Mnemographie: Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin [Reprint 2015 ed.] 9783110936322, 9783484630215

Walter Benjamin's work is central to the debate on the crisis of remembrance in modern aesthetics. The study shows

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German Pages 470 [476] Year 1999

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Mnemographie: Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin [Reprint 2015 ed.]
 9783110936322, 9783484630215

Table of contents :
Vorbemerkung
»Wem sich das Leben in Schrift verwandelt hat...« Einleitung in eine Konstellation literarischer Erinnerung
TEIL I »Die gangbare Form dieses Fortlebens...« Zur Ordnung der Erinnerung
1. Kapitel Gedächtnis und Schrift
1.1 Die memoria der Tradition: Metaphorologie
1.2 Die Tradition der memoria: Medialität
1.3 Antike Mnemotechniken
1.4 Moderne Modelle
1.5 Das Gedächtnis der Texte
1.6 Die Gerechtigkeit der Intertextualität
2. Kapitel Schreiben und Erinnern
2.1 Die Zeitlichkeit des Erinnerns
2.2 Narrative Wiederholbarkeit
2.3 Rhetorische Zeiten
2.4 Ego sum qui memini
2.5 Allobiographien
3. Kapitel Die graphé der memoria
3.1 Die écriture der Erinnerung
3.2 Verräumlichung und Temporalisierung
3.3 Der Körper der Schrift
3.4 Die Geste der Überschreitung
3.5 Die zwei Hände der memoria
3.6 Die andere Seite der écriture: Graphologie und Kabbala
3.7 Zu einem Benjaminschen Schriftbegriff: die graphé
4. Kapitel Destruktive Diskurse
4.1 Die Topologie der Destruktion
4.2 Destructio destructionis
TEIL II »Ein graphisches Schema meines Lebens...« Die Erinnerung der Literatur
5. Kapitel Schreiben im Jetzt: Die Tagebücher
5.1 Die memoria im Tagebuch
5.2 »Kurven eines Lebens«
6. Kapitel Das epische Gedächtnis: Die »Kunst zu erzählen«
6.1 Der erzählte Erzähler
6.2 Die Stimme des Erzählers
6.3 »Dem Staub, dem beweglichen eingezeichnet«
7. Kapitel Topographien: Die »Stadt als mnemotechnischer Behelf«
7.1 Eine Stadt der Erinnerungen
7.2 Die Stadt als Text
7.3 Der Text als Stadt
8. Kapitel Transgressionen: Rausch und Traum
8.1 Die »Kräfte des Rauschs«
8.2 »Profane Erleuchtungen«
8.3 Halt, stillgeschreibt. »Prosaförmige Produktivität«
8.4 Traumkunst
8.5 Traumtheorien
8.6 Traumerzählungen
9. Kapitel Stumme Überlieferung und schweigendes Erinnern: Briefe und Sonette
9.1 Denkmäler der Kommunikation
9.2 »Lebendige Überlieferung«
9.3 Aus dem Gedächtnis in vierzehn Zeilen
9.4 Wortlose Lieder
10. Kapitel Panorama der Kindheit im Labyrinth der Schrift: Das Projekt Berliner Kindheit
10.1 Textgeschichten
10.2 Antiautobiographie
10.3 Bilder des Erinnerns
10.4 Die téchne der Mnemosyne
10.5 Sinnbilder
10.6 Schriftbilder
TEIL III »Einschuß einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart...« Eine Poetik des Eingedenkens im Jetzt der Schrift
11. Kapitel Die Kunst der ›Geschichte‹
11.1 Die Theorie der Historie
11.2 Die Geschichten der Kunst
11.3 Das Erzählen der Geschichte
11.4 Proust als Modell
11.5 Baudelaire als Differenz
12. Kapitel Allegorie und correspondances
12.1 »Die Welt im Stand der Ähnlichkeit«
12.2 Das Aufbrechen des Kontinuums
12.3 Die Dekonstruktion einer Opposition in der Erinnerung
13. Kapitel Schreiben als Erinnern
13.1 Die Erinnerung der Sprache
13.2 Sprache und Erzählen
13.3 Das Medium des Eingedenkens: Der Zwischenraum der graphé
13.4 Mnemographie
TEIL IV »Die Zerstörung als das Klima echter Humanität...« Eine Poetik der Destruktion
14. Kapitel Der destruktive Charakter der Erinnerung
14.1 Zerstörung als Eröffnung
14.2 Die andere Geschichte
14.3 Die Kunst der Ent-Setzung
14.4 Die allegorische Intention
14.5 Die Sprachlosigkeit der Erinnerung
15. Kapitel Das Schreiben der Destruktion: Pariser Passagen
15.1 Phantasmagorien: Das Projekt der Urgeschichte
15.2 Die Absolutheit des Entwurfs: Die ›zwei Hände‹ der Exposés
15.3 ›Zeigen statt Sagen‹: Probleme der Formierung
15.4 Baudelaire als Charakter: Programm einer destruktiven Literatur
15.5 Die Stimme des 19. Jahrhunderts: Über-Schreiben der Geschichte
15.6 Das Gegenkonzept Benjamins: Programm einer Archäologie
15.7 Die Bibliotheksphantasie: Aufschub des synthetischen Schreibens
15.8 Jenseits der Rekonstruktionen: Nichts Geschriebenes bleibt
»..., die mögen diese Schrift nun rückwärts lesen.« Schlußbetrachtungen und Ausblicke zur destruktiven literarischen Erinnerung nach Walter Benjamin
Literaturverzeichnis

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COMMUNICATl( )

w 21

Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck

Nicolas Pethes

Mnemographie Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pethes,

Nicolas:

Mnemographie : Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin / Nicolas Pethes. - Tübingen : Niemeyer, 1999 (Communicatio ; Bd. 21) ISBN 3-484-63021-3

ISSN 0941-1704

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch

Inhalt

Vorbemerkung

IX

» Wem sich das Leben in Schrift verwandelt hat...« Einleitung in eine Konstellation literarischer Erinnerung

1

TEIL I

»Die gangbare Form dieses Fortlebens ...« Zur Ordnung der Erinnerung

17

1. Kapitel Gedächtnis und Schrift

32

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

34 43 47 53 58 62

Die memoria der Tradition: Metaphorologie Die Tradition der memoria: Medialität Antike Mnemotechniken Moderne Modelle Das Gedächtnis der Texte Die Gerechtigkeit der Intertextualität

2.Kapitel Schreiben und Erinnern

68

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

69 71 76 78 87

Die Zeitlichkeit des Erinnems Narrative Wiederholbarkeit Rhetorische Zeiten Ego sum qui memini Allobiographien

3. Kapitel Die graphe der memoria 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7

Die ecriture der Erinnerung Verräumlichung und Temporalisierung Der Körper der Schrift Die Geste der Überschreitung Die zwei Hände der memoria Die andere Seite der ecriture: Graphologie und Kabbala Zu einem Benjaminschen Schriftbegriff: die graphe

98 102 105 112 117 123 136 147

VI

Inhalt

4. Kapitel Destruktive Diskurse

158

4.1 4.2

Die Topologie der Destruktion Destructio destructionis

160 164

»Ein graphisches Schema meines Lebens...« Die Erinnerung der Literatur

171

TEIL Π

5. Kapitel Schreiben im Jetzt: Die Tagebücher

174

5.1 5.2

175 178

Die memoria im Tagebuch »Kurven eines Lebens«

6. Kapitel Das epische Gedächtnis: Die »Kunst zu erzählen«

191

6.1 6.2 6.3

194 197 201

Der erzählte Erzähler Die Stimme des Erzählers »Dem Staub, dem beweglichen eingezeichnet«

7. Kapitel Topographien: Die »Stadt als mnemotechnischer Behelf«

204

7.1 7.2 7.3

204 209 216

Eine Stadt der Erinnerungen Die Stadt als Text Der Text als Stadt

8. Kapitel Transgressionen: Rausch und Traum

219

8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6

220 223 230 233 237 240

Die »Kräfte des Rauschs« »Profane Erleuchtungen« Halt, stillgeschreibt: »Prosaförmige Produktivität« Traumkunst Traumtheorien Traumerzählungen

9. Kapitel Stumme Überlieferung und schweigendes Erinnern: Briefe und Sonette

247

9.1 9.2 9.3 9.4

248 252 256 258

Denkmäler der Kommunikation »Lebendige Oberlieferung« Aus dem Gedächtnis in vierzehn Zeilen Wortlose Lieder

Inhalt

ΥΠ

10. Kapitel Panorama der Kindheit im Labyrinth der Schrift: Das Projekt Berliner Kindheit

263

10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6

266 276 279 286 289 295

Textgeschichten Antiautobiographie Bilder des Eiinnems Die töchne der Mnemosyne Sinnbilder Schriftbilder

TEIL ΠΙ »Einschuß einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart...« Eine Poetik des Eingedenkens im Jetzt der Schrift

307

11. Kapitel Die Kunst der >Geschichte
zwei Hände< der Exposes >Zeigen statt SagenGeschichtspolitikMahnmaldebatte< wird in den Feuilletons seit 1993 intensiv geführt. Vgl. die Dokumentation von Positionsschriften in Baumann e.a.(Hg ), Der Wettbewerb für das

Einleitung

3

Die Diskussion um das Berliner Mahnmal ist so ein exponierter Bezugspunkt der aktuellen Form des Diskurses der Erinnerung. Sie zeigt überdies, daß dieser Diskurs sich über 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und angesichts der nur noch geringen Anzahl von Zeitzeugen entscheidend an der Frage zu bewähren hat, ob ein Mahnmal für den Holocaust möglich ist oder nicht.7 Es geht dabei nicht darum, den Holocaust als Schlagwort für die Konturierung einer Problemstellung zu funktionalisieren oder einen inkommensurablen Sonderfall der Erinnerungsarbeit zu behaupten, sondern die Frage nach der Form der Erinnerung in ihrer Aktualität und Aporetik zugleich kenntlich zu machen. Denn im Falle eines Mahnmals für den Holocaust verweist die zeichenhafte künstlerische Darstellung nicht, wie stets, auf ein nur strukturell Abwesendes, sondern auf solches, das als radikal Abwesendes und Undarstellbares letztlich >unerinnerbar< scheinen muß: Wie schon für Benjamin der Erste Weltkrieg in seiner zerstörerischen Gewalt das Ende der Erzählbarkeit von Erfahrungen bedeutet, sind die Opfer des Zweiten Weltkrieges, so wird das Dilemma von Adorno bis Lyotard beschrieben, Opfer, wenn und weil sie ohne Stimme sind.8 Dem steht die schiere Präsenz, dann aber auch Fixiertheit und Zentralität eines Mahnmals gegenüber, das weder der Absenz noch der Pluralität noch - in seiner Monumentalität - dem Opferstatus der Betroffenen gerecht wird. Auch die Semantik eines Mahnmals steht in Frage, insofern sie auf Ver-

»Denkmal für die ermordeten Juden Europas«. Aus der Vielzahl der Stimmen und Organe seien außerdem hervorgehoben: das Plädoyer fiir den Aufschub der Entscheidung von Reinhart Koselleck, Stellen uns die Toten einen Termin? Die vorgesehene Gestaltung der Neuen Wache wird denen nicht gerecht, deren es zu gedenken gilt, FAZ, 23.8.1993 (vgl. FAZ, 8.4.1993), ders., Vier Minuten für die Ewigkeit. Das Totenreich vermessen - Fünf Fragen an das Holocaust-Denkmal, FAZ, 9.1.1997; das Argument, die Leere gehöre zur Struktur eines >postmodernen< Denkmals bei James Young, Gegen Sprachlosigkeit hilft kein Kreischen und Lachen. Wer an die Vernichtung erinnern will muß die Leere gestalten: Berlins Problem mit dem Holocaust-Denkmal - und meines, FAZ, 2.1.1998; das Plädoyer für ein Denkmal als Skandalen jenseits der Versöhnung im oben, Fußnote 5, erwähnten Beitrag von Christian Meier. Meier folgt damit dem Architekten und Gedenkstättenbeauftragten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, und seinem Votum für »Antidenkmäler«, die als transitorische eine bloß negative Identifizierung zulassen: Salomon Korn, Der Tragödie letzter Teil - das Spiel mit der Zeit. Anmerkungen zum Holocaust-Denkmal in Berlin, bevor über das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas entschieden wird, FR, 13.9.1996 (vgl. FAZ, 7.1.1997). Zur Anbindungen der Debatte an die jüngere kulturwissenschaftliche Theoriebildung zur Erinnerung vgl. Bernd Stiegler, Die Gegenwart der Vergangenheit. Die Theorien vom Gedächtnis und die Debatte um das Berliner Holocaust-Mahnmal, FR, 31.10.1995. Vgl. Reichel, Politik mit der Erinnerung, S.30: »Für die Erinnerungskultur der Moderne ist das Verständnis des Holocaust deshalb konstitutiv.« Vgl. außerdem Young, Formen des g Erinnems, S .43. Vgl. unten, ).Kap. 6. und den Sammelband von Tholen/Weber, Das Vergessen(e).

4

Einleitung

stehbarkeit, Sinnstiftung, Identifikation oder gar Erlösung ausgerichtet ist. Die Inkommensurabilität der Geschichte, die Unfaßbarkeit der Verbrechen, die Unabschließbarkeit ihrer Erinnerung und vor allem die Notwendigkeit, auf Sinngebungen wie identifikatorische Instrumentalisierungen des Todes in den Konzentrationslagern zu verzichten, stehen alle gegen eine, zumal in ästhetischer Form vollzogene, Vermittlung, abschließende Bewältigung oder »Erstarrung der Erinnerung zu einem einzigen traumatischen Bild.«9 Wie aber ist die Erinnerung an die Opfer - oder, mit Benjamin, die >Besiegten< - der Geschichte in Form von Gedächtnisstätten und Mahnmalen zu bewahren, zu evozieren und vor allem lebendig zu halten, ohne daß sie zur Fixierung, Vereinnahmung, Veruntreuung oder gar Entsühnung der Vergangenheit gerät? Daß »die Diskussion um die Gedenkstätte selbst zu einer Art Erinnerungsarbeit geworden [ist]«,10 ist in dieser Hinsicht als Gestus einer Unabschließbarkeit nicht der schlechteste Zug der Debatte: Die Unmöglichkeit einer gelingenden ästhetischen Erinnerung verlangt, wie immer es um dessen Realisierung bestellt ist, die Integration der Inkommensurabilität des Gedenkens in ein die Erinnerung nicht abschließendes Mahnmal." Und der Vorschlag, dieses in der poetologischen Konzeption einer literarischen Gedächtniskunst zu suchen, bezieht sich dabei auf diejenige Position, die ein Denkmal »nicht aus Stein, Glas oder Stahl sondern Erzählungen« errichtet sehen möchte.12 Walter Benjamin ist dabei nicht nur selbst Gegenstand eines solchen >offenen< Gedenkens an einem ebenso konzipierten Mahnmal, sondern mit seinem 9

Huyssen, Denkmal und Erinnerung im Zeitalter der Postmodeme, S. 15. Young, Die Zeitgeschichte der Gedenkstätten und Denkmäler des Holocaust, S.31. Vgl. die Auswahlbibliographie ebd., S.167f., vor allem Saul Friedländer (Hg.), Probing the Limits of Representation: Nazism and the >Final Solutions Cambridge MA / London 1992. Vgl. auch Youngs programmatischen Beitrag Gegen das Denkmal, filr ErinnerungJames E. Young weist mehrfach auf den offenen, »grundsätzlich dialogischen, interaktiven Charakter jeder Gedenkstätte« hin (Young, Die Zeitgeschichte der Gedenkstätten und Denkmäler des Holocaust, S.21, vgl. ders., Formen des Erinnerns, S.18). Youngs entsprechender Versuch in Formen der Erinnerung, die Plastiken und Graphiken »erzählend [zu] beschreitefn]« und sie damit »in literarische Texte« zu transformieren (S.17), bleibt in seiner unverbindlichen und willkürlichen Selektion einzelner Gedenkstätten jedoch hinter diesem theoretischen Anspruch zurück. Vgl. zur »prozessualen Dimension der Erinnerung« auch Reichel, Politik mit der Erinnerung, S.33, zum Vermögen der entsprechenden >unsichtbaren Denkmalen, als Visualisierung dieses Prozesses »der Erinnerung und des Vergessens oder Verdrängens« eine »Repräsentation des Abwesenden« zu sein, ebd., S.80. Als Beispiele für solche Denkmalsentwürfe können vor allem die Arbeiten von Jochen Gerz dienen, die die Unsichtbarkeit bzw. das Verschwinden der Erinnerung immer mitinszenieren: in Form von umgedrehten Pflastersteinen (in Saarbrücken) oder einer versinkenden Stele (in Harburg). Vgl. das Interview mit Gerz in Baumann e.a.(Hg.), Der Wettbeweb für das »Denkmal fur die ermordeten Juden Europas«, S.48-52. Young, Formen des Erinnerns, S.34.

Einleitung

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theoretischen Entwurf an den entsprechenden aktuellen Debatten entscheidend beteiligt. Der unmittelbare Kontext des einleitend zitierten Mottos von Port Bou, die Thesen Über den Begriff der Geschichte, so schreibt Benjamin im April 1940 an Gretel Adorno, »lassen mich vermuten, daß das Problem der Erinnerung (und des Vergessens), das in ihnen auf anderer Ebene erscheint, mich noch für lange beschäftigen wird.« [I 1226f.] Diese Zeilen und das, was sie betreffen, zählen allerdings schon zu den letzten, die Benjamin noch schreiben konnte. Das Projekt, auf das sie sich beziehen, bleibt Ankündigung bzw. in den Ansätzen stecken, die aus Benjamins späten Notizen überliefert sind. Ohne daß Benjamin selbst noch die Probleme des Erinnerns und Vergessens angegangen wäre, ist er damit selbst zum Bezugspunkt der Erinnerung geworden: Das unausgeführte Projekt ist Gegenstand einer Rekonstruktionsarbeit, deren theoretische Grundlegung es sich selbst zur Aufgabe gemacht hat. Die Fragmente einer Theorie der Erinnerung, die Benjamins letzte Schriften enthalten, sind also in eigentümlicher Weise verbunden mit den Bemühungen seiner Leser, Figur wie Denken Walter Benjamins im Gedächtnis zu halten. Als revolutionäre Philosophie der Geschichte ist die Theorie der Erinnerung bei Benjamin dabei ein von der Forschung von Beginn an zentral eingestuftes Gebiet. Zwei Implikationen der Bemerkung gegenüber Gretel Adorno scheinen die bisherigen Lektüren allerdings zu übersehen: Zum einen betont Benjamin gleichzeitig mit der »Erinnerung« die Relevanz ihrer Kehrseite, des »Vergessens«, das - in Klammern gesetzt - wie ein unumgänglicher Schatten des konstruktiven Prinzips wirkt. Zum anderen bezeichnet Benjamin dasjenige, was er in Über den Begriff der Geschichte skizziert, als »auf anderer Ebene« befindlich als das, worum es der projizierten Erinnerungstheorie zu gehen habe. Geschichtsphilosophie kann also höchstens ein Teil dieses Problems darstellen, und Benjamins Arbeitsschweipunkte lassen vermuten, daß es sich bei der komplementären >einen Ebene< durchaus um kunst- oder literaturtheoretische Fragestellungen gehandelt hätte. Mit diesen zwei Punkten markiert das Zitat also zugleich zwei Lücken der Forschungsliteratur zu Benjamin, zu Gedächtnisphänomenen im allgemeinen sowie zu Benjamins Erinnerungskonzept: Zum einen ein Feld der Destruktion für das Denken der Erinnerung; zum anderen den Diskurs der Literatur für Benjamins Erinnerungstheorie. Die Fragestellung der vorliegenden Studie knüpft an diese Desiderate der Literatur sowohl zu Benjamin als auch zur Erinnerung an. Denn trotz der Konjunktur der kulturwissenschaftlichen (Assmann/Assmann, Weinrich), literaturtheoretischen (Haverkamp/Lachmann), psychologischen (Kotre) oder dekonstruktiven (Garcia Düttman, Tholen/Weber) Publikationen zum Thema >Gedächtnis und Erinnerung< im allgemeinen sowie >Literatur und Erinnerung< im besonderen, liegt noch keine befriedigende kon-

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Einleitung

zeptionelle Konturierung dessen vor, das unter dem Titel >Poetik der Erinnerung< mehr verstünde als die je vereinzelte Aufarbeitung rhetorischer Traditionen (Haverkamp, Lachmann, Antoine) bzw. Analysen zu Einzelautoren oder Epochen (Jauss, Koch, Jünger). In derselben Weise markiert die Masse der Neuerscheinungen zu Benjamin eher den blinden Fleck als die Lücke, daß ein spezifisch literarischer Erinnerungsbegriff innerhalb der Theoriebildung wie auch der eigenen schriftstellerischen Praxis für Benjamin noch nicht vorliegt. Die Arbeiten zu Benjamins Erinnerungsbegriff lesen diesen als Theorie der Geschichte (Arendt, Gagnebin, Eidam) bzw. neuerdings in bezug auf seine theologischen Implikationen (Moses, Wohlfarth, E.Weber) oder mit psychoanalytischen Kategorien (Weigel, Muthesius). Eine Poetik der Erinnerung, verstanden als Ordnung literarischer Erinnerung in Texten, wie sie Benjamin auf der >einen Ebene< vielleicht vorgeschwebt hat und wie eine Vielzahl von Thesen in seinen Arbeiten wie Notizen sie andeuten, steht fur Benjamin, wie auch unabhängig von diesem, noch aus. Die vorliegende Studie folgt mit diesem Ansatz der Beobachtung von Michael Opitz, daß »[z]u den von der Forschung eher vernachlässigte[n] Gegenstandsbereichen [...] auch Benjamins schriftstellerisches Schaffen [sc. das i.e.S. literarische^ zählt, das [...] im Kontext der europäischen Moderne noch zu erschließen bleibt.«13 Steht Benjamin aber ebensosehr in diesem Kontext, wie er ihn umgekehrt prägt, dann drängt sich in dieser Konstellation der Ansatz auf, die beiden bestehenden Forschungslücken gleichzeitig zu füllen: Das fehlende poetologische Konzept innerhalb der memoria-Oebatte kann anhand eines erinnerungstheoretischen Entwurfs der Moderne entwickelt werden, der selbst in seiner literaturwissenschaftlichen Relevanz noch zu entfalten ist. Denn der von Opitz avisierte »Kontext der europäischen Moderne« bedeutet für alle theoretischen Überlegungen zu Gedächtnisphänomenen eine entscheidende Wende. Nicht nur die aktuelle Forschung erlebt eine Erinnerungskonjunktur,14 auch die zurückliegende Jahrhundertwende war geprägt von einer Rückwendung des theoretischen Interesses auf Gedächtnisfragen - Ebbinghaus, Bergson, Freud, Proust, Husserl und eben Benjamin, um nur einige zu nennen. Nun steht diese

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Opitz, Reflexionen und Vergegenwärtigungen, S.143. Vgl. Wolfgang Haubichs Bemerkung (in LiLi 105/1997, Memoria in der Literatur, S.l 1), daß »dem Eingang dieses mentalen Musters, des memorialen Denkens und Bewußtseins in literarischen Werken, relativ wenig Beachtung geschenkt wird«. Das Heft selbst beschränkt sich auf Studien zum Mittelalter. Auch der Aufsatz von Klaus Körner, Verlorenes nur was uns bleibt. Überlegungen zu einer Poetik des Eingedenkens, in: Opitz/Wizisla, Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, S.146-160, dessen Titel beide Momente zu vereinigen beansprucht, beschränkt sich letztlich auf die Geschichtsphilosophie und einige jüdische Motive bei Benjamin. Vgl. zuletzt noch DVjs, 72/1998, Sonderheft: Medien des Gedächtnisses.

Einleitung

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Riickwendung scheinbar in diametralem Gegensatz zu deqenigen Beobachtung, die die avantgardistische Moderne immer in Termini einer Brucherfahrung und ihrer entsprechenden Umsetzung in fragmentarische, montierte und wie immer sonst >gebrochene< Diskurse beschreibt.15 Dieses Verhältnis verliert aber den Charakter der Ausschließlichkeit, wenn man die Wende zu Erinnerungsdiskursen im Klima der Gebrochenheit als Krisenreaktion versteht: Gerade wenn die Moderne der Erfahrung von Kontinuität verlustig geht, gewinnt ein Modell an Attraktivität, das sie wesentlich zu vermitteln imstande zu sein scheint. Nicht jedoch speist sich diese Anziehungskraft aus der Sehnsucht nach Rekonstruktion der Kontinua, wenn anders das Denken der Erinnerung nicht eindimensional als restaurative Geste mißverstanden werden soll: Daß die Erinnerung Mitte des 19. Jahrhunderts in eine Krise gerät, macht sie attraktiv nicht als zu restituierende, sondern als Modell, dessen Integrierbarkeit in eine nicht länger konsistent und kontinuierlich erfahrene Welt zur Debatte steht. Ist der Erinnerungsdiskurs der Moderne in dieser Weise ein Krisendiskurs, dann ist das Bild des Gedächtnisses in ihm immer schon durch Modi der Diskontinuität, Destruktion oder eben Vergessenheit gebrochen. Weil Benjamins Schriften genau dieser Polarität von Erinnern und Vergessen, Kontinuität und Diskontinuität oder Konstruktion und Destruktion innerhalb des modernen Denkens des Gedächtnisses gewidmet sind, ermöglicht die Entscheidung, eine Poetik der Erinnerung anhand der Figur Benjamins zu formulieren, sein Konzept des >Eingedenkens< paradigmatisch als konstruktiven Effekt innerhalb eines destruktiven Diskurses zu lesen. Dieses Konzept erlaubt es, den Anschein, demzufolge Erinnerung dem konstruktiven und das Vergessen dem destruktiven Prinzip zuzuordnen sei, zu hinterfragen. Die Möglichkeit eines Denkens der Erinnerung, das das Prinzip des Vergessens zu integrieren verstünde, ohne daß es von einem der Pole der Opposition usurpiert würde, steht dabei zur Diskussion. Insofern diese Diskussion mit Benjamins Diktum, das Erzählen von Erfahrungen sei durch die >unerzählbaren< Schockerlebnisse des Ersten Weltkriegs unmöglich geworden, beginnt [Π 214], erschließt sich aus der Anbindung der allgemeinen Fragestellung an den Diskurs Benjamins und dessen diskursive Situierung auch unmittelbar die Relevanz des zu erarbeitenden literarischen Erinnerungsbegriffs für die gesamte Debatte über die Möglichkeit der Erinnerung im 20. Jahrhundert. Denn die die Bruch- und Schockerfahrungen der Technisierung und des Ersten Weltkriegs noch unermeßlich potenzierende Geschichte des >Dritten Reichs< vervielfacht auch die aporetischen Konsequen15

Vgl. aus der für diese Studie zugrundeliegenden Literaturauswahl exemplarisch die Arbeiten von Bürger, Theorie der Avantgarde, Grimminger, Offenbarung und Leere sowie Kleinschmidt, Gleitende Sprache.

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Einleitung

zen für eine Erinnerungsdebatte, wie sie analog in Adornos Diktum von der Unmöglichkeit der Lyrik nach Auschwitz münden. Benjamins Theorie ist in diesem Zusammenhang einerseits als Entwicklung einer Grundfigur des Diskurses der Erinnerung für die erste Hälfte des Jahrhunderts, andererseits aber auch als Prägung der aporetischen Debatte um die gleichzeitige Notwendigkeit und Unmöglichkeit der Erinnerung an die Toten in dessen zweiter Hälfte zu lesen. Innerhalb dieses Rahmens bewegt sich die folgende Entfaltung einer Poetik der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin. Ihre Argumentation gilt vier Fragestellungen, die die systematische Struktur der Studie prägen. Diese Fragen können anhand des folgenden Selbstverständigungstexts Benjamins aufgefächert werden: Die Sprache hat es unmißverständlich bedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument für die Erkundung der Vergangenheit ist, vielmehr das Medium. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die alten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt Vor allem darf er sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen - ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen, wie man Erdreich umwühlt. Denn >Sachverhalte< sind nicht mehr als Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, um dessentwillen sich die Grabung lohnt. Die Bilder nämlich, welche losgebrochen aus allen früheren Zusammenhängen, als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht - wie Torsi in der Galerie eines Sammlers - stehen. Und gewiß ist's nützlich, bei Grabungen nach Plänen vorzugehen. Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich in's dunkle Erdreich. Und der betrügt sich um das beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt. So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort zu bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene andern vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren. [IV 400]

Das >Denkbild< Ausgraben und Erinnern vergleicht das »Medium« des Gedächtnisses mit dem »dunkle[n] Erdreich« des Archäologen: Diese Emphase der Medialität des Gedächtnisses ist die Einsicht in die Unmöglichkeit, Erinnerung als unvermittelte Präsentation von Vergangenem zu begreifen. Eine solche Lesart von Medium bedeutet die Abkehr von einem Gedächtnismodell der Unmittelbarkeit, wie es sich von Piatons andmnesis-Lebie herschreibt. Teil I der folgenden Argumentation wird entsprechend die Mediengebundenheit der Erinnerung zu diskutieren haben. Da es dabei um einen literarischen Begriff der Erinnerung geht, wird sie als dieses zentrale Medium die Schrift einführen, die als dominante und vor allem konstitutive Metapher das Denken des Gedächtnisses - bis hinein in die heutige elektronische Medienlandschaft - prägt (1.1 und 1.2). Dies impliziert für die vorliegende Untersuchung auch die Entscheidimg,

Einleitung

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mediale, metaphorische und rhetorische Strukturierungen und Figurierungen des Gedächtnisses zu beschreiben, nicht hingegen empirische oder ontologische Aussagen - etwa neuropsychologischer Art - zu treffen. Die Struktur der Schriftlichkeit impliziert die Frage nach ihrer Lesbarkeit, verstanden als Zugangsmöglichkeit zu einer medial verfaßten Erinnerung. Benjamins Textstück gibt auch zu einer solchen Technik Hinweise, wenn er den Wert des Ziels der Ausgrabung, die »Bilder«, wesentlich an den Ort und die Stelle bindet, an denen sie gefunden werden. Als eine solche Verbindung von Erinnerungsbild und Fundort, die ja auch die Debatte um den Erhalt von Gedenkstätten prägt, wird sich die antike Mnemotechnik erweisen (1.3 und 1.4). Ihre Strukturen prägen noch moderne Erinnerungsliteratur - bei Benjamin vor allem die Texte zu Berlin, Paris und anderen Städten (Teil Π). Das heißt dann aber, daß die fraglichen Texte nicht mehr in der Referenz ihrer Erinnerung aufgehen, sondern als Gedächtnis einer Technik auch Erinnerung an die Erinnerung sind und immer die Tradition ihrer Strukturierung miterinnem. Deshalb leitet die Debatte der Schriftlichkeit der Erinnerung über zur Konzeption eines intertextuellen Gedächtnisses (1.5 und 1.6). Diese erlaubt es, Erinnerungen auch unabhängig von erinnernden Subjekten zu verorten und eröffnet den Horizont einer >Ethik der Erinnerungc Das auch dem Verstummten >gerechte< (Gegen· )Gedächtnis der Intertexte bildet einen Fluchtpunkt der gesamten Studie, weil es die Diskussion um ein »sprachloses* Erinnern, das nur in Abwesenheit von Ausdruck dem Abwesenden zu gedenken vermag, von Benjamin (9. Kap. und 14.5) bis zur gegenwärtigen Mahnmaldebatte prägt. Dieser ethische Fluchtpunkt einer »anderen Erinnerung* ist in den drei Bildern, die Ausgraben und Erinnern als Geste des Grabens einführt, angelegt: »immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen - ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen«. In einem zweiten Schritt wird daher zu entwickeln sein, wie das schriftmedial verfaßte Gedächtnis praktisch in verschriftlichte Erinnerungen umgesetzt - geschrieben, erzählt werden kann. Erinnerung wird sich dabei als Geste einer Wiederholung (»Zurückkommen*) erweisen, die ein narratives Modell prägt (2.2). Aufgrund dessen zentraler Bedeutung werden die entscheidenden Thesen im Fortgang der Arbeit entsprechend aus Benjamins Essay Der Erzähler abzuleiten sein. Es ist dabei vor allem das Prinzip einer - auch medial bedingten - >differenten Wiederholung* (Deleuze), die nicht nur die Zeitlichkeit der Erinnerungserzählung eröffnet (2.1 und 2.3), sondern vor allem die Identität des wiederholend Erinnernden verunsichert, wie es sich anhand der Diskussion der paradigmatischen Gattung der Erinnerungsliteratur, der Autobiographie, zeigen wird (2.4 und 2.5). An diesem Punkt wird deutlich, wie sehr die erwähnte Leitopposition aus Konstruktion und Destruktion die Struktur der Argumentation prägt: Das »Zu-

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rückkommen< steht in Korrelation zum Moment des >AusstreuensSchrift< als gelingender Repräsentation und Derridas ecriture als Verlust der Referentialisierbarkeit in der Spur wird diese semiotische Konzeption Benjamins hier graphe genannt werden (3.7). Deren Spiel zwischen einer Absage an Referenz und dem gleichzeitigen Festhalten eines Anspruch auf Erinnerbarkeit macht Benjamins Schriftbegriff zum genuinen Medium seiner Poetik der Erinnerung auch und gerade im Kontext einer technischen Moderne. Dieser Diskurs der graphe durchquert die Leitopposition Konstruktion-Destruktion, weil sich entlang seiner Figuren - der Allegorie (12. Kap. und 14.4), der >Sprachlosigkeit< (9. Kap. und 14.5) und des Aufschubs (13. Kap. und 15.7) die Formierung der literarischen Erinnerung in einer destruktiven Geste ordnen kann. Die Frage nach deren Schreibbarkeit bildet damit den Horizont der Untersuchung (15. Kap.). In Teil I geht es demnach - mit einem abschließenden Entwurf eines destruktiven Diskurses der Erinnerung (4. Kap.) - um die Untersuchung literarischer Erinnerungsstrukturen anhand einer heuristischen Leitopposition und dem Aufweis eines Mediums, das diese zu durchkreuzen versteht. Die folgenden Teile konkretisieren diese Struktur auf verschiedenen Ebenen: Teil Π fächert das Spiel der Erinnerungsschrift zwischen Konstruktion und Destruktion an-

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hand von Benjamins konkreter literarischer Produktion auf. Diesen Transfer in einen ästhetischen Diskurs sieht Ausgraben und Erinnern insofern vor, als die Vermitteltheit der Erinnerung dazu führt, daß die Gegenstände der Vergangenheit nicht deutlich sichtbar und verfügbar sind, sondern in ihrem Medium >dunkel< und >verborgen< sind. Diese >Verhülltheit< ist fur Benjamin eine konstitutive ästhetische Kategorie [vgl. I 145 und unten, 77. Kap.], und das Moment der Erinnerung in seinen literarischen Texten wird deshalb in Hinblick auf eben diesen Bezug auf die stete Verhüllung der Gedächtnisbilder zu lesen sein. Anhand der einzelnen Textgruppen - Tagebücher, Erzählungen, Stadttexte, Rausch- und Traumprotokolle, Gedichte und die beiden Buchprojekte, Deutsche Menschen und Berliner Kindheit um neunzehnhundert (5. Kap. -10. Kap.) werden deren jeweilige Formierungen der Erinnerung zur Konzeption eines spezifisch schriftlichen Erinnerungsgestus' versammelt. Nachdem das einleitende Schema zur Ordnung der Erinnerung durch konkrete Analysen literarischer Texte in der Bewegung zwischen Erinnern und Vergessen verdeutlicht werden konnte, wird diese Bewegung als Bewegung des Benjaminschen >Eingedenkens< im theoretischen Ansatz der durch die fragliche Opposition strukturierten, aber wechselseitig aufeinander verweisenden Teile ΠΙ und IV zu beschreiben sein. Wenn nach Ausgraben und Erinnern »wahrhafte Erinnerungen [...] weniger berichtend verfahren« sollen und die »Sachverhalt e n bloß zu durchdringende »Schichten« darstellen, dann ist die Frage nach der Referenz wie der Zeitlichkeit der Erinnerung ganz spezifisch gestellt. Denn Benjamin fuhrt in seiner Studie zu Goethes Wahlverwandtschaften das Abfließen der >Sachgehalte< zugunsten eines >Wahrheitsgehalts< der Werke als deren Existenz in der Geschichte ein (11.2). Diese Relativierung des Primats der Referenz zugunsten der Tradierbarkeit der Werke führt zu einem veränderten Konzept der Erinnerung: Sie muß, so spezifiziert Ausgraben und Erinnern, »im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen«, an denen Erinnerungsbilder sichtbar werden. Dieser radikale Gegenwartsbezug der Erinnerung in Hinblick auf ihre >Jetztzeit (11.1) bildet den Boden für eine Poetik der Moderne, die in Benjamins Lesart nicht mehr geschlossene Formen, sondern - »[i]m strengsten Sinne episch und rhapsodisch« - diskontinuierliche Texte entwirft (11.3): Prousts memoire involontaire (11.4) und Baudelaires moderne Technik der Allegorese (11.5) markieren diese Bewegung einer Dekontextualisierung, die jedoch den Anspruch, Erinnerung zu sein, aufrecht erhält. Die entsprechende Ästhetik muß deshalb so entfaltet werden, daß gerade die Absagen an den sachlich berichtenden Gestus des Erzählens seinen Erinnerungswert eröffnen kann. Die Referenz der »Kostbarkeiten« der Erinnerung tritt in Konkurrenz zu ihrer Form als »Torsi«: In dieser Spannung aus Kontinuität und Bruch steht auch Benjamins Theorie der Erinnerung (12.1 und 12.2), und

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nur die Entfaltung dieser Spannung und die Dekonstruktion ihrer dichotomischen Struktur in Benjamins Konzeption eines unabschließbaren >Eingedenkens< (12.3) erlaubt den Blick auf das entsprechende Medium des Gedächtnisses. Dessen Beschreibung wird da anzusetzen haben, wo Ausgraben und Erinnern es selbst verortet: in der »Sprache« (13.1). Ihre semiotische Konzeption erlaubt das Denken einer Erzählung, die sich zwischen Kontinuität und Diskontinuität bewegt, insofern sie bloße >ErzählbarkeitJetztzeitSachverhalte< irgend ernst gemeint war. Vielmehr ist auch dieses Bild an den »Ort« verwiesen, an dem es gefunden wurde, und es zeigt damit als den, der sich erinnert, den wie er sich erinnert. Der Fundort der Erinnerung ist die Technik des Erinnems: das Bild von der Geste des Findens, dem Schreiben der Erinnerung also. Ist das Medium in Benjamins Metaphorik - als »Erdreich« - identisch mit dem Ort des Findens, dann ist es diese Medialität der »Gegenwart des Schreibenden« [VI 470], die als konkreter Ort der Erinnerung zu lesen sein wird (13.3 und 13.4). Es ist schon in diesem Überblick deutlich, wie die Poetik des Eingedenkens in Teil ΠΙ von den destruktiven Zügen, wie sie in Teil IV zu entwickeln sind, geprägt ist. Wenn das Durchdringen der >Sachverhalte< auch heißt, daß die Erinnerungsbilder »losgebrochen aus allen früheren Zusammenhängen« erscheinen, ist die konstitutive Medialität, die die archäologische Metaphorik suggeriert, als Absage an einen konstruktiven Zugang zu Erinnerungsphänomenen zu verstehen: Die Ablehnung des Vorgehens eines »Ingenieurs]« sowie die Relativierung eines »Plan[s]« verweigert sich einem teleologisch suchenden Konzept des Erinnems zugunsten eines »tastende[n]« Vorgehens, einer - in Opposition zum Vorgehen des Ingenieurs - bricolage (Levi-Strauss). Die Metaphern >DurchstoßenLosbrechen< und >Torso< suggerieren einen destruktiven Gestus: Die Topologie der Destruktion in Benjamins Theorie ist dabei als Basis einer Erinnerung zu sehen, die nicht der Täuschung des Setzens von Referenz als Verfügbarkeit der Sachverhalte - erliegt (14.1 und 14.2). Sie prägt auch Benjamins allegorische Ästhetik, in der Zerstörung keine Absage, sondern das Refugium einer Erinnerung, die ihre diskontinuierlichen Züge zu integrieren vermag, darstellt (14.3. und 14.4). Dieser theoretische Entwurf wird, wie schon im zweiten Teil, abschließend anhand eines konkreten Projekts vorzufuhren sein: Das Schreiben am Passagen-Werk integriert den destruktiven Gestus soweit, daß es selbst unschreibbar bleibt (15.1-15.4). Die destruktive Poetik

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des Erinnerns liegt im Aufschub ihrer Realisierung, der medial an Benjamins Umgang mit dem Archiv der Bibliotheque National vorgeführt werden kann (15.5-15.7) Entscheidend an dieser destruktiven Praxis des Gedächtnis ist aber, daß sie wesentlich darauf beruht, gerade keine Absage an den Anspruch einer Erinnerbarkeit zu sein. Die Opposition aus Konstruktion und Destruktion wird also als aporetisches Verhältnis zu lesen sein, dessen Programm eines Zerstören um zu Erinnern< den ethischen Fluchtpunkt der Benjaminschen Theorie bilden wird (15.8). Zwei Elemente der Benjaminschen Theorie durchziehen alle beschriebenen Schritte dieser Suche nach einem literarischen Erinnerungsbegriff: Die Frage nach der Medialität und ihrer Mnemotechnik verweist die Argumentation auf eine spezifisch Benjaminsche Zeichentheorie;16 die Beobachtung des Destruktiven, Unzugänglichen und Entreferentialisierten läßt Erinnerung als Gestus einer Diskontinuität erscheinen.17 Und die Figur Walter Benjamin ist zwischen diesen Koordinaten modernen literarischen Erinnerns deshalb so zentral, weil sich hier das diskontinuierliche Moment der Erinnerung in der selbstreferentiellen Struktur der Schriftzeichen selbst zeigen wird. Die Diskontinuität und Autoreferenz der graphe, aus der sich Benjamins immanente Werkästhetik ableitet, wird als Immanenzprinzip auch zur Methode der Lektüre: Erinnerung ist nicht nur Thema oder Struktur der Benjaminschen Texte, sie wird besonders dort lesbar, wo die Bilder, die evoziert werden, als autoreferentieller Kommentar des mnemonischen Gestus gelesen werden. Diese Immanenz der Schrift ist die Diskontinuität gegenüber traditionellen referentiellen Vorstellungen der Erinnerung. Schriftlichkeit und Diskontinuität gliedern auch die anhand des obigen Aufrisses und entlang der vier folgenden Teile zu formulierenden vier Ziele, die sich die vorliegende Studie setzt. Ihre Struktur prägt sowohl die zwei allgemeinen Zielen zur Etablierung einer Konzeption literarischer Erinnerung (1. und 4.), wie die spezifischen Ansätze zu Benjamin(2. und 3.): 1. Die Untersuchung des Verhältnisses von Gedächtnis und Schrift bzw. Erinnerung und Schreiben im ersten Teil dient der Formulierung eines allgemeinen Begriffs einer Poetik der Erinnerung durch den Transfer der aktuelle Theoriebildung zur memoria in eine poetologische Konzeption. 2. Der zweite Teils dient der Schließung einer Forschungslücke, die sich aufgrund vornehmlich theoretischer Lektüren - mit Ausnahme von Analysen zu Einzelwerken - gebildet hat, indem in einer erstmals vollständigen Lektüre Benjamin als Autor eines im engeren Sinne literarischen Oeuvres gelesen wird. 16 17

Vgl. hierzu schon Reisch, Das Archiv und die Erfahrung und Menke, Sprachfiguren. Vgl. Steiner, Die Geburt der Kunst aus dem Geiste der Kritik und Kaulen, Rettung und Destruktion.

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3. Um Benjamin sowohl in den theoretischen Diskurs des ersten Teils zu integrieren, als auch sein eigenes Schreiben begrifflich zu fassen, wird Benjamins Status im Kontext der Mediendebatte des Gedächtnisses anhand eines spezifschen Begriffs des Schreibens der Erinnerung zu untersuchen sein. Dazu ist Benjamin als Theoretiker der Schrift einzuführen und in den Parallelen und Differenzen zu einer poststrukturalistischen Grammatologie zu beschreiben. 4. Die Tradition, von einer Dialektik von Erinnern und Vergessen auszugehen, macht es zum Desiderat, in der Debatte um die Poetologie der Erinnerung einen destruktiven Diskurs zu etablieren. Im Horizont dieser Fragen soll Benjamins Theorie als ein Kristallisationspunkt der Theoriebildung der Moderne lesbar werden, die sich in ihrem avantgardistischen Impetus auf die Problematik der Erinnerung zurückwendet. Dieser scheinbare Widerspruch ist aufzulösen, wenn Erinnerung nicht nur als rückwärtsgewandter oder bewahrender Modus verstanden wird. Zu diesem Denken leistet Benjamin einen ersten Beitrag, der aber ausführlich erst in der Theoriebildung nach Benjamin ausgearbeitet wird: in Vorstellungen einer Bewahrung von Undarstellbarem (Adorno/Lyotard), Iterierbarkeit (Derrida) oder schöpferischen Erinnerung (Deleuze). Entsprechend sind hier auch Benjamins Poetik der Erinnerung und die bisherigen theoretischen Ansätze zu ihr produktiv zu entwerfen. Eine kritische Aufarbeitung der vorliegenden Literatur ist dabei nur am Rande zu erwarten: »Kein Buch gegen etwas, was dies auch immer sei, hat jemals Bedeutung; es zählen allein die Bücher >für< etwas Neues, und die Bücher, die es zu produzieren wissen.«18 Die folgende Lektüre von Benjamins Texten gilt daher der Suche nach Spuren eines Erinnerungsprojekts und der Entfaltung von dessen Logik in einer allererst zu entwerfenden, nicht aber für Benjamin hypostasierten, Argumentation. Der konstruktive Charakter der Darstellung ist so unmittelbar rückzubinden an die theoretische Konstellation, die verhandelt wird: Das übergeordnete Ziel der vorliegenden Studie, Benjamins Diskurs vom Erinnern theoriegeschichtlich zu situieren, macht seine konstitutive Nachträglichkeit dabei explizit thematisch. Die Nachträglichkeit der Lektüre rekonstruiert die Theorie des Nachträglichen in Benjamins Diskurs.19 Das Projekt einer Poetik der Erinne18 Gilles Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus?, Berlin 1992, S.60. Vgl. Opitz' Kritik, die >Dissertationsschwemme< zu Benjamin zeichne sich vor allem durch mangelnde Rezeption der Sekundärliteratur aus (Opitz, Reflexionen und Vergegenwärtigungen, S.128). Opitz ist entgegenzuhalten, daß diese systematische Bezugnahme gerade unter seinen Prämissen unmöglich ist: Der Oberblick über die Forschung wäre nur als eigenständige Arbeit zu realisieren und verstellte sonst den Blick auf die eigene Fragestellung. Vgl. zur entsprechenden Konzeption desfiiture anterieure in Anschluß an Freuds Theorem der »Nachträglichkeit« aus der Wolfsmann-AiaAyse (Freud, Geschichte einer infantilen

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rung und Destruktion nach Walter Benjamin ist also in zweifacher Weise zu lesen: Als konsekutives substituiert das >Nach< lediglich die übliche Titelformel >bei Walter Benjamins Als temporales >Nach< verweist es die Benjaminlektüre aber an die Geschichte der Theorie und Literatur >nach< dem Zweiten Weltkrieg. Das >nach< im Titel steht also nicht als manieristische Koketterie im Gefolge einer neueren Mode der Benjaminforschung (Weigel, Menke), sondern verweist darauf, daß das >bei< tatsächlich eine Verzeitlichung erfahren soll: Es geht in gleicher Weise um die Situierung von Benjamins Erinnerungsdiskurs in der aktuelle Theoriedebatte, die nach diesem stattgefunden hat, wie umgekehrt diese Debatte >nach< Benjamin als eine zu zeigen ist, die sich in Anschluß an Benjaminsche Theoreme entwickelt hat und entwickeln konnte. Eine Poetik der Erinnerung ist nach Walter Benjamin zu entwerfen, weil das, was aktuell als Erinnerungspoetik formuliert werden kann, wesentlich Benjaminschen Denkfiguren folgt. Um derartige Topologien der Erinnerung in all ihrer Diskontinuität und Prozessualität ist es hier zu tun. Noch wesentlicher ist aber, daß auf diese Weise die Methode der Studie exakt ihrer zentral zu entwickelnden These folgt: Wenn auch die Geschichte einer Erinnerungstheorie an die Gegenwart dieser Theoriegeschichte angebunden wird und nur aus dieser heraus lesbar ist, so folgt dieses Modell Benjamins These von der Verwiesenheit der Erinnerung an ihre >Jetztzeit. So, wie sich für Benjamin Erinnerung immer nur in deijenigen Gegenwart konstituieren kann, die von der jeweiligen Vergangenheit >gemeint< oder >betroffen< ist, bildet die poststrukturalistische und kulturtheoretische Debatte der Gegenwart die Jetztzeit, in die hinein Benjamins Theorie >einbricht< und in deren Konstellation sie allererst in ihrer Relevanz >lesbar< wird. Dabei geht es weniger darum, Benjamin als Präfiguration der aktuellen Diskussion um die Möglichkeit der Erinnerung an Auschwitz zu lesen; vielmehr ist herauszustellen, wie Benjamins Theorie gegenüber der Frage nach dem Sätze bilden »nach Auschwitz« (Lyotard) sowie nach der Möglichkeit eines Mahnmals für den Holocaust eine wesentliche Bedeutungsperspektive zukommt. Wenn Jacques Derrida Benjamins Theorie unterstellt, »Anspielung auf eine Vernichtung«, wie sie der Holocaust in den Gaskammern war, zu sein, dann weniger im Sinne der Unterstellung einer tatsächlichen Vorausschau - wie immer berechtigt man diese Benjamins präzisen Faschismusanalysen entnehmen könnte. Derrida weist vielmehr auf die Möglichkeit hin, daß das Postulat der Erinnerbarkeit von Auschwitz aufgrund dieser »Anspielung« an Benjaminsche Kategorien verwiesen ist: »Andererseits aber kann man [...] die Einzigartigkeit der Endlösung nur von einem Ort aus

Neurose, S.175) Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, S.95 und S.143.

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denken und sich in Erinnerung rufen, der nicht dem Raum der mythologischen Rechtsgewalt zugehört.«20 Deshalb steht der erste Teil dieser Studie voran und versucht Benjamin nicht nur historisch, sondern auch durch eine Skizze der aktuellen Debatte aus deren Problemstellungen heraus zu situieren. Und auch die abschließende Zusammenfassung wird die Relevanz der Benjaminschen Poetik im Kontext dieser Fragen erweisen können. Benjamins ungeschriebene Erinnerungspoetik ist nur so zu rekonstruieren, wie sie gewesen sein

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Derrida, Gesetzeskraft, S. 118, oben zitiert von S.124.

wird.

TEIL I

»Die gangbare Form dieses Fortlebens ...« Zur Ordnung der Erinnerung

... Und immer Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist Zu behalten... Friedrich Hölderlin

»Es gibt die Kunst des Gedächtnisses und es gibt das Gedächtnis der Kunst.«1 Die Rede von einer Poetik der Erinnerung impliziert ein Verhältnis zwischen Erinnern und Schreiben. Dies eröffnet einen Horizont wechselseitiger Beziehungen unter Komplexen wie >KunstLiteratur< oder >Erzählen< auf der einen sowie >GeschichteGedächtnis< oder >Erinnerung< auf der anderen Seite und wirft die Frage nach ihrer Definition, Funktion und Interaktion auf. Das Bild vom Gedächtnis als Archiv, in dem der Umgang mit Medien (z.B. Schrift) die Aktivierung des Wissens (Erinnerung) ermöglicht, bedarf dabei der Ergänzung: Um Speichern zu können und über Gespeichertes zu verfugen, ist auch die Ordnung des Gedächtnisses zu erhalten. Mit der Erinnerung spezifischen Wissens muß die Erinnerung der Bedingungen ihrer Speicherung einhergehen. Erst die Tradierung des Systems einer Gedächtnisordnung sorgt für die Konstanz der kulturellen Kommunikation und ihrer Einzelerinnerungen. Die Frage nach der Ordnung dieses Systems stellt sich bezüglich der Konstanten und Brüche in seiner Geschichte. >Geschichte< ist dabei durchaus im doppelten Sinne zu verstehen: Der historische Rahmen ist vermittelbar nur als geordnete Rekonstruktion seiner Chronologie und Ereignisfolge, als eine >Geschichte< der Geschichte der Erinnerung. Die Ordnung dieser Geschichte ist Derrida, Memoires, S.90. Da >Gedächtnis< und >Erinnerang< traditionell terminologisch nicht streng unterschieden sind, werden sie auch hier jeweils kontextabhängig verwandt bzw. unter dem Begriff memoria subsumiert Vgl. als Vorschlag, Gedächtnis und Erinnerung gemäß der systemtheoretischen Unterscheidung von >Medium< (als undifferenziertem Möglichkeitsraum oder >Archiv< aus losen Kopplungen) und >Form< (als Aktualisierung des Gespeicherten zu einer festen Kopplung durch Einführung der Differenz von Erinnern und Vergessen) zu differenzieren, Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 170f.

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Teil I

eine bestimmte >ErzählungTexte< dienen der Speicherung der Erinnerung wie sie umgekehrt eine Aufgabe für die Erinnerung - ihre eigene Tradierung - darstellen. Der Text als Gedächtnisordnung, die die Erinnerungspraxis des Rituals durch die mediale Übersetzung einer gemeinschaftlichen Urszene oder des archivierten Wissens ablöst, transportiert also als Medium ihre Form (memoria), verweist als Referenz auf ihre Inhalte (mimesis) und ist selbst Gegenstand der Erinnerung, indem er zu Erinnerndes stiftet (inventio). Als ein solcher geschlossener Traditionszusammenhang ist >Gedächtnis< der grundlegende Mythos jeder sich als Einheit imaginierenden Kultur. Und in der Struktur der Tradierung dieser Einheit, der rekonstruktiven Erzählung einer konsistenten Geschichte, kann sich >Literatur< als Mythos einer geschlossenen Tradition der >Kunst< ansiedeln. So, wie sich jeder Mythos als (Ursprungs-) Erinnerung konstituiert und so, wie die Erinnerung darauf angewiesen ist, selbst erinnert zu werden, bezieht sie sich auf den Mythos der Kunst, mit der sie in der Urszene des Mythos der Erinnerung bei Hesiod den Ursprung teilt: Femer galt Mnemosyne, der schöngelockten sein [sc. Zeus'] Sehnen; ihm entsprossen aus ihr die Musen mit goldenem Stimreif, neun sind's; ihnen gefallen Feste und fröhliches Singen.2

Nicht nur hat diesem Mythos gemäß alle Kunst die Göttin der Erinnerung zum Ursprung, der Gesang der Musen erinnert umgekehrt auch einzig seine Quelle: die mneme, die selbst stumm bleibt. Dichtung bindet sich selbst rück an einen vorgängigen, das Sprechen erst ermöglichenden Raum: Mnemosyne, die Erinnernde. Sie klingt in dieser Konstellation aber niemals unmittelbar, sondern wirft die Frage nach ihrer >Medialität< auf, insofern das »Singen« der Erinnerung der Musen bedarf. Wenn einzig der Gesang der Musen Mnemosyne selbst erinnert, dann ist der Ursprung der poetischen Erinnerung dieser je schon entzogen. Mnemosyne markiert einen Raum, der die Artikulation allererst eröffnet, sie fungiert - um die vergleichbare Struktur der chöra aus dem Timaios aufzurufen - als »Amme des Werdens« der Erinnerung.3 Dieser entspringt die Möglichkeit zu >singendie Gedächtnis«Deckerinnerungewigen Dauer< der Kunst definiert wird. Die »vergängliche, flüchtige Schönheit des Lebens« ist »das Merkmal dessen, was wir mit Erlaubnis des Lesers die Modernität genannt haben.« Eine solche Ästhetik des Transitorischen scheint tatsächlich eine Allegorie der Kunst zu evozieren, die mit Deleuze/Guattari ausruft: »Gedächtnis, ich hasse dich!«18 Und es erscheint höchst paradox, wenn Baudelaire den Essay beendet, indem er den Werken Constantin Guys', des Maler(s) des modernen Lebens, schließlich doch noch zuspricht, »Dauer zu verleihen.«19

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Foucault, Die Ordnung der Dinge, S.458. Vgl. zur Opposition innerhalb der memoria in der Moderne Kleinschmidt, Gleitende Sprache, S.200. Baudelaire, Der Salon 1846, S.238. Baudelaire spricht von der bildenden Kunst. Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, S.197. Vgl. dies., Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1977, S.40CM02. Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, S.258. Zur Konzeption der modernite als historische Relativierung des klassizistischen Konzepts von Schönheit »im Flüchtigen und Zufalligen« vgl. Jauss, Literaturgeschichte als Provokation, S.llff., S.29ff.und S.57. Die

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Es muß sich offenbar um eine >andere Dauer< handeln, die das Moment des Flüchtigen zu integrieren versteht. Baudelaire geht es um die Konkurrenz zwischen einem mimetischen, detailgetreuen Malen nach Modell und der Kunst, die sich auf ein das Besondere transzendierende Allgemeines bezieht. Anders als das statische und fixierende Nachahmen sieht Baudelaire in letzterem ein belebendes, und das heißt, dynamisches Prinzip: »einmal, eine Anspannung des beschwörenden, auferweckenden Gedächtnisses, so als spräche dieses Gedächtnis zu jedem Ding: xLazarus, stehe auf!Transitorisch< meint dann nicht die Unmöglichkeit des Eingedenkens, sondern vielmehr die Restitution des Prozessualen des Lebens in der Kunst. Dieses Prozeßhafte findet sich in der Bewegung: »zum andern ein Feuer, eine Trunkenheit des Stiftes, des Pinsels, die fast einer Raserei gleichkommen. Das ist die Angst, nicht rasch genug zu sein, das Phantom entwischen zu lassen, bevor das Wesentliche herausgeholt und ergriffen wurde [,..].«20 Hier ist die Szene der Erinnerungskunst der Moderne in ihren entscheidenden Momenten aufgerufen. Und leicht läßt sich die »Trunkenheit des Stiftes« auf die Feder des Schriftstellers übertragen: Nicht mehr um die quantitative Extension der Welt ist es ihm zu tun, die Geste des Schreibens versucht eine qualitative Intensität einzufangen. Durch diese Opposition präfiguriert das Szenario den elan vital Bergsons: Im überschießenden Schwung der Bewegung ist »das Wesentliche« ganzheitlich und nicht mehr in seine Details dividierbar aufgehoben. Baudelaires Essay tilgt den Traditionsbruch also keineswegs aus seiner Theorie der Erinnerung, vielmehr schreibt er diese Bracherfahrung in die Erinnerung ein: Das Gedächtnis überwindet den Bruch, ohne ihn zu schließen. Dem scheinbar wiederholenden Gestus der memoria ist die Differenz zu ihrem Memorierten eigen. Weil Benjamins Poetik unmittelbar an diese Elemente anschließen wird, sind hier zwei poetologische Konsequenzen festzuhalten.21 Seit Baudelaire ist das Schreiben der Erinnerung an seine körperliche Geste gebunden. Vergangenheit ist nicht als Dauer repräsentierbar, sondern nur durch das Ausagieren einer dynamischen Flüchtigkeit anzudeuten. Sie steht nicht länger Modell, da

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Brüche und dialektischen Bezüge zur Klassik wären zu kontrastieren mit dem, was Curtius in Anschluß an Hofmannsthal in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter eine »zeitlose europäische Mythologie« nennt (S. 154). Nur die Struktur der immer wieder aufgerufenen Querelles selbst stellt eine derartige geschlossene >Mythologie< dar, ansonsten ist die Behauptung dieser Kontinuität selbst ein Mythos. Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, S. 230f. Die Übertragung des »Lazarus, veni foras« auf literarisches Sprechen findet sich beispielsweise bei Blanchot, Die Literatur und das Recht auf den Tod, S.35. Zum Motiv der Eile in der Ästhetik Baudelaires vgl. Frey, Ober die Erinnerung bei Baudelaire, S.317ff: »Die Bewegung des Stifts eilt auf das Ganze zu, das im Gedächtnis als Fehlendes erinnert wird.« (ebd., S.322) Vgl. zum Motiv auch Lacan, Jacques, Das Seminar Buch XI, Ölten 1978, S.121 sowie unten, 3. Kap. 2. Vgl. unten 3. Kap. 7., 11. Kap. 3.-5. sowie 14. Kap. 2.

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Teil I

ihr ihre Zeitlichkeit in der Weise eingeschrieben ist, daß sie sich je schon entzieht. Nur die gesteigerte Geschwindigkeit mit dem Regulativ einer unendlichen Beschleunigung kann sie erreichen, indem sie die Bewegung ihres Entzogenwerdens kopiert. Das ist die Bewegung des Schreibens: Ein transitorischer Akt, der in seiner Transitorik das Sein der Vergangenheit wiederholt, ohne sie aber in diesem je schon vergangenen Sein zu restituieren. Die zweite Konsequenz ergibt sich hieraus: Erinnerungsschreiben ist keine Fixierung, weil es wesentlich an den Augenblick dieses Schreibens gebunden ist. Das >Jetzt< der Geste, zu dem sich die Beschleunigung verdichtet, ist der einzige Ort, an dem das Gedächtnis noch belebend (im Sinne eines >LebensschwungsAktuellenPlötzlichkeit< die Kontinuität von Vergangenheit zur Zukunft sprenge und sich nicht gesellschaftlich-geschichtlich vereinnahmen lasse. Vgl. Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981 und ders., Das absolute Präsenz: Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a.M. 1994.

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Dies alles ist aufgrund deijenigen Erinnerungspoetik bekannt, die Baudelaire wie Bergson gleichermaßen adaptiert und ein ganzes Erinnerungswerk aus einem gelingenden Augenblick entwickelt. Prousts mimoire involontaire, längst zum geflügelten Konzept der Erinnerungsforschung geworden, soll hier nicht in Gänze analysiert, sondern nur in der poetologischen Funktion des Erinnerungsmoments als Schreibeinsatz beleuchtet werden.23 Die Opposition einer scheiternden bewußten Erinnerung gegenüber der gelingenden unwillkürlichen, die Proust programmatisch einführt, folgt genau der Baudelaireschen von Nachahmen und Gedächtnis.24 Der Text ist dabei präzise komponiert: Er setzt ein mit der Beschreibung des Prozesses des Erwachens und dessen Schwierigkeiten, Erinnerungen zuzuordnen, evoziert dann den Augenblick gelungener Erinnerung bei Tee und Madeleine, um erst jetzt das eigentliche Erzählen durch das »Näherkommen« der Vergangenheit beginnen zu lassen. Der letzte Band der Recherche wiederholt die nämliche Struktur auf der Metaebene: Nachdem die gesamte Geschichte als Scheitern des Versuchs, Schriftsteller zu werden, erzählt ist, bewirkt erst eine wahre Kettenreaktion unwillkürlicher Erinnerungen die Inaugurierung des Schriftstellers, dem »das Kunstwerk das einzige Mittel ist, die verlorene Zeit wiederzufinden.«25 Aus dieser Poetik des Proustschen Oeuvres ergibt sich eine dritte Konsequenz der Verwiesenheit des Schreibens an seinen jeweiligen Augenblick: Die Kette der mimoires involontaires läßt sich nicht mehr zu einem einzigen Bild des Erinnerten und des Erinnernden synthetisieren: »Nicht allein Albertine war eine Aufeinanderfolge von Augenblicke, sondern auch ich selbst. [...] Ich war nicht ein einziger Mensch, eine ganze Schar vielmehr, eine Armee, die aus vielen Wesen bestand [..,].«26 Jedem Moment der Erinnerung ist hier monadisch das jeweils entsprechende Ich zugeordnet. Im Gedächtnis ruht nicht das identische, selbstgegenwärtige Subjekt, sondern die »komplexe Vielheit meiner Person«. Dann wirkt Erinnerung aber nicht länger subjektversichernd, sondern dividiert das In-Dividuum durch die Anzahl der erinnerten Augenblicke und ordnet es zu einer Konstellation isolierter Monaden. Ist so mit dem kanonischen Höhepunkt literarisierter Erinnerung auch das Ende ihrer gedächtnisversichernden Funktion erreicht? Gilles Deleuze, dessen Theorie diese Fäden weiterverfolgt, eröffnet seine Prowii-Studie mit den provokanten Sätzen: »Worin besteht die Einheit von >A la recherche du temps perdu