanten Veränderung seiner Kontextbedingungen und einem rapiden Anstieg des externen Problemdrucks unterliegt. Daher kann aktueller Policy-Wandel schwerlich mit herkömmlichen empirischen Studien hinreichend erfasst werden. Im Dialog mit der Fachpraxis von Politik und Sozialer Arbeit können politikwissenschaftliche Erkenntnisgewinne, die auf der Grundlage einer notwendigen Trägheit empirisch rückblickender wissenschaftlicher Arbeit zustande kommen, um professionelles Wissen über Krisenmanagement in der Verwaltung, politische Handlungsspielräume im Umgang mit unerwartetem Innovationsdruck, akute soziale Probleme und zivilgesellschaftliche Lösungsansätze erweitert werden. Entsprechend sind die Beiträge des Bandes unterschiedlich gestaltet je nach disziplinärer Herkunft und ihres jeweiligen Formates als Diskussionsbeitrag, Kommentar oder Erfahrungsbericht. Sie sprechen je für sich und spiegeln zugleich in der Zusammenschau den Ertrag des interdisziplinären Dialogs. Inhaltlich wird die übergreifende Fragestellung nach dem Verhältnis von Innovation und Legitimation in der aktuellen Migrationspolitik in den folgenden fünf Themenfeldern aufgegriffen: Innovation und Legitimation in der politischen Steuerung von Zuwanderung (I), die Legitimationskrise der aktuellen Asyl- und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union (II), Innovation von unten, politische Selbstorganisation und demokratische Partizipation (III), Innovation und Legitimation im deutschen Föderalismus (IV), und Perspektiven des Dialogs

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von Politikwissenschaft, politischer Praxis und Sozialer Arbeit (V). Die Kernfrage innerhalb des ersten Teils lautet, inwiefern Deutschland von klassischen Einwanderungsländern lernen kann. Als exemplarisches Beispiel eignet sich in herausragender Weise der Vergleich mit Kanada. Im Sinne eines „Most different systems design“ kann gegenüber der Zuwanderungsbegrenzungspolitik Deutschlands danach gefragt werden, wie in Kanada der Wandel zu einer Multikulturalität als prägendes Element der Zuwanderungspolitik möglich wurde. Gegenstand des Beitrags von Oliver Schmidtke ist die Legitimationsgrundlage und aktuelle Entwicklungsdynamik der kanadischen Einwanderungspolitik. In dem Beitrag wird deutlich, dass die historisch gewachsene Einwanderungsgesellschaft Kanadas einen pragmatischen Zugang zur Migrationspolitik entwickelt hat. Dieser, so argumentiert Schmidtke, würde die versöhnliche Koexistenz einer im nationalen Rahmen legitimitätsstiftenden utilitaristischen Wahrnehmung von Immigration als sozioökonomischem ‘Innovationsmotor‘ und der ­partizipativ-demokratischen Ansiedlungspraxis (‘Settlement‘) auf regionaler und kommunaler Ebene unterstützen. Gerade der robuste Kern einer gelebten kulturellen Vielfalt ist Schmidtke zufolge als eine Ressource zu betrachten, die die kanadische Zivilgesellschaft im Kontext der aktuellen Fluchtmigration vor der Gefahr eines politischen Durchbruchs populistisch fremdenfeindlich inspirierter Gegenbewegungen schützen kann. Wie unterschiedlich die migrationspolitischen Praktiken angelsächsischer Eiwanderungsländer im Vergleich zu Europa und insb. Deutschland sind, verdeutlicht einprägsam der Kommentar von Lorenz Wiese. Internationale Lernprozesse werden dadurch erschwert, sind aber, wie Wiese am illustrativen Vergleich der deutschen und kanadischen Asylbürokratie herausarbeitet, keinesfalls ausgeschlossen. Dies gelte insbesondere dann, wenn die aktuelle Fokussierung auf Lernen am Vorbild („Best practices“) um moderierte Prozesse des Fehlerlernens erweitert werden kann. Sascha Krannich und Uwe Hunger beleuchten die Vor- und Nachteile von Punktesystemen zur Regelung von Einwanderung und die in ihnen notwendig unterlegten Zuwanderungsselektionskriterien im internationalen Vergleich. Dabei wird diskutiert, inwieweit unterschiedliche Zuwanderungsregeln aus anderen Ländern auf die deutsche Einwanderungspolitik übertragbar sind. Am Ende steht die Empfehlung eines demokratischen Aushandlungsprozesses. Auf der Basis einer möglichst breiten demokratischen Legitimation und unter der Maßgabe einer umfassenden Prozessevaluation könne die Einführung eines Punktesystems Innovationen befördern, ohne Legitimationsdefizite zu verursachen. Im Dialog mit der Sozialen Arbeit setzt sich Susanne Spindler kritisch mit der Einführung eines Punktesystems zur Regulierung von Einwanderung in Deutschland auseinander. Maßgeblich für die hier entfaltete Argumentation ist

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die Selbstbeschreibung der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession. Aus dieser Perspektive werden die humanitären Defizite und Probleme aufgezeigt, die Spindler zufolge Platz greifen, wenn Legitimation als Verfahrenslegitimation unter Bezugnahme auf Selektionsmechanismen prozedural hergeleitet wird. In Teil zwei des Bandes wird die aktuelle Legitimationskrise der EU aus unterschiedlichen Perspektiven auf die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik diskutiert. Ausgangspunkt des Beitrags von Natascha Zaun ist die These von Krisen als Innovationsmotoren. Der Zusammenhang zwischen Krisen und Innovation ist allerdings komplexer, wie der Beitrag von Zaun zeigt. Zumindest mit Blick auf die interne Dimension europäischer Asylpolitik, so wird resümiert, verhindern bestehende Machtunterschiede und Interessenskonflikte zwischen den Mitgliedstaaten Politikinnovationen. In seinem Erfahrungsbericht als ehemaliger Mitarbeiter der Generaldirektion Inneres der Europäischen Kommission gibt Yorck Wurms Einblicke in die Arbeitsweise und migrationspolitische Handlungslogik der Kommission im Kontext der Krise europäischer Asylpolitik. Wurms zeigt, wie sich die Handlungsprioritäten der Kommission ab 2015 deutlich verschoben haben. Um Konflikte mit den Regierungen der Mitgliedstaaten zu vermeiden wurde der Flüchtlingsschutz dem Ziel der Erhöhung der Rückführungsquote nachgestellt. Handlungsleitend war in diesem Zusammenhang ein technokratisches Verständnis von Innovation als Verfahrenssteuerung zugunsten der reibungslosen und effektiven Durchsetzung entsprechender Gesetzgebungsvorschläge. Dieser „Binnenrationalität“ der Europäischen Kommission stellen Julia Maria Eichler und Katrin Hatzinger eine Perspektive entgegen, die die Handlungs- und Innovationsfähigkeit der Politik an der humanitären Lösung der Asylfrage fest macht. Unter Bezugnahme auf die Praxis der europäischen Interessenvertretung der Evangelischen Kirche in Brüssel wird die Krise europäischer Asyl- und Flüchtlingspolitik aus der menschenrechtsorientierten Perspektive der EKD beleuchtet. Dabei geht der Beitrag der Frage nach, inwieweit ausbleibende Innovationen destruktiv auf die Europäische Union und die Idee Europa zurückwirken werden. Danielle Gluns zeigt am Beispiel der Situation Geflüchteter in Sizilien, wie sich die Frage nach dem Verhältnis von Innovation und Legitimation an den Außengrenzen der EU zuspitzt. Trotz oder gerade im Kontext von europäischer Legitimationskrise und populistischer Regierung in Italien, so argumentiert Gluns, hätten die Regionen und Kommunen beachtenswerte Innovationspotenziale zugunsten der Aufnahme und Integration von Geflüchteten entfaltet, die innerhalb des sich verschärfenden europäischen Klimas der Grenzsicherung und Abschottung immer wichtiger werden würden.

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Die Beiträge des dritten Teils des Bandes gehen der Frage nach, inwieweit Innovation in der Migrationspolitik durch soziale Bewegungen und die politische Selbstorganisation der Migrant*innen und der Geflüchteten ermöglicht werden kann. Abimbola Odugbesan und Helge Schwiertz beschreiben Narrativ und Strategien der politischen Initiativen von Geflüchteten in Deutschland. Dabei zeigen sie, wie die politischen Positionierungen organisierter Geflüchteter zwischen universellen Menschenrechtsforderungen und Partikularinteressen oszillieren. Stefan Rother diskutiert migrantische Selbstorganisation im globalen Bezugsrahmen. Interessenskonflikte und partikularistische Forderungen einzelner migrantischer Selbstorganisationen bringen Rother zufolge nicht zwangsläufig demokratische Legitimationsdefizite hervor. Vielmehr seien sie als normale Begleiterscheinungen demokratischen Handelns zu werten, die einen innovativen Beitrag zur Demokratisierung internationaler Foren und Politikprozesse leisten würden. Andreas Kewes fragt nach Kontinuität und Wandel migrationspolitischer Konfliktstrukturen im Kontext der Entwicklungsgeschichte von Flüchtlingsschutzbewegungen und Flüchtlingshilfe in Deutschland. Ausgehend von den asylpolitischen Veränderungen der 1960er und 1970er Jahre zeigt Kewes die Herausbildung einer konfrontativen Konfliktstruktur, die sich im Wechselspiel von restriktiver staatlicher Asylpolitik, Flüchtlingsschutzbewegungen, und der Sozialen Arbeit bis in die Gegenwart hinein verfestigt habe. Roland Roth gibt aus Sicht der politikwissenschaftlichen Bewegungsforschung zu bedenken, dass die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten des „langen Sommers der Migration“ nicht vorschnell als Soziale Bewegung klassifiziert werden sollten. Innovationspotenziale sozialer Bewegungen werden Roth zufolge in einem Politikfeld erst dann wirksam, wenn diese einen gewissen Organisationsgrad erreicht haben, der sie relativ dauerhaft handlungsfähig werden lässt. Teil vier des Bandes thematisiert das Verhältnis von Innovation und Legitimation für Bundes-, Länder- und Kommunalpolitik im föderalen Mehrebenensystem Deutschlands. Christian Brütt analysiert, wie im bundesdeutschen Sozialstaat mit Migration und Flucht umgegangen wird. Genauer wird untersucht, wie das sozialstaatliche Leistungsspektrum auf der jeweiligen Statuszugehörigkeit der Leistungsempfänger*innen basiert. Es wird gezeigt, welche sozialstaatlichen Leistungen Geflüchteten eröffnet oder auch vorenthalten werden und welche Folgen diese selektiven Zugänge für die Alterssicherung zeitigen. Miriam Meyer eröffnet mit ihrem Erfahrungsbericht aus der Sozialen Arbeit Einblicke in die herausfordernde Praxis der Traumabehandlung von Geflüchteten, die dem Gesundheitssystem innovatives Handeln abverlangt.

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Innovationsfähigkeit und Legitimationsprobleme zeigen sich in der Länderzuständigkeit bei der Erstaufnahme Geflüchteter und ihren Asylverfahren, sowie in der Integration der Zugewanderten. Dabei spielt der Bildungsauftrag der Länder eine entscheidende Rolle für die Ermöglichung von Zugängen in die Aufnahmegesellschaft. Innovationsfähigkeit und Legitimationsprobleme zeigen sich insofern besonders prägnant im deutschen Bildungsföderalismus. Anselm Böhmer untersucht die aus Innovationsblockaden resultierende Legitimationskrise des Umgangs mit Geflüchteten im föderalen Bildungssystem Deutschlands. Er stellt aus Sicht der Erziehungswissenschaft die Frage, inwieweit politisch evozierte Innovationen auf die Bildungssysteme einwirken können oder ob nicht vielmehr umgekehrt davon ausgegangen werden müsse, dass Innovationen aus den Bildungssystemen selbst, durch die Einrichtungen und die dort tätigen Pädagog*innen, angestoßen werden könnten. Aus Sicht der Sozialen Arbeit widmet sich Sebastian Muy der Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt. Dabei zeigt er Widersprüche zwischen der kommunalen Innovations- und Integrationsbereitschaft und restriktiven bundesstaatlichen Vorgaben auf. Gegenüber den Beharrungstendenzen auf Bundesund Landesebene diskutieren Werner Schönig und Hannes Schammann die Innovationspotenziale kommunaler Flüchtlingspolitik. Schönig zufolge variieren kommunale Handlungsspielräume in Abhängigkeit der finanziellen Ausstattung der Kommunen. Da den Innovationspotenzialen der Kommunen durch ihre strukturelle Schwäche im Staatsaufbau Grenzen gesetzt seien, wäre innovatives Handeln im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung lediglich punktuell im operativen Bereich der Politikimplementation erwartbar. Vor diesem Hintergrund diskutiert Schönig die Innovationspotenziale kommunaler Migrationsund Flüchtlingspolitik in Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Übertragbarkeit des Konzepts der „Ankunftsstadt“ auf deutsche Städte und Kommunen. Der Fokus des Beitrags von Schammann liegt indes auf der Herausstellung der lokalpolitischen Innovationsfähigkeiten im kommunalen Vergleich. Dabei wird die Frage der Rückwirkungen kommunaler Innovationsfähigkeit auf Länder- und sogar Bundesebene im föderalen Mehrebenensystem thematisiert. Der abschließende Teil fünf zeigt die Ergebnisse und Perspektiven des Dialogs zwischen Politikwissenschaft und Sozialer Arbeit auf. Michaela Köttig folgert aus den Innovationsbedarfen in der Migrations- und Fluchtpolitik die Notwendigkeit einer Positionierung der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession. Dazu, so argumentiert sie, ist es unerlässlich, dass die neuen Herausforderungen einer

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Einwanderungsgesellschaft für die Soziale Arbeit auch forschend untersucht werden. Unter Bezugnahme auf die Interdisziplinarität der Wissenschaft Soziale Arbeit stellt Köttig die Bedeutung des Dialogs Sozialer Arbeit und Politikwissenschaft heraus. Abschließend führen die Herausgeberinnen des Bandes die Ergebnisse der Beiträge im Bezugsrahmen der eingangs erläuterten analytischen und theoretischen Zugänge zur Diskussion des Verhältnisses von Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik systematisch zusammen.

4 Entstehung des Bandes und Danksagung Die Idee zu diesem Buch entstand auf einer von den Herausgeberinnen initiierten Dialog-Tagung, die im Herbst 2017 im Schader-Forum Darmstadt stattgefunden hat. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurden erstmalig Politikwissenschaft, Politische Praxis und Soziale Arbeit systematisch in den Dialog geführt, um Innovationspotenziale und Legitimationsprobleme in der Migrationspolitik auszuloten. Wir als Herausgeberinnen des Bandes und Veranstalterinnen der diesem Band vorausgehenden Tagung möchten der Schader-Stiftung Darmstadt und namentlich Ihrem Stifter Alois M. Schader unseren großem Dank aussprechen dafür, dass die Schader-Stiftung Räume schafft, die den Gesellschaftswissenschaften die Kommunikation untereinander und den Dialog mit der Praxis ermöglicht und somit die notwendige Selbstreflexion unserer Gesellschaft befördert. Für die Möglichkeit, den mit dem vorliegenden Band dokumentierten und zugleich weitergeführten Dialog in den inspirierenden Räumlichkeiten der ­Schader-Stiftung beginnen zu können, sind wir der Schader-Stiftung zu großem Dank verpflichtet. Wir danken der Schader-Stiftung für die konzeptionelle und finanzielle Unterstützung der Tagung im Format des Wissenschaft-PraxisDialogs. Herrn Dr. Alexander Gemeinhardt, Geschäftsführender Vorstand der Schader-Stiftung, sei herzlich gedankt für sein großes Interesse am Dialog zwischen Politikwissenschaft, politischer Praxis und Sozialer Arbeit sowie für den fachkompetenten Austausch im Vorfeld und während der Tagung. Weiterhin gebührt dem Hessischen Ministerium für Soziales und Integration sowie besonders dem Hessischen Minister für Soziales und Integration Herrn Kai Klose großer Dank seitens der Herausgeberinnen für inhaltliche Unterstützung und finanzielle Förderung der Tagung im Rahmen des Landesprogramms „Wir“. Ebenso möchten wir sehr herzlich der Heinrich-Böll-Stiftung Hessen, insb. Frau Margret Krannich, für die Förderung unseres Wissenschaft-Praxis Dialogs zur Migrations- und Flüchtlingspolitik danken. Die Tagung wurde zudem unterstützt durch die beiden Fachvereinigungen, den Arbeitskreis Migrationspolitik

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der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) und die Sektion Politik Sozialer Arbeit der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA). Auch hier danken wir unseren Kolleg*innen sehr herzlich für ihre fachliche Unterstützung. Für fachkompetente Unterstützung bei der kritischen Durchsicht der Manuskripte des vorliegenden Bandes danken wir unserem Kollegen PD Dr. Stefan Rother, Universität Freiburg. Damaris Muth und Mareike Ochs haben als wissenschaftliche Hilfskräfte an der Evangelischen Hochschule Freiburg bei der Durchsicht der Manuskriptvorlagen ebenfalls wertvolle Unterstützung geleistet. Das Anliegen des vorliegenden Buches ist es, den Dialog zur Migrations- und Flüchtlingspolitik zwischen Politikwissenschaft und Sozialer Arbeit als Handlungswissenschaft fortzuführen. In diesem Sinne freuen wir uns, dass wir über das ursprüngliche Tagungsprogramm hinausgehend weitere Autor*innen für die Mitarbeit an diesem dialogisch konzipierten Buch gezielt gewinnen konnten. Wir möchten allen Autor*innen des Bandes ganz herzlich für ihre Kooperation und ihre Beiträge zu diesem Buch danken. Auf diese Weise ist ein lohnendes Gesamtergebnis zur Forschungsfrage nach Innovation und Legitimation in der Migrations- und Flüchtlingspolitik entstanden.

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Prof. Dr. Katrin Toens; Professorin für Politikwissenschaft am Fachbereich Soziale Arbeit, Evangelische Hochschule Freiburg, Forschungsschwerpunkte: Europäische Integration, politische Interessenvertretung, international vergleichende Sozialpolitikforschung, Policyanalyse mit den Schwerpunkten Migrations-, Sozial- und Familienpolitik. Mitglied der Sektion Politik Sozialer Arbeit der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA), E-Mail: [email protected]. Prof. Dr. Roswitha Pioch; Professorin für Politikwissenschaft am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, Fachhochschule Kiel, Forschungsschwerpunkte: Migrationsund Integrationspolitik, Wohlfahrtsstaatstheorie, Sozialpolitik, Europäische Integration. Sprecherin des Arbeitskreises Migrationspolitik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW), E-Mail: [email protected].

Teil I Innovation und Legitimation in der politischen Steuerung von Zuwanderung

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Legitimation durch wirtschaftliches Nutzenkalkül und dezentrale Verfahren der Entscheidungsfindung: Das kanadische Migrationsregime Oliver Schmidtke Zusammenfassung

Der Beitrag entfaltet aus politikwissenschaftlicher Perspektive die These einer gelingenden Migrationspolitik in Kanada mit hohem Innovationspotenzialen und stabiler Legitimationsgrundlage infolge einer robusten zivilgesellschaftlichen Praxis des Multikulturalismus. Die folgenden drei Phasen werden näher in den Blick genommen: die grundlegende Wende in der kanadischen Einwanderungspolitik vom „nation building“ zum sog. Punktesystem zur Steuerung der Arbeitsmigration nach ökonomischen Kriterien, die Dezentralisierung und Regionalisierung der politischen Steuerung von Einwanderung, und die Auswirkung der Fluchtmigration. Abschließend wird in Form von Handlungsempfehlungen auf die Frage eingegangen, wie Deutschland von Kanada lernen kann.

1 Einleitung: Legitimität für Immigration als staatliche Gestaltungsaufgabe In einer Welt zunehmenden populistischen Nationalismus und der politischen Instrumentalisierung von einwanderungsfeindlichen Einstellungen nimmt Kanada eine Ausnahmestellung ein. Nicht zufällig wird dieses Land regelmäßig als ein O. Schmidtke (*)  University of Victoria, Victoria, Canada E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_2

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Paradebeispiel für ein modernes und weltoffenes Einwanderungsregime herangezogen: Über alle Parteien hinweg haben behutsame Grundsatzentscheidungen zugunsten einer langfristig geplanten Einwanderung auf hohem Niveau, einer umfassenden Integrationspolitik und des Multikulturalismus in der Öffentlichkeit eine vergleichsweise hohe Akzeptanz von Einwanderung und der damit einhergehenden kulturellen Vielfalt geschaffen. Die kanadische Gesellschaft ist durch eine beachtlich konstante Befürwortung der Einwanderung gekennzeichnet: Die Unterstützung für Immigration liegt relativ stabil bei über sechzig Prozent und verändert sich auch in Zeiten der wirtschaftlichen Krisen, der negativen Berichterstattung über Migrant*innen und terroristischer Anschläge kaum.1 Die Überzeugung, dass Einwanderung vorteilhaft für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung des Landes ist und dass der Multikulturalismus zum konstitutiven Teil der nationalen Identität gehört, ist zu einem von der Zivilgesellschaft und der politischen Elite des Landes weitgehend getragenen Konsens geworden. Jüngsten Umfragen zufolge fühlen sich über 80 Prozent der Bevölkerung dem Multikulturalismus grundsätzlich verpflichtet. Dieser Befund wirft die Frage auf, wie es Kanada gelungen ist, eine solch robuste Legitimationsgrundlage für seine Einwanderungs- und Integrationspolitik2 zu schaffen. Der Verweis darauf, dass die gesellschaftlich fest verankerte und politisch sanktionierte Akzeptanz der Einwanderung schlicht durch die Natur einer klassischen Einwanderungsgesellschaft zu erklären sei, hat im kanadischen Fall wenig Überzeugungskraft. Bis in die sechziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts hinein war die Migrationspolitik dieses Landes von der Idee des nation building, d. h. der Schaffung und des Schutzes einer nationalen Gemeinschaft und ihrer ethnisch-kulturellen Grundlage geprägt (Badgley 1998). Mit der Einwanderungspolitik sollte die (post-)koloniale Identität Kanadas als white settler society gestärkt werden (Stasiulis und Jhappan 1995). Einwander*innen wurden fast ausschließlich aus Europa, wenn möglich aus Großbritannien oder Frankreich, angeworben. Die zum Teil offen rassistisch begründete Exklusion nicht-europäischer Immigrant*innen bestimmte zentral eine an Maßstäben der

1Zu

aktuellen Umfragewerten siehe: https://www.theglobeandmail.com/canada/articlecanadian-attitudes-toward-immigrants-refugees-remain-positive-study/ (Zugegriffen: 30. April 2019). 2Im kanadischen Kontext wird unter Integrationspolitik eine Mischung aus Settlement, Citizenship and Multiculturalism Policies verstanden; siehe: Migration Policy Institute (2017).

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ethnisch-kulturellen Identität orientierte Einwanderungspolitik, die in Kanada bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg betrieben wurde (Li 2003). Mitte der sechziger Jahre wurde jedoch mit dieser Tradition gebrochen. Man verabschiedete sich von dem Gedanken, Migrationspolitik als Vehikel für nationale Identitätsstiftung zu nutzen, und die Auswahl und Integration von Migrant*innen wurde grundlegend neu an pragmatischen, volkswirtschaftlich begründeten Kriterien ausgerichtet. Diese grundsätzliche Umstellung des kanadischen Migrationsregimes hat zu weitreichenden demographischen, sozialen und politischen Veränderungen geführt (Kalbach 1987; Kelley und Trebilcock 2000). Die urbanen Ballungsräume des Landes sind hierfür ein einschlägiges Beispiel: Sechsundvierzig Prozent der Bevölkerung Torontos sind außerhalb Kanadas geboren. Im Jahr 2017 stellten in Toronto die sogenannten visible minorities (‚sichtbare Minderheiten‘) die Mehrheit der Einwohner*innen 3. Im Vergleich hierzu gehörten im Jahr 1960 nur zwei Prozent der Bevölkerung der nichtweißen Gruppe an. Dieser dramatische Anstieg an kultureller Diversität hat das Bild der kanadischen Nation und der politischen Gemeinschaft, zu der die Bürger*innen sich zugehörig fühlen, radikal verändert. Das zentrale Argument dieses Beitrages zielt darauf ab, zu zeigen, wie die stabile Legitimationsgrundlage für Einwanderung und die öffentliche Anerkennung kultureller Vielfalt auf zwei eng miteinander verknüpfte Entwicklungen zurückgeführt werden kann: Zum einen konnte sich im Rahmen des kanadische Einwanderungsregimes ein relativ hohes Maß an Innovationsfähigkeit entwickeln und in verschiedenen Policy-Bereichen entfalten. Themen der Immigration und kulturellen Vielfalt sind dadurch ein integraler Bestandteil von politischen Entscheidungsprozessen und sozialen Praktiken geworden. Zweitens war für diesen Prozess entscheidend, dass er sich über eine Vielzahl von Governance-Ebenen erstreckte und neben staatlichen auch zivilgesellschaftliche Akteure einbezog. Entsprechend ist die Steuerung von Einwanderung und Integration in Kanada Teil eines übergreifenden Migrationsregimes4, in dem Regierungshandeln und zivilgesellschaftliche Handlungsprozesse in einem spezi-

3Siehe:

https://www.thestar.com/news/gta/2017/11/08/toronto-is-now-majority-visible-minoritywhat-about-your-neighbourhood.html (Zugegriffen: 30. April 2019). 4Giuseppe Sciortino (2004) beschreibt Migrationsregime als einen „mix of implicit conceptual frames, generations of turf wars among bureaucracies and waves after waves of ‚quick fix‘ to emergencies, triggered by changing political constellations of actors“. Siehe auch: Horvath et al. (2017).

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fischen legitimationsstiftenden politischen und kulturellen Kontext eingebettet sind. Die folgenden Ausführungen gliedern sich in drei Abschnitte. Zunächst wird eine grundlegende Wende in der kanadischen Einwanderungspolitik und die Dynamik, die diese in Gang gesetzt hat, skizziert. Den empirischen Bezugspunkt dafür bildet die Arbeitsmigration, also die sogenannten economic immigrants, die über die staatliche Einwanderungspolitik rekrutiert werden. Dabei wird deutlich: Der Fokus auf den wirtschaftlichen Nutzen ist zur zentralen Legitimationsgrundlage des kanadischen Migrationsregimes geworden; gleichzeitig bildet aber der Multikulturalismus als soziale Praxis einen inhärenten Bestandteil dieses Migrationsregimes. Die Dezentralisierung und Regionalisierung der politischen Steuerung von Einwanderung, auf die anschließend eingegangen wird, hat aber nicht intendierte Entwicklungen hervorgerufen, die den auf gleichberechtigte Inklusion von Einwander*innen abzielenden Charakter dieses Regimes zum Teil konterkariert haben. Die sodann näher zu erläuternde wachsende Dominanz des ökonomischen Nutzenkalküls wirft die Frage auf, wie die Legitimation der Einwanderung in Kanadas Politiken und zivilgesellschaftlichen Praktiken institutionalisiert wurde und seine eigene Pfadabhängigkeit geschaffen hat. Dabei soll auch auf die Auswirkungen der Fluchtmigration eingegangen werden. Abschließend wendet sich dieses Kapitel der Frage zu, inwiefern das kanadische Migrationsregime ein relevantes Beispiel für die deutsche Einwanderungspolitik darstellen könnte.

2 ‚Becoming Multicultural‘ – Kanadas grundlegende Wende in der Immigrationspolitik Mit der Einführung des Punktesystems im Oktober 1967 wurde das kanadische Einwanderungssystem auf eine gänzlich neue rechtliche und ethische Grundlage gestellt. An die Stelle des Zieles, die ethnisch-kulturelle Homogenität des kanadischen Nationalstaates zu schützen, trat das Prinzip, die Auswahl von Einwander*innen an herkunftsunabhängige Kriterien zu knüpfen. Anhand des Punktesystems werden Migrant*innen unter Berücksichtigung des bestehenden Arbeitsangebotes auf der Grundlage von Ausbildung, sprachlichen Fähigkeiten (Beherrschung des Englischen oder Französischen), Arbeitserfahrung, Alter und ‚Anpassungsfähigkeit‘ an das Leben in Kanada beurteilt. Dieses Auswahlsystem verdrängte Kriterien der Herkunft und ethnischen Zugehörigkeit gänzlich. Während das Punktesystem besonders in den siebziger Jahren mehrfach reformiert wurde, behielt man die Qualifikation und berufliche Erfahrung

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der Bewerber*innen als wesentliche Auswahlkriterien bei (Li 2003). Mit der Einführung des Immigration and Refugee Protection Act im Jahr 2001 verschob sich zwar der Fokus etwas auf flexiblere, übertragbare Fertigkeiten und Qualifikationen und den Versuch, Bildungstitel und Arbeitserfahrung angemessener bewerten zu können. Die Begründung des Punktesystems in der Annahme, Kanada sei durch den Konkurrenzdruck der globalen Wissensökonomie auf den Zuzug von hochqualifizierten Migrant*innen angewiesen, wird durch das Gesetz aber unterstrichen. Heute machen die economic immigrants etwa sechzig Prozent der gesamten Einwanderung Kanadas aus. Entscheidend für den folgenreichen Wechsel vom nation building als Hauptzielsetzung der Einwanderungspolitik hin zum Punktesystem waren im Wesentlichen zwei Faktoren: Zum einen befand sich Kanada zur Zeit des Wechsels in einer kritischen Phase seiner Entwicklung, weil die sozial-ökonomische Entwicklungsfähigkeit infrage gestellt wurde. Die erfolgreiche Anwerbung von hochqualifizierten Einwander*innen galt damals als Instrument für die Anpassung an die Anforderungen des Arbeitsmarktes und die allgemeineren sozio-ökonomischen Erfordernisse, die für die wirtschaftliche Entwicklung ­ des Landes als erforderlich angesehen wurden. Aus pragmatischen Nutzenerwägungen heraus begann man in Kanada ab 1967 mit der weltweiten Rekrutierung von Einwander*innen und zwar mit dem Ziel der Unterstützung einer für das Land weithin als vorteilhaft angesehenen demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Aus dieser funktionalen Perspektive heraus betrachtet galt die Einführung des Punktesystems mit seiner herkunftsunabhängigen Rekrutierung von gut ausgebildeten Einwander*innen als eine zuvörderst wirtschaftliche Notwendigkeit zur Unterstützung der an den Arbeitsmärkten der Wissensökonomie nachgefragten Qualifikationsanforderungen. Diese volkswirtschaftliche Rationalität ist seither entscheidend sowohl für den Legitimationsdiskurs in der Eiwanderungspolitik als auch für die von da an bestimmende Annahme, dass die wachsende kulturelle Vielfalt ein unverzichtbares regulatives Prinzip zur Förderung und Entfaltung der Innovationspotenziale in der kanadischen Zivilgesellschaft sei (Whitaker 1991). Zweitens waren es die veränderten normativen Erwartungen in der internationalen Gemeinschaft (liberale Normen des Antirassismus und der Menschenrechte), die Kanadas neuem Migrationsregime zur Durchsetzung verhalfen. So argumentiert etwa Triadafilopoulos (2012), dass es der immer dringlichere “lack of fit” (die mangelnde Passung) zwischen dem universalistischen, von Menschenrechten geprägten Selbstverständnis liberaler Demokratien auf der einen Seite und der exkludierenden Praxis von Kanadas Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftspolitik auf der anderen Seite gewesen sei, der den politischen

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Wandel herbeiführte. Auch national wurde die Migrationspolitik Kanadas von Intellektuellen, Gewerkschaften, Kirchen und Immigrationsassoziationen zunehmend unter Druck gesetzt, die diskriminierende Auswahl der Einwander*innen und die mangelnde soziale Integration insbesondere von Kanadas nichteuropäischen Einwander*innen anzugehen (Elrick 2007; Triadafilopoulos 2004). In diesem Kontext ist es auch wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass der Wandel des kanadischen Einwanderungsgesetzes in einer geschichtlichen Epoche stattfand, in der das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft neu gestaltet wurde. Dabei ist großes Vertrauen in die regulierende Kraft staatlicher Planung gesetzt worden. Die Grundzüge der heutigen Migrationspolitik waren den wohlfahrtsstaatlich unterfütterten Sozialreformen dieser Ära stark verbunden. Dies hieß auch, dass die am volkswirtschaftlichen Nutzenkalkül ausgerichtete Rekrutierung von Einwander*innen durch eine Integrationspolitik ergänzt wurde, die sich an dem Maßstab einer toleranten und fairen Eingliederung der Neuankömmlinge in die kanadische Gesellschaft orientierte. Die für die Einwanderungspolitik ausschlaggebende Ausrichtung an sozioökonomischen Imperativen wurde so an das Gebot der Chancengleichheit gekoppelt (Arat-Koc 1999; Jenson und Phillips 1996). Der die politische Kultur des Landes stark prägende Multikulturalismus ist im Kern, neben der öffentlichen Anerkennung kultureller Differenz, eben auch eine gesetzlich verbriefte Verpflichtung auf gleichberechtigte Teilhabe an den Lebenschancen in der kanadischen Gesellschaft.5 Der Multikulturalismus und die Stärkung der Minderheitenrechte waren in dieser Hinsicht Teil des ­sozialdemokratisch-liberalen Emanzipationsanspruchs der siebziger Jahre, der sich an den Prinzipien der Fairness und Gerechtigkeit orientierte (Carens 2000; Eisenberg 2006). Die Verpflichtung, kulturelle Differenz öffentlich anzuerkennen und zu schützen, ist über die vergangenen Jahrzehnte zu einem integralen Bestandteil der nationalen Identität Kanadas geworden. Der Multikulturalismus als parteiübergreifend akzeptierte Politik und die immer weiter vertiefte kulturelle Heterogenität der kanadischen Gesellschaft haben den Weg zu einem Ethos der Pluralität geebnet, der von einer Mehrheit der Kanadier wertgeschätzt wird und in der staatlichen Handlungspraxis institutionell verankert ist (Bauder 2013; Bauder und Shields 2015; Courchene und Seidle 2007; Triadafilopoulos 2012; Winter 2014). 5Die

Erfolgsgeschichte Kanadas hinsichtlich der Inklusion von Migranten reflektiert diese Verpflichtung auf den multikulturellen Ethos: Im Migrant Integration Policy Index, der 148 Indikatoren und langfristige Prozesse der gesellschaftlichen Integration von Neuankömmlingen in vergleichender Perspektive untersucht, schneidet Kanada überaus gut ab (siehe: https://www.mipex.eu/canada; Zugegriffen: 30. April 2019).

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Seit Ende der sechziger Jahre wurde der kanadische Multikulturalismus politisch zur Chefsache erklärt. Dies hat die öffentliche Anerkennung von kultureller Vielfalt unterstützt und insofern dazu beigetragen, kulturelle Vielfalt als nachhaltige Legitimationsgrundlage der Einwanderungsgesellschaft zu etablieren.6 Über die vergangenen Jahrzehnte hinweg hat der Multikulturalismus auch den Lebensalltag der Kanadier tiefgreifend geprägt: Der Umgang mit ethnisch-kultureller und religiöser Vielfalt wurde normalisiert, was wiederum ­ die Entstigmatisierung der Immigration als solche unterstützt hat. Beispielsweise werden Neuankömmlinge nur übergangsweise als ‚Immigrant*innen‘ wahrgenommen; die Vorstellung, diese Gruppe etwa nach Jahrzehnten oder gar in der nachfolgenden Generation noch mit diesem Attribut zu belegen, ist der kanadischen Gesellschaft eher fremd. Auch die sogenannten visible minorities werden selbstverständlich als ‚Kanadier‘ akzeptiert, – ein Umstand, der auch durch die schnelle und unkomplizierte Einbürgerungspraxis begünstigt wird. Ebenso werden Prinzipien der Gleichbehandlung und Toleranz als normatives Gebot weitgehend akzeptiert, was keineswegs heißt, dass der diskriminierende Umgang mit Minderheiten gänzlich aus der gesellschaftlichen Praxis gebannt wäre. Die regulative Idee des Multikulturalismus ist so zum konstitutiven Merkmal nationaler Identität und gesellschaftlicher Handlungspraxis geworden.

3 Multikulturalismus als zivilgesellschaftliche Praxis Die Einführung des Punktesystems und des Multikulturalismus als Grundsatzentscheidungen der kanadischen Migrationspolitik haben eine allgemeine Akzeptanz gefunden, die allein aus den staatlich orchestrierten Gesetzen und Programmen nicht erklärbar ist. Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen, wie Gruppen in der Zivilgesellschaft zunehmend beim Festlegen der Bereiche und Grenzen der gruppenspezifischen Rechte beteiligt sind. Insofern hat sich der Multikulturalismus zu einer Art politischem Dach entwickelt, unter dem Bürgerrechtler*innen, Einwander*innen-, Minderheiten- und Interessengruppen, Gewerkschaftsverbände, Parteien und private Konzerne darin involviert sind, die Bedeutung der

6Nach

einer von der CBC (Canadian Broadcasting Corporation) im Jahr 2014 angestellten Studie halten 75 % der Befragten Kanada für ein Land, in dem unterschiedliche ethnischen Gruppen willkommen sind (siehe: https://www.cbc.ca/news/canada/canadian-attitudestoward-immigrants-conflicted-poll-says-1.2826022; Zugegriffen: 30. April 2019).

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abstrakten Prinzipien der Anerkennung kultureller Vielfalt in konkrete soziale und politische Initiativen zu übersetzen (Falge et al. 2012). Im kanadischen Zusammenhang ist es bemerkenswert zu beobachten, wie die Interessengruppen, welche die unterschiedlichen Einwanderergemeinschaften vertreten, ein sehr artikuliertes und einflussreiches Mitspracherecht auf öffentlichen Schauplätzen erlangt haben und die öffentliche Debatte in einer Art beeinflussen, wie es in einem typischen europäischen Zusammenhang weitgehend unbekannt ist. Provokativ ausgedrückt haben sich Problemstellungen zur Migration und die damit verknüpfte Frage der Identität und Chancengleichheit zu einem wichtigen Politikum in der heutigen kanadischen Gesellschaft entwickelt. Die damit verbundenen normativen Probleme, die über die Aktivitäten der Einwanderer oder der schlichten politischen Interessenvertretung von Minderheiten hinausgehen, haben einen großen Teil der sozialen Bewegungen und der Parteienpolitik des Landes beeinflusst (Bloemraad et al. 2015). Die Strategie des Bundes im Hinblick auf den Multikulturalismus hatte nachhaltige Auswirkungen auf die Mobilisierung ethnisch-kultureller Gruppen. Insbesondere in der Zeit nach den siebziger und achtziger Jahren beabsichtigten Vertreter des Multikulturalismus, die Befugnisse der Migrant*innenorganisationen auszuweiten, um ihnen politische und rechtliche Mittel zur Stärkung ihrer Einflussmöglichkeiten auf allen Politikebenen an die Hand zu geben (Bradford 2004). Die aktive Tätigkeit von Gruppen in der Zivilgesellschaft hat auf eine signifikante Art dazu beigetragen, den kulturellen Pluralismus zu einem zentralen Thema in der öffentlichen Debatte zu machen und einen normativen Grundsatz zu formen, der in der kanadischen Gesellschaft und Politik nachdrücklich befürwortet wird. So wurde die auf das volkswirtschaftliche Nutzenkalkül abhebende Legitimationsgrundlage von Einwanderung um die Prinzipien der Anerkennung kultureller Vielfalt und der gleichberechtigten Inklusion erweitert. Kanadas Städten kommt in diesem Zusammenhang eine Vorreiterrolle zu: In diesen von einer neuen Form der Superdiversity (Vertovec 2007) charakterisierten urbanen Zentren ist der Umgang mit Einwanderung und kultureller Differenz zu einem wichtigen Handlungsfeld von Stadtregierungen geworden (Siemiatycki 2011; Stasiulis et al. 2011). Hierbei spielen Organisationen von Migrant+innen und Minderheiten eine ausschlaggebende Rolle. Sie sind – und sei es in einer konsultativen Form – regelmäßig in den Entscheidungsprozess eingebunden und treten als Partner*innen auf, die entsprechende Initiativen mit planen und in die Praxis umsetzen. In vielfacher Hinsicht sind Städte wie Toronto, Montreal und Vancouver zu Laboratorien geworden, in denen der Multikulturalismus als politische und soziale Praxis eingeübt und innovativ weiterentwickelt wird.

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Das zivilgesellschaftliche Engagement von Migrant*innen und Minderheiten hat nicht nur zu deren weitgefächerten politischen Inklusion, sondern auch zu Veränderungen im politischen System Kanadas beigetragen. Über vierzig Jahre multikultureller Politik und die Anerkennung kultureller Differenz im öffentlichen Leben haben zu der ‘Normalisierung‘ von gruppenspezifischen Ansprüchen im politischen Leben des Landes geführt. Dies bezieht sich zum einen auf das Mainstreaming von migrations- und integrationsspezifischen Belangen in allen Bereichen staatlichen Handelns (Scholten et al. 2017). Was in Europa bestenfalls als randständiges Thema staatlicher Politikgestaltung wahrgenommen und in die Policy-Praxis übernommen wird, ist in Kanada zu einem integralen Bestandteil der Wirtschafts-, Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik geworden. Fragen kultureller Differenz sind mit dem Gebot der Chancengleichheit an funktionale Imperative modernen staatlichen Handelns gebunden. Aus dieser Perspektive steht Einwanderungs- und Integrationspolitik nicht vorrangig unter dem Gebot, das Land vor ungewollter Immigration zu schützen und Neuankömmlinge auf Integration zu verpflichten. Vielmehr ist sie eng mit den zentralen wirtschaftlichen und sozialpolitischen Zielen des Landes verknüpft. Zum anderen stehen die zivilgesellschaftliche Akzeptanz und das politische Engagement von Migrant*innen in engstem Zusammenhang mit deren Einbindung in das politische System. In Kanada sind Migrant*innen und Minderheiten mit ihren Belangen zu einem festen ‘Faktor‘ im Rahmen des Parteienwettbewerbs geworden. Die hohe Zahl an Einwander*innen über einen langen Zeitraum und die liberale Einbürgerungspraxis haben Migrant*innen zu einer ausschlaggebenden Größe bei Wahlkämpfen und der kompetitiven Parteienpolitik werden lassen. Diese Entwicklung hat der populistischen Vereinnahmung des Themas weitgehend den gesellschaftlichen Boden entzogen. Die politische Inklusion von Migrant*innen wird so zum sich selbst verstärkenden Prozess in der Logik und Dynamik parteipolitischer Auseinandersetzungen. Es lässt sich von einem entdramatisierenden Effekt der politischen Partizipation sprechen. Überspitzt formuliert: Je stärker Migrant*innen in die wahl- und parteienpolitischen Institutionengefüge eingeschlossen sind, je ausgeprägter ihre formale und informelle Teilhabemacht ist, desto weniger Raum entsteht für aggressive Rhetorik der Fremdenfeindlichkeit. Während es sich bei Fragen der Immigration und Integration in Kanada um Themen handelt, die sich weitgehend in die Verfahrenslogik parlamentarischer Demokratie eingefügt haben, werden diese im europäischen Kontext oftmals zum emotional aufgeladenen Bezugspunkt für eine polarisierte öffentliche Debatte, wenn nicht gar zum ideologischen Repertoire rechtspopulistischer Organisationen.

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4 Dezentralisierung des kanadischen Migrationsregimes Das legitimationsstiftende Narrativ, dass Einwanderung einen zentralen Beitrag zum wirtschaftlichen Wohlergehen des Landes leistet, ist auch die treibende Kraft in dem Bemühen, die Einwanderungspolitik so effektiv wie möglich zu gestalten. Ein ausschlaggebender Innovationsschub in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist an die Dezentralisierung der Anwerbung und Integration von Neuankömmlingen geknüpft. Immer größere Verantwortungsbereiche werden von der föderalen auf die regionale und besonders die lokale Ebene übertragen (Schmidtke 2014). Die Folgen sind zweischneidig: Auf der einen Seite kann diese Dezentralisierung als eine Form der neoliberalen Entlastung des Staates und insbesondere eine Überantwortung von Integrationsaufgaben an die Kommunen interpretiert werden (ohne oftmals die entsprechenden finanziellen Mittel bereit zu stellen). Auf der anderen Seite hat diese Entwicklung zur Herausbildung einer zivilgesellschaftlich verankerten settlement industry und zu einer Vielzahl von multikulturellen Initiativen sowie Integrationsprogrammen auf lokaler Ebene geführt. Die Bereitschaft, größere Entscheidungsbefugnis bei Rekrutierung, Settlement und Integration von Einwanderern regionalen und lokalen Akteuren zu übertragen, ist auf drei Entwicklungen in Kanadas Einwanderungsregime zurückzuführen. Erstens hat die territoriale Ungleichverteilung von Einwander*innen im ganzen Land eine soziale Realität geschaffen, die sich nur schwer mit Kanadas nationalem Image als einer multikulturellen Gesellschaft vereinbaren lässt. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich eine Kluft aufgetan zwischen den nachhaltig durch kulturelle Vielfalt geprägten Ballungsgebieten und kleineren Städten. Während Großstädte, wie Montreal, Toronto und Vancouver Einwander*innen in hohem Maße anziehen – fast siebzig Prozent aller Immigranten haben diese Städte in den vergangenen zehn Jahren zu ihrer Heimat gemacht7–, gelten kleinere Städte häufig immer noch dem traditionellen Bild Kanadas entsprechend als ‚weiße Siedlergesellschaft‘. Zweitens gibt es in den vergangenen zwanzig Jahren deutliche Anzeichen für eine wachsende Einkommensschere zwischen den jüngsten Immigrant*innen-

7Diese

Zahlen stammen aus den jüngsten Zensus Daten von Statistics Canada (siehe: https://www150.statcan.gc.ca/n1/daily-quotidien/171025/t001b-eng.htm; Zugegriffen: 30. April 2019).

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kohorten und der in Kanada geborenen Bevölkerung. Das Einkommensgefälle zwischen diesen beiden Gruppen dehnt sich aus und Einwander*innen sehen sich heute – im Gegensatz zu früheren Generationen – häufiger mit Armut konfrontiert (Nohl et al. 2014; Picot und Hou 2014; Wilkinson und Garcea 2017). Diese schleichende Verschlechterung der Arbeitsmarktinklusion von Immigrant*innen ist in der kanadischen Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen worden, gerade weil diese Entwicklung der grundlegenden Rationalität der Einwanderungspolitik widerspricht ebenso wie dem Grundsatz der gleichberechtigten Teilhabe von Neuankömmlingen in der kanadischen Gesellschaft. So ist der regionale und lokale Kontext in den Mittelpunkt der Politikgestaltung geraten, in dem die Arbeitsmarktinklusion von Immigrant*innen gestaltet wird (Bonikowska et al. 2017). Drittens soll die Dezentralisierung des kanadischen Migrationsregimes auch die wachsende Diskrepanz zwischen einem sich dynamisch entwickelnden Arbeitsmarkt und der geographischen Verteilung der Erwerbsbevölkerung angehen (Pandey und Townsend 2013). Der massive Zuzug von Einwanderern in die drei kanadischen Metropolen hat seine eigenen sozialstrukturellen Effekte hervor gebracht: In Toronto und Vancouver etwa sind die Immobilienpreise explodiert, was besonders Immigrant*innen vor beträchtliche Herausforderungen stellt und zu politischen Spannungen auf lokaler Ebene geführt hat (Teixeira und Li 2015; Weerasinghe et al. 2017). Diese Entwicklung hat dazu beigetragen, das Einwanderungssystem zu reformieren. Entsprechend wurde auch kleineren und mittleren Städten erlaubt, Migrant*innen anzuwerben und für ihre lokalen Arbeitsmärkte zu nutzen (Siegel 2009). Kanadas Provinzen und Städte haben die Zuwanderung als ein essentiell wichtiges Instrument für r­egional-lokale Planung und wirtschaftliche Entwicklung erkannt. Im Zuge dessen hat die Bundesregierung Kompetenz in diesem Policy-Bereich an die subnationale Ebene abgetreten. Dadurch sollen Ineffizienzen bei der Steuerung von Migration verhindert und Ausgaben für Siedlungs- oder Integrationsprogramme reduziert werden (Kelley und Trebilcock 2010). Die neue Arbeitsteilung zwischen den drei Regierungsebenen im kanadischen Migrationsregime und der erweiterte Aufgabenbereich der Kommunen reflektiert auch die wachsende Einsicht in der Policy-Community, dass Integration im Kern eine ortsbezogene Praxis ist, die durch territorial spezifische soziale, politische und kulturelle Umstände geprägt ist (z. B. Bradford 2004). Die lokalen und regionalen Kontexte stellen eine zentrale Arena dafür dar, wie der Integrationsbedarf in konkrete Programme umgesetzt wird und wie erfolgreich diese Initiativen sind (z. B. Schmidtke 2014; Siemiatycki 2011; Tossutti 2012). So haben sich Städte zunehmend der Aufgabe angenommen, die grundlegenden

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Aufgaben des Settlement und der Integration (Wohnen, Beschäftigung, Gesundheit, Sprachtraining, Engagement in kulturellen Einrichtungen und der Nachbarschaft) zu übernehmen. In diesem Kontext ist Städten ein höheres Maß an Autonomie bei der Programmentwicklung zugesprochen worden. Insbesondere die Großstädte des Landes haben so die Rolle von lokal gestalteten Laboratorien für Innovation auf dem Gebiet der Ansiedlung und Integration von Neuankömmlingen angenommen. So hat die föderale Regierung ihre Dezentralisierungsstrategie im Jahr 2005 als Reaktion auf den kanadischen Aktionsplan gegen Rassismus gestartet. Der Umfang dieses Programms wurde dann schnell erweitert und führte 2006 zur Welcoming Communities Initiative (WCI) unter der Leitung von Citizenship and Immigration Canada. Die langfristigen Ziele dieses Programms waren die Stärkung der kommunalen Beteiligung der Neuankömmlinge und deren gleichberechtigte Inklusion in die Gesellschaft. Die Welcoming Communities Initiative förderte ein kollaboratives Netzwerk von Community-Partnern, die die Anwerbung und Integration von Migranten als ­ sektorenübergreifende Gemeinschaftsaufgabe begreift. Das Ziel war ambitioniert: Es sollte ein besseres Verständnis für die Komplexität der Integrationsherausforderungen (Esses et al. 2010) als eine Aufgabe geschaffen werden, die sich auf mehrere Bereiche der öffentlichen Politikgestaltung und Programmentwicklung erstreckt. Gleichzeitig sind insbesondere urbane Zentren zu Orten geworden, an denen die Bedeutung und Praxis von Integrationsprozessen verhandelt und die Formen der Zusammenarbeit zwischen Regierungsstellen und zivilgesellschaftlichen Gruppen eingeübt werden (Biles 2008). In ihrer Analyse der Migrationspolitik Ontarios zeigen Stasiulis et al. (2011), wie sich in der Praxis ein weitgefächertes Feld an Akteuren etabliert hat, in dem Regierungen auf verschiedenen Ebenen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammenarbeiten (S. 74). Es gäbe „a discernible movement in Ontario’s immigrant-receiving centres from government to multilevel, multisectoral governance in the policy area of immigrant settlement.” (ebd.). Integration wird insofern bottom up praktiziert, verhandelt und an kontextspezifische Bedarfe angepasst. Diese lokal verankerten Prozesse der Deliberation und Entscheidungsfindung erzeugen ihre eigenen Legitimationsressourcen. Eine weitere Schlüsselkomponente bei der Stärkung der subnationalen Regierungsebene ist das Provincial Nominee Program (PNP), das 1998 in Manitoba eingeführt (Carter und Amoyaw 2011) und seitdem auf alle Provinzen und Territorien ausgeweitet wurde. Jedes PNP hat spezielle Kriterien, die es erlauben Zuwanderung so zu steuern, dass bestimmte Berufsgruppen privilegiert behandelt werden. Dies ist eng an die unmittelbaren Bedürfnisse

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des ­regional-lokalen Arbeitsmarktes gebunden. Im Jahr 2002 waren nur 1,5 Prozent aller Einwander*innen aus dem wirtschaftlichen Bereich durch die Provinz nominiert, aber diese Zahl sprang 2008 auf 15 Prozent. In Manitoba kommen nun mehr als zwei Drittel aller Einwanderer durch das PNP in die Provinz, eine Zahl, die weit über dem Rest des Landes liegt. In dieser Provinz wird das PNP als Teil einer „breit angelegten regionalen Einwanderungsstrategie” verwendet (Baxter 2010, S. 19). Im Rahmen dieses Programms wurden die Provinzen ermächtigt, ihre eigenen Einwanderungswege zu gestalten, die ihren jeweiligen Bedürfnissen in Bezug auf Arbeitskräfte und wirtschaftliche Entwicklung entsprechen (Leo und August 2009). Trotz der Dezentralisierung von Befugnissen in der Steuerung der Einwanderung ist es wichtig zu erkennen, dass sich dieser Trend im ganzen Land nicht einheitlich durchgesetzt hat. In diesem Zusammenhang verweist Reese (2011) auf eine bedeutsame Asymmetrie in der mehrstufigen kanadischen Einwanderungs- und Integrationspolitik. Das Kanada-Quebec-Abkommen von 1991, das im Wesentlichen die Verantwortung für die Steuerung der Einwanderung und Integration nach Quebec übertrug, diente nicht als Beispiel für die Ermächtigung anderer Provinzen. Stattdessen sehen sich die Provinzen im ganzen Land mit unterschiedlichen (und bis zu einem gewissen Grad inkohärenten) Regelungen der geteilten föderal-provinziellen Zuständigkeit konfrontiert (Li 2012, S. 106). Dieses mehrstufige System der Auswahl von Einwander*innen hat innovative und schnellere Wege eröffnet,8 Migration stärker zielgerichtet auf die unmittelbaren Belange des Arbeitsmarktes auszurichten. Gleichzeit aber droht die mit den PNPs beförderte Dezentralisierung der Einwanderungspolitik die durch strikte Standards geschaffene Legitimität des nationalen Rekrutierungsverfahrens zu untergraben. Durch eine weitere, nicht intendierte Folge der dezentralisierten Steuerung der Einwanderung sind die Provinzen und Städte auch zunehmend auf nichtstaatliche Akteure angewiesen, um die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zu ermitteln, Migrant*innen auszuwählen und ihnen einen schnellen Zugang zu beruflichen Möglichkeiten zu ermöglichen (Ferrer et al. 2014; Wiginton 2014). Insbesondere jenseits der urbanen Zentren haben städtische Verwaltungen oftmals nicht die

8Sobald

sie von der Provinz ausgewählt wurden, werden potenzielle PNP-Einwanderer von der Bundesregierung anhand eines Prioritäts-Streams überprüft. Dies bietet einen viel schnelleren Weg zu einem dauerhaften Wohnsitz als die langen ­Bundes-Einwanderungsrouten (Baxter 2010).

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Kapazität, dieser Aufgabe gerecht zu werden. In diesen Kontexten nehmen der private Sektor und Arbeitgeber eine ausschlaggebende Rolle in dem Auswahlund Rekrutierungsprozess ein. Aus einer kritischen Perspektive kann von einer Kommodifizierung der kanadischen Einwanderungspolitik gesprochen werden, in der sich eine Machtverschiebung von staatlichen hin zu privaten Interessen manifestiert (Dobrowolsky 2012; Walton-Roberts 2007).

5 Die wachsende Dominanz des wirtschaftlichen Nutzenkalküls Seit den 90er Jahren haben sich die Prioritäten und die konkrete Ausgestaltung der Einwanderungs- und Integrationspolitik des Landes merklich verschoben. Fortgesetzt hohe Einwanderungsraten wurden zunehmend durch eine an den Globalisierungsdiskurs angelehnte Argumentation legitimiert: Kanadas wirtschaftliche Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit hinge an dem Zuzug gut ausgebildeter Migrant*innen aus aller Welt; der Multikulturalismus sei daher zuallererst ein Standortvorteil, um Talente von überall ins Land zu holen und deren Humankapital zu nutzen. Mit dieser Diskursverschiebung wurden die programmatischen Schwerpunkte des kanadischen Multikulturalismus merklich verrückt: weg von der gleichberechtigten und differenzsensiblen Eingliederung von Einwander*innen und Minderheiten, hin zu einer stärker kapitalkonformen Antwort auf den wirtschaftlichen Wettstreit der globalisierten Märkte (Abu-Laban und Gabriel 2002). Diese graduelle und bedeutsame Akzentverschiebung im offiziellen Diskurs hat die materielle Praxis von Einwanderung und Integration nachhaltig verändert. Unter neoliberalen Vorgaben wurden die Rekrutierung und Eingliederung von Migrant*innen immer stärker an eine marktgesteuerte Logik gebunden. Auf diese Weise verschob sich das Verhältnis zwischen den nach dem Punktesystem angeworbenen sogenannten economic migrants sowie den Familienangehörigen und Geflüchteten stark zu Ungunsten der letztgenannten Gruppen. Im Jahre 1976 hat der damalige Immigration Act die drei Prioritäten der kanadischen Immigrationspolitik wie folgt festgelegt: 1) Zusammenführung von Familien, 2) Humanitäre Angelegenheiten, 3) Förderung von Kanadas wirtschaftlichen, sozialen, demographischen und kulturellen Zielen. Besonders über die vergangenen zehn Jahre hat sich der Fokus entscheidend in Richtung von wirtschaftlichen

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Zielen verschoben. Die Wirtschaftsimmigration ist von gut 30 Prozent Anfang der 80er Jahre auf nunmehr fast 60 Prozent aller Immigrant*innen angewachsen.9 Diese Entwicklung wurde begleitet von einer Verschärfung der Qualifikationsstandards im Punktesystem. Im Jahr 2015 wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das eine der beiden offiziellen Amtssprachen Kanadas erforderlich macht und die Gruppe der wirtschaftlichen Migrant*innen enger mit der Verfügbarkeit von Jobangeboten verknüpft. Der nunmehr strenger gehandhabte Grundsatz der sprachlichen Tauglichkeit wird wahrscheinlich die Einwanderung von Menschen aus englischsprachigen Ländern zulasten von der nicht-westlichen Welt erhöhen. Diese Entwicklungen zeigen an, wie vor allem die konservative Regierung unter Premierminister Harper (2006–2015) versucht hat, die Kosten für Einwanderung und Integration auf die Einwander*innen selbst abzuwälzen, während die Verantwortung des Staates, den Neuankömmlingen Dienst- und Hilfeleistungen zur Verfügung zu stellen, nachhaltig verringert wird. Über die vergangenen zehn Jahre gab es einen offenkundigen Trend, denjenigen Migrant*innen die Einwanderung zu erschweren, die als zu ‚kostenintensiv‘ oder als mögliche Belastung für die kanadische Gesellschaft angesehen werden. Die utilitaristische Logik, die diese Vermarktung vorantreibt, ist von einer bedeutenden normativen Spannung gekennzeichnet, die einerseits die Inklusion von hochqualifizierten Einwander*innen – die aktiven und produktiven Individuen – als vorteilhaft für die Gesellschaft befürwortet, wenn sie geeignet sind, den Erwartungen auf dem qualifizierten Arbeitsmarkt gerecht zu werden, während andererseits Flüchtlinge und Asylsuchende als sozial-ökonomisch nicht vorteilhaft dargestellt werden. Unter dem legitimierenden Narrativ einer streng marktorientierten Logik kommt den Belangen der Menschenrechte und der Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit bestenfalls ein sekundärer Rang zu.10 So ist

9Hier

sei auch erwähnt, dass die Gruppe der sogenannten Temporary Foreign Workers (temporäre Arbeitskräfte) seit den frühen 2000 dramatisch gewachsen ist. Im Jahre 2009 wurde eine Anzahl von 250.000 erreicht – mehr als doppelt so viel, wie noch zu Beginn des Millenniums. In den letzten Jahren wurde die Zahl dieser temporären Migranten jedoch wieder stark beschnitten, nachdem die öffentliche Kritik an deren Arbeitsbedingungen und deren Effekten auf den Arbeitsmarkt (Verdrängung einheimischer Arbeitnehmer/innen) an Gewicht gewann. 10In ihrer Veröffentlichung Selling Diversity gehen Abu-Laban und Gabriel (2002) auf die Art und Weise ein, wie Immigration, Multikulturalismus, Beschäftigungsgerechtigkeit und die Globalisierung als Bestandteil des kosmopolitischen Lebens des 21. Jahrhunderts angepriesen werden, obwohl sie tatsächlich dazu dienen, die Marginalisierung zu verstärken, während sie gleichzeitig Kanadas Leistungen vermarkten.

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es nicht überraschend festzustellen, dass die humanitäre Verpflichtung Kanadas gegenüber Geflüchteten aus aller Welt in den letzten beiden Jahrzehnten hingegen immer weiter – rechtlich und materiell – eingeschränkt wurde.11 Der Refugee Exclusion Act aus dem Jahr 2012 brachte eine Reihe von Bestimmungen auf den Weg, deren zentrales Anliegen es war, die Zahl der nach Kanada kommenden Geflüchteten möglichst gering zu halten. Die niedrigeren staatlichen Obergrenzen führten zu dramatisch gefallenen Zahlen für Geflüchtete. Trotz dieser weitgehenden Einigkeit, die mit Blick auf die positiven Folgen von Einwanderung in Kanada besteht, sind die Politik und öffentliche Debatte keineswegs immun gegenüber einer politischen Instrumentalisierung von Migrant*innen und Minderheiten. Die Jahre unter der konservativen Regierung in Ottawa waren durch eine Form der Identitätspolitik geprägt, die drohte, Einwanderer und Minderheiten zum negativen Bezugspunkt einer Stärkung der nationalen Identität Kanadas zu machen (Harder und Zhyznomirska 2012). Der Umgang mit Geflüchteten in den Jahren 2014 und 2015 wurde von der regierenden politischen Elite unter ähnlichen Vorgaben debattiert: Dieses Thema wurde vorrangig auf der Grundlage des exkludierenden Diskurses über vermeintliche ‚betrügerische Asylsuchende‘ behandelt, die unter Sicherheits- und sozialstaatlichen Kostengesichtspunkten eine Gefahr für die kanadische Gesellschaft darstellen würden. Diese Entwicklung wurde erst nach Amtsantritt der aktuellen liberalen Regierung revidiert. Die Wahlen im Jahr 2016 können in dieser Hinsicht als Indiz dafür gewertet werden, wie relativ belastungsfähig und krisenresistent die Legitimationsgrundlage für Immigration und die multikulturelle Inklusion trotz der oben beschriebenen Entwicklung unter Harpers konservativer Regierung ist. Justin Trudeaus Liberale gewannen unter anderem die Wahlen mit dem Versprechen, den Zuzug syrischer Geflüchteter erheblich auszuweiten. Während des Wahlkampfes versprach Trudeau, 25.000 syrische Geflüchtete nach Kanada zu holen und der internationalen Vorreiterrolle des Landes in der internationalen Flüchtlingspolitik treu zu bleiben.12 Dieses – in 2016 auch fast eingelöste – Ver-

11So

wurde etwa jüngsten Flüchtlingen eine Vielzahl von sozialen Dienstleistungen (wie der Zugang zur Gesundheitsvorsorge und Arbeitslosenversicherung) während des anfänglichen Zeitraums ihres Aufenthalts verweigert (Reitz et al. 2014). 12Im Januar 2017 hat Premierminister Trudeau dieses Bekenntnis zu einer liberalen Flüchtlingspolitik mit einem Tweet unterstrichen, das große Aufmerksamkeit und beachtlichen Widerspruch in der kanadischen Öffentlichkeit erregte. Mit Blick auf die Situation in den USA hieß er all diejenigen, die vor Verfolgung, Terror und Krieg fliehen, in Kanada willkommen. Diese Rhetorik wird aber nur bedingt durch die tatsächlichen Zahlen in der

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sprechen verband der neue Premierminister mit einem nachhaltigen Bekenntnis zu den Anerkennungsprinzipien des Multikulturalismus. Seitdem unterstreicht Trudeau diese Verpflichtung regelmäßig mit den Worten: „Diversity is Canada’s strength“. In dieser Hinsicht hat sich Kanada bislang gegenüber der fremdenfeindlichen Rhetorik als wenig offen erwiesen, die aktuell unter der Trump-Administration die US-amerikanische Innenpolitik prägt. Insbesondere auf der Ebene der politischen Elite besteht weiterhin ein ungebrochener Konsens, dass Immigration auf hohem Niveau wünschenswert und die gleichberechtigte Integration in die kanadische Gesellschaft eine zentrale innenpolitische und soziale Verpflichtung sei. Inwiefern etwa die Gründung der nationalistischen, immigrationskritischen People’s Party of Canada und das Anwachsen von ausländerfeindlichen Tendenzen insbesondere in Alberta und Quebec diesen Konsens bedeutsam infrage stellen können, bleibt abzuwarten. Eine der großen Herausforderungen in dieser Hinsicht ist die wachsende Zahl von irregulären Migrant*innen, die über die Grenze zu den USA nach Kanada einwandern. Von Januar 2017 bis März 2018 verzeichnete Kanada über 20.000 Asylanträge von Migrant*innen, die die Grenze zu den USA irregulär übertreten haben. Bislang hat dieser unkontrollierte Zuzug noch keine vernehmbare öffentliche Debatte in Gang gesetzt, die die Verpflichtung Kanadas gegenüber dem Recht auf politisches Asyl infrage gestellt hätte. Sollten diese Zahlen jedoch als Reaktion auf eine Verschärfung des Asylrechts in den USA weiterwachsen, sieht sich das Land mit einer schwierigen Debatte um die Haltung gegenüber irregulärer Einwanderung und der humanitären Verpflichtung Kanadas konfrontiert.

6 Schlussbetrachtung: Das kanadische Migrationssystem als Beispiel für Deutschland? Die Ausgangsfrage dieses Beitrages zielte darauf, den Gründen für die stabile Legitimationsgrundlage, die das kanadische Migrationsregime genießt, nachzugehen. Die umfassende Neuorientierung von Kanadas Einwanderungs- und

Flüchtlingspolitik gedeckt. Für 2019 plant die liberale Regierung nur 9,300 Government Assisted Refugees in das Land zu holen, eine Zahl, die etwa bedeutend unter den in den 1980er Jahren akzeptierten Flüchtlingen liegt.

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Integrationspolitik in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren stellten die entscheidenden Weichen: Das Punktesystem etablierte ein Auswahlsystem für Einwanderung, das den mit der Immigration assoziierten volkswirtschaftlichen Nutzen zur dominanten öffentlichen Narration und gleichzeitig zum Regulativ fortschreitender Reformen in diesem Politikfeld werden ließ. In der öffentlichen Wahrnehmung wird der Erfolg und die Rechtfertigung von Einwanderung auf hohem Niveau fortgesetzt und nicht zuletzt daran gemessen, wie stark sie die Innovationskraft der kanadischen Gesellschaft befördert und – im Sinne der Output-Legitimität – positive Folgen für die demographische und sozial-ökonomische Entwicklung des Landes generiert. Auch wenn sich die ­ öffentliche Anerkennung von kultureller Vielfalt über die vergangenen Jahrzehnte in ein eigenständiges Ethos entwickelt hat, fußen die grundlegenden Prinzipien des Multikulturalismus nicht unerheblich auf dem utilitaristischen Gedanken, Neuankömmlinge schnellst möglichst und gleichberechtigt zu ‚produktiven‘ Mitgliedern der Gesellschaft werden zu lassen. Der gesellschaftlich und politisch mehrheitlich geteilte Gedanke, dass die Legitimität von Immigration letztlich auf deren messbare Vorteile fußt, wurde in den vergangenen Jahrzehnten zur Grundlage der Akzeptanz für Zuwanderung und wachsende ­kulturell-gesellschaftliche Vielfalt sowie gleichzeitig – zumindest ansatzweise – zum Einfalltor für Versuche, die am Standard der wirtschaftlichen Produktivität gemessen nicht ‚produktiven‘ Einwander*innen zu exkludieren. Über diesen diskursiven Kontext der Legitimationsbeschaffung hinaus ist es jedoch wichtig im Auge zu behalten, dass Immigration zum Gegenstand politischer Deliberation auf verschiedenen Ebenen des kanadischen Regierungssystems und in der Zivilgesellschaft wurde. In loser Anlehnung an Luhmann (2001) kann von einer Legitimation von Immigration und kultureller Differenz im öffentlichen Raum gesprochen werden, die durch Verfahren im ­politisch-administrativen System selbst erzeugt werden. Ursprünglich als staatliche Politik der arbeitsmarktbezogenen Rekrutierung von Einwander*innen etabliert, hat die grundlegende Reform der Einwanderungspolitik über die vergangenen Jahrzehnte eine soziale und politische Praxis geschaffen, in der eine bestimmte gesellschaftliche Wahrnehmung und Behandlung zur weitgehend akzeptierten Norm geworden ist. Insbesondere die Inklusion von Migrant*innen in zivilgesellschaftlichen Deliberationsprozessen ist von entscheidender Bedeutung in dieser Hinsicht. Meines Erachtens könnte Deutschland zwei grundsätzliche Lehren vor allem aus dem kanadischen Umgang mit Einwanderung und kultureller Vielfalt ziehen. Die erste bezieht sich auf die Möglichkeit, langfristige gesellschaftliche Lernprozesse mit Blick auf Formen kollektiver Identität und der Grenzziehung

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zum Fremden in die Wege zu leiten. Kanada hat seit den siebziger Jahren einen politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozess durchlaufen, der den Umgang mit Migration auf fundamental neue, ‚multikulturelle‘ Füße gestellt hat. Selbstverständlich sind einige Aspekte etwa des kanadischen Immigrationsund Integrationsregimes nur schwer direkt auf den europäischen oder deutschen Kontext übertragbar. Kanada hat in einer Radikalität den Weg in Richtung einer multikulturellen Gesellschaft eingeschlagen, die in Europa aufgrund verschiedener Umstände zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer vorstellbar erscheint (tief verwurzelte Vorstellung nationaler Identität, Gefahr einer populistischen, fremdenfeindlich inspirierten Gegenreaktion, etc.). Nichtsdestotrotz bietet sich der kanadische Fall an, um über die Vorzüge und die Schwierigkeiten eines Umstellens des Codes (nationaler) Vergemeinschaftung nachzudenken. In dieser Hinsicht mag Kanada als Vorbild für eine verfassungspatriotisch orientierte Gemeinschaftsbildung auf europäischer Ebene dienen, bei der die Toleranz gegenüber und die öffentliche Anerkennung von ethnisch-kultureller Differenz ein wesentliches Merkmal ist (Schmidtke 2017; Triadafilopoulos 2012). Die zweite Lehre ist wenig dramatisch in ihren Effekten auf den gelungenen Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt, sie ist jedoch von ausschlaggebender Wichtigkeit. Der Erfolg des kanadischen Modells liegt zentral in seinem pragmatischen Zugang zu den mit Einwanderung verbundenen Herausforderungen begründet. In dieser Hinsicht ist der Multikulturalismus zuvörderst ein Modus der Konfliktbewältigung, der durch das Miteinander verschiedener kultureller und religiöser Kulturen fast unweigerlich gefordert ist. Der erfolgreiche Umgang mit kultureller Vielfalt ist keine Aufgabe, die allein durch staatliche Entscheidungen oder Politiken zu bewältigen wäre (obwohl selbstverständlich politischen Eliten eine zentrale Verantwortung in diesem Prozess zukommt). Als entscheidend hat sich im kanadischen Kontext erwiesen, dass der Umgang mit dem kulturell-religiös Fremden in zivilgesellschaftlichen Praktiken eingeübt und Minderheiten die Möglichkeit eröffnet wird, sich aktiv an diesen Aushandlungsprozessen zu beteiligen. Dieser an demokratischer Partizipation orientierte Pragmatismus steht im offenen Gegensatz zu der Dramatisierung von Identitätskonflikten in Europa, die den öffentlichen Diskurs prägt und den Befürwortern nationaler Schließung in die Hände spielt.

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Prof. Dr. Oliver Schmidtke;  Professor für Politikwissenschaften und Neuere Geschichte sowie Direktor des Centre for Global Studies; University of Victoria, Canada. Forschungsschwerpunkte: Migration, Integration, Nationalismus und Populismus. Email: [email protected].

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Was Einwanderungsländer (nicht) voneinander lernen können – ein Blick hinter die Kulissen Kanadas, Australiens und Deutschlands Lorenz Wiese Zusammenfassung

Der Beitrag widmet sich der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des internationalen Lernens in der Migrationspolitik. Aufbauend auf die Dokumentenanalyse und Feldforschung in den drei Einwanderungsländern Australien, Kanada, und Deutschland werden länderspezifische Unterschiede in Diskursen, politischen Kulturen und Pfadabhängigkeiten beleuchtet, die einfache copy-paste Lösungen illusorisch erscheinen lassen. Am illustrativen Beispiel des Vergleichs der Asylsysteme in Kanada und Deutschland werden die Bedingungen herausgearbeitet, unter denen die Auseinandersetzung mit der Migrationspolitik der klassischen Einwanderungsländer für Deutschland dennoch sinnvoll sein könnte.

1 Einleitung Das Thema des Austauschs vermeintlicher best practices im Bereich der Migrationspolitik und -verwaltung erlebt derzeit eine Hochkonjunktur. Und das nicht ohne Grund: Zumindest auf den ersten Blick wird in vielen Einwanderungsländern und -gesellschaften in ähnlicher Weise über Migration gesprochen (Hoesch 2018, S. 144 ff.). Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die L. Wiese (*)  Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_3

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Politiker*innen verschiedener Demokratien oft ähnliche Ziele verkünden. Häufig scheinen sie dies zu tun, um den jeweiligen Wählerschaften und Interessengruppen zu signalisieren, ihren Forderungen (zumindest ansatzweise) entgegenzukommen. Der Tenor vieler Debatten geht daher vor allem in die folgende Richtung: Eine Zweiteilung in dämonisierte, unerwünschte Massenbewegungen einerseits – und idealisierte, hochqualifizierte Migration andererseits. Dass wir vielerorts mit einer solchen Rhetorik konfrontiert werden, erweckt den Anschein, dass sich auch die faktischen Herausforderungen und demzufolge auch die entsprechenden Lösungsansätze ähneln würden. Zumindest für demokratische Industriestaaten wäre dies zu erwarten; teilen sie doch nicht nur ähnliche politische Systeme, sondern – zumindest auf der Oberfläche – auch einen humanistischen Wertekanon. Eigentlich, so der politisch aufgeheizte Wunschglaube Vieler, müssten somit doch nur die Erfolgsmodelle erfahrenerer Staaten kopiert werden und damit wäre Genüge getan. Insbesondere Kanada und Australien werden dabei gerne als Idealfälle skizziert, denen die selektive Abschottung ebenso gelingt wie das Anwerben und die Integration Hochqualifizierter. Doch ist es wirklich so leicht? Sind die Erfahrungen unterschiedlicher Einwanderungsgesellschaften überhaupt vergleichbar? Wie so oft sieht vieles in der Empirie wesentlich differenzierter aus, als es auf den ersten Blick scheint. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zielt dieser Kommentar darauf ab, einige der relevantesten Erkenntnisse in diesem Bereich schlaglichtartig aufzubereiten. Er baut dabei auf Dokumentenanalysen und Feldforschung in den drei Einwanderungsländern Deutschland, Kanada und Australien auf. In aller Kürze soll der sprichwörtliche Blick hinter die Kulissen gewagt werden, der eine offene und ehrliche Debatte erleichtern möge.

2 Diskurse und ihre Hintergründe verstehen Im Ländervergleich unterscheiden sich nicht nur die faktischen Herausforderungen, sondern auch die sie begleitenden Diskurse. So gibt es Begriffe, die in den Migrationsdebatten vieler verschiedener Länder immer wieder auftauchen – teilweise aber etwas Anderes bezeichnen. In Deutschland beispielsweise wird der Begriff der ‚Integration‘ inzwischen beinahe inflationär verwendet. In den klassischen Einwanderungsländern hingegen wird vielmehr von settlement gesprochen. Dieses wird eher als Sammelsurium staatlicher Angebote zum Ankommen und mittelfristigen Siedeln – und weniger als einseitige Forderung begriffen. Dieser Unterschied wiederum verweist auf die jeweiligen historischen

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Erfahrungen im Bereich der Migration: In den letzten Jahrhunderten wurden Australien und Kanada von verschiedensten Bevölkerungsgruppen besiedelt. Die Erfahrung des Ankommen-Müssens wird somit bis heute generationenübergreifend geteilt. Die kanadische Migrations- und Integrationspolitik kann nicht verstanden werden ohne Kenntnis der Aufarbeitung spezifischer Erfahrungen und Eigenheiten: Zu nennen ist hier vor allem die Ansiedlung zweier ursprünglich europäischer Gruppen auf einem weitläufigen Territorium, auf dem zuvor bereits etliche indigene Völker lebten; die sogenannten First Nations. Wie überall in der ‚neuen Welt‘ folgten gewalttätige Vertreibung und die noch lange andauernde kulturelle Zwangsassimilation. Auch waren damit bereits die Voraussetzungen geschaffen für den sogenannten Quebec-Konflikt zwischen anglo- und frankophoner, zwischen protestantischer und katholischer Kultur (Winter 2010). Eine gängige Interpretation dieser Situation ist, dass sie später maßgeblich zu einer pluralistischen Politik gegenseitiger Anerkennung beitrug: Was sich zunächst auf zwei europäisch-stämmige Mehrheiten bezog, mag sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts in ein grundsätzlich liberales Verständnis des Zusammenlebens verschiedener Gruppen gewandelt haben. Das Beibehalten und Ausleben migrantischer Gruppenidentitäten zeichnet den typisch kanadischen Multikulturalismus bis heute aus (siehe Triadafilopoulos 2012, sowie Kelley und Trebilcock 2010 für detailliertere Ausführungen). Das nach der faktischen Auslöschung der Aborigines vornehmlich britisch geprägte Australien hingegen hatte als ‚einsame Insel‘ am Rande eines dicht bevölkerten Kontinents stets mit einer tiefsitzenden Angst vor Invasion zu kämpfen. Ob realistisch oder nicht – sie prägt die zunehmend militarisierte und oft menschenrechtsverletzende Abwehr von Booten Asylsuchender bis heute. Innenpolitisch wurde diese Paranoia immer wieder durch eine Verdrehung von Tatsachen geschürt (insbesondere im Rahmen der Tampa und Children Overboard Skandale), um eine breite öffentliche Unterstützung für unverhältnismäßige Maßnahmen zu erzielen (siehe dazu Marr und Wilkinson 2003). Auch fehlt im australischen Kontext der o.g. Einfluss einer zweiten, konkurrierenden Kultur, wie es sie in Kanada gab. Im Gegensatz zum kanadischen geht der australische Multikulturalismus zurück auf eine veränderte internationale Konstellation, welche mit dem Ende des britischen Imperiums zusammenhängt: ‚Bevölkern oder untergehen‘ verdrängte das vorherige Mantra eines ‚Weißen Australiens‘ im Laufe der letzten Jahrzehnte (Bommes 2011, S. 28). Bis heute findet das rückwärtsgewandte Ideal eines rein europäischen Australiens jedoch erstaunlich viel Unterstützung.

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Indes blickt Deutschland auf eine gänzlich anders geartete Ausgangssituation zurück: Auch wenn es immer wieder von Wanderungsbewegungen geprägt wurde, beeinflussten diese das gesamtgesellschaftliche Selbstverständnis kaum. Die Erfahrung von Zwangsvertreibung hingegen hinterließ tiefe Spuren: Ein guter Teil des ehemals sehr liberalen Charakteristikums deutscher Asylpolitik erwuchs aus Deutschlands Rolle im Zweiten Weltkrieg. Auf Basis dieser traumatisierenden Erfahrung wurde in den 1950ern nicht zuletzt auch das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (die GFK) formuliert. Außerdem nahm Deutschland in der Konsequenz als eines von wenigen Ländern das Recht auf Asyl in seine Verfassung auf. Bereits an dieser Stelle hinkt der direkte Vergleich also aufgrund historisch nicht replizierbarer Eigentümlichkeiten.

3 Wanderungsentscheidungen und ihre Kontrollierbarkeit Eine Analyse der rechtlichen, politischen und sozioökonomischen Kontexte der jeweiligen Länder zeigt darüber hinaus eine eindrucksvolle Varianz auf vielen Dimensionen. Beispielsweise fällt schnell auf, dass Deutschland Schwierigkeiten hat, Hochqualifizierte anzuwerben, obwohl das deutsche Zuwanderungsprogramm für Hochqualifizierte zumindest auf dem Papier relativ liberal ist. Müssen also vielleicht doch auch ‚weichere‘ Variablen, wie etwa Reputationen, berücksichtigt werden? Wer die ‚Wahl‘ hat, erwägt außerdem sicherlich auch, dass die deutsche Sprache schwieriger zu erlernen ist als das Englische (ganz zu schweigen von den sehr unterschiedlich ausgeprägten Bildungssystemen mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen). Solche high-skill Zuwanderungsprogramme sind für Menschen ohne eine solche ‚Wahl‘ allerdings generell wenig relevant. Ihnen bleibt bekanntermaßen oft nur die sogenannte ‚irreguläre‘ Migration. Im Verlauf ihres Ankommens wiederum variieren die Rollen ‚irregulär‘ Zugewanderter in den verschiedenen nationalen Arbeitsmärkten maßgeblich. In der kanadischen Wirtschaft beispielsweise gibt es zumindest in urbanen Räumen eine stabile Nachfrage nach ‚irregulären‘ Arbeitskräften. Asylgesuche sind also nicht immer die einzige Möglichkeit zu bleiben. Und auch diese Thematik lässt sich freilich nicht losgelöst von der diskursiven Einbettung verstehen: Wer keinen Status hat, bleibt oft viele Jahre in der ‚Irregularität‘ und somit unter dem Radar der Öffentlichkeit. Infolgedessen ist anderenorts auch die Argumentation gegen den mit einem ‚Spurwechsel‘ vermeintlich einhergehenden ‚Anziehungseffekt‘ hinfällig, die in Deutschland derzeit dominant ist.

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Ein weitaus stärker skandalisierter Unterschied findet sich allerdings im Ausmaß der staatlichen Kontrollierbarkeit von Wanderungsbewegungen: In der EU und insbesondere in Deutschland wurde zuletzt häufig ein Kontrollverlust – oder gar ein ‚Verlieren des Überblicks‘ (Fleischhauer 2018) – beobachtet. Von einem solchen kann in den wesentlich leichter isolierbaren, klassischen Einwanderungsländern kaum die Rede sein. Nicht ohne Grund bleibt die Anzahl der Asylgesuche im Vergleich gering: Dies lässt sich primär auf die geographische Lage, die Situationen in den Nachbarländern und die vergangenen migrationspolitischen Entscheidungen zurückführen: Insbesondere innerhalb der Europäischen Union1 gibt es in dieser Dimension kaum Vergleichbarkeit mit Ländern wie Kanada, deren einzige Landgrenze von einer ‚Mauer‘ in Gestalt eines Nachbars wie der USA zu ‚schützen‘ wären. Und schließlich ist auch dort seit Jahrzehnten eine sehr kontrollorientierte und selektive Einwanderungspolitik zu beobachten, welche – dies scheint in den best practice Debatten regelmäßig übersehen zu werden – durch die geographische Lage und regionale Einbettung ermöglicht wird. Die schiere Möglichkeit, Migration auch ohne Zäune und Mauern zumindest halbwegs steuern und filtern zu können, hat viel zum allgemeinen Verständnis beigetragen: Kontrollierte Wanderungsbewegungen werden überall tendenziell eher als etwas wahrgenommen, von dem alle profitieren. Im australischen Fall wurde diese Konstellation noch ergänzt durch die Machtlosigkeit der Gerichte: Im Asylbereich wurden diesen gegenüber der Exekutive über die Jahre viele Befugnisse genommen, welche ursprünglich einerseits Asylsuchende rechtlich besser gestellt und andererseits politische Handlungsspielräume eingeschränkt hatten (Hamlin 2014). Der in Deutschland und Kanada oft eingeschlagene Weg der Klage gegen Asylerstentscheide vor unabhängigen Instanzen ist dort inzwischen nahezu ausgeschlossen. Doch selbst ohne Berücksichtigung dieser Dimension kann nicht oft genug hervorgehoben werden, dass sich einer der wohl maßgeblichsten Unterschiede in der Kontrollierbarkeit von Migrationsbewegungen zeigt: Europa hat schlicht und einfach keinen ‚Luxus des kalten Ozeans‘, der es von Krisengebieten weitläufig trennt. Auch würde es hier wohl schwerer fallen, das Minimum für alle Menschen geltender Rechte über Bord zu werfen: Mit Kanada gemeinsam hat Deutschland verfassungsrechtlich bindende Garantien, auf die sich auch Nicht-Eingebürgerte

1Der

innenpolitische Wunsch nach Alleingängen in der Migrationssteuerung muss durch die Verlagerung wichtiger Kompetenzen auf die EU Ebene bereits als weitgehend illusorisch betrachtet werden (Thym 2017).

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berufen können, die sich auf den jeweiligen Territorien befinden. Die Tendenz in Europa scheint nicht zuletzt deshalb dahin zu gehen, die Migrationskontrollen immer weiter nach außen zu verlagern und dadurch Outsourcing zu betreiben, selbst wenn dies Deals mit gescheiterten Demokratien wie der Türkei oder failed states wie Libyen bedeutet. Vorbilder für eine solche Politik der Verantwortungsauslagerung haben jedoch bereits vor etlichen Jahren Länder wie Kanada und Australien geschaffen.

4 Überall wird mit Wasser gekocht Was also bleibt von den großen Einwanderungsland-Vorbildern? Auch bei den vermeintlichen integrationspolitischen Vorreitern ist ‚nicht alles Gold was glänzt‘: In der jüngeren Vergangenheit sind auch in Kanada und Australien Tendenzen eines generell ablehnenden Diskurses gegenüber dauerhafter Einwanderung festzustellen. Der Anstieg der Zahlen saisonal importierter Gastarbeiter*innen zeigt eben diesen Wandel aufs Schärfste. Manche Autor*innen sprechen gar von einem Ende des Multikulturalismus in diesen Ländern; oder von einem Ende ‚des Status als Siedlernationen‘ (Dauvergne 2016). Auffällig ist des Weiteren das in angelsächsisch geprägten Ländern wesentlich geringere wohlfahrtsstaatliche Leistungsniveau, das mit dem des deutschen Sozialstaates nur schwer vergleichbar ist. In anderen Worten: Egal, ob einheimisch oder zugezogen; misslingt die Arbeitssuche, müssen in großen Teilen der Welt Familie oder Freund*innen die Lücke füllen. Der Staat hilft nur mit dem Nötigsten. Es gibt keine Verpflichtung der finanziellen oder rechtlichen Unterstützung. Für viele Menschen in prekären Lebenslagen, denen sonst nur die Obdachlosigkeit bleiben würde, springen in den christlich geprägten Staaten Kanada und Australien jedoch karitative Träger ein, derer es ortsabhängig unterschiedlich viele gibt. Wo der Staat sich für nicht zuständig erachtet, unterstützen häufig kirchliche Organisationen bei der Ankunft. Mangels Ressourcen müssen sie sich dabei allerdings meist auf die akute medizinische Versorgung und ein Dach über dem Kopf beschränken. Dies verdeutlicht einmal mehr die Dringlichkeit der Frage zwischen einem Nichtstun (‚laissez faire‘) und einer (zumindest kurzfristig) teureren Integrationspolitik. Letztere entwickelt sich derzeit (wenn auch schleppend und selektiv) in weiten Teilen Deutschlands. Lernen können wir hier in der Tat viel von den settlement services und welcoming communities – welche in Australien und

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Kanada allerdings meist nur resettlement2-Geflüchteten zur Verfügung stehen. Trotz dieser anfänglich verfügbaren Sozialhilfe ist in den klassischen Einwanderungsländern dennoch eine Spannung zwischen politisch gewollter multikultureller Toleranz und faktischer Marginalisierung großer Teile der Einwanderungsbevölkerung auf dem Arbeitsmarkt und allgemein in den Städten beobachtbar. Das gilt nicht nur für Spontanankünfte, sondern selbst für die politisch erwünschten und eingeflogenen newcomer: Enden in Kanada nach einem Jahr die anfänglichen Starthilfe-Leistungsansprüche, bleiben oft nur Fragezeichen. Gemeinsamkeiten finden sich nichtsdestotrotz längst nicht nur in der oberflächlichen Wahrnehmung, dass alle drei Länder – auch Deutschland – faktisch längst Einwanderungsgesellschaften sind. Ähnliches wie für Unternehmen mit verschiedensten Wurzeln, die weltweit auf Digitalisierung reagieren mussten und sich daher funktional oft in diese Richtung entwickelt haben, gilt auch für Länder im Laufe der Globalisierung: Aus sich wandelnden Realitäten ergeben sich auch relativ ähnliche Herausforderungen. Ein Beispiel findet sich im Bereich des Arbeitsmarktzugangs: Vielerorts kann eine qualitative und quantitative Unterbeschäftigung vieler Neuankömmlinge im Vergleich zur lokalen Bevölkerung festgestellt werden, was nicht nur an mangelnder Qualifikation, sondern auch an der arbeitgeberseitigen Diskriminierung und allgemeinen Vorurteilen liegt. Neuankömmlinge finden anfangs meist nur prekäre Jobs, oft innerhalb ihrer ethnic communities. Nicht nur Deutschland sticht heraus durch seine Unterrepräsentanz nicht-einheimisch Geborener in wichtigen Positionen und Ämtern. In Kanada beispielsweise gelten die Taxi fahrenden, hochqualifizierten Zuwander*innen beinahe schon als Totschlagargument in der Debatte um das Für und Wider des Punktesystems mit seinem ursprünglich vermeintlich rein ­Humankapital-basierten Ansatz. Sich diesen Herausforderungen zu stellen, gilt hier wie dort nicht ohne Grund als eine der dringlichsten gesellschaftspolitischen Aufgaben unserer Zeit.

2Als

resettlement wird die gezielte Umsiedlung aus den Erstaufnahmeländern verstanden. Dies umfasst sowohl spezielle Programme wie die für syrische Staatsangehörige seit 2015, als auch längerfristig geltende jährliche Kontingente und ist in beiden Vergleichsländern traditionell fest verankert. Besonders interessant ist das kanadische Modell des private sponsorship, welches diese Aufgabe teilprivatisiert: Es bietet Neuankömmlingen nicht nur finanzielle Sicherheit im ersten Jahr, sondern von Anfang an Anknüpfungspunkte in die Gesellschaft: soziale Kontakte, Netzwerke, und womöglich bereits erste geschäftliche Beziehungen.

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5 Asylsysteme im Vergleich: Deutschland und Kanada Ein weiteres zentrales Thema, das dieser Kommentar nur am Rande streifen kann, ist das der administrativen Asylsysteme, also der Ausgestaltung der sogenannten Statusdetermination für geflohene Neuankömmlinge im Ländervergleich: Welche Behörden sind für die Bearbeitung von Schutzgesuchen verantwortlich, wie arbeiten sie, und wie stark sind die Rechte von Neuankömmlingen mit behördlichen Ermessensspielräumen unterlegt? Zur Reduktion der Komplexität soll der Fokus hierbei auf dem Vergleich zwischen Deutschland und Kanada liegen3. Wie das BAMF ist auch das kanadische IRB eine zentrale Behörde, die dort primär in den wenigen großen Städten über Asylgesuche entscheidet. Die dezentrale Unterbringungspraxis unterscheidet sich jedoch maßgeblich von der deutschen, wo zunächst alle Asylsuchenden in sogenannten ,Gemeinschaftsunterkünften’ festgehalten werden. In Kanada gibt es keinerlei Residenzpflicht oder Wohnsitzauflage, weshalb es die meisten freiwillig eher in Richtung der urbanen Zentren zieht: Dort sitzen die Anwält*innen, gibt es die ethnic communities und die restliche nach der Ankunft nötige Infrastruktur. Zudem gilt es an dieser Stelle vor allem anzumerken, dass es ebenso wie in Deutschland auch in Kanada Probleme mit der Fallbearbeitung gibt, da die zuständigen Behörden begrenzte Kapazitäten haben, woraus teils erhebliche Wartezeiten resultieren. Innerhalb dieser verharren die Antragstellenden im legal limbo und haben folglich erst recht kaum Chancen auf Wohnungs- und Arbeitsmärkten. Zumindest aber dürfen sie derweil arbeiten4 – etwas, das in Deutschland bis vor kurzem durch die Vorrangprüfung erheblich erschwert wurde5. In beiden Ländern ist jedoch die Zermürbung hoffnungsvoller Menschen durch eine langwierige, bürokratische und undurchsichtige Verwaltung beobachtbar.

3Der

australische Fall muss aufgrund seiner sehr spezifischen Entwicklungen in dieser Hinsicht als extremer Ausreißer gesehen werden, weshalb sich ein Vergleich nur punktuell anbieten würde. 4Hierfür waren übrigens die Städte wichtige Motoren, da diese in Kanada die Sozialhilfe zahlen müssen und somit an einer möglichst geringen Arbeitslosigkeit interessiert sind. Ähnliches ist in Australien nur für diejenigen feststellbar, die per Flugzeug einreisten und nach anfänglicher Inhaftierung für schutzwürdig befunden werden. Die Bootsankünfte sind jedoch generell vom freien Leben auf dem Festland ausgeschlossen. 5Die im Sinne schneller ‚Integration‘ kontraproduktive Vorrangprüfung wurde inzwischen zumindest in großen Teilen Deutschlands ausgesetzt.

Was Einwanderungsländer (nicht) voneinander lernen können …

49

Nach Erhalt einer positiven Entscheidung über ihr Schutzgesuch erhalten Geflüchtete in Kanada den Status geschützter Personen, wobei ihnen das gesamte Spektrum staatlich finanzierter Integrationsdienste zur Verfügung steht. Doch auch im Fall einer Ablehnung gibt es viele Möglichkeiten, im Land zu bleiben. Abschiebungen (euphemistisch: ‚Rückführungen‘), wie sie momentan in Deutschland eine Hochkonjunktur6 erleben, sind dort nicht so präsent und rein zahlenmäßig auch viel weniger relevant. Wird das Risiko für die Heimkehrer*innen als zu hoch eingeschätzt, führt dies in den meisten Fällen immerhin auch zu einem geschützten Personenstatus. Dies bedeutet, dass Einzelpersonen in Kanada bleiben und in vielen Fällen eine dauerhafte Wohnerlaubnis erhalten können7. Die Unterstützungsdienste, die den meisten Neuankömmlingen in Kanada nach der Statusklärung zustehen, umfassen ein breites Spektrum: Individuelle Bedarfsanalyse und -empfehlungen, Informationen und Orientierung für Neuankömmlinge zur Unterstützung bei der Entscheidungsfindung, Sprachbeurteilung und Sprachausbildung, Unterstützung bei Arbeitssuche und -erhalt, einschließlich Empfehlungen zur Beurteilung ausländischer Zeugnisse und Verbindungen, damit sie andere Menschen kennenlernen und besser am Leben in ihren neuen Gemeinschaften teilhaben können. Und auch in Australien haben – zumindest umgesiedelte Geflüchtete – Zugang zu vielen solchen settlement services, die von professionellen Organisationen geleistet werden. Zu glauben, die Aufgabe langfristig friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens lösen zu können, indem die Politik ‚kurz mal Geld auf sie wirft‘, ist offensichtlich leichtsinnig. Viele notwendige Maßnahmen sind wohlbekannt (siehe beispielsweise die Stellungnahme zu den integrations- und migrationspolitischen Vorhaben der neuen Bundesregierung vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration: SVR 2018). Nicht nur hier besteht jedoch eines der praktischen Hauptprobleme darin, dass viele Gelder nur an Legislaturperioden gebunden, projektbezogen oder gar aktionistisch vergeben werden, was dem Aufbau längerfristiger Strukturen

6Wesentlich

höher noch sind die Zahlen ‚freiwilliger‘ Rückkehr. Doch auch diese Rückkehrentscheidungen werden unter dem faktischen Zwang getroffen, einer Abschiebung entgehen zu müssen. 7An dieser Stelle muss zuletzt aber auch das deutsche Spezifikum des ‚Nicht-Status‘ der Duldung erwähnt werden, welche in der Tat ein Massenphänomen darstellt. Insbesondere die rechtliche Ungewissheit und der weitgehende Mangel an Unterstützungsleistungen für diese Personengruppe führen zu anhaltender Prekarität am Rande der deutschen Gesellschaft.

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entgegenwirkt: Trotz aller Professionalität wissen beispielsweise auch die kanadischen settlement services oft nicht, wie sie ihre Herausforderungen ohne finanzielle Planungssicherheit meistern sollen. Vor allem aber kann ein Zusammenleben kaum ohne ein Selbstverständnis des Sich-auf-Augenhöhe-Begegnens seitens der Mehrheitsgesellschaft funktionieren. Doch wer ist diese Mehrheitsgesellschaft überhaupt8? In Kanada wurde der Zugang der Staatsbürgerschaft bereits 1977 vereinfacht. Seither wetteifern dort alle Parteien um die Gunst von Wählerschaften mit Migrationserfahrung. In Deutschland hingegen fehlt leider nach wie vor die rechtliche und politische Teilhabe vieler hier Ansässiger durch Einbürgerung (Thränhardt 2017). In Kanada und Australien ist der Pfad zur Naturalisierung für Personen mit Aufenthaltsstatus wesentlich hürdenfreier und direkter: Wer bereits ein paar Jahre legal im Land und auf freiem Fuß ist, gehört dazu und darf sich beteiligen.

6 Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die jeweiligen Realitäten also nicht ohne die jeweilige historische Pfadabhängigkeit, die politische Kultur, den langjährigen Einfluss verschiedener Akteure und die aus diesen Verhältnissen resultierenden Wahrnehmungen verstehen lassen. Kanada oder gar Australien als Modelle für die komplexe Situation Deutschlands zu nehmen, greift daher viel zu kurz; copy-paste Lösungen sind aufgrund der unterschiedlichen Situationen illusorisch. Insbesondere kann sich Deutschland den Fokus auf resettlement in Kombination mit einem Inland-Asylsystem, das wie das kanadische oder australische auf Abschreckung und Abschottung ausgelegt ist, schlichtweg nicht leisten, auch wenn ein solcher Weg womöglich gesteigerte politische Legitimität verspräche. Geografie und Geschichte lassen sich zwar nicht replizieren, Gesetze hingegen schon. Daher macht es im Einzelnen durchaus Sinn, über den Tellerrand zu blicken und sich die Faktoren gelingender sozialer ‚Integration‘ anzusehen: Zunächst würde auch in Deutschland eine wahrhaftige ‚­Integrations‘-Gesetzgebung benötigt. Den Vorschlag, Teilhabe als

8Ein

weiterer Unterschied findet sich in diesem Zusammenhang in der Akteurskonstellation: In Deutschland existieren viel weniger einflussreiche Migrant*innenSelbstorganisationen, u. A., weil die integrative Stärke von Wohlfahrtsverbänden und Kommunen die Notwendigkeit zur Selbstorganisation reduzierte, was einem frühzeitigen empowerment allerdings entgegengewirkt haben mag (Hoesch 2018, S. 155 ff.).

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neues Staatsziel im Grundgesetz zu verankern (Eichenhofer und Dilmaghani 2017), gilt es daher dringend umzusetzen. Die Umsetzung dieses Ziels sollte am besten von einem eigenen Ministerium ausgestaltet werden, das nicht dem BMI unterstellt ist, oder alternativ beispielsweise beim BMAS liegen. Zusätzlich sprechen viele Argumente dafür, dass das in dieser Form einzigartige migrationspolitische Instrumentarium des schikanierenden Asylbewerberleistungsgesetzes weder zeitgemäß noch sinnvoll ist (Stiftung Mercator 2017). Allein dies würde jedoch vermutlich noch lange nicht die deutsche Mentalität und Grundstimmung ändern: Nach wie vor werden Leistungskürzungen von der Politik immer wieder propagiert. Um dies zu ändern, wäre wohl ein gesamtgesellschaftliches Umdenken erforderlich. Trotz aller hier vorgebrachten Bedenken ist ein Voneinander-Lernen also natürlich nicht per se ausgeschlossen. Es gilt jedoch, nicht nur aus den Erfolgen, sondern auch aus den Misserfolgen anderer Länder zu lernen. Anzufangen wäre beispielsweise mit den folgenden Forderungen an die deutsche Politik. Erstens: Unabhängig von ihren Wanderungsmotiven und ihrer Qualifikation sollten Menschen nicht ihrer Mobilität beraubt werden, indem sie lange in Massenunterkünfte gesperrt, stigmatisiert und von der Gesellschaft isoliert werden. Stattdessen müssen innovative Wege gefunden werden, um von Anfang an Begegnung auf allen Ebenen zu ermöglichen, um das Potential von Zugewanderten nicht zu vergeuden. Eine Zermürbung durch Nichtstun während langwieriger Statusklärung gilt es dringend zu verhindern. Zweitens: Falls die derzeit unentwegt geforderte ‚Integration‘ möglichst vieler Neuankömmlinge gelingen soll, muss nicht nur mehr in den mit der Ansiedlung und Arbeitsmarktintegration betrauten Sektor investiert, sondern auch die hierfür nötige Expertise ausgebaut werden. Die Professionalität kanadischer und australischer settlement services könnte dabei inspirieren. Zugleich sollte die Aufnahmegesellschaft sich aber auch dessen bewusst sein, dass zumeist erst frühestens die zweite Generation mit Einheimischen am Arbeitsmarkt konkurrenzfähig ist. Um mündige Menschen nicht der Chance zu berauben, ihr Glück selber in die Hand zu nehmen, würde dabei unter anderem auch eine (zumindest weitgehend) freie Wohnsitzwahl helfen: Trotz aller Bedenken bleibt wohl unstrittig, dass soziale Netzwerke beim Ankommen sehr hilfreich sein können. 3) In Zeiten der vorangeschrittenen Globalisierung gilt es, veraltete Konzepte nationaler Homogenität aufzugeben, Diversität auf allen Ebenen willkommen zu heißen und zu fördern – also auch Minderheitenkulturen anzuerkennen und ihnen Raum zum Ausleben ihrer Kultur zu bieten. Ob eine solche, sich vor der Realität nicht verschließende Politik nun ‚Multikulti‘ genannt wird oder nicht: Migration müsste wie in den klassischen Einwanderungsgesellschaften als Bereicherung wahrgenommen werden, anstatt

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krampfhaft eine ‚Assimilation‘ erzwingen zu wollen. Hierfür wäre es unter anderem auch dringend an der Zeit, das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht zu reformieren, um die Deckungsgleichheit der faktischen Einwohnerschaft mit der Wählerschaft zu erreichen (Thränhardt 2017). All diese Schritte wären gerade in heutigen Zeiten wichtige Symbole, um auch ‚ewig Gestrigen‘ klarzumachen, dass die Zeit völkischer Selbstverständnisse passé ist.

Literatur Bommes, M. (2011). Nationale Paradigmen in der Migrationsforschung. Migration und Migrationsforschung in der modernen Gesellschaft, Themenheft IMIS-Beiträge, 38, 15–52. Dauvergne, C. (2016). The new politics of immigration and the end of settler societies. New York: Cambridge University Press. Eichenhofer, J., & Dilmaghani, F. (2017). Mehr Integration und Teilhabe. Zwei Vorschläge für rechtliche Neuregelungen. https://library.fes.de/pdf-files/dialog/13302.pdf. Zugegriffen: 14. Juni 2018. Fleischhauer, J. (2018). Kinderflüchtlinge. Sind so kleine Hände. https://www.spiegel. de/politik/deutschland/alterstests-bei-fluechtlingen-kolumne-von-jan-fleischhauera-1186171.html. Hamlin, R. (2014). Let me be a refugee: Administrative justice and the politics of asylum in the United States, Canada, and Australia. New York: Oxford University Press. Hoesch, K. (2018). Einführung: Flucht, Migration und Integration. Wiesbaden: Springer VS. Kelley, N., & Trebilcock, M. J. (2010). The making of the mosaic: A history of Canadian immigration policy (2. Aufl.). Toronto: University of Toronto Press. Marr, D., & Wilkinson, M. (2003). Dark victory. Sydney: Allen & Unwin. Stiftung Mercator. (2017). Städte und Gemeinden in der Flüchtlingspolitik. Welche Probleme gibt es – und wie kann man sie lösen? https://www.stiftung-mercator.de/ media/downloads/3_Publikationen/2017/August/Stiftung_Mercator_Studie_Verwaltungshandeln_Fluechtlingspolitik.pdf. SVR (2018). Stellungnahme zum Entwurf des Koalitionsvertrags zwischen CDU, CSU und SPD vom 7. Februar 2018. https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2018/03/ SVR_Stellungnahme_Koalitionsvertrag_2018.pdf. Thränhardt, D. (2017). Einbürgerung im Einwanderungsland Deutschland. Analysen und Empfehlungen. https://library.fes.de/pdf-files/wiso/13590-20170821.pdf Thym, D. (2017). Einwanderungsgesetzgebung: Chancen und Illusionen (Teil 1). Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik., 8, 297–304. Triadafilopoulos, T. (2012). Becoming multicultural: Immigration and the politics of membership in Canada and Germany. Vancouver: UBC Press. Winter, E. (2010). Quebecs Rolle in der kanadischen Multikulturalismus-Diskussion: Vorgänger, Gegenspieler oder Gegenbild. In U. Reutner (Hrsg.), 400 Jahre Quebec: Zwischen Konfrontation und Kooperation (S. 91–108). Heidelberg: Universitätsverlag.

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Dr. Lorenz Wiese, (né Neuberger);  Dr., M.A. in Politik- und Verwaltungswissenschaft, Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität Konstanz, Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft, Arbeitsgruppe für Innenpolitik und öffentliche Verwaltung, Forschungsschwerpunkte: Mehrebenen-Schutzregime im internationalen und deutschlandweiten Vergleich, Projektkoordinator „Entstehung und gesellschaftliche Wirkung hybrider Organisationen im lokalen Krisenmanagement (HybOrg)“. Seit April 2020 arbeitet Lorenz Wiese des Weiteren bei Prof. Dr. Petra Bendel am Centre for Human Rights ­Erlangen-Nürnberg (CHREN) im Verbundprojekt „Flucht- und Flüchtlingsforschung – Vernetzung und Transfer (FFVT)“. E-Mail: [email protected].

4

Innovationspotentiale und Legitimationsprobleme eines Punktesystems in Deutschland Sascha Krannich und Uwe Hunger

Zusammenfassung

In Anknüpfung an kritische Debatten zur Einführung des Punktesystems in Deutschland wirft der Beitrag aus der Perspektive vergleichender Policyanalyse einen Blick auf die Punktesysteme in klassischen Einwanderungsländern, um die Innovationspotenziale und Legitimationsprobleme einer Übertragung auf Deutschland auszuloten. Dabei wird deutlich, dass die drei fokussierten Einwanderungsländer Kanada, Australien, und Neuseeland jeweils unterschiedliche Systeme entwickelt haben, die allesamt kontrovers diskutiert werden. In Reflexion auf das Ergebnis werden Empfehlungen für Deutschland entwickelt, wie Innovationspotenziale von Punktesystemen genutzt und Legitimationsprobleme vermieden werden können.

Dieser Aufsatz basiert auf den Ergebnissen zweier Studien zu Einwanderungsregelungen in Deutschland und im internationalen Vergleich, die wir im Auftrag der Friedrich-EbertStiftung in den Jahren 2015 und 2016 durchgeführt haben (Hunger und Krannich 2015, 2017). Teile der Ergebnisse wurden auch veröffentlicht in Hunger (2017), Krannich (2018) sowie Hunger und Krannich (2018). S. Krannich (*)  Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected] U. Hunger  Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_4

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1 Einleitung Der Ruf nach einer umfassenden Neuregelung der Erwerbsmigration in Deutschland, die gezielter die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes in den Blick nimmt, ebbt trotz des im Sommer 2019 verabschiedeten Fachkräfteeinwanderungsgesetzes nicht ab (Süssmuth 2019). Das hängt vor allem mit zwei Kritikpunkten zusammen: Zum einen wird nicht erwartet, dass durch die neuen Regelungen im Rahmen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes, die Zahlen der Fachkräfte und akademisch ausgebildeten (hochqualifizierten) Zuwanderinnen und Zuwanderer, die auch tatsächlich nach Deutschland einwandern, deutlich erhöht werden können. So wurden zwar die Zuwanderungsmöglichkeiten für nicht-akademische Fachkräfte im Rahmen des Gesetzes verbessert1, aber die ­ bestehenden Regelungen für hochqualifizierte Akademikerinnen und Akademiker kaum angetastet (Bundesregierung 2019). Laut einer neueren OECD-Studie ist Deutschland nach wie vor nicht sehr attraktiv für hochqualifizierte Fachkräfte, und liegt dabei nur knapp über dem OECD-Durchschnitt (OECD 2019). Die Zahl der Hochqualifizierten, die mit einer sog. Blauen Karte EU – also der Visumskategorie mit der die EU Hochqualifizierte aus aller Welt anziehen will – nach Deutschland eingewandert sind, belief sich im Jahr 2018 gerade einmal auf etwas über 11.500 (BAMF 2019). Für das Jahr 2019 werden ähnliche Zahlen erwartet. Dies ist im Vergleich zu anderen OECD-Ländern, wie etwa Kanada oder der USA, ein sehr kleiner Wert und auch angesichts der zukünftig notwendigen Zuwanderung zu wenig (OECD 2019).2

1So

besteht nach dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz jetzt auch für nichtakademische Fachkräfte die Möglichkeit, bis zu sechs Monate zur Arbeitsplatzsuche nach Deutschland einzuwandern. Das wurde zuvor nur akademischen Fachkräften ermöglicht (Bundesregierung 2019). 2So herrscht in einigen Regionen Deutschlands bereits heute ein so akuter Arbeitskräftemangel, dass Stellen nicht mehr besetzt werden können und Betriebe bzw. einzelne Abteilungen vor der Schließung oder Abwanderung stehen. Dies gilt insbesondere in den sog. MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) sowie in der Medizin und der Pflege (Hunger 2015). Dieser Arbeitskräftemangel wird sich in den nächsten Jahren noch weiter zuspitzen. Das Statistische Bundesamt prognostiziert, dass die Erwerbsbevölkerung in Deutschland von heute knapp 50 Mio. auf unter 40 Mio. im Jahr 2060 sinken wird (Statistisches Bundesamt 2017). Demzufolge wird Deutschland in Zukunft noch stärker auf die Zuwanderung von Arbeitskräften angewiesen sein. Es wird geschätzt, dass in den nächsten Jahren eine jährliche Nettozuwanderung von bis zu 500.000 Fachkräften benötigt wird, um die sich abzeichnende Fachkräftelücke zu schließen – und zwar nicht erst in zehn oder zwanzig Jahren, sondern jetzt und dauerhaft (Fuchs et al. 2015).

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Der zweite Hauptkritikpunkt bezieht sich vor allem auf die Komplexität und die daraus resultierende mangelnde Transparenz der gegenwärtigen Regelungen der Arbeitskräftezuwanderung in Deutschland. Mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz sind die Regelungen sogar noch komplexer geworden. Es gibt mittlerweile – je nach Zählweise – über 50 Einzelregelungen der Erwerbszuwanderung in Deutschland. Sie reichen von der hochqualifizierten Beschäftigung (z. B. Blaue Karte EU) über den internationalen Personalaustausch und die Beschäftigung von Lehrkräften zur Erteilung muttersprachlichen Unterrichts sowie Spezialitätenköchen bis hin zu Hausangestellten, Saisonarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer bis hin zur konzerninternen Entsendung (Hunger und Krannich 2017). Für jede Beschäftigungsform existiert in der Beschäftigungsverordnung bzw. im Aufenthaltsgesetz ein eigener Paragraf, in dem die jeweiligen Kriterien und Voraussetzungen der Beschäftigung festgelegt sind. Im Zentrum der nicht abbrechenden Reformdiskussionen steht daher weiterhin die Einführung eines sog. Punktesystems. Hierbei erfolgt die Auswahl von Zugewanderten nicht (nur) aufgrund einer Arbeitsplatzzusage im Inland (nachfrageorientiert), sondern nach Qualifikationsgesichtspunkten aufseiten der potentiellen Einwanderinnen und Einwanderer (wie Alter, Qualifikation, Berufserfahrung etc.), die sich nach dem generellen Bedarf des inländischen Arbeitsmarktes richten und für die jeweils Punkte vergeben werden (angebotsorientiert). Erreicht eine potentielle Zuwanderin/ ein potentieller Zuwanderer genügend Punkte (über die verschiedenen Kategorien akkumuliert) und werden eventuell festgelegte Kontingente nicht überschritten, wird er für eine Zuwanderung in das betreffende Einwanderungsland zugelassen. Das Besondere an einem Punktesystem ist dabei, dass das Prozedere für alle potentiellen Zuwanderinnen und Zuwanderer gleich ist und grundsätzlich die Möglichkeit besteht, dass man auch ohne einen festen Arbeitsvertrag einwandern darf, sofern die erreichte Punktzahl einen bestimmten Schwellenwert überschreitet. Befürworterinnen und Befürworter sagen, dass die Einführung eines Punktesystems eine große Innovation für das Einwanderungsland Deutschland bedeuten würde und die angesprochenen Probleme lösen könnte, da es deutlich einfacher und transparenter und damit nach außen besser zu vermarkten sei (Rinne et al. 2015). Zudem zeichnet es sich durch eine gewisse Flexibilität aus (Hawthorne 2014; Hunger und Krannich 2017). Kritikerinnen und Kritiker warnen dagegen vor möglichen Legitimationsproblemen eines Punktesystems, insbesondere infolge einer weniger zielgenauen Steuerung in den Arbeitsmarkt (z. B. Kolb 2016), da eine feste Arbeitsplatzzusage – wie bei dem jetzigen deutschen System vorgeschrieben – nicht mehr zwingend erforderlich wäre und es daher zu einer

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höheren Arbeitslosigkeit bzw. zu einer Beschäftigung unterhalb des Qualifikationsniveaus der Zuwanderinnen und Zuwanderer kommen könnte (u. a. Thränhardt 2014). Vor diesem Hintergrund mehren sich die Stimmen, die ein Punktesystem kritisch und immer weniger als ein Modell sehen, das eins zu eins auf Deutschland übertragen werden sollte (Bade 2015; SVR 2015, S. 34). Der vorliegende Aufsatz knüpft an diese Debatte an und wirft einen Blick auf Punktesysteme in anderen Einwanderungsländern, um die Innovationspotentiale und Legitimationsprobleme, die die Einführung eines Punktesystems in Deutschland mit sich bringen könnte, zu diskutieren.

2 Punktesysteme in klassischen Einwanderungsländern: Kanada, Australien und Neuseeland Zunächst wurden Punktesysteme nur in klassischen Einwanderungsländern wie Kanada, Australien und Neuseeland praktiziert (Hunger und Krannich 2015, 2018). In den letzten zehn Jahren haben aber auch viele neuere Einwanderungsländer, wie Dänemark, die Niederlande, Österreich, Tschechien und mit Abstrichen auch Großbritannien und Japan, diesen Weg eingeschlagen und entsprechende Einwanderungsregelungen auf einer Punktebasis eingeführt (Bedford 2006; Ho und Bedford 2010; Buchanan et al. 2013; Hawthorne 2011, 2014; Murray 2011; Ruhs und Anderson 2010; SVR 2015). Dabei gilt Kanada nach wie vor als Referenz, weil es 1967 weltweit als erstes Land ein Punktesystem zur Steuerung der Arbeitsmigration eingeführt hatte. Seit über 50 Jahren werden Arbeitseinwanderinnen und -einwanderer hier nun schon durch ein Punktesystem ausgewählt, ohne dass sie ein festes Arbeitsplatzangebot vorweisen müssen. Nach zahlreichen Reformen werden Zuwanderinnen und Zuwanderer heute nach zwei aufeinander aufbauenden Punktesystemen ausgewählt: Im ersten, sog. „Express Entry“-Verfahren wird geprüft, ob die Bewerberinnen und Bewerber grundsätzlich vom Alter, ihren Qualifikationen, Berufserfahrungen etc. für eine Zulassung für den kanadischen Arbeitsmarkt infrage kommen. Ist das der Fall – z. B. wenn man bereits eine Arbeitsplatzzusage vorweisen kann (hierfür bekommt man allein schon 600 von 1200 möglichen Punkten) – wird in dem darauffolgenden zweiten Punktesystem noch einmal geprüft, welche Sprachkenntnisse, berufliche Qualifikationen, Berufserfahrung und welches Alter sie und ggf. ihre Lebensund Ehepartnerinnen und -partner haben und hierfür entsprechende Punkte vergeben. Auch hier spielt ein mögliches Arbeitsplatzangebot eine Rolle, es ist aber nicht mehr so zentral wie im ersten Durchgang. In diesem Verfahren werden die

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Sprachkenntnisse mit bis zu 28 Punkten und die beruflichen Qualifikationen mit bis zu 25 Punkten am höchsten bewertet. Insgesamt muss die Bewerberin/ der Bewerber in diesem Durchgang eine Mindestpunktzahl von 67 (von insgesamt 100 möglichen Punkten) erreichen, um sich für ein Arbeitsvisum zu qualifizieren. Jedes Jahr werden so bis zu 51.000 Bewerberinnen und Bewerber zugelassen. Den größten Anteil unter den Hochqualifizierten stellten Medizinerinnen und Mediziner sowie Ingenieurinnen und Ingenieure (Hawthorne 2014, S. 5). Australien führte im Jahr 1979 als zweites Land ein Punktesystem ein. Es ist seitdem Teil des sog. „General Skilled Migrant Program“, mit dem die gesamte Arbeitszuwanderung nach Australien geregelt wird. Das Besondere des australischen Punktesystems besteht im Gegensatz zu Kanada darin, dass hier nur Migrantinnen und Migranten teilnehmen, die noch keine feste Arbeitsplatzzusage in Australien vorweisen können. Für Bewerberinnen und Bewerber mit einer Arbeitsplatzzusage stehen andere Einwanderungskanäle bereit. Allerdings können sich über das Punktesystem nur akademisch ausgebildete (hochqualifizierte) Arbeitskräfte bewerben. Es ist ein jährliches Kontingent von insgesamt 44.000 zugewanderten Arbeitskräften vorgesehen. Im Zeitraum von 2008 bis 2014 entfielen die meisten der rund 340.000 Bewerbungen im Punktesystem auf IT-Fachkräfte (39.000 Bewerbungen), Ingenieurberufe (27.000), Medizinberufe (5500) und Wissenschaftsberufe (4000) (Hawthorne 2014, S. 10). Die Bewerberinnen und Bewerber werden ähnlich wie in Kanada (allerdings ohne Arbeitsplatzzusage) nach den Kriterien Alter, Sprachkenntnisse, Berufserfahrungen, Bildungsstand und Studienabschlüsse in Australien bewertet. Dabei sind die Kriterien relativ gleichmäßig gewichtet, wobei das Alter etwas hervorgehoben ist. Insgesamt muss eine Mindestpunktzahl von 65 erreicht werden, um ein Arbeitsvisum zu erhalten. In Neuseeland gilt ein Punktesystem seit 1991. Es gilt, anders als in Australien, auch für beruflich Qualifizierte (Bedford 2006; Hawthorne 2011, 2014). Aber ähnlich wie in Australien erfolgt die Auswahl über die Kriterien Alter, Berufserfahrung, berufliche Qualifikationen, besondere Fähigkeiten sowie Familienmitglieder in Neuseeland. Allerdings fließen Sprachkenntnisse nicht in die Bewertung mit ein. Im Vergleich zu Kanada und Australien gestaltet sich die Punktevergabe zudem deutlich komplexer und umfangreicher, weil Antragstellerinnen und Antragsteller in vielen Kategorien Zusatzpunkte erhalten können, wie etwa für eine Ausbildung und Berufserfahrung in einem Mangelberuf. Die maximal erreichbare Punktzahl beträgt 350 Punkte, wobei „nur“ eine Mindestpunktzahl von 100 Punkten erlangt werden muss, um in das Visasystem aufgenommen zu werden. Dabei ist eine Arbeitsplatzzusage nicht zwingend notwendig, sie wird aber innerhalb des Punktesystems besonders berücksichtigt,

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Tab. 1   Kriterien in den Punktesystemen klassischer Einwanderungsländer Kanada

Australien

Neuseeland

Alter

x

x

x

Bildung/Qualifikation

x

x

x

Berufserfahrungen

x

x

x

Sprache

x

x



Arbeitsplatz

x



x

Studienabschlüsse oder Familie im Einwanderungsland



x (Studien-abschluss)

x (Familie)





Erfahrungen und berufliche Qualifikationen des Lebens- oder Ehepartners

Quellen: Eigene Zusammenstellung nach CIC 2015, Visa Solution 2015, Immigration New Zealand 2015

sowohl bei der Antragstellerin bzw. dem Antragsteller als auch bei der Ehe- oder Lebenspartnerin/ dem Ehe- oder Lebenspartner. Demnach kann die Antragstellerin/ der Antragsteller 50 Punkte für eine Arbeitsplatzzusage erhalten, was bereits die Hälfte aller notwendigen Punkte ausmacht. Diese Kurzdarstellung macht bereits deutlich, dass sich Punktesysteme in ihrer konkreten Ausgestaltung deutlich voneinander unterscheiden können. Wie beschrieben, variiert die Ausgestaltung der Systeme sowohl mit Blick auf die jeweils zugrunde gelegten Kriterien als auch die dazu gehörenden Gewichtungen. So spielt eine Arbeitsplatzzusage in Kanada und Neuseeland eine Rolle, in Australien dagegen nicht. Umgekehrt sind Sprachkenntnisse in Kanada und Australien ein Kriterium, in Neuseeland nicht. Unterschiede zeigen sich auch in der konkreten Punktevergabe. Während die Arbeitsplatzzusage in Kanada sehr hoch bewertet wird, ist sie in Neuseeland moderat. Auch die jährliche Kontingentierung ist unterschiedlich: In Kanada liegt das Kontingent bei 51.000 Arbeitskräften, in Australien bei 44.000 und in Neuseeland bei 26.000. Allerdings werden die Kontingente in allen drei Ländern jedes Jahr fast vollständig ausgeschöpft (Hunger und Krannich 2015). Die Tab. 1 fasst die wesentlichen Kriterien in den behandelten Punktesystemen zusammen. In allen drei Ländern wird auch von Problemen bei der Durchführung der Punktesysteme berichtet. In Kanada bestand lange Zeit das Problem vor allem darin, dass – wie eingangs schon angesprochen – viele der über das Punktesystem eingewanderten Migrantinnen und Migranten entweder überhaupt keinen

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Arbeitsplatz fanden oder nur einen unterhalb ihrer eigentlichen Qualifikation (Schmidtke 2014). Im Jahr 2001 galt dies etwa für über ein Drittel aller Einwanderinnen und Einwanderer, die durch ein Punktesystem in Kanada ausgewählt wurden (Birrell et al. 2006, S. 192). Als abschreckendendes Beispiel galt hierbei der „Akademiker als Taxifahrer“ (Thränhardt 2014, S. 5). Auch gab es lange Bearbeitungszeiten im Bewerbungsverfahren. So entstand ein Ungleichgewicht zwischen der Anzahl freier Plätze im Jahresplan und der tatsächlichen Anzahl der Bewerberinnen und Bewerber, die in dem jeweiligen Jahr nach Kanada kommen wollten3. Im australischen Punktesystem wurde vor allem bemängelt, dass dieses zu unflexibel sei und zu langsam auf Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt reagiere (Murray 2011, S. 19). Dies war etwa zu Beginn der 2000er Jahre der Fall, als im Rahmen des Punktesystems weiterhin viele IT-Spezialistinnen und Spezialisten zugelassen wurden, obwohl die Nachfrage auf dem australischen Arbeitsmarkt bereits merklich abgeebbt war. Die Folge war, dass, wie in Kanada, viele der Zugewanderten keinen Job fanden und arbeitslos wurden. Zwischen 2001 und 2004 stieg z. B. die Arbeitslosenquote unter IT-Kräften auf über 30 % (Murray 2011, S. 22). Auch gab es, ähnlich wie in Kanada, Probleme mit der Bearbeitungszeit der Visaanträge. Wie in Kanada und Australien ergaben sich auch in Neuseeland ernsthafte Probleme bei der Umsetzung des Punktesystems. Als größtes Problem stellte sich dabei, ähnlich wie in Kanada, die lange Bearbeitungszeit heraus. Zudem gab es auch Bewerberinnen und Bewerber, die im Rahmen des Punktesystems die notwendigen Punkte erreicht hatten und auch eine Genehmigung zur Einwanderung erhalten haben, aber letztendlich nicht oder erst mit großer Verzögerung tatsächlich eingewandert sind. Teilweise vergingen drei oder vier Jahre.4 Jedoch wurde in allen drei Ländern aus den Fehlern und Problemen der Vergangenheit gelernt und die Punktesysteme schrittweise reformiert. So wurden in Kanada verstärkt Elemente eingebaut, die die Arbeitsmarktnachfrage berücksichtigten (Kaulisch 2012; Bauder et al. 2014). Konkret wurde neben dem Kriterium einer Einladung von einer Regionalverwaltung auch das Kriterium einer Arbeitsplatzzusage durch ein kanadisches Unternehmen in das System aufgenommen, das inzwischen auch sehr hoch bewertet wird, wie wir gesehen haben. In allen drei Ländern wurden zudem Online-Bewerbungsprogramme eingeführt, um das Bewerbungsverfahren schneller und effizienter zu gestalten. Den

3Interview 4Interview

mit Maia Welbourne, Citizenship and Immigration Canada (2015). mit Richard Bedford, University of Waikato (2015).

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Anfang machte dabei Neuseeland im Jahr 2003, Australien und Kanada folgten wenig später. Die langen Wartezeiten konnten dadurch deutlich verkürzt werden. Bewerberinnen und Bewerber, die nicht direkt einreisen, werden nun nach spätestens drei Monaten aus dem Onlinepool gelöscht und müssen sich danach wieder neu bewerben (Immigration New Zealand 2015). In Australien kann man sich auch nur noch online bewerben, in dem man ein sog. „Expression of Interest“ (EOI) ausfüllt, in dem man die beruflichen Fähigkeiten und Erfahrungen aufführt, die schon vor der Einreise von australischen Unternehmen eingesehen werden können, sodass möglichst frühzeitig ein Kontakt zwischen Bewerberinnen/ Bewerbern und Unternehmen hergestellt werden kann. Darüber hinaus wurde in Australien eine sog. Mangelberufsliste eingeführt, auf der die von australischen Unternehmen nachgefragtesten Berufe nach Priorität geordnet werden (Department of Immigration and Citizenship 2015). In allen drei Ländern waren die Reformen überwiegend erfolgreich. In Kanada ist die Arbeitslosenquote unter den zugewanderten Arbeitskräften, die über das neue Online-Bewerbungsverfahren ausgewählt wurden, deutlich gesunken. So lag die Arbeitslosenquote im Jahr 2018 unter 2 % (CIC 2019). In Australien werden 80 % der Bewerberinnen und Bewerber innerhalb von sechs Monaten in einen Arbeitsplatz vermittelt. Die Erwerbstätigkeit unter Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten lag über viele Jahre bei 96 %, bei Hochqualifizierten sogar bei über 99 % (Buchanan et al. 2013). In Neuseeland ist die Erwerbsquote heute ähnlich hoch5.

3 Innovationspotentiale und Legitimationsprobleme eines Punktesystems in Deutschland Die kurze Darstellung der verschiedenen Punktesysteme macht deutlich, dass die Einführung eines Punktesystems eine grundlegende Neuerung im deutschen Einwanderungssystem darstellen würde. Wo in Deutschland ein Arbeitsvertrag zwingend notwendig für eine Einreise als Arbeitsmigrantin und Arbeitsmigrant ist, so gibt es in allen dargestellten Punktesystemen die Möglichkeit auch ohne Arbeitsplatzzusage in das betreffende Land einzureisen. Es ist jedoch auch deutlich geworden, dass ein Punktesystem nicht überall gleich ist, sondern jeweils auf

5Interview

mit Richard Bedford, University of Waikato (2015).

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die spezifischen sozialen, ökonomischen, politischen, aber auch geografischen Besonderheiten eines Landes ausgerichtet sein kann. Dies würde auch für Deutschland gelten, sodass die Beurteilung eines Punktesystems in Deutschland immer auch von seiner konkreten Ausgestaltung abhängig wäre. Das Innovationspotential eines Punktesystems steckt jedoch grundsätzlich immer in seiner größeren Einheitlichkeit, Transparenz und Flexibilität. So ist bei den dargestellten Fällen deutlich geworden, dass die Punktesysteme wesentlich einfachere Regelungen vorsehen als die derzeit sehr komplexen und unübersichtlichen Einwanderungsregelungen in Deutschland. Während im aktuellen deutschen System allein für Hochqualifizierte bis zu sieben verschiedene Zuwanderungsregelungen gelten, so unterschieden die vorgestellten Punktesysteme zumeist nur zwischen akademisch und beruflich qualifizierten Arbeitskräften, innerhalb der Gruppen galten aber dieselben Vorschriften. Angesichts der oben erwähnten über fünfzig Regelungen, die es für Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Deutschland gibt, würde ein Punktesystem daher ein nicht zu unterschätzendes Vereinfachungspotential aufweisen. Dies würde auch die Darstellung nach außen wesentlich vereinfachen. Eine Umstellung auf ein Punktesystem würde zugleich zu einer größeren Transparenz führen und zwar sowohl für die Bewerberinnen und Bewerber als auch für die interessierten Unternehmen. Während heute selbst Fachleute Schwierigkeiten haben, die Zuwanderungsbestimmungen für Arbeitskräfte in Deutschland im Einzelnen wiederzugeben, ist es bei Punktesystemen deutlich klarer, welche Voraussetzungen bzw. Kriterien für die Einwanderung gelten. Dies ist auch für potentielle Einwanderinnen und Einwanderer von Vorteil, weil sie besser einschätzen können, welche Anforderungen für sie gelten und wie groß ihre jeweiligen Einwanderungschancen sind. Bewerberinnen und Bewerber können sogar, falls sie den Anforderungen des Punktesystems noch nicht entsprechen, dadurch motiviert werden, zusätzliche Qualifikationen, wie z. B. Sprachkenntnisse, zu erwerben, um die notwendige Punktzahl zur Einwanderung zu erreichen. Dabei hat sich auch ein einfach und transparent gestaltetes Online-Bewerbungsverfahren in den dargestellten Ländern als sehr hilfreich ­ erwiesen. Ein solches Onlineverfahren ermöglicht einen schnellen und weltweiten Zugriff für interessierte Migrantinnen und Migranten. Schließlich liegt eine weitere Stärke des Punktesystems in seiner Flexibilität, d. h. der ständigen Anpassungsfähigkeit an neue ökonomische und politische Gegebenheiten, ohne dass es gleich zu einer Gesetzesänderung kommen muss. So kann z. B. in Zeiten wirtschaftlicher Hochkonjunktur und einer hohen Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften die Mindestpunktzahl herabgesetzt werden, damit mehr Bewerberinnen und Bewerber zugelassen werden können.

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Umgekehrt kann die Mindestpunktzahl in Zeiten ökonomischer Rezession, wenn die Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften nachlässt, wieder hochgesetzt und zudem auch die Arbeitsplatzzusage von einem inländischen Unternehmen höher gewichtet werden, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Auch können neue Kriterien eingebaut werden, wenn es die neuen Gegebenheiten verlangen, wie z. B. Extrapunkte für aktuelle Mangelberufe. Auch die demografische Entwicklung kann dieses System berücksichtigen. Bei stark schrumpfender Bevölkerung könnten sehr junge Bewerberinnen und Bewerber bevorteilt werden, wenn man sich von ihnen langfristig eine demografische „Dividende“ verspricht. Legitimationsprobleme liegen bei Punktesystemen dagegen, wie deutlich wurde, vor allem in einer möglichen Fehlallokation am Arbeitsmarkt sowie einer ineffizienten Verwaltung des Bewerbungssystems. Im Mittelpunkt dieser Kritik steht vor allem die Befürchtung, dass Arbeitskräfte, die ohne einen Arbeitsvertrag ins Land kommen, wie dies lange Zeit in Kanada der Fall war, arbeitslos oder nicht ihrer Qualifikation entsprechend auf dem Arbeitsmarkt eingesetzt werden. Die Risiken bei einer solchen Arbeitsmarktfehlallokation sind in einem sozialstaatlich verfassten System wie der Bundesrepublik Deutschland sogar noch ungleich größer, da in diesem Fall die Allgemeinheit deutlich stärker belastet würde als in liberalen Wohlfahrtsstaaten wie Kanada, Australien oder Neuseeland (Esping-Andersen 1990). Allerdings hat der vorhergehende Vergleich auch gezeigt, dass sich das Risiko einer migrationsinduzierten Arbeitslosigkeit auf Basis eines Punktesystems mit einer hohen Bewertung der Arbeitsplatzzusage durchaus abmildern lässt. Dabei gibt es im Grunde zwei Möglichkeiten: Entweder man erachtet sie als zwingend notwendig aufgrund der Bedenken, dass Einwanderinnen und Einwanderer direkt in der Arbeitslosigkeit münden könnten und vergibt so viele Punkte hierfür, dass ohne diese Punkte eine Einreise unmöglich wird, wie dies z. B. in Großbritannien der Fall war (Ruhs und Anderson 2010), oder der Arbeitsplatzzusage wird „nur“ eine hohe Gewichtung in der Punktevergabe beigemessen, sodass eine Einreise durch eine Arbeitsplatzzusage zwar sehr wahrscheinlich wird, aber nicht zwingend notwendig ist, wie etwa in Kanada. In diesem Fall wird man nicht umhinkommen, den neuen Mitgliedern der Gesellschaft eine Art Vertrauensvorschuss zu gewähren und darauf zu bauen, dass sie in angemessener Zeit einen ihren Qualifikationen entsprechenden Arbeitsplatz finden werden. Eine weitere Möglichkeit besteht in der besonderen Bewertung von Mangelberufen sowie einem klugen Online-Bewerbungssystem. Zudem würde sich bei einer Punktesystemeinführung in Deutschland die Frage stellen, welche Einwanderungsgruppen tatsächlich über ein solches System ausgewählt werden sollen, und inwiefern es legitim ist, bestimmte Gruppen aus einem Punktesystem ein- bzw. auszuschließen. Der Vergleich hat gezeigt, dass ein

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Punktesystem entweder für die Steuerung der gesamten Arbeitszuwanderung eingesetzt werden kann (Neuseeland) oder nur als ergänzendes Element für hochqualifizierte Zuwanderinnen und Zuwanderer (wie in Kanada oder Australien). In der aktuellen politischen Debatte in Deutschland scheint die Perspektive zu überwiegen, zunächst „nur“ ein ergänzendes Punktesystem einzuführen, das parallel zu den bestehenden Regelungen gelten soll (Rinne et al. 2015). Ein solches ergänzendes Punktesystem, das sich (nach kanadischem und australischem Vorbild) speziell an Hochqualifizierte und/oder Mangelberufe wendet, könnte die Attraktivität des Einwanderungslandes Deutschland sicher schon merklich erhöhen, allerdings würde dies kaum zur eben angesprochenen Vereinheitlichung und Transparenz der Einwanderungsregelungen im Bereich der Arbeitsmigration beitragen, da letztlich wieder nur ein zusätzliches Element in das Gesetzeswerk eingefügt und die bestehende Unübersichtlichkeit dadurch sogar noch weiter vergrößert würde. Die Einführung eines generellen Punktesystems würde dagegen deutlich stärker zu einer Vereinheitlichung und Transparenz der Arbeitsmigrationsregelungen in Deutschland führen und somit auch dazu beitragen, das Legitimationsdefizit bei der einseitigen Bevorteilung von einzelnen Zuwanderungsgruppen (aktuell besonders Hochqualifizierte) im aktuellen deutschen Regelwerk abzumildern. Allerdings bleibe auch dann noch die Frage, wie legitim es ist, einzelne Qualifikationen höher zu bewerten als andere. Die Bundestagsfraktion der Linken spricht in diesem Zusammenhang bei Punktesystemen von einer Art „Nützlichkeitsrassismus“ (Die Linke 2015). Fairerweise muss man jedoch hinzufügen, dass dieser Vorwurf auch dem aktuellen Arbeitseinwanderungssystem in Deutschland zu machen wäre, da auch hier einzelne Gruppen aufgrund von „Nützlichkeitserwägungen“ (Arbeitskräftemangel in einzelnen Branchen) bevorzugt werden. Die Frage der Legitimation würde sich auch hinsichtlich der Übergangsmöglichkeiten für nicht-erwerbsbezogene Zuwanderungsgruppen stellen, wie z. B. Studierende oder Geflüchtete. So müsste entschieden werden, ob sich auch internationale Studierende nach Abschluss ihres Studiums für einen (dauerhaften) Arbeitsplatz im Rahmen des Punktesystems bewerben können, wie dies z. B. in den oben angesprochenen Einwanderungsländern der Fall ist. Auch Geflüchteten könnte man es ermöglichen, sich über das Punktesystem für einen Arbeitsplatz im Aufnahmeland zu bewerben, wie dies etwa im neuseeländischen Punktesystem vorgesehen ist, sofern sie die notwendigen Qualifikationen haben. Hier würde auch der oben angesprochene Punkt der Transparenz und Einfachheit relevant werden, da sich Geflüchtete aufgrund der transparenten Gestaltung eines Punktesystems leichter über die Möglichkeiten eines Arbeitsvisums informieren

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könnten, also welche Qualifikationen besonders nachgefragt werden und welche Sprachanforderungen bestehen (Krannich 2018). Auch würde sich in diesem Zusammenhang die Frage stellen, das Punktesystem neben rein ökonomischen, an den Bedürfnissen der deutschen Wirtschaft ausgerichteten Gesichtspunkten, auch soziale Aspekte wie Gender, Alter und sozialer Status zu berücksichtigen. Hierbei könnten auch regionale Gesichtspunkte, wie etwa Unterschiede zwischen einzelnen Regionen und demografische Unterschiede Berücksichtigung finden, sodass Zuwanderung regional gesteuert werden könnte. Ein anderes Legitimationsproblem könnte auch die Kontingentierung im Rahmen des Punktesystems darstellen, d. h. wie viele Bewerberinnen und Bewerber tatsächlich im Rahmen des Punktesystems einwandern dürfen. Wie oben beschrieben, haben alle klassischen Punktesysteme ein Kontingent. Die jährliche Kontingentierung wird in allen drei Ländern an den jeweiligen Bedürfnissen der nationalen Wirtschaft ausgerichtet. Das würde wahrscheinlich auch in Deutschland so gemacht werden, wenn Einwanderinnen und Einwanderer auch ohne Arbeitsplatz einwandern dürften. Hierbei müsste die genaue Höhe des Kontingents von Jahr zu Jahr auf Basis der allgemeinen Arbeitsmarkt- und demografischen Entwicklung neu festgelegt werden. Wer dies vornehmen soll, könnte in der Praxis zu einer Gretchenfrage werden. Ein Expertinnen- und Expertengremium, angesiedelt etwa bei der Bundesagentur für Arbeit, könnte für eine möglichst sachgerechtere Kontingentierung stehen. Eine Entscheidung des Deutschen Bundestages würde demgegenüber für eine größere demokratische Legitimation sorgen können, wäre allerdings auch damit verbunden, dass jedes Jahr wieder von Neuem über die Art und den Umfang der Arbeitseinwanderung nach Deutschland öffentlich gestritten werden könnte.

4 Fazit Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass die Einführung eines Punktesystems in Deutschland sowohl Innovationsschübe als auch Legitimationsdefizite mit sich bringen würde. Die Risiken bei einer Arbeitsmarktfehlallokation sind ungleich größer, da Zuwanderer und Zuwanderinnen in diesem Fall die Sozialkassen belasten würden. Wie die Vergleichsstudie aber gezeigt hat, lässt sich dieses Risiko mit einer hohen Bewertung einer Arbeitsplatzzusage, einer Liste für Mangelberufe sowie einem effizienten (Online-)Bewerbungssystem aber durchaus abmildern. Allerdings würde man einem Punktesystem seiner größten Stärken berauben, wenn man eine Einreise vollständig von einer Arbeitsplatzzusage abhängig machen und damit auf ein rein nachfragebasiertes System setzen

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würde. Um diesem Problem besser entgegenzuwirken, könnte man allerdings ein Punktesystem zunächst in einem kleineren Umfang einführen und in einer umfassenden Prozessevaluation überprüfen, wie ein solches System in Deutschland funktionieren kann und vor allem welche potentiellen Einwanderinnen und Einwanderer sich davon angesprochen fühlen. Um aber letztendlich eine möglichst breite demokratische Legitimation zu erreichen, müsste die Einführung eines Punktesystems öffentlich unter Einbeziehung aller gesellschaftlich relevanter Gruppen (Vertreterinnen und Vertreter der Unternehmen, Gewerkschaften, Zivilgesellschaft, Wissenschaft etc.) ausgehandelt werden. Dabei könnte allerdings ein Problem entstehen, das in der Migrationsforschung immer wieder aufgegriffen wurde: Nämlich, dass Arbeitsmigrationspolitik eher restriktiv (also abschottend) gehandhabt wird, wenn die Öffentlichkeit beteiligt ist. Und demgegenüber eher expansiv (erweiternd und einladend), wenn sie davon ausgeschlossen ist (Freeman 1994; Hollifield 2004). Das war bisher bei den meisten Regelungen auf Verordnungsebene in Deutschland der Fall, weshalb die Einzelregelungen zum Teil auch liberal sind, jedoch mit dem Nebeneffekt, dass sie (auch bei den Betroffenen) kaum bekannt sind. Zwischen diesen beiden Polen (restriktiv oder expansiv) muss sich die Politik letztlich entscheiden.

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Dr. Sascha Krannich; Research Associate am Institut für Geschichte der Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen mit den Schwerpunkten Migration, Menschenrechte und Global Health sowie Koordinator des Studienangebots der Forschungsgruppe Migration und Menschenrechte (FGMM) an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zudem ist er Lehrbeauftragter an der Hochschule Fulda. Im Rahmen seiner Forschung unternahm er Forschungsaufenthalte u. a. an der Princeton University, University of California Los Angeles und Universidad Javeriana in Bogotá. E-Mail: ­­[email protected]. Prof. Dr. Uwe Hunger; Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Migration an der Hochschule Fulda sowie Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er ist zudem Fellow am Forschungskolleg der Universität Siegen (FoKoS) und Sprecher des Arbeitskreises „Migrationspolitik“ in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW). E-Mail: ­­[email protected].

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Von nationalem Nutzen!? Legitimationsprobleme eines Punktesystems aus Sicht der Sozialen Arbeit Susanne Spindler

Zusammenfassung

Der Beitrag setzt sich kritisch mit der Grundlogik des Punktesystems und der Idee seiner Übertragung auf Deutschland auseinander. Aus einer Menschenrechtsperspektive der Sozialen Arbeit werden die Legitimationsprobleme einer dem Punktesystem impliziten ‚Logik der Brauchbarkeit‘ herausgearbeitet. Anschließend wird ein Perspektivwechsel von der ‚Auswahl‘- zur ‚Ankunftsgesellschaft‘ vorgenommen, der den Anforderungen einer globalen Gerechtigkeitsperspektive und der Idee einer offenen, pluralen und heterogenen Gesellschaft entsprechen soll.

1 Einleitung Einwanderungsmöglichkeiten in die Bundesrepublik, die mit einer Arbeitsaufnahme verbunden sind, sind bis heute für potenzielle Einwanderer und Einwanderinnen immer noch intransparent sowie von Verhinderungen, Sonderregelungen und Ausnahmen dominiert. Das undurchsichtige System vermittelt, dass Einwanderung aus Ländern jenseits von Europa in Deutschland nicht gewollt und problematisch ist – warum sollte es sonst so schwierig sein, selbst mit einer

S. Spindler (*)  Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_5

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guten Ausbildung einzuwandern? Eine EU-Blue Card, das „…Instrument, um hochqualifizierte Fachkräfte aus Drittstaaten für den europäischen Arbeitsmarkt zu gewinnen“ (BAMF 2018) wurde in den Jahren 2014–2017 rund 65.400 Menschen (v. a. aus Indien, China, Russland, Türkei, Ukraine) erteilt. Diese müssen die Voraussetzung eines Hochschulabschlusses und des Nachweises eines Arbeitsplatzes mit einem Bruttogehalt von 50.800 € bzw. in Mangelberufen von 39.624 € erfüllen. Für viele Interessierte sind diese Voraussetzungen nicht zu erfüllen. Aber eigentlich, so eine mittlerweile verbreitete Argumentation, braucht Deutschland doch Einwanderung, um dem demografischen Wandel und damit einhergehenden Rentenproblemen sowie auch dem jetzt schon bestehenden Mangel an Fachkräfte in vielen Berufen (z. B. im Ingenieurwesen) zu begegnen. Auch im Sozial- und Gesundheitssektor gibt es großen Bedarf an Arbeitskräften. Diese Argumentation für Einwanderung in die Bundesrepublik stellt die nationalen ökonomischen Vorteile in den Mittelpunkt, und (nationalistische) Bedenken, die Einwanderung grundsätzlich problematisieren, treten dahinter zurück. Mithilfe eines Punktesystems könnte Arbeitsmigration transparent gestaltet werden und insofern mehr Menschen Einwanderung ermöglichen. Damit könnte die Bundesrepublik, ähnlich wie die klassischen Einwanderungsländer Kanada und Australien, Einwanderung entskandalisieren und normalisieren, womit man sich hierzulande bis heute schwertut. Denn obwohl Menschen aus Deutschland nicht nur stets aus-, sondern auch nach Deutschland einwanderten, ist der diskursive und rechtliche Umgang mit Einwanderung anfällig für Problematisierungen. Deutlich wird dies beispielsweise immer noch in dem Ringen um die genaue Bezeichnung: Bis heute umschifft man mit dem Begriff der Zuwanderung, den der Einwanderung. Zugleich zeichnen sich aber auch einige Probleme ab, die mit einem Punktesystem verbunden sind, da es zugleich anfällig dafür ist, die Idee einer offenen, pluralistischen und heterogenen Gesellschaft zu konterkarieren. Aus dieser Sicht und einer an globaler Gerechtigkeit orientierten Argumentation werde ich das Punktesystem im Folgenden nicht im Detail, aber in seiner Grundlogik kritisch im Hinblick auf seine Legitimationsbasis diskutieren.

2 Die Logik der ‚Brauchbarkeit‘ und ihre Folgen Die Debatte um Migration insgesamt ist stark geprägt von einer Sicht auf Verwertung und Nützlichkeit. Ziel ist, über eine Definition nützlicher und mangelnd vorhandener Arbeit in Verbindung mit ausgewählten Eigenschaften von Menschen, Migration zu steuern. Die Bundesrepublik soll durch festgelegte

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Kriterien zur Auswahl von Menschen zum Einwanderungsland werden. Die Argumentation um Bestimmungen zur (hochqualifizierten) Migration wird dabei mit nationalem Interesse gleichgesetzt, deren Basis wie selbstverständlich in ökonomischen Begründungen liegt, wie beispielsweise das folgende Zitat von Hunger und Krannich verdeutlicht: „Konkret wird ein Modell mit fünf Kriterien (Arbeitsplatzzusage, Alter, Berufserfahrung, Sprache und Qualifikation) vorgeschlagen, das sich streng an den wirtschaftlichen und demografischen Bedürfnissen der Bundesrepublik Deutschland orientiert“ (Hunger und Krannich 2017, S. 6). Eine gute Ausbildung, entsprechend junges Alter (bis 35, ab dann gibt es Minuspunkte) sowie berufliche Erfahrung und Sprachkenntnisse tragen zu einer hohen Punktzahl bei, ebenso und vor allem eine Arbeitsplatzzusage. Mit ihr wird möglichen Arbeitsausfallzeiten vorgebeugt. Diese Kriterien stellen die ökonomische Rationalität der Verwertung dar. Eine in diesem Sinne ‚nützliche Arbeit’ verschleiert aber, dass Lohnarbeit immer nach den Vorgaben der Wirtschaft organisiert wird. Es geht also nicht um die Frage, was den Menschen in der Gesellschaft nützt. „Maximiert wird hier nicht mehr ein wie auch immer definiertes Glück für möglichst viele, sondern der Nutzen der Arbeit als Verwertungspotential für die kapitalistische Wirtschaft des Ziellandes“ (Georgi 2007, S. 100). Georgi bezieht sich auf Karl Marx, der die Verwertungslogik schon 1845 kritisiert hat. Marx fasste das folgendermaßen zusammen: „Die scheinbare Albernheit, welche alle die mannigfaltigen Verhältnisse der Menschen zueinander in das Eine Verhältnis der Brauchbarkeit auflöst, diese scheinbar metaphysische Abstraktion geht daraus hervor, daß [sic!] innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft alle Verhältnisse unter das Eine abstrakte Geld- und Schacherverhältnis praktisch subsumiert sind.“ (Marx und Engels 1987, S. 394; Hervorheb. i. Orig.) Die Brauchbarkeit bestimmt im Kontext Migration wer in das Land einreisen darf und wer nicht. Über die Prinzipien der Konkurrenz und Bestenauslese wird Migration zur statthaften, zur erlaubten Migration, denen, die nicht in diese Gruppe fallen, hingegen wird die Argumentation zur legitimen Migration erschwert. Unter der Logik der Verwertbarkeit werden auch Fragen der Arbeitsverhältnisse und -bedingungen brisant. Welche kritischen Punkte können überhaupt noch angesprochen werden? Was ist mit Diskriminierung am Arbeitsmarkt? Wo sind Orte, das zu thematisieren? In der jüngeren Vergangenheit gab es in der Zeit der so genannten Gastarbeiter*innenanwerbung schon einmal ein System von Auswahlkriterien für Arbeitsmigration, nur waren damals im Gegensatz zu den heute vorgeschlagenen

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Merkmalen vor allem körperliche Zeichen von Interesse. Die sogenannten Gastarbeiter*innen haben in hohem Maße zum wirtschaftlichen Erfolg beigetragen – nichtsdestotrotz wurden sie problematisiert, stigmatisiert und sind bis heute Rassismus ausgesetzt. Dass ein ökonomischer Nutzen durch die Menschen erfüllt wird, bedeutet nicht einmal, dass ihnen damit gesellschaftliche Anerkennung gesichert ist.

3 Flüchtlingsschutz, Asylpolitik und Arbeitsmigration – sich überlagernde Themen In den letzten Jahren sind Debatten um Migration vom Thema Flucht bestimmt. Sowohl im Diskurs als auch, wenn es um migrationsregulierende Instrumente geht, zeigen sich starke Themenüberlagerungen: Obwohl der Flüchtlingsschutz ein eindeutiges internationales und humanitäres Instrument ist, stehen in der Debatte häufig Verwertungsaspekte der Geflüchteten im Vordergrund. Auch die Forderung nach einer nicht näher bestimmten Integrationsbereitschaft oder nach zu erwerbenden Deutschkenntnissen überlagert den Blick auf das Recht auf Schutz. Im Integrationsgesetz wurde im Jahr 2016 die sogenannte Ausbildungsduldung geregelt. Sie schafft Möglichkeiten des Bleibens für diejenigen, die den Schutz (möglicherweise) nicht zuerkannt bekommen. Damit sortiert die Ausbildungsduldung: Bleiben kann, wer jung ist, arbeitet, überdurchschnittliche Anstrengungen zeigt und einen qualifizierten Ausbildungsplatz findet. Denen, die diese Kriterien nicht erfüllen, stehen jenseits des positiven Bescheides des Asylantrags kaum weitere legalisierte Möglichkeiten des Bleibens offen. Auch in den supranationalen Abkommen spiegeln sich Überlagerungen: So verspricht die EU Kommission mal verbesserte Visabedingungen, mal droht sie mit Verschärfungen für Visa, um Staaten dazu zu bringen, abgelehnte Asylbewerber*innen schneller zurücknehmen. Maßnahmen, die den Arbeitsmarkt oder sonstige Felder wie Tourismus oder Familienverbindungen betreffen, werden genutzt, um den Asylbereich mit zu regulieren.

4 Gerechtigkeitsprobleme in nationaler und globaler Perspektive Einwanderung nach klar definierten Regeln der Hochqualifizierung, der Mangelberufe und der Jugendlichkeit als dominantes Einwanderungsprinzip bedeutet Einwanderung für eine sehr kleine, sehr ausgewählte Gruppe. Eine solche

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Einwanderungspolitik widerspricht einer kosmopolitischen Denkweise, verkörpert vielmehr die Beschränkung einer nationalen Perspektive, die zum Erhalt von ökonomischen und sozialstaatlichen Privilegien der ihr Angehörigen beitragen will: Als Deutsche*r kann man zwar in weite Teil der Welt auswandern, umgekehrt gilt dies aber nicht für Einwanderungswillige nach Deutschland. Eine Einwanderungspolitik im Kontext der Verwertungslogik von Arbeitskräften aus Sicht einer Nation (egal welcher) kann immer nur diese eine spezifische und an nationalen und wirtschaftlichen Interessen verengte Perspektive bieten. Auch für Punktesysteme gilt die Verbindung aus ökonomischen und (daraus abgeleiteten) nationalen Interessen. Vordergründig kann man sich offen zeigen für Diversität, kulturelle Vielfalt, so sie sich aus der Arbeitsmigration ergibt. Außen vor bleibt, wer nicht im definierten Sinne als nützlich erachtet wird oder aus dem „falschen“ Herkunftsland kommt. Sehr deutlich wird letzteres im deutschen Asylrecht in der De-Privilegierung von Menschen aus so genannten Sicheren Herkunftsstaaten. In globaler Perspektive zeigt sich eine weitere mit einem Punktesystem verbundene transnationale Problematik. Migrieren können die gutausgebildeten, oft akademischen Arbeitskräfte, sodass Brain-Drain-Prozesse Teil dieser Arbeitsmigration sind. Bislang werden Ideen, wie Kompensationen für die Bildungssysteme, die die Menschen ausgebildet haben, nicht in die Punkteüberlegungen einbezogen, sodass eine transnationale Gerechtigkeitsperspektive ausgeblendet bleibt.

5 Von der Auswahl- zur Ankunftsgesellschaft Was ist mit denen, die da sind? Häufig sind, z. B. aus Sicht der Sozialen Arbeit, nicht die eingewanderten Menschen selbst ein Problem, sondern vielmehr das Migrationsverwaltungssystem, das auf Verhinderung von Teilhabe Eingewanderter ausgerichtet ist. Tagtäglich sind Sozialarbeiter*innen, Pädagog*innen und andere Vermittler*innen damit beschäftigt, gemeinsam mit den Adressat*innen die gesellschaftlichen Hürden und Barrieren zu bearbeiten, um ihnen Teilhabemöglichkeiten in allen Feldern zu eröffnen. Das Punktesystem legt den Fokus auf die Fähigkeiten bzw. Nichtfähigkeiten der Subjekte, mit denen die gesamte Verantwortung für ihre Integration in die Aufnahmegesellschaft den Eingewanderten selbst aufgebürdet wird. Gründe für Nicht-Integration sind jedoch dort zu suchen, wo unsere Gesellschaft zwar aus Nützlichkeitserwägungen um Einwanderung wirbt, die gesellschaftlichen Möglichkeiten der Gestaltung des Ankommens, oder auch der Beheimatung von Eingewanderten und Geflüchteten,

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die faktisch hier sind, verhindert. Nach wie vor sind die Worte des Schriftstellers Max Frisch aktuell: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“ – auch heute müssen die Menschenrechte, Zugehörigkeit („Citizenship“) und Partizipation am Wohlfahrtsstaat von Migrant*innen jeglicher Gruppenzugehörigkeit gestärkt werden.

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Susanne Spindler;  Professorin für Soziale Arbeit und Migration, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Hochschule Düsseldorf, Forschungsschwerpunkte: Migration/Flucht und Soziale Arbeit, Rassismus, Ungleichheiten und Geschlecht, insb. Männlichkeiten in der Einwanderungsgesellschaft. E-Mail: [email protected].

Teil II Die Legitimationskrise der Asyl- und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union

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Die Handlungslogiken der Europäischen Union in der Asyl- und Flüchtlingspolitik Natascha Zaun

Zusammenfassung

Warum nutzt die EU den Handlungsdruck, der von der Krise ihres dysfunktionalen Asylsystems ausgeht, nicht als Gelegenheitsfenster für innovative Reformen? Im analytischen Bezugsrahmen der Spieltheorie und auf der Grundlage der empirische Policyanalyse von Konfliktkonstellationen in der internen Dimension der EU Asylkrise wird argumentiert: Politische Innovationen scheitern an den Interessenskonflikten und Machtunterschieden der Mitgliedstaaten. Mittelbar spielen dafür auch die Akzeptanz- und Legitimationsprobleme innovativer Lösungen zugunsten der Harmonisierung und fairen Verteilung der Verantwortung für die Aufnahme von Geflüchteten eine Rolle, die im Zuge des Erstarkens nationalistischer und rechtspopulistischer Einstellungen bei Teilen der Wähler*innen gegenüber den Regierungen signalisiert werden.

1 Einleitung In der Geschichte der Europäischen Integration können Krisen als Motoren für Innovation betrachtet werden. Krisen lassen nämlich bisherige Politiken fragwürdig erscheinen. Sie ermöglichen es somit der Europäischen Kommission N. Zaun (*)  London School of Economics, London, United Kingdom E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_6

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ihre Rolle als technokratischer Ideengeber in der Europäischen Union (EU) effektiv wahrzunehmen und Politikvorschläge zu unterbreiten, die außerhalb von Krisenzeiten niemals auf Interesse bei den Mitgliedstaaten stoßen würden. Neuerungen sind normalerweise für die Kommission schwer durchsetzbar, da die Mitgliedstaaten zu große Souveränitätstransfers befürchten. Krisen bedeuten demnach ein Gelegenheitsfenster für politische Innovationen. Vor dem Hintergrund der Europäischen Asylkrise aus dem Jahre 2015/16 – oftmals auch als europäische ‚Flüchtlingskrise‘ bezeichnet – ergibt sich die Frage, ob Krisen in der Tat grundsätzlich zu Innovationen führen. Zudem überschattet die breite Verwendung des Begriffs ‘Flüchtlingskrise‘ die Krisenhaftigkeit der Europäischen Asylpolitik. Die Krise entstand nämlich nicht durch die Fluchtbewegungen an sich.1 Sie wurde vielmehr durch den Umstand begünstigt, dass sich die Mitgliedstaaten nicht einig waren und wichtige Fragen wie die Verteilung von Flüchtlingen nicht klären konnten. Insofern handelt es sich um eine politische Krise, in deren Kontext asylpolitische Entscheidungen auf europäischer und nationaler Ebene vielfach hinterfragt wurden, was wiederum im nationalen Rahmen Legitimitätskrisen nach sich zog. Im Folgenden wird daher von einer europäischen Asylkrise gesprochen. Die europäische Asylkrise legt nahe, dass der Zusammenhang zwischen Krise und Innovation komplexer ist als dies zunächst scheint. Auf der einen Seite hat die Europäische Union im Rahmen der Asylkrise eine Reihe von Vorschlägen angenommen, die unter ‚normalen‘, d. h. nicht-krisenhaften Umständen undenkbar gewesen wären. Beispielsweise wurde mit der Europäischen Grenz- und Küstenschutz-Agentur eine Institution geschaffen, die die Kompetenzen von FRONTEX bei weitem übersteigt (Niemann und Speyer 2018). So kann die Europäische Grenz- und Küstenschutz-Agentur die Grenzen eines Staates auch gegen dessen Willen verteidigen. Darüber hinaus wurde durch die Krise veranlasst, dass die zuvor schwachen Instrumente der Asylharmonisierung, die Statusrichtlinie, die Richtlinie über Aufnahmebedingungen und die Verfahrensrichtlinie neu aufgelegt wurden und verbindlicher geregelt werden konnten. So werden die Verfahrensrichtlinie und die Statusrichtlinie derzeit in ­Verordnungen

1Der

Begriff „Flüchtlingskrise“ legt nahe, dass eine nie dagewesene Zahl an Flüchtlingen in Europa zu einer Krisensituation geführt habe. Zwar hat Europa in den Jahren 2015 und 2016 die höchste Zahl von Flüchtlingen seit dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen (Niemann und Zaun 2018, S. 3), allerdings kann man davon ausgehen, dass eine Region mit rund 500 Mio. Einwohnern durchaus in der Lage sein sollte, 1 Mio. Flüchtlinge aufzunehmen, ohne dass dies eine Krise hervorruft.

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überführt und gelten innerstaatlich dadurch direkt und ohne nationales Umsetzungsgesetz (Europäische Kommission 2016a; Europäische Kommission 2016b). Insgesamt zeigt sich, dass die Verhandlungen im Bereich der internen Dimension der EU-Asylpolitik, d. h. im Wesentlichen die Dublin-Regulierungen und die Asylharmonisierung im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS), deutlich kontroverser verlaufen als die Verhandlungen im Bereich der externen Dimension, z. B. um die Europäische Grenzschutzagentur oder die EU-Türkei-Erklärung (Slominski und Trauner 2018; Niemann und Zaun 2018). Dies liegt vor allem an der Verteilungsfrage, die der internen Dimension der europäischen Asylpolitik implizit ist (Noll 2000; Thielemann und Dewan 2006). Während das EU-Türkei-Abkommen und die Grenzschutzagentur grundsätzlich eine einfache Entscheidung für die Europäer darstellten, da beide Instrumente Flüchtlinge zu Drittstaaten hin umverteilen (d. h. zu den Grenzstaaten und insbesondere in die Türkei), haben Verhandlungen um die interne Dimension der EU-Asylpolitik immer auch Implikationen für die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU. Die Regierungen der Mitgliedstaaten vermeiden es möglichst, sich durch die Annahme europäischer Gesetze darauf verpflichten zu lassen, in Zukunft potentiell mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Aufgrund dieser Konfliktlinie verfolgen Mitgliedstaaten im Bereich der internen Dimension der EU-Asylpolitik einen sehr viel konservativeren, am Status Quo orientierten Ansatz. Folglich bleiben Innovationen2 weitgehend aus.

2 Konfliktkonstellationen in der EU-Asylkrise als Innovationshemmnisse Im Folgenden soll gezeigt werden, wie bestehende Machtungleichgewichte und Interessenskonflikte Politikinnovationen im Bereich der internen Dimension der EU-Asylpolitik verhindern. Im Wesentlichen gibt es in der Europäischen Migrationspolitik drei Gruppen von Akteuren mit unterschiedlichen Interessen und Anreizstrukturen: Die erste Gruppe besteht aus den traditionellen Asylaufnahmeländern aus dem europäischen Norden, die Zweite aus den neuen

2Natürlich

lässt sich fragen, inwiefern es sich bei der Einführung der Europäischen Küstenund Grenzschutzagentur oder der EU-Türkei-Erklärung um eine ‘positive‘ Neuerung handelt. Hier wird der Begriff ‘Innovation‘ wertneutral verwendet. Als Innovation wird daher jedes Instrument gewertet, das neue Politikideen einbringt, ganz gleich, ob diese positiv oder kritisch zu bewerten sind.

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Aufnahmeländern aus dem europäischen Süden, und die dritte Gruppe aus den mittelosteuropäischen Staaten, die mit Ausnahme von Ungarn bis heute nur sehr wenige Flüchtlinge aufgenommen hatten. Diese drei Akteursgruppen verfolgen Interessen und Ziele, die einander teilweise diametral entgegenstehen. Die Regierungen der traditionellen Aufnahmeländer wie Deutschland, Schweden, Österreich, die Niederlande, Frankreich oder Großbritannien haben in der Regel ein großes Interesse an Kooperation. In diesen Ländern wird oftmals davon ausgegangen, dass viele Asylanträge gestellt werden, weil besonders generöse Asylpolitiken Flüchtlinge anziehen. Asylharmonisierung dient für sie der Herbeiführung vergleichbarer Standards in der EU mit dem Ziel eine gleichere und in ihren Augen ‚fairere‘ Verteilung von Flüchtlingen zu erwirken (Zaun 2017, S. 61 ff.). Zu dem gleichen Zweck hatten diese Staaten auch ein Interesse an der Einführung und später der Beibehaltung des Dublin-Regimes. Gemäß der Dublin-Verordnung liegt die Zuständigkeit für die Bearbeitung eines Asylantrages bei den Ersteintrittsstaaten, d. h. denjenigen Staaten, in deren Hoheitsgebieten Flüchtlinge die Grenze der Europäischen Union überschreiten (Europäische Union 2013). Dies gilt zumindest dann, wenn kein Grund vorliegt, aus dem ein anderer Staat für einen Asylantrag zuständig wäre, z. B. wenn sich direkte Familienangehörige der Antragsteller*in legal in einem anderen EU-Staat aufhalten und das Recht auf Familienzusammenführung geltend gemacht werden kann. Das Dublin-Regime ermöglichte den traditionellen Aufnahmeländern, die vergleichsweise viele Asylanträge erhielten, die Verantwortung zumindest de jure grundsätzlich an die Ersteintrittsländer zu delegieren. De facto gelang dies oft nicht, da Staaten an der EU Außengrenze in der Regel ebenfalls kein Interesse haben, zusätzliche Asylbewerber*innen aufzunehmen. Viele Asylbewerber*innen wurden entsprechend von diesen Staaten, allen voran Italien und Griechenland, ‘durchgewunken‘. Ihre Asylanträge blieben unbearbeitet, wobei die meisten Flüchtlinge, die dies betraf, ohnehin kein Interesse daran hatten, einen Asylantrag in Italien oder Griechenland zu stellen (Costello und Mouzourakis 2016). In diesen ‘neuen‘ Asylländern wurde die Idee der Asylharmonisierung nie grundsätzlich infrage gestellt. Teilweise sah man dort die europäische Asylharmonisierung als eine Gelegenheit, die eher rudimentären Asylsysteme auszugestalten, zumal man im Rahmen der Dublin-Regulierung zum ersten Mal überhaupt für nennenswerte Zahlen von Asylbewerber*innen zuständig war (Zaun 2017, S. 188). Dem Dublin-Regime hatten die Regierungen dieser Länder zugestimmt, da dies die Voraussetzung zur Teilnahme an Schengen war (Thielemann und Armstrong 2012). Als sich im Rahmen des sogenannten Arabischen Frühlings abzeichnete, dass die Asylbewerber*innenzahlen in Grenzstaaten wie Italien und Griechenland massiv ansteigen würden, setzten sich die Regierungen der beiden Länder in der EU erstmals für mehr Solidarität seitens der anderen

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Staaten ein. Im Rahmen der Verhandlungen um die ­ Dublin-III-Verordnung unterstützen sie den Vorschlag der Kommission für eine Unterbrechung von Dublin-Transfers im Falle besonders hoher Asylbewerber*innenzahlen. Dieser Gesetzesvorschlag wurde jedoch aufgrund der vehementen Kritik der traditionellen Aufnahmeländer nicht übernommen (Interview COM_1; Interview StäV_SE; Interview StäV_AT; Interview StäV_DE). Die mittelosteuropäischen Staaten, die erst seit 2004 und 2007 der EU angehören, traten zunächst kaum als geschlossene Gruppe in der E ­ U-Asylpolitik auf. Zudem positionierten sich die Regierungen dieser Staaten zunächst nicht eindeutig. Dies änderte sich allerdings mit den Verhandlungen um die Umsiedelungsentscheidungen im Sommer und Herbst 2015, als Asylbewerber*innen in Italien und Griechenland in andere europäische Staaten verteilt werden sollten (Welt 2015). Insbesondere in den Visegrád-Staaten, wo rechtspopulistische Parteien teilweise an der Regierungsbildung beteiligt waren, äußerte man sich kritisch gegenüber der Idee der Verteilung. Tschechien, Ungarn, Rumänien und die Slowakei stimmten letztlich gegen den Umsiedlungsvorschlag der Kommission vom 22. September 2015. Dieser basierte auf eine strikte Quotenregelung, dies im Gegensatz zu einem freiwilligen Beitrag zur Aufnahme von Flüchtlingen, über dessen Reichweite und Ausgestaltung die Regierungen der betroffenen Länder frei verfügen konnten. Seitdem sind die Mittelosteuropäer grundsätzlich sehr kritisch gegenüber der EU-Asylkooperation, insbesondere was es die Umverteilungsfrage anbelangt (Zalan 2016). Im Folgenden sollen die Konfliktlinien in den zwei wesentlichen Politikbereichen der internen Dimension der EU-Asylpolitik näher beleuchtet werden. Bei dem einen Politikbereich handelt es sich um die regulative EU-Asylpolitik, d. h. die Asylharmonisierung. Hier kann ein systematischer Konflikt zwischen Staaten, die sich aufgrund von bestimmten Merkmalen als Stark- oder Schwachregulierer bezeichnen lassen (näher siehe Abschn. 2.1), einerseits und innerhalb der Gruppe der Starkregulierer andererseits identifiziert werden. Starkregulierer finden sich zumeist unter den traditionellen Aufnahmeländern in Nordeuropa, Schwachregulierer sind insbesondere die neuen Aufnahmeländer in Südeuropa. Der andere Teilbereich ist die redistributive Asylpolitik, hier insbesondere die Dublin-Regulierung.3 Hier ist inzwischen ein deutlicher Konflikt zwischen

3Ein

weiterer Teil der distributiven Asylpolitik ist der EU-Flüchtlingsfonds oder der Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds. Allerdings kann gefragt werden, inwiefern es sich hierbei wirklich um eine effektive redistributive Politik handelt bzw. ob Finanzleistungen, die Aufnahmeländer erhalten, insbesondere in der Höhe, in der diese vergeben werden, wirklich alle Kosten (inkl. die sozialen und elektoralen Kosten) abdecken.

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­ ufnahme- und Nichtaufnahmeländern zu verzeichnen. Grundsätzlich wollen A hierbei solche Staaten mit vielen Asylbewerber*innen Flüchtlinge auf ‘unwillige‘ Staaten umverteilen, die weniger Asylbewerbungen erhielten. In der Vergangenheit bestand dieser Konflikt vor allem zwischen nord- und südeuropäischen Ländern, heute besteht er zwischen nord- und südeuropäischen Staaten einerseits und osteuropäischen Staaten andererseits. Grundsätzlich haben beide Bereiche der internen EU-Asylpolitik eine Verteilungsdimension (Noll 2000; Thielemann und Dewan 2006). Allerdings ist diese im Bereich der Asylharmonisierung eher vage, da der kausale Link zwischen einer relativ großzügigen Asylpolitik und hohen Asylbewerber*innenzahlen empirisch nicht belegt ist und sich folglich lediglich auf die Vermutungen von Entscheidungsträger*innen stützt (Brücker et al. 2002, S. 89; Menz 2008, S. 401; Holzer und Schneider 2002, S. 75 ff.; Thielemann 2006). Beim Dublin-Regime ist die Verteilungsdimension immanent, was den hohen Grad an Politisierung dieses Politikbereichs erklärt.

3 Konfliktlinien in der regulativen Politik: Stark- vs. Schwachregulierer Im Bereich der Asylharmonisierung verläuft die wesentliche Konfliktlinie zwischen den Stark- und den Schwachregulierern. Starkregulierer sind Staaten, die effektive Institutionen besitzen, hier operationalisiert durch den World Bank Government Effectiveness Indicator (Kaufmann et al. 2010), und die historisch bereits Erfahrungen in der Aufnahme von Flüchtlingen sammeln konnten, d. h. die zum Zeitpunkt der Verhandlungen bereits einige Jahre viele Flüchtlinge aufgenommen haben (Eurostat 2018). Diese beiden Umstände ermöglichen diesen Staaten, asylpolitische Expertise zu entwickeln, die sie auf europäischer Ebene einbringen können (Zaun 2016, 2017). Schwachregulierer haben vergleichsweise schwache Institutionen und sind daher nicht dazu in der Lage, Expertise aufzubauen, selbst wenn die Flüchtlingszahlen ansteigen. Wie Abb. 1 verdeutlicht, befanden sich Schwachregulierer zum Beginn der Verhandlungen im Bereich der Asylharmonisierung im Jahr 2000 vor allem in Südeuropa. Zu ihnen gehörten Staaten wie Italien, Griechenland oder Portugal. Starkregulierer waren zu diesem Zeitpunkt Staaten wie Deutschland, Großbritannien, Schweden, Frankreich oder die Niederlande. Staaten wie Spanien, Belgien oder auch Finnland gehören zu den mittelstarken Regulierern. Vor allem Finnland hat eine sehr effektive Verwaltung und könnte im Falle hoher Asylbewerber*innenzahlen schnell Expertise aufbauen.

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Abb. 1   Starkregulierer und Schwachregulierer in der EU im Jahr 2000 (Beginn der Asylharmonisierung). (Datenquelle: Eurostat (2018) und Kaufman et al. (2010))

4 EU-Asylpolitiken als kleinster gemeinsamer Nenner der Starkregulierer Im Bereich der Asylharmonisierung sind alle EU-Mitgliedstaaten sehr am Status Quo orientiert, d. h. sie möchten ihre eigene aktuelle Politik in europäischen Richtlinien verankern, sodass kein Veränderungsdruck durch die Verabschiedung der Richtlinie entsteht. Veränderungen versuchen sie zu vermeiden, weil diese mit materiellen und ideellen Kosten verbunden sind (Börzel 2002; Eichener 1997; Héritier 1996). Zwar versuchen alle Mitgliedstaaten ihre Politiken auf die europäische Ebene ‘hochzuladen‘, allerdings gelingt dies nur den Starkregulierern und nicht den Schwachregulierern. Starkregulierer haben zwei Arten von Machtressourcen zur Verfügung, die es ihnen erlauben, asylpolitische Verhandlungen besser zu beeinflussen, als Schwachregulierer dies können. Einerseits haben sie durch ihre hohen Asylbewerber*innenzahlen stark ausgeprägte Präferenzen im Bereich der Asylpolitik. Zumeist wollen sie dabei ihre aktuelle Asylpolitik beibehalten oder geplante Gesetzesänderungen vorwegnehmen. Da Starkregulierer meist über gut funktionierende Verwaltungen verfügen, können diese die starken Präferenzen in politisch durchsetzungsstarke Positionen umwandeln und auf europäischer Ebene einbringen. Andererseits sind ihre Positionen auch deutlich informierter und erfahrungsgesättigter als die von Schwachregulierern. Effektive Verwaltungen

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konnten aufgrund hoher Asylbewerber*innenzahlen Expertise bilden, was ihren stark vertretenen Positionen Glaubwürdigkeit verleiht. Politisch durchsetzungsstarke und informierte Positionen sind zwei Seiten derselben Medaille: Nur Staaten, deren Regierungen ihre Präferenzen kennen und Gründe vorbringen können, warum diese gerechtfertigt und strategisch gut sind, können diese auch politisch effektiv durchsetzen. Staaten, deren Regierungen keine oder nur eine sehr rudimentäre Asylgesetzgebung haben bzw. ihr Asylrecht aufgrund geringer Asylbewerber*innenzahlen kaum anwenden, werden weder starke Präferenzen haben, noch diese gut und fundiert begründen können. Starkregulierer können daher asylpolitische Debatten im Rahmen europäischer Gesetzgebung deutlich besser beeinflussen als Schwachregulierer (Zaun 2017, S. 41 ff.). Im Rahmen der Implementierung haben Starkregulierer daher kaum mit großem Veränderungsdruck zu kämpfen. Anders als Schwachregulierer haben sie ihre Politiken in die europäische Gesetzgebung einbringen können und müssen somit ihre Gesetze nicht ändern damit sie mit europäischem Recht vereinbar sind. Schwachregulierer hingehen sehen sich einem sehr weitreichenden Veränderungsdruck ausgesetzt. Sie haben die EU-Gesetzgebung fast gar nicht beeinflussen können, sodass diese sich sehr von ihrer aktuellen Gesetzgebung unterscheidet. Als Länder mit einer eher ineffektiven Verwaltung fällt es ihnen zudem schwerer, tiefgreifende Veränderungen durchzuführen. Dies erklärt letztlich auch die schwache Umsetzung europäischer Gesetzgebung in diesen Ländern (Zaun 2017, S. 216 ff.).

5 EU-Asylpolitiken als kleinster gemeinsamer Nenner der Starkregulierer Im Folgenden soll die zuvor präsentierte These zum Veränderungsdruck und regulativem Wettbewerb empirisch belegt werden. Dazu wird der Status Quo Ante einzelner Mitgliedstaaten mit den letztendlichen Richtlinien aus der ersten Runde europäischer Asylgesetzgebung verglichen werden. Es wird gezeigt, dass die EU-Asylrichtlinien der ersten Runde (2000–2005) in der Tat dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Starkregulierer entsprechen. Dies wird auch durch Tab. 1 verdeutlicht. Diese zeigt drei wesentliche Themenbereiche der ersten Richtlinie über Aufnahmebedingungen, nämlich das Recht auf Freizügigkeit, Zugang zu Aufnahmebedingungen und der Entzug von Aufnahmebedingungen. Die Restriktion im Bereich Freizügigkeit geht auf die Initiative Deutschlands zurück, das seinerzeit diese Regelung benötigte, um seine Regelung zur Residenzpflicht beibehalten zu können. Die Einführung eines Rechts auf Zugang

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Belgien

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Frankreich

Deutschland

Griechenland

Italien

Luxemburg

Niederlande

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(Fortsetzung)

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Nach Ums.c

Entzug materieller Aufnahmebedingungen im Falle verspäteten Antrags: Ja

Nach Ums.b

Zugang zu materiellen Aufnahmebedingungen: Bereitgestellt

Ja

Ja

Ja

Nach Ums.a

Bewegungsfreiheit: Darf eingeschränkt werdena

Tab. 1   Wichtige Themenbereiche der Richtlinie zu Aufnahmebedingungen, Vergleich Richtlinie und nationale Umsetzung. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Ja

Vereinigtes Königreich

Ja

Ja

Nach Ums.a Ja

Ja

Vor Ums Ja

Ja

Nach Ums.b

Zugang zu materiellen Aufnahmebedingungen: Bereitgestellt

Ja

Nein

Vor Ums Ja

Nein

Nach Ums.c

Entzug materieller Aufnahmebedingungen im Falle verspäteten Antrags: Ja

bQuellen:

Odysseus (2007, S. 45) Odysseus (2007, S. 32); für Griechenland: ECtHR (2011); European Database of Asylum Law (EDAL) (2014); für Italien ECtHR (2014), Schweizerische Flüchtlingshilfe/Juss-Buss (2011, S.5 ff.) cQuellen: Odysseus (2007, S. 51 f.) dWährend die deutsche Residenzpflicht eine besonders restriktive Praxis darstellte, die auf alle Asylbewerber*innen angewendet wurde, haben Österreich und Griechenland nur spezifische Restriktionen eingeführt eNur Asylbewerber*innen, die eine gültige Asylbewerber*innen-Karte (Pink Card) vorweisen können, erhalten Zugang zur Gesundheitsversorgung fAllerdings werden in diesen Staaten materielle Aufnahmebedingungen vor allem auf dem Papier bereitgestellt. Für Griechenland: Presidential Decree (PD) 220/2007, Art. 12 (siehe Griechenland 2007). Für Italien: Decreto Legislativo (DL) 140/2005, Art. 6, 9, 10 (siehe Italien 2005)

aQuellen:

Ja

Schweden

Vor Ums

Bewegungsfreiheit: Darf eingeschränkt werdena

Tab. 1  (Fortsetzung)

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zu Aufnahmebedingungen spiegelt den Status Quo der meisten europäischen Staaten wider. Die Ausnahme bildeten die Schwachregulierer Italien und Griechenland, die vor dem Erlass der Richtlinie keinen systematischen Zugang zu Aufnahmebedingungen, wie finanzielle Unterstützung, Lebensmittel oder Wohnraum, gewährten. Diese Staaten haben somit offenbar der Annahme von Rechten zugestimmt, die ihren bisherigen Status Quo überstiegen. Der in der Richtlinie verabschiedete Rechtsstandard entspricht dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Starkregulierer. Der Entzug von Aufnahmebedingungen entspricht dem Status Quo Ante des Starkregulierers Großbritannien, der sich auch für die Aufnahme dieser Regelung in die Richtlinie stark gemacht hatte. Dies zeigt erneut, dass Starkregulierer all ihre Ausnahmeregelungen in europäisches Recht einbringen konnten, da sie ihre Positionen vehement vertraten (siehe Zaun 2017, S. 124 ff.) und Entscheidungen unter Einstimmigkeit getroffen wurden. Schwachregulierer wie Italien und Griechenland hatten oftmals keine starken Präferenzen und verteidigten, wie im Falle des Zugangs zu Aufnahmebedingungen, ihre Positionen deutlich weniger vehement, obwohl sie unter Einstimmigkeit grundsätzlich die Möglichkeit gehabt hätten, die Annahme von Politiken, die ihnen widerstrebten, zu blockieren. Da sie dies nicht taten, entstand für sie jedoch ein hoher Anpassungsdruck und hohe Kosten für die Umsetzung und erstmalige Einführung von Aufnahmebedingungen, die bis heute kaum in systematischer Weise in diesen Ländern existieren (Zaun 2017, S. 216 ff.). Mitgliedstaaten, in denen liberalere Politiken angewandt wurden, sahen sich keinem potentiellen Anpassungsdruck ausgesetzt und mussten somit ihre Politik nicht in europäisches Recht einbringen. In der Umsetzung behielten diese Staaten ihren Status Quo Ante zumeist bei. Dies resultierte daraus, dass die Regierungen dieser Staaten in der Regel ihre Politiken nicht mittels europäischen Rechts ändern wollen. Diese Politiken sind das Resultat langer Verhandlungen auf nationaler Ebene und spiegeln gesellschaftliche Werte und Interessen wider. Diejenigen Akteure, die maßgeblich an der Verabschiedung bestimmter Gesetze auf nationaler Ebene beteiligt sind, beobachten die EU-Verhandlungen sehr genau und versuchen zu verhindern, dass die EU-Ebene genutzt wird um Politiken zu verabschieden, die ihren Interessen widersprechen (Zaun 2017, S. 209 ff.). Einige Länder änderten ihre Politiken jedoch im Rahmen der Umsetzung der EU-Richtlinien. Unter den Starkregulierern waren dies Länder, die selbst gerade ihre Gesetze reformierten und somit Politiken auf europäische Ebene einbrachten, die den geplanten neuen Gesetzen entsprachen (Zaun 2017, S. 222 ff.). Unter den Schwachregulierern waren dies Länder, die von den Verhandlungen auf europäischer Ebene neue Politikoptionen lernten. Beispielsweise wurde in Griechenland, wo materielle Aufnahmebedingungen neu eingeführt werden

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mussten, der Entzug materieller Aufnahmebedingungen bei verspätetem Antrag als eine kostensparende Maßnahme adaptiert. Aus einem ähnlichen Grund führte Griechenland auch die Residenzpflicht ein, um administrative Ressourcen einzusparen (Zaun 2017, S. 230 ff.). Wenn man die Verhandlungen um die erste Runde der Asylrichtlinien nachverfolgt, wird deutlich, dass in der Tat grundsätzlich alle Mitgliedstaaten ihre Politiken auf die europäische Ebene hochladen wollten, die Starkregulierer allerdings besonders erfolgreich darin waren. Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament waren damals Hintergrundakteure. Sie hatten wenig Einfluss: Einerseits konnte die Kommission ihre Agendasetzungsfunktion nicht völlig ausschöpfen, da die Entscheidungen im Rat unter Einstimmigkeit getroffen werden und die Kommission somit ihre Positionen nicht einmal gegenüber vereinzelten Vetospielern durchsetzen konnte. Das Europäische Parlament wurde zudem nur konsultiert – und faktisch dabei oftmals ignoriert – anstatt wie im normalen Gesetzgebungsverfahren als Mitentscheider*innen agieren zu können (Zaun 2017, S. 176 ff.). Die Starkregulierer haben das Thema Asylpolitik auf die Agenda der EU gesetzt. Nachdem intergouvernementale Versuche der Asylharmonisierung gescheitert waren, haben sich Starkregulierer wie Deutschland, Schweden, Großbritannien, Frankreich und die Niederlande für eine Harmonisierung durch eine europäische Gesetzgebung eingesetzt. Diese Staaten hofften, dass eine harmonisierte EU-Asylgesetzgebung zu einer faireren Verteilung von Flüchtlingen in Europa führen würde. Wenn alle Mitgliedstaaten gleichen Zugang zu den gleichen Rechten gewährten, so die Logik, würden Flüchtlinge nicht mehr nur nach Nordwesteuropa reisen (Zaun 2017, S. 61 ff.). In den Verhandlungen haben sowohl Stark- als auch Schwachregulierer versucht ihre Politiken in europäisches Recht einzubringen. Liberale Starkregulierer4 versuchten zu vermeiden, dass ihre eigene Politik durch europäisches Recht strikter gestaltet werden muss. Die Verhandlungen zeigen, dass beispielsweise die Regierung aus Niederlande oder Schweden, wo Flüchtlinge und ­subsidiär

4Die

meisten Mitgliedstaaten wenden einen Mix aus liberalen und restriktiven Praktiken an. Daher ist es auch schwer von grundsätzlich liberalen oder restriktiven Ländern zu sprechen. Staaten sind vielmehr restriktiv oder liberal im Hinblick auf jeweils bestimmte Merkmale. Starkregulierer können dabei sowohl restriktive als auch liberale Politiken verfolgen. Schwachregulierer bieten oftmals nur arbiträr rudimentären Schutz.

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Schutzbedürftige gleichbehandelt werden, auch eine Gleichbehandlung nach europäischem Recht erwirken wollten. Als liberale Staaten glaubten sie, davon zu profitieren, wenn auch andere Staaten liberalere Politiken einführten. Dann würden sie nicht mehr als besonders liberal und anziehend für Geflüchtete wirken. Trotzdem versuchten sie nicht anderen Staaten, diese Politik aufzudrücken. Ihr Hauptanliegen bestand darin, ihre eigene Politik beizubehalten. Sie hatten damit weniger zu verlieren als restriktive Starkregulierer, für die ihre aktuelle Politik auf dem Spiel stand und die sich somit deutlich stärker für die Annahme ihrer Politik einsetzten. Schwachregulierer blieben hingegen relativ passiv, auch wenn sie ihre Positionen zu Beginn präsentiert hatten. Der Erfolg der Starkregulierer in den Verhandlungen kann darauf zurückgeführt werden, dass sie besser informierte und erfahrungsgesättigte Positionen vehement vertraten. Einige restriktive Starkregulierer waren sogar bereit, die Verhandlungen platzen zu lassen, wenn ihre Interessen nicht berücksichtigt würden, wie folgendes Zitat verdeutlicht: „Wir wurden nur von zwei, drei Staaten in dieser Frage unterstützt. Aber das hat uns nicht beeindruckt, denn unsere Position wurde bereits vom Innenminister auf höchster Ebene vorgebracht. Die Präsidentschaft hat schnell verstanden, dass sie unsere Position nicht ändern können indem sie uns ein kleines bisschen unter Druck setzten“ (Interview IM_DE). Auch der Respekt, den diese Regierungen in Verhandlungen genossen, war darauf zurückzuführen, dass sie als Starkregulierer ihre Positionen effektiver vertreten konnten: „Die Hauptaufnahmeländer haben schon lange zu diesen Themen gearbeitet. Sie haben Erfahrung und ihre Systeme sind robust und erprobt. Also, Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Großbritannien, Schweden haben allesamt Asylsysteme, die von allen respektiert werden.“ (Interview StäV_VK). Ihre Verhandlungsstärke resultiert nicht nur aus ihrer Fähigkeit aus bereits vorhandener Gesetzgebung zu lernen und die daraus gewonnenen Erfahrungen einbringen zu können, sondern auch aus ihrer effektiven Verwaltungen. Diese sind in der Lage gewesen, regulative Expertise in politisch durchsetzungsstarke Positionen zu verwandeln. Eine Beobachterin der Verhandlungen beschrieb dies folgendermaßen: „Manche Verwaltungen sind besser als andere“, wobei die besseren „sehr gut vorbereitet und sehr effektiv sind“ (Interview COM_2). Vorschläge von Schwachregulierern hingegen wurden oftmals als weniger überzeugend angesehen, da sie weniger auf langjährige Erfahrung mit Flüchtlingen bauen konnten. Ihre Positionen kamen oftmals ad hoc zustande und waren daher weitgehend unspezifisch.

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6 Umsetzung und Nichtumsetzung von EU-Gesetzgebung Im Folgenden soll der niedrige Grad der Harmonisierung europäischer Asylpolitik erklärt werden. Für Staaten mit liberaleren Politiken als die ­EU-Richtlinien vorgeben, kann dies leicht erklärt werden. Wie in allen Staaten besitzen auch die Regierungen dieser Staaten ein Interesse daran, ihre Politiken beizubehalten. Da sie aufgrund ihrer liberaleren Politiken keinen Veränderungsdruck zu spüren bekamen, könnten sie ihren Status Quo beibehalten (Zaun 2017, S 209 ff.). Auch die restriktiven Starkregulierer mussten ihre Politiken nicht ändern, da sie ihre Politiken auch auf europäischer Ebene verankern konnten (Zaun 2017, S. 213 ff.). Wo Starkregulierer Politiken ändern, hat dies damit zu tun, dass es in diesen Staaten beispielsweise Gesetzesänderungen gibt. Diese Staaten versuchen dann den Status Quo ihrer nationalen Politiken einzubringen (Zaun 2017, S. 222). Für Schwachregulierer wie Italien und Griechenland bedeutete die Umsetzung der EU-Richtlinien eine große Herausforderung, da sie ihr Asylsystem neu aufbauen mussten. Dies hatte vor allem auch mit der geringen administrativen Kapazität der Schwachregulierer zutun (Zaun 2017, S. 216 ff.). Teilweise haben Schwachregulierer zumindest auf dem Papier Politiken übernommen, die sie laut EU-Gesetzgebung nicht hätten übernehmen müssen. Sie haben dies z. T. auch getan, um Kosten sparen zu können, wie am Beispiel der griechischen Einführung der Residenzpflicht deutlich wurde. Trotzdem gab es auch hierbei Probleme bei der Umsetzung (Zaun 2017, S. 230 f.). Starkregulierer wie Deutschland, Schweden, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien gehörten ursprünglich zu den treibenden Kräften der Harmonisierung durch die Vergemeinschaftung der Asylpolitik auf europäischer Ebene. Ihr Ziel war es dabei, die Asylstandards in ganz Europa anzuheben, damit Flüchtlinge nicht länger hauptsächlich in starkregulierenden Staaten Asyl suchen würden und die Asylbewerber*innenzahlen innerhalb Europas einigermaßen ausgeglichen wären. Natürlich handelte es sich hierbei um eine Fehleinschätzung, da Flüchtlinge ihr Zielland nicht nur aufgrund von großzügigen Asylstandards auswählen. Studien haben gezeigt, dass andere Faktoren, wie das Vorhandensein von sozialen Netzwerken im Zielland und die allgemeine wirtschaftliche Lage und Reputation eines Landes deutlich wichtiger für ihre Entscheidungen bezüglich des Ortes der Antragsstellung sind (Neumayer 2004; Thielemann 2006).

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7 Konfliktlinien in der Verteilungspolitik: Hauptaufnahme- und Transitländer vs. Länder mit geringer Flüchtlingszuwanderung Im Bereich der Flüchtlingsverteilung zeigt sich die größte Konfliktlinie zwischen den Hauptaufnahmestaaten und den Nichtaufnahmestaaten. Traditionelle Hauptaufnahmestaaten sind vor allem in Nordeuropa unter den Starkregulierern zu finden, d. h. in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Schweden, Großbritannien oder den Niederlanden. Diese Staaten zählten auch zu den Hauptaufnahmeländern während der Jugoslawienkriege, wie Abb. 2 zeigt. Ab 2005 erhielten auch einige der nicht-traditionellen Asylländer in Südeuropa mehr Flüchtlinge. In den 2010er Jahren stiegen diese Zahlen aufgrund des Arabischen Frühlings weiter an. Allerdings verblieben die meisten Flüchtlinge weiterhin in den traditionellen Hauptaufnahmeländern in Nordeuropa: Zwar kommen viele Flüchtlinge zunächst in europäischen Grenzstaaten in Südeuropa an, sie ziehen oft weiter nach Nordeuropa und durchlaufen erst dort ihr Asylverfahren. Zunächst bekamen die südeuropäischen Staaten vor allem irreguläre

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Abb. 2   Durchschnittliche Anzahl an Flüchtlingen pro Jahr und Ländergruppe. (Datenquelle: UNHCR 2018)

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Einwander*innen, während die wenigsten Menschen auch in diesen Ländern ihren Asylantrag stellten. Dies hat sich seit der Umsiedelungsvereinbarung der EU, die Grenzstaaten einen Anreiz zur Registrierung von Asylbewerber*innen setzte, teilweise geändert. Damals durften nur solche Asylbewerber*innen umgesiedelt werden, die auch vorher registriert wurden (Rat der EU 2015a, b). Die osteuropäischen Länder waren zwar im Kontext des Zerfalls der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre verhältnismäßig stark von Zuwanderung betroffen. Darüber hinaus sind sie aber nie besonders stark mit Flüchtlingen in Kontakt gekommen. Zwar ist in diesen Ländern und insbesondere in Ungarn die Zahl der Flüchtlinge in den Jahren 2015 und 2016 angestiegen, insgesamt bleibt sie allerdings vergleichsweise gering. Grundsätzlich sind Staaten nicht bereit im Bereich der Flüchtlingsverteilung zu kooperieren. Dies lässt sich insbesondere mithilfe des Rambo-Spiels (auf Englisch „Suasion Game“) in der Spieltheorie erklären. Betts (2008) hat dieses Modell bereits auf die internationale Situation zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden angewandt. Zaun (2018) und Biermann et al. (2017) zeigen, dass diese Dynamik auch für die europäische Ebene zutrifft. Die Situation ist wie folgt: Der Nichtaufnahmestaat5 kann sich entweder entscheiden mit dem Aufnahmestaat die Verantwortung zu teilen, indem er Flüchtlinge aus diesem Staat übernimmt (Kooperation), oder er kann sich entscheiden, diese nicht zu teilen (Defektion). Da EU-Mitgliedstaaten in der Regel niedrigere Asylbewerber*innenzahlen bevorzugen, haben Nichtaufnahmestaaten kein Interesse zusätzliche Flüchtlinge von Aufnahmestaaten zu übernehmen. Stattdessen bevorzugen sie den Status Quo. Aufnahmestaaten hingegen haben ein großes Interesse daran, Hilfe zu bekommen. Daher unterstützen ihre Regierungen die europäische Kooperation. Für sie ist dies die einzige Möglichkeit, eine fairere Verteilung von Flüchtlingen zu erreichen. Ihre präferierte Option wäre, selbst weitere Asyle zu gewähren, von Nichtaufnahmestaaten aber dabei unterstützt zu werden. Allerdings können sie im Gegenzug nichts dafür anbieten und sind somit in einer schlechteren Verhandlungsposition. Nichtaufnahmestaaten haben zwei Optionen: Entweder sie bieten Aufnahmestaaten Unterstützung an oder – was wahrscheinlicher ist – sie verweigern Unterstützung. Aufnahmeländer haben zwei unterschiedliche Optionen: Entweder sie bieten Flüchtlingen Asyl (kooperative Strategie) oder nicht (nichtkooperative Strategie). Natürlich

5Hierbei handelt es sich um einen Idealtypus, da alle Staaten zumindest eine geringe Anzahl an Asylbewerber*innen erhalten. Als Nichtaufnahmestaaten sollen hier auch solche gelten, die vergleichsweise geringe Zahlen erhalten.

Die Handlungslogiken der Europäischen Union in der Asyl …

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5HVSRQVLELOLW\

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(3/4)*

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(2/1)

(1/1)

*Equilibrium

Abb. 3   Das Rambo-Spiel im Bereich des Responsibility-Sharing in der EU. (Quelle: Eigene Darstellung)

können demokratische Staaten international anerkannten Flüchtlingen Asyl nicht einfach verweigern. Systematisch kein Asyl zu gewähren, wäre auch mit Blick auf die Interessen ihrer Regierungen fahrlässig, da eine Situation, in der Flüchtlinge grundsätzlich keine Möglichkeit haben, Schutz und eine Integrationsperspektive in ihren Aufnahmeländern zu erhalten, zu Unruhen führen kann. Regierungen sehen sich davon potenziell bedroht, insbesondere dann, wenn sich Flüchtlinge bereits auf dem Hoheitsgebiet ihrer Staaten befinden. Folglich werden Aufnahmestaaten selbst dann Asyl gewähren, wenn Nichtaufnahmestaaten sich verweigern. Dies wird auch in Abb. 3 deutlich: Die kooperative Strategie (Verantwortungsteilung6) hat für den Nichtaufnahmestaat den Wert 3, die nichtkooperative Strategie (keine Teilung der Verantwortung) hat für ihn den Wert 4. Er wird sich folglich immer gegen Verantwortungsteilung entscheiden. Für den Aufnahmestaat hat die Option Asyl zu geben, den Wert von 2, kein Asyl zu geben hat den Wert von 1. Das Equilibrium* ist daher die Option KD (für Kooperation/Defektion), das heißt der Aufnahmestaat wählt die für ihn kooperative Variante und gewährt grundsätzlich Asyl (Option mit dem Wert von 3), während der Nichtaufnahmestaat sich dagegen entscheidet, die Verantwortung zu teilen (Option mit dem Wert von 4). Aufnahmeland/Nichtaufnahmeland

Responsibility-Sharing (K)

Kein Responsibility-Sharing (D)

Asyl (K)

(4/3)

(3/4)*

Kein Asyl (D)

(2/1)

(1/1)

*Equilibrium 6Als Verantwortungsteilung (‚Responsibility-Sharing‘) bezeichnet man die Unterstützung eines Staates, der viele Flüchtlinge erhält durch einen anderen Staat, der entweder weniger Flüchtlinge aufgenommen hat oder z. B. aus finanziellen Gründen besser dazu in der Lage ist. Diese Unterstützung kann entweder finanziell oder durch die direkte Übernahme von Flüchtlingen geschehen (Betts et al. 2017, S. 22).

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Dieses Modell erklärt, warum Kooperation im Rahmen der Flüchtlingsverteilung in Europa so schwierig ist. Staaten, die wie die Visegrád-Staaten in Mittelosteuropa insgesamt sehr wenige Flüchtlinge erhalten, haben kein Interesse Hauptaufnahmeländer wie Deutschland oder Schweden einerseits und die Grenzstaaten Italien oder Griechenland andererseits durch die Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen. Als Nichtaufnahmeländer sind sie in der strategisch besseren Situation und müssen den Hauptaufnahmeländern nicht helfen. Dies erklärt auch warum die Verhandlungen um den temporären Verteilungsschlüssel, den dauerhaften Verteilungsschlüssel und die Dublin IV-Verordnung so schwierig waren bzw. sind: Während die Aufnahmeländer ein Interesse daran haben, dass ihnen die Nichtaufnahmeländer unter die Arme greifen und einige Flüchtlinge übernehmen, haben die Nichtaufnahmeländer kein Interesse, diesen Staaten zu helfen. Dies hat wie bereits erwähnt vor allem damit zu tun, dass die Aufnahme zusätzlicher Flüchtlinge sowohl finanzielle als auch elektorale ‘Kosten‘ verursacht (Zaun 2018).

8 Schlussbetrachtung Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, wie bestehende Machtungleichgewichte und Interessenskonflikte Politikinnovationen im Bereich der internen Dimension der EU-Asylpolitik verhindern. Im Bereich der regulativen Asylpolitik (d. h. der Asylharmonisierung) zeigt sich insbesondere ein Konflikt zwischen den Stark- und den Schwachregulierern, wobei sich die Starkregulierer zumeist in Nordeuropa und die Schwachregulierer in Südeuropa befinden. Starkregulierer nutzen die EU-Asylharmonisierung, um ihre Standards auf der europäischen Ebene zu verankern. Anhand dieser Strategie des ‘Hochladens‘ ihrer Politiken auf die europäische Politikebene (‘Uploading‘) versuchen sie ihre Standards zu europäischen Standards zu erklären und dadurch die Sekundärmigration für Flüchtlinge als weniger attraktiv erscheinen zu lassen. Da die Schwachregulierer aber unter anderem nicht über die Ressource einer effektiven und politisch durchsetzungsstarken Verwaltung verfügen, die diese Bestimmungen umsetzen könnte, bleibt die europäische Asylpolitik faktisch sehr heterogen. Das Ziel der Harmonisierung wird nicht erreicht. Die Rolle der Starkregulierer erklärt auch, warum faktisch wenig innovative Politikvorschläge die europäische Asylpolitik prägen. Diese beruht nämlich meist auf dem Status Quo der Starkregulierer und nicht auf gänzlich neuen Politikideen. Im Bereich der redistributiven Asylpolitik (d. h. der Verantwortungsteilung oder des „Responsibility-Sharing“) besteht der Konflikt zwischen den Haupt-

Die Handlungslogiken der Europäischen Union in der Asyl …

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aufnahmeländern auf der einen Seite und denjenigen Staaten, die nur sehr wenige Asylanträge erhalten auf der anderen Seite. Der Konflikt besteht im Kern darin, dass sich die Hauptaufnahmeländer – aktuell sowohl einige nordals auch üdeuropä ische Länder– mehr Unterstützung wünschen, während derzeit vor allem die osteuropäischen Staaten, die kaum Flüchtlinge aufgenommen haben, nicht bereit bzw. fähig sind, diese Unterstützung zu leisten. Politikinnovationen, die eine faire Teilung der Verantwortung möglich machen, sind somit unwahrscheinlich – auch weil diese teilweise bei den Wähler*innen in Zeiten stärkerer rechtspopulistischer Bewegungen in ganz Europa  wenig erstrebenswert scheinen und somit für einen Teil der Bevölkerung Akzeptanzund Legitimationsprobleme verursachen. Aufgrund dieser verschiedenen Interessenskonflikte unter den Mitgliedstaaten sind innovative Politiken im Bereich der internen Dimension der E ­ U-Asylpolitik folglich nur schwer zu erreichen. Dies hat auch der Europäische Gipfel vom 28./29. Juni 2018 gezeigt, bei dem sich die EU ausschließlich auf Maßnahmen im Bereich der externen Migrationspolitik, wie dem stärkeren Schutz der Außengrenzen oder die Einführung von Aufnahmelagern außerhalb der EU, einigen konnte (Europäischer Rat 2018). Diese Politiken verlagern Verteilungskonflikte auf Regionen außerhalb der EU und sind somit für die ­EU-Mitgliedstaaten leichter zu verabschieden. Allerdings laufen diese Politiken nicht nur vielfach Gefahr, die Rechte von Flüchtlingen zu untergraben, sie sind auch oftmals ebenso ineffektiv wie interne Asylpolitiken der EU. Dies liegt daran, dass Drittstaaten oftmals auch kein Interesse haben, Flüchtlinge auf- bzw. zurückzunehmen.

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Die Handlungslogiken der Europäischen Union in der Asyl …

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Liste der Interviews Interview COM_1, Europäische Kommission, Generaldirektion für Inneres, Bereich Asyl, 21. November 2012 Interview COM_2, Europäische Kommission, früher Generaldirektion für Inneres, Bereich Asyl, 20. November 2012 Interview IM_DE, Deutsches Innenministerium, 5. Dezember 2012 Interview StäV_AT, Ständige Vertretung Österreichs, 28. März 2012 Interview StäV_DE, Ständige Vertretung Deutschlands, 30. März 2012 Interview StäV_GR, Ständige Vertretung Griechenlands, 3. April 2012 Interview StäV_IT, Ständige Vertretung Italiens, 13. April 2012 Interview StäV_SE, Ständige Vertretung Schwedens, 29. März 2012 Interview StäV_VK, Ständige Vertretung des Vereinigten Königreichs, 11. April 2012

Dr. Natascha Zaun;  Politikwissenschaftlerin, Assistant Professor am European Institute der London School of Economics. Forschungsschwerpunkte: Asylpolitik der Europäischen Union und globale Kooperation im Bereich Flüchtlingsschutz. E-Mail: [email protected].

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Überarbeitung der Rückführungsrichtlinie – ein Einblick in die Arbeitsweise der Europäischen Kommission Yorck Wurms Zusammenfassung

Der Erfahrungsbericht des ehemaligen Mitarbeiters im Referat Irreguläre Migration und Rückkehr der Generaldirektion Inneres der Europäischen Kommission gibt Einblicke in die Arbeitsweise der Europäischen Kommission auf dem Höhepunkt der EU Asylkrise ab 2016 und im Vorfeld der Europawahl 2019. Im institutionellen Bezugsrahmen des EU Gesetzgebungsverfahrens werden die politischen Hintergründe des Paradigmenwandels vom Flüchtlingsschutz zur Rückführung aus der Binnenrationalität der Kommission heraus erklärt.

1 Einleitung Vom ersten Tag, an dem ich für zwei Jahre auf der Arbeitsebene der Kommission im Referat C1 – Irreguläre Migration und Rückkehr tätig war, stand die Frage im Raum, ob es eine Überarbeitung der Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/ EG) geben oder sogar eine Rückführungsverordnung vorgeschlagen werden solle. Das Pendel schwang für Monate zwischen zwei Ansagen hin und her: „es geschieht nichts“ und „es wird eine Verordnung oder eine Überarbeitung der Rückführungsrichtlinie geben“. Im Juni 2018 wurde das Referat schließlich aufgefordert, eine überarbeitete Rückführungsrichtlinie (RRL) vorzulegen. Y. Wurms (*)  Ferney-Voltaire, Frankreich © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_7

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Y. Wurms

Die Diskussion war wie ein Fieberthermometer darüber, wie ‚der 13. Stock‘ im Berlaymont mit dem Büro des damaligen Kommissionspräsidenten ­Jean-Claude Juncker die politische Situation in Europa beurteilte. Alle wichtigen Entscheidungen im Migrationsbereich werden dort getroffen. Dies bedeutet, dass die vorgeschlagene Neufassung der RRL eine politische Entscheidung war. Die damals vorherrschende Meinung in der Kommission (KOM) war, dass die Bevölkerung das Vertrauen in das Asylsystem verlieren werde, wenn es nicht gelingt, die Mehrzahl der Migrant*innen, die kein Bleiberecht in der EU haben, entweder zur freiwilligen Rückkehr zu bewegen oder abzuschieben.

2 Blick zurück Ein Blick auf die Verabschiedung der ersten RRL 2008 lohnt, weil daran deutlich wird, wie sich innerhalb von 10 Jahren die politische Realität in Europa geändert hat. Allein schon die Tatsache, dass die Fragen bezüglich der Rückkehr und Zusammenarbeit mit den Herkunftsstaaten bis 2014 innerhalb der Generaldirektion Migration und Inneres auf drei verschiedene Referate verteilt waren, zeigt, dass dieses Thema keine Priorität hatte. Anekdotenhaft wurde mir berichtet, dass man unter der damaligen Kommissarin Cecilia Malmström, das Wort Abschiebung besser nicht benutzte, denn dies sei nicht karrierefördernd. Die RRL (2008) war das erste Gesetzesvorhaben, in dem das Europäische Parlament Co-Gesetzgeber war. Im Rat wurde der Vorschlag der KOM kritisiert, da er zu sehr die Schutz- und Menschenrechte in den Vordergrund stellte. Die große Befürchtung der Mitgliedstaaten (MS) war, dass die RRL in der Praxis Rückführungen erschweren werde (Lutz 2010, S. 17)1. Insbesondere Deutschland kritisierte den Vorschlag der KOM und nannte ihn „noch nicht einmal verhandlungsfähig“. Hauptkritikpunkt der Deutschen war, dass die RRL erst ab dem Punkt greift, wenn die Aufenthaltserlaubnis entzogen ist. Deutschland wollte auch, dass die Gefahr für die öffentliche Ordnung als Grund für den Entzug der Aufenthaltserlaubnis europaweit harmonisiert werden sollte, die Kommission folgte dem nicht.

1Wie

später gezeigt wird, ändert die RRL nichts an der Rückkehrquote: weder sank noch stieg sie. Insofern kann die Frage gestellt werden, ob die RRL überhaupt einen Einfluss nimmt oder ob nicht andere Faktoren einen maßgeblichen Einfluss auf die Rückkehrquote haben.

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Die Zivilgesellschaft nannte die RRL eine „Richtlinie der Schande“, da sie zu repressiv sei (Lutz 2010, S. 73). Selbst der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors kritisierte die KOM für den Vorschlag. Der Text war am Ende ein Kompromiss, aber im Vordergrund der RRL stand der Schutz der Migrant*innen, nicht ein effizientes Rückführungssystem. Im Jahr 2018 hatten sich die Prioritäten grundlegend geändert. Ziel der vorgeschlagenen Neufassung der RRL zusammen mit den anderen Gesetzesvorhaben (Frontex-VO, Überarbeitung des Visa-Kodex und Verordnung zur Verbesserung der Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den Verbindungsbeamten) war die Erhöhung der Rückführungsquote und nicht die Stärkung der Rechte von Migrant*innen. Die Migrationskrise von 2015 hatte zu einem Paradigmenwechsel geführt.

3 Die Zahlen Im Jahr 2009, das Jahr nachdem die RRL verabschiedet wurde, betrug die Anzahl der Asylanträge laut Eurostat-Daten 263.835.2 Im Jahr 2018, als die Neufassung der RRL vorgeschlagen wurde, waren es fast dreimal so viel wie 2009 (637.895), im Jahr 2015 auf dem Höhepunkt der Krise waren es 1.322.845, während es im Jahr 2009 nur 155.980 negative Asylentscheidungen in der ersten Instanz gab. Im Jahr 2017 waren es bereits 524.055 negative Asylentscheidungen. Interessanterweise führt ein Anstieg der negativen Asylentscheidung nicht dazu, dass die Aufforderungen, das Land zu verlassen, steigen. Im Jahr 2008 wurden 603.360 Personen aufgefordert, das Land zu verlassen und im Jahr 2017 waren es 516.115 Personen. Dies bedeutet also, dass sich die Wahrnehmung darüber, ob es sich bei der zu geringen Rückkehrquote um ein Problem handelt oder nicht, gewandelt hat. Tatsächlich in ihr Heimatland zurückgekehrt sind im Jahr 2008 laut Eurostat-

2Eurostat

ist eine Generaldirektion der Kommission und hat die Aufgabe, vergleichbare Statistiken für Europa zu veröffentlichen. Allerdings muss leider festgestellt werden, dass die Zahlen im Migrationsbereich von Eurostat vorsichtig betrachtet werden müssen, da die Zahlen, die die Mitgliedstaaten bereitstellen, nicht unbedingt über jeden Zweifel erhaben sind. Die Daten in Bezug auf Rückkehr sind auf folgender Webseite zu finden: https://ec.europa.eu/eurostat/data/database unter: Database by themes/Demography and Migration/Asylum and managed Migration/Asylum Dublin Statistics/Enforcement of Immigration Legislation. Zugegriffen: 10. September 2019.

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Daten 211.350 Personen und im Jahr 2017 waren es 189.545 Personen. Auch hier lässt sich prozentual keine große Differenz feststellen: im Jahr 2008 sind etwa knapp über 35 % und 2017 knapp über 36 % zurückgekehrt, somit besteht kein signifikanter Unterschied zwischen den Jahren 2008 und 2017. Allerdings ist die Vermutung wahrscheinlich richtig, dass die Zahl der Ausreisepflichtigen in den nächsten Jahren nicht zurückgehen, sondern ansteigen wird, zumal die Zahlen je nach Herkunftsland stark differieren. Im Westbalkan betrug die Rückkehrquote 2017 nahezu 100 %, während die Quote in die afrikanischen Staaten sehr niedrig ist, z. B. Gambia mit 4,8 % im Jahr 2017. Die Westbalkan Länder sind im Bereich Rückführung sehr kooperativ, da sie als Beitrittskandidaten der EU diesbezüglich Fortschritte erzielen mussten. In Hinblick auf die afrikanischen Länder ist es bisher nicht gelungen, die Rückkehrquote signifikant zu erhöhen. Dies liegt vor allem daran, dass die afrikanischen Länder keinerlei Interesse haben, ihre eigenen Staatsangehörigen zurückzunehmen. Warum ist dies so? Migrant*innen leisten durch ihre Transferzahlungen in ihr Heimatland einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung im Herkunftsland, so z. B. in Gambia ca. 20 % des BSP. Kehren die Migrant*innen zurück, bleiben diese Transferzahlungen, die für die Familien essenziell sind, aus. Somit besteht kein Interesse der Herkunftsländer, Rückkehr zu ermöglichen, da sie dadurch ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen schädigen würden. Hinzu kommt, dass die Mehrzahl der Migrierenden jung, männlich und relativ gut ausgebildet ist. Potenziell sind dies die Menschen, die für politische Unruhen und Veränderungen in der meist dysfunktionalen und korrupten Politik dieser Länder sorgen könnten. Es besteht somit kein Anreiz für die herrschenden Eliten, die Rückführung zu unterstützen. All dies wird in Zukunft noch schwieriger werden, da die Bevölkerung in Afrika sich in diesem Jahrtausend vervierfachen wird, eine Tatsache, die in der deutschen Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wird. So werden Ende des Jahrtausends in Nigeria fast genauso viele Menschen leben wie in China. Dieses Bevölkerungswachstum, gepaart mit einem nicht entsprechend ausreichenden Wirtschaftswachstum, wird zu mehr Migration führen. Migrieren können aber nur die Menschen, die über einen gewissen Wohlstand verfügen, dem ärmeren Teil der Bevölkerung bleibt diese Möglichkeit i. d. R. verschlossen. Daher ist es wichtig, dass jetzt ein funktionierendes Rückkehrsystem geschaffen wird, welches zu erwartenden Krisen standhalten kann.

Überarbeitung der Rückführungsrichtlinie – ein Einblick in die ...

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4 Politischer Kontext Der Vorschlag für die RRL wurde zeitgleich im September 2018 mit dem geänderten Vorschlag für die Europäische Grenz- und Küstenwache und die Asylagentur3 unterbreitet. Drei Ziele wurden damit verfolgt: Hauptziel der Vorschläge war, die Rückführungsquote zu erhöhen. Die RRL sollte den rechtlichen Rahmen dafür schaffen, dass Frontex qua Verordnung tatsächlich die Instrumente für die Rückführungen an die Hand gegeben werden konnte. Diese Zielformulierung wäre zehn Jahre zuvor ‘politischer Selbstmord‘ gewesen. Die KOM wollte vor allem mit Blick auf die Europawahl im folgenden Jahr Handlungsfähigkeit gegenüber der Wählerschaft demonstrieren. Die Gefahr bestand darin, dass ein Nichtanfassen des Themas Wahlkampf, Munition für die rechtspopulistischen Parteien sein könnte. Die neuen Vorschläge sollten auch die festgefahrenen Dublin-Verhandlungen neu beleben, da sie den politischen Forderungen aus den ost- und mitteleuropäischen Ländern entgegen kamen4. Insbesondere der Frontex-Vorschlag zielt auf die Verbesserung der Rückführung und des Schutzes der Außengrenzen ab. Taktisch war dies ein geschickter Zug, da es gerade die Ungarn waren, die immer wieder einen besseren Grenzschutz forderten. Mit dem Vorschlag wurden sie in eine schwierige Position gebracht, weil sie ja nicht etwas ablehnen konnten, das sie seit langem forderten. Der dritte Grund lag im Verhältnis der KOM zum Rat und dem Europäischen Parlament (EP). Die KOM wollte in einer Position sein, in der sie sagen konnte, die KOM habe ihre Aufgaben erledigt und es liege nun an den beiden Gesetzgebern, Rat und EP, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Im Juni 2018 fiel die Entscheidung, eine überarbeitete RRL im September vorzulegen. Dieser sehr enge zeitliche Rahmen verbunden mit der Sommerpause war sehr ambitioniert, da das Europäische Parlament zum letzten Mal Mitte April 2019 tagte. Dieser Zeitplan wurde sehr skeptisch beurteilt, denn man glaubte nicht, dass in so kurzer Zeit ein Gesetzesvorhaben erfolgreich durchgeführt werde könne. Allerdings hatte diese kurze Frist die Folge, dass es auf der Arbeitsebene zu keiner Lobbyarbeit während der Texterstellung von Außenstehenden kommen konnte, sei es durch die Mitgliedsstaaten, dem EP oder der Zivilgesellschaft. Vor allem die beiden zuletzt genannten hatten wahr3Siehe

dazu: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52018PC 0633&from=EN, Zugegriffen: 10.September 2019. 4Eine ungarische Kollegin sagte mir einmal, es sei eine Frage der Reihenfolge: Wir wollen erst die Grenzen sichern und dann über Verteilung reden, Deutschland will erst verteilen und dann über Grenzsicherung reden.

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scheinlich noch nicht einmal Kenntnis darüber, dass eine Überarbeitung vorbereitet wurde. Ob dies von der KOM so gewollt war, kann ich nicht beurteilen. Mein Eindruck war, dass insbesondere die Zivilgesellschaft vollkommen unvorbereitet von dem Vorschlag getroffen wurde und auch nicht in der Lage war, sofort die teilweise weitreichenden Implikationen zu erkennen. Aber auch die KOM selbst machte keine Anstrengungen, während des Erstellungsprozesses die verschiedenen ‘Stakeholder‘ zu konsultieren. Damit ging sie genauso vor wie beim Dublin-Pakt, welcher ebenfalls ohne Konsultation über den Textentwurf erstellt wurde. In beiden Fällen war der tatsächliche Text ohne Einflussnahme von außen geschrieben worden. Ob dieses Vorgehen das richtige war, darf, wenn man die bisher erfolglosen Verhandlungen des Dublin-Pakts betrachtet, zumindest angezweifelt werden. Verkannt werden sollte aber nicht, dass diese Vorgehensweise tendenziell zum Vorteil des Rats ist. Zwischen der KOM und dem Rat bestehen durch die verschiedenen Ratsarbeitsgruppen sowie allgemeinen Kontakte zu den nationalen Regierungen strukturell bessere Kommunikationskanäle als zum EP. Es wäre allerdings nicht richtig, allein die KOM dafür verantwortlich zu machen, dass der Austausch zum EP geringer ist. In meiner Zeit in der Kommission hat meines Wissens kein Abgeordneter den Kontakt zu unserem Referat gesucht. Die Frage bleibt, warum die KOM so lange mit der Vorlage gewartet hat, inhaltlich wäre dies früher möglich gewesen. Ein Kalkül könnte gewesen sein, insbesondere mit Blick auf das EP, die Gesetzgeber zeitlich unter Druck zu setzen. Denn die Parlamentsabgeordneten, die vor allem am Schutz der Migrant*innen interessiert sind, mussten die Entscheidung treffen, die RRL noch in der Legislaturperiode 2014–2019 zu verabschieden oder erst in der folgenden Legislaturperiode. Da es noch in der laufenden Legislaturperiode eine Mehrheit von S/D- und EVP-Fraktion gab, wäre der Kompromiss einfacher gewesen. Allerdings hätten die MdEP, denen es um den Schutz der Migrant*innen ging, politische Kompromisse bei der Verschärfung der Rückkehr eingehen müssen. Die andere Option war, den Prozess zu verlangsamen und die RRL erst in der nächsten Legislaturperiode zu verabschieden. Damit verbunden war aber das Risiko, dass es im neuen EP unklare Mehrheitsverhältnisse wegen des zu erwartenden größeren Einflusses von rechtspopulistischen Parteien hätte geben können. Der große Nachteil einer Verabschiedung der RRL in der Wahlperiode 2014–2019 war aber für die MdEPs, dass man dann der eigenen Wählerschaft hätte erklären müssen, warum man die Verschärfung der RRL mittrage. Interessanterweise zeigte aber auch die EVP-Fraktion kein Bestreben, die RRL noch in der laufenden Legislaturperiode zu verabschieden.

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Man muss den Vorschlag der RRL auch im Kontext mit anderen Gesetzesvorhaben sehen. Die Verhandlungen über den von der EU-Kommission im Mai 2016 vorgelegten Legislativvorschlag zur Reform des Dublin-Systems, der u. a. die Lastenverteilung der Mitgliedsstaaten mit verbindlichen Quoten regeln will, kamen im Rat nicht weiter, und realistisch gesehen, gab es keine Möglichkeit, dass man im Rat eine gemeinsame Position finden würde. Um die Handlungsfähigkeit der Kommission und der EU vor den Europawahlen unter Beweis zu stellen, war es notwendig, Gesetzesvorhaben im Bereich Migration vorzulegen, die verabschiedet werden. Folgende Gesetzesentwürfe fallen darunter: Frontex-Verordnung, Verordnung zur Verbesserung der Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den Verbindungsbeamten, die von den Mitgliedsstaaten oder der EU in Drittländer entsandt werden, um sich dort mit Einwanderungsfragen zu befassen, und die Neufassung des Visum-Kodex. Alle Vorschläge enthalten Elemente zur Verbesserung der Rückführungsquote. Es ist sicherlich als eine Innovation zu betrachten, dass Gesetzesentwürfe ineinandergreifen und sich gegenseitig unterstützen. Die Innovation ist, dass der Gesetzesvorschlag im Bereich Visa, Elemente enthält, die durch Ziele eines anderen Vorschlags, den der RRL, unterstützt sind. Die Frontex-VO weist der Agentur eine wichtigere Rolle bei der Rückführung zu. Wenn das Personal von Frontex um 10 000 Beschäftigte zur Bewachung der Grenzen aufgestockt werden soll, muss auch sichergestellt werden, dass die Agentur mehr Aufgaben bekommt. Die Rolle von Frontex ist daher ein wichtiger Baustein für die Vereinfachung der Rückführung. Und das Gleiche gilt auch für die Verordnung zur Verbesserung der Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den Verbindungsbeamten. Alle vier aufeinander abgestimmten Gesetzesvorhaben verfolgen das Ziel, Rückführungen zu vereinfachen und die Zahl der Abschiebungen zu erhöhen. Zwar sind die vier Vorschläge als eine logische Einheit zu betrachten, aber die KOM entschied sich, nicht wie bei der Dublin-VO diese Gesetzesvorhaben als Paket vorzulegen, sondern einzeln. Dass diese Entscheidung richtig war, zeigte sich darin, dass bei zwei Vorhaben (Visum-Kodex und Verordnung für die Verbindungsbeamten) eine politische Einigung in der Legislaturperiode 2014–2019 erzielt wurde. Für die Frontex-VO war dies auch noch im Bereich des Möglichen, nur für die RRL war es unrealistisch. Denn weder der Rat noch das EP hatten einen gemeinsamen Standpunkt gefunden, allerdings waren die Meinungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten im Rat sehr gering. Hätten sie die vier Vorhaben als Paket vorgelegen, wäre es zu einer Blockierung wie beim Dublin-Paket gekommen. Der Vorschlag der KOM kam den Vorstellungen der Mitgliedstaaten im Rat offensichtlich wesentlich näher, während die Vorstellungen im Parlament stärker

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divergierten und von dem Vorschlag der KOM abwichen. Daher verabschiedete der Rat auch schon eine partielle Ausrichtung5. Der Rat fügte in Artikel 3, Nr. 3, d einen wichtigen Zusatz ein, dass nämlich ausreisepflichtige Drittstaatsangehörige nicht nur in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können, sondern auch in einen Drittstaat, in dem sie sich jeweils aufhalten können. Damit wäre es möglich, die Obstruktionshaltung der Ausreisepflichtigen bei der Feststellung ihres Ursprungslands sowie die fehlende Kooperationsbereitschaft der Herkunftsstaaten zu überwinden. Allerdings scheint zweifelhaft, ob das EP solch eine Änderung mittragen würde, denn das Ergebnis dieser Änderung wäre vermutlich eine deutliche Zunahme der Abschiebungen. Insgesamt war das EP nicht beeindruckt davon, dass der Gesetzesvorschlag so spät in der Legislaturperiode vorgelegt wurde. Die Berichterstatterin Judith Sargentini (Grüne-Fraktion) legte zwar einen Bericht vor, aber über diesen wurde nicht mehr abgestimmt. Sargentini ist auch nicht mehr Mitglied des neuen EP. Solange aber das EP keinen Standpunkt hat, wird es keinen Fortschritt geben im Gesetzgebungsprozess, da beide, der Rat und das EP einen Standpunkt haben müssen, sodass die Verhandlungen fortgeführt werden können. Die Chancen sind also relativ hoch, dass in absehbarer Zeit keine Fortschritte erzielt werden.

5 Probleme der alten RRL – wichtigste Veränderungen der RRL Die Schwäche der RRL (2008) war, dass sie teilweise keine klaren Definitionen enthielt. Man kann durchaus ein System dahinter sehen, dass Formulierungen vage gehalten und somit Interpretationsspielräume erzeugt wurden. Die nationalen Gesetzgebungsinstanzen nutzten dann den Spielraum so, dass sie möglichen politischen Problemen aus dem Weg gingen und die RRL meist zugunsten der abgelehnten Asylbewerber*innen umsetzten. Und auch die Gerichte legten

5Proposal

for a Directive of the European Parliament and of the Council on common standards and procedures in Member States for returning illegally staying third-country nationals (recast), Juni 2019, 2018/0329(COD). https://www.europarl.europa.eu/legislativetrain/api/stages/report/current/theme/towards-a-new-policy-on-migration/file/proposal-fora-recast-of-the-return-directive Zugegriffen: 13. Januar 2020.

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die vagen Formulierungen meist zugunsten des Ausreisepflichtigen aus. In der Summe führte dies dazu, dass das Rückführungssystem nicht effizient war. Der Vorschlag der Überarbeitung der RRL (2018) ist eine Reaktion darauf. Ein weiterer systemischer Fehler der RRL (2008) war, dass es keinen gesamtheitlichen Ansatz von Asyl- und Rückführungsverfahren gab, sondern beide Prozesse nicht miteinander abgestimmt waren. Die Überarbeitung der RRL ist ein sehr gutes Beispiel für eine europäische Lösung der Migrationsfrage. Konsequent werden in dem Vorschlag einheitliche Fristen, Definitionen und Strukturen vorgeschlagen, um einem europäisch einheitlichen Rückführungssystem näher zu kommen. Hierfür einige Beispiele: Da die von den Mitgliedstaaten teilweise im nationalen Recht festgelegte maximale Haftdauer viel zu kurz für die Durchführung einer Rückführung war (z. B. in Frankreich maximal 45 Tage), schlägt die überarbeitete RRL vor, dass der Mindestzeitraum für eine Abschiebehaft drei Monate sein müsse. Allerdings wäre dafür keine überarbeitete RRL notwendig gewesen, denn schon die RRL (2008) sah eine maximale Haftdauer von 18 Monaten vor; diese Spielräume wurden aber von vielen Mitgliedstaaten nicht genutzt. Sie waren aber dann, als die Notwendigkeit für mehr Abschiebungen entstand, nicht in der Lage, den politischen Willen für die Änderungen ihrer nationalen Regelungen zu erzeugen. Wie so oft ist es dann für die Mitgliedstaaten politisch einfacher, die Entscheidung über Brüssel durchzusetzen. Weiterhin werden die Mitgliedstaaten in der RRL (2018) verpflichtet, dass unmittelbar nach Erlass einer Entscheidung, mit der ein legaler Aufenthalt abgelehnt oder beendet wird, eine Rückkehrentscheidung festzulegen ist. Somit sollen Asylverfahren und Rückkehr besser miteinander verzahnt werden. Auch wird vorgeschlagen, dass die Frist für eine freiwillige Ausreise europaweit nicht mehr als 30 Tage betragen soll. Auch diese Änderung zielt auf Vereinheitlichung und Beschleunigung des Verfahrens. Da die Fristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen gegen Rückkehrentscheidungen sich in den Mitgliedstaaten deutlich voneinander unterscheiden – von wenigen Tagen bis zu einem oder mehreren Monaten – schlug die KOM eine einheitliche Frist von fünf Tagen für die Einlegung von Rechtsbehelfen gegen Rückkehrentscheidungen vor. Die KOM scheute sich auch nicht, objektive Kriterien zu bestimmen, nach denen festgelegt wird, ob die Gefahr des Untertauchens und insbesondere der unerlaubten Sekundärmigration gegeben ist, und somit eine Ingewahrsamnahme möglich ist. Weitreichend ist auch der Vorschlag, dass die Mitgliedstaaten nationale Rückkehrmanagementsysteme haben müssen.

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Dieser Vorschlag verpflichtet Drittstaatenangehörige, in allen Phasen des Rückkehrverfahrens mit den zuständigen Behörden zusammenzuarbeiten, aber er verpflichtet auch die Mitgliedstaaten, dass sie Drittstaatenangehörige über die Folgen von Verstößen informieren müssen. Hiermit wird die Wichtigkeit der Beratung von Drittstaatenangehörigen erhöht, im Umkehrschritt wird aber auch der Drittstaatenangehörige zur Kooperation verpflichtet. Zwei Änderungen sind zum Nutzen der abgelehnten Asylbewerber*innen. Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, Programme für die freiwillige Rückkehr aufzulegen, die auch Hilfen bei der Wiedereingliederung umfassen können. Zu beachten ist, dass die Wiedereingliederung bewusst im Konjunktiv formuliert ist. Damit soll verhindert werden, dass es zu einem Automatismus zwischen Rückführung und Reintegrationsleistung kommt, wobei man feststellen muss, dass die Zusage von Reintegrationshilfen faktisch Standard bei den Verhandlungen mit den Herkunftsstaaten ist. Weiterhin schlägt die RRL (2018) vor, dass dem Ausreisepflichtigen auf Antrag kostenlose Rechtsberatung und/oder -vertretung bereitgestellt wird.

6 Schlussbetrachtung Der Vorschlag für eine überarbeitete RRL stellt einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik dar. Das alleinige Ziel ist nicht mehr die Stärkung des Schutzes der abgelehnten Asylbewerber*innen, sondern sie verfolgt auch das Ziel, dass tatsächlich diejenigen, die kein Bleiberecht haben, zurückkehren. Mich persönlich hat überrascht, dass außer den nationalen Ministerien und der Staatskanzlei Bayern niemand den Kontakt zu mir gesucht hat. Für mich ist dies ein Hinweis, dass die Kenntnisse über die Arbeitsweise der KOM und die Bedeutung des Gesetzgebungsprozesses immer noch viel zu gering ausgeprägt sind. Wichtige Möglichkeiten der Einflussnahme werden immer noch viel zu wenig genutzt.

Literatur Lutz, F. (2010). The Negotiations on the return directive. Nijmengen: Wolf Legal Publisher.

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Yorck Wurms; Studium der Wirtschaftspädagogik, Universität Mannheim, Master African Studies University of the Free State, Südafrika, Policy Officer in der DG Home der Europäischen Kommission Oktober 2016 – Dezember 2018, zuständig für u. a. Gambia und Reintegration. Z. Zt. Beratung für das International Center for Migration Policy Development im Kosovo, Türkei und den zentralasiatischen Ländern in Reintegrationsfragen. E-Mail: [email protected].

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Krisen in der EU – die EU in der Krise: Das Ringen um eine gemeinsame europäische Asylpolitik als Herausforderung für den europäischen Zusammenhalt Julia Maria Eichler und Katrin Hatzinger Zusammenfassung

Der Beitrag zeigt die asyl- und krisenpolitische Positionierung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihrer Bündnispartner*innen im europäischen Netzwerk der christlichen Kirchen und Menschenrechtsorganisationen. Am empirischen Bezugspunkt des erfolglosen Ringens um eine gemeinsame europäische Asylpolitik in den Jahren 2015 bis 2019 wird argumentiert, dass mit jedem Scheitern der Verhandlungen der europäische Zusammenhalt und die Glaubwürdigkeit der EU auf dem Spiel stehen. Anschließend werden Möglichkeiten des Auswegs aus der Krise aus Sicht der EKD aufgezeigt. Die Seenotrettung im Mittelmeer im Rahmen der EU-Marine-Operation „Sophia“ ist Ende März 2019 eingestellt worden. Fast im Wochenrhythmus kann man inzwischen Nachrichten lesen, dass wieder ein Boot mit geretteten Menschen an Bord im Mittelmeer herumirrt, weil sich kein europäischer Hafen zur Aufnahme

J. M. Eichler · K. Hatzinger (*)  EKD – Dienststelle Brüssel, Brüssel, Belgien E-Mail: [email protected] J. M. Eichler E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_8

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findet. Private Seenotretter werden massiv behindert und kriminalisiert. Überlegungen, temporäre Mechanismen zur Aufnahme der Flüchtlinge zu etablieren, finden keine breite Akzeptanz. Die Mitgliedstaaten der EU sind über die Frage der Aufnahme von Schutzsuchenden tief zerstritten. Ende März 2019 scheiterte hieran die Verlängerung der Seenotrettungskomponente der Operation „Sophia“. Seit 2015 hatte die militärische Marine-Operation im Einsatz gegen kriminelle Schleuser und Menschenhändler mit ihren Schiffen im Mittelmeer über 50.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Doch zuletzt hatte Italien die Erneuerung des Mandats blockiert. Die bisherige Praxis, dass gerettete Migranten in italienische Häfen gebracht werden und Italien damit die weitere Verantwortung für diese Menschen übernimmt, wollte die italienische Regierung mit dem damaligen rechtspopulistischen Innenminister Matteo Salvini (Lega Nord) nicht länger tolerieren. Doch auch unter den übrigen Mitgliedstaaten war ein Konsens über eine solidarische Verantwortungsteilung für die geretteten Migranten und Flüchtlinge nicht zu erzielen. Das Ergebnis ist eine „moralische Bankrotterklärung“ (so der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm): Während die Ausbildung der libyschen Küstenwache und die Luftüberwachung über dem Mittelmeer fortgesetzt wird, werden im Rahmen der aktuellen Operation „Irini“ keine Schiffe mehr ins Mittelmeer entsandt. Die Organisation der Seenotrettung ist staatliche Aufgabe und die Tatsache, dass sich die europäischen Staaten immer weiter aus dem Bereich der Seenotrettung zurückziehen, ist in Kombination mit der anhaltenden Behinderung der zivilen Seenotrettung hochproblematisch. Die Erfahrungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen und der Umgang mit ihnen waren in der EU nie einheitlich, da gerade die Länder Mittel- und Osteuropas, wenn überhaupt, lange Zeit lediglich Transitländer für Schutzsuchende waren und keine oder kaum Erfahrung mit (muslimischen) Einwanderern hatten. Hinzukommen auch unterschiedliche historische Erfahrungen und Vorstellungen von Nation und Identität, die den Umgang mit Migration prägen. Wer auf einen allmählichen Lernprozess oder eine Annäherung in Sachen Flüchtlingsschutz etwa über die Aufnahme von Resettlement-Flüchtlingen gehofft hatte, musste feststellen, dass die sog. „Migrationskrise“ 2015 bestehende Unterschiede zwischen den EU-Staaten in rasantem Tempo vertieft hat. Die Flüchtlingsfrage hat die EU nicht etwa durch einen gemeinsamen Ansatz weiter integriert, sondern sie hat tiefe Gräben zwischen den Mitgliedstaaten im Osten und Westen, im Süden und Norden aufgerissen. So gibt es Streit darüber, ob und wie sich die Mitgliedsstaaten an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen sollten. Berichte über den „ungeregelten Massenzustrom“, „Staatsversagen“ sowie einzelne terroristische

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Anschläge und Gewalttaten durch Flüchtlinge und Asylbewerber haben die rechten Parteien in vielen Länder der EU gestärkt und die öffentliche Meinung polarisiert. Der Streit über die Flüchtlingsfrage stellt heute den Zusammenhalt in der EU insgesamt auf die Probe und die Grundfesten infrage. Die 2015 eingeführten Grenzkontrollen etwa zwischen Österreich und Deutschland, aber auch zwischen Dänemark und Schweden sind ein Beispiel dafür, wie das fehlende gemeinsame Vorgehen, den Schengenraum und damit die Freizügigkeit als eine der größten Errungenschaft der europäischen Integration bedroht. Bei der Frage der gemeinsamen Wahrnehmung von Verantwortung für Asylsuchende sind die Fronten so verhärtet, dass ein übergreifender Einigungswille nicht mehr erkennbar ist. Dementsprechend war auch die 2016 eingeleitete Überarbeitung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im Ministerrat bis zum Ende der Legislaturperiode blockiert. Von den sieben Gesetzesvorschlägen, die 2016 zur Reform des GEAS vorgelegt wurden, konnte keiner angenommen werden. Im Mai 2016 hatte die Europäische Kommission zunächst Vorschläge zur Überarbeitung der ­Dublin-III-Verordnung (die u. a. die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Durchführung des Asylverfahrens regelt), der Eurodac-Verordnung (die die Datenbank für die Registrierung von Asylbewerbern regelt) und der Europäischen Asylagentur (durch den das existierende Asylunterstützungsbüro „EASO“ in eine Agentur mit erweiterten Kompetenz ausgebaut werden soll) vorgelegt. Vier weitere Vorschläge folgten im Juli 2016 zur Qualifikationsrichtlinie (die die gemeinsamen Standards zur Zuerkennung internationalen Schutzes definiert), Asylverfahrensrichtlinie (die den Ablauf des Asylverfahrens sowie die Rechte und Pflichten der Antragstellenden reglementiert), Aufnahmerichtlinie (die Aufnahmebedingungen während des Asylverfahrens regelt) und zum ResettlementRahmen (mit dem das Verfahren für eine EU-weite Planung zur Neuansiedlung von Flüchtlingen festgelegt wird). Die verschiedenen Dossiers sind dabei im Ministerrat unterschiedlich weit fortgeschritten. Während etwa zur Aufnahmebedingungsrichtlinie und der Verordnung über die Europäische Asylagentur Verhandlungen zwischen den beiden Gesetzgebern, dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament, stattgefunden haben und zum Teil auch Einigungen erzielt worden sind, konnte im Ministerrat weder zur Dublin-Verordnung noch zur Asylverfahrensverordnung eine gemeinsame Position gefunden werden. Da aber alle Gesetzesvorschläge miteinander verbunden sind und es diverse Überschneidungen und Verknüpfungen gibt, lagen ohne Fortschritte insbesondere bei der ­Dublin-Verordnung alle Vorschläge zum GEAS brach. Im Gegensatz dazu hat das Europäische Parlament im Eiltempo seine Positionen zu den verschiedenen Richtlinien und Verordnungen angenommen. Das Brüsseler EKD-Büro hatte sich dabei im Verbund mit anderen christlichen Organisationen,

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darunter der Kommission der Kirchen für Migranten in Europa (CCME), dem Jesuiten Flüchtlingsdienst, COMECE und Caritas Europa durch gemeinsame Stellungnahmen und Empfehlungen sowie in persönlichen Gesprächen mit den Abgeordneten in die dortigen Verhandlungen eingebracht und auf aus kirchlicher Perspektive entscheidende Punkte hingewiesen. So etwa im Hinblick auf den Vorschlag der EU-Kommission zur Neufassung der Dublin III-Verordnung, dem Kernstück der Asylreform: Mit der angestoßenen Reform wollte die Europäische Kommission das Asylsystem gerechter und effizienter ausgestalten. Einmal festgelegte Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten sollten nicht mehr abgeändert werden können. Sekundärmigration und das sogenannte Asylshopping, also die Antragsstellung in mehr als einem EU-Mitgliedsstaat, sollten durch Sanktionen unterbunden werden. Eingang in die Reform fanden auch die 2015 als Notfallmaßnahme vorgeschlagene Umsiedlung und innereuropäische Verteilung von Asylbewerbern. Sollte ein Mitgliedstaat überlastet sein, weil er für eine überproportionale Anzahl an Asylbewerbern zuständig ist, würde ein Umverteilungsschlüssel automatisch alle neuankommenden Asylbewerber auf andere EUMitgliedstaaten verteilen. Zudem schlug die Kommission vor, innerhalb eines neuen Vorverfahrens noch vor der Zuständigkeit zu prüfen, ob der Asylantrag ohne inhaltliche Prüfung abgelehnt und der Asylbewerber zurückgeführt werden könnte, weil er aus einem sicheren Herkunftsstaat, einem sicheren Drittstaat oder einem ersten Asylstaat kommt. Die Blaupause für dieses Vorverfahren stellte der EU-Türkei-Deal dar. Darüber hinaus blieb die „Dublin-Logik“ erhalten: In der Regel sollte dasjenige Land zuständig sein, das den Aufenthalt des Asylbewerbers veranlasst hat (z. B. durch Ausstellung des Visums oder Duldung des irregulären Grenzübertritts). Ausnahme sind lediglich enge familiäre Verbindungen in anderen EU-Mitgliedstaaten. Die christlichen Organisationen kritisierten, dass die vorgeschlagene Reform nicht zu einem fairen, effizienten und menschenrechtsbasierten ­Dublin-System beitragen werde. So führe das Vorverfahren zu einer Auslagerung der europäischen Schutzverantwortung auf Nachbarstaaten, die zum Teil bereits erhebliche Anstrengungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen unternähmen. Zudem würde durch das Vorverfahren eine weitere administrative Ebene eingeführt, obwohl bereits das Verfahren zur Zuständigkeitsbestimmung ein Vorverfahren zu der eigentlichen Bestimmung des Asylstatus darstelle. Das vorgeschlagene Umverteilungsverfahren werde nicht zu der notwendigen Entlastung überforderter EU-Staaten führen. So sei etwa der Schwellenwert zur Auslösung der Umverteilung zu hoch angesetzt und keine Entlastung hinsichtlich der sich bereits im Land befindlichen Asylbewerber vorgesehen. Zudem müssten bei der Umsiedlung auch die Wünsche und Bedürfnisse von Asylbewerbern berücksichtigt und familiäre Verbindungen berücksichtig werden.

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Die kirchlichen Organisationen sprachen sich deshalb dafür aus, im Rahmen der von der Kommission vorgeschlagenen Umverteilung von Asylbewerbern auf andere Mitgliedstaaten Sprachkenntnisse und z. B. familiäre, kulturelle und soziale Verbindungen, durch die auch die Integration erleichtert würde, stärker zu berücksichtigen. Zudem kritisierten sie den von der Kommission verfolgten Sanktionsansatz. Die Kommission hatte z. B. vorgeschlagen, dass Asylbewerber, die sich nicht im zuständigen Mitgliedstaat befänden, keine materiellen Aufnahmebedingungen erhalten sollten und der Asylantrag in einem beschleunigten Verfahren mit beschränkten Verfahrensrechten bearbeitet werden würde. Aus Sicht der christlichen Organisationen seien aber vielmehr verlässliche und verfügbare Informationen über das Asylverfahren und die Rechte und Pflichten von Asylbewerbern notwendig. Sich ständig verändernde Regeln, die willkürliche Unterscheidung zwischen verschiedenen Schutzformen, sowie die Senkung von Aufnahmebedingungen und Rechten würden das Vertrauen in das System beschädigen und wären kontraproduktiv. Indem Menschen von grundlegenden Leistungen im Aufnahmestaat ausgeschlossen würden, entstünden bewusst prekäre Situationen. Das Europäische Parlament nahm viele der kirchlichen Empfehlungen auf und legte in seinem Bericht zur geänderten Dublin-Verordnung u. a. fest, dass nicht Sanktionen, sondern Anreize zur Einhaltung der Verfahrensregeln dienen sollten. Die Verweigerung von Aufnahmeleistungen und beschleunigte Verfahren als Sanktionsmechanismen fanden daher keinen Eingang in die Parlamentsposition. Vielmehr sprach sich die Mehrheit der Abgeordneten dafür aus, dass für die Zuständigkeitsbestimmung für einen Asylantrag nicht länger hauptsächlich die Frage der Verursachung des Grenzübertritts (z. B. irregulärer Grenzübertritt) entscheidend sein sollte, sondern familiäre Verbindungen, vorherige legale Aufenthalte und Bildungsabschlüsse berücksichtigt werden müssten. Sei für einen Asylbewerber keines dieser Kriterien einschlägig, würde er die Wahl zwischen den vier Mitgliedstaaten mit den geringsten Asylbewerberzahlen erhalten, jedenfalls dann, wenn er sich zuvor an die Verfahrensregeln gehalten habe. Auch hier setzte das Parlament also auf Anreize. Doch auch der April 2019, in dem das Europäische Parlament während seiner letzten Plenarsitzung in der Legislaturperiode noch über eine Einigung mit dem Ministerrat hätte abstimmen können, verstrich ohne neue Ergebnisse. Denn nach wie vor ist die Frage, wie man Solidarität und Verantwortung für Schutzsuchende zwischen den Mitgliedstaaten in Einklang bringen möchte, ungeklärt. Die Versuche von 2015, durch Mehrheitsentscheidungen Mitgliedstaaten per Quote Flüchtlinge zuzuweisen, sind nicht nur gescheitert, sondern haben zwischen den Mitgliedstaaten verbrannte Erde hinterlassen. Es bedarf daher

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einer g­ rundsätzlichen Neuausrichtung des politischen Miteinanders der Mitgliedstaaten in diesem Bereich. Das hat auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schnell erkannt und bereits im Juli 2019 vorgeschlagen, einen neuen Pakt für Migration und Asyl vorzulegen. Dazu müssen Misstrauen und Spaltungstendenzen überwunden und der ehrliche und offene Dialog miteinander gesucht werden. Verlorengegangenes Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten muss wiederaufgebaut werden. Dies kann nur gelingen, wenn die Debatte versachlicht wird und die dafür notwendige Zeit zur Verfügung steht. Notfalls muss die Lösung der Blockade in der Asyldebatte auch an die Verhandlungen über den neuen mehrjährigen Finanzrahmen der EU gekoppelt werden. Die deutsche Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2020 hat daher die Weiterentwicklung des GEAS auf ihre Tagesordnung gesetzt. Doch das Sterben von Menschen im Mittelmeer wird bis dahin nicht einfach so aufhören; die menschenunwürdigen Bedingungen in den Hotspots auf den griechischen Inseln bestehen weiter; Polizeigewalt, Pushbacks, die Vorenthaltung von Nahrung in Abschiebezonen; all diese Probleme gibt es nach wie vor in den EU-Mitgliedstaaten. Hierfür sind konkrete politische Lösungen gefragt, die keinen Aufschub dulden: Die Mitgliedstaaten sind bei der Durchführung von Unionsrecht den Grundrechten der EU-Grundrechtecharta verpflichtet. Hierzu zählt auch das Recht auf Asyl, niedergelegt in Art. 18 der Charta. Doch obwohl es wünschenswert wäre, dass alle Mitgliedstaaten ihrer Verantwortung für Schutzsuchende nachkommen, wird es hier nur zeitnahe Lösungen geben und wird man eine dauerhafte Blockade nur vermeiden können, wenn einzelne Mitgliedstaaten mit gutem Beispiel vorangehen, wie wir dies etwa bei der Aufnahme von Bootsflüchtlingen sehen, auch wenn die Gruppe der Gutwilligen immer kleiner wird. Natürlich muss es bei einem solchen Vorgehen immer auch die Option geben, dass sich weitere Mitgliedstaaten zu einem späteren Zeitpunkt anschließen können. Auch darf der Blick auf eine gesamteuropäische politische Lösung nicht verloren gehen. Sonst droht die bereits begonnene Externalisierung des europäischen Asylrechts als Alternative zur Asylgewährung zum Regelfall und der E ­ U-Türkei-Deal zur Blaupause für die künftige EU-Asylpolitik zu werden. Europa zahlt für die drastische Verringerung der Zahl der Ankünfte von Schutzsuchenden aus der Türkei auf den griechischen Inseln einen hohen Preis: Elendslager auf den griechischen Inseln, überfüllte Hotspots mit menschenunwürdigen Lebensbedingungen, lange Verfahren, kaum Rechtsschutz oder medizinische Betreuung. Auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten wirft der Deal Fragen auf. Das Gericht der Europäischen Union hatte 2017 entschieden, dass der sogenannte EU-Türkei-Deal keine Vereinbarung eines Organs der Europäischen Union sei, sondern dass die Mitgliedstaaten der EU als eigenständige Völkerrechtssubjekte

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gehandelt hätten. Der EU-Türkei-Deal fällt damit nicht in die Zuständigkeit der Unionsgerichtsbarkeit. Anders als bei EU-Verträgen muss auch das Europäische Parlament nicht zustimmen. Der ‚Deal‘ entzieht sich damit der parlamentarischen und rechtlichen Kontrolle. Die Europäische Kommission hatte 2015 in ihrem Fünf-Jahresprogramm für die Asyl- und Migrationspolitik noch einen ausgewogeneren Ansatz verfolgt. Die Europäische Migrationsagenda wollte die externe und interne Dimension der europäischen Asyl- und Migrationspolitik zusammenzubringen, um ein umfassendes und kohärentes Konzept zu entwickeln. Mit Maßnahmen in vier Bereichen – Reduzierung der Anreize für die irreguläre Migration, Rettung von Menschenleben und Sicherung der Außengrenzen, eine starke gemeinsame Asylpolitik und eine neue Politik für legale Migration – wollte die Kommission einerseits die sich bereits abzeichnende Krise von 2015/2016 unmittelbar angehen und andererseits die europäische Asyl- und Migrationspolitik nachhaltig für die Zukunft aufstellen. Teil der vorgeschlagenen Maßnahmen waren etwa die Erhöhung der Kapazitäten und Ressourcen für die Frontex-Operation Triton 2015/2016, die bereits angesprochenen Notfallumsiedlungen aus Italien und Griechenland und die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Auch die Operation „Sophia“ entstammt der Europäischen Migrationsagenda. Zudem schlug die Kommission vor, EU-weit 20.000 Flüchtlingen neuanzusiedeln. Die Eröffnung legaler und sicherer Zugangswege für Flüchtlinge ist eine Forderung, die das Brüsseler EKD-Büro bereits seit Jahren vor Ort vertritt. So hatte das Büro bereits 2014 in einem gemeinsamen Papier mit anderen christlichen Organisationen eine „Toolbox“ für sichere und legale Wege für Flüchtlinge vorgeschlagen und darin u. a. mehr Neuansiedlung, eine vereinfachte Familienzusammenführung und humanitäre Visa gefordert. Positive Entwicklungen gab es vor allem im Bereich der Neuansiedlung in der EU zu vermelden. Im Jahr 2017 hatte die EU-Kommission die Mitgliedstaaten aufgefordert, mindestens 50.000 Personen innerhalb von zwei Jahren neuanzusiedeln. Zwanzig Mitgliedstaaten sagten diese Plätze zu. Laut Kommissionsmitteilung von Anfang März 2019 sind über 24.000 dieser Zusagen auch bereits umgesetzt worden. Deutschland hat zugesagt, 10.200 Menschen aufzunehmen. Zuvor waren im Rahmen des oben genannten Aufrufs von 2015 zusammen mit den Neuansiedlungszusagen im Rahmen des EU-Türkei-Deals rund 26.000 Flüchtlinge neuangesiedelt worden. Auch wenn die Zahlen nach wie vor, gemessen an dem vom UNHCR allein für 2019 angemeldeten Bedarf für Neuansiedlungen in Höhe von 1,4 Mio. Menschen, deutlich zu gering sind, ist hier doch eine positive Dynamik erkennbar. Im Vergleich: Deutschland hatte zuvor von 2012 bis 2014 im Rahmen eines Neuansiedlungspilotprojektes jährlich 300 Menschen aufgenommen.

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Neuansiedlungen können aber nicht das individuelle Recht auf Asyl ersetzen, sondern können dieses nur ergänzen. An individuellen Zugangswegen für Schutzsuchende fehlt es aber nach wie vor. Deshalb hatte sich das EKD-Büro Brüssel während der vergangenen Legislaturperiode des Europäischen Parlaments u. a. für humanitäre Visa auf EU-Ebene eingesetzt. Diese würden eine Möglichkeit bieten, auf sichere Weise nach Europa einzureisen, um hier einen Antrag auf Asyl zu stellen. Das Europäische Parlament war dem Aufruf der Kirchen und der Zivilgesellschaft gefolgt und hatte am 11. Dezember 2018 einen Initiativbericht angenommen, mit dem es die Europäische Kommission aufforderte, Rechtsvorschriften vorzulegen, nach denen Personen, die internationalen Schutz suchen, bei einer EU-Botschaft oder einem Konsulat ein Visum beantragen können, um dann legal und sicher in die EU einreisen zu können. Doch schon Ende Februar 2019 teilte die Europäische Kommission mit, dass sie nicht beabsichtige, humanitäre Visa einzuführen. Das Bedürfnis nach mehr legalen und sicheren Wegen sah die Kommission mit dem vorgeschlagenen Neuansiedlungsrahmen abgedeckt. Abgesehen davon, dass mit diesem der individuelle Zugang zum Asylverfahren in der EU nicht erleichtert wird, sind auch die Verhandlungen über diesen Rahmen nach wie vor festgefahren. Denn auch hier blockiert die Frage einer gerechteren Verteilung der Verantwortung für Schutzsuchenden in den Mitgliedstaaten weitergehende Fortschritte. Diese Frage ist allerdings nicht das einzig offene Problem des europäischen Asylrechts. Die Situation ist insgesamt unbefriedigend. Zu leicht kann man angesichts der großen asylpolitischen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten1 vergessen, dass es bereits gemeinsame Regeln im Asylbereich gibt. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem beinhaltet Vorschriften über die Zuständigkeit und das Asylverfahren bis hin zur Bestimmung des Schutzstatus. Natürlich gibt es europaweit keine komplette Harmonisierung und trotzdem wäre mit einer adäquaten Umsetzung des gemeinsamen Asylbesitzstandes bereits viel gewonnen. Das EKD-Büro in Brüssel setzt sich seit Langem dafür ein, dass die Mitgliedstaaten innerhalb des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hohe ­Verfahrens- und Aufnahmestandards umsetzen. Es bedarf einer besseren, aber auch einheitlicheren Umsetzung der bestehenden gesetzlichen Regeln. So braucht

1So

variieren etwa die Anerkennungsraten in den Mitgliedstaaten nach dem Bericht zur Asylsituation in der EU aus dem Jahr 2017 vom Europäischen Asylunterstützungsbüro (EASO), beispielsweise für Bewerber aus Afghanistan, Iran und Irak zwischen null und hundert Prozent (vgl. EASO 2018, S. 7).

Krisen in der EU – die EU in der Krise: Das Ringen um eine …

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es mehr Kohärenz bei den Verfahren und damit verbundenen Anerkennungsquoten, aber auch Aufnahmebedingungen, die ein menschenwürdiges Leben und die Integration im Aufnahmeland ermöglichen. Die Kommission wird dafür ihre Aufgabe als Hüterin der Verträge ernster nehmen müssen. Das Europäische Asylunterstützungsbüro (EASO) könnte eine wichtige Rolle spielen, wenn es etwa um den Austausch von best practice zwischen den Mitgliedstaaten geht, Schulungen von Beamten der EU-Mitgliedstaaten oder eine einheitlichere Handhabung z. B. bei vulnerablen Gruppen. Dies alles könnte zu mehr Kohärenz führen. Aber auch der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) muss seine Rolle bei der Rechtsentwicklung wahrnehmen und rechtswidrige Praxen in den Mitgliedstaaten in die Schranken weisen, Rechtsbegriffe einer einheitlichen Auslegung zuführen und zu einer Harmonisierung einzelner Verfahrensbestandteile beitragen. Vor allem muss aber auch in vielen Mitgliedstaaten ein Umdenken einsetzen: Das „race to the bottom“ – also der Wettkampf um die menschenunwürdigsten Bedingungen für Asylbewerber – muss ein Ende finden. Es bleibt also noch viel zu tun. Denn in Zeiten, in denen die rechten Parteien den Ton der Debatte vorgeben, liegt der Fokus v. a. auf der Erhöhung der Rückführungszahlen, dem Ausbau von Grenzschutz und der Zusammenarbeit mit Drittstaaten beim Migrationsmanagement. Deshalb bedarf es immer wieder der Stimme von Kirchen und der Zivilgesellschaft, um eine Europäische Union einzufordern, die ihre Verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte weltweit selbstbewusst wahrnimmt und den Schutz von Grund- und Menschenrechten zum Leitbild für ihre gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik erklärt.

Literatur European Asylum Support Office (EASO). (2018). Jahresbericht 2017 über die Asylsituation in der EU. Zusammenfassung. https://easo.europa.eu/sites/default/files/Executive-SummaryDE.pdf. Zugegriffen: 5. Sept. 2019. Julia Maria Eichler; vormalige Juristische Referentin der Dienststelle Brüssel des Bevollmächtigten des Rates der EKD, Tätigkeitsfelder u. a.: Menschenrechte, Asyl- und Migrationspolitik, Religionsfreiheit. Katrin Hatzinger;  Oberkirchenrätin, Juristin, Leiterin der Dienststelle Brüssel des Bevollmächtigten des Rates der EKD, Tätigkeitsfelder u. a.: Dialog zwischen Kirchen und der EU, Asyl, Migration und Integration, Kirche und Gesellschaft. Ständiger Gast der Kammer für Migration und Integration des Rates der EKD, E-Mail: [email protected].

9

Innovation und Legitimation an den Außengrenzen der EU: Die Situation der Geflüchteten in Sizilien Danielle Gluns

Zusammenfassung

Wie steht es um die Innovationspotenziale und Legitimationsprobleme im lokalpolitischen Kontext Siziliens als Beispiel für eine Region an den Außengrenzen der EU, die aufgrund der geographischen Lage zu einem der Hauptankunftsorte von auf dem Seeweg einreisenden Migrant_innen geworden ist? Im policyanalytischen Bezugsrahmen des Regierens in Mehrebenensystemen („Multilevel Governance“) werden die Legitimationsprobleme migrationspolitischer Praktiken der EU und national im Erfahrungshorizont von befragten lokalpolitischen Akteuren rekonstruiert und Beispiele für innovatives Handeln im Aufnahme- und Integrationssystem Siziliens aufgezeigt. Abschließend werden die Möglichkeiten und Grenzen der strukturellen Verankerung lokaler Innovationen zugunsten eines „lernenden Systems“ unter krisenpolitischen Gesichtspunkten reflektiert.

Ich danke einem anonymen Reviewer für die hilfreichen Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Beitrags. D. Gluns (*)  Stiftungs-Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_9

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1 Einleitung Mit der Vergemeinschaftung der Asyl- und Flüchtlingspolitik seit den 1990er Jahren haben sich die Verflechtungen zwischen den verschiedenen politischen Ebenen verstärkt: Durch die Verträge von Maastricht1 und Amsterdam2 wurde die Zuständigkeit für den Politikbereich schrittweise auf die Europäische Union (EU) übertragen. Inhaltlich erhielt die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS)3 klarere Konturen, die den Rahmen für die Politik der Mitgliedstaaten festlegen. Allerdings bedeutet das nicht, dass die Verfahren für die Aufnahme und Integration geflüchteter Menschen zwischen den Ländern der EU einheitlich wären. Stattdessen variiert die rechtliche und praktische Umsetzung der gemeinsamen Regeln zum Teil erheblich (Bendel 2013). Beispielsweise unterscheiden sich der Zugang zu Arbeit, Bildung, Gesundheitsversorgung etc. je nachdem, in welchem Land der Asylantrag gestellt wird. Die Geflüchteten können dieses Land jedoch laut Rechtslage nicht frei wählen. Entsprechend der sog. Dublin-Verordnung ist in der Regel das Ersteinreiseland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Die meisten Asylsuchenden reisen auf oft gefährlichen Land- und Seewegen über die südlichen

1Vertrag

über die Europäische Union, 1992; abrufbar unter https://europa.eu/europeanunion/sites/europaeu/files/docs/body/treaty_on_european_union_de.pdf (Zugegriffen: 08.04.2019). 2Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, 1997; abrufbar unter https://www.europarl.europa.eu/topics/treaty/ pdf/amst-de.pdf (Zugegriffen: 08.04.2019). 3Das Gemeinsame Europäische Asylsystem umfasst im Kern fünf Rechtsakte: Die Dublin-Verordnung (VO (EU) Nr. 604/2013) zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist; die EURODAC-Verordnung (VO (EU) Nr. 603/2013) zur Einrichtung einer ­ Fingerabdruck-Datenbank; die Asylverfahrensrichtlinie für gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes; die Richtlinie über die Aufnahmebedingungen (Richtlinie 2013/33/EU) zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen; und die Anerkennungsrichtlinie (RL 2011/95/EU) über Normen für die Anerkennung des Anspruchs auf internationalen Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (s. a. Europäische Kommission 2014).

Innovation und Legitimation an den Außengrenzen der EU …

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und südöstlichen Mitgliedstaaten der EU ein (Ternès et al. 2017, S. 22 ff.).4 Demzufolge müssen Länder wie Italien, Griechenland oder Malta, die in geographischer Nähe zu wichtigen Herkunfts- und Transitländern der Migration liegen, die meisten Asylanträge bearbeiten. Damit sind die Länder zum Teil überfordert, sodass wiederholt Forderungen nach einer stärkeren europäischen Solidarität und einer gleichmäßigeren Verteilung der Antragsteller_innen bzw. der Kosten der Aufnahme erhoben wurden (Wahnel 2011; Einaudi 2007). Gleichzeitig bewegen Gründe, wie z. B. persönliche Netzwerke oder die Hoffnung auf bessere Arbeitsmöglichkeiten oder Aufnahmebedingungen, Menschen immer wieder dazu, in andere Staaten weiter zu wandern statt im rechtlich zuständigen Ersteinreisestaat zu verbleiben (Brekke und Brochmann 2015). Die Unterschiede in den Aufnahmebedingungen und die ungleichen Chancen, die Geflüchteten in verschiedenen Mitgliedstaaten offenstehen, stehen der Effizienz und Legitimität des europäischen Asylsystems entgegen (ANCI 2017, S. 83).5 Der Beitrag widmet sich am Beispiel Siziliens der Frage, wie die Regionen, in denen ein Großteil der über das Mittelmeer einreisenden Migrant_innen6 ankommt, mit den europäischen Regelungen umgehen und wie ihre Aufnahme und ihre Integration vor Ort gestaltet werden. Die Region Sizilien wurde ausgewählt, da sie aufgrund ihrer geographischen Lage in den letzten Jahren zu einem der Hauptankunftsorte von auf dem Seeweg einreisenden Migrant_innen geworden ist (UNHCR 2018; ANCI et al. 2017). Gleichzeitig hat die Region mit massiven Herausforderungen, wie beispielsweise einer hohen Jugendarbeitslosigkeit von über 50 %7 , zu kämpfen. Dementsprechend stellt sich die Frage, wie

4Siehe

auch Migratory Routes unter https://frontex.europa.eu/along-eu-borders/migratoryroutes/central-mediterranean-route/ (Zugegriffen: 08.04.2019). 5Gleichzeitig ist hierzu anzumerken, dass die sog. „welfare magnet“-Hypothese, also die Annahme, dass günstige Aufnahmebedingungen zu erhöhter Einwanderung führen, nur bedingt Bestätigung gefunden hat, da die Entscheidung zur Weiterwanderung komplex ist bzw. durch das Zusammenspiel von mehreren Faktoren bestimmt wird (Höllmann 2014, S. 101). 6Der vorliegende Beitrag verwendet den Begriff „Migrant_innen“ als Oberbegriff für all diejenigen, die in einem anderen Land geboren wurden und aus verschiedenen Gründen nach Europa einwandern. Im engeren Sinn als „Flüchtlinge“ oder „Geflüchtete“ sind hier Menschen gemeint, die in Europa einen Asylantrag stellen. Diejenigen, die einen Status als Asylberechtigte nach dem Grundgesetz, als Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder als subsidiär Schutzberechtigte erhalten, werden als „anerkannte Flüchtlinge/ Geflüchtete“ bezeichnet. 7Daten für 2017 (siehe dazu: www.eurostat.europa.eu (Zugegriffen: 08.04.2019).

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die Region die im europäischen Recht verankerte Zuständigkeit für die Aufnahme und Unterbringung der ankommenden Migrant_innen umsetzt und welche Unterstützung sie hierbei durch die höheren Ebenen erhält. Konkret wird untersucht: • Wie Akteure in Sizilien die europäischen Regelungen in der Praxis anwenden, und welche Adaptionsprozesse es jeweils auf der nationalen, regionalen und lokalen Ebene gibt; • wie sich das Aufnahmesystem über die Zeit verändert, und ob Innovationen auf den unteren politischen Ebenen bzw. an den Rändern der Europäischen Union möglich sind; • wie die Region in das europäische Mehrebenensystem eingebettet ist, und wie lokale Akteure diese Einbettung, u. a. auch im Hinblick auf die Legitimationsfrage aktueller migrationspolitischer Praktiken in der EU und national, wahrnehmen. Zunächst wird kurz das Mehrebenensystem der EU als analytischer Rahmen dargestellt (2), bevor das System zur Aufnahme und Integration von Geflüchteten in Sizilien erläutert wird (Abschn. 2.1). Hierfür werden einige Daten zur Einwanderung nach Sizilien dargestellt (2.1.1). Daran anschließend werden die Ergebnisse der empirischen Studie vorgestellt, die für diesen Beitrag durchgeführt wurde. Im Rahmen einer Policy-Analyse wurden die rechtlichen Rahmenbedingungen der Aufnahme geflüchteter Menschen in Italien bzw. Sizilien aufgearbeitet (2.1.2). Darüber hinaus wurde die Umsetzung der Regelungen in der Praxis mithilfe von leitfadengestützten Interviews ermittelt (2.2). Befragt wurden ein_e Vertreter_in des Einwanderungsbüros der lokalen Polizeibehörde in Siracusa (Questura) sowie fünf Vertreter_innen verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen, die in die Aufnahme von Flüchtlingen im südöstlichen Sizilien eingebunden sind. Sie erläutern ihre Erfahrungen in der praktischen Umsetzung des Aufnahme- und Integrationssystems in Sizilien.8 Abschließend werden die Erkenntnisse über die Umsetzung des europäischen Asylsystems im

8Die Interviews wurden Anfang 2018, d. h. vor dem Regierungswechsel zum 01. Juni, geführt. Auch die Analyse der Rechtslage bezieht sich auf den Zeitraum bis April 2018. Es ist zu erwarten, dass die starken politischen Veränderungen durch die Übernahme des Innenministeriums durch Matteo Salvini von der rechtsnationalen Lega Auswirkungen auf die Aufnahme und Integration von Migrant_innen in Sizilien hatten. Dies konnte jedoch aufgrund des Datenerhebungszeitraums für diesen Beitrag nicht untersucht werden.

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Mehrebenensystem, sowie Innovationspotenziale und Legitimationsprobleme im lokalpolitischen Kontext Siziliens als Beispiel für eine Region an den Außengrenzen der EU zusammenfassend diskutiert (Abschn. 3).

2 Multilevel Governance in der Europäischen Asylpolitik Die Europäischen Union besteht aus mehreren politischen Ebenen, die entsprechend der Reichweite und Implementationstiefe europäischer Politiken differenziert werden können. In der Regel werden die europäische, nationale, regionale und lokale Ebene unterschieden. Die Beschreibung des europäischen politischen Systems als ein Mehrebenensystem sagt jedoch noch nichts über die konkreten Verbindungen dieser Ebenen aus. ‘Multilevel Governance‘ ist dementsprechend keine theoretische Perspektive, die den Anspruch erhebt, Phänomene umfassend zu erklären oder vorherzusagen, sondern ein analytischer Rahmen. Er bezieht sich darauf, dass die verschiedenen Ebenen über geteilte Zuständigkeiten miteinander verflochten sind, sodass keine Ebene gänzlich autonom agieren kann (Scharpf 1985). Gleichzeitig ist keine Ebene vollständig durch die andere bestimmt; stattdessen sind die Ebenen eher lose gekoppelt und die Akteure agieren in wechselseitiger Abhängigkeit der unterschiedlichen Ebenen mit ihren spezifischen Gestaltungsspielräumen und Kompetenz bzw. Zuständigkeitsspielräumen (Jachtenfuchs und Kohler-Koch 2003). Der Rahmen für das Handeln von Akteuren auf den unterschiedlichen Ebenen wird durch formal-rechtliche Vorgaben bedingt. Dazu gehören die europäischen Verträge (Primärrecht) sowie europäische Rechtsakte (Sekundärrecht, z. B. Richtlinien und Verordnungen), ebenso wie nationalstaatliche Verfassungen, Gesetze und Verwaltungsanweisungen. Dabei werden die europäischen Regelungen in ihrer Wirkung auf die lokale Ebene zum Teil über die Umsetzung in nationales Recht „gefiltert“. Im Bereich der Asylpolitik besteht der rechtliche Rahmen insbesondere aus dem in der Einleitung genannten GEAS, dessen Rechtsakte Schutzgarantien für das Asylverfahren (beispielsweise die Dauer der Verfahren und Informationsrechte), die Aufnahmebedingungen (bezogen auf die Unterbringung, den Zugang zum Arbeitsmarkt, die Gesundheitsversorgung etc.), und den rechtlichen Status von Flüchtlingen festlegen. Hierzu gehören auch Schutzbestimmungen für besonders verletzliche Personen, wie z. B. unbegleitete Minderjährige oder Folteropfer (Kap. IV, Richtlinie 2013/33/EU). Die nationalen Regelungen, mit denen diese Vorgaben umgesetzt werden, werden in Abschn. 2.1.2 für den italienischen Fall erläutert.

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Allerdings sind Akteure nicht durch den formellen Rahmen determiniert, da Gesetze abstrakt sind und ausgelegt werden müssen. Sie eröffnen zudem zum Teil auch explizit Handlungsspielräume, indem z.  B. „kann“- statt ­„muss“-Bestimmungen formuliert werden. Die Interaktionen in der politischen Praxis können somit die Verfassungswirklichkeit verändern, was langfristig auch Rückwirkungen auf die rechtlichen Rahmenbedingungen haben kann (Jachtenfuchs und Kohler-Koch 2003). Gleichzeitig bedeutet die Handlungsmacht der Akteure, dass nicht nur die „legale Legitimierung“ (Legalität) politischer Systeme von Bedeutung ist, die durch die Einhaltung formaler Regeln entsteht. Vielmehr spielt auch die „kulturelle“ Legitimation, die sich übr die Akzeptanz und Anerkennung des Systems durch die Akteure konstituiert, eine Rolle für die Legitimität des Systems (Geißel 2012) sowie für dessen effektive Umsetzung. Damit stellt sich auch für die Asylpolitik die Frage, wie nationale und regionale Aufnahmesysteme in das europäische System eingebettet sind und wie diese Regelungen vor Ort umgesetzt werden. Die bisherige Forschung hat gezeigt, dass der Vergemeinschaftungsprozess der europäischen Asylpolitik die Entwicklung des italienischen Asylsystems stark beeinflusst hat (Wahnel 2011). Weniger berücksichtigt wurde bislang die Frage, wie die Regelungen in der Praxis auf der regionalen und lokalen Ebene wahrgenommen, umgesetzt und ggf. verändert werden. Diesen Fragen widmet sich der vorliegende Beitrag. Er fragt auch danach, wie das System auf die in den letzten Jahren stark gestiegenen Antragszahlen reagiert hat. In der Reaktionsfähigkeit auf Veränderungen lokaler Problemlagen zeigt sich die Innovationsfähigkeit der europäischen Flüchtlingsund Integrationspolitik. Der analytische Ansatz der Governance verweist darauf, dass nicht nur staatliche Akteure, sondern komplexe Akteurskonstellationen an der Gestaltung und Umsetzung rechtlicher Vorgaben beteiligt sind (Pierre und Peters 2012; Benz et al. 2007). Demzufolge müssen bei der Analyse der Praxis der Aufnahme und Integration von Geflüchteten auch nichtstaatliche Organisationen berücksichtigt werden. Dazu zählen insbesondere zivilgesellschaftliche Organisationen, die beispielsweise als Fürsprecher_innen für Geflüchtete agieren oder Dienstleistungen anbieten. Insbesondere Organisationen, die schon lange in dem Feld aktiv sind, sind dabei oft gut vernetzt und einflussreich (Pries 2018, S. 69 ff.). Sie stehen daher im Fokus der empirischen Datenerhebung für diesen Beitrag. Bevor näher auf die Aufnahmestrukturen für Migrant_innen in Sizilien eingegangen werden kann, werden kurz die Rahmenbedingungen der Migration nach Sizilien dargestellt.

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2.1 Aufnahme und Integration in Sizilien 2.1.1 Rahmendaten zu Migration und Flucht in Sizilien Als ehemaliges Emigrationsland ist Italien seit den 1970ern mit zunehmenden Einwanderungszahlen konfrontiert. Die Fluchtmigration nimmt insbesondere seit dem sog. „Arabischen Frühling“ zu. Für 2016 wurde ein „historischer Höchststand“ („massimo storico“) (ISTAT 2017, S. 1) neuer Aufenthaltsgenehmigungen für Asyl und humanitäre Gründe konstatiert. An den italienischen Küsten kamen im gleichen Jahr über 180.000 Migrant_innen an; 2017 sank die Zahl der Ankünfte auf knapp 120.000. Die meisten von ihnen kamen aus Nigeria und anderen westafrikanischen Staaten, aber auch Eritrea und Bangladesch zählten zu den Hauptherkunftsländern (UNHCR 2018). Der Großteil der über das Meer einreisenden Menschen erreichte Häfen in Sizilien, auch wenn die Menschen zum Teil später in andere Provinzen bzw. Regionen umverteilt wurden (ANCI et al. 2017, S. 69 ff.). Diejenigen, die in Sizilien verbleiben, leben dort mit unterschiedlichen aufenthaltsrechtlichen Titeln z. B. als Asylsuchende oder anerkannte Flüchtlinge. Andere bleiben trotz einer Ausreiseaufforderung irregulär im Land und arbeiten beispielsweise als Saisonarbeiter_innen in der Landwirtschaft (Scotto 2017). Fast 26.000 der in Italien angekommenen Migrant_innen waren unbegleitete Minderjährige (2016) (Ministero del Lavoro 2017, S. 9). Nur ein Teil von ihnen ersucht um Asyl; die anderen erhalten zumindest bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ein befristetes Aufenthaltsrecht aufgrund ihrer Minderjährigkeit (ANCI et al. 2017, S. 104 ff.).

2.1.2 Asylverfahren und Aufnahmestrukturen Das ursprünglich sehr rudimentäre italienische System für die Aufnahme und Integration von Geflüchteten und Migrant_innen wurde seit den 1990er Jahren reformiert und ausgebaut (Vincenzi 2000, S. 93f; Einaudi 2007, S. 50; SFH 2016, S. 14 f.). Dabei wurden auf Druck einiger Mitgliedstaaten sowie der EU einzelne restriktive Maßnahmen – insbesondere zur Bekämpfung der irregulären Ein- und Weiterwanderung – eingeführt. Dazu gehören beispielsweise Haftzentren für irreguläre Migrant_innen sowie verstärkte Abschiebemöglichkeiten (Zincone 2011, S. 267). Gleichzeitig wurden die Verfahrensgarantien für Asylsuchende erhöht und die Kapazitäten des Aufnahmesystems sukzessive erweitert (Wahnel 2011; SFH und Juss-Buss 2011, S. 4 ff.). Trotz dieser Reformen existiert jedoch bislang keine integrierte Asylgesetzgebung, stattdessen wurden bestehende Gesetze und Dekrete mehrfach verändert und ergänzt (SFH 2016).

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Das Verfahren nach der Einreise ist abhängig davon, wo der oder die Betreffende ankommt, aus welchem Land er oder sie kommt und ob ein Antrag auf Schutz gestellt wird. Asylanträge können grundsätzlich bei der Grenzpolizei oder der lokalen Polizeibehörde (Questura) gestellt werden. Zunächst wird nur das Asylgesuch aufgenommen, wobei auch die Daten für die Eintragung in die EURODAC-Datenbank (inkl. der Aufnahme eines Fotos sowie der Abnahme der Fingerabdrücke, das sog. fotosegnalamento) erhoben werden. Die formelle Antragstellung mit der Darlegung der Asylgründe erfolgt später mithilfe des Formulars C3 (modello C3 oder verbalizzazione) (AIDA 2017, S. 17 ff.). Der Antrag wird dann an die territorialen Kommissionen geschickt, die die Anhörung durchführen und die Entscheidungen treffen.9 Wird nach einer irregulären Einreise kein Asylantrag gestellt, so erhält die Person einen Zurückweisungsentscheid (provvedimento di respingimento). Dieser kann entweder sofort durch eine Ausweisungsanordnung aus der Verwaltung umgesetzt werden, in der vorübergehenden Unterbringung in einem Haftzentrum (Centro di Identificazione ed Espulsione, CIE)10 münden, oder lediglich mit einer Aufforderung einhergehen, binnen sieben Tagen das Land zu verlassen (ANCI et al. 2017, S. 21 f.; AIDA 2017, S. 14). Asylsuchende, die über das Mittelmeer einreisen, werden zunächst in Zentren für Erste Hilfe und Aufnahme (Centri di Primo Soccorso e Accoglienza, CPSA) untergebracht. Sie erhalten dort eine erste gesundheitliche Versorgung und können ihren Antrag registrieren lassen.11 Einige der Zentren fungieren als sogenannte europäische „Hotspots“, wo Vertreter_innen europäischer Institutionen operative Unterstützung leisten: EASO12 ist zuständig für die Auf-

9Die

Kommissionen bestehen aus je einem Mitglied der lokalen Präfektur, der Polizei (die beide dem Innenministerium unterstehen), des UNHCR und der Kommunalverwaltung (Dekret Nr. 303/2004). 10Diese Zentren wurden mit dem sog. Minniti Dekret umbenannt in Rückführungszentren (Centri di permanenza per il rimpatrio), sollen gleichzeitig verkleinert werden und die Menschenrechte der dort untergebrachten Menschen besser wahren als die vorherigen CIE (https://www.agi.it/politica/asilo_decreto_minniti_immigrati_ profughi_ migranti-1.667.239/news/2017-04-10/, (Zugegriffen: 08. April 2019). 11Siehe auch: https://www.interno.gov.it/it/temi/immigrazione-e-asilo/sistema-accoglienzasul-territorio/centri-limmigrazione (Zugegriffen: 08. April 2019). 12Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen/European Asylum Support Office, gegründet mit der Verordnung VO (EU) 439/2010.

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nahme von Asylanträgen, FRONTEX13 für die Identifizierung und Registrierung von Personen, und EUROPOL14 für die Bekämpfung internationaler Kriminalität (ANCI et al. 2017, S. 20). Gemeinsam mit dem Einwanderungsbüro der Questura und dem polizeilichen Erkennungsdienst sowie der jeweiligen Trägerorganisation des Zentrums registrieren sie die ankommenden Migrant_innen und sorgen für ihre Weiterleitung in die entsprechenden Folgeeinrichtungen (European Court of Auditors 2017, S. 36f; Medici Senza Frontiere 2016, S. 4). Neben der Registrierung wurde von diesen Zentren aus auch das Relocation-Programm der EU umgesetzt, durch das Geflüchtete aus Italien und Griechenland in andere Mitgliedstaaten umverteilt wurden (EASO 2016). In den CPSA sowie den Hotspots sollen die Asylsuchenden maximal 72 h verbringen (Kersch und Mishtal 2016, S. 115 f.). Nach der Registrierung des Asylantrags haben Asylsuchende in Italien rechtlich gesehen Zugang zum Aufnahmesystem, das aus der Erst- und Zweitaufnahme besteht. Die erste Stufe besteht aus den Aufnahmezentren (Centri di Accoglienza, CDA) und den Zentren für die Erstaufnahme (Centri governativi di prima accoglienza, ehemals Centri di Accoglienza per Richiedenti Asilo, CARA), in die Asylsuchende für die Durchführung ihres Asylantrags transferiert werden sollen (SFH 2016, S. 14f). Die Zweitaufnahme umfasst das Nationale System für den Schutz von Asylsuchenden und Flüchtlingen (Sistema Nazionale di Protezione di Richiedenti Asilo e Rifugiati, SPRAR), das 2002 eingerichtet wurde. Hierbei stellen lokale Träger (meistens die Kommunen) mit Mitteln des Innenministeriums Aufnahmeeinrichtungen bereit und kooperieren diesbezüglich mit einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure, insbesondere des Dritten Sektors. Das Ziel dieses Systems ist eine dezentrale Unterbringung und umfassende Versorgung, die die Integration der darin untergebrachten Personen fördert. Innerhalb von sechs Monaten soll der Integrationsprozess abgeschlossen sein und der/die Geflüchtete eigenständig in Italien leben können. In Vorbereitung darauf werden verschiedene Leistungen, wie zum Beispiel Sprachkurse oder Unterstützung bei der Arbeitssuche, erbracht. Die Teilnahme am SPRAR-System ist für die Kommunen freiwillig, sodass bislang nur ca. 40 % der Kommunen Plätze bereithalten (ANCI et al. 2017, S. 136). Die SPRAR-Zentren sind seit 2016 vorrangig für anerkannte Flüchtlinge vorgesehen; darüber hinaus sollen besonders

13Europäische

Agentur für die Grenz- und Küstenwache, gegründet mit der Verordnung (EU) 2016/1624. 14Strafverfolgungsbehörde der Europäischen Union, gegründet mit der Verordnung (EU) 2016/794.

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verletzliche Personen prioritären Zugang erhalten (ANCI et al. 2017, S. 139 ff.). Dazu zählen insbesondere unbegleitete Minderjährige, schwangere oder alleinerziehende Frauen, sowie Opfer von Menschenhandel und Personen mit psychischen Krankheiten und Traumata.15 Für verletzliche Gruppen gibt es zudem teilweise separate Unterbringungseinrichtungen und besondere Schutzgarantien. Minderjährige, die ohne Sorgeberechtigte in Italien einreisen, werden von der Kommune in Obhut genommen. Sie sollen laut Gesetz – unabhängig vom ausländerrechtlichen Status – nach maximal 30 Tagen von den Erstaufnahmezentren in SPRAR-Zentren für Minderjährige oder in Pflegefamilien umverteilt werden (Gesetzesdekrete 142/2015 und 47/2017; Regione Siciliana 2016). Nach dem Erreichen des 18. Lebensjahres können minderjährige Migrant_innen eine Aufenthaltsgenehmigung für Arbeit oder Ausbildung erhalten, und die gewährten Unterstützungsleistungen zur Förderung der Integration können bei Bedarf bis zum 21. Lebensjahr verlängert werden (ANCI et al. 2017, S. 52 f.). Für psychisch erkrankte Menschen und Opfer von Menschenhandel soll neben einer Unterbringung in gesonderten Einrichtungen auch der Zugang zu psychosozialer Versorgung gesichert sein (ANCI et al. 2017, S. 53). Da die Kapazitäten dieses regulären Systems der Erst- und Zweitaufnahme jedoch bei weitem nicht ausreichen, um alle Antragsteller_innen und Flüchtlinge unterzubringen, wird es durch Außerordentliche Aufnahmezentren (Centri di Accoglienza Straordinaria, CAS) ergänzt. Sie sind als Kompensationsmaßnahme für vorübergehende Engpässe gedacht und auf kurzfristige Aufenthalte ausgelegt. Die Aufnahmekapazitäten der CAS machen allerdings zwischenzeitlich einen Großteil des gesamten italienischen Aufnahmesystems aus (Tessitore und Margherita 2017). Asylsuchende in Italien haben seit 2015 in der Regel nach 60 Tagen Zugang zum Arbeitsmarkt (Gesetzesdekret 142/2015, Art. 22). Außerdem haben Geflüchtete in SPRAR-Zentren die Möglichkeit, Praktika oder Ausbildungen zu absolvieren, die zum Teil durch europäische, nationale und lokale Gelder subventioniert werden. Allerdings ist die Finanzierung für derartige Programme in der Regel projektbasiert und zeitlich befristet. Seit 2017 haben die Präfekt_ innen zudem die Möglichkeit, gemeinsam mit den Kommunen soziale Aktivi-

15Die

meisten der SPRAR-Zentren mit besonderen Zielgruppen – Minderjährige, Frauen, und Menschen mit (geistigen) Behinderungen – liegen in Sizilien (ANCI et al. 2017, S. 134 ff.).

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täten zu fördern, in denen Asylsuchende ehrenamtlich mitarbeiten können.16 Asylsuchende, die kein Einkommen erzielen, sind weitgehend auf die in den Unterbringungseinrichtungen erbrachten Sachleistungen angewiesen, da sie abgesehen von einem Taschengeld keine finanzielle Unterstützung erhalten. Noch schwieriger ist die Situation für anerkannte Flüchtlinge, sofern sie nicht (mehr) in einem SPRAR untergebracht sind. Sie sind italienischen Staatsangehörigen zwar formal gleichgestellt, da das italienische System jedoch vorrangig auf der Unterstützung durch die Familie beruht, sind Geflüchtete oftmals auf sich allein gestellt (SFH 2016, S. 49 f.). Auch in der Gesundheitsversorgung sind anerkannte Geflüchtete Italiener_ innen gleichgestellt. Sie erhalten eine Gesundheitskarte (Tesserino Sanitario) und haben damit vollumfänglich Zugang zur steuerlich finanzierten Gesundheitsversorgung. Die Voraussetzung hierfür ist die Eintragung ins Melderegister (Medici Senza Frontiere 2016, S. 14f). Das Gesundheitssystem ist auch offen für Ausländer_innen, die sich nur vorübergehend auf italienischem Boden befinden, wozu auch Asylsuchende zählen. Diesen Personen wird, wenn sie nicht über die erforderlichen Mittel für eine Behandlung verfügen, eine Karte (STP, Straniero Temporaneamente Presente) ausgestellt, die zur kostenfreien Behandlung berechtigt (Kersch und Mishtal 2016, S. 111 ff.; Medici Senza Frontiere 2018). Rechtlich gesehen hat Italien demzufolge die Regelungen der Europäischen Union für die Aufnahme und Integration geflüchteter Menschen weitgehend übernommen bzw. teilweise übertroffen, beispielsweise im Fall der Beschäftigungserlaubnis nach 60 Tagen anstatt nach neun Monaten (Art. 15, Richtlinie 2013/33/ EU). Auch die (fehlende) Gewährung von Sozialleistungen entspricht dem europäischen Recht, da dieses nur vorschreibt, dass anerkannte Geflüchtete die gleichen Leistungen erhalten sollen wie Staatsangehörige des aufnehmenden Staates (Art. 29, Richtlinie 2011/95/EU).

2.2 Umsetzung in der Praxis Die praktische Umsetzung dieser Regelungen weicht jedoch zum Teil von den rechtlichen Rahmenbedingungen ab. Das zeigen sowohl die im Rahmen dieser Studie durchgeführten Interviews als auch bestehende Evaluationen und

16Siehe

auch: https://www.asylumineurope.org/reports/country/italy/reception-conditions/ employment-education/access-labour-market (Zugegriffen: 08. April 2019).

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Erhebungen durch zivilgesellschaftliche Organisationen. Hervorgehoben wird dabei, dass sich das gesamte Aufnahmesystem in den letzten Jahren massiv weiterentwickelt hat, sowohl in Bezug auf die Regulierung und die im System ablaufenden Prozesse als auch auf die dahinterstehenden Denkweisen (I2_Frauen; I4_Advocacy)17 . Insbesondere wird der Auf- und Ausbau des SPRAR-Systems als dezentrale Unterbringung mit starkem Fokus auf Integration – anstelle einer bloßen Unterbringung und Verpflegung – von den Interviewpartner_innen positiv hervorgehoben (I1_Questura; I2_Frauen; I4_Advocacy). Für Minderjährige können die Angebote zur Förderung der Integration entscheidend für ihren Aufenthaltsstatus werden, da der Aufenthaltstitel mit Erreichen der Volljährigkeit in einen Titel für Arbeit, Studium, oder in Erwartung einer Arbeitsstelle umgewandelt werden kann, sofern zwei Jahre lang erfolgreich ein Integrationsprozess vollzogen wurde (I1_Questura).18 Die entsprechenden Angebote der SPRAR werden auf Basis der jeweils individuellen Bedarfslage gemeinsam mit lokalen Akteuren zusammengestellt. Beispielsweise entwickeln Schulen individualisierte Bildungswege entsprechend der Voraussetzungen der jeweiligen Minderjährigen (I3_UM). Dabei finden kommunale Akteure immer wieder kreative Lösungen, um mit den knappen verfügbaren Finanzmitteln auszukommen (s. a. Finotelli 2013). Auch die Seenotrettung und die darauffolgende Aufnahme der Ankommenden haben sich seit Beginn der Operation „Mare Nostrum“ massiv verbessert. War die fehlende Registrierung von Migrant_innen noch vor wenigen Jahren stark kritisiert worden19 , werden die von der EU vorgesehenen Verfahren, wie die Abnahme der Fingerabdrücke, nun weitgehend eingehalten. Allerdings werden

17Die

Interviews werden in diesem Beitrag durch eine Nummerierung und den inhaltlichen Schwerpunkt der jeweiligen Organisation gekennzeichnet (beispielsweise I2_Frauen für das Interview mit der Leiterin eines Aufnahmezentrums für Frauen). Eine Übersicht der geführten Interviews findet sich am Ende des Beitrags. 18Die Erfüllung dieses Kriteriums wird durch die Questura nur anhand der in den Zentren verbrachten Zeiten geprüft; Einzelprüfungen des „Erfolgs“ des Integrationsprozesses finden kaum statt, zumal die Anzahl der unbegleiteten Minderjährigen sehr hoch ist und davon ausgegangen wird, dass alle Zentren derartige Leistungen erbringen (I1_Questura). 19Die mangelnde formelle Registrierung ankommender Migrant_innen und fehlende Eingabe der Daten in EURODAC führte zu einem Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission, das jedoch nach der Verbesserung der Verfahren – auch aufgrund der Unterstützung durch EASO und der Umsetzung der Hotspots – und weitgehender Einhaltung der Standards Ende 2016 eingestellt wurde (https://europa.eu/rapid/ press-release_MEMO-16-4211_EN.htm; Zugegriffen: 08. April 2019).

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nur die Fingerabdrücke der Asylsuchenden in EURODAC eingespeist, während andere Migrant_innen nur in italienische Datenbanken aufgenommen werden (I1_Questura). Außerdem kommt die Umsetzung der geplanten Hotspots teilweise nur stockend voran (ANCI et al. 2017, S. 20 f; European Court of Auditors 2017).20 Darüber hinaus ist den Akteuren vor Ort zum Teil nicht klar, was genau das Konzept der Hotspots ist und wer an ihrer Umsetzung beteiligt ist (AIDA 2017, S. 20 ff.; I1_Questura). Trotz seines Auf- und Ausbaus bestehen weiterhin einige Probleme mit dem italienischen System der Aufnahme und Integration von Migrant_innen. Dazu zählen insbesondere die Länge der Asylverfahren sowie der Mangel an verfügbaren Plätzen im regulären Aufnahmesystem (I4_Advocacy). Dadurch ist ein Großteil der Menschen für mehrere Monate oder auch Jahre in den als Notfallmaßnahme gedachten CAS untergebracht. Dazu gehören im südöstlichen Sizilien trotz ihres prioritären Zugangs zu SPRAR-Zentren auch viele Minderjährige. Ihre Zahl war seit 2013 stark angestiegen und sie verbleiben in der Regel in der Provinz ihrer Ankunft, während insgesamt zu wenige Plätze in der Zweitaufnahme sowie in Pflegefamilien verfügbar sind (I4_Advocacy; I1_Questura; I5_Caritas).21 Durch die langen Verweildauern in den CAS werden die Integration und Eigenständigkeit der geflüchteten Menschen beeinträchtigt. Da sie für kurze Aufenthalte ausgelegt sind, reichen die von der Präfektur bereitgestellten Mittel nicht aus, um die über die Erstversorgung hinausgehende Unterstützung bereitzustellen, beispielsweise in Form von ausreichender Kleidung, aber auch Bildung, qualitativ hochwertiger Sprachförderung, Freizeitaktivitäten etc. (I3_UM; I4_ Advocacy). Das Problem wird dadurch verschärft, dass die vom Innenministerium bzw. der Präfektur bereitgestellten Gelder nicht immer regelmäßig an die Träger der CAS und der SPRAR überwiesen werden, sodass die Betreiber_innen der

20Siehe

auch https://www.lagazzettaaugustana.it/augusta-tra-lhotspot-e-il-centro-regionaledi-identificazione-immigrati/ (Zugegriffen: 08. April 2019). 21Die Knappheit der Plätze wird noch dadurch verstärkt, dass der Verbleib in den Einrichtungen auch über das Erreichen des Erwachsenenalters hinaus verlängert werden kann. Dies sichert einerseits Kontinuität für die betroffenen jungen Erwachsenen, verknappt aber die Plätze für Neuzugänge zusätzlich (I1_Questura). Neben dem national finanzierten Aufnahmesystem existieren Aufnahmezentren, die über den europäischen Asyl-, Migrationsund Integrationsfonds (AMIF) gefördert werden. Sie richten sich beispielsweise an besonders verletzliche Minderjährige aus (Bürger-)Kriegsgebieten (I2_UM).

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Zentren Zahlungsausfälle zumindest zeitweise aus eigenen Mitteln kompensieren müssen (I2_Frauen). Die Mitarbeiter_innen der Zentren versuchen, sich durch die interne Umverteilung und Ansparung von Mitteln sowie durch Kollaborationen mit anderen Einrichtungen zu behelfen (I3_UM). Darüber hinaus öffnen sich einige Zentren, insbesondere diejenigen für Minderjährige, nach außen und führen mit anderen Organisationen, wie z. B. den Kirchen oder den Pfadfinder_ innen, gemeinsame Aktionen durch, um die Integration ihrer Bewohner_innen zu fördern. Andere CAS-Betreiber_innen sind – auch auf Betreiben des Innenministeriums – externen Akteuren gegenüber weniger aufgeschlossen. Sie sehen beispielsweise Organisationen, die Geflüchtete über ihre Rechte informieren, primär als Störfaktor (I4_Advocacy). Eine weitere Schwierigkeit in der Praxis ist die Annahme, dass der Integrationsprozess nach sechs Monaten bzw. maximal einem Jahr Aufenthalt in den SPRAR abgeschlossen sein soll. Zu diesem Zeitpunkt sollen anerkannte Geflüchtete eigenständig in Italien leben und eine eigene Wohnung beziehen können. Die Autonomie ist in hohem Maße von der Arbeitsaufnahme abhängig, da es kaum finanzielle Unterstützung für Flüchtlinge gibt. Angesichts einer historisch hohen Arbeitslosigkeit in Sizilien ist dies jedoch für viele Geflüchtete ein schwer zu erreichendes Ziel, zumal sie oft kaum ausreichende Unterstützung beim Erlernen der italienischen Sprache sowie bei der Bewältigung potenziell traumatisierender Erlebnisse erhalten. Auch verfügen Migrant_innen – insbesondere Frauen – zum Teil nur über geringe Bildung und/oder berufliche Erfahrung (I4_Advocacy). Hinzu kommen teilweise kulturelle Differenzen bzw. eine fehlende Kenntnis des italienischen Arbeitsmarktes, sowie Vorurteile und Diskriminierung aufseiten der Arbeitgeber_innen (I2_Frauen; SFH 2016). Die Zentren versuchen, die Arbeitsaufnahme über Vermittlung von teils finanziell unterstützten Praktika zu fördern. Da jedoch auch hierfür nur begrenzte Plätze zur Verfügung stehen, müssen die Mitarbeitenden Prioritäten setzen. Sie geben daher teilweise abgelehnten Asylsuchenden den Vorzug, da sie durch die Arbeitsaufnahme demonstrieren können, dass sie einen Integrationsprozess vollziehen und somit unter Umständen eine Aufenthaltserlaubnis erlangen können (I2_ Frauen). Die angespannte Arbeitsmarktlage in Sizilien führt in Verbindung mit der geringen sozialen Unterstützung auch dazu, dass irreguläre und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse – beispielsweise in der Landwirtschaft, im Baugewerbe oder in der Gastronomie – florieren. Migrant_innen nehmen aufgrund ihrer prekären Situation diese Arbeiten eher an, selbst wenn sie nur mit 25 € pro Tag vergütet werden und die Arbeitgeber_innen hiervon zum Teil noch Anteile für

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Unterbringung oder Transport einbehalten (I5_Caritas; I6_Menschenhandel).22 Gleichzeitig steigt auch die Gefahr, dass Frauen sich prostituieren, entweder aus Mangel an anderen Perspektiven, oder weil sie als Opfer von Menschenhandel oder durch Familienangehörige dazu gezwungen bzw. gedrängt werden (I4_ Advocacy; I2_Frauen; I5_Caritas). Das Phänomen des Menschenhandels erhält in der letzten Zeit zunehmend Aufmerksamkeit, da es insbesondere unter neu einreisenden Frauen aus Nigeria offenbar weit verbreitet ist (I1_Questura). Mithilfe von Weiterbildungen durch die Questura werden die Mitarbeiter_innen der Aufnahmezentren für das Problem sensibilisiert und im Umgang damit geschult (I2_Frauen). Ein neues Gesetz bietet den Betroffenen zudem mehr Schutz, Unterstützung durch kompetente zivilgesellschaftliche Organisationen und die Möglichkeit einer Aufenthaltserlaubnis, um sie aus den entsprechenden Situationen zu befreien und ihnen Zugang zu einem regulären Aufenthaltstitel und Beschäftigung zu bieten (I6_Menschenhandel). In der Vergangenheit wurde die Beratung hauptsächlich von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) durchgeführt. Da die IOM jedoch aufgrund der Fülle ihrer Aufgaben nicht immer rechtzeitig reagieren konnte, wird inzwischen stärker mit regionalen Organisationen zusammengearbeitet (I2_ Frauen; Hintergrundinterview mit einer im Bereich Asyl aktiven Rechtsanwältin). Sie sind, gemeinsam mit der Caritas, zum Teil die einzigen Organisationen, die in den abgelegenen Gebieten präsent sind, wo Ausbeutung oftmals stattfindet (I6_ Menschenhandel; I5_Caritas). Wer keine reguläre Arbeitsstelle mit ausreichender Vergütung findet, hat in der Regel auch Schwierigkeiten, eine Wohnung anzumieten. Dies zieht Folgeprobleme nach sich, da ein fester Wohnsitz und die Eintragung ins Melderegister für anerkannte Flüchtlinge die Voraussetzung für den Zugang zum Gesundheitssystem sind. Hier werden wiederum zivilgesellschaftliche Organisationen der Wohnungslosenhilfe aktiv, die den Sitz ihrer Organisation zum Teil als fiktive Meldeadresse zur Verfügung stellen, um die gesundheitliche Versorgung wohnungsloser Menschen – inkl. Geflüchtete – zu ermöglichen (Medici Senza Frontiere 2018).

22Ein

Interviewpartner erläutert, dass es eine ethnische Schichtung des Arbeitsmarktes gibt. Diejenigen, die die Arbeitsstelle für ihre Aufenthaltserlaubnis benötigen, brauchen einen offiziellen Vertrag und ein Mindesteinkommen, während andere Nationalitäten und anerkannte Geflüchtete auch „schwarz“ und für sehr geringe Einnahmen arbeiten, wodurch Arbeitsrechte ausgehebelt werden (I5_Caritas).

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Eine besonders verletzliche Gruppe besteht aus Menschen mit physischen und psychischen Einschränkungen. Sie befinden sich an der Schnittstelle zwischen dem Aufnahme- und dem Gesundheitssystem. Anfänglich werden sie oft im Gesundheitssystem (stationär) behandelt, bevor sie in eine SPRAR-Einrichtung für besonders verletzliche Personen verlegt werden sollen. Allerdings sind auch hier die Plätze stark begrenzt, zumal die Einrichtungen in der Regel zu klein und zu wenig spezialisiert sind, um auf die besonderen Bedürfnisse der Menschen eingehen zu können (I4_Advocacy). Daher erhalten nicht alle Personen die jeweils notwendige Unterstützung. Weitere Probleme bestehen darin, dass die Mitarbeiter_ innen des Gesundheitssystems häufig nicht über ausreichende Erfahrungen verfügen, um Migrant_innen angemessen behandeln zu können. Darüber hinaus wissen sie oft nicht, dass es ehrenamtliche Kulturmittler_innen gibt, die bei Bedarf zur Unterstützung angefragt werden können (I2_Frauen; I4_Advocacy). In der Praxis zeigen sich somit einige Schwierigkeiten in der Umsetzung der europäischen und nationalen Regelungen. Das größte Problem sind die fehlenden Kapazitäten, um allen Anspruchsberechtigten die rechtlich vorgesehenen Leistungen gewähren zu können. Mehr als drei Viertel der Aufnahmekapazitäten bestehen aus der „Notfalllösung“ der CAS, während die Anzahl der Plätze in der strukturierten Erst- und Zweitunterbringung deutlich ungenügend ist. Dadurch sind die Unterstützungsleistungen nicht immer ausreichend, um die angestrebte Integration bewirken zu können. Probleme wie ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und Wohnungslosigkeit sind die Folgen.

3 Diskussion: Innovation und Legitimation an den europäischen Außengrenzen Insgesamt zeigen die Interviews ebenso wie die bisherigen Evaluationen der italienischen und sizilianischen Integrationspolitik, dass der Großteil der ­ Aufnahme- und Integrationsarbeit auf der lokalen und regionalen Ebene geleistet werden muss. Die Wahrnehmung der Akteure vor Ort ist, dass Sizilien und insbesondere die Provinz Siracusa die Grenze Europas darstellt und von Einwanderung besonders betroffen ist (I1_Questura). Diese Sichtweise wird unter anderem von Maurizio Ambrosini (2018) geteilt, der die Prozesse des „Rebordering“ nachzeichnet, wodurch Staaten an den Rändern der EU gänzlich zum Grenzraum werden, anstatt Grenzen zu haben. Mit den daraus resultierenden Aufgaben fühlen sich die lokalen Akteure sowohl von der Europäischen Union als auch vom italienischen Staat weitgehend allein gelassen. Vor allem das Dublin-System wird als unfair angesehen,

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da es Migrant_innen verbietet, in die Länder zu wandern, in denen aufgrund bestehender Beziehungen und größerer staatlicher Unterstützung die Integration leichter zu erreichen wäre: „[…] demzufolge ist die Entscheidung, einen Migranten [sic] um jeden Preis in Italien zu halten – meiner unmaßgeblichen Meinung nach – ein Mechanismus, der zu korrigieren wäre.“ (I1_Questura; eigene Übersetzung).23 An dieser Kritik hat sich trotz des R ­ elocation-Programms wenig geändert, da es nur eine Ausnahme von den generell geltenden Regeln darstellte und zeitlich begrenzt war (I4_Advocacy; I1_Questura). Deutlich stärker als die Rolle der EU für die Aufnahme Geflüchteter in Sizilien wurde in den Interviews jedoch die Rolle des italienischen Staates thematisiert. An der nationalen Ebene wird insbesondere kritisiert, dass die Zahlungen für die Zentren nicht regelmäßig und in angemessener Höhe geleistet würden (I2_Frauen; I3_UM), dass das System die Abhängigkeit von Unterstützungsleistungen befördert (I4_Advocacy) und dass es – auch aufgrund politischer Interessen – seit Jahren im „Notfall-Modus“ agiert, anstatt nachhaltige Lösungen zu finden (I5_Caritas). Diese Punkte können vor Ort kaum ausgeglichen oder geändert werden, bzw. werden sie durch fehlende Qualitätskontrollen und Misswirtschaft zum Teil noch verstärkt. Die Kontrolle der Trägerorganisationen ist aufgrund ihrer Vielfalt und Fluktuation sehr schwierig (I1_Questura)24, auch wenn die Aufträge für die Zentren formell per Ausschreibung mit relativ klaren Kriterien vergeben werden (I3_UM). Dadurch kommt es teilweise zur Veruntreuung von Geldern sowie zu schlechten Aufnahmebedingungen in einzelnen Zentren, die die Vorgaben der EU deutlich unterschreiten. Eine Interviewpartner_in hatte zudem den Eindruck, dass Sizilien bzw. die Provinz Siracusa jetzt „die Zeche bezahlt“ für eine schwierige Gesamtsituation in Italien (I3_UM). Dennoch sei die lokale Gesellschaft im Großen und Ganzen gastfreundlich und aufnahmebereit, was sich auch am ehrenamtlichen

23Die

Interviewpartnerin erläutert, dass die versuchte Verhinderung der Weiterwanderung vor einigen Jahren dazu geführt hat, dass sich viele Eritreer_innen die Fingerkuppen verwundet haben, damit ihre Fingerabdrücke nicht registriert werden konnten. Dadurch konnten sie in andere europäische Staaten weiterwandern, um dort Asyl zu beantragen. Die Interviewpartnerin nennt auch die inzwischen eingeführte Umverteilung von Geflüchteten innerhalb Italiens als positive Entwicklung, da Sizilien die Einwanderung nicht alleine bearbeiten könne. 24Dennoch gibt die Interviewpartnerin an, dass der Kontakt zu den Organisationen relativ gut sei, auch wenn ständig neue Aufnahmezentren entstünden und es daher schwierig sei, den Überblick zu behalten.

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Engagement und der Hilfsbereitschaft der Bevölkerung zeige.25 Dadurch werden vor Ort immer wieder Lösungen gefunden, um die fehlende Unterstützung von nationaler und europäischer Ebene auszugleichen. Demzufolge werden Legitimationsprobleme der aktuellen Asyl- und Flüchtlingspolitik vor allem auf der nationalen und europäischen Ebene verortet, während auf der lokalen Ebene durch Innovativität und Flexibilität versucht wird, auf Herausforderungen zu reagieren. Hierbei interagieren die verschiedenen Akteure und nehmen unterschiedliche Rollen ein. Die lokalen Akteure versuchen öffentliche Akteure anzuregen, ihre Aufgaben besser wahrzunehmen: „Der Privatsektor darf den öffentlichen nicht ersetzen, auch die Kirche darf den öffentlichen Sektor nicht ersetzen.“ (I5_Caritas; eigene Übersetzung). Darüber hinaus wollen sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen an die oberen politischen Ebenen weitergeben, um Reformen anzustoßen und mitzugestalten. Dadurch könnten theoretisch lokale Innovationen konsolidiert und die Legitimation des Systems insgesamt verbessert werden. Während jedoch der Zugang lokaler öffentlicher Akteure zur nationalen Ebene relativ strukturiert erscheint (I1_Questura), haben insbesondere kleinere zivilgesellschaftliche Organisationen mehr Schwierigkeiten, sich Gehör zu verschaffen (I5_Caritas; I2_Frauen). Gleichzeitig sind sie es, die vor Ort einen Großteil der Arbeit leisten und durch ihre Erfahrungen zu einem „lernenden System“ beitragen könnten. Sie setzen vielfältige Maßnahmen um und führen „ihre kleinen Kämpfe“ (I2_Frauen; s.a. I4_Advocacy), um die Situation der Geflüchteten vor Ort zu verbessern und auf Missstände aufmerksam zu machen. Internationale NGOs wie Save the Children oder auch EASO, die ohnehin die Arbeit der Zentren überwachen, könnten diese Informationen bündeln und an staatliche Akteure weitergeben (I3_UM). Ebenso können Organisationen, die aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung gut vernetzt sind, Reformen anstoßen und Veränderungen bewirken: So hat beispielsweise Caritas Italiana gemeinsam mit der Gemeinde Sant’Egidio und der Bischofskonferenz ein Abkommen mit dem Innenministerium geschlossen, um pro Jahr

25Beispielsweise

nehmen Privatpersonen zum Teil auf eigene Kosten an Kursen teil, in denen sie als Kulturmittler_innen geschult werden und helfen können, das Verständnis zwischen Behörden und Migrant_innen zu verbessern. Andere führen Nähkurse oder andere Aktivitäten mit den Bewohner_innen der Zentren durch oder übernehmen die Vormundschaft für unbegleitete Minderjährige (I2_Frauen; I3_UM; I4_Advocacy).

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150 besonders verletzliche Geflüchtete aus Flüchtlingslagern in anderen Staaten nach Italien zu holen (Projekt „Corridoi Umanitari“; I5_Caritas). Bislang werden jedoch viele der lokalen Lösungen und Kooperationen ad hoc und inkrementell entwickelt und im Rahmen des ständig am Limit agierenden Systems besteht kaum die Möglichkeit, strukturelle Verbesserungen umzusetzen (I4_Advocacy). Hierfür müssten sich die Akteure auf lokaler Ebene zunächst zusammensetzen und Erfahrungen austauschen – was zum Teil bereits passiert (I2_Frauen; I3_UM) – um diese dann auf der nationalen Ebene weiterzugeben und ein strukturiertes Aufnahmesystem zu entwickeln (I5_Caritas). Dabei müssten Mechanismen entwickelt werden, die auch die Output-Legitimation, d. h. die Effektivität der neuen Maßnahmen oder Strukturen, überprüfen und ihre Anwendbarkeit in verschiedenen Kontexten und auf verschiedenen Ebenen des Systems berücksichtigen. Zu dieser Entwicklung könnte auch die Europäische Union einen Beitrag leisten. Beispielsweise hat sie gezeigt, dass die Einhaltung der Regeln zur Registrierung von Migrant_innen auf Druck und mit Unterstützung der EU schnell umgesetzt werden konnte (European Court of Auditors 2017; I1_Questura). Um auch in Bezug auf die Aufnahme und Integration eine Leitfunktion zu übernehmen, müsste sie die Herausforderungen vor Ort (an)erkennen und entsprechende Unterstützungsmöglichkeiten entwickeln. Erste Ansätze im Rahmen des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) sind bislang nur punktuell und bei weitem nicht ausreichend, um die Kapazitäten des italienischen Aufnahmesystems in ausreichender Form auszubauen. Ein Zeichen stärkerer Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne einer gleichmäßigeren Verteilung der Aufgaben und Kosten von Aufnahme und Integration bzw. im Sinne einer Unterstützung ökonomisch schwächerer Mitgliedstaaten könnte demnach helfen, die aktuell schwache Legitimation und Effektivität der EU-Politik in den Staaten an den Außengrenzen der EU zu verbessern. Darüber hinaus müssten Innovationen der lokalen Ebene stärker berücksichtigt und strukturell verankert werden, um die Problemlösungsfähigkeit des gesamten Systems zu erhöhen. Angesichts der aktuellen politischen Divergenzen zwischen verschiedenen EU-Mitgliedstaaten sowie dem erstarkenden Rechtspopulismus scheint ein stärkeres Engagement der Europäischen Union sowie der nationalen Regierungen in der Aufnahme und Integration geflüchteter Menschen jedoch unwahrscheinlich. Stattdessen verfolgte der italienische Innenminister 2019 das Ziel, die irreguläre Zuwanderung zu verhindern. Mit dem „decreto sicurezza“ hat er eine

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deutliche Verschärfung des Aufenthaltsrechts durchgesetzt26 sowie gleichzeitig den Zugang zu SPRAR ausschließlich auf anerkannte Geflüchtete und unbegleitete Minderjährige begrenzt (Gesetz 132/2018). Dies erschwert potenziell die Arbeit lokaler zivilgesellschaftlicher Organisationen. Ihre bisherigen Aktivitäten, die immer wieder kreative und innovative Lösungen hervorgebracht haben, werden in manchen Kommunen durch Bürgermeister_innen unterstützt, die sich der Politik des Innenministeriums explizit entgegenstellen und den Ansatz einer inklusiven Stadtgesellschaft verfolgen.27 Derartige lokale und regionale Allianzen werden in Zukunft immer wichtiger, um Integration zu erreichen, wenn sich das nationale und europäische Klima weiter in Richtung Grenzsicherung und Abschottung verschiebt.

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26Unter

anderem wurde der nationale humanitäre Schutzstatus, der zuvor ca. einem Viertel der Antragstellenden zuerkannt wurde, durch zwei andere Schutzformen ersetzt, die mit geringeren Rechten ausgestattet sind. 27Siehe auch: https://fluechtlingsforschung.net/wer-in-palermo-ist-ist-palermitaner-eininterview-mit-burgermeister-leoluca-orlando/ (Zugegriffen: 08. April 2019).

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Liste der Interviews: I1_Questura: Vertreter_in der Questura di Siracusa, Ufficio Immigrazione I2_Frauen: Vertreter_in eines Aufnahmezentrums (SPRAR) für geflüchtete Frauen I3_UM: Vertreter_in eines Aufnahmezentrums (CAS) für unbegleitete Minderjährige (UM) I4_Advocacy: Vertreter_in einer Nonprofit-Organisation, die sich für Integration und kulturellen Austausch einsetzt I5_Caritas: Vertreter_in der Caritas in Ragusa I6_Menschenhandel: telefonisches Interview mit einer Vertreter_in einer Organisation, die sich für Opfer von Menschenhandel einsetzt

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Dr. Danielle Gluns; leitet am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim die Forschungs- und Transferstelle Migrationspolitik. Forschungsschwerpunkte: Migrations- und Integrationspolitik im europäischen Mehrebenensystem, Local Governance. Sie ist Sprecherin des Arbeitskreises Migrationspolitik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW). E-Mail: [email protected].

Teil III Innovation von unten – Politische Selbstorganisation und demokratische Partizipation

Refugee struggles in Germany between universal and particular claims

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Abimbola Odugbesan und Helge Schwiertz

Abstract

The authors analyze and compare the positioning of three migrant and refugee self-organizations: Women in Exile, Youth without Borders, and Lampedusa in Hamburg. They argue that even though their narratives and strategies are shaped by the pragmatic demands and competing particular claims of their specific groups, they also adhere to universal claims for the rights of all refugees and migrants. Examples are given for innovative political impulses by the examined refugee protests that call into question the legitimacy of the German-European migration regime and its system of stratified rights and legal statuses.

1 Introduction In the last decade, new protest movements self-organized by migrants and refugees as well as solidarity networks have emerged. These movements publicly fight against the exclusion of migrants and the denial of rights in the German-European border and migration regime. Besides relatively invisible ­ A. Odugbesan  Hamburg, Germany H. Schwiertz (*)  Osnabrück, Germany E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_10

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A. Odugbesan und H. Schwiertz

everyday acts of claiming the right to mobility and access to resources (Papadopoulos and Tsianos 2013), different forms of refugee protests have emerged that directly challenge migration policies through public action and campaigns (Ataç et al. 2015, 2016; Stierl 2018; Schwiertz 2016a, 2019).1 We understand self-organization as the idea of building resistance, political events, and initiatives based on the condition of a social group affected by specific structures of power and domination. These structures, which deprive them of their rights as well as the constant discrimination that they face, compel them to become active. This concept of self-organization includes directly affected people becoming active in groups that build collective structures of support, empowerment and, visible politics. Critically, they identify issues that they themselves consider a priority and decide how to shape and articulate demands on their own.2 In the following, we seek to provide an overview of the refugee movement, including its history, as well as a comparison of three struggles, which aims at analysing their specific approaches as well as commonalities. We have chosen the cases because of their specific social and political positionalities in the migration regime as well as in the wider movement: Women in Exile, a group of female refugees active since 2002; Youth without Borders (Jugendliche ohne Grenzen, JoG), an initiative of young refugees active since 2005; and Lampedusa in Hamburg, a collective of refugees active since 2013 that is especially affected by the Dublin regulation, requiring them to return to Italy, and that is connected to a broader fight for the right to the city. While the participants of these initiatives describe themselves mainly as refugees, we contextualize their form of ­self-organizing with other migratory struggles. As the struggles we analyze are based in Germany, we conceptualize the political context as a specific German-European migration regime (Schwiertz and Ratfisch 2016) that merges policies such as the German Residence Act and

1This

is a revised and shortened version of our article “‘We Are Here to Stay’—Refugee Struggles in Germany between Unity and Division” that has first been published in Rosenberger et al. (2018). We will use migration as the general term in this paper. However, in regard to the passages about specific struggles we mostly use the word refugee according to the self-definition of the actors involved. 2The concept of self-organization could therefore be distinct from pro-migrant organizing (Schwenken 2006, p. 71 f.). However, in other contexts, such as the US, where the concepts of community organizing or grassroots organizing already imply its meaning (Delgado und Staples 2008), it is only rarely used.

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the European Dublin regulation (Kirchhoff and Lorenz 2018). The German migration management has developed a differentiated “hierarchy of statuses” that offers structures of opportunity for some migrants as well as “a set of insuperable barriers for others” (Morris 2002, p. 30). The hierarchical system of non-citizen status ranges from: the illegalized position of undocumented migrants; to the de facto illegalized status of toleration (Duldung), which is according to the German Residence Act only a temporary suspension of deportation; to the temporary status of the permission to reside for asylum seekers; to different temporary residency statuses issued by other European member states, which prevent a person with such a status from obtaining many social rights in Germany; to various forms of time-limited and unlimited residency permits. The German migration regime furthermore encompasses a broad range of laws that result in the legal denial of rights e.g. by residential obligations (Residenzpflicht), which prohibit asylum seekers from leaving an assigned county or state, force them into compulsory collective accommodation, prohibit them from working, and making them dependent on food packages and vouchers. Thus, after crossing the external European borders, migratory struggles remain at internal borders through the continued fight against their removal, for the right to stay, and for accompanying social rights. We argue that the narratives and strategies of different migrant and refugee protest groups are based to a large degree on their specific positions that are rooted in post-colonial relations on a global scale and that are (re-)shaped by the German-European migration regime and its system of stratified rights and legal statuses. This hierarchical legal system and its division of migrants’ positionalities is therefore a major cause for conflicts within the broader movement of migratory and refugee struggles in Germany. In our analysis of the three cases, however, we also point out commonalities. We show that these struggle struggles do not only share characteristics of the specific mobilization of migrants with precarious legal status. Furthermore, we argue that refugee ­self-organizations invent new modes of political and democratic practices. Migrants and refugees are located at the borders of nation states and are therefore often excluded in many ways (Balibar 2008). They are not granted civil rights, so they have to refer to human rights that are supposedly worth nothing without national sovereignty, as Arendt argues (1968; Rancière 2004). However, the analysis of migrant self-organizations shows that they do not merely remain in a position without rights, but that they stand up for their legitimate rights against this disenfranchisement. They set in motion a “dialectic of human and civil rights” (Rancière 2011 p. 99) that disrupts the established order of belonging and social positions: “It allows man to exercise the rights of the citizen, and citizens

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the rights of man” (ibid.). Therefore, the borders of citizenship are challenged by transferring the qualities of the citizen into the sphere of ordinary life and by transferring the qualities of the human being into the sphere of civic activity. In this context, the practices of self-organization can be seen as a political “In(ter)vention” (Stäheli 2000 p.  269), which reveals the contingency of disenfranchisement and at the same time constitutes rights. By linking their particular struggles with a contentious reference to the universal of rights, migrants politicize human and civil rights. They stage the wrong that is done to them and emerge as political subjects, by questioning how their rights are neglected and, at the same time, claiming these rights. In this vein, they demonstrate new forms of political, radical-democratic practice that make alternative conceptualizations of democracy conceivable beyond their particular struggles (Schwiertz 2019). In the following, we first sketch the history of migratory struggles in Germany to highlight the continuities and ruptures of self- organization that still influence initiatives today. We then analyze our three cases in the main section of this chapter, in which we focus on their fight for the right to stay and social inclusion (housing, education, work permits, etc.). Finally, we will discuss the commonalities and differences of refugee struggles in Germany.

2 Migratory and Refugee Struggles in Germany 2.1 History and Transformation of Migrants’ Resistance Although migrants played leading roles in the labor strikes of the 1970 s and struggles concerning housing in the 1980 s, there is a gap in academic knowledge and social movement history about migrants’ resistance in Germany in the second half of the twentieth century (Karakayali 2008; Bojadžijev 2012). With diverse forms of protest and organizing, migratory struggles pushed for changes in the state, in civil society, and indeed in social movements themselves in Germany, “but they often were not as visible and audible as today” (Kanalan 2015, p. 12, translated from German by the authors). Despite unfavorable political conditions and opportunity structures caused by precarious legal status and their exclusion from political participation, many migrant-lobbying groups and associations emerged. These cultural, religious, or labor associations were often organized according to countries of origin. Critically, when they were incorporated into parties, unions, churches, or other organizations of mainstream society, they were more often than not in a subordinate position (Bojadžijev 2012).

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Interestingly, this shifted in the 1990 s, when migrant organizations emerged that organized around the broader struggle against racism and the racist mobilizations and attacks in the reunited Germany—rather than specific home countries. Similar to the Black Power movement in the US, empowerment and self-defense were priorities for groups like Antifa Gençlik, FeMigra, Café Morgenland, and KöXüz. They installed alarm phones to protect against racist assaults, organized demonstrations after arson attacks, and intervened against anti-migrant baiting in public discourses (Lenz and Schwenken 2002; Heck 2008; Bojadžijev 2012). Despite specific actions and demands, migrant ­self-organization and defense became a goal in itself. Relatively independent from German civil society and the leftist scene, they raised visibility through their own political positions. The aim of KöXüz—a name that derives from the Turkish word for “rootless”—was to organize beyond the limits of specific home countries. They sought to create a political space for all those who themselves could relate to the social category of migrant (KöXüz et al. 2000). Through the common migratory struggle, they aimed to bring together or align migrants from different social positions by articulating a political positionality of those affected by racism. As early as 1989, Roma who had not received asylum and were in danger of deportation organized several actions to fight for the right to stay in Germany (Heck 2008, p. 119; Brenner 2000). They organized protest marches and squatted at a concentration camp memorial near Hamburg, the Cologne Cathedral, and other places. Although their demands were not met, these mobilizations could be seen as one of the first visible struggles of illegalized migrants in Germany (ibid.). In the second half of the 1990 s, several self-organized groups of refugees emerged. They fought against the residential obligations, especially the collective accommodation system of refugee camps and deportations. The first political group of refugees living in camps emerged in eastern Germany, possibly because the isolation was more pronounced and there were a higher number of racist assaults in the East (Jakob 2016). For example, The Voice Refugee Forum was founded 1994 in a refugee camp in Thuringia. In the l­ead-up to the 1998 elections, this group was involved in initiating a Germany-wide network known as The Caravan for the Rights of Refugees and Migrants, who coined the anti-colonial slogan “We are here because you destroy our countries.” In 2000, following these actions, The Refugee Initiative Group of Brandenburg was established. On top of these organized groups and the everyday tactics of organizing a living despite disenfranchisement, several spontaneous protests of refugees took place inside collective accommodations and even in detention centers (Heck 2008, p.119). Under harsh conditions, with scarce resources, and

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with little public acknowledgement, the self-organized refugee groups continued their political practices in the 2000 s. At the turn of the century, Kanak Attak developed a new approach to organizing migratory struggles, which also reflected their positionality; most members were born in Germany and studied at German universities. Their framing shifted from defending the asylum law to going on offense with a claim for freedom of movement and the right to stay, using political art and theater as forms of protest (Gürsel 2013). In 2003, together with the Respect Network, the Refugee Initiative Group of Brandenburg, chapters of no one is illegal (kein mensch ist illegal, kmii), and other allies, they started a campaign calling for a broad legalization of migrants with the slogan “We are among you and we demand legal status!” (Association for Legalization 2004; Schwenken 2006). Furthermore, several “mixed organizations”, consisting of migrant and ­non-migrant activists, like Transact, Welcome 2 €pe, and ­AfriqueEurope-Interact, emerged that aimed to shed light on the situation of the European borders through, for example, setting up several No Border Camps. However, conflicts arose over the positionalities and the differentiation of migrant and nonmigrant activists, e.g. with disputes around the notion of whiteness at the No Border Camp in Cologne in 2012 and the distinction between “citizens” and “non-citizens” at the Refugee Struggles Conference in 2013, where migrant ­ activists with a residency permit were excluded from a meeting (Transact 2014; Kanalan 2015). Building on the struggles of the past, migrant activists set about “a new era of protest” in Germany and Europe in 2012 (From the Struggles Collective 2015; Ataç et al. 2015; Mokre 2018). Starting with a hunger strike of Iranian asylum seekers in the Bavarian town of Würzburg, different local struggles joined forces to form a broad, self-organized, radical, and highly visible social movement that broadly aimed to end the isolation and stop the denial of rights (Langa 2015; Ulu 2013). This group walked 600 km from Bavaria to Berlin with the Refugee Protest March, and upon arriving in Berlin established a protest camp on the Oranienplatz in the center of the city, followed by squatting in an empty school building in for a few months (Wilcke and Lambert 2015; Schwiertz 2016a). Soon after, some refugee activists went back to Bavaria and established a Munich-based initiative (From the Struggles Collective 2015). Beginning in 2013, the group Lampedusa in Hamburg also formed part of this new cycle of refugee protests, and this group forms part of our analysis together with the older initiatives of Women in Exile and Youth without Borders. In the following section, we describe their specific positionalities—as women, as youth, and as refugees with a legal status from Italy—in relation to their narratives as

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well as their protest and action repertoires. We provide a more detailed analysis of these groups, which emerged at different moments and which make particular claims, in order to understand the diversity of the wider migrant and refugee movement and its conflicting relations between unity and division.

2.1.1 Women in Exile The specific situation and positionality of female refugees in Lagers—collective accommodation where asylum seekers are obliged to live—became a crucial issue and led to particular narratives and forms of organizing. Within the compulsory collective accommodation system, “women and children were facing problems of a different kind […] such as lack of privacy, sexual harassment, and violence in the collective homes” (Women in Exile and Gürsel 2013, p. 88; Jakob 2016, p. 64 ff.). To make those specific problems visible, and in response to the prevailing disinterest of male refugees, a group of female refugees in Brandenburg founded Women in Exile in 2002. They felt “that refugee women are doubly discriminated against,” both as refugees (by anti-migrant laws and racism), but also as women (Women in Exile n. d.). Therefore, they also sought to challenge male dominance in the refugee movement and “are one of the few links between the women’s movement and the refugees’ movement” (ibid.). Women in Exile members visit the refugee camps and accommodations, which they call Lagers, to find out about the problems and needs of the residents, to discuss potential solutions, and, critically, to mobilize around their political struggle (Women in Exile and Gürsel 2013, p. 90). Self-organization is thus essential for building relations and credibility between the group and camp residents. The women from the camp are more likely to trust the organizers from Women in Exile, because they share similar experiences: “So you really have to talk to them and tell them what you have been through, give them the experiences. Then they can learn to trust you” (ibid., 94). Women in Exile organizes “Empowerment” seminars to inform women in the Lager about their rights and to encourage them to join the struggle as well as peer education seminars, where women are trained to become organizers themselves (Women in Exile 2013, p. 5). In addition to being a space for mobilization, the Lager, as a central institution of migration control, is also the most important target of the political organizing of Women in Exile (Women in Exile and Gürsel 2013, p. 95 f.). Although police inspections and the threat of deportation, the strict residency obligations, and the prohibition of work were—and are—important subjects, the women-specific issues tend to relate directly to the compulsory accommodation. As such, the main demand of the group has remained: “No Lager for women and children,

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abolish all Lagers” (Women in Exile 2013, p. 2). This slogan captures how Women in Exile frames their claims, oscillating between the particular and more general. In 2016, at the Refugee Conference in Hamburg, members of Women in Exile were part of a group that took over a panel discussion on self-organization and solidarity. This action further highlights how important speaking-for-oneself and the representation of female refugees is to them. Together with other refugee women and transgender people, they demanded an equal representation of men and women within the movement and a stronger awareness of their specific situation and perspectives (Kron and Perinelli 2016).

2.1.2 Youth Without Borders Self-organizing and speaking-for-oneself is also crucial for Youth without Borders (Jugendliche ohne Grenzen, JoG), which follows the principle that those affected have their own voice and do not need paternalistic politics. JoG is an association of young refugees that has different local chapters throughout Germany. Its beginnings can be traced back to the early 2000 s, when youth with a status of toleration or other precarious legal statuses began to organize themselves. They sought to overcome the limited position designated to them by the state and civil society by developing their own political positionality as well as corresponding narratives and protest forms. This initiative first focused on fighting for access to higher and professional education in Berlin. However, as some successfully gained access to universities and job training, they realized “that education and labor rights did not grant any durable solution, as long as the fear of deportation was omnipresent and ­long-term opportunities as well as social security were still denied” (Kanalan 2015, p. 5, translated from German by the authors). Therefore, the migrant youth extended their focus to beyond their specific situation of being young people excluded from education. This was, however, used in conjunction with a framing strategy that highlighted their disenfranchisement and vulnerable position relative to their peers with citizenship status. Inspired by the movement of Sans Papiers in France and other countries, refugee youth, some of whom later became involved in JoG, fought for a comprehensive right to stay. After fighting for the specific case of a 14-year old schoolgirl, the refugee youth organized an anti-deportation campaign called Stay Here (Hier Geblieben) in cooperation with a local counseling center, the refugee council, Pro Asyl (a non-profit organization), the Grips Theater, and the Education and Science Workers’ Union GEW (Hier Geblieben 2005).

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Out of this organizing structure, JoG was formalized in 2005 at a conference with 70 refugee youth from all over Germany. These conferences, which they have held every year since 2005 in the same city as the Conference of the Ministers of the Interior, became their main political space to organize and voice political demands. The refugee youth were empowered by self-organizing workshops, demonstrations, and gala nights, by representing themselves at press conferences and by personally meeting politicians to discuss and confront them with their demands. Similar to the political practices of Kanak Attak, JoG not only uses conventional protest forms such as demonstrations and speeches, but also political art and theatre to reach out to mainstream society and politicians (Jouni and Ziese 2016). Causing some tensions, the framing and claims of JoG were at times perceived as less radical than those of other groups in the refugee movement, as they also had short-term and mid-term goals to improve the precarious situation of at least some refugee youth (Kanalan 2015, p. 9). Particular claims based on their positionality as youth were crucial for the self- organizing of JoG, which led to a specific framing around youthfulness and several campaigns demanding an equal right to education and schools for all. However, despite these youth-specific claims, the “right to stay for all” has become a main slogan of JoG, reflecting the oscillation between particular and more general claims that we already described regarding the struggle of refugee women.

2.1.3 Lampedusa in Hamburg Parallel to the struggles occurring since 2012 in Berlin and Munich, a ­self-organized group of refugees that became known as Lampedusa in Hamburg emerged in northern Germany in 2013. This is a protest group of 300–350 refugees mainly from Sub-Saharan Africa, who had previously migrated to Libya and then fled from the civil war in the country that began in 2011 to Italy. They established their organization as a direct response to European migration laws. Coming from Italy where they had few opportunities to make a living, they challenged the limitations of free movement imposed by the Dublin regulation. In Hamburg, the group started to organize and develop collective political claims. Homelessness, the lack of health care, limited access to education, social exclusion, and a lack of basic social amenities—the denial of social rights—were the major challenges that motivated the group to form and organize themselves politically. All of the group members had already gone through the asylum procedure of recognition in Italy, having their identities checked, meaning that they all had Italian residency permits before they came to Hamburg. Therefore, having a refugee status issued by the

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Italian government shaped their social position: this status gave them no real access to social rights, but did give them some legal possibilities to move within Europe via a temporary tourist visa. For Lampedusa in Hamburg, the permission to work was vital for survival, since crisis-ridden Italy had nothing to offer; there was neither work, nor support for a living. Therefore, their specific positionality shaped their claim to a right to stay and work in Hamburg, which is encapsulated in their main slogan, “We are here to stay!”. This powerful slogan challenges the idea that refugees are only here for a temporary amount of time. The protest forms of the group therefore derive their strength from this declaration of legitimate presence. Most of their efforts attempt to make this slogan a reality and—together with supporters and networks of solidarity—demonstrate that the group is already part of the local community, even though the Hamburg Senate denies this. Their political self-organization and mobilization has also motivated political groups and civilians in Hamburg who have given humanitarian and political support, showing that the group is part of a common social space (Borgstede 2016). Lampedusa in Hamburg has engaged in a fundamental and vital struggle for their right to stay as well as for the rights of all refugees and migrants. Therefore, they began opposing procedures and laws that limited their right to dissent. On 05/22/2013, the group occupied the Town Hall, asking local authorities and particularly Mayor Olaf Scholz from the Social Democratic Party of Germany (SPD) to listen to their demands and start a dialogue; the politicians ignored these demands. As the struggle began to attract the attention of civil society and the media, the Senate of Hamburg, and in particular its governing party, the SPD, began to look for different opportunities to evict the group. One of these attempts involved using the St. Pauli church—which had provided shelter to some of the group members—as an intermediary. By November 2013, this tactic had forced some members of the group into a second asylum procedure with the precarious status of toleration. This could be seen as an attempt to discipline the Lampedusa in Hamburg protest by integrating the group members indefinitely into the procedures of German asylum law. Nevertheless, the group’s political campaign against the inequality in refugee policies became an increasing challenge for the local state authorities. This only increased following a major demonstration on 11/02/2013, where around 15,000 demonstrators marched in solidarity with the group. The visible and strong selforganization of the group brought together many political groups who were fighting for the same demands despite their political differences. Following the May Day Parade in 2014, some of these political groups came together and squatted in a building on behalf of Lampedusa in Hamburg and other refugees. It was a huge

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event under the banner of a much-needed Refugee Welcome Center. However, it ended when the police removed them from the building after a few hours. The state’s harsh rejection of the demands of Lampedusa in Hamburg became manifest, as another peaceful demonstration in front of the Hamburg Town Hall on 06/05/2014 resulted in repression, with the police brutally beating up and arresting members of the group (Lampedusa in Hamburg 2014). The police eventually targeted all major locations where the group members had been living, and began to stop and check the identity of any black person, which was an obvious case of racial profiling. Many of these racist identity checks were carried out in the left-wing neighborhood of St Pauli. In response, the neighborhood started a week-long protest action and the ongoing repression continued to attract the attention of civil society and the media. However, the struggle of Lampedusa in Hamburg went beyond marches, protest tent actions, and occupations. Based on their specific position of exclusion from social rights, they initiated different projects to realize their demands that the group was here to stay, and that they would work and create a life. Eventually, ver.di, a trade union, became a strong partner, when they registered over 150 people of the Lampedusa Group as union members. This also led to the initiation of Lampedusa Professions, a project that exhibits the qualifications and the various potential professional skills the groups have. Since then, Lampedusa Professions has also become an art project featured in exhibitions like ort_m– migration memory. As such, the group not only marches in the street for the right to stay and work; they also convert these demands into practical activities and in actual cultural projects. The group has also cooperated with the Kampnagel theatre on the Eco Favela and Migrantpolitan projects, and they are involved with the Silent University, Curating the City e.V., No Border Academy, the Here to Participate project (in cooperation with the Education and Science Workers’ Union (GEW)), and the Refugee Radio Network. The establishment of FC Lampedusa in Hamburg was another project of the group, aiming to develop skills and create opportunities for the soccer players among them. This soccer team was established with the support of FC St. Pauli. An interesting point about FC Lampedusa is that most of the earlier members of the soccer team had been members of Lampedusa in Hamburg and thus came from Sub- Saharan Africa. However, by 2015, the team had changed, with refugees from other countries of origin in the team. Although these new players have a different history, they are happy and excited to portray the identities and the struggle of Lampedusa, which points to its unifying potential. Although they have been included into the social networks of the city, the Senate of Hamburg has provided the group with no legal means for the right

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to stay and has instead ignored their case, hoping it will disappear through the voluntary return of the refugees to Italy. Nevertheless, despite the legal consequences of the Dublin regulation, the Senate could provide a group solution on the basis of §23 Residence Act (AufenthG). This could give them the right to stay and work in Hamburg (HAJ 2014; Kanalan 2014). As Lampedusa in Hamburg argues, there is a sound political demand for this group solution, as their members meet the criteria of the policy; they have almost the same background and have faced the same human rights abuses. However, it was civil society showed actual and genuine solidarity with Lampedusa in Hamburg, through the provision of accommodation, economic and logistical support, political understanding, and encouragement in their fight for rights. The humanitarian help and solidarity that the group experienced was much better articulated politically in comparison with the recent wave of civil engagement in the “summer of welcome” in 2015 (Karakayali and Kleist 2016). Even though Lampedusa in Hamburg could not succeed in pushing the Senate to grant them their rights, they managed to build a movement and a network that changed the social space of the city. Furthermore, they built a base from which to continue their struggle as well as contributed to the emergence of new alliances like Right to the City—Never Mind the Papers and other refugee, pro-migrant, and welcome initiatives. Recently, Lampedusa in Hamburg started to organize a political city tour that can be booked by schools, institutions, foundations or other initiatives. During the tour, organized together with Women in Action (NINA) and Cast Away Soul Denmark, refugee activists share their history, experience and give vital information from the perspective of immigration regarding issues of Hamburg and European politics as well as women’s living conditions in camps. Besides this local embedding of self-organized groups, Lampedusa in Hamburg has been involved in the transnational project of the Refugee and Migrant Parliament in Brussels, with a first session on 22nd October 2018. On this occasion, ­self-organized refugee and migrant groups from 16 €pean states came together to discuss migration at the European Parliament.

2.2 Comparisons: Different Positionalities of Refugee Self-Organization By analyzing different initiatives, we have stressed that the positionality within, and against, the dominant migration regime is the crucial starting point for the self- organization of refugees and migrants. These groups all shared the idea

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of developing self-organized political practice and resistance grounded in the specific situation of the social group in order to defend their rights and shape their political demands. Critically, one main strategy of the migration regime has been to isolate refugees and migrants, deny them a legitimate subject position, and silence their voices (Monforte and Dufour 2013; Ataç et al. 2015; Schwiertz 2016a; Mokre 2018; Hinger et al. 2018). As a result, when these activists make their demands public, it is a key moment of self-organization, as they are making their own situation visible. Most groups emerge from an attempt to organize themselves and build a structure due to their personal issues and problems. And it is from this point that they develop and raise their demands. For Lampedusa in Hamburg, this was the right to stay in the city, but also more specifically the permission to work and gain recognition of their Italian documents. In ­asylum-seeker protests, such as the Refugee Protest March to Berlin, the right to stay is also a central claim. However, they are also specifically fighting against the German asylum system in order to be recognized. Almost all refugee struggles call for the abolition of the German and European asylum system and demand their right to stay, but they organize themselves based on different situations and conditions related to their specific experiences and status in Germany. Their diverse positionalities relate to distinct “identities, experiences and perspectives” (Leitner et al. 2008, p. 163). To a large extent, these different positionalities are derived from the stratified German-European migration regime, which produces a hierarchy of legal statuses, from full citizenship to illegality. Besides separating migrant subjectivities, this can create relative privileges and cause conflicts as well as internal challenges for organizing refugee and migrant struggles (From the Struggles Collective 2015, 21 ff.). People from Lampedusa in Hamburg and other groups with Italian documents are in a different legal position than asylum seekers. At the Oranienplatz Camp in Berlin, it was a major challenge to bring together people with different legal statuses, as they did not always share the same specific demands; this led to huge conflicts. This stratified system of rights is produced by the state and is related to a (post-)colonial “divide-and-rule strategy” that led to rifts in the movement and made the eviction of the Oranienplatz Camp possible (Langa 2015, p. 8). Furthermore, groups in the migrant movement also differ according to intersectional power relations. Organizing around gender relations, Women in Exile fight specifically for refugee women’s rights and against patriarchy and male domination. Another specific positionality results from the category of age, leading JoG to focus on education and struggles particular to the rights of refugee minors and youth. Additionally, the compassion, solidarity and support

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of citizens in relation to selforganized struggles are important. Their role has been critically discussed with refugee activists, asking if claims based on their positionalities have been neglected, or in which way the distinction between refugees and supporters is itself problematic (Ulu 2013; Rosenberger and Winkler 2014; Mokre 2015; Ünsal 2015). In the migrant and refugee movement, some self-organizations are more visible, powerful, and privileged than others because of their positionality in the migration regime. When Lampedusa in Hamburg started organizing, some refugees, who had been stuck in the German asylum system for years, had the impression that they were not included in this process. They had the feeling that the public did not recognize their situation in the same way. Furthermore, the activists from Lampedusa in Hamburg were not fully under German authority: If they got in trouble with law enforcement, they would be at worst deported back to Italy, where they have legal status. This gave them a relatively privileged position, and made more militant action possible, e.g. the protest at the Town Hall. However, it also allowed the group to join other struggles that were not as privileged, and to even go outside Europe. To do so, the group has shared part of their resources and has built a structure, like the info-tent, which other refugees have also been able to use. According to their positionality and the specific problems and priorities that a given group identifies, migrant and refugee protests produce different frames and narratives. Their collective framing processes lead to “action-oriented sets of beliefs and meanings that inspire and legitimate the activities and campaigns” of the different groups (Benford and Snow 2000, p. 614). As we have shown in the last chapter, Lampedusa in Hamburg has a specific story and on this basis, they demand their rights. They mainly argue for a right to stay for the 300–350 people of the group for two reasons: First, they claim that they are victims of the NATO war in Libya; second, that they already have Italian documents and working permits, but that the Italian state has failed to take responsibility for their lives in Italy. That their narrative focused on primarily claiming a right to stay for the group members also had strategic reasons. It is more realistic to approach the Senate of Hamburg, other politicians, and the broader public to demand a right to stay for around 350 people than to demand a right to stay for everybody. This made some supporters withdraw their solidarity, because they had the impression that Lampedusa in Hamburg had made themselves an exclusive group. Many self-organized migrant and refugee groups have particular and pragmatic demands based on their particular situation, which can lead to sharp criticism by left-wing and other groups. However, compared to left-wing citizen activists—who already have full citizenship rights—refugee self-organizations

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cannot wait for structural change and the right to stay for everybody. They have a vital self-interest in changing things as soon as possible, because they are affected every day by the regulations that they are pushing to change. For this reason, many refugee groups struggle to frame their demands in a way that can also resonate with dominant discourses, which would allow them to negotiate with politicians and other officials. In the context of this limiting migration regime, the attempt to build more inclusive organizations with differently positioned participants and alternative narratives remains a constant challenge for migratory movements across the globe (Schwiertz 2016b).

3 Conclusions In this chapter, we have analyzed three different forms of refugee struggles in order to understand how refugees and migrants organize themselves within and against the dominant migration regime. We showed that specific social and political positionalities, shaped by the German-European migration regime and its hierarchy of legal status, greatly influences the diverse and sometimes contradicting narratives and strategies of different initiatives. According to actor positionalities that we investigated in all cases, the framing of initiatives often oscillates between universal claims for the rights of all refugees and migrants and particular claims for the rights of their specific social group. The demand “No Lager for Women and Children” is characteristic for the narrative of Women in Exile, which focuses specifically on how the collective accommodation system of the Lager affects women and their families. Still, their slogan also entails the demand to “Abolish all Lagers,” therefore including a claim for the rights of all refugees. However, fighting not only against the migration regime and racism but also against patriarchy, they are also challenging male activists within the refugee movement in an effort to make their own specific position more visible. The crucial contribution of Women in Exile has been to construct a platform for refugee women and to empower them to become political actors against all odds. This has also been the case with Youth without Borders (JoG), which created a unique social space for young refugees that has encouraged them to connect to each other and become politically active. Their slogan “Right to Stay for All” indicates a narrative that is generally open, yet at the same time, their organizing and framing builds on a specific positionality as youth. On the basis of a shared history, Lampedusa in Hamburg, with its slogan “We are Here to Stay,” mainly focuses on claiming a right to stay and social rights in the city for the group and its members. Nevertheless, the slogan also

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indicates the legitimate presence of all refugees and migrants. The achievement of the Lampedusa group has been to mobilize thousands of citizens in Hamburg to support and join their struggle, which was not only been visible in large scale demonstrations, but especially in the close- meshed networks built in the neighborhood of St. Pauli. In doing so, Lampedusa in Hamburg stimulated not only new activities around anti-racist politics and the right to the city, but they also laid the groundwork for broad refugee support in 2015. By analyzing the specific practices and structures of refugee self-organizing, we do not want to picture them isolated. There is an ambivalence of autonomy and cooperation: refugee struggles need their own spaces and approaches but at the same time non-migrant activist and the civil society of receiving countries— including other marginalized communities—need to act in solidarity with them. The hierarchical legal system and its division of migrants’ positions, characteristic of the German-European migration regime, shape the narratives and strategies of different self-organizing attempts. Despite this dividing regime of control, migrant and refugee groups repeatedly form networks beyond their particular struggles. The potential for a common perspective is already visible in many forms and aims of self-organizing, functioning as protest repertoires that emerging initiatives reproduce. Against the background of an aggravated, authoritarian „return of the national“ since 2015 (Kasparek et al. 2017), we see an even greater need to build broad alliances between emancipatory struggles— alliances that, however, do not again marginalize the positionalities of refugee self-organizing. For this purpose, the three groups analyzed in this chapter organize the antiracist network We’ll Come United together with numerous other self-organized as well as pro-migrant initiatives since 2017. On 29th September 2018, they joined in for the largest anti-racist parade in the city of Hamburg, bringing together over 30,000 people and associating their different demands. The Refugee self-organizations that we have analysed open up the perspective of an inclusive political movement that constructively turns and shapes the field of tension between universal and particular claims. The concrete manifestation of refugee struggles in Germany shows that they not only call into question the legitimacy of the German-European migration regime, but also set innovative impulses in a broader sense. First, they demonstrate how it becomes possible to be present in reception societies without a safe legal status and full citizenship and to position oneself politically with critical reference to these societies' structures. Although they are not granted a legitimate status as citizens, they make themselves citizens in a political sense (Balibar 2008; Isin 2008). Thereby, they transform notions of citizenship at the same time. Second, by referring to their concrete interests and group-specific concerns, they demonstrate that they

Refugee struggles in Germany between universal and particular claims

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are de facto already part of and participate in shaping political communities in reception societies. For example, Lampedusa in Hamburg shows how refugee self-organisations do not merely fight for their recognition and participation, but also change local communities and initiate new forms of social cohesion and relationships of solidarity. In doing so, they restructure and change (urban) political public spheres in a constructive way that focuses on opening particular political communities to transnational claims, collectivities and imaginaries. Albeit the differences of refugee struggles, we can understand their interventions as democratic practices (Schwiertz 2019). Refugee struggles emerge out of a specific situation and they develop therefore particular rights claims. At the same time, their struggles involve a form of rights bearing that enact a universal principle of rights. As they struggle to improve their situation by their desire to become free and equal subjects, they actualize these democratic principles for all.

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Odugbesan, Abimbola; Lampedusa in Hamburg, Silent University, democratic school FLeKS and Pan Africanists Forum Munich. E-mail: [email protected]. Dr. Schwiertz, Helge;  Social Scientist, Institute for Migration Research and Intercultural Studies (IMIS), University of Osnabrück. Research Interests: Migration Research, Citizenship Studies, Political and Social Theory. E-mail: helge.schwiertz@uni-osnabrueck. ­­ de.

Lokal, transnational, global? – Zur politischen Selbstorganisation von Migrant*innen und Geflüchteten

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Stefan Rother

Zusammenfassung

Der Kommentar widmet sich der Frage nach den Herausforderungen, aber auch Chancen von migrantischen Selbstorganisationen im globalen Bezugsrahmen. Um ihre konkreten Anliegen und Interessen international geltend zu machen, müssen Migrant*innen und Geflüchtete sich entlang verschiedener Politik-Ebenen organisieren. Globale Dachorganisationen und „Netzwerke von Netzwerken“ haben mit Problemen der Repräsentativität und Legitimität zu kämpfen. Dennoch – so wird anhand von empirischen Beispielen gezeigt – bieten globale Arenen gegenüber einem restriktiven nationalen Kontext zahlreiche Vorteile und die Selbstorganisationen von Geflüchteten leisten einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung internationaler Foren und Politikprozesse. In ihrem Beitrag legen Abimbola Odugbesan und Helge Schwiertz am Beispiel Deutschlands eindrucksvoll dar, wie sich Flüchtlinge im nationalen – meist auch spezifisch lokalen – Kontext selbst organisieren. Dabei oszillieren die vielfältigen Organisationen in ihrem Aktivismus zwischen universalen und partikularen Interessen. Diese Anliegen lassen sich grob den verschiedenen Ebenen der Governance von Flucht und Migration zuordnen. Die unmittelbare wie zentrale Ebene für Protest, Aktivismus und im weiteren Sinne Teilhabe ist sicherlich die lokale – da dort die zentralen „Institutionen und Infrastrukturen angesiedelt sind, S. Rother (*)  Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_11

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S. Rother

die Teilhabe ermöglichen sollen und deshalb hier Ausschlüsse unmittelbar spürund thematisierbar werden“ (Hamann und Vollmer 2019, S. 366). Odugbesan und Schwiertz analysieren zum einen diese lokalen Kämpfe anhand von drei Fallstudien – Women in Exile, Jugendliche ohne Grenzen und Lampedusa in Hamburg – positionieren sie andererseits in einem weiteren Raum, darunter dem nationalen Kontext (mit Regelungen wie der Residenzpflicht) sowie einem „Deutsch-Europäischen Migrationsregime“. Diese Ebenen werden in dem Beitrag überzeugend miteinander verknüpft, es werden Hierarchien und konkurrierende Narrative aufgezeigt. Weniger Aufmerksamkeit widmen die Autoren der globalen Ebene – hier belassen sie es in erster Linie bei einem Verweis auf die Prägekraft „postkolonialer Beziehungen“. Diese Einschränkung spiegelt einerseits den Hauptfokus der untersuchten Bewegungen wider; andererseits lohnt es sich durchaus, auch über eine Verbindung der globalen und lokalen Ebene sowohl der Politikgestaltung als auch der politischen Selbstorganisation zu reflektieren. Dies bietet sich insbesondere vor dem Hintergrund an, dass Migration und Flucht als globale Politikfelder in den vergangenen Jahren verstärkt Aufmerksamkeit erfahren haben. Dazu haben wesentlich die Ausarbeitung von, die Kontroversen um und der letztliche Beschluss der „Global Compacts“ beigetragen. Hierbei handelt es sich um den „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“, im Deutschen verkürzt und eher irreführend „Migrationspakt“ genannt, sowie des „Global Compact for Refugees“. Bei den beiden compacts handelt es sich um umfassende Dokumente, die im Dezember 2018 von einer großen Mehrheit der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen (VN) beschlossen wurden. Rechtlich sind beide nicht bindend, sodass es rückblickend wohl klüger wie auch zutreffender gewesen wäre, anstelle des besonders im Deutschen sehr bindend klingenden „Pakts“ eher von „Migrationszielen“ zu sprechen – vergleichbar den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDGs). Zu den in den compacts formulierten Zielen zählen Bemühungen um Integration, Anerkennung von Qualifikationen, der Zugang zu grundlegender Versorgung und bessere Standards für die Rekrutierung von Arbeitsmigrant*innen ebenso wie das koordinierte Management von Grenzkontrollen, der Kampf gegen Menschenhandel und Kooperation bei der Rückkehr von Migrant*innen. Der Refugee Compact sammelt in einem „Comprehensive Refugee Response Framework“ zudem teils sehr konkrete Politikziele und nennt als Maßgabe, dass Geflüchtete möglichst von Beginn an in die Gesellschaft der Aufnahmeländer miteinbezogen werden. Auch wenn hier Zugänge zu Bildung und dem Arbeitsmarkt im Vordergrund stehen,

Lokal, transnational, global? – Zur politischen …

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kann auch politisches Engagement und Raum für Mitwirkung in dieses Ziel eingeschlossen werden. Insbesondere der Migrations-Compact wurde mit gezielten Kampagnen aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum sowie auch von Regierungen, wie z. B. von Ungarn, massiv attackiert; doch auch vonseiten der Zivilgesellschaft gab es Kritik an der als unzureichend empfundenen Formulierung und Zielsetzung der Dokumente (Schierup et al. 2019). Unabhängig von der Bewertung gilt aber als weitgehend unstrittig, dass diese beiden Dokumente in den kommenden Jahren die wesentliche Grundlage für den Diskurs auf der globalen Ebene bilden werden. Doch wird ihre Auswirkung nicht auf diese diskursive globale Ebene beschränkt bleiben, da die Umsetzung auf der Ebene der Welt- und Subregionen sowie im nationalen Kontext erfolgen soll. Für die Selbstorganisationen von Migrant*innen und Geflüchteten ergeben sich hieraus Herausforderungen wie auch Chancen. Eine Herausforderung ist, dass längerfristig auch die Politik vor Ort von den compacts beeinflusst werden kann, den lokal orientierten Initiativen aber oft die materiellen Ressourcen für ein globales Engagement wie auch die tiefergehende Kenntnis über diese Diskurse fehlt. Andererseits bietet sich auch die Chance einer zusätzlichen globalen Arena, um auf Konflikte vor Ort aufmerksam zu machen, was insbesondere in einem restriktiven nationalen Kontext nicht immer gelingen kann. Auch kann versucht werden, durch Engagement auf der globalen Ebene quasi über Bande zu spielen – indem man dort einerseits Anliegen anbringt, andererseits versucht, nationale Entscheidungsträger durch Verweis auf die compacts hinsichtlich der Umsetzung unter Druck zu setzen, vorausgesetzt sie haben diesen zugestimmt. Um dies zu erreichen, müssten sich auch die Selbstorganisationen von Migrant*innen und Geflüchteten entlang der verschiedenen Politik-Ebenen organisieren. Im Sinne einer „governance von unten“, könnten dann lokale Organisationen durch ihre Mitgliedschaft in nationalen, regionalen (z. B. EU oder (Südost)asien) und globalen Dachorganisationen und „Netzwerken von Netzwerken“ ihre konkreten Anliegen einbringen und Interessen formulieren. Die globalen Netzwerke würden dann in einer zweifachen Hinsicht als Transmissionsriemen fungieren: einerseits um die Forderungen der Mitglieder in globale Prozesse einzubringen, andererseits um die Ergebnisse von und Informationen über diese globalen Foren an ihre Mitgliedschaft zurück zu koppeln. Eine solche Organisationsform ist nicht einfach nur ein Idealtypus – Formierungsprozesse über mehrere Ebenen hinweg lassen sich auch empirisch beobachten. Sehr deutlich wurde dies, als bei den Aushandlungen

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S. Rother

zum Migrations- Compact ein Civil Society Action Committee als Dachorganisation gegründet wurde, das mittlerweile 30 Mitgliedsorganisationen umfasst. Gemeinsam sollen Strategien entwickelt werden, wie die Interessen von Migrant*innenorganisationen bei globalen Prozessen vertreten werden können und die Zivilgesellschaft – auch jenseits der formalen Mitglieder – über neue Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten werden kann, etwa in Form von Webinaren. Hier konnten die Organisationen auf rund eineinhalb Jahrzehnte Vorarbeit und Engagement bei Prozessen wie dem Global Forum on Migration and Development (GFMD) und den beiden High Level Dialogues on Migration and Development der Vereinten Nationen aufbauen. So gibt es mit der Global Coalition on Migration bereits eine Dachorganisation, die Mitglieder in allen Weltregionen hat, wenn auch mit regional teils ungleicher Gewichtung. Schwieriger gestaltet sich eine solche Struktur im Rahmen der Selbstorganisation von Geflüchteten. Hier sind Ressourcen in der Regel noch geringer, ein unsicherer Status erschwert politisches Engagement und eine Organisation über Ziel- und Herkunftsländer hinweg ist nicht nur eine große Herausforderung, sondern möglicherweise auch nicht auf dem Radar der Organisationen und Geflüchteten, die sich nachvollziehbarer Weise zunächst auf ihre konkrete Situation vor Ort konzentrieren wollen. Das erklärt auch die starke Rolle von Unterstützungsorganisationen in diesem Bereich – wobei Flüchtlingssolidarität oft nur eine allenfalls indirekte Teilhabe ermöglicht (Huke 2019). Dies spiegelte sich auch beim Einfluss der Zivilgesellschaft auf den Refugee Compact wider. Während es im Bereich der (Arbeits-)Migration eine Vielzahl von Akteuren gibt, dominierte im Bereich Flucht das Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) mit Sitz in Genf; dementsprechend konzentrieren sich dort auch viele zivilgesellschaftliche Akteure, die zudem tendenziell einen professionalisierten-konsensualen Ansatz verfolgen (Rother und Steinhilper 2019, S. 246). Dennoch gelang es bei den Verhandlungen zum Refugee Compact auch einem neugeschaffenen Verbund, dem Network for Refugee Voices (NRV), Einfluss auf die Debatte zu nehmen und die etablierten Akteure herauszufordern (ibid.) Hier zeigen sich aber auch die grundlegenden Herausforderungen solchen Engagements: Zum einen hinsichtlich der Repräsentativität und Legitimität – das NRV wurde insbesondere von Geflüchteten aus Syrien initiiert – zum anderen hinsichtlich des Zugangs und der Nachhaltigkeit. Bei dem ersten Global Refugee Forum im Dezember 2019 in Genf, bei dem die Umsetzung des compacts diskutiert werden sollte, rühmte man sich zwar, dass unter den rund 3000 TeilnehmerInnen auch 80 Geflüchtete waren; zu Wort kamen bei den diversen Veranstaltungen dann aber nahezu ausschließlich RepräsentantInnen,

Lokal, transnational, global? – Zur politischen …

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die ­Erfolgsgeschichten vorzuweisen hatten. Dies mag hinsichtlich eines positiven framings zwar eine durchaus sinnvolle Maßnahme sein, verhinderte aber eine Diskussion über grundlegende Ursachen von Flucht und Vertreibung sowie über die schädlichen, wenn nicht gar tödlichen Auswirkungen etwa der EU-Politik im Bereich Flucht. Idealerweise wäre die Reaktion der Selbstorganisationen darauf, eigene Politikräume zu schaffen, die sowohl hinsichtlich der behandelten Themen als auch der TeilnehmerInnen weitaus inklusiver sind. Im Bereich Migration ist dies seit rund 15 Jahren durch die Etablierung der People’s Global Action on Migration, Development and Human Rights (PGA) gelungen, die parallel zu zentralen globalen Events, insbesondere dem GFMD, stattfindet – zuletzt im Januar 2020 in Quito. Die im Bereich der Selbstorganisation von Geflüchteten bekannten Herausforderungen treten auch hier zutage, darunter Kosten am Standort Genf, Zugang via Visas etc. Dennoch gibt es bereits etablierte Foren, wie die International Assembly of Migrants and Refugees (IAMR), die sich klar als gegenhegemonische Plattform zu den dominanten globalen Diskursen sieht (Rother 2018) und in der etwa auch das im Beitrag von Odugbesan und Schwiertz behandelte The Voice Refugee Forum aktiv ist, das 1994 in Thüringen gegründet wurde. Die von Odugbesan und Schwiertz herausgearbeiteten unterschiedlichen wenn nicht gar konkurrierenden Agenden der Akteure sind auch in solchen Foren zu beobachten – etwa das Spannungsfeld zwischen konkreten Politiken vor Ort und fundamentaler Opposition zu den herrschenden Verhältnissen und die Diskussion darüber, wo sinnvolle Mitwirkung endet und delegitimierende Kooptation beendet. Doch widerstreitende Interessen, unterschiedliche Formen von Repräsentativität und Legitimität sowie eingeschränkte Wirkungsmächtigkeit finden sich auch in den meisten anderen Politikfeldern und sind schwer zu umgehende Begleiterscheinungen eines pluralistischen Demokratieverständnisses. In diesem Sinne kann die Selbstorganisation von Geflüchteten und Migrant*innen auch als Beitrag zur Demokratisierung internationaler Foren und Politikprozesse verstanden werden1.

1Zum

Spannungsverhältnis von Migration und Demokratie siehe auch die Beiträge in dem in dieser Reihe erschienenen Sammelband „Migration und Demokratie“.

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S. Rother

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PD Dr. Stefan Rother; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arnold-Bergstraesser-Institut und Privatdozent am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg, Forschungsschwerpunkte: Internationale Beziehungen, globale und regionale Migrationspolitik. Sprecher des Arbeitskreises Migrationspolitik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW), E-Mail: [email protected].

Über einige Vorläufer des „Summer of Migration“ – Flüchtlingsbewegung und Soziale Arbeit als Innovationsprodukte und Innovationsgeneratoren

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Andreas Kewes Zusammenfassung

Im theoretischen Bezugsrahmen von wissensanalytischer Diskursforschung und dem Ansatz der Streitpolitik (Contentious Politics) aus der Bewegungsforschung wird die Konfliktstruktur deutscher Asylpolitik in historischer Perspektive empirisch untersucht. Ausgehend von politisch umstrittenen Praktiken und Wohnformen in der Erstaufnahme von Geflüchteten seit den späten 1970er Jahren analysiert der Autor die Wirkweise und Stabilisierung von gesellschaftsprägenden Deutungsmustern für unterschiedliche Entwicklungsphasen deutscher Asylpolitik. Herausgearbeitet wird das Wechselspiel antagonistischer Positionen in Gestalt einer restriktiven nationalen „Politik der Abschreckung“ auf der einen Seite und Innovationen seitens der Sozialen Bewegungen für Geflüchtete auf der anderen Seite. Letztere legitimieren Hilfehandeln und sind bis heute in der Sozialen Arbeit wirkmächtig. Der Beitrag ist im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Entwicklung der Flüchtlingssozialarbeit und der Rolle der Geflüchteten selbst mit dem Akronym ETAPSA entstanden. Ich danke der Fachkonferenz Soziale Arbeit an der Universität Siegen für die freundliche Bereitstellung finanzieller Mittel und Chantal Munsch für zahlreiche anregende Gespräche und Gedanken. A. Kewes (*)  Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_12

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1 Einleitung In einem politischen Gipfel im Kanzleramt im Frühjahr 2015 – die Asylbewerber_innenzahlen waren bereits ansteigend – war erstmalig auch eine Geflüchtetenselbstorganisation mit am Tisch. Dabei handelte es sich um Jugendliche ohne Grenzen. Ihr damaliger Sprecher, Nelli Foumba Soumaoro, war ins Kanzleramt eingeladen worden und verkörperte damals die Stimme derjenigen, die bislang nur Gegenstand der Gespräche gewesen waren.1 Im gleichen Jahr startete das Boulevard-Blatt Bild die Aktion Wir helfen # refugeeswelcome und fragte, wie denn jeder und jedem Geflüchteten geholfen werden könne. Eine Antwort auf diese Frage war damals, dass man sich doch mit den jeweiligen Landesflüchtlingsräten in Verbindung setzen möge, diese wüssten in den regionalen Themen am besten Bescheid.2 Dies sind nur zwei unter zahlreichen Beispielen, die zeigen, dass während des sogenannten langen Sommers der Migration3 organisierte Geflüchtete und Migrant_innen plötzlich eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erhielten und auch politisch Themen setzen konnten. Die Kompetenzen dieser Akteure wurden auf einmal als wertvoll geschätzt und angefragt. Ihre Deutungsmuster fanden öffentliche Anerkennung. Vor diesem Hintergrund lautet die Fragestellung dieses Beitrags, mit Blick auf welche Konfliktstruktur sich die Relevanz der beiden Beispiele erschließen lässt? Denn außerhalb des langen Sommers der Migration, d. h. mit Blick auf die Zeit vor und nach der starken Einwanderungsbewegung in den Jahren 2015 und 2016, scheint es doch eher unwahrscheinlich, dass die Stimmen von Geflüchteten und Migrant_innen in der breiten Öffentlichkeit Gehör finden können. Die Betrachtung dieser Frage im historischen Kontext scheint lohnenswert, denn das

1Vgl.

die Meldung des Westfälischen Anzeigers hierzu unter: https://www.wa.de/hamm/ hamm-mitte-ort370531/hamm-gruppe-jugendliche-ohne-grenzen-integrationspolitischerdialog-berlin-5196256.html (Zugegriffen: 05. Februar 2019). 2 https://www.bild.de/news/inland/fluechtlingshilfe/bild-aktion-wir-helfen-refugeeswelcome-42387340.bild.html (Zugegriffen: 05. Februar 19). 3Die Phrasen langer Sommer der Migration oder Summer of Migration bezeichnen weniger normativ jene Migrationsprozesse des Jahres 2015, die ansonsten als Flüchtlingskrise bezeichnet werden. Mir geht es in diesem Aufsatz darum, die Genesis einer Haltung zu skizzieren, mit der die Ereignisse des Sommers 2015 (nicht) als Flüchtlingskrise bezeichnet werden.

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politische Engagement von Geflüchteten und migrantischen Selbstorganisationen ist ja keineswegs ein neues Phänomen in der deutschen Gesellschaft.4 Im Folgenden sollen zunächst der theoretische Zugang, Datengrundlage und Analyseschritte erläutert werden, bevor ich mit Hypothesen zur Vorgeschichte des langen Sommers der Migration in die Diskussion einsteige.

2 Theoretischer Zugang, Datengrundlage und Analyse Im theoretischen Bezugsrahmen des contentious politics-Ansatzes (Cinalli 2016) wird deutlich, dass die Auseinandersetzung zwischen sozialen Bewegungen, Flüchtlingssozialarbeit, und etablierter Asylpolitik Ausdruck eines sehr fundamentalen gesellschaftlichen Streits ist, an dem nicht nur Bewegungsakteure sondern mittelbar auch andere zivilgesellschaftliche Gruppen teilnehmen. Contentious Politics meint übersetzt Streitpolitik (Teune 2008, S. 532). Der Begriff wird in der Analyse von gesellschaftlichem Strukturwandel und in Verbindung mit sozialen Bewegungen verwendet. Im Rahmen dieses Forschungsansatzes wird davon ausgegangen, dass sich in unterschiedlichen Formen eines Streits über politische Programmatiken ähnliche Mechanismen und Prozesse der Politikentwicklung auffinden lassen (siehe auch Tilly und Tarrow 2012). Dieser theoretische Ansatz wird gegenwärtig in der Bewegungsforschung breit rezipiert (Atac et al. 2016). Im Unterschied zu anderen Ansätzen der Bewegungsforschung geht er jedoch über das Studium von konkreten sozialen Bewegungen und Formen des kollektiven Handelns hinaus, insofern er nicht nur auf das konkrete Handeln weniger Bewegungsakteure fokussiert, sondern auch andere Akteure als Regierungspolitik und Soziale Bewegungen berücksichtigt. Als spezifischer Ansatz eignet sich hier auch die Idee der transgressive contention (McAdam et al. 2001, S. 7 ff.). In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren werden neue politische Akteure mit innovativen Forderungen und unkonventionellen Mobilisierungsformaten

4Die

historische Betrachtung migrantischer Selbstorganisationen und ihrer öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland bildet bis dato ein Forschungsdesiderat. In der Bewegungsforschung wird diese Thematik häufig in Rekurs auf die kritische Migrationsforschung und ohne systematische historische Betrachtung diskutiert. Ansätze der kritischen Migrationsforschung, die diesb. eine Rolle spielen, sind etwa Isin und Nielsen (2008), Isin (2009), Nyers (2015), Mezzadra (2010) oder auch Schwiertz (2016), Steinhilper (2017), Atac et al. (2016). Einen stärker historischen Fokus bieten hingegen Bojadžijev (2008), Jakob (2016) und Seibert (2008).

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sichtbar, die transgressive Potenziale entfaltet haben. Im analytischen Bezugsrahmen der transgressive contention kann über die Wahrnehmung von Opportunitäten und den strategischen Einsatz von Deutungsmustern (Framing) auf der mikropolitischen Ebene die Wirkweise und Stabilisierung von Deutungsmustern auf der Makro-Ebene thematisiert werden. Datengrundlage bildet die Sekundäranalyse im Sinne der Literaturstudie zeitgenössischer Asylrechts- und Forschungsliteratur. Der ­Ausländerrechts-Experte Fritz Franz berichtete von einer „Flut von Asylrechtsliteratur“ für die beginnenden 1980er Jahre und zudem von einer Reihe hochkarätig besetzter und international bedeutsamer Tagungen, zumeist in Kooperation mit der O ­tto-Benecke-Stiftung, die anschließend publizistisch aufgearbeitet wurden (Franz 1981). Quellen, die innerhalb der sozialen Bewegungen breit rezipiert wurden, sind ausgewertet und durch Archivgüter ergänzt worden, darunter Publikationen von Bewegungsakteuren, Exponate privater Sammlungen und öffentlich zugängliche graue Literatur. Darüber hinaus wurden Interviews und Gespräche mit Multiplikator_innen geführt. Ziel war dabei, zu einer ausgewogenen Einschätzung der zeitgeschichtlichen Bedeutung des verwendeten Materials zu gelangen. Die Auswertung der Daten orientiert sich an der wissensanalytischen Diskursanalyse (Keller 2011). Sie zielt darauf, „Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinn-, d. h. Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen (kollektiven) Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren.“ (S. 59). Eine an Keller anschließende Diskursanalyse rekonstruiert das konkrete diskurs- und handlungsstrukturierende Wissen. Dieser Zugang wird in der ­ Absicht verwendet, Hypothesen zu formulieren. Ein Anspruch auf Vollständigkeit des zugrunde liegenden Datenmaterials wird nicht gestellt, zumal eine umfassende Medienanalyse den Rahmen des hier vorliegenden Beitrags gesprengt hätte. Gleichwohl wird davon ausgegangen, dass die vorliegende Diskursrekonstruktion in Verbindung mit dem Ansatz der „contentious politics“ forschungsrelevante Einsichten liefert.

3 Zur Vorgeschichte des langen Sommers der Migration Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre gab es drei diskurstheoretisch und handlungspraktisch relevante asylpolitische Veränderungen. Diese brachten Wissensordnungen zum Ausdruck, die bis in die 2010er Jahre hinein

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antagonistisch wirkmächtig blieben. Im der asylpolitischen Diskussion stehen seither verschiedene Umgangsweisen mit Flucht und Asyl im Widerstreit. Im Verlauf des Textes entwickle ich diese These in Auseinandersetzung mit diesen drei asylpolitischen Veränderungen und ihrer Wahrnehmung im öffentlichen Diskurs. Es geht dabei erstens um die Erstaufnahme von Geflüchteten in Deutschland seit den 1970er Jahren, die eine Veränderung der Geflüchtetenzahlen explizit und für die breite Öffentlichkeit erkennbar macht. Der Anstieg der Asylbewerbungen wurde seither zum politischen Streitfall, was die Dezentralisierung von Unterbringung und Asylverfahren zur Folge hatte. Parallel dazu war zweitens die Zuspitzung asylpolitischer Diskurse in abwertenden Bezeichnungen, wie „Scheinasylant_ innen“, „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Asyltourismus“ beobachtbar.5 Diese Redeweisen sind Deutungsraster im Sinne des „Framings“, die mit der Einschränkung des Asylrechts einhergingen. Manche sprachen diesbezüglich offen von einer Politik der Abschreckung (Ausländerkomitee Berlin (West) e.V. 1981; Zepf 1986). Drittens wurden im Handeln von sozialen Bewegungen aber auch konträre Deutungsmuster virulent. Sie brachten Sichtweisen und Haltungen zum Ausdruck und legitimierten helfendes Handeln, das seither mit der Flüchtlingssozialarbeit assoziiert wird. Diskutiert wird im Folgenden auch die Frage der Wirksamkeit von sozialen Mechanismen, die im Sinne der unbeabsichtigten Nebenfolgen absichtsvollen Handelns zu der Institutionalisierung einer flüchtlingssolidarischen Bewegung beigetragen haben. Damit soll keineswegs die m. E. zu weit reichende Einschätzung nahegelegt werden, die deutsche Asylpolitik hätte sich aus den Lösungsversuchen eines Unterbringungsproblems heraus oder gar als dialektischer Prozess entwickelt. Stattdessen stellen die nachfolgenden Ausführungen den Versuch dar, die beschriebenen Dynamiken in der deutschen Asylpolitik unter Verweis auf die Auseinandersetzung zwischen etablierter Politik und sozialen Bewegungen, sowie dem intervenierenden Charakter Sozialer Arbeit, zu verstehen.

3.1 Die Frage der Unterbringung Ein heute vergleichsweise wenig diskutierter Gegenstand ist die sich verändernde Unterbringungspraxis von Geflüchteten in den 1970er Jahren. Dies ist

5Diese

Begriffe werden bereits Ende der 1970er Jahre verwendet, so auch im Bundestag, (dazu Klausmeier 1984, S. 41 ff.; Deutscher Bundestag 1978, S. 8032).

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bemerkenswert, denn mit der Dezentralisierung der Unterbringung haben sich nicht nur die Akteurskonstellationen und das Machtgefüge der deutschen Flüchtlingspolitik nachhaltig verändert. Am empirischen Bezugspunkt der politischen Praxis der Wohnraumversorgung von Geflüchteten lassen sich ferner die veränderten Deutungs- und Interaktionsmuster von Teilen der Ankunftsgesellschaft und Geflüchteten wie unter einem Brennglas gebündelt beobachten. Eine ehemalige Gendarmerie-Kaserne in Zirndorf in Franken war lange Zeit das Bundessammellager für Geflüchtete und zudem Standort des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, der Vorläuferbehörde des heutigen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. In besagtem Lager wurden Geflüchtete nach dem Erreichen der Bundesrepublik Deutschland untergebracht, idealerweise bis zur Beendigung ihres Asylverfahrens. Damit war auch das Verwaltungsgericht Ansbach zuständig für Klagen gegen Asylbescheide; auch dies ist ein Umstand, der noch wichtig wird. Bereits während der frühen 1970er Jahre wurde das Lager überbelegt, und es wurde ein Aufnahmestopp verhängt (Spaich 1982, S. 43 f.).6 Lokalen Zeitungsberichten zufolge hätte es unhaltbare Zustände vor Ort gegeben, es wird von Angst seitens der lokalen Bevölkerung gesprochen, aber auch von Bürgerwehren (ebd.). Anhand der aus dem Ruder laufenden Unterbringungssituation in Zirndorf sei der Eindruck erweckt worden, Flucht sei eine nicht zu bewältigende, vielmehr Unruhe und Gefahr bringende gesellschaftliche Aufgabe (Poutrus 2016, S. 885). Dieser Eindruck sei insofern auch politisch gewollt gewesen, als bereits in den 1960er Jahren diskutiert wurde, das Lager zu erweitern oder einen zusätzlichen Standort zu eröffnen (ebd.). Im Jahr 1974 wurde dann eine Vorwegverteilung der Asylbewerber_innen auch auf andere Bundesländer beschlossen, anerkannte Asylbewerber_innen waren bereits in den Jahren zuvor nach einem Schlüssel auf die Bundesländer verteilt worden (Theis 1981). Als problematisch diskutiert wurde damals die Standortgewinnung für derartige Sammellager ebenso wie die Finanzierungsfrage, bzw. die Aufteilung der diesb. Verantwortung zwischen Bund, Ländern und Kommunen (Klausmeier 1984, S. 97 ff.). In diesem Zusammenhang ist auch die Frage diskutiert worden, ob die Bundesländer die Erwerbstätigkeit der Asylsuchenden einschränken sollen oder ob Geflüchtete sich nicht auch über eigene Erwerbstätigkeit eine Wohnung auf dem Mietmarkt finanzieren können (Zepf 1986, S. 73).

6Die

Zahl der Asylbewerber_innen war zu Beginn der 1970er Jahre von 11.664 (1969) auf 5.289 (1972) gefallen und stieg dann zunächst moderat, später steiler bis zum Höchstwert 107.818 (1980) an. Anschließend sanken die Zahlen bis auf 19.737 (1983) und stiegen anschließend wieder an (Zepf 1986, S. 57).

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In der Konsequenz dieser Politik wurden nun „plötzlich die meisten Landkreise der Bundesrepublik als örtliche Träger der Sozialhilfe mit der Aufnahme von Asylbewerbern [sic] konfrontiert mit der Folge, daß [sic] nun nicht mehr nur aus Bayern der Ruf nach einer Änderung des Asylverfahrens kam, sondern aus allen Teilen der Republik.“ (Münch 1992, S. 73). Der Freistaat Bayern hatte damit seine „institutionelle Sonderrolle“ im Feld der Flüchtlings- und Asylpolitik in Teilen eingebüßt (Poutrus 2016, S. 888). Noch weitestgehend unberücksichtigt ist, dass damit auch eine zusätzliche Zahl an Sozialarbeiter_innen benötigt wurde, weswegen dieses Feld Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre entstand und teilweise auch von Quereinsteiger_innen besetzt wurde. Diskursanalytisch ist dieses Thema doppelt interessant: Nicht nur werden im Zusammenhang mit der Frage der Unterbringung eindeutige Konnotationen vorgenommen. Geflüchtete werden als „Umweltverschmutzung“ geschmäht und Politiker_innen wollen ihren Wahlkreis „sauber halten“ (Spaich 1982, S. 52). Auch die mit der Unterbringung verbundene Solidaritätsfrage im Sinne der gesellschaftlichen Verantwortung und Bereitschaft des Teilens spiegelt sich in der Kritik und den Forderungen von Geflüchteten und den unterstützenden sozialen Bewegungen (s. u.). Es entwickelt sich also ein mehrfach negativ konnotiertes Bild „der“ Geflüchteten in Teilen der Gesellschaft: Sie werden für Unruhe und die Störung des lokalen Friedens verantwortlich gemacht, gelten als „undankbar“ für die ihnen zuteilwerdende Hilfe und werden als „Problem“ wahrgenommen. Am Beispiel der Unterbringung wird deutlich, wie sich ein gesellschaftliches Stigmatisierungswissen in Form von Vorurteilen entwickelt, durch die Geflüchtete untrennbar mit Gefahr, Überforderung und Undankbarkeit in Verbindung gebracht werden.

3.2 Die Politik der Abschreckung Neben der gesetzlichen Neuregelung zugunsten der Dezentralisierung der Unterbringung erfolgten in den späten 1970er und 1980er Jahren weitere Asylrechtsnovellierungen, die hier kurz skizziert werden sollen, da sie gleichermaßen Ausgangspunkt und Bestandteil der sich entwickelnden Streitpolitik sind. Zunächst wurden eine Reihe von Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung in der Entscheidung über Asylanträge ergriffen. Hintergrund war nicht nur die Dauer der Asylverfahren von mehr als sechs Jahren bei Ausschöpfung aller Rechtsmittel (Münch 1992, S. 72); mit dem Beschluss der Verfahrensbeschleunigung reagierte der Gesetzgeber vielmehr auch auf den Druck seitens der Bundesländer und Kommunen, die mittlerweile mit der Aufnahme von

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Geflüchteten konfrontiert waren, eine „Integration in die deutschen Lebensverhältnisse“ aber vermeiden wollten (ebd., S. 73). Zu nennen wären diesbezüglich das Erste und Zweite Beschleunigungsgesetz von 1978 und 1980. Im ersten Gesetz wurde das Recht auf Widerspruch gegen den Verwaltungsentscheid in den Widerspruchsausschüssen beim Bundesamt abgeschafft. Dennoch blieb ein Verfahren beim Verwaltungsgericht offen. Berufungen gegen dessen Entscheide wurden bei Oberverwaltungsgerichten für die Fälle abgeschafft, in denen der Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wurde. Entsprechend der bundesweiten Verteilung der Asylsuchenden wurde das verwaltungsgerichtliche Verfahren dezentralisiert. Die Verfahrenseröffnung wurde dadurch auch bei anderen Verwaltungsgerichten als dem Verwaltungsgericht Ansbach möglich. Da sich die Asylverfahren aufgrund dieser Regelung nicht verkürzten, sondern eher zu einer stärkeren Belastung der Verwaltungsgerichte führten, trat am 23. August 1980 das zweite Beschleunigungsgesetz in Kraft, welches vorsah, dass die aus drei Personen bestehenden Anerkennungsausschüsse beim Bundesamt durch weisungsunabhängige Einzelentscheider abgelöst werden sollten.7 Als „flankierende Sofortmaßnahme“ (Münch 1992, S. 83) zum zweiten Beschleunigungsgesetz wurde ab Juni 1980 zudem eine Sichtvermerkpflicht, d. h. eine Visumspflicht für die Hauptherkunftsländer in Asien und Afrika erlassen. Diese betraf Afghanistan, Äthiopien, Sri Lanka, Indien, Bangladesch, und die Türkei. Menschen aus diesen Ländern mussten in der jeweiligen deutschen Botschaft vorab ein Einreisevisum nach Deutschland beantragen und konnten ohne dieses nicht einreisen. Dabei war man sich in der Bundesregierung durchaus darüber bewusst, dass damit auch politisch Verfolgten der Zugang zur Bundesrepublik unmöglich gemacht wurde. Dieser Schritt wurde jedoch gerechtfertigt mit der Bemerkung, dass eben nicht unbegrenzt den politisch Verfolgten auf der Welt Zugang gewährt werden könne (Klausmeier 1984, S. 58). Als einziger Weg, den Visazwang zu umgehen, galt die Einreise über Ost-Berlin, da zwischen West- und Ost-Berlin keine Visumspflicht bestand. Diese Maßnahme führte

7Zur Bewertung der damaligen Regelungen, die u. a. Asylentscheide an den Grenzen und dezentralisierte Verwaltungsgerichtsbarkeit enthielt, siehe die kritische Einschätzung von Franz (1981, S. 797 f.), der bemängelt, dass die Vorprüfung der Asylanträge durch Grenzund Ausländerbehörden nur das Verfahren unnötig verlängert hätte. Auch seien die Vorwegverteilung der Geflüchteten und deren Zulassung zum Arbeitsmarkt problematisch, da dies als Einfallstor für Arbeitsuchende missbraucht werden könnte. Eine solche Sichtweise äußert noch immer Münch (2014, S. 79). Aus heutiger Perspektive bemerkt Poutrus (2016, S. 890), dass die Verfahrensänderungen nicht dazu führten, die Inanspruchnahme des Asylrechts generell zu unterbinden, sondern nur die Probleme zu verlagern.

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zunächst zu einem Absinken der Asylbewerber_innenzahlen, schaffte aber durch die Erschwerung des Zugangs zu deutschem Staatsgebiet die Figur der „illegalen Einreise“ (ebd.). Bereits 1977 wurde mittels einer Verwaltungsvorschrift die Vorprüfung der Asylanträge seitens der Grenzbeamten erlaubt. Diese sollten die Erfolgsaussichten eines Asylverfahrens einschätzen und daraufhin den Zugang bei Negativeinschätzung verwehren (Spaich 1982). Kirchen, Amnesty International, Ausländervereinigungen, Jugendverbände und Richter_innen protestierten gegen diese Bestimmung, insofern sie eine Aushöhlung des Rechts auf Asyl darin sahen. Die Regelung wurde erst 1981 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben (Poutrus 2016, S. 889). Als 1982 das Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in Kraft trat, tauchte die Idee allerdings wieder auf, insofern nun verschiedene Kategorien von Asylanträgen unterschieden wurden, an die sich auch unterschiedliche Rechtsfolgen knüpften (Münch 1992, S. 92). Da die Ausländerbehörden allein für die Antragsannahme zuständig waren, konnten diese den Antrag als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet klassifizieren, etwa, wenn es sich „lediglich“ um einen Wiederholungsantrag handelte. Weiterhin regelte das AsylVfG die Zwangsunterbringung in Sammelunterkünften für Asylbewerber_innen, eine weitere Verkürzung des Rechtsmittelweges, sowie den Einsatz von Einzelrichtern statt Kammern (ebd., S. 93 f.). Restriktionen wie das Arbeitsverbot für zwei Jahre wurden mit dem AsylVfG ebenfalls neu eingeführt (seit 1980 gab es ein Arbeitszeitverbot für ein Jahr), ebenso wie die Residenzpflicht als Aufenthaltsverpflichtung im Bezirk der Ausländerbehörde. Am Beispiel der Asylrechtsverschärfung lassen sich diskurstheoretisch dreierlei gesellschaftliche Wissensbestände  rekonstruieren. Virulent wird erstens die Konstruktion der Geflüchteten als „Betrüger_innen“ und „Rechtsbrecher_innen“, denen man die offensichtliche Unbegründetheit ihres Asylbegehrens scheinbar schon an der Grenze und in jeder Amtsstube nachweisen könne. Insofern die Bundesregierung und die Unionsfraktion den Eindruck zu erwecken suchten, es handele sich bei Geflüchteten weniger um politisch Verfolgte, denn um Arbeitsmigrant_innen auf der Suche nach ihrem wirtschaftlichem Vorteil, wurde jegliches Eintreten für die geflüchtete Person als potentielle Rechtsträger_in disqualifiziert. Dass diese Wissensbestände bis heute Bestand haben, lässt sich anhand der Reaktionen der Bundesregierung während der sog. Flüchtlingskrise erkennen. Auch hier waren die geforderten Maßnahmen die Erschwerung der

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Einreise im Sinne der temporären Einführung von Grenzkontrollen, beschleunigte Asylverfahren (Sare 2017), und teilweise das Plädoyer für eine Ausweitung der Befugnisse von Grenzpolizeibehörden.8 Anhand der Überlastungsfeststellung beim Bundesamt und in den Verwaltungsgerichten, die in den beiden genannten Beschleunigungsgesetzen auftritt, wird zweitens das aus dem Unterbringungsdiskurs bekannte Deutungsmuster, Geflüchtete würden vor allem eine Belastung darstellen, um die latente Auffassung erweitert, sie seien eine Gefahr für die staatlichen Ordnung. Dieser Topos ist bis in die Gegenwart stabil geblieben. Er wurde z. B. im September 2015 bei der Ernennung von Frank-Jürgen Weise als Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge reaktiviert. Die Definition des Auftrags an Weise war es dafür zu sorgen, dass die hohe Zahl der noch unbearbeiteten Asylanträge reduziert würde und sich entsprechend das Entscheidungsverfahren beschleunigen solle. Der Topos wurde zudem 2018 bei der Diskussion der Überlastung der Verwaltungsgerichte durch die Klagen abgelehnter Asylbewerber_innen reaktiviert.9 Ein drittes Deutungsmuster, das oben bereits anklang, betrifft die Fluchtmotive: Innerhalb des Bildes, Asylsuchende seien in Wahrheit nur Wirtschaftsmigrant_innen auf der Suche nach ihrem wirtschaftlichem Vorteil, scheint es konsistent, sämtliche ökonomischen Anreize und jegliche finanzielle Unterstützung auch in puncto Sozialhilfe einzuschränken.10 In Folge dieser Einschränkung intervenierten sowohl der UNHCR (Münch 1992, S. 99 f.) als auch Nichtregierungsorganisationen (Hennig und Wießner 1982, S. 56 f.) und Wissenschaftler_innen (Wipfler 1986, S. 68 ff.). Dabei entstand ein ambivalentes Bild, weil die anwaltschaftlich für die Geflüchteten Sprechenden gleichermaßen ein Othering betrieben: In Dokumentationen und öffentlichen Veranstaltungen wurde auch von dieser Seite eine auf wirtschaftliche Fluchtmotive verengte Narration entwickelt, in welcher

8Hier

sei weiterhin an die Streitigkeiten zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erinnert, welche die Koalition 2018 an den Rand eines Bruchs brachten. 9So stellte der Landesgruppenchef der CSU im Bundestag, Alexander Dobrindt, in einem Interview mit der Bild am Sonntag eine Verbindung von zivilgesellschaftlichen Gruppen und überlasteten Verwaltungsgerichten her ­(„Anti-Abschiebe-Industrie“). Vgl. https://www. bild.de/politik/inland/alexander-dobrindt/abschiebe-saboteure-versuchen-unsere-gerichtezu-ueberrennen-55673846.bild.html (Zugegriffen: 05. Februar 2019). 10Dass dabei ein sozialwissenschaftlich sehr schlichter Ansatz zur Erklärung von Migration umgesetzt wurde, nämlich die Erklärung mittels eines push- und pull-Modells, soll hier nicht weiter thematisiert werden. Vergleiche für die Diskussion über die Grenzen eines solchen Ansatzes Castles und Miller (2009, S. 21 ff.).

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Geflüchtete als „arm“, „hilfebedürftig“ und „von Verelendung bedroht“ konstruiert wurden (als Beispiel: Ausländerkomitee Berlin West e.V. 1981). Broschüren mit Bildern, die zerstörte sanitäre Einrichtungen und überbelegte Zimmer zeigten, sind nur Beispiele unter vielen, durch die der Eindruck genährt wurde, Geflüchtete seien quasi die Anderen der deutschen Wohlstandsgesellschaft.

3.3 Zivilgesellschaftliche Innovationen aus der Flüchtlingsschutzbewegung Die Zeit der Asylrechtsverschärfung und die sie umrankenden Legitimationsversuche über Missbrauchsdebatten gilt auch als Phase, in der die politischen Diskurse von Flüchtlingsschutzbewegungen und Flüchtlingssozialarbeit ihren Ausgang nahmen. Zu nennen wären diesbezüglich Publikationsforen wie der Informationsdienst zur Ausländerarbeit (die heutige Migration und Soziale Arbeit), die Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, später auch der Informationsdienst Asyl (ID Asyl) und die Zeitschrift Die Brücke. Weiterhin gründeten sich zahlreiche lokale Initiativen vor Ort. Neben den Asylgruppen von Amnesty International, die es als vorbeugende Menschenrechtsarbeit verstanden, von Auslieferung Bedrohte zu unterstützen und deren Bleiberecht in Deutschland zu erkämpfen, sind dies zunächst zahllose lokale Initiativen. Eine graue Literatur aus Nordrhein-Westfalen listet für das Jahr 1986 in diesem Bundesland 25 Asylarbeitskreise auf, die häufig unter der Schirmherrschaft der Kirchen standen (Asboe et al. 1986). Im Jahr 1986 wird auf Bundesebene Pro Asyl gegründet, was im Vergleich zu den lokalen Initiativen eher wie eine übergestülpte Dachorganisation wirkt, gleichwohl aber im Zeitverlauf eine hörbare Stimme entwickelte. Zudem wird am 22.01.1980 die Zentrale Dokumentationsstelle der freien Wohlfahrtspflege für Flüchtlinge e. V. gegründet, womit die Wohlfahrtsverbände einem Beschluss der Bundesregierung zur Beratung und Betreuung folgten und ein Angebot zur Information über maßgebliche Gesetzgebungsverfahren, Urteile und Situationen in Herkunftsländern bereithielten (Bueren 1990).11 Gleichwohl zeigt sich an diesem Beispiel exemplarisch die Verstrickung von Wohlfahrtsverbänden mit der Abschreckungspolitik der Bundesregierung. Sie waren nicht nur anwaltschaftlich für Geflüchtete tätig, sondern auch durch Beratungs- und Informationsaktivitäten, die die jeweilige Asylpolitik affirmativ

11Das Angebot wird seit 1999 vom Informationsverbund Asyl und Migration übernommen; die Informationen werden unter www.asyl.net und im Asylmagazin veröffentlicht.

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begleiteten und dadurch implizit legitimierten und stabilisierten (Münch 1992, S. 193). Diese Ambivalenz brachte auch der damalige Referent für politisch Verfolgte und Flüchtlinge im Diakonischen Werk Werner Lottje (1982) zum Ausdruck. Er stellte fest, dass Sozialarbeiter_innen der Wohlfahrtsorganisationen diejenige Gruppe in der Gesellschaft seien, die am häufigsten im Kontakt mit Geflüchteten stehen, die von den Geflüchteten allerdings auch im Fall ihrer enttäuschten Hoffnungen als Sündenbock und Ziel von Aggressionen missbraucht werden (ebd., S. 200). Das Bild einer engagierten Flüchtlingssozialarbeit der Wohlfahrtsverbände wird von Zeitzeugen durchaus auch angezweifelt. Der Gründer des Hamburger Arbeitskreises Asyl e.V. Hans Dehning berichtet von seiner Erfahrung Anfang der 1980er Jahre in Hamburg, als dort Wohlfahrtsverbände finanzielle Mittel für die Beratung von Geflüchteten ausgeschlagen hätten. Er habe sich gerade aus diesen wohlfahrtsstaatlichen Zusammenhängen lösen wollen und auch aus der engen Verflechtungsbeziehungen zwischen Staat und Verbänden im Kontext des Wohlfahrtskorporatismus.12 Eine derartige Distanzierung von der wohlfahrtsverbandlich organisierten Sozialen Arbeit war im Umfeld der sozialen Bewegungen, die sich mit Geflüchteten solidarisierten, damals keine Seltenheit. Interessant in diesem Zusammenhang scheint die Frage, wie Solidaritätsbewegungen ihr Wissen generierten und absicherten. Zunächst wird sichtbar, dass sich in den frühen 1980er Jahren neue Akteure konstituierten. In Auseinandersetzung mit diesen Akteuren lässt sich ein Muster der innovativen Einflussnahme von Solidaritätsbewegungen und Sozialer Arbeit rekonstruieren, das sich als organisierte Anklage bezeichnen lässt. Maßgeblicher Bestandteil der nachfolgend zusammengefassten Aktionen ist es, ein Gegennarrativ zur herrschenden Asylpolitik entwickelt und in unterschiedlichen Foren der Gegenöffentlichkeit etabliert zu haben. Im November 1982 bereiste eine Delegation des Europäischen Komitees zur Verteidigung der Flüchtlinge und Gastarbeiter (C.E.D.R.I.) – eine kurz zuvor in der Schweiz gegründete internationale NGO – die Bundesrepublik, um sich mit 12Vgl.

im Wortlaut: „Der Umgang Flüchtlingen gegenüber war damals schon ähnlich katastrophal wie heute auch. Uns, die wir es für notwendig hielten, Kritik an der städtischen Flüchtlingspolitik zu üben, wurde es in zunehmender Weise schwer gemacht, ein offenes Wort zu reden. Als die Stadt Hamburg finanzielle Mittel für zwei Beraterstellen bereithielt und die freien Wohlfahrtsverbände daraufhin begannen, sich vornehm zurückzuhalten, sind wir ausgestiegen. Wir gründeten den Hamburger Arbeitskreis Asyl als eingetragenen Verein mit dem Ziel, Öffentlichkeitsarbeit gegen die staatliche Flüchtlingspolitik zu machen. Übrigens auch, weil es uns so möglich schien, Außenvertretungsrechte, die wir als städtische Angestellte berücksichtigen mußten, zu umgehen“ (Dehning 1995, S. 36).

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der Lage in den Asylunterkünften vertraut zu machen. Ihre Abschlusspublikation (C.E.D.R.I. 1982) dokumentiert ihre Beobachtungen in drei Unterbringungen in Süddeutschland und versucht sie politisch zu deuten. Die Dokumentation stellt dabei einen Bezug her zu den zeitgenössischen politischen Debatten in Westdeutschland, etwa zur Asylrechtsverschärfung und zu einer breit rezipierten Publikation konservativer Intellektueller in einer großen deutschen Tageszeitung (das sogenannte Heidelberger Manifest); implizit ist dies auch eine Reaktion auf die real erfolgte Dezentralisierung des Asylverfahrens. Sowohl das Asylrecht, als auch das publizierte Deutungsangebot der Intellektuellen wird von C.E.D.R.I. als Ausdruck einer weit reichenden Migrationsfeindlichkeit in der Gesellschaft gedeutet. Um dieses Bild mit Evidenz zu unterfüttern, zitiert die NGO Politiker der CDU und CSU mit Worten, die Ablehnung gegenüber Geflüchteten dokumentieren. Sammellager sollten lediglich „umzäunte Baracken mit Wachposten“ (ebd., S. 23) sein. Weiterhin werden Äußerungen von Geflüchteten wiedergegeben, die Gängelungen bei der Sozialfürsorge berichten, z. B. Einschränkungen der Bargeldzuweisungen, beengter Wohnraum, ungenießbares Essen (ebd., S. 25 ff.), und Betreuer_innen in den Lagern vorgeführt, die sich keineswegs anwaltschaftlich für Geflüchtete einbringen, sondern über diese klagen (ebd., S. 29 ff.). In der Schlussfolgerung stellt das C.E.D.R.I. eine Politik der Einschüchterung fest (ebd., S. 51). Die Geflüchteten würden interniert mit allen daraus folgenden psychosomatischen Beschwerden (ebd., S. 52). Die Bundesregierung verstoße mit ihrer Asylpraxis gleichermaßen gegen den Artikel 16 des Grundgesetzes und respektiere auf diesem Wege auch nicht die Genfer Flüchtlingskonvention, so der Vorwurf der Menschenrechtsorganisation.13 Es ist nicht nur der anklagende Ton, der dieses Papier so bemerkenswert macht, sondern auch die Konstellation, die sich hier dokumentiert: Eine internationale Gruppe bereist die Bundesrepublik Deutschland wie ein Unrechtssystem und verkündet anschließend – quasi mit dem neutralen Blick von außen – ihr Urteil. Vergleichbar sind sowohl in der Konstitution der Sprecher_ innenrollen als auch im Sprechakt der Anklage zwei ansonsten voneinander unabhängige Tribunale gegen die jeweils lokale Ausländer_innenpolitik in Hamburg (Deutsch-Ausländisches Aktionsbündnis 1983)14 und Hannover

13Zu

ähnlichen Ergebnissen kam auch der UNHCR, weswegen es in den frühen 1980er Jahren zu einer Krise im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zum UNHCR kam, vgl. dazu Milzow (2008). 14In Hamburg arbeitete der bereits vorgestellte AK Asyl mit dem Deutsch-Ausländischen Aktionsbündnis zusammen (Dehning 1995, S. 38).

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(Koordinierungsausschuss für das Tribunal 1984). Auch hier wird Wissen über Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland artikuliert. Beide Tribunale entstammten zivilgesellschaftlichen Netzwerken; sie waren nicht Teil der Judikative, sondern Versuche einer Gerichtsverhandlung von unten zur Implementierung alternativer Deutungen und Bewertungen. Die beiden Tribunale klagten die jeweiligen Bundesländer ob ihrer ausländer_innenpolitischen Praxis an – Asylrecht war dabei nur ein Punkt, weitere Punkte waren Arbeitserlaubnisse, das Aufenthaltsrecht oder die politische Partizipation von Migrant_innen. Mit der Form des Tribunals reaktivierten beide Netzwerke eine Mobilisierungsform der Neuen Sozialen Bewegungen, die bereits in den 1960er und 70er Jahren u. a. gegen die Bundesrepublik zum Einsatz gekommen war (März 2012). So wurde 1977–1979 in einem sogenannten Russell-Tribunal die menschenrechtliche Situation in der Bundesrepublik Deutschland kritisch beleuchtet. Der konkrete Ablauf der Tribunale ist besonders bemerkenswert: In den ausländerpolitischen Tribunalen der 1980er Jahre traten Zeugen auf – teilweise begleitet oder anwaltschaftlich vertreten – die ihre jeweiligen Probleme mit der Ausländer_innenpolitik schilderten. In diesen Veranstaltungen, die öffentlich beworben und dadurch auch gut besucht waren, sprach anschließend jeweils eine Jury eine Art Schuldspruch. Das maßgebliche Argument war, der Staat verhalte sich nichts rechtskonform und halte Ausländern wesentliche Grundrechte vor (etwa den Schutz der Familie, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Asyl oder das Recht auf politische Beteiligung). Konkret wurde in Hamburg u. a. der Fall des anerkannten Flüchtlings Hüseyin Inci aus der Türkei geschildert, dem die Abschiebung in die Türkei drohte, da er dort angeblich an einer Straftat beteiligt war. Der türkische Staat hatte einen Auslieferungsantrag gestellt, welcher von deutscher Seite geprüft wurde. Der Geflüchtete unterstellte dem türkischen Staat, damals eine Militärdiktatur, dass sie ihn kriminalisiere, um seiner habhaft zu werden. Dem deutschen Staat und insbesondere deutschen Staatsanwaltschaften wurde vorgeworfen, mit den Militärs in der Türkei zu kooperieren. Dieser Fall ist von Bedeutung, da die gestiegene Zahl der Asylanträge bis 1980 insbesondere durch Menschen verursacht wurde, die vor der Militärdiktatur in der Türkei flohen.15 In Hannover wurden zudem Inhaftierungen infolge des

15Dabei

stellt der Fall des anerkannten türkischen Flüchtlings Cemal Altun den prominentesten Fall dar. Altun tötete sich am 30. August 1983 durch einen Sprung aus dem sechsten Stock eines Gerichtssaals in Berlin Moabit, wo im Verwaltungsgericht seine Auslieferung in die Türkei verhandelt wurde. Dieser Fall erfuhr anschließend eine enorme Aufmerksamkeit (vgl. hierzu Arendt-Rojahn 1983).

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­ orwurfs der illegalen Einreise, Sozialleistungen für Geflüchtete und die UnterV bringungssituation von Geflüchteten thematisiert. Dabei wurde auch auf die niedersächsischen Bezirksregierungen eingegangen, welche scheinbar Lagerleitungen angewiesen hatten, jene Asylsuchende dem Bundesamt in Zirndorf zu melden, die das „ihnen eingeräumte Gastrecht durch unangemessenes Verhalten missachten“. Aus der Publikation des Tribunals wird deutlich, dass das Tribunal diese Anweisungen für rechtsstaatlich fragwürdig hielten: Hier werde Willkür ermöglicht, weil Geflüchtete den Moralvorstellungen einzelner Sachbearbeiter_ innen oder den Leiter_innen von Sammelunterkünften entsprechen müssten (Koordinierungsausschuss für das Tribunal 1984, S. 35). Das zivilgesellschaftliche Narrativ betonte somit einen illiberalen, aggressiven Staat, der gegen Geflüchtete vorging und dazu auch mit Unrechtssystemen kooperierte. Die Kritiken an Aufenthaltsbeschränkungen, Arbeitsverboten oder Abschiebeandrohungen wurden als substantiell dargestellt, über Zeug_innen personalisiert und quasi von Autoritäten bestätigt.16 Diese Prozesse sollten dazu führen, ein bestimmtes Wissen zu stiften und als evident abzusichern. Dabei war nicht die Situation derjenigen, die außerhalb der Grenzen waren, Hauptgegenstand der Anklage, sondern die Art und Weise, wie von staatlichen Stellen mit Migrant_innen innerhalb der Grenze umgegangen wurde. Insofern wurde in diesen Tribunalen, aber auch in den anderen zivilgesellschaftlichen Formaten, eine staatskritische Haltung eingeübt. Neben dem Menschenrechtsbericht und den beiden Tribunalen stellte ein Hearing über die soziale und rechtliche Lage von Geflüchteten in West-Berlin die vierte maßgebliche zivilgesellschaftliche Initiative dar (Hofmann 1984). Diese Veranstaltung, die durch die bis heute existierenden NGOs: Gesellschaft für bedrohte Völker und Flüchtlingsrat Berlin initiiert wurde, erinnert dem Namen nach eher an eine parlamentarische Anhörung. Die Veranstaltung wurde im Januar 1984 in einer evangelischen Gemeinde durchgeführt und hatte

16McAdam

et al. (2001) nennen den Mechanismus der Prüfung/Abnahme (certification) als ein Instrument für die Bestätigung von Akteuren und ihren Handlungen (ebd., S. 121 ff.). Gemeint ist damit, dass es einer externen Autorität bedürfe, die z. B. Protestierenden in ihrem Anliegen Recht gebe. Diese certification übernehmen in den genannten Tribunalen in Hamburg und Hannover Gewerkschafter, Lehrer, Pastoren, Akademiker_innen, weitestgehend ohne eigene Migrationserfahrung. Es schienen also Menschen zu sein, die vermeintlich nicht von der Ausländerpolitik betroffen waren, aufgrund ihres angesehenen Standes über Ansehen verfügten und denen aufgrund ihrer sozialen Position so etwas wie ein gesunder Menschenverstand zugesprochen wurde.

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keinen Bezug zum sonstigen parlamentarischen Betrieb. Veranstaltung und anschließende Dokumentation sollten die Einzelmaßnahmen und Restriktionen zusammenfassen, die in Berlin „eine Atmosphäre erzeugen, die Flüchtlinge verzweifeln […] lassen“ (ebd., S. 10). Als zu kritisierende Handlungen nannte das Hearing Abschiebungen und Abschiebehaft, die Umsetzung des Ausländerrechts durch die lokalen Ausländerbehörden und das Bundesamt, die Umsetzung der Sozialhilfe für Geflüchtete, inkl. Arbeitsverbot, Unterbringung und Versorgung mit Sachleistungen. Auch dieses Hearing wurde durch eine internationale Jury begleitet, die in ihrer abschließenden Stellungnahme diese Punkte aufgriff und entsprechende Verbesserungen seitens der Berliner Verwaltung forderte. Sie ergänzte ihr Statement auch um eine gesellschaftspolitische Beobachtung: Demnach tue der deutschen Gesellschaft und insbesondere der Berliner Bevölkerung eine „Blutauffrischung“ ganz gut. Weiterhin solle es eine „vornehme Aufgabe aller staatlichen Stellen – insbesondere des Berliner Senats – sein, den Vorurteilen gegenüber Fremden unmissverständlich entgegenzutreten“ (ebd., S. 190). Damit griff der Juryspruch auch aus dem Asyldiskurs in andere Diskurse über, beispielsweise jenem zur Bevölkerungs- und Arbeitskräfteentwicklung. Für alle diese zivilgesellschaftlichen Formate kann konstatiert werden, dass sie Aktionen der gebildeten, weißen Mittelschichten sind und keine maßgeblichen Selbstorganisationen von Migrant_innen. Insofern ist es zunächst das Wissen dieser Personengruppe, ihre Bilder, Slogans, Protestformen. Noch fehlen tiefer greifende Rassismus- oder Kapitalismusdiskussionen, wie sie in den gegenwärtigen migrantischen Kämpfen verhandelt werden (z. B. bei Yufanyi Movuh 2009). Diskursanalytisch sind diese Proteste bedeutsam, weil sie einerseits ein Wissen sammeln und artikulieren, wonach Grundrechte in Deutschland bedroht scheinen.17 Statt Asylsuchende als Gefahr oder Belastung darzustellen, gilt hier der Staat als Bedrohung, insofern er durch immer mehr Vorgaben zu Arbeit, Unterbringung oder Sozialleistung in das Leben des Einzelnen eingreift. Ein Staat, der seine eigene Verfassung oder völkerrechtliche Verträge nicht mehr achtet, erscheint in dieser Wirklichkeit als das eigentliche Problem, gegen den sowohl die subjektiven als auch die grundlegend humanitären Rechte

17Bemerkenswert

sind zudem die Titel der damaligen Publikationen, die ebenfalls ein Bedrohungsszenario konstruieren und damit sicherlich an ein Deutungsmuster innerhalb linker Bewegungen der 1970er Jahre anschließen, z. B. „Kein Asyl bei den Deutschen: Anschlag auf ein Grundrecht“ (Kauffmann 1986) oder „Asylrecht ohne ‚Asylanten‘“ (Zepf 1986).

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erkämpft werden müssen. Andererseits wird hier eine Praxis des Gegenhandelns legitimiert, des nicht-für-gut-befinden-müssens staatlicher Ausländerpolitik, was eben die Voraussetzung dafür schafft, ganz anders über Migrationsprozesse nachzudenken, als es etwa Kommunalverwaltungen, Landes- oder Bundesregierungen tun.

4 Fazit Wie gezeigt werden konnte ist ein Teil der progressiven flüchtlingspolitischen Innovation die Etablierung einer Gewissheit, dass staatliches Handeln zum Teil grundlegenden Menschenrechten zuwiderläuft. Insofern lässt sich in den frühen 1980er Jahren auch verstärkt eine organisations- und staatskritische Haltung in Flucht- und Asylfragen in der Sozialen Arbeit finden, die aus den sozialen Bewegungen herrührt. Möglicherweise lassen sich Flüchtlingssozialarbeit und Geflüchtetenhilfe gar als in Teilbereichen gegenseitig konstitutiv verstehen: In den sozialen Bewegungen wird diejenige Haltung, vielleicht auch die „geistige Energie“ (Herman Nohl) und Sensibilität für soziale Ungerechtigkeit, erzeugt, welche sich schließlich in Hilfepraktiken institutionalisiert (Franke-Meyer und Kuhlmann 2018).18 Darauf wird in der gegenwärtigen Sozialarbeitswissenschaft wieder Bezug genommen, wenn z. B. eine stärkere Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Bereichen angemahnt wird (Scherr 2016). Hinsichtlich der Bewegungsforschung ließe sich nun danach fragen, welche Bedingungen und Kontexte geholfen haben, die Bewegung zu stabilisieren. Hier scheint es so, dass ein vergleichsweise kleines Netzwerk an Personen in NGOs, Menschenrechts- und Wohlfahrtsorganisationen sowie Kirchen und

18Diese

Aspekte gegenseitiger Konstituierung Sozialer Arbeit und Sozialer Bewegung wird sowohl national als auch international diskutiert. Dabei wird argumentiert, die sozialen Bewegungen leisteten die Identifizierung sozialer Notlagen, welche dann durch Soziale Arbeit bearbeitet werde (Thompson 2002; Jeyapal 2017). Dieses harmonische Bild gegenseitiger Unterstützung wird sowohl seitens des Aktivismus infrage gestellt (Antirassistisches Sozialarbeiter_innenschreibkollektiv der ZAG 1995) als auch theoretisch als zu unscharf verworfen, insbesondere in der gegenwärtigen Lage: weil Soziale Arbeit bisweilen in Ausgrenzung verstrickt sei (Scherr und Scherschel 2016) und teilweise sogar mandatswidrig handeln müsse, verfüge sie wenn überhaupt nur über eine strukturierte Kreativität (schon allein, weil sie an den Nationalstaat gebunden ist (Scherr 2018). Soziale Bewegungen könnten hingegen eine dynamische Kreativität entfalten (zu diesem Gegensatzpaar vgl. Bunk 2018).

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Gewerkschaften stabile Strukturen schaffte.19 Ein ehemaliger Akteur der Flüchtlings(schutz)bewegung brachte es wie folgt auf den Punkt: „Das ist eine Clique gewesen.“20 Dieser Punkt zeigt sich gegenwärtig in meiner Forschung daran, dass unterschiedliche Akteure immer wieder die gleichen Personen aufrufen, wenn zum Ende des Interviews im Prinzip eines Schneeballsamplings gefragt wird, wer denn wohl noch als geeignete Gesprächsperson infrage käme. Obwohl der Kreis der aktiv involvierten Personen recht klein scheint, lässt sich doch im Verlauf der deutschen Flüchtlings(schutz)bewegung die Zusammenarbeit von Kirchen, Gewerkschaften, Sozialverbänden und Menschenrechtsorganisationen nachweisen.21 Diese Koalition zerbrach bereits lange vor 2015 und hilft deswegen für das Verständnis gegenwärtiger Mobilisierungen der Flüchtlingsbewegung in Deutschland nicht weiter. Sie gibt aber einen Hinweis darauf, wie wichtig breite gesellschaftliche Bündnisse für die Etablierung einer Flüchtlings(schutz) bewegung in Deutschland waren. Diskurstheoretisch steht am Ende dieses Beitrags die Feststellung, dass sich stabile, quasi antagonistische Wissensordnungen entwickelt haben. Während die eine geprägt ist durch eine Perspektive auf Flucht, aus der Geflüchtete mit Gefahr, Unordnung, Rechtsmissbrauch und unzureichender Steuerung in Zusammenhang gebracht werden, zeigt die andere sich kritisch mit Blick auf die Herstellung von Marginalität und den unrechten Umgang mit Geflüchteten und spricht daher für eine weitreichende Solidarität mit Geflüchteten. Beide Wissensordnungen konstituieren einen Streit, weswegen hier der theoretische Zugang über die contentious politics fruchtbar gemacht wurde. Auch wenn zwischenzeitlich in den 1990er Jahren das Grundrecht auf Asyl weitreichend eingeschränkt wurde und somit die asylkritische Position eine weitere Manifestation erhielt, hat sich diese grundsätzliche Konfliktstruktur nicht geändert, im Gegenteil: Auch 1994 und 1996 fanden wieder Tribunale gegen die europäische bzw. Hamburger (1996) Flüchtlingspolitik statt, gründeten sich Selbstorganisationen von Geflüchteten, wie etwa Jugendliche ohne Grenzen

19Für

contentious politics wird die Bedeutung der Vermittlung (brokerage) herausgestrichen, als ein Vermitteln zwischen unterschiedlichen, zuvor unverbundenen Gruppen oder auch Themen und Ebenen (McAdam et al. 2001, S. 26). 20ETAPSA-Interview 3, Z. 1400 f. 21Bezeichnenderweise habe ich bei der Archivarbeit im Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) die interessantesten und am meisten weiterführenden Materialien zur deutschen Flüchtlingsbewegung in den 1980er Jahren im persönlichen Nachlass von Yilmaz K., einem IG-Metall-Sekretär aus Frankfurt, gefunden.

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im Jahr 2003 (Kanalan 2015) oder solidarische Netzwerke, wie die Landesflüchtlingsräte in den ostdeutschen Bundesländern.22 Ob tatsächlich auch alle Willkommensinitiativen der vergangenen Jahre in diese Traditionslinie gehören, bleibt abzuwarten.

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22Laut der jeweiligen Websites gründete sich der Flüchtlingsrat in Mecklenburg-Vorpommern 1995 als Verein, in Brandenburg entstand 1994 zunächst ein Arbeitszusammenhang und 1996 ein Verein, die Flüchtlingsräte in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen gründeten sich 1994, 1991 und 1997.

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Andreas Kewes; Diplom-Politologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Soziale Arbeit, Department Erziehungswissenschaft und Psychologie, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: bürgerschaftliches Engagement; Migrationsforschung, insb. Staatsbürgerschaft sowie Flucht und Asyl, E-Mail: [email protected]

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Zusammenfassung

Was unterscheidet Fluchtbewegungen von sozialen Bewegungen? Wann ist politischer Protest Ausdruck einer sozialen Bewegung? Und vor welchen Herausforderungen steht die politische Selbstorganisation im Kontext von Flucht und Entbehrung? Der Kommentar präzisiert die Begrifflichkeiten rund um das Thema Flüchtlingsselbstorganisation aus der Perspektive der Bewegungsforschung. Mit Blick auf vielfältige politische Aktivitäten und die Initiativen von Geflüchteten wird argumentiert, dass es sich bestenfalls um das gemeinsame Band einer zukünftigen sozialen Bewegung handeln könnte. Die starke Fluchtzuwanderung im Kontext des sog. Sommers der Migration hat zu einer breiten Verwendung des Begriffs „Bewegung“ angeregt, die es meist an wissenschaftlicher Präzision vermissen lässt. Mit der inflationären Nutzung des Bewegungsbegriffs werden oft anerkennende und Mut machende Wünsche verbunden. Aus hilfsbedürftigen Opfern von Krieg, ökologischen Desastern und Vertreibung werden handlungsfähige Akteure. Aus mitfühlenden Unterstützer_innen auf Fluchtrouten und in Aufnahmeländern werden solidarische Akteure. Ihre humanitäre Praxis wird durch den Bewegungsbegriff geadelt und lässt sie als Anstoßgeber von Innovationen und sozialem Wandel in die wie auch immer erwünschte Richtung größer und bedeutsamer erscheinen als sie es möglicherweise sind. Damit wächst aber die Gefahr der Selbsttäuschung. R. Roth (*)  Hochschule Magdeburg-Stendal, Magdeburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_13

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Gewalt, Zwang, Hilfsbedürftigkeit und die Verweigerung elementarer Menschenund Bürger_innenrechte treten in den Hintergrund. Kollektive Identitäten, politische Handlungsfähigkeit und eine gemeinsame Agenda – zentrale Merkmale sozialer Bewegungen – werden im Kontext von Flucht und Migration eher unterstellt als sichtbar gemacht. Vermutlich gehören Flucht und Migration historisch zu den grundlegenden, einflussreichsten und ältesten Formen ‚sozialer Bewegungen‘ (Bade 1994). Aber Fluchtbewegungen, wie sie z. B. die Migrationsforschung untersucht, unterscheiden sich grundlegend von den sozialen Bewegungen, wie sie die Bewegungsforschung in den letzten Jahrzehnten in lokalen, nationalen und transnationalen Kontexten untersucht hat. Gerade die jüngsten Fluchtbewegungen haben eine intensive Suche ausgelöst, Konzepte der Bewegungsforschung für das Verständnis von Migrationsprozessen zu nutzen (della Porta 2018; Rosenberger et al. 2018). Gerade weil die menschenrechtlichen Maßstäbe des Beitrags von Andreas Kewes überzeugen, ist Zurückhaltung geboten, wenn es darum geht, die breite Unterstützung von Geflüchteten in den letzten Jahren, ihre Proteste und vielfältigen zivilgesellschaftlichen Netzwerke zu einer ‚sozialen Bewegung‘ zu stilisieren. Das gilt noch weitaus stärker für die kleinen Menschenrechtsgruppen sowie die lokalen und regionalen Flüchtlingsräte und -initiativen der Jahrzehnte davor. Von einer sichtbaren und mobilisierungsfähigen Flüchtlingsbewegung – im Sinne einer sozialen Bewegung – kann weder mit Blick auf die letzten Jahrzehnte noch aktuell in Deutschland die Rede sein. Von einer sozialen Bewegung können wir dann sprechen, wenn sich ein kollektiver Akteur, meist ein Netzwerk von Gruppen mit einer gemeinsamen Identität und politischen Agenda bildet, der mit einer gewissen Kontinuität durch eine gemeinsame Protestpraxis Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung nimmt oder dies zumindest nachhaltig versucht (Raschke 1985; Roth und Rucht 2008, S. 13 ff.). Nicht jeder Protest ist Ausdruck einer sozialen Bewegung, aber ohne öffentlich wahrnehmbare Protestereignisse verlieren Bewegungen ihre Sichtbarkeit. Mit Blick auf das Themenfeld Migration und Flucht ergeben sich daraus einige Herausforderungen: • In den weltweiten Migrations- und Fluchtbewegungen nehmen Menschen überwiegend unfreiwillig ihr Schicksal in die Hand und fordern ihr Recht auf Leben und Zukunft ein. Sie verändern dabei massiv die Herkunfts- wie Aufnahmegesellschaften. Gleichwohl ist es sehr fragwürdig, ihnen eine gemeinsame Agenda und kollektive Identität zu unterstellen. Zumindest erzwungene Migration wird meist als gefahrvolle und traumatisierende Über-

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gangssituation erlebt, die so schnell wie möglich überwunden werden soll. Die Notgemeinschaften der Flucht begründen keine gemeinsame Identität. Im historischen Rückblick dominieren disparate und diskontinuierliche Entwicklungen. Konkurrenz und Abgrenzung zwischen verschiedenen Gruppen und Generationen von Migrant_innen sind eher die Regel als die Ausnahme. • In ihren Durchgangs- und Aufnahmeländern sind Geflüchtete keineswegs passiv und willenlos wie zahlreichen Proteste gegen Polizeiwillkür, die Zustände in Sammelunterkünften oder die Behandlung durch Behörden zeigen. Flüchtlingsproteste hat es auf der Grundlage gemeinsamer Fluchterfahrungen, todbringender Grenzregime und abschreckender Aufnahmebedingungen in den letzten Jahren in größerer Zahl gegeben („Grenzcamps“, Platz- und Hausbesetzungen, Hungerstreiks, der „Bettelmarsch“ von Roma in NRW, das Wanderkirchenasyl, die Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen, um nur einige zu nennen). In diesen Kontexten ist auch eine Reihe von Selbstorganisationen von Geflüchteten entstanden. Gleichwohl dürften sie nur einen kleinen Teil der Menschen mit Fluchtgeschichte erreichen und mobilisieren, denn es geht den Geflüchteten in der Regel vor allem darum, diesen prekären Status und die damit verbundenen Diskriminierungen zu überwinden. Auch wenn ihr Einfluss auf die lokale Integrationspolitik und die Praxis in den damit verbundenen Sozialberufen nicht zu unterschätzen ist, haben wir keine Anhaltspunkte dafür, dass die Proteste von Geflüchteten die staatliche Migrations- und Flüchtlingspolitik in Deutschland nennenswert in ihrem Sinne beeinflussen konnten. • Der Fokus des Beitrags von Andreas Kewes liegt eher auf der Vorgeschichte eines Feldes, das Albert Scherr (2016) etwas sperrig „flüchtlingssolidarische soziale Bewegung“ genannt hat. Einige Jahre nach dem „langen Sommer der Migration“ sind Zweifel an dieser Charakterisierung der vielfältigen Formen der zivilgesellschaftlichen Unterstützung von und mit Geflüchteten angebracht. Aus diesen „Sternstunden der deutschen Zivilgesellschaft“ (Schiffauer et al. 2018, S. 9) ist keine breite und einflussreiche Solidaritätsbewegung entstanden, die einen nachhaltigen Einfluss auf die Migrations- und Asylpolitik der Bundesrepublik ausüben könnte. Es fehlt weitgehend an kooperierenden Netzwerken, gemeinsamen Mobilisierungen, einer gemeinsamen Agenda und Protesten gegen eine zunehmend restriktive und ‚schäbige‘ Asyl- und Flüchtlingspolitik auf nationaler und EU-Ebene. Damit sollen die vielfältigen Initiativen, sozialen Innovationen und Einrichtungen nicht gering geschätzt werden, die vor allem lokal von und mit Geflüchteten geschaffen wurden (difu 2018). Dennoch ist die Tendenz zu einer ‚Normalisierung‘ der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit hin zu professionellen

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Angeboten und kommerziellen Diensten unübersehbar (zu den Ambivalenzen dieser Entwicklung s. Roß und Roth 2019, S. 39 ff.). Die Kluft zwischen einer lokalen solidarischen Praxis, die selbst diese professionellen Integrationsdienste verändert hat, und einer nationalen Abschreckungspolitik, die den von Kewes analysierten historischen Mustern in Deutschland und der Europäischen Union folgt, ist deutlich größer geworden. Um die Dynamik in dieser spannungsreichen Situation besser zu verstehen, dürfte ein Blick auf zwei sehr unterschiedliche Entwicklungen hilfreich sein. 1. Seit etwa zwei Jahrzehnten hat sich in Deutschland eine lokale Integrationspolitik herausgebildet, die unterhalb der offiziellen Leugnung, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, Kommunen und ihre Einwohnerschaft fit für Vielfalt und Zuwanderung gemacht hat (zu den einzelnen Handlungsfeldern s. Gesemann und Roth 2018). In internationalen Vergleichsstudien präsentiert sich die deutsche Bevölkerung deutlich offener für Zuwanderung als selbst einige der klassischen Einwanderungsgesellschaften. Diese Offenheit hat sich auch in der jüngsten Flüchtlingszuwanderung eindrucksvoll bestätigt und ist keineswegs verschwunden (Gesemann und Roth 2017; Gesemann et al. 2018). 2. Gleichzeitig sind die Widerstände gegen jede Form der Zuwanderung stärker geworden. Bereits vor der jüngsten Zuwanderung gab es immer wieder Mobilisierungen gegen Migrant_innen und Anschläge auf Menschen mit Migrationsgeschichte. Die migrationspolitischen Proteste der 1980/90er Jahre wiesen zwar ein deutliches Übergewicht an Mobilisierungen für Migrant_innen auf, aber auffällig war schon damals ein hoher Anteil an gewaltförmigen Aktionen gegen Zugewanderte und eine entsprechend große öffentliche Wahrnehmung (Rucht und Heitmeyer 2008, S. 590). Mit den Fluchtbewegungen der letzten Jahre hat sich diese Konfliktlinie vertieft. Das Jahr 2015 ist das erste Jahr, in dem die Zahl der Proteste gegen Geflüchtete größer war als die der Mobilisierungen von Unterstützer_innen (Rucht 2018, S. 237). Fluchtzuwanderung ist zum zentralen Mobilisierungsthema rechtspopulistischer Akteure geworden. Zugespitzt lässt sich sagen, dass heute rechtsradikale und rechtspopulistische Proteste die öffentliche Debatte und in Teilen auch die staatliche Politik zu Flucht und Migration bestimmen – und dies deutlich stärker als es ihrer gesellschaftlichen Verankerung entspräche. Mit der Alternative für Deutschland ist eine bewegungsgestützte Parlamentspartei entstanden, die aus der kritischen Diagnose ‘Festung Europa‘ einen

Flucht, Flüchtlingsbewegungen und Netzwerke der Solidarität

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positiv besetzten Kampfbegriff gemacht hat. In der politischen Praxis vieler Länder haben bewehrte Grenzbefestigungen sowie die innere und äußere Ausdehnung von Grenzregimen ohnehin Hochkonjunktur (Shachar 2017). Es wird nicht zuletzt an der Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit der Akteure liegen, die für eine menschenrechtlich vertretbare Migrations- und Asylpolitik eintreten, ob dieser flüchtlingsfeindliche Vormarsch gestoppt werden kann. Dass dies nicht unmöglich ist, haben die großen Demonstrationen gezeigt, für die unter #Unteilbar in mehreren deutschen Städten im Oktober 2018 mobilisiert wurde. Allein in Berlin waren nach den Angaben der Veranstalter 242.000 Menschen auf den Straßen, um gemeinsam ein sichtbares Zeichen gegen einen anschwellenden Rassismus zu setzen, der in dieser Zeit z. B. mit Ereignissen in Chemnitz verbunden war. Aber sie haben auch eine breite politische Agenda vorgetragen, die dazu taugen könnte, ein gemeinsames Band zwischen den diversen Mobilisierungen entlang der Herausforderungen von Flucht und Migration zu stiften. Im Demonstrationsaufruf hieß es: „Wir treten für eine offene und solidarische Gesellschaft ein, in der Menschenrechte unteilbar, in der vielfältige und selbstbestimmte Lebensentwürfe selbstverständlich sind“. Unteilbar knüpft im Innern an die positiven Impulse der Willkommenskultur der Jahre 2015 und folgende an. Die Vision einer Gesellschaft, die Offenheit und Akzeptanz von Vielfalt praktiziert, ist untrennbar mit der Forderung verbunden, Zugewanderten soziale und politische Teilhabe zu garantieren. Die sichtbare Beteiligung von Gruppen von Geflüchteten mit ihren vielsprachigen Transparenten signalisierte, dass zumindest einige von ihnen diese demokratischen Möglichkeiten selbstbewusst nutzen. Siebzig Jahre nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte rekurriert Unteilbar zudem auf einen zentralen und noch immer unerfüllten Auftrag dieser Erklärung. Dort heißt es in Artikel 28: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in vorliegender Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können“. Beide Dimensionen – eine lokale und nationale Gesellschaft, die Menschen unterschiedlicher Herkunft gleiche Bürger_innenrechte garantiert und eine internationale Ordnung, die dies allen Menschen ermöglicht – sind aktuell „utopisch“ (Moyn 2018). Aber sie könnten  den Bezugsrahmen einer übergreifenden Agenda für die vielfältigen Proteste, Initiativen und Projekte bilden, die im Feld Migration und Flucht in den letzten Jahrzehnten entstanden sind. Daraus könnte das gemeinsame Band einer künftigen sozialen Bewegung entstehen.

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R. Roth

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Roland Roth; Professor für Politikwissenschaft am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Magdeburg-Stendal. Forschungsschwerpunkte: Demokratie, soziale Bewegungen, Zivilgesellschaft, Migration und Integration, Bürger- und Menschenrechte. Mitbegründer des „Komitees für Grundrechte und Demokratie“ und des „ipb – Institut für Protest- und Bewegungsforschung“. E-Mail: [email protected].

Teil IV Innovation und Legitimation im Föderalismus der BRD

Vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Altersarmut

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Christian Brütt

Zusammenfassung

Der Beitrag analysiert, in welchem Maße der bundesdeutsche Sozialstaat Menschen mit Migrationshintergrund und Geflüchtete integriert. Gezeigt wird, wie das sozialstaatliche Leistungsspektrum im System der Sozialen Sicherung in Deutschland auf der jeweiligen Statuszugehörigkeit der Leistungsempfänger*innen basiert. Am speziell auf den Status des Geflüchteten ausgerichteten Asylbewerberleistungsgesetz wird deutlich, welche sozialstaatlichen Leistungen Geflüchteten eröffnet, aber auch welche ihnen vorenthalten werden. Die Folgen der selektiven Zugänge für die gesetzliche Rentenversicherung sind schon jetzt vorhersehbar: die Leistungsäquivalenz in der Alterssicherung bedeutet für Menschen mit Migrationshintergrund Altersarmut – es sei denn der Sozialstaat ließe künftig Innovationen in Richtung einer universellen Ausrichtung der Alterssicherung zu.

C. Brütt (*)  Hochschule Darmstadt, Darmstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_14

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C. Brütt

1 Einleitung Im Anschluss an die starke Flucht- und Einwanderungsbewegung seit Frühjahr und Sommer 2015 lebten im Jahr 2017 in Deutschland 19,258 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund.1 Das war knapp ein Viertel der Gesamtbevölkerung. 51 % der Menschen mit Migrationshintergrund waren Deutsche, 49 % Ausländer. 27 % der Menschen mit Migrationshintergrund waren Deutsche mit eigener Migrationserfahrung, 24 % Deutsche ohne eigene Migrationserfahrung. Von den als Ausländer*innen geltenden Menschen mit Migrationshintergrund hatten 41 % eine eigene Migrationserfahrung und 8 % hatten dies nicht (Statistische Bundesamt 2018c; eigene Berechnungen). Bemerkenswert ist nun, dass mit dem Asylbewerberleistungsgesetz ein sozialpolitisches Programm im Zentrum der sozialpolitischen Debatte steht, welches zwischen 1994 und 2014 jeweils zum Jahresende niemals mehr als eine halbe Mio. und in der Spitze 0,975 Mio. Menschen versorgte (Statistisches Bundesamt 2018a). Seit der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) gebe es „zweierlei Existenzminima“ (Classen 2000, S. 10), ein „Sondersozialhilferecht“ (Janda 2012, S. 290), eine „Sonderregel“ (BVerfG 2012, Rn. 3), ein „Sonderrecht“ (Rothkegel 2012, S. 358) in Deutschland. Diese Bezeichnungen suggerieren, dass das Asylbewerberleistungsgesetz von den allgemeinen Prinzipien des deutschen Sozialstaates abweiche2 und seine Abschaffung eine sozialpolitische Diskriminierung beende. Eine durchaus naheliegende Antwort ist in dem Entstehungszusammenhang des Asylbewerberleistungsgesetzes zu finden. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist demnach ein Instrument einer Migrationspolitik, die auf Abschottung und Abschreckung setzt – eben eine sozialrechtliche Komplementärregelung einer dominanten Migrationspolitik. Eine weitere Antwort geht über den migrationspolitischen Kontext hinaus. Das

1Bei

der begrifflichen Unterscheidung von Deutschen/Ausländer*innen, mit/ohne Migrationshintergrund resp. -erfahrung differenziere ich, wo explizit notwendig, entsprechend der Bestimmungen des Statistischen Bundesamtes (2017: Glossar) und der Migrationshintergrund-Erhebungsverordnung (MighEV) (Siehe auch BT-Drs. 18/10.610, ­ S. 25 f.). 2Ein weiterer, statusrechtlich anders gelagerter ‚Sonderfall‘ in der Fürsorge sind Unionsbürger*innen (Janda 2011; Berlit 2017).

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Argument, welches ich hier vortragen möchte, läuft darauf hinaus, zu zeigen, dass das AsylbLG sich systematisch in das institutionelle Arrangement deutscher Sozialstaatlichkeit fügt und zudem einen Anfangspunkt für eine fortschreitende Kategorialisierung3 darstellt. Als eine erste leitende Fragestellung werde ich also analysieren, wie sich das Asylbewerberleistungsgesetz in das sozialpolitische Arrangement des deutschen Sozialstaats einfügt. Mit dieser Eingangsfeststellung soll eine spezifische Diskriminierung von Geflüchteten und Menschen mit Migrationshintergrund nicht in Abrede, sondern vielmehr in den Kontext eines gestuften Systems der Ungleichbehandlung gestellt werden. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist sozialpolitisch gesehen nur ein kleiner Baustein der Ungleichbehandlung im sozialpolitischen Arrangement des deutschen Sozialstaats. Deswegen werde ich am Beispiel der prospektiv Erwerbsverläufe normalisierenden, weil diese retrospektiv bilanzierenden gesetzlichen Alterssicherung herausarbeiten, dass eine Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes zuwanderungsspezifische Ungleichbehandlung durch den deutschen Sozialstaat keineswegs beendet. Als eine zweite leitende Fragestellung werde ich also analysieren, an welcher Position Menschen mit Migrationshintergrund in der statushierarchischen Ordnung stratifizierter Rechte jenseits der migrationspolitischen Fürsorge durch das Asylbewerberleistungsgesetz sozialpolitisch positioniert werden. Im Folgenden werde ich zunächst die gängige Argumentation zum Asylbewerberleistungsgesetz als migrationspolitisch motiviertes Sondergesetz nachzeichnen (1). Nachfolgend werde ich das gestufte System der Ungleichbehandlung als statushierarchische Ordnung stratifizierter Rechte vorstellen, um das Asylbewerberleistungsgesetz darin zu verorten (2). Ob mit der Beschaffung des AsylbLG auch die sozialpolitische Gleichstellung erreicht werden kann, wird abschließend mit Blick auf die Besonderheiten der Alterssicherung, insbesondere der gesetzlichen Rente infrage gestellt (3).

3Der

Begriff „Kategorialisierung“, wie ich ihn hier verwende, verweist zum einen auf den Umstand, dass jedes Sozialrecht Aussagen zum Adressat*innenkreis trifft, zum anderen jedoch auch auf den Umstand, dass ähnliche Bedarfslagen aus ­ politisch-normativen Gründen rechtlich unterschiedlich bearbeitet werden. Eine fortschreitende Kategorialisierung ist somit das Gegenteil einer Universalisierung von Sozialleistungen.

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2 Das Asylbewerberleistungsgesetz als Instrument der Migrationspolitik 2.1 Abschreckung durch Absenkung der Leistungen Vor mehr als 25 Jahren einigten sich die Unionsparteien, die FDP und die SPD am 06.12.1992 auf den sogenannten Asylkompromiss. Umgesetzt wurde dieser Kompromiss mit der Änderung des Grundgesetzes, dem neuen Asylverfahrensgesetz und nicht zuletzt dem neuen Asylbewerberleistungsgesetz (Münch 1993, S. 141 ff.). Migrationspolitisch motivierte Sonderregeln des Existenzminimums für Ausländer*innen sind in der Bundesrepublik Deutschland nicht erst mit dem AsylbLG eingeführt worden.4 Bereits das Bundessozialhilfegesetz in der Fassung von 1961 versagte Personen den Anspruch auf Leistungen, die sich nach Deutschland begeben haben, „um Sozialhilfe zu erlangen“ (§ 120 BSHG i.d.F. 30.06.1961). Eine Umstellung der Sozialhilfe für Ausländer und Staatenlose auf Sachleistungen „soweit dies möglich ist“ und die Option, sie als Wertgutscheine auszugeben und auf das „Unerlässliche“ einzuschränken, erfolgte Anfang der 1980er Jahre.5 1985 erklärte das Bundesverwaltungsgericht die gruppenbezogene pauschale Kürzung ohne Einzelfallprüfung für rechtswidrig (BVerwG 1985). Doch mit dem AsylbLG ist diese pauschale Kürzung eigenständiges Sozialrecht unter dem Primat der Migrationspolitik geworden. Anfang der 1990er Jahre war die Anzahl der Asylbewerber*innen von 193.063 in 1990 auf 438.191 in 1992 gestiegen (BAMF 2017, S. 11). Der größte Anteil hierunter waren Menschen, die vor dem Bürgerkrieg im ehemaligen

4Die

Frage, wer welche Armen zu versorgen hat, ist eine Grundfrage in der Geschichte der Armutspolitik. Sie steht zudem im Zusammenhang der mit Ausbildung des kapitalistischen Arbeitsmarktes notwendigen Freizügigkeit der Arbeitskräftemigration und der diesbezüglich kontraproduktiven Armutsfürsorge, die Ortsfremde ausschließt. 5Eingefügt im Vermittlungsverfahren zum Zweiten Haushaltsstrukturgesetz 1981 (BTDrs. 9/1140; BGBl. I 1981, S. 1523) sowie mit dem Haushaltbegleitgesetz 1984. 1990 wurde der § 120 BSHG um eine Regelung zur Beschränkung der „illegalen Binnenwanderung von Ausländern“, also zur Durchsetzung einer Residenzpflicht erweitert ­(BT-Drs. 11/6321, S. 90). Bei Zuwiderhandlungen durften die Sozialämter „nur die nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe leisten“ (Gesetz zur Neureglung des Ausländerrechts vom 09.07.1990).

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J­ ugoslawien geflüchtet waren.6 Dieser parlamentarisch dokumentierte und damit vom Parlament zur Kenntnis genommene Umstand (BT-Drs. 12/3589) trug wenig zu einer differenzierten Debatte bei (Herbert 2001, S. 296 ff.; Herbert 2014). Kernthema war vielmehr der so genannte „Asylmissbrauch“, der letztendlich auch zum Anlass des „Asylkompromisses“ genommen worden war. Auf diese Argumentation hoben nicht allein konservative oder rechte Parteien, sondern letztendlich auch die SPD ab. So konstatierte der Vorsitzende der ­SPD-Bundestagsfraktion, Hans Ulrich Klose, in der zweiten und dritten Beratung der Folgegesetze des Asylkompromisses „bei vielen Menschen eine zunehmende Angst vor Überforderung und Wohlstandsverlusten durch die massenhafte mißbräuchliche Inanspruchnahme des Asylrechts. Und wer wollte bestreiten, daß es die gibt?“ (PlProt. 12/160, S. 13508 B).

Zudem waren Anfang der 1990 Jahre rechtsextreme Parteien in Landesparlamenten vertreten (Spier 2016, S. 262). Die DVU in Bremen 1991 mit 6,2 % und 1992 mit 6,3 % Stimmenanteilen in Schleswig–Holstein ­(Pfahl-Traughber 2013, S. 249) und die Republikaner in Berlin 1989 mit 7,5 % und in BadenWürttemberg 1992 mit 10,9  % (Kailitz 2013, S.  377). Gesellschaftlich herrschte eine ausländerfeindliche und rassistische Stimmung, die sich in Anschlägen, Morden und Pogromen etwa in Hoyerswerda (September 1991), Rostock-Lichtenhagen (August 1992), Mölln (November 1992) niederschlug ­ (Herbert 2001, S. 304 f. und 314 f., 2014, S. 95 ff.; Leggewie 2016; Prenzel 2012). Im Bundestag wurde, wenn auch nicht unwidersprochen, in diesem Kontext ernsthaft die Meinung vertreten, dass mit dem Asylkompromiss ein Mittel gegen Rechtsextreme und rassistische Einstellungen gefunden worden sei: „So, wie es uns gelingt, den Mißbrauch des Asylrechts einzudämmen, so wird sich die Einstellung unserer Bürger auch gegenüber vielen Asylbewerbern zum Positiven wenden. So wird vor allen Dingen den Rechtsextremisten der Wind aus den Segeln genommen werden, und so wird Schaden von dieser Demokratie abgewendet“ (Erwin Marschewski, CDU/CSU, Erste Beratung der Gesetze zum Asylkompromiss, 04.03.1993, PlProt 12/143: 12286 C; Herv. i. O.)

6Stand

September 1992 belegte das ehemalige Jugoslawien unter den zehn Hauptherkunftsländern mit 31,0 % aller Antragsteller*innen den ersten Rang; es folgten Rumänien mit 23,4 %, Türkei mit 6,4 %, Bulgarien mit 5,3 %, Nigeria mit 3,0 %, Vietnam mit 2,7 %, die ehemalige Sowjetunion mit 2,1 %, Zaire mit 1,9 %, Ghana mit 1,6 % und Afghanistan mit 1,6 % ­(BT-Drs. 12/3589, S. 2).

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Die Opposition sah darin eher den Irrglauben, „mit dem Öl der Grundgesetzänderung das Feuer der Pogromhetzer löschen zu können“ (Ulla Jelpke, PDS, PlProt. 12/143, S. 12.292 A). Parteiübergreifend, wenn auch nicht parteiübergreifend affirmativ, galt das Asylbewerberleistungsgesetz als Teil des Asylkompromisses vom 06.12.1992. Die den Entwurf eines AsylbLG einbringenden Fraktionen, CDU/CSU und FDP, hoben dessen migrationspolitische Bedeutung deutlich hervor: „Im Kern handelt es sich aber um eine Regelung des Aufenthalts- und Niederlassungsrechts von Ausländern nach dem Asylverfahrensgesetz“ (BT-Drs. 12/4451, S. 5). Deutlicher formulierte es die Mehrheit des Ausschusses für Familie und Senioren in ihrer Beschlussempfehlung zum Asylbewerberleistungsgesetz: „Der Gesetzentwurf verfolge das Ziel, keinen Anreiz zu schaffen, aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland zu kommen. Damit einhergehend werde durch die Umstellung auf Sachleistungen den Schlepperorganisationen der Nährboden entzogen“ (BT-Drs. 12/5008, S. 13 f.). Bisherige Leistungen für Asylbewerber wurden als pull-Faktor für „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „einträgliche[s] Geschäft“ für „Schlepperbanden“ (FDP MdB Jörg van Essen, PlProt. 12/143, S. 12.289 D f.) bewertet. In der namentlichen Abstimmung am 26. Mai 1993 erhielt das Asylbewerberleistungsgesetz mit 83 % oder 540 der 651 abgegebenen Stimmen höhere Zustimmungswerte als die Änderung des Grundgesetzes (80 %, 521 von 654) und des Asylverfahrens (76 %; 496 von 655) (PlProt. 12/160: Anhänge 4, 6, 7; eigene Berechnungen). Als „Begleitgesetz“ (Leuninger 1995, S. 77) flankierte das Asylbewerberleistungsgesetz sozialpolitisch die migrationspolitische Absicht, Deutschland als Aufnahmeland möglichst unattraktiv zu machen. Mit ihm sollte, so die Begründung im Gesetzentwurf, „das Leistungsrecht wesentlich dem Ausländerund Asylrecht angepaßt“ (BT-Drs. 12/4451, S. 5) werden: „Im Kern handelt es sich aber um eine Regelung des Aufenthalts- und Niederlassungsrechts von Ausländern nach dem Asylverfahrensgesetz“ (ebd.). Fürsorgerische Gesichtspunkte sollten gewahrt, aber zugleich und zuvorderst „vereinfacht und auf die Bedürfnisse eines hier in aller Regel nur kurzen, vorübergehenden Aufenthaltes abgestellt“ (ebd.) werden. Mit der Annahme eines vorübergehenden Aufenthaltes rechtfertigte der Gesetzgeber, fundamental von den Grundzügen des damaligen Existenzsicherungsrechts durch das Bundessozialhilfegesetz abzuweichen: • Statt Leistungen individuell zu bemessen wurden sie pauschaliert. • Ein „existentiell gesichertes und sozial integriertes Leben der Leistungsberechtigten ‚auf eigenen Füßen‘ in der Bundesrepublik Deutschland“ (ebd.)

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zu ermöglichen, ist nicht das Ziel, sodass die Leistungen den vermeintlich geringeren Bedarfslagen des kurzen Aufenthalts entsprechend abgesenkt worden waren. • Statt Selbständigkeit durch Geldleistungen zu ermöglichen, schränkte der Vorrang von Sachleistungen oder bestenfalls Wertgutscheinen die Handlungsmöglichkeiten der Hilfeempfänger*innen ein. • Medizinische Leistungen waren auf eine Minimalversorgung begrenzt. • Die Pflicht zur Aufnahme von Arbeitsgelegenheiten war verallgemeinert worden. Die 1993 im AsylbLG festgelegten Leistungsbeträge beruhten nicht auf konkreten Bedarfsermittlungen, sondern auf Kostenschätzungen ­(BT-Drs. 17/3660, S. 4). Sie blieben während der darauffolgenden knapp 20 Jahre unverändert. Stand Januar 2012 lagen die Leistungen nach dem AsylbLG 35 % unter denen der Grundsicherung nach dem SGB II bzw. XII (BVerfG 2012, Rn. 56). Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass aus migrationspolitischen Erwägungen mit dem Asylbewerberleistungsgesetz eine Sonderregel für die Sicherung des Existenzminimums zwar nicht erfunden, aber durch ein eigenständiges Leistungsgesetz gefestigt worden war.

2.2 Asylbewerber*innen sind auch Menschen im Sinne des Grundgesetzes Knapp zwanzig Jahre nach dem Asylkompromiss, am 18. Juli 2012, erklärt das Bundesverfassungsgericht die bis dahin geltenden Regeln des Asylbewerberleistungsgesetzes für verfassungswidrig. Es knüpft dabei an zentrale Feststellungen seines am 9.Februar 2010 gesprochenen Urteils zu den Regelbedarfssätzen des SGB II an (BVerfG 2010). Jede*r habe ein „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“, welches „dem Grunde nach unverfügbar“ sei und eingelöst werden müsse, wobei die Regelbedarfe „in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen“ seien (BVerfG 2010, Leitsätze 1 bis 3). Die Bedeutung des Urteils ist sehr unterschiedlich eingeschätzt worden: „Leeres Ausrufezeichen“ (Narr und Vogelskamp 2010, S. 18), „Paukenschlag mit Kompromisscharakter“ (Berlit 2010), „Danaergeschenk für den Gesetzgeber“ (Rothkegel 2010a), „neues Grundrecht auf Gewährung eines ­menschenwürdigen

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Existenzminimums“ (Lenze 2010, S. 4). Doch dass dieses Urteil über den Bereich der Grundsicherung hinausweist und sich auch auf die Existenzsicherung im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes erstrecken muss (Rothkegel 2010b; Classen und Kanalan 2010), ist auch der Bundesregierung unmittelbar bewusst gewesen (BT-Drs. 17/3660 vom 10.11.2010). Weiterhin hielt sie aber das Ziel, mit einer restriktiven Ausgestaltung des Asylbewerberleistungsgesetzes „Asylmissbrauch begünstigende wirtschaftliche Anreize zu vermindern“, für „verfassungsrechtlich unbedenklich“ (ebd., S. 12). Eben diese politischen, bedarfsfremden Motive verwarf das Bundesverfassungsgericht: „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“ (BVerfG 2012, Rn. 121). Mit seinem Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz konkretisiert das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum: Es steht sowohl deutschen als auch ausländischen Staatsangehörigen gleichermaßen zu (BVerfG 2012, Leitsatz 2 und Rn. 89). Das Verfahren, mit dem 1993 die Leistungen im AsylbLG bestimmt worden waren, ist weder transparent noch sachgerecht, sondern nur Schätzungen. Weil sie seit 1993 nicht angepasst worden waren, hat das BVerfG sie als „evident unzureichend“, (BVerfG 2012, Leitsatz 1) bewertet. Auf die Frage, ob nach Personengruppen und Aufenthaltsstatus differenzierte Existenzminima bestehen dürfen, lautet die Antwort des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht schlicht „Nein“. Auch hier sind die Argumente konsequent bedarfsorientiert (Rothkegel 2012, S. 360). Ausgangspunkt müsse zwar stets eine „einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz“ (BVerfG 2012, Rn. 120) sein, eine Differenzierung sei aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen. „Minderbedarfe“ oder ggf. auch „Mehrbedarfe“ (BVerfG 2012, Rn. 100) müssten jeweils „in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden“ (ebd., Leitsatz 3). Eine Abweichung sei nur dann möglich, wenn der „Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht“ (ebd.). Das Bundesverfassungsgericht verfügte eine Übergangsregelung, mit der es die Leistungen nach dem AsylbLG deutlich erhöhte, und ordnete eine „unverzügliche“ Neuregelung durch den Gesetzgeber an, welcher dieser jedoch erst im September 2014 (BT-Drs. 18/2592) nachkam. Trotz der klaren Absage an migrationspolitische Motive enthält § 1a AsylbLG weiterhin eine Sperre gegen vermutete Immigration in die Sozialsysteme. Ob und ggf. unter welchen Bedingungen damit erneut eine verfassungswidrige Regelung getroffen worden

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ist, ist zumindest umstritten (A-Drs. 18(11)229; Berlit 2018; Birk 2015, S. 52; Rothkegel 2012). Mitte der 1990 Jahre bezogen 489.742 Menschen Leistungen nach dem AsylbLG. Bis 2009 sank die Anzahl auf 121.235. Zum Höhepunkt der so genannten „Flüchtlingskrise“ waren es 974.551. Dementsprechend stiegen auch die Ausgaben für das AsylbLG. Im Jahr 2015 waren es 5,3 Mrd. Euro oder 0,6 % des Sozialbudgets bzw. 0,17 % des Bruttoinlandsproduktes.7 Was gesamtwirtschaftlich nahezu vernachlässigt werde kann, ist aufgrund der föderalen Finanzstruktur – wie von Hassel und Schiller (2010) am Beispiel Hartz IV gezeigt – für die kommunalen Haushalte jedoch umso bedeutender (DST 2016, 2017). Der Kern des fiskalischen Problems lag und liegt demnach auf der Ebene der Finanzstruktur der Gebietskörperschaften. Im Zuge der so genannten „Flüchtlingskrise“ erfolgte eine zumindest teilweise Rückkehr zu einer bedarfsfremden, migrationspolitischen, auf die Beseitigung von Fehlanreizen bzw. sogenannter pull-Faktoren zielenden Politik (Brings und Oehl 2016; Voigt 2016). Mit den „Asylpaketen“ I und II8 sind Leitungsverbesserungen, welche durch die Neuregelung erst eingeführt worden waren, „weitgehend wieder aufgehoben und durch weitere Verschlechterungen ergänzt worden“ (Berlit 2018, S. 43). Letztendlich hat das Bundesverfassungsgericht ein Urteil gesprochen, mit dem Sondergesetze, wenn sie denn an der Menschwürde orientiert sowie bedarfsorientiert fundiert und begründet sind, nicht zwangsläufig gegen das Grundgesetz verstoßen.

7Eigene

Berechnungen auf Grundlage von Statistisches Bundesamt (2018a) und BMAS (2018). Die Statistik des Statistischen Bundesamtes enthält verschobene Werte der Empfänger*innenzahlen und der Bruttoausgaben für 2015/16, welche das Ergebnis einer Unter- respektive Übererfassung sind. Die beiden Maximalwerte zusammenbringend betrugen die Bruttoausgaben im Spitzendwert 9,42 Mrd. Euro und entsprechend 1,0 % des Sozialbudget bzw. 0,3 % des BIP. 8„Asylpaket I“: Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz v. 20.10.2015; „Asylpaket II“: Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren v. 11.03.2016.

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C. Brütt

3 „Sonderrechte“ als Normalfall bundesdeutscher Sozialstaatlichkeit Der deutsche Sozialstaat behandelt nicht alle gleich. Er ist nicht universalistisch.9 Das gilt zunächst entlang der Differenzierung nach nationalstaatlicher Zugehörigkeit bzw. Staatsbürgerschaft (Mohr 2005), aber auch innerhalb des nationalstaatlichen Systems sozialer Sicherung. Ungleichbehandlung entlang sozialrechtlicher Kategorisierungen ist kein Diskriminierungstatbestand, der allein auf Geflüchtete oder Menschen mit Migrationshintergrund zuträfe. „Sonderrechte“, im Guten wie im Schlechten, sind insofern keine Randerscheinung, sondern zentrales Konstruktionsmerkmal des konservativen deutschen Sozialstaats. In der statushierarchischen Ordnung stratifizierter Rechte (2.1) ist die Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes 1993 Ausgangspunkt für eine Kategorisierung der Mindestsicherung, die mit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende ihren vorläufigen Abschluss gefunden hat (2.2).

3.1 Der Sozialstaat als statushierarchische Ordnung stratifizierter Rechte Der Wohlfahrtsstaat lässt sich soziologisch als sozialstaatlich gestuftes System der Ungleichbehandlung und statushierarchischer Ordnung stratifizierter Rechte analysieren (Lessenich 2012, S. 105). Er sei, so Esping-Andersen (1990, S. 23), auf der einen Seite ein Instrument, mit dem die gesellschaftliche Ungleichheitsstruktur beeinflusst bzw. korrigiert wird. Zugleich stelle er, auf der anderen Seite, ein ganz eigenes System der Stratifizierung dar, ordnet auf ganz eigene Weise soziale Beziehungen und Handlungsoptionen: „It is an active force in ordering of social relations“ (ebd.; Esping-Andersen 2015). Zentral ist die Feststellung, dass „Unterschiede in sozialpolitischen Transfereinkommen und Unterschiede in der Zugänglichkeit zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen […] die Güterversorgung, die äußere Lebensstellung und das innere Lebensschicksal“ (Lepsius

9Dass

auch als „universalistisch“ geltende Sozialstaaten Unterschiede entlang nationaler Kategorien machen, sei hier ergänzend erwähnt. Unter anderem unter dem Stichwort „welfare chauvinism“ wird dies für Dänemark von Jørgensen und Thomsen 2016, für Schweden von Norocel 2016 und für Finnland von Keskinen 2016 analysiert und diskutiert.

Vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Altersarmut

215

1979, S. 179) der Menschen beeinflussen. Ob hierdurch eigene „Versorgungsklassen“ (Lepsius 1979; kritisch Alber 1984), neben Besitz- und Erwerbsklassen (im Sinne Max Webers) treten, sei dahingestellt. In Deutschland waren es die in den 1880er Jahren eingeführten Sozialversicherungen und hierunter vor allem die gesetzliche Rentenversicherung, mit denen Transferleistungsempfänger*innen erstmals zu Träger*innen sozialer Rechte wurden. Obwohl sich die Leistungshöhe auf dem Niveau der Armenpflege bewegte und der Leistungszugang unter dem Vorbehalt geleisteter Pflichtbeiträge stand, markierte der subjektive Rechtsanspruch eine normative Neuorientierung: Der „kleine, antirevolutionäre Unterschied“ (Leibfried und Tennstedt 1985, S. 78) zum bisherigen Armenrecht bestand darin, dass Leistungen ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Einschränkungen im Wahlrecht erbracht wurden (Rückert 1990, S. 13; Ritter 2010, S. 63). Die Leistungsempfänger*innen waren nicht mehr nur Objekte staatlicher Ordnungspolitik, sondern nunmehr Subjekte mit eigenständigen Ansprüchen, mit „subjektiven Rechten aus Zahlzwang aus am Markt erwirtschafteten Mittel“ (Rückert 1990, S. 17, Herv.i.O.). In der Fürsorgepolitik überdauerte der Status des Armen – Hilfe objektivrechtlich, also aus Gründen der öffentlichen Ordnung zu erhalten – bis zu einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 1954 (BVerwG 1954), welches wegweisend für die Einführung des individuellen Rechtsanspruchs durch das Bundessozialhilfegesetzes 1961 war (Brütt 2011, S. 217 f.). Trotz der Aufwertung der Fürsorgeempfänger*innen ist eine statushierarchisierende Ordnung verblieben, die immer wieder, wenn auch auf verschiedene Weise, dargestellt worden ist: Als „Spaltung des Sozialstaats“ in „Armenpolitik und Arbeiterpolitik“ (Leibfried und Tennstedt 1985), als Zweiteilung in eine „Beletage“ der Sozialversicherungen und ein „Souterrain“ der Mindestsicherung (Rosner 1990, S. 299), mithin als eine „Hierarchie von Sozialleistungen“ (ebd., S. 307).10 Zentrale Sozialfigur des sozialversicherungspolitischen Denkens ist der „Arbeitsbürger“ (Ferber 1967, S. 35; Honneth 2003, S. 166; Leibfried und Tennstedt 1985, S. 76 ff.), dessen idealtypische soziale Sicherung sich von jener des fürsorgepolitisch gedachten „Armen“ und des versorgungspolitisch gedachten „Staatsbürgers“ unterscheidet. Innerhalb der Statusgruppe der „Arbeitsbürger“ existierte eine Unterscheidung von Arbeiter und Angestellte als „Reflex

10Privilegiert

außen vor stehen bis heute Beamt*innen.

216

C. Brütt

ständischen Denkens“ (Köhler 1990, S. 53). Die damit verbundenen unterschiedlichen Beitrags- und Leistungshöhen11 sind mit der Rentenreform 1957 angeglichen, die Trennung in unterschiedliche Gesetze12 mit der Einführung des SGB VI 1992 aufgehoben und zuletzt die vormals organisatorisch getrennten Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten zum 01.01.2005 zusammengeführt worden (Keck 2011). Bis heute ist der deutsche Sozialstaat nach den Prinzipien Sozialversicherung, Fürsorge und Versorgung strukturiert, wobei das Sozialversicherungsprinzip eindeutig dominant ist. Das lässt sich zum einen quantitativ an den Ausgaben für die soziale Sicherung festmachen: 2017 entfielen gut 60 % der insgesamt 966 Mrd. Euro auf die Sozialversicherungen (BMAS 2018, S. 10, Tab. I-2). Zum anderen spielen qualitative Aspekte für die Dominanz eine Rolle. Mit sozialpolitischen Leistungen wird stets entschieden, wer, warum was und in welchem Umfange erhält: Soziale Gerechtigkeit und damit auch die Gewährung von Sozialleistungen orientiert sich am Bedarf, an der Gleichheit oder an der Leistung (Miller 1976; Toens 2003). Sie kommen, so Miller (2008, S. 67 ff.), in spezifischen Formen menschlicher Beziehungen zur Geltung: „Bedarf“ im Modus der „solidarischen Gemeinschaft“ und der Nahbeziehungen, Gleichheit im Modus der „Staatsbürgerschaft“, also der politischen Gleichheit, und Verdienst bzw. Leistung im Modus des Zweckverbandes und somit im Bereich des ökonomischen, instrumentellen Handelns. In der Fürsorge erhalten Arme bei Bedürftigkeit steuerfinanzierte Leistungen nach Bedarf. In der Versorgung erhalten Staatsbürger*innen aufgrund ihrer Statusgleichheit ebenfalls steuerfinanzierte, aber gleiche Leistungen. Und in der Sozialversicherung erhalten Arbeitsbürger*innen teilhabeäquivalent zu ihren pflichtverbeitragten Erwerbseinkommen, also durch Beitragszahlungen zum guten Teil selbstfinanzierte Lohnersatzleistungen, mit denen der einmal über den Arbeitsmarkt erreichte sozioökonomische Lebensstandard abgesichert werden soll. Das System der Sozialversicherungen, nahezu idealtypisch die gesetzliche Rentenversicherung, bilanziert, belohnt oder bestraft individuelle Erwerbsbiographien, welche mit individuell zurechenbarer Leistung gleichgesetzt werden. Es

11Die Leistungsunterschiede wurden mit der 1911 eingeführten Hinterbliebenenversorgung ausgebaut: Während den Witwen von Arbeitern nur im Falle eigener Invalidität eine Witwenrente zugesprochen wurden, erhielten Witwen von Angestellten vorbehaltlos eine Witwenrente, da ihnen die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht unbedingt zumutbar gewesen sei (Köhler 1990, S. 67, 71; Haerendel 2011, S. 23). 12Für Arbeiter: Reichsversicherungsordnung; für Angestellte: Versicherungsgesetz für Angestellte.

Vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Altersarmut

217

ist daher „geradezu in idealer Weise kognitiv und moralisch anspruchslos“ (Offe 1990, S. 185). Während an der staatsbürgerlichen Gleichheit orientierte Sozialtransfers so gut wie keine Rolle im gegenwärtigen deutschen Sozialstaat spielen,13 ist die dominante Orientierung an der so genannten „Leistungsgerechtigkeit“ weithin stabil – leicht modifiziert vor allem dann, wenn sie gegenwärtig produktivistisch neu ausgerichtet wird ­(Esping-Andersen 2002; Lessenich 2004; Pioch 2005)14 . Die wichtigsten Sozialtransfers stehen nunmehr nicht allein unter „lohnarbeitszentrierten“ (Vobruba 1990, S. 30), sondern zunehmend auch unter produktivistischen Vorbehalten, welche sich als workfare-Orientierung bis in die Mindestsicherungssysteme durchziehen (Brütt 2011).

13Staatsbürgerversorgung

wäre vielmehr die Grundlogik eines bedingungslosen Grundeinkommens (Offe 2005; Brütt 2009). 14Ein einschlägiges Beispiel für die produktivistische Neuausrichtung ist die Familienpolitik. Markiert wird dies z. B. am begrifflichen Wandel vom Familienlasten- zum Familienleistungsausgleich, mit dem nicht mehr die finanzielle Belastung für die Familie, sondern die durch die Familie erbrachte gesellschaftlich, demografisch und vor allem wirtschaftlich funktionale Leistung im Fokus staatlicher Familienpolitik steht. Jüngstes Beispiel ist das sogenannte „Gute-Kita-Gesetz“ (Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung). Auch wenn in der Begründung des Gesetzentwurfs sehr wohl kinderpolitische und auch gesellschaftspolitische Argumentationsfiguren zu finden sind, die für einen Qualitätsausbau der Kitas und eine Kostenentlastung für einkommensschwache Familien sachlich ausreichend gewesen wären, werden prominent wirtschafts- und bevölkerungspolitische Argumentationsfiguren herangezogen. Mit Bezug auf die Europa- 2020-Strategie der EU betont die Bundesregierung die Bedeutung der frühkindlichen Bildung für die spätere Beschäftigungsfähigkeit der Kinder (BT-Drs.  ­ 19/4947, S.  13). Im investiven, produktivistisch gewendeten Begründungszusammenhang sind Ausgaben für Kitas vor allem als Investitionen zu werten, weil renditeträchtig: Mit Bezug auf das Bundeswirtschaftsministerium hebt die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf die „fiskalische Rendite von quantitäts- und qualitätsfördernden Ausgaben“ in der frühkindlichen Bildung hervor, welche in diesem Bereich „rund 8 %“ und gesamtwirtschaftlich „mindestens 13 %“ betrage. Zum Effekt durch eine aktuelle „anteilige Gegenfinanzierung über die signifikante Erhöhung des Arbeitsangebots der Eltern“ würden langfristig „positive Beschäftigungseffekte für Eltern“ treten, die zu einem höheren BIP führten. Zudem würden langfristig „die künftigen Erwerbschancen der Kinder verbessert“ und sich weitere, nicht-fiskalische Effekte „wie z. B. eine erhöhte Lebenszufriedenheit, verringerte Kriminalität oder eine höhere Bereitschaft für gesellschaftliches Engagement“ ergeben (BT-Drs. 19/4947, S. 13 f.). Zu den Argumentationsfiguren in der Familienpolitik Kaufmann (1993, S. 142 ff.), zu den Effekten einer „exklusiven Emanzipation“ produktivistischer Familienpolitik am Beispiel des Elterngeldes siehe Henninger et al. (2008).

218

C. Brütt

3.2 Das AsylbLG als Beginn einer Kategorialisierung der Mindestsicherung In einem System stratifizierender Rechte ist das Asylbewerberleistungsgesetz nur eines von mehreren Sondergesetzen – genauer gesagt: In der Hierarchie der sozialstaatlichen vermittelten Statuspositionen jenes deutlich unterhalb der anderen. Wenn das System der sozialen Sicherung vereinfachend als Gebäude verbildlicht wird15 , stellt die Positionierung im Gebäude sowohl die Versorgungslage als auch die gesellschaftliche Anerkennung der Leistungsempfänger*innen dar. Die Sozialversicherungen sind in der Beletage des Hauses angesiedelt, während sich die Systeme der Mindestsicherung im Souterrain befinden. Das Asylbewerberleistungsgesetz „unterkellert“ gewissermaßen das Souterrain deutscher Sozialstaatlichkeit. Seine in diesem Sinne historische, systematische Besonderheit liegt nun darin, dass es Anfang der 1990er den Auftakt bildete, ein bereits zuvor bestehendes „gestuftes System der Armenpolitik“ (Zuleeg 1985, S. 301) weiter zu kategorisieren und zu differenzieren. Im Bild des Gebäudes sozialer Sicherung bleibend erfolgte mit dem Pflegeversicherungsgesetz 1994 die zweite Ausgliederung nach oben: Aus der Hilfe in besonderen Lebenslagen des sozialhilfepolitischen ‚Souterrains‘ in die sozialversicherungsrechtliche ‚Beletage‘. Ausgangspunkt war die finanzielle Belastung der Kommunen durch die Pflegekosten (BT-Drs. 12/5262, S. 61; Hinrichs 1995; Schölkopf und Hoffer 2017). Als normativ problematisch erachtete die Bundesregierung, dass Pflegebedürftigkeit eine finanzielle Bedürftigkeit verursachte, die den Zielen des Statuserhalts und der Lebensstandardsicherung zuwiderliefen und zudem die Leistungsbereitschaft der Beitragszahler*innen untergrüben (BT-Drs. 12/5262, S.- 62). Die normative Problemdefinition der Pflegever­ sicherung lautete demnach, dass nicht im ‚Souterrain‘ landen dürfe, wer Anwartschaften auf die ‚Beletage‘ erworben habe. Die Pflegebedürftigen sollten „vom Ruch der ‚Armenfürsorge‘ […] befreit“ werden (Naegele 2014, S: 15), was jedoch aufgrund der Konstruktion der Pflegeversicherung als „Teilkaskoversicherung“ nicht durchgängig gelungen ist (ebd., S. 25). Während ausgehend vom Souterrain der Sozialhilfe das Asylbewerberleistungsgesetz 1993 eine Unterkellerung, d. h. eine Ausgliederung nach unten, und das Pflege-Versicherungsgesetz 1994 eine Ausgliederung nach oben in die

15Zu

einer anderen Darstellung der Architektur des Sozialstaatsgebäudes siehe Offe (1998).

Vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Altersarmut

219

Beletage der Sozialversicherungen darstellte, wurde mit der Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2001 ein Art Hochparterre eingezogen. Es befindet sich sozial-räumlich über dem Niveau des Souterrains, schließt aber nicht zur Beletage auf. Der Zugang zum Hochparterre ist wie zuvor im Souterrain der Sozialhilfe finanziell bedürftigkeitsgeprüft, jedoch mit eingeschränkter familialer Unterhaltspflicht, um „verschämte Altersarmut“, also die Nichtinanspruchnahme trotz Berechtigung und Bedürftigkeit16 , zu vermeiden. Wie bei der Pflegeversicherung so spielt auch bei der dritten Form der kategorialen Ausgliederung die besondere ‚Würdigkeit‘ der Adressaten eine hervorgehobene Rolle. Moralische Bedürftigkeitsprüfungen, speziell die für die damalige Sozialhilfe und heutige Grundsicherung für Arbeitsuchende typische Abfrage der Arbeitsbereitschaft, sind nicht vorgesehen. Der Zugang erfolgt allein bei Bedürftigkeit nach Erreichen der Altersgrenze oder eines gesetzlich definierten Grades an Erwerbsminderung. Mit den sogenannten Hartz-Reformen (Brütt 2003) fand die Kategorialisierung der Mindestsicherung einen vorläufigen Abschluss. Bereits in den 1980er Jahren war kritisiert worden, dass Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ähnliche Adressatengruppen umfassten, diese aber statusungleich behandelt worden waren. Wer Arbeitslosenhilfe bezog, befand sich, wenn auch nicht komfortabel, immer noch auf der Beletage der Sozialversicherungen. Die Arbeitslosenhilfe war ein Hybrid aus Sozialversicherung und Fürsorge; ihre Leistungshöhe war auf das vorherige Lohneinkommen bezogen und unterlag zugleich einer Bedürftigkeitsprüfung. Zudem war sie zwar beitragszeitenabhängig, aber steuerfinanziert. Arbeitsfähige und arbeitslose Sozialhilfeempfängerinnen hingegen befanden sich im Souterrain der sozialen Sicherung. Sie hatten keinen Zugang zu den Leistungen der Arbeitsförderung, unterlagen einer strikteren Bedürftigkeitsprüfung beim Bezug der ebenso steuerfinanzierten Leistungen. Doch während in den 1980er Jahren darüber diskutiert worden war, wie durch eine bedarfsorientierte Grundsicherung ein „Abstieg“ aus der Beletage ins Souterrain vermieden oder eine Diskriminierung der Sozialhilfeempfänger*innen aufgehoben werden könnte (z. B. Opielka und Zander 1988), folgten die Hartz-Reformen der

16Ob

dieses Ziel tatsächlich als erreicht gelten kann, muss aufgrund der bekannten Raten der Nichtinanspruchnahme im Bereich der Grundsicherung im Alter von zwei Fünftel bis zwei Drittel infrage gestellt werden (Bruckmeier et al. 2013).

220

C. Brütt

Logik der Anpassung nach unten. Die Arbeitslosenhilfe als Statuspuffer zwischen Beletage und Souterrain wurde schlicht gestrichen.17 Das Souterrain besteht nunmehr aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende, welche im Kern zwischen erwerbsfähigen Arbeitslosengeld I-Empfänger*innen und deren Kindern mit Sozialgeldanspruch unterscheidet (Brütt 2011, S. 253 ff.).

4 Heute AsylbLG – morgen Altersarmut? Hier soll und kann auch gar nicht bestritten werden, dass mit einer Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes Verbesserungen für die Geflüchtete einhergingen – wie z. B. Regelleistungen für den Lebensunterhalt oder eine Gesundheitsversorgung auf dem Niveau von Grundsicherungsempfänger*innen. Doch selbst wenn die statusrechtliche Diskriminierung durch das Ausländer-, ­Arbeitsmarkt- und Sozialleistungsrecht überwunden wären, blieben insbesondere für selbst Zugewanderte etliche Hürden. Am Beispiel der Alterssicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung und der aktuell damit wieder verbundenen Frage nach einer steigenden Altersarmut soll dies im Folgenden kurz erläutert werden.

4.1 Grundprinzipien der gesetzlichen Rentenversicherung Das Grundprinzip der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) für das Alter ist schlicht: Wer nach einer Mindestversicherungszeit, rentenrechtlich als „Wartezeit“18 bezeichnet, den Zugang zu Alterssicherungsleistungen erworben hat, erhält entsprechend der Höhe der individuell eingezahlten Beiträge eine Alters-

17In

den ersten Jahren existierte eine Art Schwundform der Statussicherung im SGB II. Wer Arbeitslosengeld II nicht direkt, sondern im Anschluss an Arbeitslosengeld I bezog, erhielt einen befristeten Zuschlag. Dieser Zuschlag ist 2011 mit der Begründung gestrichen worden, dass er systemfremd sei (BT-Drs. 17/3030, S. 49). Aktuell wird erneut diskutiert, ob diese Form des Abstandsgebotes zwischen langjährigen Beitragszahler*innen und jenen im SGB II, die nicht zuvor Arbeitslosengeld I bezogen haben, ausgebaut werden müsse. Mit § 147 Abs. 2 SGB III ist bereits eine solche abgestufte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I nach Beitragsdauer und Alter vorhanden. 18Die sogenannte „allgemeine Wartezeit“ beträgt 5  Jahre. Daneben bestehen noch gesonderte Wartezeiten für spezifische Rentenarten(§ 50 SGB VI).

Vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Altersarmut

221

rente. Jedoch werden diese Beiträge in eine mehrfache Relation gesetzt: Zum einen die Einzahlungsphase in Relation zu den jeweils aktuellen Durchschnittseinkommen aller Beitragszahler*innen: Wer in einem Jahr exakt dieses Durchschnittseinkommen – 2017 waren es brutto 3091,92 € im Monat (DRV 2018) – erreicht hat, erhält einen Entgeltpunkt oder entsprechend mehr bei über- resp. weniger bei unterdurchschnittlichem Einkommen. Die Summe der persönlichen Entgeltpunkte ergibt sich aus der Höhe des während des Erwerbslebens verbeitragten individuellen Einkommens in Relation zum Durchschnittseinkommen und dem Zugangsfaktor, mit dem z. B. bei Beitragszahlungen über die regelaltersgrenze hinaus Zu- und bei vorzeitigem Renteneintritt Abschläge eingerechnet werden. Eine weitere Relationierung findet in der Auszahlungsphase statt: Um diese Entgeltpunkte in einen konkreten Auszahlbetrag umzuwandeln und die Rentner*innen an dem aktuellen Lohnniveau teilhaben zu lassen, werden die Entgeltpunkte mit dem „aktuellen Rentenwert“ multipliziert. In seiner jährlichen Anpassung wird neben Lohnentwicklung („Entgeltfaktor“) doppelt auf die jeweils aktuellen Beitragszahler*innen Bezug genommen, indem sowohl die Entwicklung der Beitragssatzhöhe als auch das quantitative Verhältnis von Beitragszahler*innen und Rentner*innen (Rentnerquotient im sogenannten Nachhaltigkeitsfaktor) berücksichtigt wird.19 Wer 2017 nach 45 Jahren lückenloser sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und stets durchschnittlichem Einkommen in eine Altersrente ging, erhielt die so genannte „Standardrente netto vor Steuern“ in Höhe von 1243 € in Westdeutschland und 1189 € in Ostdeutschland. Diese Standardrente ist jedoch mehr Rentenfiktion als Ruhestandwirklichkeit. Die Neurentner*innen im Jahr 2017 erreichten im Durchschnitt weder 45 Beitragsjahre und erreichten – bis auf westdeutsche Männer – auch nicht den einen Entgeltpunkt pro Jahr. Die durchschnittlichen Zahlbeträge aller Altersrenten lagen deutlich, bei westdeutschen Frauen zum Beispiel knapp 50 %, unterhalb der jeweiligen Standardrente (siehe Tab. 1). Je länger Beiträge gezahlt werden und je höher die Beiträge sind, desto höher ist die Altersrente in Deutschland. Mit der gesetzlichen Rente wird also eine vermeintlich individuell gute wie schlechte Performanz am Arbeitsmarkt bilanziert, aber nicht verändert. Die einmal erreichte ökonomische Position wird im Guten wie im Schlechten in die Nacherwerbsphase verlängert. Anders als zum Beispiel

19Zur

tatsächlich etwas komplexeren Rentenberechnung und Rentenanpassung siehe Seiter (2011); zur jüngsten Anpassung des aktuellen Rentenwerts im Juli 2018 siehe Steffen (2018).

222

C. Brütt

Tab. 1   Altersrenten insgesamt, jeweils durchschnittliche Versicherungsjahre, Entgeltpunkte pro Jahr und Rentenzahlbeträge von Zugängen in die Altersrenten 2017 sowie Standardrente netto vor Steuern 2017 Versicherungs- Entgeltpunkte Rentenzahl- Standardrente jahre pro Jahr betrag in € in € Westdeutschland Männer Frauen Ostdeutschland

40,6

1,005

1052

32,3

0,727

665

Männer

43,5

0,914

1034

Frauen

43,2

0,824

932

1243 1189

Quelle: DRV 2018

Dänemark, die Niederlande, Norwegen und Großbritannien kennt die deutsche Rentenversicherung keinen sozialen Ausgleich für Niedriglohnbezieher*innen, der sich zum Beispiel an einer höheren Bruttoersatzrate für unter- und einer geringeren Bruttoersatzrate für überdurchschnittliche Einkommenspositionen messen ließe (OECD 2017, S. 101).20 Niedriglohnbezieher*innen können somit kaum eine gesetzliche Altersrente oberhalb des Grundsicherungsniveaus beziehen: Nach Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales betrug Ende 2017 der Bruttobedarf in der Grundsicherung im Alter 814 €. Um über diese sozialrechtliche Armutsschwelle zu gelangen, mussten nach 45 Beitragsjahren 29,5 Entgeltpunkte erreicht worden sein. Das war rechnerisch nur möglich, wenn der Stundenlohn in diesen 45 Jahren mindestens 12,63 € brutto betragen hatte (BT-Drs. 19/2083, S. 54). Mit dem 2017 geltenden Mindestlohnniveau (8,84 €) ist dies rechnerisch unmöglich. Und auch mit dem 2019 auf 9,19 € und 2020 auf 9,35 € steigenden gesetzlichen Mindestlohn (Mindestlohnkommission 2018) wird demzufolge nach 45 Beitragsjahren die Grundsicherungsschwelle nicht überschritten werden können. Sowohl mit Blick auf die politisch-sozialrechtliche Grundsicherungs- als auch auf die einkommensstatistische Armutsrisikoschwelle ist Altersarmut heute noch

20Genau

genommen kennt die GRV diesen Ausgleich nicht mehr: Die Anfang der 1970er Jahre eingeführte Rente nach Mindesteinkommen und nunmehr als Rente nach Mindestentgeltpunkten noch vorhandene Regelung (§ 262 SGB VI) zur Aufstockung niedriger Einkommen und dementsprechend niedriger Entgeltpunkte langjährig Versicherter ist auf rentenrechtliche Zeiten vor 1992 begrenzt. Das Instrument diente ursprünglich „als Ausgleich für Lohndiskriminierungen langjährig erwerbstätiger Frauen“ (Hermann 1990, S. 121; Steffen 2011; Thiede 2009).

Vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Altersarmut

223

kein Massenphänomen21 : Seit ihrer Einführung im Jahr 2003 hat sich die Anzahl der Empfänger*innen von Leistung der Grundsicherung im Alter von 257.734 auf 544.090 (Statistisches Bundesamt 2018b) zwar mehr als verdoppelt. Die Grundsicherungsquote betrug Ende 2017 gerade mal 3,2 %22 (Statistisches Bundesamt 2018b). Die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder (2018a) weisen auf der Grundlage des Mikrozensus 14,6 % der 65-Jährigen und Älteren und 15, 8 % der Gesamtbevölkerung als armutsgefährdet aus.23 Auch wenn Altersarmut aktuell noch kein Massenphänomen ist, wird sie künftig zunehmen. Hauptrisikogruppen dieser Entwicklung sind alleinstehende und -erziehende Frauen, Ostdeutsche, Langzeiterwerbslose und Migrant*innen (Geyer und Steiner 2014; Haan et al. 2017; relativierend: Kaltenborn 2017). Hierzu trägt zum einen die Arbeitsmarktentwicklung bei, die als Prekarisierung und Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen (Castel und Dörre 2009; Schulze Buschoff 2016; Stuth et al. 2018) beschrieben werden kann. Zum anderen wird sich der rentenpolitische Paradigmenwechsel seit Beginn der 2000er Jahre auswirken, welcher im Wesentlichen einen Wechsel von einer ausgabenorientierten Einnahmepolitik (defined benefits) zu einer einnahmeorientierten Ausgabenpolitik (defined contributions) und somit eine Abkehr vom Leistungs- zum Beitragsprimat bedeutet (Deml et al. 2008; Schmähl 2011). Das Ziel, die durch das sinkende Rentenniveau24 entstehende Vorsorgelücke durch staatlich subventionierte private Vorsorge („Riester-Rente“) zu schließen, wird insbesondere für Niedriglohnbezieher*innen und Langzeitarbeitslose kaum zu erreichen sein (Geyer 2011; Promberger et al. 2012).

21Zu

den Unterschieden von Grundsicherungsquote und Armutsgefährdungsquote siehe Munz-König (2013); Schüssler (2015). 22Gemessen nicht an der Bevölkerungsgruppe insgesamt, sondern an allen Empfänger*innen einer Altersrente, war die Grundsicherungsquote mit 2,7 % etwas geringer (DRV 2018). 23Diese Aussagen aufgrund des Mikrozensus können mit den Daten SOEP bestätigt werden. Laut EVS und EU-SILC sind jedoch 65-Jährige und Ältere häufiger armutsgefährdet als der Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung (siehe hierzu https://www.armutsund-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Armut/A01-Excel-Armutsrisikoquote. xlsx?__blob=publicationFile&v=19, Zugegriffen: 06.12.2018). 24Das sinkende Rentenniveau ist bis heute in der Diskussion. So zuletzt mit dem RVLeistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz, mit dem eine „doppelte Haltelinie für das Sicherungsniveau vor Steuern bei 48 % und den Beitragssatz bei 20 %“ eingeführt worden ist ­(BT-Drs. 19/4668, S. 2). Zur Diskussion siehe die schriftlichen Stellungnahmen zur Sachverständigenanhörung (A-Drs. 19(11)180).

224

C. Brütt

Niedrige Renten bedeuten nicht zwangsweise Altersarmut. Die Bundesregierung verweist darauf, dass niedrige Renten nicht zwingend Altersarmut bedeuten müssen, da neben der gesetzlichen Rente Einkünfte aus zusätzlicher Altersvorsorge bestehen könnten. Von einer flächendeckenden Verbreitung zusätzlicher Altersvorsorge kann jedoch nicht gesprochen werden. Im Alterssicherungsbericht 2016 gibt die Bundesregierung den Anteil derjenigen, die über eine betriebliche Altersvorsorge verfügen mit 57 % an, wobei Ältere (55–65 Jahre) zu zwei Drittel, aber nur knapp die Hälfte der Jüngeren (25–35 Jahre) auf diese Weise vorsorgen (können). Über die gesamte Breite des Anfang der 2000er Jahre eingeführten Drei-Säulen-Modells sorgen nur ein Fünftel der Beschäftigten (Ältere 14 %, Jüngere 19 %) vor (BT-Drs. 18/10.571, S. 115, Tab. D.3.3.).

4.2 Migration und Alterssicherung Einen Migrationshintergrund zu haben, gilt als Altersarmutsrisiko (Frick et al. 2009; Tucci und Yıldız 2012; TNS Infratest 2013; Heien 2015; Haan et al. 2017; Söhn 2018;). Dreh- und Angelpunkt ist stets die Dauer und Höhe der Beitragszahlungen, die über sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vermittelt ist. Schlechtere Schulabschlüsse und ein späterer Ausbildungsbeginn können Risikofaktoren sein: Deutsche Ausbildungsanfänger*innen sind durchschnittlich 19,4 Jahre alt, ausländische Ausbildungsanfänger*innen 20,7 Jahre (BIBB 2017: 180, Tabelle A5.8–3). Gut ein Drittel (35 %) aller Zugewanderten (mit eigner Migrationserfahrung) im Vergleich zu einem Zehntel (10,8 %) aller ohne Migrationshintergrund besitzen keinen berufsqualifizierenden Abschluss (Statisches Bundesamt 2018c; eigene Berechnungen). Unweigerlich prägt das Einreisealter die weitere Erwerbsbiografie. Je später Beiträge zur gesetzlichen Rente gezahlt werden können, desto geringer wird diese ausfallen. 2017 beträgt das durchschnittliche Alter der Menschen mit eigener Migrationserfahrung bei der Einreise nach Deutschland 23,5 Jahre alt, das der Schutzsuchenden mit unbefristet anerkanntem Schutzstatus 26,8 Jahre (Statistisches Bundesamt 2018c, d). Selbst wenn das Ankunftsalter auch dem Erwerbseintrittsalter in den deutschen Arbeitsmarkt entsprechen sollte, müsste diese Erwerbstätigkeit bis zur Regelaltersgrenze von 67 Jahren ununterbrochen anhalten und mit Löhnen deutlich oberhalb des Mindestlohns und außerhalb des Niedriglohnsektors einhergehen, um zu einem Rentenniveau oberhalb der Grundsicherung zu führen. Die bisherigen Arbeitsmarktdaten differenziert nach Migrationshintergrund lassen dies aber nicht erwarten.

Vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Altersarmut

225

Im Vergleich zu Menschen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 65 Jahren ohne Migrationshintergrund weisen Menschen mit eigener Migrationserfahrung eine deutliche, um zehn Prozentpunkte geringere Erwerbstätigenquote und eine doppelt so hohe Erwerbslosenquote auf. Am größten sind die Unterschiede in der Altersgruppe der 18 bis 25-Jährigen (Tab. 2 und 3). Der Anteil von Menschen mit Migrationserfahrung, die in Haushalten ohne Erwerbstätige leben, ist doppelt so hoch wie der entsprechende Anteil bei Menschen ohne Migrationshintergrund (Tab. 4). Zugewanderte arbeiten in Deutschland häufiger als im Durchschnitt der OECD und der EU – zu 40 % statt zu 20 % – in Jobs, die geringe Qualifikation voraussetzen und dementsprechend einen geringen Lohn einbringen (OECD und EU 2018, S. 84). Eine Folge davon kann Armut trotz Erwerbstätigkeit sein. Der Anteil der working poor ist unter den erwerbstätigen Menschen mit eigener Migrationserfahrung mit 14,3 % mehr als doppelt so hoch als unter den Erwerbstätigen ohne Migrationshintergrund (6,2 %) (Tab. 4).

Tab. 2   Erwerbstätigenquoten 2017 nach Migrationshintergrund Alter 15–18

18–25

25–35

35–45

45–65

15–65

Bevölkerung insgesamt

13,3 %

59,5 %

80,4 %

85,1 %

78,9 %

75,2 %

Ohne Migrationshintergrund

14,9 %

63,7 %

85,3 %

89,3 %

80,4 %

78,4 %

9,9 %

49,1 %

68,6 %

75,9 %

72,0 %

65,5 %

Mit eigener Migrationserfahrung 6,9 %

Mit Migrationshintergrund

43,5 %

67,5 %

75,1 %

71,4 %

68,0 %

Quelle: Mikrozensus, Statistisches Bubdesamt 2018c; eigene Berechnungen

Tab. 3   Erwerbslosenquote 2017 nach Migrationshintergrund Alter Bevölkerung insgesamt

15–18

18–25

25–35

35–45

45–65

15–65

8,0 %

6,6 %

4,6 %

3,5 %

3,0 %

3,8 %

ohne Migrationshintergrund

7,6 %

5,2 %

3,6 %

2,6 %

2,6 %

3,1 %

mit Migrationshintergrund

10,7 %

10,8 %

7,5 %

5,8 %

5,2 %

6,6 %

mit eigener Migrationserfahrung

/

13,0 %

7,5 %

5,8 %

5,3 %

6,4 %

Quelle: Mikrozensus, Statistisches Bundesamt 2018c; eigene Berechnungen

226

C. Brütt

Tab. 4   Menschen in erwerbsfernen Haushalten und armutsgefährdete Erwerbstätige 2016 Anteil der 18- bis 60jährigen, die in einem Haushalt ohne Erwerbstätige leben

Armutsgefährdete Erwerbstätige

Bevölkerung insgesamt

9,1

7,7

Ohne Migrationshintergrund

7,6

6,2

Mit Migrationshintergrund

14,0

13,6

Mit eigener Migrationserfahrung

15,2

14,3

Quelle: Statistisches Bundesamt 2017

Um Aussagen über die Vorsorge mit der gesetzlichen Rente treffen zu können, sind die Erwerbstätigenquoten weniger aussagekräftig als die Beschäftigungsquoten, da zu den Erwerbstätigen neben den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auch nicht versicherungspflichtige Erwerbstätige wie z. B. Selbständige und Beamt*innen zählen. In den veröffentlichten Statistiken der Bundesagentur für Arbeit sind derzeit Angaben zu den Beschäftigungs- und auch Arbeitslosenquoten nicht nach Migrationshintergrund oder Migrationserfahrung, sondern nur nach Staatsangehörigkeit vorhanden.25 Einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung geht ein deutlich geringerer Anteil der Ausländer*innen als der Deutschen nach. Ihre Beschäftigungsquote liegt Im Dezember 2017 mit 44,8 % gegenüber 61,9 % 17 Prozentpunkte hinter jener der Deutschen. Mehr als drei Mal so hoch ist sowohl die Arbeitslosenquote (13,6 %) als auch die Quote der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im SGB II (19,5 %) bei Ausländer*innen (Deutsche 4,4 % bzw. 5,9 %)( BA 2018b, Tab. 2.3 u. 3.4; BA 2019, Tab. 2). Ein später und/oder ein bezogen auf das Einkommen schlechter Einstieg in den Arbeitsmarkt wird durch die äquivalenzfixierte Rentenversicherung sozialpolitisch nicht ausgeglichen, sondern schlicht an die für Armutsmilderung zuständige Grundsicherung im Alter weitergereicht. Gemessen an der Grundsicherungsschwelle ist Altersarmut mit 3,2 % aller Menschen ab der Regelalters-

25Ende

2008 ist mit Artikel(Artikel oder §? Müsste vereinheitlicht werden) 1 des Gesetzes zur Einführung Unterstützter Beschäftigung als zweiter Absatz § 281 SGB III, konkretisiert durch die Migrationshintergrund-Erhebungsverordnung (MighEV) vom 29.10.2010 die Bundesagentur für Arbeit, verpflichtet worden, Angaben zum Migrationsstatus zu erheben. Die entsprechenden aktuellen Erhebungen beruhen auf unvollständigen Befragungen, sind also anders als die üblichen, im Verwaltungsprozess generierten Daten

Vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Altersarmut

227

Tab. 5   Armutsrisikoquoten 65-Jährige und Ältere 2017 nach Migrationshintergrund Insgesamt

Mit überwiegendem Lebensunterhalt aus Rente, Pensionen

Bevölkerung insgesamt

14,6

14,0

Ohne Migrationshintergrund

12,4

12,3

Mit Migrationshintergrund

31,7

28,4

Mit eigener Migrationserfahrung

32,3

28,9

Quelle: Mikrozensus, Statistisches Bundesamt 2018c

grenze nicht sehr hoch. Differenziert nach Staatsangehörigkeit ergibt sich hier ein anderes Bild: 2,5 % der deutschen Staatsbürger*innen im Rentenalter bezogen die Grundsicherung im Alter26, jedoch 16,8 % der Ausländer*innen (Statistisches Bundesamt 2018b). Auch gemessen an der Armutsrisikoschwelle des Mikrozensus27 macht der Migrationshintergrund einen Unterschied: Die Armutsrisikoquote der Zugewanderten war bei den 65-Jährigen und Älteren mit eigner Migrationserfahrung mit 32,3 % um mehr als das Zweieinhalbfache höher als bei den Altersgenoss*innen ohne Migrationshintergrund (12,4 %). Zugewanderte, die ihren Lebensunterhalt überwiegend aus einer eigenen Rente oder Pension bezogen, waren in etwas geringerem Umfang (28,9 %) armutsgefährdet (Tab. 5). Ob Zugewanderte überhaupt eine Altersrente beziehen, ist maßgeblich vom Einreisealter abhängig. Das Einreisealter sei, so Söhn (2018, S. 34), der „direkteste migrationsbezogene Einfluss auf das Risiko, keine Altersrente zu beziehen“. Zugewanderte weisen, so Söhn (2018, S. 47 f.), trotz einer kürzeren Erwerbsbeteiligung auf dem deutschen Arbeitsmarkt längere Arbeitslosigkeitsphasen und damit deutlich geringere Beitragszeiten auf als Einheimische. Im Gegensatz zu Menschen ohne Migrationserfahrung können Zugewanderte ohne eigene gesetzliche Rente seltener auf andere Alterssicherungsleistungen zurück-

der BA(Abkürzung muss zuvor eingeführt werden) keine Vollerhebungen. Als Ergebnisse werden weder Beschäftigungs- noch Arbeitslosenquoten ausgewiesen (siehe hierzu BA 2012, 2018). 26Im Dezember 2018 betrug der durchschnittliche Bruttobedarf in der Grundsicherung im Alter für Menschen ab der Regelaltersgrenze 811 €, der durchschnittliche Nettobedarf (nach Anrechnung von Einkommen) 439 € (Statistisches Bundesamt 2018b). 27Im

Jahr 2017 betrug die am Bundesmedian gemessene Armutsrisikoschwelle 999 € (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2018b).

228

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greifen. Nur 3,4 % unter ihnen beziehen eine öffentliche Pension. Unter den nicht Zugewanderten sind es 44,2 %. Betriebliche Altersrenten beziehen sie zu 2,0 %, im Gegensatz zu 3,8 % der nicht Zugewanderten ohne eigene gesetzliche Rente. Knapp ein Fünftel der als Erwachsene Immigrierten, die im Alter keine Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen, erhalten eine Rente aus dem Ausland28 (ebd., S. 30, Tab. 1). Sofern eigene Altersrenten vorliegen, sind jene der Deutschen ohne Migrationshintergrund deutlich höher als jene der Menschen mit Migrationshintergrund. Wie zu erwarten liegen die Hauptgründe in der Versicherungsdauer, aber deutlich auch in der Beitragshöhe (TNS Infratest 2013, S. 25).

5 Fazit Die Besonderheit des Asylbewerberleistungsgesetzes liegt nicht darin, dass es ein „Sondergesetz“ ist, sondern dass es in der statushierarchischen Ordnung stratifizierter Rechte das Sozialleistungsrecht unterschichtet. Um ‚Sonderbehandlungen‘ durch den deutschen Sozialstaat abzuschaffen, müsste das gesamte System sozialer Sicherheit umgebaut werden. Der deutsche Sozialstaat behandelt Gleiches ungleich und Ungleiches gleich. In der Fürsorge differenziert er die Gleichheitsnorm des für jede*n zu gewährenden menschenwürden Existenzminimum nach Bedürftigkeit, Arbeitsbereitschaft und Zugehörigkeit zur ‚solidarischen Gemeinschaft‘ und der Nahbeziehungen. In der Rentenversicherung funktioniert er im Modus des

28Wie

auch im Ausländerrecht prägen Statusunterschiede die Chancen, sodass z. B. rentenrechtliche Zeiten aus anderen Ländern als Mindestversicherungszeiten (Wartezeiten) im deutschen Rentenrecht anerkannt werden: In Bezug auf die Rentenversicherung zu nennen sind nationale Fremdrentenrechte nach dem Fremdrentengesetz (FRG), welches historisch auf „Volksdeutsche“, also Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR, zielt; das überstaatliche Sozialrecht der EU (Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009), welches vor allem der Flankierung der Freizügigkeit im EU-Binnenmarkt dient; sowie zwischenstaatliches Sozialrecht in Form von bilateralen Sozialversicherungsabkommen (aktuell 22; BMAS 2019), mit dem die jeweiligen nationalen Regelungen koordiniert werden, um Nachteile für Arbeitnehmer*innen, die in verschiedenen Staaten erwerbstätig sind, zu vermeiden (Grotzer 2011; Bokeloh 2015). Von den zehn häufigsten Herkunftsländern der 2010 bis 2017 nach Deutschland immigrierten Schutzsuchenden (Syrien, Afghanistan, Irak, Eritrea, Iran, Russische Föderation, Pakistan, Somalia, Nigeria, Albanien) (Statistisches Bundesamt 2018d) besteht nur mit Albanien ein Sozialversicherungsabkommen.

Vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Altersarmut

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Zweckverbandes und setzt trotz ungleicher Leistungsvoraussetzungen gleiche Leistungsfähigkeit voraus. Er tut so, als wären die Leute immer schon da, als hätten sie alle die gleichen Chancen, über eigene Anstrengungen ausreichende Anwartschaften auf eine gute Rente zu erwerben. Doch den von der Rente geforderten Anstrengungen liegen Normalitätsannahmen zugrunde, die bereits ‚Einheimische‘ immer weniger und Zugewanderte erst gar nicht erfüllen können. Es steht zu befürchten, dass der für Zugewanderte vorgezeichnete Weg vom Asylbewerberleistungsgesetz über einen Niedriglohnarbeitsmarkt in die Altersarmut verläuft. Die gesetzliche Rentenversicherung gilt zu Recht als Kern des deutschen Sozialstaates. Aber sie ist nicht migrationssensibel. Sie ist noch nicht einmal intensiv daraufhin befragt worden, welchen Teil zur „Integration“ sie beitragen könnte oder sollte. Überlegungen zur Integration müssten über die Herkunft der Zugewanderten hinaus nicht allein ihr Ankommen in Deutschland, sondern vielmehr auch ihre Zukunft in den Blick nehmen. Insgesamt ist der deutsche Sozialstaat noch nicht in der Migrationsgesellschaft angekommen. Denn es mangelt ihm an einer lebensverlaufsübergreifenden Perspektive sozialer Sicherung für Zugewanderte und damit an Integrationskraft.

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Prof. Dr. Christian Brütt;  Professur für Sozialpolitik und Sozialverwaltung, Hochschule Darmstadt, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit, Forschungsschwerpunkte: Sozialpolitik, Armutspolitik, Alterssicherungspolitik, Familienpolitik, E-Mail: [email protected].

Gesundheitsversorgung Geflüchteter und Asylsuchender am Beispiel der Therapiezugänge in Berlin – ein Erfahrungsbericht

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Miriam Meyer

Zusammenfassung

Der Erfahrungsbericht aus der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten eröffnet Einblicke in die Herausforderungen der professionellen Traumabehandlung der Menschen mit Fluchterfahrungen. In der Gesundheitsversorgung der Geflüchteten ist die Psychotherapie nicht nur zum Wohl der Geflüchteten geboten, sie ist auch Voraussetzung für das Gelingen ihrer Integration in den Arbeitsmarkt. Um den besonderen Herausforderungen der Traumabehandlung von Geflüchteten gerecht zu werden, bedarf es adäquater Innovationen im Gesundheitssystem.

1 Einleitung Der folgende Erfahrungsbericht beschreibt exemplarisch die gesundheitliche Versorgung von Asylsuchenden und Geflüchteten in Deutschland mit Blick auf die therapeutische Versorgung von Geflüchteten und Asylsuchenden, die Überlebende von Folter und (politischer) Verfolgung sind. Dazu wird zunächst die gesundheitliche Situation Geflüchteter allgemeiner thematisiert. Danach wird differenziert

M. Meyer (*)  Stockach, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_15

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M. Meyer

zwischen Menschen im Asylverfahren und mit Aufenthaltsstatus. An einem fiktiven Beispiel aus der Praxis sollen abschließend die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen sozialarbeiterischer Interventionen verdeutlicht werden.

2 Zur gesundheitlichen Situation Geflüchteter In den Medien und im Diskurs um Geflüchtete und Asylsuchende war in den letzten Jahren das Wort „Trauma“ nicht wegzudenken. Was aber steht dahinter? Warum ist es so wichtig, die Auswirkungen von Trauma in Bezug auf die Integration der Betroffenen und der zugrunde liegenden Gesetzeslage zu verstehen? Zur Beantwortung dieser Frage dienen zunächst einige Fakten, bevor ein Beispiel aus der Praxis vorgestellt wird. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPTK) veröffentlichte schon im September 2015 als unverzügliche Reaktion auf die eintreffenden „Geflüchtetenströme“ ihren Standpunkt bezüglich der häufigen Prävalenz psychischer Erkrankungen unter Asylsuchenden und Geflüchteten. Sie wollte auf aufkommende (und schon existierende Bedürfnisse) aufmerksam machen und berief sich dabei auf Studien aus dem Ausland, die zeigen, dass „weltweit mindestens 20 % der Flüchtlinge unter Depressionen und mehr als 20 % unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden (Lindert et al. 2008)“. Dem gegenüber stehen Studien, die in Deutschland durchgeführt wurden: Sie zeigen auf, dass knapp die Hälfte der erwachsenen Geflüchteten unter einer PTBS, bzw. einer Depression leiden (Gäbel et al. 2005; von Lersner et al. 2006) – oft treten die Erkrankungen zudem gemeinsam auf (Perkonigg et al. 2000; Flatten et al. 2011). Im Vergleich zur deutschen Gesamtbevölkerung: 2,3 % leiden hier unter einer PTBS, und 7,9 % unter einer Depression (Genz und Jacobi 2014). Damit ist die PTBS bei erwachsenen Geflüchteten mindestens 8,7-fach und Depressionen mindestens 2,5-fach häufiger als in der deutschen Bevölkerung. Legt man Ergebnisse aus Studien mit Geflüchteten in Deutschland zugrunde, sind die PTBS sogar rund zwanzigmal und Depressionen rund sechsmal so häufig (BPTK 2015). Die hier angeführten Zahlen stammen alle aus der Zeit vor der „großen Ankunft“ von Geflüchteten und Asylsuchenden seit 2015. Die Vermutung liegt nahe, dass sich die Zahlen seitdem nicht verringert, sondern eher zugenommen haben – in Anbetracht der Situation in den Herkunftsländern der Geflüchteten. Es handelt sich hier also nicht um eine verschwindend geringe Minderheit unter Asylsuchenden und Geflüchteten, die unter traumatischen Erkrankungen leiden, sondern im Gegenteil um eine ernstzunehmende Zahl, deren adäquater Behandlung dringend Platz gegeben werden muss.

Gesundheitsversorgung Geflüchteter und Asylsuchender …

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In Deutschland gibt die 1996 gegründete Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) eine mögliche Behandlungsantwort auf die Bedürfnisse von traumatisierten Geflüchteten und Asylsuchenden. Sie ist eine der ältesten Zusammenschlüsse zu dieser Thematik und verfügt über langjährige Erfahrung in ihrer Arbeit. In ihr sind psychosoziale Behandlungszentren für Flüchtlinge und Folteropfer vernetzt, die Menschen, die politischer Verfolgung und Folter ausgesetzt waren, p­sychosozial-therapeutisch-integrative Hilfen (u. a. Psychotherapie und sozialarbeiterische Beratung) mit der Unterstützung von Sprach- und Kulturmittler*innen (BAfF 2019) anbieten. In jedem Bundesland sind der BAfF angehörige Zentren zu finden, in Berlin ist es das Zentrum Überleben (Zentrum Überleben 2018a). In der Abteilung Ambulanz für Erwachsene (Zentrum Überleben 2018b) bietet das Team aus Ärzt*innen, Sozialarbeiter*innen und Psychotherapeut*innen den Opfern von Menschenrechtsverletzungen neben den oben genannten Angeboten auch die Dokumentation und Begutachtung von Folterfolgen nach dem Istanbul-Protokoll der Vereinten Nationen (UN 2004) an. Die Menschen, die die Erwachsenenambulanz des Zentrum Überleben aufsuchen, sind entweder noch in ihrem Asylverfahren oder haben bereits einen Aufenthaltstitel. Diese Unterscheidung ist wichtig zu treffen, da sie den Betroffenen unterschiedliche Zugänge zum gesundheitlichen Versorgungssystem bietet.

3 Menschen, die sich noch im Asylverfahren befinden Wer sich im laufenden Asylverfahren (Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG) befindet und den ärztlichen Beweis einer dringend benötigen Behandlung erbringen kann (Überweisungsschein des Allgemeinarztes im Aufnahmezentrum, Krankenhaus), hat einen Anspruch auf eingeschränkte gesundheitliche Versorgung im Notfall sowie bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen (§ 4 AsylbLG). Der Anspruch auf psychotherapeutische Unterstützung kann also nur gewährt werden, wenn er sich als Notfall darstellen lässt. Dann werden die Kosten für die Therapiesitzungen von dem Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) übernommen. Denn wer noch im Asylverfahren ist, bekommt zwar eine elektronische Gesundheitskarte (eGK) (Vertragspartner bei der Umsetzung der eGK des Landes Berlin sind die AOK Nordost, die DAK-Gesundheit, die BKK·VBU und die Siemens-Betriebskrankenkasse (Wächter-Raquet 2016), aber diese Gesundheitskarte entspricht nicht einer vollständigen ­GKV-Mitgliedschaft. Die Leistungen werden vom Sozialamt bezahlt, das den Krankenkassen nach

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§ 264 Abs. 2 SGB V die Behandlungskosten plus eine Verwaltungspauschale erstattet. Nach der Anerkennung als Geflüchteter oder nach 15 Monaten ununterbrochenen Aufenthalts im Bundesgebiet erhalten Asylsuchende Leistungen analog zum Zwölften Sozialgesetzbuch (SGB XII; § 2 AsylbLG). Die in diesem Sinne Leistungsberechtigten erhalten eine Versichertenkarte einer gesetzlichen Krankenversicherung ihrer Wahl und können damit GKV-Leistungen im vollen Umfang, mit Ausnahme der Leistungen der Pflegeversicherung, beanspruchen. „Disease-Management-Programme bei chronischen Krankheiten“ sind laut § 4 AsylbLG nicht inklusive in den krankenkassenähnlichen Leistungen für Menschen, die sich noch im laufenden Asylverfahren befinden – dieser kleine Nebensatz hat schwerwiegende Folgen für die betroffenen Menschen. Denn die Auswirkungen von erlebtem Kriegsgeschehen, erfahrener Folter und erlittenem Verlust von geliebten Menschen und der eigenen Heimat machen sich nicht nur seelisch durch Flashbacks, Alpträume, Impulskontrollverluste, Schuldgefühle (ICD 10 2018) bemerkbar, sondern sind oft von körperlichen Erscheinungen begleitet, wie z. B. Lungenerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebserkrankungen (Frommberger et al. 2014). Ist also eine seelische Begutachtung durch Psychotherapie errungen, gilt es oftmals die chronischen Begleiterscheinungen ebenfalls zu behandeln, die sich bei Nichtbehandlung erheblich verschlimmern und den Heilungsprozess der betroffenen Menschen immens einschränken. Die Nichtbehandlung erschwert also den Integrationsprozess, da das Nachgehen einer regulären Arbeit in vielen Fällen durch chronische Erkrankungen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist (Baron und Flory 2018). Der Flüchtlingsrat Berlin forderte daher 2016 in einer Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses, dass die „Gewährung der ‘erforderlichen‘ Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes, der Gesundheit und der Teilhabe an der Gesellschaft nicht von einem vorherigen zeitaufwändigen förmlichen Feststellungsverfahren nach der Asylaufnahmerichtlinie abhängig gemacht werden darf“ (Flüchtlingsrat Berlin 2016, S. 28).

4 Menschen mit abgeschlossenem Asylverfahren und Aufenthaltsstatus: Bei Aufsuchen eines Allgemeinarztes oder einer Allgemeinärztin kann diese/r einen Überweisungsschein zu einem/einer Psychotherapeuten/-in ausstellen, die betroffene Person muss sich dann eine/n Psychotherapeuten/ -in suchen, die/der über die Krankenkasse abrechenbar ist. Nach mindestens 3–4 Monaten

Gesundheitsversorgung Geflüchteter und Asylsuchender …

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Wartezeit gibt es derzeit einen Termin. Dieser ist aber nur möglich, wenn die Hilfe suchende Person entweder flüssig Englisch oder Deutsch spricht. Bei Bedarf an Übersetzung dezimiert sich die Auswahl der zur Verfügung stehenden Therapeut*innen drastisch, die Wartezeit auf einen möglichen Termin steigt hingegen um ein Vielfaches an. Übersetzung wird nur in Ausnahmefällen vom Sozialamt gewährleistet, da diese eine Kann- und keine Soll-Leistung ist. Die hilfesuchenden Menschen müssen daher entweder selbst für ihre Therapie bezahlen, was sich die allerwenigsten leisten können, da sie durch ihre Flucht an Status, Geld und auch Familie verloren haben und nicht aus eigenen Mitteln eine teure Therapie bezahlen können, oder aber sie müssen sich an eine der wenigen Organisationen wenden, die mit qualifizierten Sprachmittler*innen zusammenarbeiten.

5 Praxisbeispiel Herr Rahimi1 (fiktive Person, Geschichte abgeleitet aus vielen Praxisfällen) kommt aus dem Iran. Aufgrund seiner sexuellen Orientierung wurde er in seinem Heimatland gefoltert. Er ergriff die Flucht und beantragte in Deutschland nach einem traumatischen Fluchtweg Asyl. Da sowohl der Fluchtweg als auch das im Heimatland Erlebte ihm keine Ruhe ließen, wurde er von einer aufmerksamen Sozialarbeiterin, die seine Symptome von Nervosität, Alpträumen und ‚Wegdriften‘ als Zeichen einer möglichen posttraumatischen Erkrankung zu deuten wusste, in seiner Geflüchtetenunterkunft zwei Monate nach Ankunft in Deutschland an das Zentrum Überleben in Berlin vermittelt. Nach einem Erstgespräch wurde deutlich, dass eine Psychotherapie Herrn Rahimi helfen kann. Nach drei Monaten Behandlung hat Herr Rahimi seine Anhörung beim BAMF und bekommt nach zwei weiteren Monaten seine Anerkennung als Geflüchteter. Damit wechselt sein rechtlicher Status und er bekommt von nun an nicht mehr Leistungen vom LAF, sondern von dem ihm zugewiesenen JobCenter. Herr Rahimi ist erleichtert; er kann nun nicht mehr abgeschoben werden und kann an beruflichen Integrationsmaßnahmen teilnehmen. Außerdem kann er nun endlich eine Physiotherapie beantragen, da seine Schulter in der Folter mehrfach gebrochen wurde und die Schmerzen (sowie die damit verknüpfte Erinnerung

1Fiktive

Person, konstruiertes Fallbeispiel abgeleitet aus realen Praxisfällen.

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an das Geschehene) ihm bis jetzt im Alltag zu schaffen machen. Zuvor, über die Gesundheitsleistungen des LAFs, wurde Herr Rahimis Antrag auf Physiotherapie abgelehnt, da seine Schmerzen als nicht akut genug galten, um ärztliche Gegenmaßnahmen einzuleiten. Er erhofft sich von der Physiotherapie eine Linderung der Schmerzen und dadurch die Möglichkeit, eine Arbeit aufzunehmen. Allerdings hören seine Alpträume nicht auf, er leidet nach wie vor unter dem Erlebten und verspürt auch in Deutschland die Angst vor dem Ausgestoßen-Sein. Außerdem belastet ihn das Erlernen der neuen Sprache – ­ durch die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung fällt ihm das Erinnern schwer, er braucht doppelt so lange wie seine Bekannten, um sich die einfachsten Wörter zu merken. Die wöchentlichen Treffen mit einem Psychotherapeuten und der iranischen Sprachmittlerin* bringen Erleichterung. Da nun aber keine Kosten mehr für die Sprachmittlerin* übernommen werden, hat er Angst vor einem Therapieende – ein Freund von ihm, der ebenfalls nach seiner Ankunft therapeutische Hilfe von einem niedergelassenen Therapeuten in Anspruch nahm, berichtete von dem Therapieabbruch, da kein Geld mehr da war für die Bezahlung des Sprachmittlers. Das Zentrum Überleben kann als nichtstaatliche Organisation durch andere Spendengelder dies aber ausgleichen und Herr Rahimi kann seine Therapie weiterführen. Der Mangel an Fachkräften zur psychotherapeutischen Behandlung und Beratung Geflüchteter verschärft sich jedoch in Deutschland weiter. Der Versorgungsnotstand für Folterüberlebende und traumatisierte Geflüchtete schreitet somit voran. Gebraucht werden künftig vor allem ausgebildete Fachkräfte, die durch spezifische Fortbildungen und andere Angebote der fachlichen Qualifizierung entsprechend weitergebildet werden könnten. Das Fachwissen und jahrelange Erfahrungen in der Arbeit mit Flüchtlingen und Folteropfern sind in den psychosozialen Zentren schon jetzt vorhanden. Diese brauchen jedoch mehr finanzielle Unterstützung, um ihre Angebote adäquat umsetzen zu können. Bisher gehen Ressourcen für die Qualifikation von Fachkolleg*innen zulasten der Patient*innen. Gelder, die für Fortbildungsangebote aufgewendet werden, fehlen gleichzeitig in der Versorgung der besonders Schutzbedürftigen. In diesem Schema wird sich die Notlage in der Gesundheitsversorgung Geflüchteter in Deutschland weiter verschärfen (Zentrum Überleben 2018a).

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Gesundheitsversorgung Geflüchteter und Asylsuchender …

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M. Meyer

Miriam Meyer; Soziale Arbeit (BA), EH Freiburg, Soziale Arbeit (MA) mit Schwerpunkt Trauma- und Krisenmanagement, University of Tel Aviv, Bob Shapell School of Social Work. Derzeit tätig bei der Nichtregierungsorganisation ASSAF (Aid Organization for Asylum Seekers and Refugees) in Tel Aviv, Israel, als Koordinatorin des Projekts: Besonders schutzbedürftige Asylsuchende und Geflüchtete, E-Mail: Miriam.r.meyer@ posteo.de.

Bildung regieren. Bildungspolitische Ansätze von Innovation und Legitimation im Kontext von Migration und Flucht

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Anselm Böhmer

Zusammenfassung

Der Beitrag untersucht die Wechselwirkungen von Innovation und Legitimation im Bereich der Bildungspolitik. Der Autor diagnostiziert eine aus Innovationsblockaden resultierende Legitimationskrise im Umgang mit Geflüchteten im föderalen Bildungssystem Deutschlands. Er stellt aus Sicht der Erziehungswissenschaft die Frage, inwieweit politisch evozierte Innovationen auf die Bildungssysteme einwirken oder ob nicht vielmehr umgekehrt davon ausgegangen werden müsse, dass Innovationen eher zugunsten der Inklusion von Geflüchteten und Schüler*innen mit sog. Migrationshintergrund wahrscheinlich werden, wenn sie aus den Bildungssystemen selbst, durch die Betroffenen selbst, zudem die Dienste und Einrichtungen und die dort tätigen Fachkräfte, angestoßen werden. Dass durch die Zuwanderungen seit 2015 viele gesellschaftliche Funktionssysteme in Deutschland herausgefordert wurden und noch werden, ist mittlerweile allseits bekannt – öffentlich diskutiert, politisch zunehmend disputiert und auch in den Angeboten von Bildungs- und Sozialdienstleister*innen umfänglich ausgewiesen. Besonders beachtlich erscheint dabei, dass gerade öffentliche

A. Böhmer (*)  PH Ludwigsburg, Ludwigsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_16

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A. Böhmer

Akteure, aber in noch höherem Maße Individuen und zivilgesellschaftliche Gruppen bis auf den heutigen Tag diese Veränderungen durch vielfältige Initiativen annehmen und dadurch weiterhin konstruktiv – und nicht selten mit bemerkenswertem innovativem Potential – entwickeln. Wenn im Folgenden Einschätzungen zu den noch en détail auszuweisende Befunden formuliert werden (vgl. Abschn. 2 dieses Textes), dann geschieht dies vor dem Hintergrund der Projekte des Verfassers (u. a. Böhmer 2019, 2017a), die – teilweise in internationalen Kooperationsprojekten – im Zusammenhang mit der Erforschung von Sachlagen der Bildungs- und der sozialräumlichen Inklusion, eingebettet in die Debatten der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung und die öffentlichen Diskurse sowie der sozialarbeiterischen und sozialrechtlichen Positionierungen zu Aufenthalts- und Bildungsfragen, durchgeführt wurden. Die Sprecher*innenposition des Autors soll allein schon deshalb deutlich gemacht werden, um somit auch eine epistemologische Verortung der nun folgenden Aussagen vornehmen sowie ihre Limitationen beschreiben zu können. Politische Ansätze von Innovation und Legitimation in der Arbeit mit neu Eingewanderten werden hier aus den verschiedenen empirischen Zugängen ins Feld und mithilfe der dabei gesammelten Befunde geschildert. Dementsprechend werden die Ausführungen zunächst eine Klärung des im Folgenden verwendeten Innovationsbegriffs darbieten (1). Die anschließende Betrachtung ausgesuchter migrationspolitischer Politiken und Maßnahmen in der Bildungsarbeit auf der Ebene der Bundesländer kann damit über die jüngeren Prozesse informiert erfolgen (2) und zugleich jene Handlungsräume erkennbar machen, in denen sich Innovationen, aber auch Legitimations- und Akzeptanzprobleme einstellen (3). Ein Fazit führt die Erträge dieser Analyse zusammen, skizziert zugleich deren Grenzen und entwirft Perspektiven für die Grundlegung einer künftigen Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft (4).

1 Politische Innovation im Feld von Bildung Möchte man innovative Elemente in der Bildungsarbeit mit neu Eingewanderten identifizieren, ist zunächst einmal eine Klärung des Begriffs vonnöten. Insofern erscheint es prima facie angemessen, Innovation als die Beantwortung wahrgenommener Bedarfe durch eigens zu diesem Zweck neu entwickelte bedarfsund umfeldorientierte, mehrdimensionale Lösungen zu fassen (Kuhlmann und Arnold 2001; Lindner et al. 2016). Für die hier aufgeworfene Frage ist insofern erforderlich, die bildungsspezifischen Aspekte im Kontext von Migration und Flucht darauf hin zu überprüfen, wie sich für neu Eingewanderte Bedarfe und

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Herausforderungen ihrer Bildungsprozesse darstellen und welche bedarfs- und umfeldorientierten politischen Antworten daraus in neuer Form abzuleiten sind. Nicht zuletzt müssen für die Bildungs- wie für die Soziale Arbeit spezifische Akteurskonstellationen angenommen werden. So ist der staatliche Sektor im Bildungs- wie im Sozialwesen keineswegs nur mit der Gestaltung von Rahmenbedingungen und somit der Kontextsteuerung für die Infrastruktur befasst, sondern kann im hier untersuchten Feld zugleich als Auftraggeber*in, Leistungsträger*in, Leistungserbringer*in und in vielfältigen anderen möglichen Konstellationen fungieren. Zudem sind die Nutzer*innen sozialer und bildungsbezogener Dienstleistungen zugleich die Koproduzent*innen dieser Leistungen und müssen folglich in ihrer eigenen Expertise und Dynamik in die innovationstreibenden Prozesse einbezogen gesehen werden (Böhmer 2015). Dies wird umso deutlicher, als im Mehrebenensystem der Migrationspolitik, v. a. aber auch der Bildungspolitik (zum Bildungsföderalismus: Reuter 2018) unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Hoheitsrechten und Durchgriffsmöglichkeiten zu berücksichtigen sind. Um diese strukturellen Besonderheiten von Bildungs- und Sozialer Arbeit wissend, lässt sich aus der angeführten Innovationsforschung ableiten, dass innerhalb feldspezifischer Gegebenheiten und im Rahmen der Governance des Bildungssystems (Altrichter 2015) verschiedene Akteure Lösungen für Bedarfe im Kontext definiter Rahmenbedingungen und gegebener Infrastrukturen neu entwickeln, erproben, etablieren und weiterentwickeln. Auf diese Weise ergibt sich ein komplexes Bedingungsgefüge für Innovationen in Bildungs- und in Sozialer Arbeit, da die Akteure und ihre Kombinationen ganz oder teilweise zugleich Auftraggebende, Produzierende, Nutzer*innen und Evaluierende sein können. Dies hat zur Konsequenz, dass mitunter Bedarfs- oder auch Ursache-Wirkungs-Analysen für die Entwicklung bestimmter Innovationen keine linearen Verläufe rekonstruieren können, sondern in diesem multifaktoriellen Feld mehrere Beteiligte und von den produzierten Ergebnissen Betroffene sowie die damit einhergehenden komplexen Strukturen und Prozesse in den Blick bekommen. Politische Innovation im Feld von Bildung bedeutet deshalb eine analytisch nicht immer eindeutige, in ihren Bedingungszusammenhängen komplexe und in ihren Erträgen nicht selten polyvalente Ertragslage. Folglich können auch die Analysen der zu Tage tretenden Politiken zwar Befunde des jeweiligen Ist-Standes formulieren, müssen sich aber angesichts der komplexen Genese, der sich darin kontinuierlich vermischenden Interessenlagen und der dem Governance-Stil geschuldeten Dynamik einer Zuordnung von Einzelmaßnahmen zu politischen Agenden, gesellschaftlichen Sektoren und individuellen wie kollektiven Akteuren weitgehend enthalten. Denn im zuvor

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dargelegten Sinne ist eine eineindeutige Zuordnung von Befunden zu Akteuren und Interessen selbst dann nicht möglich, wenn sich einzelne aus ihrem Kreis zu dem einen oder anderen Leitbild, Wert, interessengeleiteten Motiv o.a. bekennen wollten. In der politischen Praxis über die verschiedenen föderalen Ebenen hinweg, durch die einzelnen gesellschaftlichen Sektoren hindurch und innerhalb der faktisch gegebenen Aushandlungsprozesse verändern sich solche Konzepte und Ziele allzu oft und allzu unübersichtlich, als dass hier noch von einer solchen distinkten Motivlage auszugehen wäre. Damit aber muss auch die forschungsstrategische Reliabilität eines gemeinsamen Analyserahmens für vergleichende Governance-Studien jenseits einer lediglich allgemein-strukturellen Grundkonzeption von Governance (Benz 2009, S. 81 ff.) fraglich erscheinen. Als Konsequenz aus diesen forschungsstrategischen Überlegungen ergibt sich die Möglichkeit einer Analyse der Ist-Stände von Bildungspolitiken und ihre potentiellen Konsequenzen; die normative Zuordnung sowie die Klärung von Verantwortlichkeiten für Umsetzungen sowie für Unterlassungen können nicht mehr Ertrag eines wissenschaftlichen Zuganges sein. Dazu sind andere Diskursräume und -formate vonnöten. Zur Illustration dieser Auffassungen seien einleitend die mancherorts im Bundesgebiet (wieder) etablierten Unterrichtsformate benannt, die häufig als „Vorbereitungsklassen“ (VKL), „Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf mit Schwerpunkt Erwerb von Deutschkenntnissen“ (VABO) oder auch „Willkommensklassen“ bezeichnet werden. Diese Klassen dienen – auf der einen Seite – dem erklärten Ziel, neu eingewanderten Menschen einen Schonraum zum Erlernen der deutschen Sprache zu ermöglichen und separieren daher neu eingewanderte Schüler*innen für eine begrenzte Zeit vom Regelunterricht. Auf der anderen Seite sehen sich die „Vorbereitungs-“ und „Willkommensklassen“ aber dem Vorwurf der sozialen und der Bildungssegregation ausgesetzt. Zum dritten werden sie als eine nicht zureichend mit Ressourcen ausgestattete Bildungssituation kritisiert und können sicher noch zahlreiche weitere Bewertungen auf sich vereinen, ohne dass alle Akteure in ihren Verantwortlichkeiten eindeutig verifiziert, falsifiziert, relativiert oder auch nur die resultierenden Befunde in ihrer Genese abschließend rekonstruiert werden könnten. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Modalitäten politischen Handelns scheint daher auch für Innovationen zu gelten, was Peter Hall (1993) für politische Prozesse allgemein formuliert: „‘powering‘ and ‚puzzling‘ are often intertwined in the formation of public policies“ (S. 292).

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2 Tendenzen in der Bildungsarbeit mit neu Eingewanderten Trotz der zuvor thematisierten Komplexität und der damit einhergehenden unterschiedlichen Perspektiven, die auf die fraglichen Tendenzen einer Migrationspolitik im politischen Mehrebenensystem des Bildungsföderalismus eingenommen werden können, lassen sich doch einige Sachstände ausmachen. Sie sollen im Folgenden mit Fokus auf die Politik der Bundesländer präsentiert werden, um sodann die für die Migrationspolitik sowie die diesbezüglich informierte Bildungs- und Soziale Arbeit Ableitungen zu ermöglichen. Dabei werden beispielhafte Regelungen und Maßnahmen bis 2018 dargestellt, weil sich im Rahmen des hier möglichen Umfanges die unübersichtliche und uneinheitliche Sachlage nicht umfassend abbilden lässt. Deutlich ist, dass sich schon bald nach der markanten Erhöhung der Einwanderungszahlen ab 2015 die Zielkorridore der Sprachförderung, einem auf Kultur abhebenden Verständnis von Integration sowie eine Erwerbsarbeit anzielende Politik in der Bildungsarbeit mit neu Eingewanderten als maßgebliche Richtgrößen erwiesen (Böhmer 2017b). So lassen sich zahlreiche der später noch dargestellten politischen Innovationen in Bildungsarbeit und Sozialer Arbeit zusammenfassen, die auf den Erwerb der Kenntnisse von Sprache, Alltagspraktiken („Kultur“) und Einmündung in eine berufliche Ausbildung oder Tätigkeit abzielen (vgl. v. a. Abschn. 3.2). In dieser Hinsicht zeigt sich ein zumindest vorherrschendes gesellschaftliches Grundverständnis, das sich in diesen drei Strategien einer als gelingend aufgefassten Vergesellschaftung widerspiegelt. Dass sich damit Aspekte eines neoliberalen Politikstils, also der Privatisierung, Subjektivierung und einer insgesamt marktradikalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ausmachen lassen, wurde bereits andernorts dargelegt (Atzmüller 2019; Böhmer 2017a). Dementsprechend ist die Politik für „Sprache, Kultur, Arbeit“ als Leitlinie der Bildungsarbeit auf ihre eigene Zielsetzung hin zu befragen: Geht es darum, mithilfe von Bildung eine instrumentelle Zurichtung von Menschen für deren Kommodifizierung in der Arbeitsgesellschaft (Lessenich 2013) zu erreichen? Oder sind mehr die emanzipatorischen und teilhabeorientierten Anteile einer Bildung im Blick, die bestehende gesellschaftliche Verhältnisse auf ihre Bedeutung für Selbstbestimmung und Inklusion hin befragt (Böhmer et al. 2018; Gardi et al. 2019, S. 474 f.)?

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A. Böhmer

2.1 Beispiele für Innovationen der Bildungsarbeit mit neu Eingewanderten Gegenstand der hier vorgelegten Analyse soll die Reflexion auf die Bildungsarbeit mit neu Eingewanderten auf Länderebene sein. Dabei werden sich nicht alle der aufgeführten Aspekte als zuvor noch nicht dagewesen beschreiben lassen. Neu war daran dann weit mehr, dass sie neuerlich aufgelegt, der sich wandelnden Situation der Migration nach Deutschland angepasst und somit auch – zumindest in einer teilweisen Form – verändert wurden. Dabei ergaben sich denn auch weitere Bedarfe – quantitativer Art, weil phasenweise (konkret 2015, 2016) mehr Menschen in die Bildungseinrichtungen vermittelt wurden (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, S. 200), sowie unter qualitativer Hinsicht, weil erkennbar wurde, dass manche der bisherigen Bildungsansätze nicht mehr unhinterfragt fortgeführt werden konnten. Deutlich wird somit der oben ausgeführte Innovationsaspekt der bedarfs- und umfeldorientierten, mehrdimensionalen Lösungen. Ein solcher zunächst bekannter, gleichwohl neu wirksamer Gesichtspunkt ist jener einer ausgrenzenden schulischen Bildung. Bereits die Klassiker der Forschung zu Bildungsungleichheit (Boudon 1974; Bourdieu und Passeron 1971) zeigten unisono, dass Bildungsprozesse zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen je nach sozialer Herkunft der Lernenden gelangen – und dies, obgleich die analytischen Grundannahmen wie die bildungsbezogenen Ableitungen der Klassiker keineswegs deckungsgleich waren. Neu ist die Form, mit der solche Bildungsprozesse organisiert werden. Hier zeigt sich in deskriptiver Hinsicht1 zunächst, dass die Bundesländer – ganz im Sinne einer Governance im Bildungsföderalismus – zu Teilen unterschiedliche Umgangsweisen mit der Bildung neu Eingewanderter entwickeln: Während beispielsweise im Saarland alle Kinder, auch ausländische im Besitz einer Aufenthaltsgestattung oder Duldung, schulpflichtig sind (Ministerium für Bildung und Kultur Saarland o. J.) oder in Hamburg die Schulpflicht, „ – unabhängig vom rechtlichen Status – für alle Kinder und Jugendlichen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Hamburg“ gilt (Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg o. J.), so dass Kinder in diesen Bundesländern eine zeitlich unmittelbare schulische Bildung erfahren (wenn auch in durchaus unterschiedlichen Formen und Inklusionsgraden), definiert BadenWürttemberg die Schulpflicht für neu eingewanderte Kinder und Jugendliche

1Sachstand

1. Juli 2018.

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erst sechs Monate nach dem Zuzug, das Recht auf Schulbesuch, dessen Kenntnis bei den betreffenden Kindern und Jugendlichen zunächst einmal gegeben sein muss, besteht bereits zuvor (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg o. J. a.). In Bayern wird u. a. ein Unterricht in „besonderen […] Klassen und Unterrichtsgruppen“ der „besondere Aufnahmeeinrichtungen“ angesetzt (Art. 36 Abs. 3 Satz 6 BayEUG). Dabei wird deren Qualität – hinsichtlich Qualifikation des Personals, der Exklusion durch „Ersatzunterricht“ u. a. m. – ebenso kritisch angefragt wie die Berechtigung dieser Regelung zumindest für einzelne Kinder angezweifelt wird, die bereits zuvor den regulären Unterricht in einer Schule des allgemeinen Bildungssystems, deren Einzugsgebiet den Wohnort der jeweiligen Schüler*in umfasst („Sprengelschule“), besucht haben (Pro Asyl 2018). In einem konkreten Fall wurde der erneute Besuch einer Sprengelschule durch richterlichen Beschluss zumindest vorläufig erwirkt (Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München unter dem Aktenzeichen M 3 E 17.5029). Ein weiterer Aspekt sind z. B. in Baden-Württemberg sog. Potenzialanalysen mithilfe des Analyse-Tools 2P („Potenzial & Perspektive“) (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg o. J.a, b), die dazu dienen, die gegebenen kognitiven u. a. Kompetenzen sowie die noch zu fördernden Möglichkeiten eines Menschen zu identifizieren, indem Lernstände für Deutsch, Englisch und Mathematik erhoben werden. Ähnliches gilt für die Sprachstandsfeststellung (z. B. für Berlin § 15 Abs. 2 Schulgesetz). Ebenso wie bereits zuvor mit der besonderen und besondernden Bildung ergibt sich auch mit Blick auf diese beiden Maßnahmen ein durchaus ambivalentes Bild: Positiv ist bei einem qualifizierten Erhebungsinstrument eine klare Diagnose darüber möglich, wie Menschen Unterstützung erfahren können, um auf diese Weise ein vorgegebenes Ziel, die Integration in das Bildungssystem und sodann den Arbeitsmarkt, erreichen zu können. Auf der anderen Seite werden die Ziele in der Regel nicht gemeinsam mit den diagnostizierten Menschen abgestimmt, die ja durchaus andere persönliche Absichten haben können. Darüber hinaus ist danach zu fragen, welche gesellschaftspolitischen Ziele verfolgt werden, da sie angesichts eines sich wandelnden Verständnisses von Wohlfahrtstaatlichkeit, z. B. im Workfare-Sinne als eine Polarisierung „zwischen Aktivierungspolitik und social ­investment-Konzepten“ (Atzmüller 2019, S. 32 ff.), einer Neujustierung auch der damit verkoppelten Bildungspolitik bedürfen. Daher sind die hier beschriebenen Ansätze mit ihrer Verbindung von strukturellen Instrumenten und inhaltlichen Zieldefinitionen zum einen daraufhin zu prüfen, welche Konsequenzen sie in der Anwendung auf den jeweiligen Einzelfall für dessen Lebensplanung und Leitvorstellungen ergeben. Zum anderen

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können die je nach Bundesland unterschiedlichen innovativen Ansätze für ein gemeinsames Lernen auf Länderebene genutzt werden (vgl. dazu weitergehend Abschn. 3.2). Anders verhält es sich bei Angeboten, die ihrerseits zwar eine fachliche Grundlage, nicht aber eine ebenso definierte inhaltliche Ausrichtung vorgeben. Zu diesen dezidiert offenen, weil auf die Mitwirkung der Koproduzent*innen angelegten Maßnahmen zählen etwa Case Management und Beratung durch die Soziale Arbeit. Angebote der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten sind je nach rechtlicher Rahmung geeignet, ein – wenn auch nicht rechtlich kodifiziertes – Wunschund Wahlrecht im Abstimmung mit den Nutzer*innen zu verwirklichen und im Prozess von Beratung und Begleitung jene Ziele zu erkennen, zu beschreiben und den Weg dorthin zu begleiten, den neu Eingewanderte für sich als wünschenswert erachten. Doch auch dieser Zugang zu einer umfänglichen Bildungsarbeit im biographischen Sinne ist nicht ohne Einschränkungen. Wie gerade die Flüchtlingssozialarbeit in Sammelunterkünften vereinzelt erfahren musste und muss, kann es zu politischen Versuchen einer Begrenzung ihrer fachlichen und rechtlichen Unabhängigkeit kommen, die zumindest für eine geraume Zeit viele Energien in dieser Auseinandersetzung binden, sodass sie der praktischen Arbeit in dieser Zeit nicht mehr zur Verfügung stehen. Auch die sozialräumliche Soziale Arbeit kann einen relevanten Beitrag zur Inklusion neu Eingewanderter leisten. Indem nämlich mittels eines „universal design“ (Art. 2 UN-BRK) Möglichkeiten der Teilhabe, nicht aber Pflichten der Verwirklichung geschaffen werden, können sich Menschen in solchen alltäglichen Situationen und Begegnungen in einer Form bewegen und an ihnen teilhaben, die eher einem emanzipatorischen Subjektverständnis entspricht (siehe für Chancen und Herausforderungen: Scherr und Yüksel 2019). Ein solcher sozialräumlicher Ansatz subjektiver Bildung eröffnet emanzipatorische Möglichkeiten aller Menschen in einer Migrationsgesellschaft, sollte aber deren Möglichkeiten auch nicht idealisierend überhöhen. Denn bei aller Innovation im Bildungszusammenhang ist die Rückbindung der sich selbst Bestimmenden an ihre gesellschaftlichen, sozialen und materiellen Bedingungen zu berücksichtigen: „Bildung kann somit hier als jene ästhetische und politische Form verstanden werden, die von Menschen gestaltet wird, ein Verhältnis zur Unverfügbarkeit ihrer selbst zu entwickeln, die von zweierlei getragen ist, dem Abschied von dem Trugbild des sich selbst autonomisierenden Subjekts und zugleich dem Einsatz gegen Ordnungen, die über je das Subjekt selbst und andere in einer entwürdigenden Weise verfügen.“ (Dirim und Mecheril 2018, S. 250) Eine Position jenseits von idealisierter Autonomie des Individuums und das Individuum einfachhin unterwerfenden Ordnungen ist gerade für die Bildungsarbeit in der

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Migrationsgesellschaft ausgesprochen voraussetzungsvoll (weiterführend: Böhmer et al. 2018, S. 39 ff.). Deutlich wird, dass sich hier verschiedene Potentiale der Innovation ergeben. Angesichts der durch die 2015 und 2016 deutlich gestiegenen Zahlen wurde ein Mehr an Bildungsbedarfen in institutionalisierter und in alltagsnaher Form sichtbar (vgl. hier und im Folgenden Abschn. 1). Zu diesem Zweck wurden dann eigens für die neu Eingewanderten neue schulische Angebote (wenn auch häufig erst einmal in den hergebrachten Formen) entwickelt. Dabei wurde mindestens auf das soziale und das ökonomische Umfeld mitsamt seinen spezifischen Erwartungen geantwortet; außerdem wurden nicht selten mehrdimensionale Lösungen mit Bemühen um eigene und innovative Instrumente und Strukturen auf den Plan gebracht. Hier wären u. a. zu nennen für den Bereich von Analyse und Diagnose das bereits erwähnte Tool 2P in Baden-Württemberg (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg o. J.b) oder auch die modifizierte Unterstützungsstruktur wie das „Netzwerk Arbeit für Flüchtlinge plus“ (NAFplus) in Mecklenburg-Vorpommern (Netzwerk Arbeit für Flüchtlinge plus o. J.), das der Eingliederung neu Eingewanderter in den Arbeitsmarkt durch Coaching, Vermittlung und Beratung dient. Immer aber wird es aus strukturellen Gründen darum gehen müssen, die fachlich grundierten, inhaltlich aber auf die Koproduktion durch die migrierten Nutzer*innen hin geöffneten Angebote von Bildung und Sozialer Arbeit so zu realisieren, dass diese Nutzungsinteressen in einer Weise berücksichtigt werden, die nicht allein die hergebrachten Formen rekapitulieren, sondern sich ihrerseits in Bewegung versetzen lassen, neue Antworten auf neue Situation einer neuen Nutzer*innengruppe zu formulieren. Damit ist Innovation im Bildungsprozess auf eine dialogische (weil im Dialog von Leistungserträger*innen, -erbringer*innen und Nutzer*innen) sowie prozessuale (weil angesichts des gesellschaftlichen Wandels permanent weiter zu entwickelnde) Struktur hin anzulegen. Abschließend sei noch auf die unterschiedlichen Ausprägungen der Verzahnung von Normal- und Exklusionsbeschulung aufmerksam gemacht (strukturelle Übersicht: Massumi et al. 2015, S. 45), da auf diese Weise nicht nur die verschiedenen Möglichkeiten der institutionalisierten Bildung eingewanderter Kinder und Jugendlicher bedarfsorientiert ausgestaltet werden. Zugleich zeigt sich dabei die Mehrdimensionalität in der konkreten Umsetzung von Bildungsarbeit mit neu Eingewanderten (Normalbeschulung, Exklusionsbeschulung, Koproduktion durch Schüler*innen, pädagogische Fachkräfte und Schulverwaltung). Denn im Konzert mit den unterschiedlichen Akteurskonstellationen und -rollen wird eine komplexe Grundlage von Innovationen geschaffen, weil in der erwähnten dialogischen und prozessualen Form die Beantwortung

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­ahrgenommener Bedarfe – der neu Zugewanderten ebenso wie der im w sozialen Raum bereits Ansässigen – durch bedarfs- und umfeldorientierte, mehrdimensionale Lösungen in neuer Form erfolgen kann. Dies heißt beispielsweise für die Innovation der Diagnostikinstrumente, dass sie nicht allein vermeintlich objektive Befunde zutage fördern können, sondern weit mehr einen abermals dialogisch zu verstehenden Gesprächsanlass bieten mit den solcherart Diagnostizierten, in Bildungssettings zu Inkludierenden und in sozialarbeiterischen Prozessen zu Begleitenden. Solche Dialogprozesse können nur ergebnisoffen geführt werden, wenn sie die Beteiligten in ihren vielfach unterschiedlichen Perspektiven auf ihre jeweilige rechtliche, ökonomische oder soziale Lage hin ernst nehmen wollen: „Flucht ist nicht gleich Flucht, und geflohene Menschen unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht.“ (Gardi et al. 2019, S. 470; Dirim und Mecheril 2018, S. 247 ff.). Damit stehen nicht allein die Fragen der alltäglichen Lebensführung und die Maßnahmen der sozialen und Bildungsinstitutionen zur innovativen Weiterentwicklung an, sondern ebenso sehr die beides ermöglichenden politischen und institutionellen Strukturen. Erst wenn diese mehrfache Wechselseitigkeit der Innovation auch Politik und Organisationen erreicht, kann in legitimer Weise von inklusiver Bildungspolitik mit innovativem Anspruch ausgegangen werden.

2.2 Legitimationsprobleme in der Bildungsarbeit mit neu Eingewanderten Im Zusammenhang mit den zuvor diskutierten Innovationen zeigen sich allerdings auch Legitimationsprobleme. So wird bislang nicht hinreichend deutlich, warum strukturell exkludierende Angebote (siehe zu den spezifischen Herausforderungen für berufsbezogene Bildungsangebote Weiser 2016, S. 81) anstelle von Regelschulplätzen vorgesehen werden, da zwar ein Schonraum für durch Fluchterfahrungen belastete oder gar traumatisierte Kinder und Jugendliche durchaus wünschenswert und sinnvoll ist, für die Sprachförderung dieser Schüler*innen durchaus vielfältige Beschulungsformen vorliegen und zumindest nach einer Stabilisierung der Kinder, die zudem fachlich attestiert werden müsste, genutzt werden könnten (vgl. 3.1). Ein weiteres Legitimationsproblem entsteht durch die zuvor bereits erwähnte föderale Differenz der Beschulungskonzepte hinsichtlich Zugang (Übersicht: Weiser 2016, S. 16 f. und 28 f.) und Qualität. So ist die Bildungsmöglichkeit und -konkretion für einen neu eingewanderten jungen Menschen maßgeblich davon abhängig, welchem Bundesland er oder sie zugewiesen und welche

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politische Realität dort gegenwärtig geschaffen wird. Auch haben die nicht neu eingewanderten Schüler*innen durchaus ihre Probleme mit Flexibilität und Durchlässigkeit des Schulsystems, nicht zuletzt dann, wenn ihnen ein sog. Migrationshintergrund zugeschrieben wird (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 23, 38 u.ö.). Dann aber wird alsbald die Frage virulent, wie sich eine solche Befundlage mit einem häufig meritokratisch aufgefassten, also rein auf Leistung basierendem Anspruch an die öffentliche Bildung vereinbaren lasse. Versteht man die Schule als eine der maßgeblichen Agenturen der Vergesellschaftung, wird ihre Legitimation dann zum Problem, wenn die Ermangelung alternativer Wege zu einem Schulabschluss und in die Ausbildung hinein zu konstatieren ist. Wie also soll ein junger Mensch seinen Weg in die Gesellschaft gehen, auf den die Vierer-Kette schulischer Problemlagen: „Schüleranteile mit geringem Sozialstatus, mit Migrationshintergrund, niedrigem elterlichem Bildungsstand und unzureichenden Kompetenzen“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 124) zutrifft und der somit manche ­schulisch-institutionellen Wege mit weit geringerer Wahrscheinlichkeit beschreiten kann? Sind ihm oder ihr dann auch noch Alternativen verbaut, bleibt logischerweise nur ein Platz im erwerbsarbeitsgesellschaftlichen Randbereich, in der wirtschaftlichen und somit nicht selten auch sozialen Prekarität. Eine weitere Herausforderung für die Legitimation mancher gegenwärtiger Formen der Bildungsarbeit mit neu Eingewanderten stellen die sozialräumlich ausgerichteten Unterstützungsangebote für den Alltag dar. So wird fraglich, wie solche Unterstützungsangebote in der alltäglichen Lebensführung von Menschen so wirken können, dass sie ihre Bildungsprozesse ebenso wie ihre alltägliche Vernetzung mit den Menschen in ihrem territorialen und sozialen Umfeld bewerkstelligen können. Gerade die Untersuchungen zu Wohnverhältnissen und Lernmöglichkeiten in Erstaufnahmeeinrichtungen und Sammelunterkünften für Geflüchtete sprechen eine eindeutige und kritische Sprache (Klaus und Millies 2017; SVR 2018; UNICEF 2016, S. 9 f.). Dabei wird u. a. kritisiert, dass vor der Zuweisung in eine Kommune in einigen Bundesländern kein regulärer Schulunterricht angeboten werde, dass das Wohnen in Sammelunterkünften das Lernen unverhältnismäßig erschwere2 und dass die Schnittstellen von Landes-

2Die

hier angeführten Analysen beziehen sich vereinzelt auf die Phase unmittelbar während der umfangreichen Einwanderung in 2015 und rekurrieren damit auf Gegebenheiten, die sich in der Zwischenzeit gebessert haben können. Dass sie ihre Trostlosigkeit (UNICEF 2016, S. 10) nicht immer abgelegt haben, zeigt ein Blick in manche der

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und kommunaler Ebene im Bildungswesen zum Teil zu Lasten der potentiellen Schüler*innen nicht angemessen ausgestaltet würden. Die Fragen der Übergänge zwischen verschiedenen Einrichtungsformen und Altersstufen – oder gar die Frage, ob nach Vollendung des 18. Lebensjahres überhaupt noch bestimmte Unterstützungsleistungen gewährt werden (gerade jene nach SGB VIII) – stellen ihrerseits die Legitimation von starren Grenzen der Lebensalter hinsichtlich Beschulung und Schulpflicht infrage. Zieht man die unterschiedlichen gängigen Argumentationen, von den Kinderrechten über die Integrationsdebatte bis hin zum Human-Ressource-Ansatz, heran, so wird man eine exkludierende Bildungsarbeit nur schwer legitimieren können. Ein letzter Ansatzpunkt für Legitimationsprobleme ist die Frage der Ressourcenausstattung des Bildungssystems im Allgemeinen – und für neu Eingewanderte im Besonderen. In diesem Zusammenhang wird die Legitimation für eine solche geringe Ressourcenausstattung mit Finanzen, Personal und Infrastruktur sowie mit Material und Konzepten, vornehmlich der migrationssensiblen Arbeit, angefragt. Deutlich wird auf diese Weise ein Doppeltes: 1) Eine Vielzahl von Legitimationen erweisen sich als Problem, sofern sie mit der Programmatik oder der eingeforderten Praxis der Bildungsarbeit nicht konform gehen. Hier tun sich merkliche inhaltliche Dissonanzen für die Bildungsarbeit mit neu Eingewanderten auf. 2) Darüber hinaus aber sind viele der oben aufgeführten Legitimationsprobleme solche, die sich zwar an der Bildungsarbeit mit jenen Menschen entzünden, die erst in jüngster Zeit eingewandert sind. Gleichwohl rühren diese kritischen Rückfragen an strukturelle Problemlagen, die ihre Ursache keineswegs in Migration und sporadisch angestiegenen Zahlen haben, sondern die auf allgemeinere Problemlagen aufmerksam machen und deren Begründung umso mehr erforderlich scheint. Insgesamt ergibt sich also, dass Legitimationsprobleme nicht allein anhand politischer Ausrichtungen innerhalb der fachlichen Diskurse zu den Sachthemen auszumachen sind, sondern dass sich – zunächst losgelöst von der politischen

aktuellen U ­ nterkünfte der erwähnten Kategorien. Für Sammelunterkünfte moniert z. B. ein Forschungsteam: „Hier gibt es weder Rückzugsräume noch Privatsphäre und die Kinder können aufgrund des hohen Lärmpegels oft nicht schlafen. In der Schule äußere sich diese problematische Situation in Aggressionen, Müdigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten.“ (Karakayalı et al. 2016, S. 5) (weiterführend dazu Abschn. 3.1).

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Legitimation der einzelnen Programme und Maßnahmen – eine fachliche Frage nach der Konkretisierung dieser Politiken einstellt. Doch jenseits aller Begründungen und – zuweilen nachgelagerten – Neuformulierungen von bisherigen Standards zeigt sich auch, dass Innovation eine mögliche Interventionsstrategie darstellen kann, um mit den Legitimationsproblemen in einer konstruktiveren und perspektivenreicheren Weise umzugehen. Dazu sind die nun folgenden Ausführungen gedacht, die sozialräumlich relevante Gesichtspunkte (zu Wohnen und Bildung: 3.1), solche der institutionalisierten Bildung (zur Praxis der Schule: 3.2) und des gesellschaftlichen Rahmens (zur darin möglichen oder eingeschränkten Legitimation: 3.3) erneut aufgreifen, um zu zeigen, wie sich Innovationen als neue Antworten auf spezifische Bedarfe ergeben, die dabei Alltag, Institutionen und gesellschaftliche Zusammenhänge jeweils mitdenken.

3 Handlungsspielräume Werden Handlungsspielräume für weitere Innovationen gesucht, so sei abschließend noch einmal an das einleitend formulierte Konzept für Innovation in der Migrationspolitik erinnert. Demnach wird Innovation in diesem Feld verstanden als die politische Beantwortung wahrgenommener Bedarfe auf der Basis sich verändernder Sachlagen durch eigens zu diesem Zweck entwickelte bedarfsund umfeldorientierte, mehrdimensionale Lösungen in einem multidimensionalen Geflecht von Akteuren und ihren Rollen (vgl. Abschn. 1). Werden solche Innovationen für die Bildungsarbeit im Kontext von Migration und Flucht gesucht, so wird man aus Gründen der Legitimation vermutlich gut daran tun, zunächst dort zu suchen, wo sie bereits vorliegen. Hier sei zunächst die Wissenschaft benannt, die sich in unterschiedlichen Analysen und Feldforschungsprojekten eine Vielzahl von Perspektiven und Einsichten in gute Praxis erarbeitet hat (u. a. Arslan und Bozay 2019; Grimm und Schlupp 2019; Schührer 2019). Des Weiteren liegen umfängliche Erkenntnisse zur Inklusion anderer Personenkreise vor – u. a. für Menschen mit Behinderung. Folglich lassen sich auch die dort gesammelten Erfahrungen nutzbar machen für eine insgesamt inklusive Bildungsarbeit, eine solche also, die nicht zwischen verschiedenen Gruppen und vermeintlichen Graden der Integration zu unterscheiden versucht, sondern sich nach den Maßgaben eines „universal design“ (Art. 2 UN-BRK) (vgl. 3.1) „an die eigene Nase fasst“ und Inklusion in heterogenen Zusammenhängen damit beantwortet, dass Vielfalt in ihren unterschiedlichen Ausprägungen Gegenstand fachlich-diagnostischer Fallarbeit innerhalb angemessen gestalteter,

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d. h. auf Ermöglichung abzielender Strukturen wird. Auf diese Weise wird eine strukturelle Offenheit mit einer am Einzelfall orientierten Dienstleistungs- und Bildungsplanung beantwortet. Ein solches Konzept muss politisch fundiert und abgesichert werden, um tatsächlich längerfristig Bestand haben zu können. Sodann sind jene zivilgesellschaftlichen Initiativen etc. zu erwähnen, die sich nun schon z. T. über etliche Jahre hinweg sehr verlässlich und kompetent in den Feldern von Migration, Bildung und alltäglicher Lebensführung bewegen (Schührer 2019; Schiffauer et al. 2017). Sie alle lassen sich befragen, um von hierher Neuerungen fall- und umfeldbezogen zu etablieren, die sich aufgrund ihrer bereits vorliegenden Erprobungen einer grundlegenden Legitimation sicher sein können. Auch in diesem Zusammenhang sind politische Regelungen vonnöten, die solche Erfahrungen aufgreifen, politisch legitimieren und im Hinblick auf Ressourcenausstattung und öffentliche Debattenkultur absichern. Das bedeutet konkret, dass die in den einzelnen zivilgesellschaftlichen Gruppen der Migrationsarbeit vorhandenen Erfahrungen (z. B. mit der Sprachvermittlung, mit Alltagsbegleitung, mit peer-to-peer- Beratung u. v. m.) systematisch auszuwerten sind, um von dorther die Frage „what works how?“ beantworten zu können, in den politischen Diskurs – auf lokaler, Landkreis- und sodann Landesebene – einzubringen und auf diese Weise politische Initiativen im Governance-Mix der Wohlfahrtsproduktion (Grunwald und Roß 2018) anzustoßen. Ferner lassen sich Handlungsspielräume für Innovationen natürlich in jenen Gefilden erkennen, in denen nach bisheriger Erkenntnis Integration und Inklusion von Migrant*innen zu kurz griffen. Dies kann z. B. die Benachteiligung (nicht zuletzt türkeistämmiger) Menschen mit familiärem Migrationsbezug sein, die weniger häufig an Gymnasien zu finden sind als Schüler*innen ohne den familiären Bezug zur Migration, wenngleich sich diese Segregation im Zeitraum von 2000 bis 2015 verringert hat (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, 92 f.). Ähnliches gilt auch für die Quoten der Einmündung in eine duale berufliche Ausbildung, die erneut je nach sog. Migrationshintergrund unterschiedlich erfolgreich ausfallen (ebd., S. 140 ff.). Hier lässt sich einerseits das relative Scheitern des Bildungssystems beschreiben und auf diese Weise in seinen Schwächen offenlegen (wenngleich die meisten Erkenntnisse seit Bourdieu und Passeron (1971) nicht mehr gänzlich überraschend erscheinen dürften). Andererseits könnten hier auch jene Erfahrungen nutzbar werden, welche die Menschen auf diesen Bildungs(ab) wegen bereits gesammelt (Befunde u. a. von Baumert und Schümer 2001; Barz et al. 2015) und zumeist auch für die Deutung ihrer eigenen Biographie in eine logische Kohärenz gebracht haben. Diese Studien machen einerseits deutlich, dass im Bildungswesen systemisch erklärbare soziale Differenzen auszu-

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machen sind (v. a. Baumert und Schümer 2001, S. 170). Somit ist naheliegend, dass Differenzen im Bildungserfolg nicht allein mit der Leistung der einzelnen Schüler*innen zu erklären sind, sondern eben auch mit dem Label der sozialen Herkunft. Andererseits könnte gerade für Migrant*innen gezeigt werden, dass die Bildungsapiration und -unterstützung in vielen migrantischen Milieus sehr ausgeprägt sind (Barz et al. 2015, S. 73 ff.). Bildungsentscheidungen migrantischer Familien können folglich nicht einfachhin mit einem mangelnden Willen zur Bildung der Kinder erklärt werden. Nimmt man die Befunde sozialer Segregation und migrantischer Bildungsaspiration zusammen, erkennt man, dass soziale und migrantische Differenzen im Bildungssystem Folgen haben, die nicht allein mit individueller Leistung und ihrer Unterstützung erklärt werden können. Vielmehr wird „auf soziale und migrationsspezifische Segregationstendenzen im Schulbereich“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, S. 187) aufmerksam gemacht. Dies kann dann im Detail sehr Unterschiedliches bedeuten; ohne den Anspruch auf Vollständigkeit kann dies z. B. im Folgenden für das Lernen im Alltag (gezeigt am Beispiel Wohnen) und in Bildungsinstitutionen (gezeigt an den Beispielen Sprache in der Kita, Exklusion der Beschulung u. a.) gezeigt werden.

3.1 Innovationen des Wohnens als Voraussetzung für Bildungsarbeit Zunächst mag verwundern, dass bei der Darstellung von Innovationen für die Bildungsarbeit nicht rundweg Kategorien der institutionalisierten Bildungsarbeit, der Schule, aufgerufen werden, sondern mit der Reflexion auf das Wohnen ein Aspekt, der zunächst der alltäglichen Lebensführung zuzuordnen ist. Dies ist von der epistemologischen Anlage des hier vorgelegten Aufsatzes her zu erklären: Bildung wird, wie eingangs dargestellt, als Bildung in einem sozialräumlichen, inklusiven Ansatz konzeptualisiert (vgl. Einleitung). Somit müssen für die Frage nach Innovationen im Bildungszusammenhang auch jene Aspekte in den Blick genommen werden, die sich auf die sozialräumlichen Voraussetzungen von Bildung und ihre inkludierende oder exkludierende Bedeutung in alltäglichen Kontexten beziehen. Bei aller Notwendigkeit einer fundierten Prüfung der aufenthaltsrechtlichen Sachverhalte bedarf es einer Beschleunigung der rechtlichen Verfahren, um angemessene und legitimierte Bildung zu ermöglichen, die ja in einigen Bundesländern darauf angewiesen ist, dass die Eingewanderten sich in bestimmten Phasen des Prüfverfahrens befinden und sich damit auch in einer der  kommunalen Unterbringungsformen aufhalten dürfen (Klaus und

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Millies 2017, S. 3). Die Frage der Unterkunft und der damit möglichen – oder eher noch verunmöglichten – Zugänge zu Bildung und individuellem Lernen erfordern eine frühzeitige Unterbringung außerhalb von „Großunterkünften“ (ebd., S. 3 und S. 28), so dass einerseits die Unterbringung in kleineren Einheiten gerade für die Kinder und Jugendlichen dringend geboten ist, um ihnen störungsärmeres Lernen zu ermöglichen. Andererseits wird eine sozialräumliche Förderung der bestehenden oder erst noch zu etablierenden Netzwerke als notwendige Voraussetzung von Inklusion im Alltag kenntlich. Eine weitere Innovation im Zusammenhang mit der Unterbringung neu Eingewanderter wäre die Definition qualitativ ausreichender räumlicher Mindeststandards sowie die Erweiterung der bestehenden quantitativen Bestimmungen in den Einrichtungen, um ein angemesseneres Lernumfeld, z. B. in eigens dafür vorgesehenen und ausgestatteten Räumen, zu schaffen.

3.2 Innovationen von Bildung Aufgrund der Unterrepräsentanz von Kindern mit Fluchterfahrung in deutschen Kindertageseinrichtungen (Robert Bosch Stiftung 2016, S. 4) kann als innovativ gelten, die Aufnahme neu eingewanderter Kinder in Einrichtungen der frühen Bildung zu beschleunigen und zu optimieren. Dabei sollten die sprachlichen Bedingungen der Bildungsarbeit innovativ verändert werden, indem der Abschied vom „monolingualen Habitus“ (Gogolin 2008; Gogolin et al. 2011) der deutschen Bildungseinrichtungen durch heterogenitätssensible Mehrsprachigkeit erreicht wird. Zudem bedarf es allgemein eines grundlegenden Selbstverständnisses von Inklusion im Bildungssystem, so dass exklusive Settings durch ein „universal design“ ersetzt werden. Ob dabei abermals sprachliche, soziale oder religiöse Kategorien in die Arbeit am Einzelfall einbezogen werden sollen, kann hier nur angefragt werden (u. a. Dirim und Mecheril 2018). Die Möglichkeiten der Zugänge zu Bildungseinrichtungen sollten ausgedehnt werden, da sie bislang noch nicht allein durch individuelle Leistung, sondern auch durch institutionelle Diskriminierung je nach Migrationsstatus zustande kommen (vgl. die Hinweise in Abschn. 2). Eine mögliche Altersstufe bis 27 Jahre kann den spezifischen, oft von Brüchen bestimmten Bildungsbiographien Geflüchteter Rechnung tragen. Zudem sollte die Beschulung so rasch wie möglich und unabhängig von Aufenthaltsstatus, Einordnung des Herkunftslandes in Kategorien der Sicherheit oder der Zuweisung in kommunale Unterkünfte aufgenommen werden können, um die verordnete Bildungsabstinenz vieler Eingewanderter zu vermeiden.

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Des Weiteren ist erforderlich, die Trennung von eingewanderten und nicht eingewanderten Schüler*innen – etwa in sog. „Vorbereitungsklassen“ oder „Willkommensklassen“ – kritisch auf ihre inklusive Funktionalität hin zu überprüfen (kritische Reflexion: Karakayalı et al. 2017) und ggf. in andere Formate der Beschulung neu Eingewanderter zu überführen. Wenn bereits auf die Pluralität und Fragilität der Bildungserfahrungen vieler neu Eingewanderter aufmerksam gemacht wurde, so sei hier ferner an die Nutzer*innenbeteiligung auch im Bildungssystem erinnert. Denn auf diese Weise lassen sich Bedarfe durch eigens zu diesem Zweck zu entwickelnde bedarfs- und umfeldorientierte, mehrdimensionale Lösungen beantworten und zugleich die „Expertise in eigener Sache“ der Eingewanderten nutzen (detaillierter: Böhmer 2016, 84 ff.). Soll Bildung zudem an den Potentialen der neu Eingewanderten ansetzen, sind die bereits praktizierten Potenzialanalysen weiter in Richtung analytischer Koproduktion zu entwickeln und somit innovativ zu gestalten. Dies muss auf der Grundlage fachwissenschaftlicher Erkenntnisse sowie Beteiligung von Migrant*innen und nicht allein mit ökonomischem Fokus geschehen. Für Wohnen ebenso wie für die Bildungsarbeit ist erforderlich die Entwicklung von bundesweiten Mindeststandards und deren Evaluation bei gleichzeitiger föderaler Pluralität. Dies haben die Beispiele aus den verschiedenen Bundesländern gezeigt, da sie keine einheitliche Zielperspektive und somit auch keine einheitliche politische Strategie erkennen lassen. Ein solcher Befund kann zunächst als Chance für die Entwicklung innovativer Ansätze bewertet werden, langfristig aber ist im Interesse von sozialer Gerechtigkeit wie rechtlicher Sicherheit ein solches Set an Mindeststandards notwendig, ohne dass damit die Spielräume für weitere Innovationserprobungen in toto aufgegeben werden müssten. Ferner bedarf es einer umfänglichen Ausstattung mit Personal. Dies gilt nicht nur für die Schulen, sondern ebenso sehr in der Kinder- und Jugendhilfe, denn erst auf diese Weise lassen sich sozialräumliche Programme realisieren, die eines grundlegenden Empowerments und einer differenzsensiblen Moderation bedürfen. Dass es zudem nicht selten an Material, Konzepten (Kompetenzziele, strukturelle Standards etc.) und Politiken inklusiver Bildung mit neu Eingewanderten mangelt, macht den Innovationsdruck umso stärker. In diesen Feldern sind multiprofessionelle Teams vonnöten, die in ihrer Praxis Bildung und Inklusion mit Sozialraumorientierung verknüpfen. Ein solcher Ansatz hat seinerseits Auswirkungen auf die Ausbildung sämtlicher pädagogischer Fachkräfte, der Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen etc. Sie alle bedürfen weiterreichender Informationen und Kompetenzen hinsichtlich der Mehrsprachigkeit in ihren Handlungsfeldern, zur

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Arbeit in multiprofessionellen Teams allgemein und zu interprofessionellem Teamteaching im Besonderen. Hier sind Innovationen in der Ausbildung, der Fort- und Weiterbildung sowie für „Coaching on the job“ sinnvoll. Weitere Zielgruppen wie etwa die Eltern der neu eingewanderten Schüler*innen sollten ihrerseits in den Blick genommen werden. Aus den früheren Untersuchungen zur Bildungsungleichheit (u. a. Barz et al. 2015; Böhmer 2016) ist bekannt, dass – neben aller Weiterführung der eigenen Bildungskarrieren – für Eltern v. a. Informationen über das deutsche Bildungssystem vonnöten sind. Auch Aufklärung über die in deutschen Schulen gebräuchlichen didaktischen und unterrichtspraktischen Konzepte sind als sinnvoll zu betrachten. Zudem bedarf es einer weiterreichenden Koordination und zu Teilen wohl auch Transformation von Bildungs- und Sozialplanung, um die enge Verbindung von Migration, sozialer Herkunft und Bildungserfolg (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018) ins Bewusstsein der politisch und planerisch Verantwortlichen zu rücken (Böhmer 2015). Zudem ließe sich auf diese Weise eine engere Verbindung der kompensierenden und die Angebote weiter entwickelnden Ansatzpunkte identifizieren. Als eine erste Grundlage kann dabei die gemeinsam zu erstellende Datengrundlage sowie die Vereinheitlichung der Rahmenkonzepte für die Planungsarbeit betrachtet werden, so dass damit eine gegenseitige Vergleichbarkeit der Planungsansätze und -erfolge leichter wird und in deren Folge auch die inkrementellen Lernerfolge unkompliziert kommuniziert und adaptiert werden können.

3.3 Legitimations- und Akzeptanzprobleme Werden solche Innovationsansätze praktiziert, ist zugleich nach den diesbezüglichen Legitimations- und Akzeptanzproblemen zu fragen. In dieser Hinsicht zeigt sich zunächst, dass die einschlägigen Fachdebatten Argumentationen bereitstellen können, die noch vor jeglicher politischer Option innovative Ansätze sichtbar machen und legitimieren können. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich die politische Kultur in der jüngeren Vergangenheit einigermaßen verschob, wie sich an den Wahlerfolgen nationalistischer und rechtspopulistischer Bewegungen ablesen lässt, die ihre Agenden in aller Regel mit dem Thema Migration verbinden und somit eine Entgrenzung migrationspolitischer Figurationen von Legitimation und insbesondere Delegitimation betreiben. Ein auf diese Weise beeinflusstes politisches Klima wird die Förderung von Maßnahmen der Bildungsarbeit mit neu Eingewanderten wohl kaum befördern.

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Ein weiterer Aspekt ist die exkludierende Beschulung, die in vielen Fällen mittlerweile einen Standard des Verwaltungshandelns darstellt, gerade für Menschen aus sog. „sicheren Herkunftsländern“. Soll die Bildungsarbeit mit neu Eingewanderten intensiviert und verbreitert werden, bedarf eine solche Standardisierung der Exklusion der rechtlichen und organisationalen Richtungsänderung, hin zu weniger Exklusion und mehr sozialräumlich wie schulisch gestalteter Inklusion. Bereits anhand dieser Themenspektren zeigt sich, dass eine Legitimation von intensivierter und frühzeitiger ansetzender Bildungsarbeit keineswegs einfach zu legitimieren ist. Insofern bleibt für die künftige Bildungsarbeit mit neu Eingewanderten trotz aller möglichen Innovationen und der dafür vorhandenen Kraft ein hohes Maß an diskursivem und politischem Aufwand, um damit Bildung als inklusiven Prozess der Vergesellschaftung zu bestärken – im Interesse der betreffenden Kinder und Jugendlichen und folglich der Migrationsgesellschaft insgesamt.

4 Fazit Der hier vorliegende Text sollte gezeigt haben, dass sich Innovation in der Bildungspraxis als möglich erweist, zugleich aber auch legitimatorisch höchst voraussetzungsvoll ist. Gerade die politischen und normativen Vorgaben eines Diskurses um Migration und Bildung machen deutlich, dass die Zielperspektive innovativen Handelns im Zusammenhang mit der Bildung neu Eingewanderter davon abhängt, wohin sich die Zielperspektive der migrationspolitischen Leitvorstellungen richtet. Auf der anderen Seite lassen sich durch fachlich belegte Argumente auch Hinweise dafür gewinnen, wie eine angemessene Bildungsarbeit unabhängig von politischen Debatten qualifiziert werden kann. Innovationen für die Bildung mit neu Eingewanderten sind möglich und anhand der ausgewiesenen Befunde gut begründbar. Sollen sie aber auch im politischen Diskurs als legitimiert Bestand haben können, müssen zunächst politische Ziele formuliert werden, die solche Innovationen ermöglichen sowie mit politischen Begründungsmustern in den Debatten halten und dort profilieren können. Gegenwärtig zeigt sich nicht selten ein Rollback der Exklusion, der gesellschaftliche Ressentiments kundtut und dabei staatliches Handeln und politische Debatten beeinflusst. In diesem Zusammenhang sollte nicht aus dem Blick geraten, dass die Konsequenzen jeglicher Ausrichtung und jeglicher Konkretisierung auf Menschen wirken, die an der Ausgestaltung der

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Bedingungen der Notwendigkeiten von Migration überaus wenig beteiligt waren – die neu eingewanderten Kinder und Jugendlichen. Diese Erkenntnis ist sicher alles andere als innovativ – ihre politische Legitimation aber scheint gegenwärtig neu erforderlich.

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Prof. Dr. Anselm Böhmer; Professur für Allgemeine Pädagogik, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Institut Erziehungswissenschaft, Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Erziehungswissenschaft, Bildungstheorie in der späten Moderne, Poststrukturalistische Ansätze der Subjektivierung, Migration, Soziale Räume, Armut, Bildung und soziale Ausgrenzung. E-Mail: [email protected].

Fördern, Fordern und Verbieten. Widersprüche in der Asyl- und Integrationspolitik aus Sicht der Sozialen Arbeit

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Sebastian Muy Zusammenfassung

Der Beitrag zeigt hinsichtlich der Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt Innovationspotentiale auf kommunaler Ebene auf, die jedoch durch gesetzliche Vorgaben auf Bundesebene konterkariert werden. Für bestimmte Gruppen von Asylsuchenden – insbesondere jene mit ‚guter Bleibeperspektive‘ – wurde der Arbeitsmarktzugang verbessert. Für jene, denen eine ‚schlechte Bleibeperspektive‘ zugeschrieben wird, fungiert das Arbeitsverbot hingegen weiterhin als Sanktionsmittel und Teil eines Entrechtungskomplexes. Für die auf kommunaler Ebene agierende Soziale Arbeit mit Geflüchteten bleiben die Implementierung des auf Bundesebene vorgegebenen Workfare-Grundsatzes: Fördern und Fordern im Flüchtlingsschutz sowie die Grenzziehung anhand des Kriteriums ‚Bleibeperspektive‘ hinsichtlich des Arbeitsmarktzugangs nicht folgenlos. Durch die im Asyl- und Aufenthaltsrecht enthaltenen Kategorisierungen wird vorstrukturiert, welche Art von Integrationshilfen Soziale Arbeit Geflüchteten zur Verfügung stellt und welchen Gruppen sie diese Hilfen anbietet oder verweigert.

S. Muy (*)  PH Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_17

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S. Muy

1 Einleitung In den letzten Jahren gab es eine Reihe von gesetzlichen Änderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht. In ihrer Gesamtheit handelt es sich dabei um eine restriktive Neuformierung des Asylrechts, seine massivste Verschärfung seit Anfang der 1990er Jahre. Im Folgenden wird dieser jüngste Verlauf der Asylgesetzgebung rekonstruiert. Daran anschließend soll gezeigt werden, wie die Integrationsarbeit mit Geflüchteten als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit davon beeinträchtigt ist. Dabei gehe ich der Frage nach, wie durch die Gesetzesänderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht von 2014 bis 20171 die Grenzen zwischen Zugang zu und Ausschluss von Aufenthalts- und Bleiberechten und anderen zivilen und sozialen Rechten anhand des Kriteriums ‚Arbeit‘ neu gezogen worden sind bzw. wie der Zugang zu legaler Lohnarbeit selbst in selektiver Form reorganisiert worden ist. Am Ende werden die Wirkungen der Regulierungen unter dem Begriff der differentiellen Inklusion kontextualisiert und Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit gezogen.

2 Neue Grenzziehungen anhand des Kriteriums ‚Arbeit‘ in den Gesetzesänderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht von 2014 bis 2017 2.1 Das Gesetz zur Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsstaaten und zur Erleichterung des Arbeitsmarktzuganges für Asylbewerber und geduldete Ausländer (vom 31. Oktober 2014), und das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern (vom 23.12.2014) Mit dem Gesetz zur Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsstaaten und zur Erleichterung des Arbeitsmarktzugangs für Asylbewerber und geduldete Ausländer vom 31. Oktober 2014 wurden die Weichen gestellt für die ­diskursive

1Im

Einzelnen nachvollziehen lassen sich die jeweiligen Gesetzesänderungen gut über die Webseite buzer.de; siehe z. B. für das Aufenthaltsgesetz https://www.buzer. de/gesetz/4752/l.htm und für das Asylgesetz https://www.buzer.de/gesetz/6406/l.htm Zugegriffen: 26. Februar 2019.

Fördern, Fordern und Verbieten. Widersprüche

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und rechtliche Spaltung in „gute“ und „geringe“ Bleibeperspektive von Asylsuchenden. Für die sich anschließenden Asylrechtsverschärfungen sollte diese Spaltung prägend werden. Das zuvor geltende Arbeitsverbot von neun Monaten für Asylbewerber_innen und von einem Jahr für Geduldete wurde auf jeweils drei Monate gesenkt (§ 61 Abs. 2 Satz 1 AsylG [Asylgesetz, damals noch Asylverfahrensgesetz], und § 32 Abs. 1 Satz 1 BeschV [Beschäftigungsverordnung]). Damit sollte, so die Gesetzesbegründung, die Abhängigkeit dieser Personengruppen von öffentlichen Sozialleistungen reduziert werden (Bundestag Drs. 18/1528, S. 11, 17). Außerdem wurde die von der Bundesagentur für Arbeit durchzuführende Vorrangprüfung, nach der eine Arbeitserlaubnis für einen bestimmten Job nur erteilt wird, wenn kein_e deutsche_r oder ausländerrechtlich bevorrechtigte_r Bewerber_in zur Verfügung steht, von zuvor 48 Monaten auf 15 Monate limitiert (§ 32 Abs. 5 BeschV). Eine Arbeitserlaubnis muss jedoch weiterhin in jedem Einzelfall beantragt werden und wird erst nach Prüfung der Beschäftigungsbedingungen erteilt, also etwa der Prüfung, ob die Bezahlung tariflich oder ortsüblich ist. Diese Prüfung entfällt weiterhin erst nach 48 Monaten. Auf der anderen Seite wurde die Liste der ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ (Anlage II zum AsylG), die zuvor nur Ghana und Senegal umfasste, um Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien erweitert. Damit wurde gesetzlich bestimmt, dass Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern in der Regel als ‚offensichtlich unbegründet‘ abzulehnen sind (§ 29a AsylG). Beibehalten wurde das Beschäftigungsverbot als Sanktionsmittel gegen Geduldete, denen vorgeworfen wird, zum Zweck des Sozialleistungsbezugs eingereist zu sein oder Mitwirkungspflichten zu verletzen (§ 33 BeschV). Ebenfalls als Bestandteil des von Kretschmann ausgehandelten ‚Asylkompromisses‘ wurden mit dem Gesetz zur Verbesserung der Rechtstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern vom 23. Dezember 2014 die Residenzpflicht auf die ersten drei Monate der Aufenthaltsnahme im Bundesgebiet und der Vorrang der Sachleistungsversorgung auf die Zeit der Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen – nach damaliger Rechtslage maximal drei Monate – reduziert.

2.2 Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung (vom 27.05.2015) Ende Mai 2015 trat das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung in Kraft. Dieses enthielt eine altersunabhängige,

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s­tichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung für Geduldete (§  25b AufenthG [Aufenthaltsgesetz]). Diese ermöglichte den Zugang zu einer Aufenthaltserlaubnis für Geduldete, die seit mindestens acht Jahren in Deutschland lebten, die über Deutschkenntnisse mindestens auf A2-Niveau verfügten und die ihren Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbsarbeit sichern oder bei denen „bei der Betrachtung der bisherigen Schul-, Ausbildungs-, Einkommens-, sowie der familiären Lebenssituation zu erwarten ist“, dass sie ihren Lebensunterhalt künftig sichern werden. Für jugendliche und heranwachsende Geduldete bis zum 21. Lebensjahr wurde eine eigene Regelung geschaffen, nach der sie bei erfolgreichem Schulbesuch bereits nach vier Jahren eine Aufenthaltserlaubnis erhalten konnten (§ 25a AufenthG). Zugleich wurden aber auch massive Verschärfungen gegenüber abgelehnten Asylbewerber_innen beschlossen. So wurden die rechtlichen Möglichkeiten erweitert, Datenträger zum Zweck der Identitätsklärung auszulesen, die rechtlichen Gründe zur Anordnung von Abschiebehaft ausgeweitet und ­ Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbote für abgelehnte Asylsuchende beschlossen, die nicht innerhalb der ihnen gesetzten Frist ausreisen oder deren Asylantrag, aus einem ‚sicheren Herkunftsstaat‘ kommend, als ‚offensichtlich unbegründet‘ abgelehnt wurde. Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagte im Bundestag zur Bleiberechtsregelung: „Wer viele Jahre hier lebt, wer hier wesentliche Integrationsleistungen erbringt, wer unsere Sprache spricht, wer seinen Lebensunterhalt überwiegend selbst sichert und – natürlich – wer keine großen Straftaten begangen hat, der soll nun auch eine dauerhafte Bleibeperspektive in Deutschland erhalten.“ (Bundestag, Plenarprotokoll 18/92, S. 8778). Die Vorbehalte konservativer Ordnungspolitiker_innen gegen eine solche Bleiberechtsregelung für Langzeitgeduldete fasste auf der anderen Seite der Staatssekretär Ole Schröder so zusammen: „Wir sollten aber darauf achten, dass wir den Anspruch, Zuwanderung zu steuern, nicht aufgeben. Wenn wir es zulassen, dass man nach Deutschland in der Absicht kommt, Asyl zu beantragen, um dann später hier einen Aufenthaltstitel zu beantragen, um zu arbeiten, konterkariert das natürlich jegliche Steuerung unserer Zuwanderung“ (Bundesrat 2015, S. 10).

2.3 Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (Asylpaket I) (vom 20.10.2015) Am 20. Oktober 2015 trat das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz, zumeist ‚Asylpaket I‘ genannt, in Kraft. Dieses trieb die rechtliche Aufspaltung der­

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­ sylsuchenden anhand des Kriteriums der vermeintlichen ‚Bleibeperspektive‘ A weiter voran: „Die Rückführungen vollziehbar Ausreisepflichtiger sollen vereinfacht und Fehlanreize, die zu einem weiteren Anstieg ungerechtfertigter Asylanträge führen können, beseitigt werden.[…] Gleichzeitig ist es erforderlich, die Integration derjenigen, die über eine gute Bleibeperspektive verfügen, zu verbessern“ (Bundestag Drs. 18/6185, S. 1). Die Zeit, in der Asylsuchende verpflichtet sind, in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen, wurde von zuvor maximal drei auf maximal sechs Monate verlängert (§ 47 Abs. 1 AsylG). Asylsuchende aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ wurden darüber hinaus verpflichtet, bis zur Entscheidung des Bundesamtes über ihren Asylantrag und im Falle einer Ablehnung als ‚offensichtlich unbegründet‘ bis zur Ausreise oder Abschiebung in der Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen (§ 47 Abs. 1a AsylG).2 Mit der Ausweitung der Pflicht, in der Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen, ging auch eine faktische Ausweitung des Arbeitsverbotes einher. Denn für die Dauer der Pflicht, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, ist die Erwerbstätigkeit untersagt (§ 61 Abs. 1 AsylG). Für Asylsuchende aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘, die nach dem 31.08.2015 einen Asylantrag gestellt haben, wurde zudem ein explizites Beschäftigungsverbot festgeschrieben, welches nicht an den Aufenthalt in der Erstaufnahmeeinrichtung gekoppelt ist (§ 61 Abs. 2 Satz 4 AsylG). Ebenfalls mit der Pflicht zum Wohnen in einer Aufnahmeeinrichtung einher geht die räumliche Beschränkung auf den Bezirk der Ausländerbehörde, in dem die zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt (Residenzpflicht) (§ 59a Abs. 1 AsylG) sowie die Versorgung mit Sach- statt Geldleistungen (§ 3 Abs. 1 AsylbLG [Asylbewerberleistungsgesetz]). Das Beschäftigungsverbot für Geduldete, die „sich in das Inland begeben haben, um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu erlangen“ oder bei denen die Abschiebung aus Gründen, die sie selbst zu vertreten haben, nicht vollzogen werden kann, wurde ergänzt durch ein Arbeitsverbot für Geduldete, bei denen es sich um abgelehnte Asylbewerber_innen aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ handelt.3

2Allerdings

gibt es weiterhin Ausnahmen von dieser Verpflichtung. So soll weiterhin die Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung erfolgen, wenn „nicht kurzfristig entschieden werden kann, dass der Asylantrag unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist“ (§ 50 Abs. 1 Nr. 1 AsylG). 3Das Beschäftigungsverbot für Geduldete wurde von §  33 BeschV in § 60a Abs. 6 AufenthG verschoben.

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All diese neuen Restriktionen betrafen nun auch Menschen aus den Ländern Albanien, Kosovo und Montenegro, da auch diese nun als ‚sichere Herkunftsstaaten‘ definiert wurden (Anlage II zum AsylG). Zudem wurde beschlossen, dass nach Ablauf der Ausreisefrist der Termin der Abschiebung nicht mehr angekündigt werden darf (§ 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG), um das Risiko des ‚Untertauchens‘ oder von Protesten zu verringern. Ausreisepflichtige, die nach Ablauf der Ausreisefrist nicht ausgereist sind oder die aus von ihnen zu vertretenen Gründen nicht abgeschoben werden können, sollten von nun an nur noch deutlich gekürzte Sozialleistungen erhalten (§ 1a Abs. 2 AsylbLG). Auf der anderen Seite wurde mit dem ‚Asylpaket I‘ die rechtliche Möglichkeit geschaffen, auch Asylbewerber_innen und Geduldete zu Integrationskursen zuzulassen (§ 44 Abs. 4 AufenthG) – unter den Asylsuchenden allerdings nur jene, „bei denen ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten ist“. Bei Asylbewerber_innen aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ „wird vermutet, dass ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt nicht zu erwarten ist“ – für sie ist also eine Zulassung zum Integrationskurs ausgeschlossen. Das Gleiche gilt auch für den Zugang zur berufsbezogenen Deutschsprachförderung (§ 45a Abs. 2 AufenthG) und zu Leistungen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt (§ 131 SGB III [Drittes Sozialgesetzbuch]) – auch diese sind jeweils ausgeschlossen für Asylbewerber_innen, bei denen „ein dauerhafter und rechtmäßiger Aufenthalt nicht zu erwarten“ sei. Zudem wurde das Leiharbeitsverbot für Asylsuchende und Geduldete im Fall von Fachkräften auf die ersten drei Monate reduziert. Für Staatsangehörige aus den sechs für sicher erklärten Westbalkanländern wurde die Möglichkeit geschaffen, ihnen eine Beschäftigungs- und damit Einreiseerlaubnis zu erteilen – vorausgesetzt, sie stellen den Antrag bei der deutschen Auslandsvertretung im Herkunftsland und haben in den letzten 24 Monaten keine Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bezogen (§ 26 Abs. 2 BeschV). Allerdings muss in diesen Fällen weiterhin eine Vorrangprüfung durchgeführt werden, und die Entscheidungen ziehen sich in die Länge – zwei Gründe, warum nur sehr wenige Menschen diese Option praktisch in Anspruch nehmen können.4

4Der

Rechtsanwalt Matthias Lehnert (2018) kritisiert die Maßnahme daher als „reine Symbolpolitik“ (S. 263), die lediglich suggeriere, dass es legale Wege gebe, als Arbeitsmigrant_in nach Deutschland einzureisen und es hierzu nicht des Asylverfahrens bedürfe (ebd. S. 262).

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2.4 Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren (Asylpaket II) (vom 11.03.2016) Im März 2016 folgte das fast gleichnamige Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren, zumeist ‚Asylpaket II‘ genannt. Als Ziel gab die Bundesregierung aus, die Asylverfahren von Asylbewerber_innen mit geringen Erfolgsaussichten auf eine Schutzanerkennung weiter zu beschleunigen und im Falle einer Ablehnung eine schnellere Abschiebung zu ermöglichen (Bundestag Drs. 18/7538). Zu diesem Zweck sollten einerseits sogenannte ‚besondere Aufnahmeeinrichtungen‘ geschaffen werden (§ 5 Abs. 5 AsylG). In diesen sollten bestimmte Gruppen von Asylsuchenden untergebracht werden, darunter Menschen aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘, Folgeantragsteller_innen und Menschen, denen vorgeworfen wird, über ihre Identität getäuscht oder Dokumente mutwillig beseitigt zu haben. Über ihre Asylanträge soll das Bundesamt innerhalb von nur einer Woche entscheiden (§ 30a Abs. 2 AsylG).5 Ein Verstoß gegen die Residenzpflicht soll die Einstellung des Asylverfahrens nach sich ziehen (§ 33 Abs. 2 AsylG). Asylsuchende, deren beschleunigte Verfahren mit einer Einstellung oder einer Ablehnung als offensichtlich unbegründet enden, müssen bis zur Ausreise oder Abschiebung in diesen Lagern verbleiben (§ 30a Abs. 3 AsylG). Selbstverständlich gilt auch in diesen Fällen ein Beschäftigungsverbot (§ 61 Abs. 1 AsylG). Flankiert wurden diese Maßnahmen von Verschärfungen bei gesundheitlichen Abschiebehindernissen. Solche werden fortan nur noch anerkannt „bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden“ (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Zugleich wurden die Hürden für die Anerkennung ärztlicher Atteste massiv erhöht (§ 60a Abs. 2c, 2d). Verschärfungen gab es auch beim Asylbewerberleistungsgesetz: Die Geldleistungen für den notwendigen persönlichen Bedarf wurden deutlich – für alleinstehende Leistungsberechtigte um zehn Euro pro Monat – abgesenkt (§ 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG). Die Regierung begründet dies damit, dass bestimmte Ausgaben nicht mehr wie bisher als notwendiger Bedarf anzuerkennen seien, „solange die Bleibeperspektive der Leistungsberechtigten ungesichert und

5Kann

das Bundesamt nicht innerhalb einer Woche entscheiden, wird das Verfahren als nicht beschleunigtes Verfahren fortgeführt.

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deshalb von einem nur kurzfristigen Aufenthalt auszugehen“ sei (Bundestag Drs. 18/7538, S. 21). Hierunter fallen z. B. Ausgaben für Fernsehgeräte, Computer, Musikinstrumente, außerschulische Kursangebote sowie Sprachkurse. Bezüglich Letzteren argumentiert die Bundesregierung, bestimmten Gruppen von Leistungsberechtigten (mit ‚guter Bleibeperspektive‘) stünde ja die Teilnahme an Integrationskursen offen, während „bei Personen ohne gute Bleibeperspektive […] von einem fehlenden oder nur geringen Integrationsbedarf auszugehen“ sei (Bundestag-Drs. 18/7538, S. 23). Insgesamt trifft die Leistungskürzung jedoch alle Asylsuchenden in den ersten 15 Monaten ihres Asylverfahrens, ganz gleich aus welchem Herkunftsland. Mit der zweijährigen Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten (§ 104 Abs. 13 AufenthG) wurde eine weitere restriktive Maßnahme beschlossen, die sich explizit gegen Schutzberechtigte richtete.

2.5 Integrationsgesetz (vom 31.07.2016) Im Juli 2016 wurde das Integrationsgesetz verabschiedet. In der Gesetzesbegründung konstatiert die Bundesregierung, mangelnde Integration führe nicht nur zu gesellschaftlichen Problemen, sondern auch zu hohen Kosten. Um dies zu verhindern, müssten „individuelles und staatliches Engagement Hand in Hand gehen“ (Bundestag Drs. 18/8615, S. 22); das Gesetz wird unter den Workfare-Grundsatz ‚Fördern und Fordern‘ gestellt (ebd., S. 36; Bundestag Plenarprotokoll 18/182, S. 18.096). Dabei seien die unterschiedlichen Lebenssituationen und Bleibeperspektiven unterschiedlicher Flüchtlingsgruppen zu berücksichtigen. Die Bundesrepublik stehe vor einem absehbaren Fachkräftemangel in einigen Bereichen des Arbeitsmarktes. Investitionen in den Spracherwerb und die Qualifikation der nach Deutschland kommenden Menschen seien daher auch eine Investition in die Zukunftsfähigkeit des bundesdeutschen Arbeitsmarktes. Integration auf Zeit sei dabei einer Zeit ohne Integration vorzuziehen. Insbesondere bei Menschen aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ sei es jedoch gerechtfertigt, aufgrund der geringen Bleibewahrscheinlichkeit zunächst auf eine Förderung mit dem Ziel der Integration zu verzichten (Bundestag Drs. 18/8615, S. 22). Von unterschiedlichen Akteuren wie Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaftsbund, Bundesagentur für Arbeit, BAMF und Wohlfahrtsverbänden grundsätzlich begrüßt wurde die Einführung der ‚Ausbildungsduldung‘: Bei Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung bestand nun ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung für die Dauer der Ausbildung. Wird die Ausbildung abgebrochen, ist der

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Ausbildungsbetrieb – unter Androhung hoher Strafen – verpflichtet, den Abbruch der Ausbildung unverzüglich der Ausländerbehörde zu melden. In diesem Fall kann eine Duldung für sechs Monate zur Suche nach einem neuen Ausbildungsplatz erteilt werden. Ebenso wird die Duldung nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung für sechs Monate verlängert, um eine der erworbenen beruflichen Qualifikation entsprechende Beschäftigung zu suchen (§ 60a Abs. 2 AufenthG). Für die Ausübung einer solchen Beschäftigung wird dann eine Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre erteilt (§ 18a Abs. 1a AufenthG) (sogenannte ‚3 + 2-Regelung‘). Um Asylbewerber_innen mit ‚guter Bleibeperspektive‘ sowie Geduldeten die Aufnahme und das Absolvieren einer betrieblichen Berufsausbildung zu erleichtern, wurden diverse Maßnahmen der Ausbildungsförderung nach dem SGB III für diese Personengruppen geöffnet, darunter Berufsausbildungsbeihilfe und berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen (§ 132 SGB III). Asylsuchende aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ werden aus dem förderfähigen Personenkreis ausgeschlossen. Weiterer wesentlicher Bestandteil des Gesetzes war die Einführung des befristeten Arbeitsmarktprogramms Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen (FIM): Es sollten 100.000 vom Bund finanzierte zusätzliche Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden, in die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Leistungsberechtigte „zu ihrer Aktivierung“ zugewiesen werden können (§ 5a Abs. 1 AsylbLG). Die vorgesehene Aufwandsentschädigung wurde von zuvor 1,05 € je Stunde auf 80 Cent je Stunde abgesenkt (§ 5 Abs. 2 Satz 1 AsylbLG). Kommen sie der Aufforderung nicht nach, führt dies zu deutlichen Leistungskürzungen (§ 5a Abs. 3 AsylbLG).6 Ausgenommen von den Flüchtlingsintegrationsmaßnahm en (und damit auch von den möglichen Sanktionen bei Verletzung der Teilnahmepflicht) sind Asylsuchende aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ sowie Geduldete und vollziehbar Ausreisepflichtige (§ 5a Abs. 1 Satz 2 AsylbLG). Den Zweck solcher Arbeitsgelegenheiten sieht der Gesetzgeber in der „Strukturierung des Tagesablaufs“ sowie in der Möglichkeit der „gesellschaftlichen Teilhabe, des Spracherwerbs und einer ersten Heranführung an den Arbeitsmarkt“ (Bundestag Drs. 18/8615, S. 36). Die neuen Arbeitsgelegenheiten sollten sowohl in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften als auch bei staatlichen, kommunalen oder gemeinnützigen Trägern außerhalb der Unterkünfte angesiedelt sein.

6Leistungskürzungen

wurden außerdem ausgeweitet im Falle der Verletzung von Mitwirkungspflichten (§ 1a Abs. 5 AsylbLG).

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Zusätzlich wurde die Möglichkeit geschaffen, jene Asylsuchenden und Geduldeten, denen seit dem ‚Asylpaket I‘ die Teilnahme an Integrationskursen des BAMF grundsätzlich offen steht, zur Teilnahme an ebendiesen zu verpflichten (§ 5b Abs. 1 AsylbLG). Wer den Kurs nicht antritt oder nicht ordnungsgemäß teilnimmt, der oder dem droht auch hier eine empfindliche Leistungskürzung (§ 5b Abs. 2 AsylbLG). Zwei weitere Verschärfungen richteten sich gegen anerkannte Schutzberechtigte. Vor dem Integrationsgesetz hatten anerkannte Flüchtlinge nach drei Jahren einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, wenn kein Grund für den Widerruf des Flüchtlingsstatus vorlag. Mit Inkrafttreten des Integrationsgesetzes wird eine Niederlassungserlaubnis auch anerkannten Flüchtlingen nun „nicht mehr voraussetzungslos erteilt, sondern von Integrationsleistungen abhängig gemacht“ (Bundestag Drs. 18/8615, S. 24): Um nach fünf Jahren eine Niederlassungserlaubnis zu erhalten, müssen sie ‚hinreichende Sprachkenntnisse‘ (A2-Niveau) vorweisen und ihren Lebensunterhalt ‚überwiegend sichern‘ (§ 26 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Ein „besonderer Integrationsanreiz“ wird laut Gesetzesbegründung durch die Möglichkeit geschaffen, bei „herausragender Integration“ (Bundestag Drs. 18/8615, S. 47) schon nach drei Jahren eine Niederlassungserlaubnis zu erhalten. Dies setzt das ‚Beherrschen‘ der deutschen Sprache und die ‚weit überwiegende Sicherung‘ des Lebensunterhaltes voraus (§ 26 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Zuletzt wurde mit dem Integrationsgesetz auch eine dreijährige Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge eingeführt (§ 12a AufenthG). Aus dem Anwendungsbereich der restriktiven Regelung werden jene Personen ausgenommen, die durch eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung von mindestens 15 h wöchentlich ihren Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen bestreiten können oder die ein Studium oder eine Berufsausbildung aufnehmen oder absolvieren. Per Verordnung wurde außerdem für einen Zeitraum von drei Jahren die bis dato in den ersten 15 Monaten praktizierte Vorrangprüfung weitestgehend ausgesetzt (§ 32 Abs. 5 BeschV i.V. m. Anlage [zu § 32]).

2.6 Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (vom 20.07.2017) Ende Juli 2017 trat das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht in Kraft. Durch dieses wurden unter anderem die Unterbringungsregelungen für bestimmte Gruppen von Geflüchteten weiter verschärft. So wurden die Länder ermächtigt, die Pflicht, in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen, für weitere

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Gruppen von Asylsuchenden von zuvor sechs auf maximal 24 Monate auszuweiten (§ 47 Abs. 1b AsylG). Ausweislich der Gesetzesbegründung richtet sich diese Gesetzesänderung gegen „Asylbewerber ohne Bleibeperspektive“ und soll vermeiden, „dass eine anstehende Aufenthaltsbeendigung durch einen nach dem Ende der Wohnverpflichtung erforderlichen Wohnortwechsel des Ausländers unnötig erschwert wird“ (Bundestag Drs. 18/11.546). Der unkonkrete Gesetzeswortlaut erlaubt jedoch, die Wohnverpflichtung auch auf alle anderen Asylsuchenden bis zur Entscheidung des Bundesamtes über ihren Asylantrag auszuweiten, was von einigen Bundesländern offenbar auch entsprechend interpretiert wird (Neundorf 2018). Daneben wurde eine Reihe weiterer Verschärfungen eingeführt: Auch bei Menschen, die seit mehr als einem Jahr geduldet werden, muss eine Abschiebung nicht mehr angekündigt werden, wenn ihnen unterstellt wird, die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe durch mangelnde Mitwirkung, etwa bei der Passbeschaffung, selbst herbeizuführen (§ 60a Abs. 5 Satz 5 AufenthG). Gegen vollziehbar ausreisepflichtige Personen soll bei Mitwirkungspflichtverletzungen eine für den Bezirk der Ausländerbehörde geltende Residenzpflicht verhängt werden (§ 61 Abs. 1c Satz 2 AufenthG). Die maximal zulässige Dauer für den Ausreisegewahrsam zur Sicherung der Durchführbarkeit der Abschiebung wurde von zuvor vier auf nun zehn Tage verlängert (§ 62b Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Die Möglichkeit, Abschiebehaft nach sechs Monaten für weitere zwölf Monate zu verlängern, wurde deutlich ausgeweitet (§ 62 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurde ermächtigt, zur Identitätsklärung von Asylsuchenden Datenträger wie Handys einzuziehen und auszuwerten (§ 15a AsylG). Zudem wurden Maßnahmen gegen die „missbräuchliche Anerkennung der Vaterschaft“ zur Erlangung eines Aufenthaltsrechts für Kind und Mutter eingeführt (§ 1597a BGB, § 85a AufenthG).

3 Fördern, Fordern und Verbieten – der Versuch einer Einordnung Die Kategorie ‚Arbeit‘ spielt im Kontext der Asylrechtsverschärfungen zwischen 2014 und 2017 also in ganz unterschiedlicher und mitunter widersprüchlicher Art und Weise eine Rolle: Erstens wurde der Zugang zu Arbeit, ebenso wie zu Ausbildung und Spracherwerb, für Asylsuchende und Geduldete erleichtert: durch die Absenkung des Beschäftigungsverbots auf drei Monate, durch die Limitierung und schließlich weitestgehende Aussetzung der Vorrangprüfung, und durch die Öffnung von

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Integrationskursen, Leistungen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt und der Ausbildungsförderung für Asylsuchende mit ‚guter Bleibeperspektive‘ und Geduldete. Zweitens blieb das Arbeitsverbot als Sanktionsmittel gegen Geduldete, die ihren ‚Mitwirkungspflichten‘ nicht nachkommen, bestehen und wurde zudem schrittweise und in selektiver Form auch auf andere Personengruppen ausgeweitet: Gegen Asylsuchende und Geduldete aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ wurde ein explizites Arbeitsverbot erlassen. Eine Ausweitung des Arbeitsverbots geht außerdem einher mit der Ausweitung der Pflicht, in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen: zunächst von drei auf sechs Monate, seit Juli 2017 sogar – je nach Ermessen der Länder – auf bis zu 24 Monate, wovon vor allem Asylsuchende mit ‚geringer Bleibeperspektive‘ betroffen sein sollen. Asylsuchende aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ sind zudem von Integrationskursen, Eingliederungsleistungen und Ausbildungsförderung ausgeschlossen, ebenso von den neu geschaffenen ‚80-Cent-Jobs‘. Das Arbeitsverbot fügt sich mit verlängerter und verschärfter Lagerunterbringung, Residenzpflicht, erheblichen Leistungskürzungen nach dem AsylbLG und verschärften Abschiebehaft- und Abschieberegelungen zusammen zu einem Komplex weitreichender Entrechtung und sozialer Ausschließung gegenüber Asylsuchenden aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘, gegenüber Ausreisepflichtigen, und unter ihnen besonders gegenüber jenen, die als ‚Mitwirkungspflichtverletzer_innen‘ etikettiert werden. Dabei wurde der Kreis derer, die von dieser umfassenden Exklusion betroffen sind, deutlich erweitert: die Liste der ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ wurde von zwei auf acht Länder erweitert.7 Drittens wurden Regelungen geschaffen, durch welche Arbeit (mitunter auch Bildungserfolg) zuvor verschlossene Türen ein Stück weit öffnen kann, indem sie als Zugangskriterium zu bestimmten ‚neu geschaffenen‘ Rechten fungiert. Ein Beispiel ist die Bleiberechtsregelung, nach der langjährig Geduldete unter bestimmten Voraussetzungen (Sicherung des Lebensunterhalts durch Erwerbstätigkeit und Vorweis erfolgreicher Bildungsphasen) ein Aufenthaltsrecht erhalten können. Relevant ist diesb. auch die Ausbildungsduldung, die Geduldete vor einer Abschiebung schützt, wenn und solange sie eine Ausbildung absolvieren, die anschließend zu einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Beschäftigung führen kann.

7Am

18.07.2018 beschloss die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Einstufung von Georgien, Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten (Bundesrat Drs. 380/18). Der Gesetzentwurf fand jedoch bis zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Beitrags keine Mehrheit im Bundesrat.

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Viertens wurden durch das Integrationsgesetz jedoch auch bisher offen stehende Türen geschlossen, d. h. Zugänge zu Rechten erschwert und an strengere Voraussetzungen geknüpft, darunter Arbeit und Bildungserfolg: Anerkannte Flüchtlinge erhalten eine Niederlassungserlaubnis wie zuvor nach drei Jahren nur noch bei ‚herausragenden Integrationsleistungen‘, und auch nach fünf Jahren nur unter den Voraussetzungen überwiegender Lebensunterhaltssicherung und hinreichender Deutschkenntnisse; und sie unterliegen nun auch nach erfolgreich durchlaufenem Asylverfahren einer dreijährigen Wohnsitzauflage, der sie – bis auf Ausnahmen – nur durch die Aufnahme einer lebensunterhaltsichernden Arbeit, eines Studiums oder einer Ausbildung entkommen können. Und fünftens wurden mit dem Integrationsgesetz zusätzliche ‚Arbeitsgelegenheiten‘ oder ‚80-Cent-Jobs‘ geschaffen, in welche Asylsuchende ‚zu ihrer Aktivierung‘ ‚zugewiesen‘ werden können, ebenso wie sie nun zur Teilnahme an Integrationskursen verpflichtet werden können – jeweils bei Androhung von sozialrechtlichen Sanktionen, wenn sie diesen auferlegten Pflichten nicht ausreichend nachkommen, Maßnahmen also ganz im Geiste des ‚Fördern und Fordern‘ des aktivierenden Workfare-Staates.8 Die Grenzziehung zwischen Zugang zum und Ausschluss vom (legalen) Arbeitsmarkt, wie auch bzgl. weiterer Teilhaberechte, verläuft spätestens seit dem ‚Asylpaket I‘ deutlich anhand des Kriteriums der ‚Bleibeperspektive‘ – ein Begriff, der bis heute übrigens an keiner Stelle gesetzlich definiert wird. So bestand 2016 die Möglichkeit zur Zulassung zum Integrationskurs vor erfolgreichem Abschluss des Asylverfahrens nur für Asylsuchende aus den Herkunftsländern Syrien, Eritrea, Iran und Irak, die ausweislich der Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine Schutzquote von mehr als 50 % aufwiesen. Wie Claudius Voigt (2016) zeigt, ist jedoch die statistische Bleibewahrscheinlichkeit auch bei Asylsuchenden aus zahlreichen weiteren Herkunftsländern vergleichbar hoch (S. 247–250). Dennoch bleiben Asylsuchende aus diesen Ländern aufgrund des weitgehend willkürlichen Grenzziehungsund Kategorierungsprozesses von zahlreichen Rechten und Ressourcen ausgeschlossen. Durch die Asylrechtsverschärfungen wurden also einige ‚Errungenschaften‘ unter anderem in Bezug auf den Zugang zu legaler Lohnarbeit teilweise wieder unterlaufen. Sozialleistungen wurden gekürzt und zudem an neue ‚Mitwirkungs-

8Presseberichten

zufolge waren bis Ende März 2017 von den vorgesehenen 100.000 Stellen allerdings nur 25.000 beantragt worden, woraufhin die verbliebenden Mittel den Jobcentern zugeschoben wurden (Öchsner 2017).

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pflichten‘ geknüpft. So werden alte Restriktionen gegen einen ­(politisch-rechtlich jederzeit erweiterbaren) Teil der Asylsuchenden in neuer, selektiver Form in Stellung gebracht, teilweise auch abhängig von den politischen Kräfteverhältnissen auf Landes- oder auch kommunaler Ebene.9 Die Politik der 2018 neu formierten schwarz-roten Bundesregierungskoalition verfolgt diesen Kurs weiter. In ihrem Koalitionsvertrag einigten sich CDU, CSU und SPD unter anderem auf die Einrichtung von zentralen ­„Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen“ (AnkER) (CDU et al. 2018, S. 107). Dazu heißt es: „Wir streben an, nur diejenigen auf die Kommunen zu verteilen, bei denen eine positive Bleibeprognose besteht. Alle anderen sollen, wenn in angemessener Zeit möglich, aus diesen Einrichtungen in ihre Heimatländer zurückgeführt werden“ (ebd.). Zum 1. August 2018 gingen die ersten sieben ‚AnkER‘-Zentren in Betrieb – alle in Bayern (Glas et al. 2018).10 Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Beitrags hatte das Bundesinnenministerium zwar nur einige wenige Bundesländer (Sachsen und das Saarland) dazu bewegen können, eine Aufnahmeeinrichtung unter dem Namen ‚AnkER‘-Einrichtung zu betreiben (Baas 2019). Jedoch sind sich Befürworter*innen und Kritiker*innen der ‚AnkER‘-Zentren offenbar darin einig, dass die Bezeichnung nicht entscheidend sei. Bundesinnenminister Seehofer sagte zuletzt, dass es vielmehr darauf ankomme, dass in den Einrichtungen der Länder die verschiedenen Behörden zusammenarbeiteten, um Asylverfahren schnell abschließen zu können (Redaktion Asylmagazin 2018). Bernd Mesovic von Pro Asyl sprach von ‚AnkER‘-Zentren als „politpsychologische Konstruktion“ und kritisierte, dass in fast allen Bundesländern ähnliche Sammellager betrieben würden, wenn auch

9Das

Land Bayern scheint beim Zugang zu Arbeit und Ausbildung einen besonders restriktiven Sonderweg zu gehen: Wie Stephan Dünnwald (2017) vom Bayerischen Flüchtlingsrat berichtet, haben es Geflüchtete, denen keine ‚gute Bleibeperspektive‘ zugeschrieben wird, dort schwer bis unmöglich, eine Arbeits- oder Ausbildungserlaubnis zu erhalten (S. 196). Auch die ‚3 + 2-Regelung‘ wurde dort kaum umgesetzt, indem vor diese die Hürde der Beschäftigungserlaubnis gestellt und deren Erteilung an strenge Bedingungen geknüpft wurde. Die Industrie- und Handelskammern und Handwerkskammern kritisieren diese Politik scharf – angesichts von 12.000 Lehrstellen, die 2016 nicht besetzt werden konnten (ebd., S. 197 f.). 10Allerdings weist Matthias Lehnert (2018) zurecht darauf hin, dass auch die extrem verkürzten Asylverfahren für Asylsuchende aus Ländern mit hoher Schutzquote („Cluster A“) und aus Ländern mit geringer Schutzquote („Cluster C“) in den sogenannten Ankunftszentren anfällig für Verfahrensfehler und fehlerhafte Entscheidungen sind und den Zugang zu einer angemessenen Verfahrensberatung erschweren (S. 265).

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unter anderem Namen: Viele Bundesländer folgten der Philosophie, dass man in zentralen Großunterkünften zusammengezogene Geflüchtete besser kontrollieren könne und sie nach negativem Abschluss der Asylverfahren auch zügiger wieder loswerde (Baas 2019). Da letzteres den Behörden jedoch häufig nicht gelingt, werden vermutlich viele Geflüchtete über einen langen Zeitraum in den ‚AnkER‘Einrichtungen verbleiben – mit den Restriktionen, die mit dem Aufenthalt in einer Aufnahmeeinrichtung verbunden sind, z. B. das Arbeitsverbot (§ 61 Abs. 1 AsylG), die Residenzpflicht (§ 56 AsylG) und die fremdbestimmte Versorgung mit Sachleistungen (§ 3 Abs. 1 AsylbLG). Mit Blick auf kurz vor Fertigstellung dieses Beitrags11 in die Wege geleitete, jedoch bis dato noch nicht verwirklichte Gesetzesvorhaben lässt sich bereits sagen, dass das Feld, in dem Asyl- und Arbeitsmarktpolitik aufeinandertreffen, auch weiterhin von Widersprüchen und Konflikten, auch durch die Staatsapparate selbst, geprägt sein wird. Am 19. Dezember 2018 beschloss das Bundeskabinett je einen Entwurf für ein ‚Gesetz über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung‘12 sowie für ein ‚Fachkräfteeinwanderungsgesetz‘13. Mit dem erstgenannten Gesetzentwurf plant die Bundesregierung die Einführung der „Beschäftigungsduldung“ für Ausländer_innen, die seit mindestens 18 Monaten einer Beschäftigung von mindestens 35 Wochenstunden nachgehen und mindestens hinreichende Deutschkenntnisse vorweisen können, mit der anschließenden Möglichkeit des Übergangs in eine Aufenthaltserlaubnis. Außerdem soll die Ausbildungsduldung ausgeweitet werden auf Personen, die eine Assistenz- oder Helfer_innenausbildung in sogenannten ‚Mangelberufen‘ absolvieren. Zugleich sieht der Entwurf vor, das Beschäftigungsverbot für Geduldete aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ (§ 60a Abs. 6 AufenthG) auszuweiten, indem dieses nicht nur gilt, wenn ihr Asylantrag abgelehnt wurde, sondern auch dann, wenn sie ihren Asylantrag zurückgenommen haben. Am 1. Februar 2019 legte das Bundesinnenministerium (BMI) den Referentenentwurf für ein Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (‚Geordnete-Rückkehr-Gesetz‘) vor (BMI 2019). Der B ­ MI-Entwurf

11Stand:

28.02.2019. dazu: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/gesetzgebungsverfahren/DE/gesetz-ueberdie-duldung-bei-ausbildung-und-beschaeftigung.html 13Siehe dazu: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/gesetzgebungsverfahren/DE/fachkrae­ fteeinwanderung.html;jsessionid=8D5FDF0BDADC94B8C67BC773F0C80168.1_cid373. Zugegriffen: 27. Februar 2019. 12Siehe

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sieht unter anderem vor, Abschiebehaft gegen Personen verhängen zu können, die ihre Identität nicht offenlegen und Handlungen Dritter unter Strafe zu stellen, durch die Abschiebungen behindert werden könnten, wozu explizit auch Beratung und Informationsweitergabe gezählt werden (ebd., S. 57). Die in Bezug auf den Arbeitsmarktzugang gravierendste Änderung wären die weitgehenden Restriktionen gegen jene Geduldeten, denen die Unmöglichkeit ihrer Abschiebung ‚zuzurechnen‘ sei, etwa weil sie sich nicht ausreichend um die Beschaffung eines Passes bemühen. Sie sollen künftig keine Duldung, sondern nur noch eine ‚Bescheinigung über die vollziehbare Ausreisepflicht‘ erhalten und von Erwerbstätigkeit, Bildungsmaßnahmen und Integrationsangeboten ausgeschlossen werden (§ 60b, § 60a Abs. 6 AufenthG-E). Laut Begründungstext soll so „die Wirksamkeit des Beschäftigungsverbots erhöht werden“ (BMI 2019, S. 40), indem die Möglichkeit, eine Ausbildungsduldung zu erhalten, für diese Personengruppen ausgeschlossen wird. Der Einschätzung von Pro Asyl (2019) zufolge bietet der unbestimmte Rechtsbegriff der ‚Zurechenbarkeit‘ den Ausländerbehörden „einen noch breiteren, schwer nachvollziehbaren Spielraum“ (S. 9), was zu mehr Arbeitsverboten führen dürfte. Die Gesetzesänderungen sind Aggregate gesellschaftlicher Konflikte um Fluchtmigration und Arbeit. In ihnen verdichten sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, wobei sich teils repressiv-ordnungspolitische, teils ­ neoliberal-verwertungsorientierte Perspektiven als hegemonial durchsetzen konnten, während humanitär-menschenrechtlichen Diskurspositionen nur marginaler Einfluss auf die beschlossenen und geplanten Regelungen zu attestieren wäre. In Bezug auf die jüngst diskutierten Gesetzesänderungen bleibt abzuwarten, inwiefern der deutlich repressiv-ordnungspolitisch orientierte BMIEntwurf im Zuge der Ressortabstimmung an einigen Stellen noch ‚abgemildert‘ wird. Nicht zu Unrecht bezeichnet die Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa die nationalen Innenministerien in Europa als wichtige Stützen konservativer Hegemonieprojekte innerhalb der Staatsapparate (Buckel et al. 2014, S. 71 f.). Mit Mezzadra und Neilson (2014) lassen sich Funktion und Wirkungsweise der beschriebenen Maßnahmen als differentielle Inklusion fassen (S. 242). Dabei geht es um den Blick auf die dynamische, umkämpfte und flüchtige Schwelle zwischen Einschluss und Ausschuss, um die Analyse, „wie die Inklusion in einer bestimmten Sphäre oder einem spezifischen Bereich verschiedenen Graden von Unterwerfung, Herrschaft, Diskriminierung oder Segmentierung unterworfen sein kann“ (ebd.). Ähnlich wie punktebasierte Einwanderungssysteme sind die Gesetzesänderungen in Bezug auf Asylrecht und Arbeit unter anderem zu lesen als Ausdruck des Wunsches, „die Bewegungen der Migration immer präziser an echte oder eingebildete ökonomische Notwendigkeiten“ (ebd., S. 244)

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a­ nzupassen14 – mit dem Effekt der „Errichtung einer differentiellen Inklusion und der Multiplikation und zunehmenden Stratifizierung der rechtlichen Status von Subjekten, die den gleichen politische [sic] Raum bewohnen“ (ebd., S. 245). Keineswegs immer zeigen die getroffenen Maßnahmen die politisch intendierten Wirkungen – nicht zuletzt aufgrund der ‚Eigensinnigkeit‘ der Migrant_innen, „die immer wieder neue Taktiken finden, die hierarchisierten Bestimmungen der Systeme zu überwinden und sich in ihnen zu bewegen“ (ebd.) oder auch anderer involvierter Akteur_innen mit spezifischen Interessen, welche die Spannungen und Widersprüche, die „Bruchlinen in den Migrationsregimen“ (ebd.) weiter vertiefen.

4 Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit Für die Soziale Arbeit mit Geflüchteten bleiben die zunehmende Implementierung des Workfare-Grundsatzes Fördern und Fordern im Flüchtlingsschutz sowie die Grenzziehung anhand des Kriteriums ‚Bleibeperspektive‘ auch hinsichtlich des Arbeitsmarktzugangs nicht folgenlos: „Der sozial- und arbeitsmarktpolitische Auftrag der Sozialen Arbeit besteht u. a. darin, das vom Staat formulierte Integrationsverständnis umzusetzen. Werden die Instrumente, die eine gesellschaftliche Teilhabe gewährleisten sollen, neu definiert, haben diese Neubestimmungen auch Konsequenzen für die Soziale Arbeit.“ (Scherschel 2016, S. 98) Die durch das Asyl- und Aufenthaltsrecht geschaffenen Kategorisierungen strukturieren vor, welche Art von Integrationshilfen Soziale Arbeit zur Verfügung stellt und welchen Gruppen sie diese Hilfen anbietet oder verweigert (ebd., S. 99). Zumindest dann, wenn Soziale Arbeit beansprucht, mehr zu sein als ein ausführendes Organ staatlicher Sozial- und Migrationspolitik, resultieren aus diesen Entwicklungen Zielkonflikte, mit denen sich Soziale Arbeit auseinanderzusetzen hat. Matthias Meißner (2018) weist in einem Text zum Integrationsgesetz darauf hin, dass dieses mit seiner Fokussierung auf Geflüchtete mit guter Bleibeperspektive dazu beigetragen habe, dass ‚Versorgungslücken‘ bei Sprachkursen sowie Beratungs- und Unterstützungsangeboten bestünden (S. 152). Die dennoch notwendigen bzw. gebotenen Tätigkeiten würden in der Folge

14Wie dargestellt, gerät diese Orientierung an ökonomischen Anpassungs- und Verwertungsinteressen teilweise in Konflikt mit repressiv-ordnungspolitisch ausgerichteten ‚Anti-Migrations-Politiken‘.

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häufig von ­Ehrenamtlichen ausgeübt, die aber über keine professionellen sozialarbeiterischen oder sozialpädagogischen Kompetenzen verfügten, was eher der Verwischung der Grenzen zwischen professioneller und ehrenamtlicher Arbeit Vorschub leiste (ebd.). Die Möglichkeit des Einsatzes von Geflüchteten in Arbeitsgelegenheiten im Rahmen des Arbeitsmarktprogramms FIM sieht Meißner als „große Chance für die Soziale Arbeit“ (ebd., S. 153): Geflüchtete würden „hierdurch zur Akteur_innen bzw. Kolleg_innen, die Hand in Hand mit Sozialarbeiter_innen, Sozialpädagog_innen und ehrenamtlichen Helfer_innen zusammenarbeiten“ (ebd.). An anderer Stelle verweist Meißner jedoch selbst auf den (zumindest potenziellen) Zwangscharakter der Arbeitsgelegenheiten durch unzweckmäßige sozialrechtliche Sanktionsmechanismen sowie das hohe Maß an Kontrolle, die den Maßnahmenträgern durch die strengen Meldepflichten über Tatsachen, die zur Leistungskürzung führen könnten, aufgebürdet werden (ebd., S. 154 f.). Letztere könnten sich für die vertrauensvolle Zusammenarbeit von Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen mit Geflüchteten „als sehr kontraproduktiv erweisen“ (ebd., S. 154). Susanne Spindler (2018) kritisiert, das „Bedienen der hierarchisierenden Kategorien zur Verteilung von Teilhabemöglichkeiten“ (S. 578 f.) sowie mit dem Aufenthaltsstatus und der ‚Bleibeperspektive‘ verbundene Ungleichbehandlungen würden durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen „fast zu einer Alltäglichkeit“ (ebd., S. 579) in der Sozialen Arbeit. So berichtet eine von Spindler befragte Sozialarbeiterin in einer Gemeinschaftsunterkunft, dass sie nur Bewohner_innen aus bestimmten Herkunftsländern Einladungen für einen bundesfinanzierten ‚Welcome-Kurs‘ aushändigen durfte. Als Bewohner_innen thematisierten, dass dies ‚unfair‘ sei, entgegneten sie und ihre Kolleg_innen: „Ja, das ist unfair, nur leider sind uns da erstmal die Hände gebunden.“ (zit. n. ebd., S. 578). In der Folge hätten die Sozialarbeiter_innen jedoch ‚gemerkt‘, dass es nicht die Lösung sein könne, die anderen Bewohner_innen mit Ehrenamtskursen ‚abzuspeisen‘, und suchten nach alternativen Lösungen auf kommunaler Ebene. Es gelang ihnen, analog zu den ‚Welcome-Kursen‘ sechswöchige Kurse an der Volkshochschule zu akquirieren, welche die anderen Bewohner_innen besuchen konnten (ebd., S. 579). Dies mag hier als Beispiel reichen, um zu veranschaulichen, dass die Rahmenbedingungen, Ressourcen und Zielgruppen Sozialer Arbeit zwar durch asyl- und arbeitsmarktpolitische Weichenstellungen deutlich vorstrukturiert werden, dass es aber andererseits auch unter den Bedingungen restriktiver und hierarchisierender Politik gewisse Handlungsspielräume für die Soziale Arbeit

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gibt, die politisch produzierten Kategorien und Hierarchien nicht einfach hinzunehmen und zu reproduzieren, sondern zu hinterfragen, zu kritisieren und durch Akquise alternativer Ressourcen Benachteiligungen zumindest ein Stück weit zu kompensieren. Gleichwohl drohen sich auch diese Handlungsspielräume durch die zu erwartenden zukünftigen Gesetzesverschärfungen weiter zu verengen.

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Sebastian Muy; Sozialarbeiter (Diplom, M.S.W. Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession), tätig im Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migrant*innen (BBZ) Berlin, forscht im Rahmen seiner Dissertation an der Pädagogischen Hochschule (PH) Freiburg zu Konflikten um Soziale Arbeit im Kontext restriktiver Asylpolitik. E-Mail: [email protected].

Migrant*innen im städtischen Sozialraum. Grenzen der kommunalen Handlungsfähigkeit

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Werner Schönig

Zusammenfassung

Der Beitrag lotet Möglichkeiten und Grenzen innovativen Handelns der Kommunen in der Migrations- und Flüchtlingspolitik aus. Der Autor setzt sich kritisch mit der These operativer kommunaler Handlungsspielräume auseinander. Nicht nur staatsrechtlich und finanziell bedingte Restriktionen begrenzen die Handlungsspielräume der Kommunen. Kommunen und auch die Praxis der Sozialen Arbeit sind konfrontiert mit einer schwer steuerbaren Eigendynamik von Segregationsprozessen im städtischen Raum.

1 Einleitung Schon immer waren die Städte Orte der Immigration und dies sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus politischen Gründen – Stadtluft machte sowohl wirtschaftlich als auch politisch frei, zumindest eröffnete sie mehr Freiheit als das Leben auf dem Lande. In der neuern Literatur haben daher sowohl historische Prozesse als auch aktuelle Entwicklungen eine verstärkte Beachtung erfahren (vgl. exemplarisch die Sammelbände von Gesemann und Roth 2009, 2018). Historisch lässt sich in Deutschland eine Vielzahl von segregierten Zuwander*innenvierteln nachweisen (z. B. holländisches Viertel in Potsdam, W. Schönig (*)  Kath. Hochschule NRW, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Pioch und K. Toens (Hrsg.), Innovation und Legitimation in der Migrationspolitik, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30097-5_18

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türkische Viertel in Berlin) und sogar ganze Städte (z. B. Hugenottenstädte wie Bad Karlshafen) verdanken ihre Existenz der Zuwanderung geflüchteter Menschen. Im letzten Jahrhundert waren Chicago und New York Prototypen einer Zuwander*innenstadt; in ihnen lässt sich nach wie vor ethnische Segregation (z. B. polnisches, deutsches, irisches, koreanisches, russisches, mexikanisches, kubanisches Viertel) gut nachweisen. Little Italy, Chinatown und Black Belt mit ihren eigenen Festen und Gebräuchen gehören so sehr zum Bild dieser Metropolen, dass man sie heute nur noch folkloristisch und kaum mehr als Ausdruck ethnischer Segregation und Diskriminierung wahrnimmt. Dabei waren gerade diese Immigrant*innenviertel Anlass der empirischen Stadtstrukturund Segregationsanalyse, welche ab den 1920er Jahren von der Chicagoer Schule um Park und andere entwickelt wurde. Die besondere Betrachtung der Immigrant*innenviertel – ihrer Leistungsfähigkeit und Problematik im Integrationskontext – ist heute selbstverständlicher Bestandteil kommunaler Sozialpolitik und Sozialplanung (Enquete-Kommission 2004). Aktuell sind Zuwandernde und speziell Flüchtlinge wieder ein dominierendes Thema der Kommunalpolitik und dies aufgrund der Notwendigkeit, geflüchtete Menschen im Stadtgebiet mit Wohnraum zu versorgen und zu integrieren. Mit der letzten Einwanderungsbewegung in den Jahren 2015/2016 kamen im Wesentlichen statusniedrigere Zuwandernde in die Städte, die einen erheblichen Ausbildungs- und Integrationsbedarf haben. Immerhin ist ein Großteil der Geflüchteten (vgl. hier und im Folgenden Floeting 2015, S. 10) ohne abgeschlossene Berufsausbildung und nur weniger als 10 % von ihnen kann umstandslos in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden. Nach bisherigen Erfahrungen in Europa wird es fünf bis sechs Jahre dauern, bis die Mehrheit der Geflüchteten erwerbstätig ist – ein Wert, der auch für Deutschland nach jüngsten Berichten (Oberhuber 2018) realistisch ist und damit eine Entwicklung markiert, die als Erfolg gewertet werden kann. Gäbe es weniger rechtliche Hindernisse für eine Arbeitsaufnahme geflüchteter Menschen, dann wäre deren Erwerbsquote bereits heute deutlich höher als die aktuell gemeldeten 30 %. Seitens der Wirtschaft besteht jedenfalls ein großes Interesse, diesen Personenkreis zu qualifizieren und damit dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Aus kommunalpolitischer Sicht stehen daher sehr praktische Fragen der Integration von Migrant*innen im städtischen Sozialraum im Vordergrund, sei es die Problematik der akuten und langfristigen Wohnraumversorgung, der Beschulung, Ausbildung und Arbeitsvermittlung und nicht zuletzt der Einbindung in das kleinräumliche Gemeinwesen. Gerade in den Wochen und Monaten massiver Zuwanderung geflüchteter Menschen haben die Kommunen ein

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beachtenswertes Krisenmanagement bewiesen. Dies alles war und ist nicht nur administrativ aufwendig, sondern auch mit erheblichen Kosten verbunden. In Reaktionsmustern und Konfliktfähigkeit unterschiedlicher Stadtteile und Milieus zeigten sich bald typische Interessenkonflikte. Ausgerechnet in einer Zeit, in der sich in den meisten Großstädten die Versorgung mit günstigem Wohnraum als problematisch darstellt, verschärft sich aufgrund des Königsteiner Schlüssels die Lage besonders in Ballungszentren. Die Soziale Arbeit ist in diesem Kontext vielfach und von Beginn an gefordert. Sie hat durch ihre Präsenz aktuell eine hohe öffentliche und politische Wahrnehmung erfahren und erhebt zudem vernehmbar ihre Stimme, um aus ihrer Professionsperspektive auf Missstände hinzuweisen (vgl. vor allem Arbeitskreis Flüchtlingssozialarbeit 2018). Der folgende Beitrag konzentriert sich in diesem Themenfeld auf Grenzen der kommunalen Handlungsfähigkeit und reflektiert die These operativer kommunaler Handlungsspielräume kritisch. Dies geschieht einerseits mit Blick auf staatsrechtlich und finanziell bedingte Restriktionen und andererseits mit Blick auf die kaum steuerbare Eigendynamik von Segregationsprozessen im städtischen Raum.

2 Die Kommune als migrationspolitischer Akteur 2.1 Strukturelle Schwäche: Gefordert und gefördert Die strukturelle Schwäche der Kommunalpolitik fußt in Deutschland auf Art. 28 Abs. 1 GG, welcher die verfassungsmäßige Ordnung der Länder beschreibt. Als Teil der Länder werden die Kommunen juristisch nicht als selbständig aufgefasst, sondern sie unterliegen – im Gegensatz zur Länderautonomie gegenüber dem Bund – dem Aufsichts- und Weisungsrecht der Länder (Wehling und Kost 2003, S. 10). Unterschiede im kommunalpolitischen Umgang mit Migration und Flucht sind daher nicht ausschließlich oder gar vorrangig die Folge der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie; sie resultieren vielmehr auch aus der unterschiedlichen Abhängigkeit der Kommunen von Zuweisungen aus Landesmittel und anderen Quellen. Jene Zuweisungen sind (soweit es sich nicht um den primären Finanzausgleich handelt) an Fördervoraussetzungen gebunden, welche die kommunale Handlungsautonomie einschränken. Konkret gewendet: Das Saarland (ebenso die Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin) kann über Jahrzehnte ohne weitere Konsequenzen einen wachsenden Schuldenberg auftürmen, während die Stadt Duisburg ebenfalls wegen Überschuldung unter die rigide Finanzaufsicht des Landes gestellt wurde und dadurch weitgehend ihre finanzielle

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Handlungsfähigkeit verloren hat. Beklagen schon die Länder seit langem einen schleichenden Verlust ihrer Handlungsfähigkeit, so gilt dies umso mehr für die Kommunen. Im historischen Rückblick fällt sehr deutlich auf, dass Kommunen und hier vor allem die großen, ehemals sehr mächtigen Städte – z. B. die mittelalterlichen Reichsstädte – im modernen Nationalstaat weitgehend ihre Autonomie verloren haben. Strukturelle Schwäche bedeutet im historischen Vergleich: In Deutschland können die Kommunen heute ihre Grenzen nicht mehr selbst definieren, verfügen nicht mehr über eigenes Militär, Verteidigungsanlagen oder eine eigene Polizei, sie haben keine eigene Gerichtsbarkeit und kein Münzrecht. Selbst die Lehrer*innen sind Landesbeamt*innen mit landesweiten Lehrplänen, während die Kommunen nur für die Gebäudewirtschaft der Schulen und für die Schulsozialarbeit zuständig sind. Im Mehrebenensystem des deutschen Föderalismus erfüllen die Kommunen bekanntlich weisungsgebundene Pflichtaufgaben, pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben und freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben; in dieser Reihenfolge nimmt die Abhängigkeit, aber auch die finanzielle Deckung durch übergeordnete Ebenen ab. Mit Blick auf diese Abhängigkeit der Kommunen von den übergeordneten Ländern und dem Bund ist es traditionell ein frommer Wunsch der Kommunalpolitiker, dass ihnen die entsprechenden Finanzmittel von übergeordneter Stelle voraussetzungslos statt in fortgesetzter Gängelung zugewiesen werden mögen. Statt kommunaler Autonomie kommt es ganz im Gegenteil angesichts der kommunalen Finanznot nicht selten zum Durchgriff der durch Landesbehörden ausgeübten kommunalen Finanzaufsicht auf den städtischen Etat. Dies bringt die Kommune in eine paradoxe Situation: Will sie kommunale Autonomie zurückerlangen und neue Projekte anstoßen, so ist sie in der Regel auf zusätzliche Fördermittel vom Land, dem Bund oder der Europäischen Union angewiesen, die wiederum häufig nur dann in Anspruch genommen werden können, wenn die Kommune sich Förderkriterien unterwirft und damit ihre vermeintlich zurückgewonnene Gestaltungsautonomie wieder preisgibt. Nachdem die letzten Bundesregierungen ihre Finanzpolitik wesentlich zulasten der Kommunen betrieben haben (z. B. Senkung der Einkommens- und Unternehmenssteuern, Rentenreform mit der Folge steigender Kosten in der kommunal finanzierten Grundsicherung u. a.), verfügen viele Kommunen kaum noch über freie Mittel, mit denen freiwillige Sozialleistungen – auch jene für die Integration von Migrant*innen – finanziert werden könnten. Hier böte sich den

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Kommunen ein weiter Raum für eigene Gestaltung und politische Schwerpunktsetzung, gerade hier jedoch dominieren Sparzwänge und schränken strukturell die Handlungsautonomie ein. Die deutliche Gesundung der öffentlichen Haushalte infolge des nunmehr seit über zehn Jahren anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs ist vergleichsweise spät bei den Kommunen angekommen, da zunächst Bund, Länder und Sozialversicherungen ihre Haushalte saniert haben. Heute ist einerseits immerhin eine zunehmende Zahl von Kommunen schuldenfrei und hat damit wesentliche Handlungsspielräume zurückgewonnen. Andererseits verbleibt ebenso ein sehr großer Teil der Kommunen überschuldet und von Strukturproblemen belastet, sodass z. B. für Armutsgebiete in diesen Städten kaum noch Perspektiven entwickelt werden können. Es sei hervorgehoben, dass in diesem Polarisierungsprozess keine Trendumkehr angelegt ist. So kommt es neuerdings zu einer „doppelten Polarisierung in und zwischen Städten“ (Zimmer-Hegmann 2015, S. 179), d. h. Polarisierung greift nicht nur zwischen Städten, sondern auch innerstädtisch bzw. stadtteilbezogen. Reiche Städte werden dann mehr Ressourcen einsetzen können, um ihren Armutsgebieten zu helfen, während überschuldete Kommunen den innerstädtischen Armutsproblemen hilflos gegenüberstehen. Gerade hier, in der Peripherie der Peripherie, besteht wenig Aussicht auf Besserung. Hier existiert eine Armutsverfestigung, die durchaus mit Problemstellungen der Entwicklungspolitik zu vergleichen ist. Die alten Analysen und Diskussionen um Dependenz und Strukturalismus sind hier von überraschender Aktualität (Schönig 2017). Insgesamt ist daher die kommunale Landschaft heute in drei Lager gespalten: Erstens die wohlhabenden Städte mit großen finanziellen Spielräumen, zweitens die durchschnittlichen Städten, welche ihre kleinen Spielräume vorsichtig nutzen und drittens die armen Städte, welche nach wie vor überschuldet sind und aufgrund der Landes-Finanzaufsicht über keine Möglichkeiten verfügen, aus eigener Kraft aktiv zu werden. Dementsprechend und auch aufgrund unterschiedlicher politischer Präferenzen in den einzelnen Kommunen, ist das Spektrum einer mehr oder weniger expansiven und aktiven kommunalen Sozialpolitik groß (Grohs und Reiter 2014, S. 20). Sind die Kommunen nicht wohlhabend, so kann man ohne große Übertreibung das Verhältnis des Landes zu seinen Kommunen als das eines Patrons zu seinen Klient*innen kennzeichnen: Die Kommunen werden nach gut patriarchalischer Manier gefordert und gefördert. Strukturell sind die Kommunen zweifellos in einer schwachen Position.

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2.2 Operative Stärke: Nutzung von Handlungsspielräumen Als Antithese zur oben skizzierten strukturellen Schwäche der Kommunen steht zunächst der Schutz der kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 GG: „(2) Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfaßt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle.“

Im Kern bedeutet dies, dass Kommunen in der örtlichen Ebene allzuständig sind und auch das Recht haben, für sich neue Aufgaben zu erfinden. Diese Garantie setzt der faktisch zu beobachtenden fortwährenden Schwächung der Kommunen eine justiziable Grenze. Offenbar ist bislang nach Ansicht der Verfassungsrechtler*innen noch nicht der Punkt erreicht, an dem die oben beschriebene strukturelle Schwächung der Kommunen gegen den Schutz der kommunalen Selbstverwaltung durch Art. 28 GG verstoßen würde. Trotz verbreiteter Probleme ist doch in der Breite der kommunalen Landschaft nach wie vor von einer funktionierenden kommunalen Selbstverwaltung auszugehen. So liegt die Stärke der Kommunen nicht in der Struktur, sondern im operativen Bereich der Politikimplementation (Rieger 2013, S. 64) und dies insbesondere in der kommunalen Migrations- und Flüchtlingspolitik. Hier kann und muss die Kommunalverwaltung Entscheidungen treffen und jene Entscheidungen führen in der Summe z. B. „zu einer enormen Variationsbreite flüchtlingspolitischer Praxis“ (Schammann und Kühn 2016, S. 4), so dass hier durchaus politisch gestaltet werden kann. Jene Spielräume werden umso größer, je umstrittener und konfliktgeladener ein Politikfeld ist, da mit steigender Konflikthaftigkeit immer mehr Widersprüche und unbestimmte Rechtsbegriffe in ein Gesetz einfließen. Jene öffnen dann kommunal-operative Handlungsspielräume durch unterschiedliche Auslegung der Rechtsbegriffe, wie sie dann in Anweisungen an die Verwaltungsmitarbeiter*innen ausgegeben und von ihnen umgesetzt werden. Beim Blick auf die operative Ebene der Implementationspraxis von Kommunen zeigen sich daher immer wieder überraschende Ergebnisse. Die Kommunen sind bei der Politikimplementation nicht nur Befehlsempfänger*innen, sondern sie nutzen ihre Handlungsspielräume gemäß der lokalen Tradition und Metakultur einer mehr konservativen bzw. weniger weltoffenen Stadt auf der einen Seite, und

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der eher liberalen Stadt auf der anderen (Schönig 2016a). Dies kann exemplarisch für die folgenden Bereiche der kommunalen Flüchtlingspolitik belegt werden (Schammann und Kühn 2016): • Vollzug des Asyl- und Aufenthaltsgesetzes; hier das mehr oder weniger offene, schnelle und kreative Verfahren im Übergang von der Duldung zu einem regulären Aufenthaltsstatuts. • Art der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften oder Wohnungen. • Gewährung von Sozialleistungen als Sach- oder Geldleistungen. • Mehr oder weniger aktive und ermutigende Umsetzung des Rechtsanspruches auf frühkindliche Bildung und der Sprachförderung Deutsch. • Unterschiedliche Förderung der Arbeitsmarktintegration und der Einbindung Ehrenamtlicher. • Auslegung und Umsetzung des Baurechts durch Sonderregelungen, um Flüchtlingsunterkünfte flexibler zu errichten und generell den Wohnungsmarkt zu entspannen. • Kooperation mit den Wohlfahrtsverbänden und anderen Akteuren der Sozialwirtschaft bei der Inobhutnahme unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter und hier auch Nutzung von Spielräumen bei der Altersfeststellung und des weiteren Clearings der Jugendlichen (vgl. dazu auch Landua 2015, S. 12 f.). Diese Indizien sprechen dafür, in der Flüchtlingspolitik, wie auch in anderen, ähnlich kontroversen Politikfeldern, operativ größere Handlungsspielräume zu vermuten, als dies die oben skizzierte strukturelle Mehrebenenanalyse nahelegt. Viele der vorgestellten Handlungsspielräume sind nicht neu, sie bekommen allerdings aufgrund der massiven Zuwanderung geflüchteter Menschen eine neue Relevanz und werden entsprechend breit ausgeschöpft (Floeting 2015, S. 11). So zeigt sich in der Kommunalverwaltung der Handlungsalltag „kreativer und widerspenstiger gegen vermeintlich zwingende Vorgaben von außen als erwartet“ (Wurtzbacher 2015, S. 367). Beispielsweise bleibt im Jobcenter die Sanktionsdrohung zwar bestehen, sie wird jedoch nur als Drohmittel genutzt und dann eingesetzt, wenn durch die Sanktion der/die Berater*in einen neuen Handlungsspielraum gewinnen würde. Auch hier legt die empirische Analyse der Umsetzungspraxis nahe, „eine simplifizierende und politisch naive Steuerungslogik infrage zu stellen, das Interaktionsgeschehen sozialer Dienste in seiner Komplexität zu markieren und die aus der Verschränkung sozialpolitischer Rahmensetzungen, normativer Erwartungen sowie unterschiedlicher Organisationsgestaltungen und persönlicher Ressourcen resultierenden Komplikationen in sozialpolitisch anschlussfähiger

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Weise zu benennen“ (Wurtzbacher 2015, S. 367). Angesichts der operativen Handlungsspielräume der Kommunen sollte die Flüchtlingspolitik im deutschen Föderalismus „keineswegs als kohärentes Gesamtkunstwerk, sondern eher als eine Art Flickenteppich bezeichnet werden“ (Schammann und Kühn 2016, S. 5). Dabei sollte jedoch ebenso nicht aus dem Blick geraten, dass auch in der Nutzung ihrer Handlungsspielräume einige Kommunen aufgrund ihrer prekären Situation weitaus geringere Handlungsspielräume haben als andere.

3 Aspekte der operativen Schwäche der Kommunen im Migrationskontext Wie oben deutlich wurde, legt die rechtliche und finanzielle Situation der meisten Kommunen ein zumindest ambivalentes Bild ihrer kommunalen Handlungsfähigkeit nahe: Strukturelle Schwäche und operative Stärke existieren gleichzeitig und es ist eine offene Frage persönlicher Bewertung, ob die operative Stärke der Kommunen ihre strukturelle Schwäche kompensieren kann. Im Folgenden konzentrieren sich die Ausführungen – wie im Untertitel vermerkt – auf Aspekte der operativen Schwäche der Kommunen im Migrationskontext. Hierbei konzentrieren sie sich auf die ethnische Segregation im Standardmodell, hinterfragen das Konzept der Ankunftsstadt als innovativen Ansatz und zeigen segregationsbedingte Konflikte als Innovationshemmnisse.

3.1 Ethnische Segregation im Standardmodell Unter Segregation versteht man in der Stadtsoziologie und Sozialgeographie (Chicagoer Schule) die räumliche Absonderung von Personengruppen nach ihrem sozialen Status, ihrem Alter und ihrer ethnischen Herkunft. Demnach wohnen Menschen tendenziell umso näher beieinander, je ähnlicher sie ihren Nachbar*innen sind (baseline homophilie) und diese Angleichung verstärkt sich weiter, je länger die Personen in Nachbarschaft zueinander leben (inbreeding homophilie) (Schönig 2014, 55 ff.). Umgekehrt führt daher eine große Differenz im sozialen Status, dem Alter und der ethnischen Herkunft dazu, dass auch die räumliche Distanz zunimmt. Mit anderen Worten: ‚Gleich und gleich gesellt sich gern‘ gilt auch und gerade bei Fragen des passenden Wohnortes. Setzt man die freie Wohnortwahl innerhalb der Stadt als Normalfall voraus, so ist die Segregation aufgrund ihrer

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sozialpsychologischen Fundierung ein grundlegendes Phänomen, mit dem die Kommunalpolitik konfrontiert wird, ohne es kausal angehen zu können. Sie wirkt umso stärker, da der Zuzug in ethnisch segregierte Wohngebiete auch funktional effizient ist, da er den zuziehenden Personen materielle und immaterielle Vorteile durch Integration in ihre Community verschafft. Bereits die frühe Segregationsforschung hat sich besonders für die Effekte der Zuwanderung und ethnischen Segregation interessiert, wofür die Zuwandererstadt Chicago in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein ausgezeichnetes Forschungsfeld bot. Sie hat am Beispiel Chicagos ein Modell der ethnischen Segregation entwickelt, das auch heute noch verblüffend aktuell ist. In diesem Grundmodell wird Segregation mit den Begriffen Invasion, Sukzession und Dominanz beschrieben, d. h. als ein feindseliger Kampf um urbanen Lebensraum, der analog zu den ökologischen Verdrängungsprozessen in der Natur aufgefasst wird. Empirische Erhebungen haben zudem ergeben, dass sich Zugewanderte zunächst in der sogenannten Transitionszone ansiedeln, also in einem Ring ärmerer Wohngebiete, der sich um die Innenstadt legt. In diesem Ring werden die einzelnen Migrant*innengruppen je nach Herkunft dann Sektoren besetzen, die man sich als Kuchenstücken der ringförmigen Transitionszone vorstellen kann. Diese Kuchenstücke sind hoch segregierte monoethnische Wohngebiete und hier kommt es zur Folgemigration. Zwar ist in Ausnahmefällen eine ethnische Folgemigration auch im ländlichen Raum zu beobachten, wenn sich einzelne Migrant*innengruppen, z. B. Russlanddeutsche im Umland von Cloppenburg oder irakische Christen im Sauerland ansiedeln und dort segregierte Wohngebiete bilden und ganze Dörfer neu prägen. Im Wesentlichen jedoch findet die Zuwanderung – aktuell wie auch historisch – in die Städte und nicht in den ländlichen Raum statt. Bereits 2005 stellte die Schader-Stiftung fest, dass fast die Hälfte der Ausländer (gegenüber nur einem Drittel der Gesamtbevölkerung) in Deutschland in Großstädten lebt ­(Schader-Stiftung 2005, S. 12 und 19), denn diese ethnisch segregierten Wohngebiete bieten den Neuankömmlingen handfeste Vorteile: Vertrautheit, persönliche Netzwerke und damit zusammenhängend auch Erwerbschancen. Gelingt den Migrant*innen ein sozialer Aufstieg, so werden die erfolgreichen Zuwanderer sukzessive an den Stadtrand in bessere Wohnlagen ziehen. Mit Blick auf das Ringmodell der Chicagoer Schule wird dann von einer kaskadenartigen Wanderung der Aufsteiger*innen an den Stadtrand gesprochen. Durch diese Stadtrandwanderung der erfolgreichen Migrant*innen wohnen diese breiter gestreut am Stadtrand und damit schließlich nimmt die ethnische Segregation in der Gesamtstadt ab. Umgekehrt gilt auch: Je weniger den Migrant*innen der

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soziale Aufstieg gelingt, desto weniger werden sie ihr monoethnisches Wohngebiet verlassen, desto stärker segregiert werden sie wohnen und desto schlechter sind dann die Integrationschancen. In Abb. 1 ist dieser Gesamtprozess der ethnischen Segregation veranschaulicht. Dabei ist das Ringmodell der grundlegenden Arbeit von Burgess (1952) entnommen, während die Wanderungspfeile eigene Ergänzungen sind. Zunächst erfolgt die Zuwanderung in die Transitionszone, also den Ring um das innerstädtische Zentrum (1), mit zunehmendem sozialem Aufstieg wandern dann die erfolgreichen Migrant*innen an den Stadtrand ab (2 bis 4). Je weiter sie vom Stadtrand entfernt sind, desto weniger sind die ethnischen Grenzen von Bedeutung, welche die einzelnen Sektoren innerhalb der Ringe trennen. Daher sind diese Sektorengrenzen zum Stadtzentrum hin sehr dicht, zum Rand hin sehr durchlässig gezeichnet. Die neuere Forschung verweist auf bemerkenswerte Trends und Effekte, welche das aktuelle Segregationsgeschehen speziell im Migrationskontext prägen

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Abb. 1   Ethnische Segregation im klassischen Ringmodell der Chicagoer Schule. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Burgess (1952, S. 51))

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(Terpoorten 2013, S. 3 ff.; Friedrichs 2014). So ist beispielsweise die Segregation dort stärker, wo der Wohnungsmarkt vergleichsweise entspannt ist (z. B. strukturschwache, schrumpfende Städte), da dort die Fluktuation mehr Sortierung ermöglicht. Gerade in diesen Problemstädten besteht somit eine fatale Tendenz zur Armuts- und Segregationsverfestigung. Umgekehrt bremst ein hohes Mietniveau bei Neuverträgen die Mobilität, sodass in reichen, expandierenden Städten mit hohem Mietniveau der Segregationstrend tendenziell schwächer ist. Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass das Standardmodell heute zumindest mit Blick auf prosperierende Großstädte nur noch eingeschränkt Gültigkeit hat, da seine Grundannahme – die Zuwanderung und der dauerhafte Verbleib zunächst statusniedriger Bevölkerungsgruppen in die Transitionszone – infrage steht. Stattdessen zeigen empirische Untersuchungen ein vielfältigeres Bild. Bei hohem sozialem Status erfolgt die Ansiedlung unmittelbar in statushöheren Wohngebieten und es kommt zudem zu einem kürzeren Verbleib. Im Extrem ist die jeweilige Stadt nur „‘Zwischenentappe‘ internationaler oder transnationaler Wanderbiographien“ (Fina et al. 2014, S. 379 ff.) mit sich wiederholenden Standortmustern spezifischer Einwander*innengruppen. Teil dieses Geschehens ist auch die Zuwanderung in gentrifizierte Bereiche der Transitionszone (5 in der Abbildung). So ist – wie bereits anhand des Modells erläutert – auch empirisch davon auszugehen, dass die ethnische Segregation tendenziell an Bedeutung verliert und dies umso mehr, je höher der soziale Status der Migrant*innen ist, je besser sie integriert sind und je differenzierter sich ihre gesellschaftliche Stellung in den verschiedenen Milieus ausgebildet hat. Tendenziell verliert daher im Laufe der Zeit die ethnische Herkunft an Bedeutung für das Selbst- und das Fremdbild, d. h. der Migrationshintergrund prägt immer weniger die gesellschaftliche Stellung. Umgekehrt betrachtet, gewinnen aktuell sozial-ökonomische (Erwerbsund Bildungsstatus) und auch demographische Merkmale (Alter, Kinderzahl) an Bedeutung für das Segregationsgeschehen: Man zieht mehr denn je in einen sozial-ökonomisch oder demographisch passenden Stadtteil und blickt dabei weniger auf den passenden Migrationshintergrund der Bewohner*innen. Andererseits ist das neuere Konzept des transnationalen Urbanismus von Bedeutung. Auch dieser Ansatz geht davon aus, dass Städte extrem diverse Orte sind. Dabei sind allerdings die ethnische und religiöse Segregation nicht im Verschwinden begriffen, sondern stark mit dem Thema einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft verbunden. So liegt der Fokus des transnationalen Urbanismus auf einer neuen, ethnisch und religiös geprägten, sehr diversen und mit Multiproblemlagen belasteten urbanen Unterschicht (Williams 2016, S. 20). Deren Segregation bildet aufgrund ihrer komplexen Problemlage eine in dieser

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Massivität neue Herausforderung für die Soziale Arbeit. Die ethnisch extrem diversen Nachbarschaften und ihre Kohäsion (superdiverse neighborhoods; Wacquant 2014) müssen erst einmal verstanden werden, ehe man ihnen helfen kann: Ihre Diversität wird zunehmend diverser (diversification of diversity). Insgesamt zeigen diese sehr wirkungsmächtigen Trends, dass sich die ethnische Segregation kaum kommunalpolitisch steuern lässt, da ihr sehr grundlegende Kräfte und Mechanismen zugrunde liegen. Sinnvoller Ansatzpunkt der Kommunalpolitik ist nicht die Segregation an sich, sondern der soziale Aufstieg. Gelingt den Migrant*innen ein sozialer Aufstieg, so werden sie tendenziell ihre Transitionszonen verlassen und gestreut am Stadtrand siedeln. Gelingt ihnen der soziale Aufstieg nicht, so verbleiben sie in ethnisch segregierten Armutsgebieten. Die Kommunalpolitik könnte dem zwar z. B. durch eine auf Streuung abzielende Belegungspolitik öffentlicher Wohnungsunternehmen entgegenwirken. Jedoch kann dies nur gelingen, wenn erstens die Kommunen überhaupt Zugriff auf entsprechende Wohnungsbestände haben – dazu müssen sie über kommunale Wohnungsunternehmen und/oder Belegungsrechte verfügen – und wenn zweitens die Migrant*innen selbst diesen Umzug in ein für sie fremdethnisches Gebiet überhaupt wollen. Die Betroffenen wollen oftmals die engen Bindungen ihrer Nachbarschaft nicht aufgeben und plädieren daher – aus Sorge vor dem Verlust ihres Sozialkapitals – tendenziell für einen Verbleib in der vertrauten Community.

3.2 Ankunftsstädte als innovativer Ansatz? Im Zuge der Diskussion um alternative Ansätze zur Bewältigung von Zuwanderung wird seit einigen Jahren häufiger auf den Beitrag von Saunders (2011) verwiesen, der sogenannte Ankunftsstädte (arrival cities) weltweit analysiert hat und deren Umsetzung generell für unvermeidlich hält. Ankunftsstädte sind spontan entstehende Siedlungen am Rand großer Städte, in denen die zuwandernden Menschen für längere Zeit eine einfache Bleibe finden und von denen aus sie oder ihre Kinder sich entweder in die große Stadt eingliedern oder aber zurück in ihr Herkunftsdorf wandern. Für die kommunale Flüchtlings- und Migrationspolitik ist dies insofern interessant, da auch an den Ankunftsstädten deutlich wird, dass die kommunalen Handlungsspielräume in den entwickelten Ländern vermutlich nicht ausreichen, um dieses Konzept umzusetzen. Saunders Kernaussagen können in wenigen Punkten zusammengefasst werden:

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1. Grundlage der Ankunftsstadt ist eine fortdauernde Migrationsbewegung vom Land in die Stadt. Ursache dieser Landflucht ist schlicht, dass das Leben auf dem Land als unbefriedigend gegenüber dem Leben in der Stadt angesehen wird (Push-Faktor). In der Regel erfüllt sich die Erwartung eines besseren Lebens in der Stadt tatsächlich, auch wenn der Weg für die erste Generation entbehrungsreich ist. Darüber hinaus werden die Zuwandernden in den Städten als Arbeitskräfte gebraucht und können daher wirtschaftlich erfolgreich sein (Pull-Faktor) (Saunders 2011, S. 144 ff.). 2. Die Ankunftsstadt liegt am Stadtrand und ist dort durch öffentliche Verkehrsmittel angebunden. Als neue Transitionszone ersetzt sie die innenstadtnahen Stadtteile. Diese wiederum werden durch Gentrifizierung aufgewertet und können daher nicht mehr als Transitionszonen fungieren (Saunders 2011, S. 161 f. und 520 ff.). 3. Wegen der Entsagungen und Risiken in der Ankunftsstadt bleiben die meisten Bewohner*innen nur eine überschaubare Zeit dort (etwa eine oder zwei Generationen) und ziehen dann in ein Wohnviertel mit höherem Sozialstatus. Die verschiedenen Wanderungsbewegungen zwischen Ankunftsstadt und Heimatdorf bedeuten einen Selektionsprozess, in dem die leistungsfähigen und beharrlichsten den sozialen Aufstieg und den Umzug in höher gestellte Wohnviertel schaffen (Saunders 2011, S. 19 ff. und 79 ff.). In der Längsschnittbetrachtung der einzelnen Migrant*innen-Biographien ist dies eine Erfolgsgeschichte des Aufstiegs und des Wegzugs; in der Querschnittsbetrachtung der aggregierten Armutsquoten zeigt sich über einen langen Zeitraum keine Verbesserung, weil immer neue, arme Zuwanderer*innen eintreffen (Saunders 2011, S. 15 f., 138 f., 259 ff., 514 ff. und 525). 4. Voraussetzung für eine erfolgreiche Ankunftsstadt ist, dass die Zuwanderer*innen ihre alten Verbindungen zum Dorf nicht kappen müssen, ethnisch geprägte Netzwerke aufbauen und gleichzeitig eine neue Existenzgrundlage bilden können. Hierbei helfen doppelte Staatsbürgerschaft, die einfache Gründung von Kleinunternehmen und der Erwerb/die Errichtung von Wohneigentum sowie der Zugang zu Schulen und sozialen/gesundheitlichen Dienstleistungen. Hierfür müssen die Voraussetzungen geschaffen werden (Saunders 2011, S. 164 ff. und S. 401 ff.). 5. Die Ankunftsstadt scheitert (Saunders nennt exemplarisch das Scheitern in Berlin und Paris), wenn die Voraussetzungen nicht vorliegen und die Zuwanderer*innen bleiben dann gleichsam in ihr stecken: Sie können weder zurück in das Dorf, noch gelingt ihnen der soziale Aufstieg in die Stadt hinein. Es entsteht eine grotesk-degenerierte traditionell-dörfliche ­ Lebensweise

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inmitten der Stadt, eine Lebensweise, die indes in den Herkunftsdörfern gar nicht mehr gelebt wird und dort auch nicht mehr toleriert würde. Sie ist somit hier wie dort deplatziert. Gründe für dieses Scheitern in der Stagnation sind mangelnde Übergangsoptionen aufgrund verwehrter Staatsbürgerschaft, erschwerter Unternehmensgründung, blockierten Eigentumserwerbs sowie unzureichender Schulen und anderer sozialer Dienstleistungen (Saunders 2011, S. 158, S. 168 f., S. 373 ff. und S. 450 ff.). 6. Aus den Erfolgs- und Scheiternsfaktoren der Ankunftsstadt ergibt sich ein erheblicher politischer Gestaltungsspielraum. Es ist eine zentrale Aufgabe der Politik hier positiv und verantwortlich erstens die Ankunftsstadt zuzulassen und zweitens Übergänge aus der Ankunftsstadt zu ermöglichen (Saunders 2011, S. 169, S. 456 f. und S. 516 ff.). Sowohl die erfolgreichen als auch die scheiternden Ankunftsstädte haben erhebliche politische Bedeutung und waren oftmals Ausgangspunkt politischer Umbrüche und sollten daher von der Politik sehr ernst genommen werden (Saunders 2011, S. 141 ff., S. 218, S. 278 ff. und S. 306 ff.). In Abb. 2 ist dargestellt, wie die ethnische Segregation mit Ankunftsstadt – im Gegensatz zum Standardmodell der Chicagoer Schule – verläuft. Auf die Zuwanderung (1) vom Land in die Ankunftsstadt (AS) folgt nach einiger Zeit

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Abb. 2   Ethnische Segregation mit Ankunftsstadt. (Quelle: Eigene Darstellung)

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entweder die Rückwanderung auf das Land (2a) oder aber bei sozialem Aufstieg der Zuzug in Mittelschichtswohngebiete (2b). Von dort aus geht die nächste Wanderungsstufe entweder in die traditionell wohlhabenden Gebiete am Stadtrand (3a) oder in die gentrifizierten innerstädtischen Wohngebiete (3b). Allerdings sind die kommunalen Handlungsspielräume bei der Einrichtung einer Ankunftsstadt in Deutschland rechtlich begrenzt. Sie kann zwar freies Land zuweisen, Bauvorschriften lockern und auch eine soziale Infrastruktur einrichten, sie kann jedoch nicht jedem/r Zuwander*in – insbesondere nicht den Flüchtlingen – bald die Einbürgerung ermöglichen und ihnen zuvor schon ein Gewerbe erlauben. Zudem sind beim Bau Sicherheits-, Energie- und Hygienevorschriften auf Europa- und Bundesebene zu beachten, an welche die Kommune gebunden ist. Kurzum: Wenn Saunders Orte in Berlin und Paris als gescheiterte Ankunftsstädte erwähnt und ihnen das Istanbul der 1970er und das Toronto der 1950er Jahre als erfolgreiche Ankunftsstädte gegenüberstellt werden, so zeigt das auch, dass das Konzept in den Metropolen Europas offenbar kaum umsetzbar ist. Hierzulande würden die Lebensbedingungen in den Ankunftsstädten als skandalös und untragbar empfunden, sodass die Kommune durch die Kommunalaufsicht gezwungen wäre, solcherlei Siedlungen wieder aufzulösen.

3.3 Segregationsbedingte Konflikte als Innovationshemmnis In der Segregationsforschung besteht weitgehend Konsens, dass der Segregationsprozess konfliktgeladen ist, so wie es bereits die Chicagoer Schule beobachtet und anschließend postuliert hat. Es geht hier – auch bei der ethnischen Segregation – um eine verbreitete Reaktion auf den unvermeidlichen Stress, der mit dem Kontakt zum Fremden und deren Ansiedlung im eigenen Sozialraum verbunden ist. In der Folge kommt es aufgrund eines gehobenen sozialen Status‘ freiwillig zur Gründung einer Kolonie (eigene Abschottung) oder unfreiwillig, d. h. aufgrund eines Mangels an Alternativen zur Herausbildung eines Ghettos (fremde Ausgrenzung) (Schönig 2014, S. 147 ff.). Abschottung und Ausgrenzung sind Ausdruck eines Konkurrenzverhaltens auf beiden Seiten und kann dort in zweifacher Form eskalieren. Vergleichsweise selten ist dabei eine ‚heiße‘, d. h. offene Eskalation zu beobachten, die dann vorliegt, wenn es zu gegenseitigen Übergriffen kommt. Weitaus häufiger ist hingegen eine ‚kalte‘ Eskalation zu beobachten, d. h. es kommt zu Kontaktverweigerung und Kooperationsblockaden (Schönig 2015, S. 72 ff.). So entstehen auf der ­Verhältnis- und der Verhaltensebene selbstverstärkende Segregationsprozesse, die

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seitens der Kommune nur mit innovativen Ideen und Umsetzungspraktiken aufgebrochen werden können. Zwar berichten kommunale Praktiker*innen vor Ort – gleichsam hinter vorgehaltener Hand – über Probleme kalter Eskalation im Kontext ethnischer Segregation, eine wissenschaftliche Literatur existiert hierzu nach Kenntnis des Verfassers indes nicht. Die Literatur sammelt Erfolgsgeschichten, herausragend im Evaluationsbericht des Bund-/ Länder-Programms „Soziale Stadt“ (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2017), die sie als B ­ est-Practice-Beispiele zur Nachahmung empfiehlt, geht jedoch verfestigten Kontaktverweigerungen und Kooperationsblockaden, welche in der Regel Konflikte zwischen den Heimatländern und Herkunftskulturen spiegeln – z. B. in der Rivalität zwischen sunnitischen, schiitischen und alawitischen Muslim*innen oder in der Rivalität zwischen russischen und ukrainischen Einwander*innen oder zwischen Einwander*innen jüdischer und palästinensischer Abstammung – aus dem Wege. Kooperation, Befriedung und Normalisierung würde in der eigenen Community als Verrat angesehen und ist daher für die Zuwander*innen keine Option. Da sie andererseits den Konflikt hierzulande auch nicht eskalieren lassen wollen, bleibt ihnen nur der Weg der kalten Eskalation durch Kontaktverweigerung. Zur Vermeidung oder Überwindung der kalten Eskalation im Kontext ethnischer Segregation wird auf Methoden der interkulturellen Sozialen Arbeit zurückgegriffen (Freise 2018). Sie folgen der Idee der gewaltfreien Kommunikation und beinhalten u. a. den wertschätzenden Austausch über Biographien und Perspektiven, aber auch praktisches, nonverbales Handeln für Dritte, die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, z. B. in einem kulturneutralen Kinderzirkus und nicht zuletzt eine Vernetzung der jeweils relevanten religiösen und politischen Führungspersönlichkeiten. Diese Methoden sind nur dann erfolgreich, wenn über Jahre ein Vertrauensverhältnis aufgebaut wird, durch das die Konflikte in den Heimatländern langsam verblassen können. Eine Projektförderung ist in diesem Kontext zwar häufig anzutreffen, ist jedoch in ihrer Befristung sachfremd. Bewährt hat sich vielmehr das langfristige, von einer Projektfinanzierung unabhängige Engagement von Lokalpolitiker*innen, Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften, lokalen Bildungs- und Jugendhilfeeinrichtungen. Kommunalpolitische Ansätze zur Abschwächung von Segregationstendenzen (s. Abb. 3 fokussieren auf eine ausgeglichene Verteilung der Zuwanderer*innen im Stadtraum und eine möglichst rasche Angleichung ihres sozialökonomischen Status. Hinsichtlich der Unterbringung der Zuwanderer*innen entscheidet vornehmlich der Wohnungsmarkt und nicht die Kommune und selbst dort, wo die

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