Inflation und Stabilisierung in Brasilien: Probleme einer Gesellschaft im Wandel 9783964563347

Dieser Sammelband hat sich einen analytischen Rückblick auf die Situation Brasiliens seit der Rückkehr zur Demokratie zu

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Inflation und Stabilisierung in Brasilien: Probleme einer Gesellschaft im Wandel
 9783964563347

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Inflation und Stabilisierung in Brasilien. Probleme einer Gesellschaft im Wandel
Teil I. Der Plano Real: Entstehung, Folgen, Umfeld
Das stabile Geld und sein Preis: Ökonomische Transformationen in der Folge des Piano Real
Vom Cruzado zum Real. Die Stabilisierungspläne seit der Redemokratisierung
Brasiliens inflationäre Erblast und der Piano Real
Währungsstabilisierung auf Kosten der Zahlungsbilanz? Der Piano Real im Lichte der Erfahrung Mexikos und Argentiniens
Stabilisierung und Rollenkonflikte. Die Anfangsphase des Piano Real
Teil II. Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Der Kampf gegen die Inflation. Ein Kampf der Exekutive gegen die Legislative
Demokratisierung, Wirtschaftsreformen und Stabilisierung aus der Sicht von Unternehmern und Gewerkschaften
Die brasilianischen Gewerkschaften und die Stabilisierungspläne von 1986 bis 1994
Die Inflation und die Banken. Kommentare zum ersten Jahr des Piano Real
Teil III. Ursachen und Konsequenzen einer chronischen Inflation
Staatsverschuldung und Inflation in Brasilien
Die Verschuldungskrise und ihre Auswirkungen auf die brasilianische Volkswirtschaft
Preisindizes und Stabilisierungspolitik in Brasilien
Das Leben der Unternehmen in Zeiten der Hochinflation
Einkommensverteilung und Inflation
Autorenverzeichnis

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Gilberto Calcagnotto / Barbara Fritz (Hrsg.)

Inflation und Stabilisierung in Brasilien Probleme einer Gesellschaft im Wandel

Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde • Hamburg Band 43

Gilberte» Calcagnotto / Barbara Fritz (Hrsg.)

Inflation und Stabilisierung in Brasilien Probleme einer Gesellschaft im Wandel

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1996

Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg

Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut

Das Institut für Iberoamerika-Kunde bildet zusammen mit dem Institut für Allgemeine Überseeforschung, dem Institut für Asienkunde, dem Institut für Afrika-Kunde und dem Deutschen Orient-Institut den Verbund der Stiftung Deutsches Übersee-Institut in Hamburg. Aufgabe des Instituts für Iberoamerika-Kunde ist die gegenwartsbezogene Beobachtung und wissenschaftliche Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Lateinamerika. Das Institut für Iberoamerika-Kunde ist bemüht, in seinen Publikationen verschiedene Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die jedoch grundsätzlich die Auffassung des jeweiligen Autors und nicht unbedingt die des Instituts darstellen.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Inflation und Stabilisierung in Brasilien : Probleme einer Gesellschaft im Wandel / [Institut für Iberoamerika-Kunde ; Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut]. Gilberto Calcagnotto/Barbara Fritz (Hrsg.). - Frankfurt am Main : Vervuert, 1996 (Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Hamburg ; Bd. 43) ISBN 3 - 8 9 3 5 4 - 2 4 3 - 4 NE: Calcagnotto, Gilberto [Hrsg.]; Institut für Iberoamerika-Kunde : Schriftenreihe des Instituts ...

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1996 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz Printed in Germany: Rosch-Buch, Hallstadt

INHALTSVERZEICHNIS Zu diesem Buch I.

7

Der Piano Real: Entstehung, Folgen, Umfeld

Fritz, Barbara

Das stabile Geld und sein Preis Ökonomische Transformationen in der Folge des Piano Real

15

Macedo, Roberto

Vom Cruzado zum Real Die Stabilisierungspläne seit der Redemokratisierung

49

Baer, Werner / Paiva, Claudio

Brasiliens inflationäre Erblast und der Piano Real

66

Batista Jr., Paulo Nogueira

Währungsstabilisierung auf Kosten der Zahlungsbilanz? Der Piano Real im Lichte der Erfahrung Mexikos und Argentiniens

94

Abranches, S6rgio Henrique Hudson de

Stabilisierung und Rollenkonflikte Die Anfangsphase des Piano Real

II.

119

Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft

Meyer-Stamer, Jörg

Der Kampf gegen die Inflation Ein Kampf der Exekutive gegen die Legislative

149

Diniz, Eli / Boschi, Renato

Demokratisierung, Wirtschaftsreformen und Stabilisierung aus der Sicht von Unternehmern und Gewerkschaften

165

Almeida, Maria Herminia Tavares de

Die brasilianischen Gewerkschaften und die Stabilisierungspläne von 1986 bis 1994

185

Carvalho, Carlos Eduardo

Die Inflation und die Banken Kommentare zum ersten Jahr des Piano Real

III.

200

Ursachen und Konsequenzen einer chronischen Inflation

von Doellinger, Carlos

Staatsverschuldung und Inflation in Brasilien

231

Belluzzo, Luiz Gonzaga de Mello / Almeida, Jülio S. Gomes de

Die Verschuldungskrise und ihre Auswirkungen auf die brasilianische Volkswirtschaft

248

Chacei, Julian

Preisindizes und Stabilisierungspolitik in Brasilien

267

Porst, Gunter

Das Leben der Unternehmen in Zeiten der Hochinflation

282

Koch, Gisela

Einkommensverteilung und Inflation

293

Autorenverzeichnis

316

Inflation und Stabilisierung in Brasilien Probleme einer Gesellschaft im Wandel Zu diesem Buch Inflation und Stabilisierung — seit Brasiliens Rückkehr zur Demokratie stand dieses Problem ununterbrochen an erster Stelle auf der politischen Tagesordnung des Landes. Das Thema bestimmte auch den Wahlkampf von 1994 und trug maßgeblich dazu bei, daß Fernando Henrique Cardoso die Präsidentschaft errang. Der von ihm initiierte Piano Real hatte wenige Monate vor den Wahlen das abrupte Absinken der Inflationsraten erreicht, und Cardoso trat mit dem Vorhaben an, diese Stabilität zu einer dauerhaften zu machen. Zwei Jahre danach sind die Inflationsraten noch immer auf historisch niedrigem Niveau; nach einem halben Dutzend gescheiterter Versuche während des vergangenen Jahrzehnts scheint die monetäre Stabilität Brasiliens wiederhergestellt zu sein. Der vorliegende Band nutzt diesen Moment und macht sich die Analyse dieser Entwicklung zur Aufgabe, untersucht die Bedingungen der aktuellen Erfolge und fragt nach den Perspektiven für die Zukunft. Die brasilianische Debatte um die Ursachen der chronischen Währungsschwäche und mögliche Lösungswege wird seit über einem Jahrzehnt intensiv gefuhrt. Dabei reicht die Bedeutung dieser Diskussion weit über den akademischen Streit hinaus. Unter dem speziellen Blickwinkel des Geldes fokussiert sie die zentralen Probleme der brasilianischen Gesellschaft: das Verhältnis zwischen Öffentlichem und Privatem, die Form der Eingliederung in den Weltmarkt, die Ausgrenzung der überwältigenden Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung aus dem formalen Arbeits- und Konsummarkt und die daraus resultierenden Verteilungskämpfe. Die Auswahl der Autorinnen und Autoren sowie der Themen ist so angelegt, daß die verschiedenen Ebenen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft erfaßt werden und gleichzeitig die kontroversen Standpunkte Raum erhalten. Die Mehrzahl der Aufsätze stammt von brasilianischen Wissenschaftlern. Dabei handelt es sich — mit einer Ausnahme — ausschließlich um Originalbeiträge. Die Eingeladenen haben es verdienstvollerweise unternommen, die Untersuchung ihres spezifischen Themas

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mit der aktuellen ökonomischen und politischen Entwicklung des Landes zu verknüpfen. Auf diese Weise bietet die vorliegende Publikation eine breit gefächerte Diskussion über die Probleme und Erfolge der Regierung Cardoso — mit erstaunlich unterschiedlichen Einschätzungen, die erneut von der Komplexität des Landes und von den Schwierigkeiten der Wirtschaftspolitik in einer Phase der tiefgreifenden Transformation zeugen. Obwohl die Diskussion um den "Fall Brasilien" weit über das Land hinausweist, war sie bislang in deutscher Sprache nur sehr bruchstückhaft zugänglich. Dabei stellt die Analyse der brasilianischen Inflations- und Stabilisierungsprobleme in vieler Hinsicht eine Herausforderung für gängige ökonomische Lehrbuchmeinungen dar und bereichert die internationale Debatte um die Zusammenhänge zwischen Geld, Entwicklung und gesellschaftlicher Verfaßtheit, zwischen Inflation, Wachstum und Verteilung. Die Gliederung des Bands in drei Teile resultiert aus dem Anspruch, über die rein monetäre und ökonomische Ebene hinaus die Phänomene der Inflation und der Stabilisierungsanstrengungen auf ihre politischen und gesellschaftlichen Ursachen und Implikationen zu untersuchen. Das erste Kapitel ist der Analyse des aktuellen Stabilisierungsprogramms gewidmet. Über die konkrete Analyse des Piano Real hinaus impliziert dies notwendigerweise auch eine Neuinterpretation der jüngeren Entwicklung Brasiliens im Lichte der spezifischen Fragestellung dieser Publikation. Das zweite Kapitel fragt nach den Akteuren in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft und ihrem Zusammenwirken in dem Zyklus der chronischen Inflation und der wiederholten Stabilisierungsversuche. Im dritten Teil werden rückblickend die Ursachen und Konsequenzen der Inflationsökonomie analysiert und auf ihre Implikationen für den Stabilisierungsprozeß untersucht. Die relative Stabilität der neuen Währung hält nun seit zwei Jahren an, so daß zwar noch längst nicht von einer dauerhaft stabilen Währung gesprochen werden kann, aber doch von einem Ende der chronischen Inflationsökonomie. Der Beitrag von Barbara Fritz untersucht die Erfolgsbedingungen und Probleme des Piano Real sowie die ökonomischen Transformationsprozesse, die durch die erreichte Währungsstabilität ausgelöst wurden. Angesichts des Ausbleibens einer wirksamen Fiskalreform wird nach den strukturellen Ursachen der öffentlichen Defizite und den in der Vergangenheit ausgebildeten Interdependenzen zwischen dem Inflationsprozeß und den öffentlichen Finanzen gefragt. Darüber hinaus werden die sektoral unterschiedlichen Verteilungswirkungen der monetären Stabilität analysiert, wobei insbesondere zwischen der ersten, expansiven und der zweiten, rezessiven Phase des Piano Real unterschieden wird. Nicht zuletzt unter dem Eindruck des mexikanischen Währungscrashs wurde in Brasilien, so das Resümee der Autorin, das Ziel des wirtschaftlichen Wachstums rigide dem Primat der Währungsstabilität und außenwirtschaftlicher Erfolge untergeordnet. Dem Piano Real vorangegangen waren in den letzten zehn Jahren nicht weniger als fünf verschiedene Programme zur Bekämpfung der Inflation, die jedoch allesamt innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums scheiterten. Gerade vor diesem Hintergrund 8

überaus negativer Erfahrungen ist der jüngste Anlauf zur Stabilisierung mit hoher Skepsis aufgenommen worden. Roberto Macedo gibt eine rückblickende Übersicht über die mißlungenen Versuche und vergleicht diese mit dem Piano Real. In dem Maße, in dem Macedo nicht nur als Ökonom die Ereignisse wissenschaftlich analysiert, sondern zeitweise auch selbst in der Wirtschaftspolitik aktiv war, kann er über die Analyse der spezifischen ökonomischen Konzeption der einzelnen Pläne hinaus diese auch in besonderer Weise in den gesellschaftlichen Kontext und die jeweiligen politischen Kräfteverhältnisse einordnen. Der Beginn der chronischen und hohen Inflation fallt mit dem Scheitern der in Brasilien jahrzehntelang verfolgten Strategie der Importsubstitution zusammen. Unter dieser Perspektive lassen Werner Baer und Claudio Paiva noch einmal die wichtigsten Charakteristika dieses Wirtschaftsmodells Revue passieren und kommen zu dem Ergebnis, daß es zwar hohe Wachstumserfolge hervorzubringen vermochte, das Kernproblem jedoch in dem Hintanstellen ökonomischer Effizienz und einer zu hohen unternehmerischen Staatsaktivität zu suchen sei, die zu einer Verschlechterung der öffentlichen Finanzen und einer steigenden Devisenverschuldung führte. Das wiederholte Scheitern von Stabilisierungsprogrammen während der 80er und zu Beginn der 90er Jahre sei demzufolge auf das Ausbleiben der notwendigen strukturellen Fiskalreform zurückzuführen. Auf dieser Grundlage diskutieren Baer und Paiva im zweiten Abschnitt ihres Beitrags die Erfolgsaussichten des aktuellen Piano Real, die entsprechend ihrer zentralen Hypothese notwendigerweise in einer institutionellen Reform der fiskalischen Verantwortlichkeiten begründet sein müßten. Das Verständnis der Entstehung und Konzeption des Piano Real bliebe unvollständig, würde dieser nicht in den Kontext der lateinamerikanischen Wirtschaftspolitiken der 90er Jahre gestellt. Paulo Nogueira Batista Jr. unternimmt in seinem Beitrag einen Vergleich Brasiliens mit den anderen "großen" Ländern des Kontinents, Mexiko und Argentinien. Diese beiden Staaten verfolgen schon seit einigen Jahren ein Modell der Stabilisierung und der Integration in den Weltmarkt, dem sich nun — mit einigen signifikanten Unterschieden — Brasilien als late-comer angeschlossen hat. Auf der Grundlage einer gründlichen Darstellung der allgemeinen Charakteristika dieses Modells sowie seiner spezifischen brasilianischen Ausprägung weist der Autor auf die hohen immanenten Risiken dieses Entwicklungswegs hin. Der erste Teil schließt mit einem Beitrag von Sergio Abranches, der die Erfolgschancen des neuen Stabilisierungsprogramms vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Phänomens der sogenannten "Inflationskultur" Brasiliens untersucht. Um sich diesem — bisher von den sozialwissenschaftlichen Disziplinen weitgehend unbearbeiteten — Themenfeld anzunähern, zeichnet er zunächst den tiefgreifenden demographischen, sozialen und ökonomischen Wandel nach, der in Brasilien seit den 70er Jahren stattgefunden hat. Er betont dabei die Entstehung von komplexen ökonomischen Verhältnissen und einer enormen sozialen Dynamik, die zu einer zunehmenden Divergenz der Interessen einer steigenden Anzahl von Akteuren führte. Die beschleunigte demokratische Entwicklung nach dem Ende 9

der Militärdiktatur führte, so die zentrale These, zu einer Überfrachtung der politischen Tagesordnung und einer politischen und ökonomischen Pattsituation, die ökonomisch in der "Beharrungsinflation" ihren Ausdruck fand. Im Piano Real nun sieht der Autor einen marktkonformen, durchsetzungsfahigen neuen Disziplinierungsmechanismus, der in der Lage war, diese Pattsituation der "negativen Bündnisse" gegen die Stabilisierung aufzubrechen. Der Beitrag von Abranches leitet damit gleichsam über in den zweiten Teil, in dem die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenspiel, nach den Interessen, Akteuren und politischen Konstellationen im Zentrum steht. Diese müssen letztendlich entscheidende Beiträge dazu geleistet haben, daß die Inflationsbekämpfung trotz der Vielzahl der wirtschaftspolitischen Anläufe ein volles Jahrzehnt lang so gänzlich ohne Erfolg blieb. Jörg Meyer-Stamer stellt in seinem Beitrag das institutionelle Arrangement der politischen Instanzen und das Verhalten der politischen Akteure in den Mittelpunkt der Untersuchung der strukturellen öffentlichen Defizite. Dabei vertritt er die These, daß es dem politischen System Brasiliens an effektiven Regelungen zur Verhandlung und Durchsetzung von gesamtgesellschaftlich relevanten Entscheidungen mangelt, die mehr als nur partikulare Interessen widerspiegeln. Da er auch unter der Regierung Cardoso die Errichtung solcher institutioneller Arrangements bisher nicht zu erkennen vermag, sieht der Autor Brasilien noch nicht auf einem gesicherten Weg zu dauerhafter wirtschaftlicher Stabilität. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen infolge des Übergangs von der Militärdiktatur zum Zivilregime fragen Eli Diniz und Renato Boschi nach dem Verhalten von Unternehmern und Gewerkschaften. Aus der Organisationsstruktur der jeweiligen Interessenverbände und aus in Befragungen ermittelten Einstellungen von Unternehmern und Gewerkschaftern zum politischen Prozeß und zu den Wirtschaftsreformen schließen sie zum einen, daß die Stabilisierungspolitiken der Regierung nicht an der Blockade durch diese Gruppen gescheitert sein können. Des weiteren gehen sie der Frage nach, warum in Brasilien nie ein sogenannter "Sozialpakt" zur Umsetzung und gesellschaftlichen Verankerung eines Stabilisierungsprogramms zustandekam. Im wiederkehrenden Zyklus von ansteigender Inflation und scheiternder Inflationsbekämpfung im Brasilien der 80er und frühen 90er Jahre mußte die Rolle der organisierten ökonomischen Akteure zwangsläufig eine ambivalente sein: So sinnvoll auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene ein anti-inflationäres Verhalten auch gewesen wäre, so rational war gleichzeitig das defensive Verhalten einzelner Akteure, ihren Anteil am Volkseinkommen gegen mögliche Inflationsverluste zu verteidigen, selbst wenn dies den Inflationsprozeß noch weiter schürte. Diese Ambivalenz arbeitet Maria Herminia de Almeida für die Gewerkschaften insbesondere am Kampf für die Indexierung der Lohnkontrakte zur Verteidigung der Reallöhne heraus. Wie Diniz/Boschi verweist auch sie auf die Bedeutung der Organisationsstrukturen, die die Wahrnehmung der Funktion als gesamtgesellschaftlich verantwortliche Akteure verhindert hätten.

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Ein besonderes Augenmerk verdient die überraschend positive Beziehung des brasilianischen Bankensektors zur chronischen Geldentwertung: Während für die übrigen Sektoren der Wirtschaft die durch den chronischen Inflationsprozeß der 80er und 90er Jahre erzeugten Gewinne und Verluste nicht eindeutig bilanziert werden können und die Mehrheit der Lohnempfänger eindeutige Verluste hinnehmen mußte, vermochten die brasilianischen Banken, wie Carlos Eduardo Carvalho in einer sorgfaltigen Untersuchung und mit einer Fülle von Daten zeigt, in hohem Maße davon zu profitieren. Gesondert geht der Autor auf das Verhalten und die Performance des Finanzsektors nach Beginn des Piano Real ein, der sich nicht nur besonders anpassungsfähig zeigte, sondern darüber hinaus die staatliche Stabilisierungspolitik teilweise zu unterlaufen vermochte. Zu Beginn der 90er Jahre, als die Inflation dreistellige Raten erreichte und zudem extreme Schwankungen aufwies, hatte sich längst ein unauflösbar scheinendes Geflecht aus Ursachen, Abhängigkeiten und Konsequenzen gebildet, das einerseits zwar die Inflationsbekämpfung immens erschwerte, andererseits jedoch die Ausbildung von Anpassungsmechanismen ermöglicht hatte, die den endgültigen Zusammenbruch in Form einer Hyperinflation und der vollständigen Flucht aus der nationalen Währung relativ erfolgreich verhinderten. Im dritten und letzten Teil des vorliegenden Buchs soll rückblickend dieses Geflecht entwirrt werden. Dabei lassen sich bemerkenswerte Erkenntnisse über die Funktionsweise einer Inflationsökonomie gewinnen. Carlos von Doellinger untersucht die interne Verschuldung des brasilianischen Staates, die sich, obwohl ihr Volumen im Vergleich mit dem der industrialisierten Länder gering ist, als eines der schwierigsten Probleme der Reform der brasilianischen Geldverfassung darstellt. Der Autor beschreibt, wie sich aufgrund der Funktion der staatlichen Schuldtitel als "Quasigeld" der brasilianischen Ökonomie immer stärkere wechselseitige Abhängigkeiten zwischen Geld- und Fiskalpolitik ausbildeten. In dieser Interpretation wird also die These, daß der Inflationsprozeß hauptsächlich von den öffentlichen Defiziten alimentiert sei (vgl. Baer/Paiva und Meyer-Stamer in diesem Band), wenn nicht umgekehrt, so doch in wichtigen Punkten relativiert. Luiz Belluzzo und Jülio Almeida setzen diese Überlegungen fort, indem sie die kumulative Auslandsverschuldung in Zusammenhang mit der Schwäche des nationalen Geldes stellen. Aus der Verstaatlichung der zuvor privaten Devisenschulden sowie der Wirtschaftspolitik der 80er Jahre, die der Bewältigung der Außenverschuldungskrise untergeordnet werden mußte, leiten sie die Entstehung der internen öffentlichen Verschuldung her. Sie skizzieren auf diese Weise eine wirtschaftspolitische Konstellation, in der die öffentlichen Verbindlichkeiten und die auf diese Weise alimentierte Inflation nur die eine Seite der Medaille einer Inflationsökonomie darstellen, auf deren anderer Seite die Sicherung der privaten Vermögen und der Einkommen der Exportproduzenten stehen. Die Grundlage zu dieser spezifischen Form der Inflationsökonomie wurde im Rahmen der tiefgreifenden Geld- und Finanzreformen gelegt, die das Militärregime unmittelbar nach der Machtübernahme Mitte der 60er Jahre eingeleitet hatte. Julian 11

Chacel stellt in seinem Beitrag dar, wie die Praxis der Indexierung — ursprünglich zur Neutralisierung der Effekte einer geringen Inflation eingeführt — von dem Regime in hohem Maße zur Manipulation der Lohn- und Preispolitik sowie zur Bekämpfung der ansteigenden Inflationsraten eingesetzt wurde. Der Autor kann dabei auf Informationen aus erster Hand zurückgreifen, war er doch über viele Jahre hinweg Direktor der Fundagäo Getülio Vargas, jener Institution, die jahrzehntelang für die Aufstellung des offiziellen Inflationsindex verantwortlich war. Chacel betont dabei vor allem die zwiespältige Wirkung dieses Instruments, das letztendlich die Ausbildung der in dieser Form einmaligen "indexierten Inflation" begründete. Wie das Wirtschaften in einer hochgradig inflationären und indexierten Ökonomie aus unternehmerischer Sicht funktioniert, berichtet Gunter Porst in anschaulicher Weise aus seinen langjährigen Praxiserfahrungen in Brasilien. Dabei hebt er besonders hervor, welches Ausmaß an Flexibilität notwendig war, um in diesem unsicheren und sich ständig verändernden Umfeld der Inflation Geschäfte zu betreiben, und welche Anpassungs- und Schutzmechanismen die Wirtschaftsakteure dabei herausbildeten. Der Sammelband schließt mit dem Thema, das den Wahlkampf um die brasilianische Präsidentschaft 1994 maßgeblich bestimmte: Der "Vater" des Piano Real, Fernando Henrique Cardoso, siegte nicht zuletzt mit dem Argument, daß "die Inflation die grausamste aller Steuern" darstelle, weil sie nur von den Armen bezahlt werde: "Es gibt keine effektivere Sozialpolitik als die Inflationsbekämpfung", so sein Diktum. In ihrem empirisch untermauerten und sorgfaltig argumentierenden Beitrag geht Gisela Koch der Frage nach, ob und in welchem Maße Cardosos Diktum für das Brasilien der 80er und frühen 90er Jahre zutraf: inwieweit die reale Einkommensverteilung durch die Geldentwertung verändert wurde, und ob deshalb die Durchsetzung einer stabilen Währung einen Beitrag zu diesem Kernproblem der brasilianischen Gesellschaft zu leisten vermag. •

*

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Die Herausgeber wollen an dieser Stelle allen danken, die an der Entstehung dieses Buches in der einen oder anderen Weise beteiligt waren. Dieser Dank richtet sich an die Autorinnen und Autoren, die unsere Themenvorschläge aufgegriffen und weiterentwickelt haben. Und der Dank gilt auch den Kolleginnen und Kollegen am Institut für Iberoamerika-Kunde, die bei der Arbeit an diesem Band wertvolle Anregungen und Hilfen gaben, die bei der Übersetzung der Manuskripte beteiligt waren, die die Texte durchsahen, korrigierten und gestalteten.

Barbara Fritz und Gilberto Calcagnotto, im August 1996

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Teil I Der Plano Real: Entstehung, Folgen, Umfeld

Barbara Fritz

Das stabile Geld und sein Preis Ökonomische Transformationen in der Folge des Piano Real Einleitung Brasilien mit einer stabilen Währung — welche Konsequenzen hat dies für die ökonomischen Verhältnisse des Landes, das wohl so lange wie kein anderes dieser Welt mit hohen und teilweise sehr hohen Inflationsraten lebte? Wenn im folgenden Beitrag die Währungsreform des Piano Real von 1994 mit ihren Erfolgsbedingungen und Problemen analysiert wird, dann steht dabei im Mittelpunkt immer auch die Frage nach den ökonomischen Transformationsprozessen, die durch die erreichte Stabilität ausgelöst worden sind. Der Piano Real ist bisher bei der Inflationsbekämpfung hochgradig erfolgreich. Von zuvor vierstelligen Werten fiel die Geldentwertung auf etwa 20% im Jahr 1995. Dies ist angesichts der wiederholt gescheiterten Stabilisierungsprogramme Brasiliens seit Mitte der 80er Jahre umso erstaunlicher. Ob diese monetäre Stabilität jedoch von Dauer sein wird und zugleich die Grundlagen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen vermag, hängt von drei zentralen Bedingungen ab: Erstens muß ein in diesem Sinne erfolgreiches Stabilisierungsprogramm das chronische Element der brasilianischen Inflation brechen und gleichzeitig einen nominalen Anker bereitstellen, der die Knapphaltung der nationalen Währung sichert. Zum zweiten muß ein dauerhafter Fiskalausgleich hergestellt werden, der garantiert, daß der Staat zur Deckung seiner Ausgaben nicht auf die Notenpresse bei der Zentralbank zurückgreift. Drittens steht die demokratisch gewählte Regierung unter einem hohen gesellschaftlichen Legitimationsdruck, eine Stabilitätspolitik zu verfolgen, die einen Beitrag auch zur Lösung der sozialen Krise leistet und der ökonomischen Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheit zumindest entgegensteuert. Die erste Bedingung der Deindexierung und Etablierung eines neuen nominalen Ankers kann praktisch als erfüllt angesehen werden. Die Währungsreform, mit der die neue Landeswährung Real am 1. Juli 1994 eingeführt wurde, war brillant 15

konzipiert: Nachdem zuvor ein provisorischer Ausgleich des Staatshaushalts hergestellt worden war, wurde im März 1994, also drei Monate vor der Währungsreform, ein Vorläufer des neuen Geldes geschaffen, die sogenannte Reale Recheneinheit URV (Unidade Real de Valor), die eins zu eins an den Dollar gebunden war: eine "gelb-grüne Version des Dollars", so der orthodoxe Ökonomie-Papst Mario Henrique Simonsen in Anspielung auf die brasilianischen Landesfarben (Simonsen 1994: 23). In dieser künstlichen Währung konnten für eine Übergangszeit von drei Monaten die Preise ausgedrückt werden, während sie aber weiterhin im alten inflationierten Geld gezahlt wurden, dessen Wert gegenüber der — per Definition stabilen — URV täglich abnahm. Am 1. Juli 1994, als dieses künstliche Geld zur neuen Währung des Landes erhoben und alles alte Geld (zum Kurs von 2.750 Cruzeiros Reais gegen einen neuen Real) umgetauscht wurde, blieb das chronische Inflationsgedächtnis einfach in der alten Währung zurück, und das neue Geld stieg als "stabiles" Geld wie ein Phönix aus der Asche. Auf diese Weise wurde die Inflation abrupt von annähernd 50 auf zwei bis drei Prozent pro Monat gesenkt, weil die Indexierungsmechanismen unterbrochen waren. In den Folgemonaten konnte die so erreichte Preisstabilität aufrechterhalten werden, indem der Wechselkurs (annähernd) fixiert und damit zur neuen nominalen Referenz — dem sog. nominalen Anker — für die in der heimischen Währung wirtschaftenden Akteure wurde. Nicht nur die Erwartungen hinsichtlich der zukünftigen Preisentwicklung konnten hierdurch positiv beeinflußt und stabilisiert werden; stärker noch wog offenbar der deutlich erhöhte Konkurrenzdruck auf die einheimischen Produzenten, der durch die aufgewertete Währung und gleichzeitig vorgenommene Handelsliberalisierungen entstand. Importierte Waren wurden auf diese Weise in größerem Umfang verfugbar und im Vergleich zu einheimischen Gütern teilweise billiger, wodurch die nationalen Anbieter unter dauerhaften Preisdruck gerieten. Damit hatte der Piano Real erreicht, woran alle vorangegangenen Stabilisierungsversuche dramatisch gescheitert waren: die hochgradige Indexierung zu überwinden, die bis dahin zwar einerseits den Zusammenbruch der brasilianischen Ökonomie und den Ausbruch einer Hyperinflation selbst bei sehr hohen Inflationsraten verhindert, andererseits aber auch jegliche Stabilisierungsversuche untergraben hatte1. Diesen Erfolg konstatierend, kann sich der vorliegende Beitrag auf die Untersuchung der zwei weiteren Bedingungen konzentrieren, deren Erfüllung notwendige Voraussetzung für eine nachhaltige Stabilisierung und wirtschaftliches Wachstum ist. Entsprechend gliedert sich die Analyse in zwei Teile: Im ersten Abschnitt wird die Bedeutung des Fiskalausgleichs für die Stabilisierung diskutiert und dabei der Frage nachgegangen, inwiefern der Piano Real die Bedingungen für einen ausgeglichenen Staatshaushalt herstellen kann. Hier zeigt sich die Besonderheit des "Phänomens Brasilien" nicht nur in der im internationalen Vergleich

Eine ausführliche Darstellung der sog. "Bimonetisierung" mit Hilfe der URV findet sich in Fritz 1995; zu Funktionsweise und Problemen des Wechselkursankers s. Nogueira im vorliegenden Band.

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ungewöhnlichen Kombination hoher und steigender Inflation bei gleichzeitig geringen staatlichen Defiziten, wie sie zu Anfang der 90er Jahre zu beobachten war. Vielmehr wird auch die umgekehrte Entwicklung zu konstatieren und zu erklären sein: daß aufgrund struktureller Probleme, die eng mit der monetären Instabilität der Vergangenheit verknüpft sind, ein glaubhafter und dauerhafter Ausgleich der öffentlichen Finanzen vorerst nicht zu erzielen ist. Im Gegenteil: Es sind steigende Staatsausgaben zu verzeichnen, die auch durch die hohen Reformanstrengungen der Regierung Cardoso nicht in ausreichendem Maße gedeckt werden können. Im zweiten Abschnitt werden die überaus komplexen Verteilungswirkungen analysiert, die durch die Kombination aus gesunkener Inflation, realer Aufwertung des Wechselkurses und der dadurch erzwungenen ökonomischen Transformation erzeugt werden. Dabei ist es unerläßlich, zunächst auf die Besonderheiten des brasilianischen stop-and-go-Zyklus des vergangenen Jahrzehnts einzugehen, der weitestgehend durch die sukzessiven Stabilisierungsversuche und deren Scheitern bestimmt war. Für die Diskussion der verteilungspolitischen Folgen des Piano Real ist es nun von Bedeutung, zwischen der ersten expansiven Phase und der zweiten Phase mit deutlich rezessiven Tendenzen zu unterscheiden. Zu berücksichtigen ist daher nicht nur der direkte Einkommensgewinn der Niedriglohnverdiener in der Anfangsphase, der einen deutlichen Wachstumsschub verursachte. Vor allem in der zweiten Phase, die sich durch einen konjunkturellen Abschwung auszeichnet, zeigen sich auch die tiefgreifenden sektoralen Umschichtungsprozesse, die durch die Strategie des Wechselkursankers und die verstärkte Weltmarktintegration ausgelöst werden. Abschließend werden die Ergebnisse der Analyse kurz zusammengefaßt. In einem Ausblick werden die entscheidenden Zielkonflikte der brasilianischen Wirtschaftspolitik dargestellt, anhand derer das grundlegende Dilemma deutlich wird, in das der Piano Real die brasilianische Ökonomie mit der Überbewertung der einheimischen Währung gebracht hat.

1. Von der unterdrückten zur offenen Fiskalkrise? Die Entwicklung des Staatshaushalts unter den Bedingungen der monetären Stabilität Die öffentlichen Finanzen Brasiliens erweisen sich, darüber sind sich praktisch alle Beobachter des Piano Real einig, als der neuralgische Punkt der Stabilisierung. Dies ist umso erstaunlicher, als das Land ausgerechnet in diesem Punkt einen internationalen Sonderfall darstellt. Denn die vierstelligen Inflationsraten der 90er Jahre lassen sich — wie auch die Daten der nachfolgenden Tabelle zeigen — keineswegs mit der ansonsten üblichen Diagnose erklären, die grundsätzlich hinter

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der Geldentwertung ein hohes öffentliches Defizit vermutet, das mittels der Geldschöpfung finanziert werde2.

Tabelle 1: Finanzierungsbedarf des öffentlichen Sektors in Brasilien in % des BIP 1991 8

1994

1995

2,8

1,2

-1,3

5,0

0,1

1,2

0,9

-1,6

1,7

-0,7

0,7

0,1

0,6

2,5

0,8

0,9

0,2

-0,3

0,9

-2,9

-0,7

-1,7

-5,2

-0,4

Bundesregierung und Zentralbank

-1,1

-0,6

-0,5

-3,1

-0,6

Bundesstaaten und Munizipien

-1,5

0,0

-0,6

-0,9

0,2

Staatsunternehmen

-0,3

0,0

-0,6

-1,2

0,1

3,1

3,5

2,9

3,8

5,4

Bundesregierung und Zentralbank

1,2

1,8

1,4

1,5

2,3

Bundesstaaten und Munizipien

0,8

0,7

0,7

1,4

2,7

Staatsunternehmen

1,1

0,9

0,8

0,9

0,8

Bundesregierung und Zentralbank Bundesstaaten und Munizipien Staatsunternehmen PRIMÄR"

REALE ZINSEN

*

1993

0,2

OPERATIONAL

b

1992

operationales Defizit: inflationsbereinigte gesamte Einnahmen und Ausgaben primäres Defizit: realer Ausgabenüberschuß (operationales Defizit) abzüglich des öffentlichen Schuldendienstes (reale Verzinsung)

Anmerkung: negative Werte kennzeichnen einen Überschuß Quelle: Banco Central do Brasil; nach: IPEA, Boletim Conjuntural Nr. 32, Jan. 1996, und Nr. 33, April 1996.

Aus welchem Grund ist dann, wenn also in den Vorjahren offensichtlich kein direkter Zusammenhang zwischen öffentlichen Finanzen und Inflation bestand, der Ausgleich ersterer für die Bekämpfung der Inflation so wichtig? Hierfür ist die Art und Weise der Interdependenzen zwischen den Finanzen des brasilianischen Staats und der Geldentwertung entscheidend. Denn diese fanden ihren Ausdruck in erster Linie in der spezifischen Geldverfassung des Landes, die nicht in einer 2

18

Selbst Michael Bruno, Experte für chronische Inflationsländer, drückte sein Erstaunen darüber aus, daß dies für Brasilien j a wohl offensichtlich nicht zutreffe (so zitiert in Bacha 1994: 5).

direkten Refinanzierung des öffentlichen Defizits gründete, sondern in der öffentlichen Bereitstellung kurzfristiger, indexierter Staatsschuldtitel, die weitgehend die Geldfunktionen übernehmen mußten3. Die makroökonomische Notwendigkeit eines ausgeglichenen öffentlichen Budgets resultiert aus der vertrauensbildenden Funktion der Stabilität des einheimischen Geldes: Dadurch soll klargestellt werden, daß der Staat zur Einhaltung seines Fiskalbudgets nicht die monetäre Budgetgrenze verletzen wird. Dieses Signal ist gerade im Falle Brasiliens angesichts der extrem langen und tiefen Inflationserfahrungen, gepaart mit den so oft gescheiterten Stabilisierungsversuchen, dringend notwendig. Um die Erneuerung der Geldverfassung glaubhaft durchsetzen zu können, wäre deshalb im Grunde sogar ein anfanglicher Haushaltsüberschuß erforderlich (vgl. Nogueira 1995). Allerdings ist die schnelle Erzielung eines solchen Überschusses nur sehr schwer vorstellbar: Der Weg der abrupten und gründlichen Sanierung der Staatsfinanzen durch die interne oder externe Entschuldung im Rahmen eines Moratoriums oder einer Währungsreform ist verbaut4. Hinzu kommt - zumindest theoretisch — die Anforderung an den Staat, mit öffentlichen Überschüssen die Abhängigkeit vom Zufluß internationalen Kapitals zur Kreditierung von inländischen Investitionen zu verringern. Ansätze zu einer politischen Ökonomie von Fiskalkrise und Inflation Im Brasilien der vierstelligen Inflationsraten bestanden zwar sehr wohl öffentliche Abhängigkeiten und Interessen am Fortschreiben des Inflationsprozesses, allerdings begründeten sich diese nur unwesentlich aus der direkten staatlichen Aneignung einer Inflationssteuer. Dem ungemein chronischen Charakter der Inflation entsprechend bildeten alle Akteure, und eben auch der Staat, im Laufe der Jahre komplexe Anpassungsmechanismen an die Bedingungen der Inflationsökonomie aus (s. Abranches in diesem Band). So schützte der Staat beispielsweise seine Steuereinnahmen vor inflationär bedingten Verlusten durch immer vollständigere Indexierungsklauseln. Diese Praxis wird in chronischen Inflationsländern häufig angewendet und teilweise — wie in Brasilien — per Gesetz verankert, um die Folgen des sog. 0//vera-7bnzz-Effekts so weit wie möglich zu mindern: trotz hoher und

3

Eine Darstellung der brasilianischen Indexierungspolitik findet sich bei Chacel in diesem Band; zur Analyse der Zusammenhänge zwischen öffentlichen Haushalten, chronischer Inflation und den Spezifika der brasilianischen Geldverfassung s. die Beiträge von Belluzzo/Almeida und von Doellinger in diesem Band sowie Caraeiro/Garcia 1993, und Sachs/Zini 1995.

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Die 90er Jahre scheinen ein Klima zu produzieren, das selbst das bloße Nachdenken über die Möglichkeit eines Moratoriums, sei es der nationalen oder auch der internationalen Verbindlichkeiten, unmöglich macht. Allerdings zeitigten auch weder die peruanische Verweigerung des internationalen Schuldendienstes noch die kurzfristigen Moratorien Brasiliens während der 80er Jahre nennenswerte Erfolge. Der Weg der Vernichtung der internen Staatsschuld im Rahmen eines Währungsschnitts analog zur westdeutschen Währungsreform im Jahr 1948 ist zur Zeit in Brasilien ebenso wenig möglich: Die Währungsreform des Piano Collor im Jahr 1990, die im Kern einen solchen Vermögensschnitt intendierte, endete in einem absoluten Fiasko, so daß weitere Experimente in dieser Richtung praktisch mit einem politischen Tabu belegt sind.

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schwankender Inflationsraten den Realwert der Steuereinnahmen weitgehend zu sichern, die ohne derartige Vorkehrungen aufgrund der zeitlichen Verzögerungen zwischen Feststellung und Leistung der Steuerschuld erheblich sinken würden. Während dieser Schutzmechanismus die inflationären Auswirkungen auf die Einnahmenseite weitgehend zu neutralisieren vermochte, entstand jedoch mit der Praxis der "fiskalischen Repression" (Bacha 1994) eine andersgeartete Abhängigkeit der öffentlichen Hand auf der Ausgabenseite: Nach dem Prinzip des ausgeglichenen Kassenflusses wurden (nominal festgelegte) Ausgaben so lange verzögert, bis die laufende Geldentwertung deren Realwert auf das Volumen der gerade zur Verfugung stehenden Einnahmen gesenkt hatte. Dies fand in Ansätzen schon lange statt, kam aber erst unter der Regierung Collor ab Beginn der 90er Jahre voll zum Tragen. Denn die spektakuläre Währungsreform des Piano Collor, die "mit einem Schuß" die Inflation beseitigen sollte, endete innerhalb kurzer Zeit in einem Desaster und trug entscheidend zur politischen Schwächung des Präsidenten bei. Damit war der Weg zu strukturellen Reformen verbaut. Um wenigstens noch Teilerfolge zu erreichen (zum Beispiel das Verhindern des offenen Ausbruchs einer Hyperinflation) beziehungsweise um Scheinerfolge in strategisch wichtigen Feldern vorweisen zu können (wie die Reform und Modernisierung des Staatsapparats), griff die Regierung Collor in außerordentlich hohem Maße zum Mittel der "fiskalischen Repression". Am Jahresende konnte man tatsächlich den Erfolg eines relativ niedrigen öffentlichen Defizits verbuchen. Diese Scheinlösung der fiskalischen Probleme des Landes öffnete nicht zuletzt für die Korruption enormen Raum. Denn auf diese Weise wurden sämtliche öffentlichen Verpflichtungen — ob nun gesetzlich festgelegte Transfers an Länder und Gemeinden, Ausgaben für Bildung und Gesundheit oder öffentliche Investitionen — einem erneuten und permanenten Verhandlungsprozeß unterworfen, der sich jenseits gesetzlicher Regelungen und im Tauziehen zwischen Exekutive, Legislative und privaten Interessen abspielte und bestenfalls als informell bezeichnet werden kann. Die Politik wurde in weiten Teilen zum Produkt korporatistischer, populistischer und klientelistischer Muster degradiert (vgl. Faucher 1993). Die damit einhergehende Privatisierung des öffentlichen Raums und die zunehmende Personalisierung der Beziehungen zwischen Staat und Markt resultierten in einer weitgehenden Zerstörung der staatlichen Regulationsmechanismen. Präsident Collor trieb den willkürlichen Umgang und die private Aneignung öffentlicher Mittel auf die Spitze und wurde zuletzt eben deshalb des Amtes enthoben (vgl. Fatheuer 1993). Die strukturellen Grundlagen für diese Deformation des Öffentlichen bestanden jedoch schon zuvor. Denn Brasiliens Rückkehr zur Demokratie war nicht nur mit einem bankrotten Staat belastet, sie fand auch ohne die notwendigen Reformen der öffentlichen Institutionen statt. Wie Franco (1995: 207f.) beschreibt, rührt die Schwäche gerade der monetären und fiskalischen Institutionen aus einer Zeit, in der diese lediglich als ausführende Instanzen prioritärer Ziele der nationalen Entwicklungspolitik dienten, die innerhalb einer diskretionären Wirtschaftspolitik autoritären Entscheidungen der Exekutive unterworfen waren. Zudem zeichneten sich die vom Entwicklungsregime der 20

brasilianischen Militärs angelegten Strukturen dadurch aus, daß sie die Fiskalund die Geldpolitik in ein akkomodierendes und letztendlich inflationär wirkendes Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit stellten5 (siehe auch Baer/Paiva in diesem Band). Innerhalb der politischen Öffnung ab Ende der 70er Jahre wurde die Transparenz der öffentlichen Institutionen ein wenig, jedoch nicht ausreichend erhöht. In dem Maße, wie die autoritäre Kontrolle über die Geld- und Fiskalbehörden abnahm, gerieten diese zunehmend außer Kontrolle. Die Nova República, Brasiliens "Neue Republik" nach dem Ende der Militärdiktatur und der Rückkehr zur formalen Demokratie Mitte der 80er Jahre, war hier weniger reformerisch als vielmehr additiv tätig. Da war zum einen die Verfassungsreform von 1988, die eine Vielzahl von Ansprüchen festschrieb. Diese entsprachen zwar weitgehend den Anforderungen der politischen und sozialen Realität, waren aber in den wenigsten Punkten durch die finanziellen Verhältnisse des Staats gedeckt. Zudem erfuhr die Legislative eine Stärkung ihrer Verfügungsmacht über die öffentlichen Gelder, ohne daß gleichzeitig das Parlament durch verbindliche Regelungen darauf verpflichtet worden wäre, tatsächlich nur über die vorhandenen Mittel zu verhandeln. Damit nahm das Parlament de facto eine seiner (zumindest in der Theorie) zentralen Funktionen nicht wahr: als Arena zu dienen, in der die Konflikte um die Verteilung der der Gesellschaft zur Verfugung stehenden Mittel ausgetragen und gelöst werden. Stattdessen fungierte die Inflation als zentrales Schmiermittel zur Scheinlösung eben dieser Verteilungskonflikte. Mit Hilfe einer von vornherein zu niedrig geschätzten Inflationsrate wurden die zu erwartenden Einnahmen künstlich aufgebläht, bis sie die geplanten Ausgaben zu decken schienen. Dieser "fiskalische Irrealismus" führte dazu, daß der Haushaltsentwurf ein Konstrukt wurde, der mit dem tatsächlich realisierten Budget am Ende oft wenig gemein hatte6 (s. hierzu auch Meyer-Stamer in diesem Band). Die Verfassungsreform von 1988 schrieb zudem eine hochgradig föderative Dezentralisierung fest. Der damit erforderliche föderale Ausgleich zwischen Zentralstaat, Bundesstaaten und Munizipien begründete jedoch einen weiteren

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Bestes Beispiel fiir diese Struktur war die Konstruktion des Banco do Brasil, der größten öffentlichen Bank Brasiliens: Diese Finanzinstitution hatte bis zur Schaffung des Banco Central do Brasil im Jahr 1965 einen Teil der Zentralbankfunktionen inne, war traditionell die Hausbank des brasilianischen Zentralstaats und übte auch Geschäftsbankiunktionen aus. Ab Ende der 60er Jahre war sie für die Vergabe eines großen Teils der staatlichen und zinssubventionierten Kredite vor allem an den Agrarsektor, aber auch an andere Bereiche zuständig. Da diese entwicklungspolitisch motivierten Kreditgeschäfte weder kostendeckend noch in diesem Umfang durch die Einlagen der Bank gedeckt waren, hatte der Banco do Brasil das Recht, im Rahmen der sog. conta de movimento ihr dadurch entstandenes Defizit schlicht und automatisch durch Geld der Zentralbank zu decken. Damit erhielt der Banco do Brasil über lange Zeit de facto das Recht der Geldschöpfung zur Exekution der staatlichen Entwicklungspolitik.

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Die Parlamentarier nutzten die fiktive Aufwertung der Einnahmen zudem, um mit den — ebenso fiktiven — verfügbaren Einnahmenüberschüssen sog. "emendas" für die Region zu beantragen, in der sie ihre jeweilige Wählerbasis hatten. Eben diese Projekte öffnen dem Klientelismus und der Korruption Tür und Tor.

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Aspekt der Verzerrungen der öffentlichen Haushalte. Denn hier fand in erster Linie eine Umverteilung öffentlicher Mittel zugunsten der Bundesstaaten und Gemeinden statt, der jedoch keine entsprechende Dezentralisierung der öffentlichen Aufgaben und Aufwendungen folgte (vgl. Resende 1995). Somit war auch hier ein strukturelles Defizit auf Bundesebene angelegt. Dies vertiefte die öffentliche Abhängigkeit vom Inflationsprozeß insofern, als dieser zum Mechanismus der schleichenden Entwertung von verbrieften Ansprüchen an den Nationalstaat erwuchs. Zudem engte das hohe Maß der per Verfassung festgelegten Ausgaben den möglichen Handlungsspielraum einer jeden Zentralregierung für die nationale Stabilitätspolitik weitgehend ein. Eine fiskalische Austeritätspolitik war auf legalem Wege und ohne Drei-Fünftel-Mehrheiten im Parlament kaum noch möglich. Damit mußte das Arsenal der zur Inflationsbekämpfung zur Verfügung stehenden Instrumente weitgehend auf die Einkommenspolitik beschränkt bleiben, da ja die Geldpolitik ihrerseits weitgehend an die Fiskalpolitik gebunden war (vgl. hierzu erneut von Doellinger in diesem Band). Dies mag zumindest teilweise den wiederholten Rückgriff auf die immer unpopuläreren Lohn- und Preisstopps erklären, obwohl deren Wirkungslosigkeit in Brasilien inzwischen längst erwiesen war7. Krise der öffentlichen Finanzen als Konsequenz der erfolgreichen Währungsreform Es war den an der Konzeption des Piano Real Beteiligten mehr als klar, daß dieses potentielle Fiskaldefizit, das strukturell angelegt war und bis einschließlich 1993 vor allem dank inflationärer Hilfsmittel weitgehend unterdrückt werden konnte, als Folge der Stabilisierung explosionsartig ansteigen würde8. Brasilien hatte also mit einem umgekehrten Olivera-Tanz/-Effekt zu rechnen: daß nicht die Inflation, sondern im Gegenteil die erfolgreiche Inflationsbekämpfung das öffentliche Defizit verschärfen könnte. Die exakte Analyse des "fiskalischen Irrealismus" und des endogenen Effekts der sinkenden Inflationsraten, der zu einem automatischen Anstieg der öffentlichen Ausgaben führen würde, findet sich deshalb auch in der offiziellen Begründung des Stabilisierungsprogramms wieder, als Fernando Henrique Cardoso es noch als Finanzminister Ende 1993 ankündigte (Ministerio da Fazenda 1993). Aus diesem Grunde verabschiedete die Regierung als erste Stufe des Stabilisierungsprogramms und zur präventiven Senkung des öffentlichen Defizits drei Monate vor Einführung der neuen Währung ein Maßnahmenpaket namens Fundo Social 7

Siehe hierzu vertiefend Bomfim/Shah (1994), die die Auswirkungen des brasilianischen Föderalismus auf die makroökonomische Politik untersuchen, und Rezende (1995), der diese Analyse im Zusammenhang mit der föderalen Ausgleichspolitik regionaler Disparitäten sowie regionalpolitischer Interessen analysiert.

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Nicht zuletzt nahmen gerade Edmar Bacha und Gustavo Franco, die wichtige Beiträge zu dieser Analyse geleistet hatten (vgl. Bacha 1994 und Franco 1995), zentrale Funktionen bei der Konzeption des Piano Real ein.

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de Emergencia (FSE — Sozialer Notfonds). Trotz der ähnlichen Namensgebung hat dieser "Soziale Notfonds" nichts gemein mit jenen Sozialfonds, die unter anderem von der Weltbank in anderen Ländern aufgelegt worden sind, um die sozialen Härten von Strukturanpassungsprogrammen abzufedern. Vielmehr handelt es sich bei dem brasilianischen FSE um einen Fonds, mit dem ausschließlich Finanzierungslücken des öffentlichen Haushalts geschlossen werden. Ziel war es, für die Dauer von zwei Jahren mittels Steuererhöhungen und der Reduzierung von im Grundgesetz festgeschriebenen föderalen Transfers das potentielle Defizit zu senken, das die Experten für den Fall einer erfolgreichen Währungsreform vorhersahen. Denn selbst im Idealfall sicherer politischer Mehrheiten und einer hinter dem Oberziel der Währungsstabilität geeinten Gesellschaft war abzusehen, daß die Umsetzung und Wirksamkeit der notwendigen strukturellen Reform der öffentlichen Finanzen einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Die Umsetzung des Piano Real zeitigte im fiskalischen Bereich Ergebnisse, die in einigen Punkten überraschend positiv waren. So stiegen direkt im Gefolge der abrupten Inflationssenkung die Steuereinnahmen bemerkenswert deutlich: Im Jahr 1994 erhöhten sich diese gemäß offiziellen Angaben (Ministerio da Fazenda 1995) um 11,5% gegenüber dem Voijahr — womit sie allerdings gerade einmal das Volumen von Mitte der 80er Jahre wieder erreichten. Für das Jahr 1995 wird eine erneute Steigerung von 8,5% geschätzt. Welchen Beitrag der FSE, der wegen der damit verbundenen Steuererhöhungen durchaus umstritten war, dazu geleistet hat, ist schwer festzustellen. Selbst die Steuerspezialisten, die eigentlich davon ausgegangen waren, daß die Indexierung die staatlichen Einnahmen vor Inflationsverlusten fast vollständig geschützt hätte, zeigten sich von den positiven Auswirkungen der monetären Stabilität angenehm überrascht. Wahrscheinlich aber ist, daß letztendlich das hohe Wirtschaftswachstum gerade im ersten Jahr des Piano Real den größeren Ausschlag gegeben hat. Allerdings stiegen die öffentlichen Ausgaben in diesem Zeitraum noch schneller als die Einnahmen. Deshalb stieg das operationale Defizit (das die Einnahmen und Ausgaben inflationsbereinigt mißt) 1995 auf 5% des BIP, während für das Voijahr noch ein Überschuß von 1,3% erzielt werden konnte. Besonders deutlich ist — wie aus der Tabelle 1 ersichtlich — das Defizit auf der Ebene der Bundesstaaten und Munizipien angestiegen. Auch nach Abzug des Schuldendienstes verblieb gerade einmal ein Primärüberschuß von 0,4% (1994: +5,2%). Selbst um dieses Ergebnis zu erreichen, mußte vor allem der Bund seine Ausgaben für öffentliche Investitionen, Bildung und Gesundheit effektiv reduzieren9. Die erhöhten Ausgaben des Jahres 1995 sind zum einen sicherlich dem Anstieg des öffentlichen Schuldendienstes von 3,8% auf 5,4% des BIP zuzuschreiben,

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Trotz der Erklärungen Cardosos, daß die Sozialpolitik unter seiner Regierung Präferenz erhalte, hat eine Studie des IPEA ergeben, daß in den ersten neun Monaten Uber die Hälfte der Mittel zurückgehalten wurden, die im Bildungs- und Gesundheitsbereich speziell für Kinder und Jugendliche vorgesehen waren. Normalerweise hätten zu diesem Zeitpunkt schon über 75% dieser Mittel ausgegeben sein müssen (Folha de Säo Paulo, 12.2.96).

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der aus der Hochzinspolitik der Zentralbank in der zweiten Phase des Piano Real resultierte. Mindestens ebenso bedeutsam schlugen sich die erhöhten Kosten für öffentliche Löhne, Gehälter und Rentenzahlungen in den Staatskassen nieder, die in besonders hohem Ausmaß der fiskalischen Repression ausgesetzt gewesen waren. Gerade Rentenansprüche konnten zuvor, da die Betroffenen über keine wirksame Interessenvertretung verfugten, mit Leichtigkeit in hohem Ausmaß entwertet werden; aber auch der überwiegende Teil der öffentlichen Löhne war in den Voij ahren zumindest phasenweise nur sehr unzureichend an die Inflation angepaßt worden. Die Mehrzahl der Bundesstaaten und Munizipien wurde vom Anstieg dieser beiden Posten noch härter getroffen als der Bund: zum einen sind — teilweise auch vorgegeben durch die föderale Arbeitsteilung — ihre Ausgaben anteilmäßig stärker mit öffentlichen Lohn- und Gehaltszahlungen belastet. Viele Gouverneure melden einen Personalkostenanteil von bis zu 85% ihrer Gesamtausgaben. Dementsprechend traf es sie besonders hart, daß diese Verpflichtungen jetzt in vollem Umfang zu begleichen und nicht mehr ohne weiteres per Inflation zu entwerten sind. Auch wenn dies nicht der einzige Faktor gewesen ist10, so hat er doch wesentlich dazu beigetragen, daß die Verschuldung der Bundesstaaten und Munizipien im ersten Jahr nach der Einfuhrung des Real eine annähernde Verdoppelung erfahren hat. Diese Entwicklung ist nicht nur für die betroffenen Regionen problematisch. Denn gleichzeitig erhöht sich potentiell auch der Druck seitens der unteren föderalen Ebenen, den Zentralstaat mit der möglichen Verweigerung ihrer politischen Unterstützung zur einmaligen oder auch dauerhaften Übernahme von Verbindlichkeiten und Verpflichtungen zu drängen. Die Bekämpfung des strukturellen Defizits auf Bundesebene würde jedoch eigentlich das Gegenteil erfordern. Angesichts der Fülle der ungelösten fiskalischen Probleme gerade innerhalb des föderalen Systems sind an genau diesen Punkten wohl noch massive Verteilungskonflikte zu erwarten, die auch den nationalen Konsens für die Stabilitätspolitik ernsthaft bedrohen können. Die Landesbanken und der Staatshaushalt Virulent wurde dieser spezifische Verteilungskonflikt im ersten Jahr nach Einführung des Real bei den wichtigsten Landesbanken, den bancos estaduais. Diese Banken sind öffentliche Finanzinstitutionen, die sowohl Funktionen von Entwicklungsbanken wahrnehmen, als Hausbanken ihrer jeweiligen bundesstaatlichen Regierungen fungieren wie auch als Geschäftsbanken analog zu privaten Banken tätig sind. Die Bundesstaaten sind die Haupteigner dieser Landesbanken. Schon wenige Monate nach Einführung der neuen Währung, im Dezember 1994, sah sich die brasilianische Zentralbank gezwungen, bei einigen dieser Landesbanken zu intervenieren, um deren finanziellen Kollaps zu verhindern. Die 10

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Es ist darauf hinzuweisen, daß sich die verschiedenen bundesstaatlichen Regierungen teilweise erheblich unterscheiden, was die Qualität und das Finanzgebaren ihrer Verwaltungen angeht.

Zentralbank stellte unter anderem die Bank des Bundesstaates von Säo Paulo, die Banespa, und die von Rio de Janeiro, die Banerj, unter ihre Notverwaltung. Akuter Auslöser war die Verschlechterung des Bankengeschäfts in Brasilien durch den Wegfall des Inflationsgeschäfts gewesen (s. den Beitrag von Carvalho in diesem Band). Dahinter zeigte sich jedoch eine strukturelle Krise, die weitgehend aus dem Mißbrauch der Finanzinstitutionen durch ihre Eigentümer, die bundesstaatlichen Regierungen, herrührte. Diese bedienten sich offensichtlich — ob zur Finanzierung von ungedeckten Ausgaben, von Wahlkampagnen, oder auch zur Vergabe vergünstigter Kredite an politische Freunde — ihrer Banken, ohne ihren Schuldnerverpflichtungen in entsprechendem Maße nachzukommen. Zudem wurde in einigen Fällen die legale Grenze des Kreditvolumens, das anteilsmäßig auf einen einzigen Kunden konzentriert werden darf, deutlich überschritten. Gerade die Banespa, aber auch andere öffentliche Finanzinstitutionen mußten nicht zum ersten Mal von der Zentralbank gerettet werden; schon mehrfach wurde die oberste Geldbehörde im Lauf der 70er und 80er Jahre zur Sanierung und Refinanzierung der Landesbank von Säo Paulo gezwungen, indem die parlamentarischen Vertreter des Bundesstaats drohten, ihre Zustimmung für politische Proj ekte der Zentralregierung zu verweigern. Diese Sanierung implizierte die "Zentralisierung" von fiskalischen Defiziten einzelner Regionen im Tausch für politische Zugeständnisse. Angesichts der knappen Mittel des Bundeshaushalts bedeutete dies potentiell immer eine Abwälzung dieser Belastungen auf die zentralen Geldbehörden; die Zentralbank wurde auf diese Weise zur Monetisierung öffentlicher Defizite gezwungen. Die im Sinne der Währungsstabilität klarste Lösung wäre die Privatisierung dieser Landesbanken gewesen, notfalls auch zum symbolischen Preis eines Real: Dies wäre ein deutliches Signal dafür, daß der Staat der Inflationsbekämpfung tatsächlich oberste Priorität gibt. Die "monetaristischen" Vertreter der Zentralbank favorisierten eindeutig diese "Treuhand"-Strategie der reinen Marktlösung. Sie konnten sich angesichts der politischen Realitäten jedoch nicht durchsetzen; vor allem der Gouverneur von Säo Paulo, der zudem derselben Partei angehört wie der Präsident, stemmte sich gegen eine solche Privatisierung, weil die Liquidierung seiner Hausbank und die komplette Übernahme der Schulden seines Vorgängers eine untragbare Einengung seines politischen Handlungsspielraums und den finanziellen Bankrott des Bundesstaats bedeutet hätte. Am Ende kam gerade für den nicht nur finanziell schwerwiegendsten, sondern auch politisch richtungsweisenden Krisenfall der Banespa eine Kompromißlösung heraus. Recht pragmatisch wurde dabei die endgültige Lösung der Beziehungen zwischen Bundesstaaten und öffentlichen Banken vertagt, dem Gouverneur von Säo Paulo vorläufig weiterhin die mehrheitliche Eignerschaft an der Landesbank zugesprochen und die aufgelaufenen Verluste zwischen Zentralregierung und Bundesstaat aufgeteilt — wobei jedoch ersterer kurzfristig die größeren Lasten aufgebürdet wurden. Die direkte Monetisierung der Verluste — und dies war ja für die aktuelle Aufrechterhaltung der Stabilität von zentraler Bedeutung — konnte jedoch verhindert werden. Unverändert bleibt damit aber eine grundlegende 25

Neuordnung der öffentlichen Finanzinstitutionen auf der Tagesordnung, die eine klare Hierarchie zwischen Geld- und Fiskalpolitik herstellt und damit strukturell unterbindet, daß die monetäre Budgetrestriktion wie bisher von regionalen Interessen untergraben werden kann. Die Strukturreformen und ihr Beitrag zur Sanierung der öffentlichen Finanzen Die Regierung Fernando Henrique Cardoso trat im Januar 1995 nicht nur mit dem Versprechen der Währungsstabilität an, sondern auch mit dem Vorhaben, eine Anzahl von großen, seit Jahren immer wieder aufgeschobenen Strukturreformen durchzusetzen. Als Schlüsselbereiche wurden die Öffnung von Staatsmonopolen und die Privatisierung von Staatsbetrieben sowie die Reform des Steuersystems, der Sozialversicherung und die Reform der öffentlichen Verwaltung benannt. Der Präsident, vor Beginn seiner politischen Karriere einer der prominentesten linken Sozialwissenschaftler Lateinamerikas, erklärte auch nach seinem Amtsantritt wiederholt, daß seine Absicht keineswegs die simple Substitution des Staats durch den Markt sei. Vielmehr gehe es um eine Neuordnung des Staates, die nicht zuletzt dessen Regulations- und Interventionskapazitäten stärken soll, damit Brasilien die notwendige Transformation zu einer aktiven Weltmarktintegration bewältigen kann. Es ist bemerkenswert, in welch hohem Ausmaß die neue Regierung in ihren ersten Monaten politische Mehrheiten rund um das prioritäre Ziel der Erhaltung der Währungsstabilität sammeln konnte. Denn die kleine Partei des Präsidenten, die PSDB {Partido da Social Democracia Brasileira) verfugte weder allein noch mit ihren formalen Koalitionspartnern PFL {Partido da Frente Liberal) und PTB {Partido Trabalhista Brasileiró) über eine ausreichende Mehrheit in Senat und Abgeordnetenhaus11. Nach den gewonnenen Wahlen schloß sich eine Vielzahl weiterer Parteien formal der Regierungskoalition an, die dieser theoretisch eine bequeme Mehrheit in beiden Kammern verschafft. In der Praxis kann die Regierung darauf jedoch nicht zählen, da bei der Mehrzahl der im Parlament vertretenen politischen Gruppierungen Fraktionsdisziplin kaum existiert. Dies gewinnt besonderes Gewicht, da die für die Strukturreformen nötigen Verfassungsänderungen in mehrfachen Abstimmungen jeweils eine 60prozentige Mehrheit erfordern. Daß dennoch die Umsetzung einer ganzen Reihe als zentral eingestufter Verfassungsreformen gelang, ist daher als großer politischer Erfolg der Regierung Cardoso zu werten. Dem Präsidenten selbst wird dabei ein großes Verhandlungsgeschick zugesprochen, das zur Überwindung der weitgehenden Reformblockade seit Beginn der Nova República maßgeblich beigetragen habe. Dabei hatte aber ohne Frage sein Anfangserfolg der abrupten Inflationssenkung, die bis dahin praktisch frei von

Für eine genauere Darstellung und Analyse der Ergebnisse sowohl der Präsidentschaftswahlen als auch der Wahl der Gouverneure und eines Teils der Parlamente auf Bundes- und Länderebene vgl. Calcagnotto 1995: 25ff.

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sozialen Kosten erreicht werden konnte, die entscheidenden Voraussetzungen für die hohe Durchsetzungsfähigkeit des Präsidenten geschaffen. Die Mehrzahl der Reformen wird jedoch erst mittel- und langfristig eine Erleichterung für die Staatskassen bringen. Für einen großen Teil der Verfassungsreformen sind zudem noch sogenannte ausführende Gesetze notwendig, die mit einfacher Mehrheit beschlossen werden können und die eher technischen Details regeln — dennoch ein oftmals sehr zeitaufwendiger Vorgang. Deshalb konnte der Fiskalausgleich, der auch im zweiten Jahr nach der Währungsreform überaus prekär ist und nach wie vor die größte Bedrohung für die Aufrechterhaltung der Stabilität darstellt, bisher nur geringfügig durch die strukturellen Reformprojekte gestützt werden. Zudem hat sich erwiesen, daß sich die Bereitschaft der politischen Elite Brasiliens zur Modernisierung lediglich auf Teilaspekte beschränkt. Das erste Reformpaket der Regierung konzentrierte sich auf die Lockerung der Staatsmonopole in strategischen Bereichen wie dem Erdölsektor und der Telekommunikation, wo zukünftig private Beteiligungen möglich sein werden. Längerfristig ist auch der vollständige Verkauf dieser lukrativen Bereiche vorgesehen. Vorerst konnten jedoch für das erste Regierungsjahr direkte Einnahmen aus Privatisierungen nur in Höhe von etwa einer Milliarde Dollar erzielt werden. Für die nächsten Jahre sind hier jedoch höhere Zuflüsse zu erwarten — dies umso mehr, als sich die Regierung aufgrund des Zustands der öffentlichen Finanzen genötigt sieht, das Privatisierungsprogramm zu beschleunigen, selbst wenn damit wahrscheinlich insgesamt die Erlöse für die veräußerten Betriebe reduziert werden. Der Verlauf der weiteren Reformprojekte verschafft dem Staatshaushalt bisher wenig direkte finanzielle Entlastung: Die Reform der Rentenversicherung beispielsweise, die ursprünglich gleich in den ersten Monaten nach Regierungsantritt abgestimmt werden sollte, mußte nach anfanglichen Diskussionen wieder zurückgezogen werden. Die gleichzeitige Diskussion über die Deregulierung der öffentlichen Monopole, die Steuer- und die Rentenreform gleich zum Regierungsantritt hatte offensichtlich eine übergreifende "Koalition der Unzufriedenen" (Iffly 1995) geschaffen, die zwar überaus heterogen zusammengesetzt war, gemeinsam aber über die Macht verfügte, sämtliche Reformprojekte zu blockieren. Die politische Lösung der Exekutive bestand in einer zeitlichen Entzerrung. So konnten jeweils die bedrohten Interessen einzelner Gruppen oder Lobbies entweder in eine Minderheitenposition gedrängt oder mit einem partiellen Entgegenkommen (zum Beispiel bei der Vergabe von öffentlichen Posten) bedient werden. Teilweise, zum Beispiel im Falle der mächtigen Agrarlobby, waren auch kostspielige Zugeständnisse in Form einer Refinanzierung landwirtschaftlicher Altschulden von einigen tausend Großgrundbesitzern notwendig. Allein diese Episode kostete den Staatshaushalt im Jahr 1995 etwa R$ 1,5 Mrd. Dieses politische Kalkül ging in der Anfangsphase trotz allem auf, weil die Exekutive mit ihren Stabilisierungserfolgen eine äußerst breite Legitimationsbasis erworben hatte. Diese machte es für keinen der politischen Vertreter opportun, gegen Reformen zu stimmen, die der dauerhaften Absicherung der Inflationsbekämpfung dienlich waren. Inzwischen scheint die Kohäsionsfunktion der 27

"nationalen Frage" der monetären Stabilität jedoch an Kraft verloren zu haben, da ja die Inflation scheinbar längst der Vergangenheit angehört. Das Reformtempo hat sich dementsprechend deutlich verlangsamt. Kein Schritt vor, zwei Schritte zurück: Die Reform des Steuersystems Die Grenzen des Modernisierungsprojekts der Regierung Cardoso zeigen sich besonders deutlich an den bisherigen Ergebnissen im Bereich der geplanten Steuerreform. Diese wäre von zentraler Bedeutung für die Erhöhung der öffentlichen Einnahmen und damit für die nachhaltige Fundierung der Stabilitätspolitik. Zudem sah die Regierung in ihrem ursprünglichen Reformkonzept vor, die Verteilung von Aufgaben und Transfers im föderalen Verbund neu zu bestimmen und den Entscheidungsspielraum der Zentralregierung durch eine weitgehende "Entkonstitutionalisierung" der Steuergesetzgebung zu erhöhen. Gleichzeitig war auch vorgesehen, eine Vielzahl von strukturellen Verzerrungen zu beseitigen12. Zumindest in der ursprünglichen Planung war es eines der wichtigsten Ziele der Reform, die deutliche Regressivität des Steuersystems zu mildern und dabei gleichzeitig die Steuerbasis zu verbreitern. Denn Cardosos berühmt gewordenes Diktum, daß Brasilien kein unterentwickeltes, sondern ein ungerechtes Land sei, gilt für das brasilianische Steuersystem in besonderem Maße: Das Gros der Einnahmen stammt aus Konsumsteuern, die ausgerechnet die unteren Einkommensgruppen überproportional treffen, und aus Lohn- und Einkommensteuern der abhängig beschäftigten Mittelklasse, die sich aufgrund der Steuererhebung direkt an der Quelle ihren Zahlungspflichten nicht entziehen kann. Überaus erhellend ist eine Studie der Nationalen Steuerbehörde, die die in Brasilien gültigen Steuersätze mit denen der Industrieländer der G-7 vergleicht (Gazeta Mercantil, 17.8.1994). Einzig die effektive Steuerquote auf Konsumgüter liegt in Brasilien mit 16,75% höher als in den Vergleichsländern, wo sie im Durchschnitt 12,65% beträgt. Ganz im Gegensatz dazu steht das Verhältnis der Kapitalbesteuerung: Während diese in den Industrieländern bei 38,43% liegt, beläuft sie sich in Brasilien auf gerade einmal 8,18%. Der Faktor Arbeit erfährt in Brasilien zwar mit 16,75% die höchste Besteuerung, fällt aber damit immer noch deutlich geringer aus als in den G-7-Staaten, in denen er bei durchschnittlich 33% liegt. Hinzu kommt noch, daß - nach eigenen Schätzungen der Steuerbehörde auf jeden erhobenen Real ein Real an hinterzogenen Steuerpflichten kommt13.

Hierunter fällt beispielsweise die hohe Besteuerung von Exporten, eine im internationalen Vergleich heutzutage unübliche Praxis, die die Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen Exporte stark beeinträchtigt. In diesem Bereich wurden schon in den ersten Monaten nach der Währungsreform erste wichtige Schritte zur steuerlichen Entlastung unternommen, da die nationalen Exporteure aufgrund der raschen realen Aufwertung der einheimischen Währung eine zumindest partielle Kompensation der dadurch entstandenen Wettbewerbsnachteile forderten. Die Studie nennt als Extrembeispiel die Steuererklärungen der " 100 Reichsten" des Landes, von denen eine relevante Anzahl äußerst geringe bis keine zu versteuernde Einkommen deklariert hatte.

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Angesichts dieser Verhältnisse ist es also nicht verwunderlich, wenn viele brasilianischen Unternehmer über zu hohe Steuerlasten klagen: Wer seinen Verpflichtungen dem Fiskus gegenüber in vollem Umfang nachkommt, hat tatsächlich einen eklatanten Wettbewerbsnachteil gegenüber seinen — hinterziehenden — Konkurrenten. In diesem Kontext wirkt auch die bisherige Politik, den prekären Fiskalausgleich mit der Erhöhung bestehender Steuern zu sichern, problemverschärfend. Der einzig mögliche Ausweg aus diesem Dilemma wäre die rigorose Durchsetzung der Steuereintreibung und die harte Sanktionierung von Steuerbetrug, mit der eine flächendeckende Erfüllung der Steueipflichten erreicht werden könnte. Hier hat die Regierung Cardoso trotz der bisher erreichten Teilerfolge noch einen langen Weg vor sich. Natürlich ist es wohl immer schwierig, Steuererhöhungen durchzusetzen; dies gilt umso mehr in einer Phase, in der dringend Investitionsanreize geschaffen werden müssen. Der größte Teil des ursprünglichen Projekts mußte denn auch wegen Undurchsetzbarkeit für unbekannte Zeit vertagt werden. Doch gemessen am Ziel einer größeren Steuergerechtigkeit bedeutet der Teil der Steuerreform, der bis Ende 1995 umgesetzt werden konnte, einen Schritt in die völlig falsche Richtung. Zum einen wurde die Einkommensteuer für juristische Personen von bisher 25 auf 15% gesenkt (bei gleichzeitiger Abschaffung einiger Abschreibungsregeln, deren Auswirkung auf die effektive Steuerbelastung jedoch unklar bleibt). Zum anderen wurde die oberste Steuerklasse der persönlichen Einkommensteuer schlichtweg abgeschafft. Damit werden auch die höchsten Einkommen in Brasilien mit maximal 25% besteuert (zum Vergleich: in der BRD beträgt der Höchststeuersatz 53%)14. Wo in den USA die "Reaganomics " der 80er Jahre die Notwendigkeit massiver Steuersenkungen damit begründeten, daß zu hohe Staatsabgaben den Leistungswillen der Steuerpflichtigen unterdrückten, dient in Brasilien als zentrale Rechtfertigung das Argument, daß geringere Steuerverpflichtungen einen Anreiz zur geringeren Steuerhinterziehung böten. Im Endergebnis hat die Regierung in Brasilia jedoch ganz offensichtlich dem Druck der ökonomischen Elite nachgegeben, die unwillig ist, Steuerzahlungen zu leisten. Zwischenfazit Eine Vielzahl von Faktoren lassen es, wie gezeigt, als unwahrscheinlich erscheinen, daß Brasilien in absehbarer Zeit einen ausgeglichenen Staatshaushalt wird erzielen können. Wie von Finanzexperten erwartet, stieg mit dem Eintritt der Stabilität das Fiskaldefizit trotz der real deutlich erhöhten Steuereinnahmen aus endogenen Nach der vorgenommenen "Vereinfachung" bleiben in Brasilien nur noch drei Einkommenssteuerklassen: die Höchststeuer von 25% wird fällig, wenn der monatliche Verdienst ein Niveau von monatlich R$ 1.800 überschreitet (dies entspricht, zum DM-Wechselkurs von R$ 0,68 am 31.12.95, einem Einkommen von ca. 2.650 DM). Als zweites gibt es die Steuerklasse für Monatseinkommen bis zu R$ 900 (1.325 DM), für die ein Steuersatz von 15% gilt. Alle darunter liegenden Löhne und Einkommen genießen Steuerfreiheit.

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Gründen an: Das potentielle, mittels der "fiskalischen Repression" bis dato künstlich unterdrückte Defizit verwandelte sich nun dank der stabilen Währung in ein reales Defizit. Um diesen strukturell angelegten öffentlichen Ausgabenüberschuß dauerhaft zu senken, wäre erstens eine Veränderung der in der Verfassung angelegten föderalen Verteilung von Aufgaben und Transfers nötig, um den Zentralstaat zu entlasten; die erforderlichen Verschiebungen innerhalb des politischen Machtgefuges scheinen derzeit jedoch nicht gegeben zu sein. Zum zweiten erfordert es relativ lange Zeitspannen, bis die bisher durchgesetzten Strukturreformen fiskalisch wirksam werden. Drittens hat sich gezeigt, daß die realpolitischen Spielräume für eine progressive Umverteilung, die für eine Verbreiterung der Steuerbasis und eine Erhöhung des Steueraufkommens unabdingbar wäre, mehr als gering sind. Daß angesichts dieser Lage die öffentlichen Mittel für die Bildungs- und Sozialpolitik weiterhin mehr als knapp bemessen sein werden und sogar real sinken, wird damit zu einer deprimierenden Selbstverständlichkeit. Vorläufig hat die Regierung einen Ausweg aus der fiskalischen Klemme gefunden, indem sie die Verlängerung des FSE, des sogenannten Sozialen Notfonds, um weitere 18 Monate durchgesetzt hat. Mit Hilfe der linearen Erhöhung aller Steuern, einer Sondersteuer auf Finanztransaktionen und der Verringerung der Transfers an Bundesstaaten und Gemeinden soll dieses Notprogramm nun über die Dauer von insgesamt fast vier Jahren die öffentlichen Finanzen annähernd unter Kontrolle halten. Ungelöst bleibt damit weiterhin der hinter diesen fiskalischen Problemen letztendlich bestehende gesellschaftliche Verteilungskonflikt. Dieser Zustand der prekären und nur vorläufigen Lösungen kann jedoch nur wenig dazu beitragen, daß das Vertrauen der nationalen und internationalen Investoren in die Beständigkeit der erreichten monetären Stabilität wächst und eine tragfahige Wirtschaftsdynamik in Gang setzt. Solange jedoch dies nicht der Fall ist, muß auch weiterhin die Stabilität der neuen Währung in erster Linie mit einem hohen Realzinsniveau aufrechterhalten werden. Die verteilungspolitischen Konsequenzen dieser Stabilisierungskrise werden im folgenden Abschnitt im Zusammenhang mit den spezifischen Auswirkungen auf die verschiedenen Sektoren der brasilianischen Ökonomie untersucht.

2. Umverteilungsprozesse im Gefolge der Inflationssenkung Die Frage nach den Verteilungswirkungen der Inflation bzw. der Abwesenheit von Inflation im Brasilien der 90er Jahre ist einer der zentralen Brennpunkte, wenn über den Piano Real diskutiert wird. Die hohe Bedeutung dieser Frage rührt nicht zuletzt aus dem Problem, daß die formal-demokratische Gleichheit der Nova República einerseits mit einer ökonomischen und sozialen Realität kontrastiert, in der die Gegensätze immer eklatanter auseinanderklaffen. Offensichtlich vermochte hieran auch die Konsolidierung der politischen Institutionen nichts zu ändern. Über die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung ist vom Marktgeschehen, 30

das heißt vom formalen Arbeits- und vom Konsummarkt ebenso weitgehend ausgeschlossen wie von staatlichen Transfers. Im Jahr 1994 verfugte das oberste ein Prozent der brasilianischen Bevölkerung über ein höheres Einkommen als die gesamte untere Hälfte der brasilianischen Bevölkerung. Die tiefe Spaltung zwischen Armen und Reichen manifestiert sich im Alltag nicht zuletzt durch ein Ausmaß an Gewalt, das diese längst für die gesamte Gesellschaft zum drängenden und allgegenwärtigen Problem gemacht hat. Heute ist weder die Tatsache der weitgehenden Exklusion der Bevölkerungsmehrheit noch das gesellschaftliche Bewußtsein darüber aus den politischen, ökonomischen und den sozialen Prozessen wegzudenken. Die Folge der hochgradigen Exklusion ist jedoch keineswegs eine streng duale Ökonomie und Gesellschaft; vielmehr ergibt sich eine Heterogenität von Wirtschaftsweisen und Lebensbedingungen, die weder in ihrer ganzen Breite noch in der Vielfältigkeit der wechselseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten vollständig erfaßbar ist. Die Analyse der Auswirkungen eines monetären Stabilisierungsprozesses unterliegt dabei immer der Beschränkung, aufgrund ihrer makroökonomischen Betrachtungsweise und der Fokussierung von monetären Beziehungen wenig mehr als den "modernen", also den am weitesten in die Geldwirtschaft integrierten Teil dieses heterogenen Gebildes erfassen zu können (Nitsch 1993). Je stärker eine wirtschaftliche Aktivität durch ihre Informalität gekennzeichnet, also der Subsistenz- bzw. Familienökonomie zuzuordnen ist, desto mehr droht sie aus diesem Blickfeld zu verschwinden; eine Einengung, die im Rahmen dieser Untersuchung nicht behoben werden kann, hiermit jedoch zumindest explizit benannt werden soll. Innerhalb dieser Grenzen zeigt sich jedoch, daß sowohl der konjunkturelle Verlauf des Stabilisierungsprogramms als auch die Entwicklung des Arbeitsmarkts und einiger von der Stabilisierung und der Außenöffnung besonders betroffenen Bereiche eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen, die neue Einblicke in Verfassung und Dynamik der brasilianischen Ökonomie erlauben. Der brasilianische stop-and-go-Zyklus

zwischen Inflation und Stabilisierung

Die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens ist seit Beginn der 80er Jahre durch einen deutlich ausgeprägten zyklischen Verlauf gekennzeichnet, der zwar nicht ausschließlich, aber weitgehend durch die chronische Inflation und die verschiedenen Versuche zu ihrer Bekämpfung bestimmt wurde. Diese wiederholte stop-and-go-Politik bezeichnet normalerweise den Wechsel zwischen orthodoxer Stabilisierungspolitik und weicher Geldpolitik: Da die orthodoxe Hochzinspolitik zwar langfristig zur monetären Stabilität zu fuhren vermag, zwangsläufig aber mit ökonomischer Stagnation und Rezession verbunden ist und deshalb hohe soziale Kosten verursacht, wird sie nach einiger Zeit zugunsten einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik mit geringen bis real negativen Zinsen (oder gar einer Geldpolitik des laisser-faire) aufgegeben. Dies kann aufgrund des Drucks einzelner Interessengruppen — zum Beispiel der nationalen Unternehmerschaft — auf den Staat 31

geschehen oder auch aufgrund des drohenden Legitimitätsverlustes der Regierung (bzw. eines Popularitätsverlustes und damit drohender Wahlniederlagen innerhalb eines demokratischen Systems). Die weiche Geldpolitik kann aber nur so lange aufrecht erhalten werden, bis die kumulative Inflation wieder ein untolerierbar hohes Niveau erreicht hat, das erneut orthodoxe Stabilisierungsmaßnahmen erfordert. Damit beginnt der Kreislauf von neuem — eine Entwicklung, wie sie in vielen lateinamerikanischen Ländern während der 80er Jahre zu beobachten war. Der brasilianische stop-and-go-Zyklus ist darüber hinaus in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen ergibt sich bei genauerer Betrachtung ein deutlich modifizierter Zyklus, da ein Teil der unternommenen Stabilisierungsversuche ab den 80er Jahren keine Stabilisierungskrise in Form einer Rezession, sondern im Gegenteil in der Anfangsphase einen deutlichen Wirtschaftsboom auslöste. Das erste Stabilisierungsprogramm von 1981-83 direkt nach Ausbruch der internationalen Schuldenkrise, das die klassisch-orthodoxen Züge der IWF-Programme trug, hatte sich noch "modelltypisch" verhalten und eine schwere Rezession auf dem Binnenmarkt nach sich gezogen. Anders verlief dann allerdings der heterodoxe Piano Cruzado im Jahr 1986: Dieser senkte abrupt die Inflation und verursachte gleichzeitig in der Anfangsphase einen deutlichen Anstieg der Binnennachfrage — der Zyklus hatte sich also quasi verkehrt. Nach dem Scheitern dieses Programms (s. auch Macedo im vorliegenden Band) kehrte man dann wieder zu einer orthodoxen Politik der Verknappung des Geldangebots zurück. Diese vermochte allerdings nicht, die Inflation effektiv zu bekämpfen, sondern lediglich ihren Anstieg auf allzu hohe Raten zu verhindern, verursachte aber trotzdem eine wirtschaftliche Rezession — die "schlimmste aller Welten", die Stagflation' 5 . Zum zweiten ist bemerkenswert, daß im Rahmen dieser stop-and-go-VoWük die brasilianische Inflation in den 90er Jahren auf ein Niveau anstieg, das in der Mehrzahl aller Länder (einschließlich der chronischen Inflationsökonomien) mit hoher Wahrscheinlichkeit zum offenen Ausbruch einer Hyperinflation mit all ihren zerstörerischen Auswirkungen gefuhrt hätte. Nicht so in Brasilien: In der Phase von 1992 bis 1994 stieg die Inflation zwar auf 30 bis 40%16 monatlich an, doch

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Eine Typologisierung der konjunkturellen Auswirkungen verschiedener Stabilisierungsansätze anhand der sogenannten nominalen Anker (vgl. Ciaassen 1991: 12f.) liegt gerade im Hinblick auf den Piano Real nahe. Dieser war ja — zumindest in der Anfangsphase — sehr klar auf die Etablierung eines (annähernd) fixen Wechselkurses als neuer nominaler Anker der nationalen Ökonomie angelegt. Daß eine wechselkurs-basierte Stabilisierungsstrategie in der Regel anfänglich zu wirtschaftlicher Expansion führt, während orthodoxe Programme, die auf die Etablierung der Geldmenge als nominaler Anker abzielen, zuerst eine Stabilisierungskrise erzeugen, wird beispielweise von Kiguel/Liviatan (1992) und Calvo/Vegh (1994) herausgearbeitet. Aber auch heterodoxe Programme, die zur Brechung des Inflationsgedächtnisses das bestehende Preisniveau via Lohn- und Preisstopp als Anker zu implementieren suchten und bezeichnenderweise in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern gerade mit der Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen zur Anwendung kamen, zeigten in der Anfangsphase eine klar expansive Wirkung.

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Diese Spannbreite erklärt sich aus den unterschiedlichen Inflationsindizes, die je nach zugrundeliegendem theoretischem Verständnis der Funktionsweise des Wechselkurses verwendet werden. Auf diese

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dies führte keineswegs zu einem Zusammenbruch der Transaktionen in einheimischer Währung (s. Porst in diesem Band). Obgleich ein gewisser Anstieg der Kapitalflucht und der Dollarisierung zu vermerken war, konnte gleichzeitig ein deutliches Wachstum des Bruttosozialprodukts registriert werden. Die brasilianische Ökonomie zerfiel nicht unter dem Druck anhaltender und steigender Hochinflation, sondern vermochte sich vielmehr in beeindruckendem Maße mit ihr zu arrangieren. Die Phasen des Piano Real: Stabilisierungsboom und -krise Der Piano Real stellt insofern einen Sonderfall dar, als innerhalb eines einzigen Stabilisierungsprogramms, das bisher über den gesamten Zeitraum in der Inflationsbekämpfung hochgradig erfolgreich ist, zuerst ein Stabilisierungsboom und dann eine Stabilisierungskrise zu beobachten ist. Der Piano Real löste praktisch unmittelbar mit der Währungsreform einen deutlichen konjunkturellen Aufschwung aus. So erlebte insbesondere die Nachfrage nach langfristigen Konsumgütern der unteren Preisklasse anfangs einen Anstieg von durchschnittlich 50% pro Monat (Ipea Nr. 57, Juni 1995). Dies lag entscheidend daran, daß die Mehrheit der unteren Einkommensbezieher, die sich zuvor am wenigsten per Indexierungsmechanismen gegen Inflationsverluste zur Wehr setzen konnten (vgl. Koch im vorliegenden Band), nun aufgrund der annähernd stabilen Preise reale Einkommensgewinne verbuchten. Allerdings ist anzunehmen, daß diese realen Lohnzuwächse selbst nicht allzu hoch ausfielen. Bedeutender für den sprunghaften Anstieg der Nachfrage scheint das Wiederaufleben des Konsumentenkredits gewesen zu sein, der in Form des Ratenkaufs die Umsetzung lang aufgeschobener Konsumwünsche weit über die effektiven Lohnzuwächse hinaus ermöglichte. Dieser Ratenkauf war in der Vergangenheit aufgrund der wachsenden Unsicherheit innerhalb des inflationären Umfelds praktisch ausgestorben, nachdem ihm während der Jahrzehnte der hohen Wachstumsraten eine wichtige Rolle zugekommen war. Zudem war allen Beteiligten bei der Einführung des Real bewußt, daß die Währung zumindest bis zur Wahl drei Monate später stabil bleiben würde — ein guter Grund, Geschäfte gleich zu tätigen und sie nicht lange aufzuschieben. Dementsprechend begannen Handel und Banken unmittelbar nach der Währungsreform, Kredit- und Ratengeschäfte anzubieten, und praktisch die gesamte Bevölkerung nutzte die Chance und kaufte. Im Ergebnis wuchs die brasilianische Wirtschaft im ersten Jahr des Real (Juli 1994 bis Juni 1995) um 8%, angeführt vom Anstieg der nationalen Industrieproduktion um etwa 11% im selben Zeitraum. Die Kapazitätsauslastung erreichte in einigen Sektoren mit über 90% ihr Maximum, und sogar die Investitionsrate verzeichnete einen leichten Anstieg, wobei Erweiterungs- und Erneuerungsinvestitionen zur raschen Überbrückung der Kapazitätsengpässe überwogen (alle Daten aus Ipea Nr. 57, Juni 1995). Auch die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt waren in dieser

komplexen Differenzen soll an dieser Stelle jedoch nicht eingegangen werden.

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Phase positiv: Die Beschäftigungszahlen stiegen ebenso wie die Löhne, wobei allerdings von Anfang an deutliche sektorale Unterschiede zu beobachten waren. Gerade durch den abrupten Anstieg der Nachfrage weckte der Piano Real Erinnerungen an den Plano Cruzado von 1986, dessen Konsumboom in der ersten Phase das enorme potentielle Ausmaß des brasilianischen Binnenmarkts angedeutet hatte. Denn dieser ist durch eine hochgradige Exklusion vom Arbeits- und Konsummarkt geprägt: Schätzungen gehen davon aus, daß gerade einmal ein Viertel bis ein Drittel der brasilianischen Bevölkerung durch ihr Einkommen in der Lage ist, permanent am Konsummarkt zu partizipieren, während der große "Rest" der Bevölkerung seine (materiellen) Bedürfhisse nur marginal und sporadisch im formellen Markt zu befriedigen vermag. Relativ geringfügige Verbesserungen der Einkommenssituation oder der effektiven Kaufkraft der armen Bevölkerungsmehrheit führen in dieser Situation zwangsläufig zu eruptiven Veränderungen in der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Den Vergleich mit dem "Konsumboom" des Plano Cruzado versuchten die Wirtschaftspolitiker des Piano Real allerdings immer weit von sich zu weisen. Denn dieses erste Stabilisierungsprogramm der Nova República, das von der gesamten Bevölkerung mit großer Hoffnung angenommen worden war, scheiterte bekanntermaßen gerade auch an diesem explosionsartigen Nachfrageanstieg, der durch eine leichte reale Anhebung der unteren Löhne noch verstärkt worden war. Dieser plötzliche Nachfrageboom führte zu einer relativen Verknappung des Güterangebots auf dem Binnenmarkt, das kurzfristig nicht in gleichem Maße ausgeweitet werden konnte. Unter den Bedingungen des offiziellen Lohn- und Preisstopps, Kernstück der Inflationsbekämpfung, entstand in der Folge ein florierender Schwarzmarkt. Das Stabilisierungsprogramm war damit gescheitert. In den ersten Monaten nach Einführung des Real wurde häufig noch auf eine weitere Parallele zwischen den Plänen Cruzado und Real hingewiesen: der enge Zusammenhang mit dem Wahlkalender. Im Verlauf des Plano Cruzado wurde — gegendenausdrücklichen Widerstand der Wirtschaftspolitiker — der Stabilisierungsboom künstlich aufrechterhalten, indem dringend notwendige Kurskorrekturen zur Konsolidierung der hohen Anfangserfolge bis zum Abschluß der Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im November 1986 hinausgezögert wurden. Die Verkündung einiger unpopulärer Maßnahmen und das letztendliche Scheitern des Programms ließen im Nachhinein die Interpretation aufkommen, es habe sich weitgehend um ein wahltaktisches Manöver gehandelt. Das timing des Piano Real war erneut deutlich vom Wahltermin bestimmt: Fernando Henrique Cardoso, der als Finanzminister den Piano Real vorbereitet und initiiert hatte, konnte damit als Präsidentschaftskandidat — und gerade in der entscheidenden Wahlkampfphase — die schönste aller Welten präsentieren: eine schlagartig gesenkte Inflation bei hohem Wirtschaftswachstum, das an erster Stelle von einem breiten Massenkonsum getragen war. Für die einen schien damit sein zentraler Wahlslogan bestätigt zu sein, daß die Inflation die unsozialste aller Steuern sei und daß deshalb auch die Inflationsbekämpfung die effektivste aller Sozialpolitiken darstelle. Eine Vielzahl von Skeptikern und Kritikern verwies jedoch auf die 34

Möglichkeit, daß es sich hier um eine künstlich hergestellte Stabilisierung handeln könnte, die dann nach den Wahlen in sich zusammenbrechen würde. Eines der erstaunlichen Phänomene des Piano Real besteht — gerade unter dieser Perspektive — darin, daß trotz dieser mehrfach negativen Erfahrungen das Vertrauen in den Real sehr rasch sehr hoch war. Mit einer absoluten Mehrheit gleich im ersten Wahlgang fiel der Sieg für Cardoso dementsprechend souverän aus. Vor dem Hintergrund der negativen Erfahrungen des Piano Cruzado zeigten sich die Wirtschaftspolitiker des Piano Real sehr darum bemüht, Reallohnerhöhungen bei der Umstellung der Währung zu vermeiden. Die Konvertierung der Nominallöhne in die künstliche Vorläuferwährung URV drei Monate vor Einfuhrung der neuen Währung Real hatte unter diesem Gesichtspunkt nicht nur die Verankerung der URV als nominaler Referenz zum Ziel. Vielmehr konnten auf diese Weise auch Auseinandersetzungen um die Konvertierung der Löhne im Augenblick der Währungsumstellung vermieden werden, da ja der "Wechselkurs" zwischen URV und Real per Definition mit 1:1 bestimmt war, während über den Umstellungskurs von der alten inflationierten Währung zum Real, der über das anfangliche Niveau der Güterpreise bestimmen würde, bis zuletzt Unklarheit herrschte. Gerade die Tatsache, daß die Unternehmer die letzten Tage vor Einfuhrung des Real noch zu deutlichen Preiserhöhungen nutzten, die dann durch Preissenkungen in den ersten Wochen des Real wohl eher nur unvollständig zurückgenommen wurden, läßt die Gewerkschaftsvertreter von spürbaren Reallohnverlusten in der Anfangsphase sprechen (DIEESE 1995). Dem Problem der Preissteigerungen aufgrund von Angebotsverknappungen auf dem Binnenmarkt versuchte der Piano Real auf zweierlei Weise zu entkommen: Zum einen wurden Maßnahmen zur Liberalisierung des Außenhandels ergriffen, die den graduellen Öffhungsprozeß des bis dahin hochgradig geschützten brasilianischen Binnenmarkts seit Beginn der 90er Jahre deutlich beschleunigten. Mindestens ebenso bedeutsam war jedoch die deutliche reale Aufwertung der brasilianischen Währung gegenüber dem US-Dollar, die sich aufgrund des Inflationsdifferentials zwischen US-amerikanischer und brasilianischer Währung in den ersten Monaten nach der Währungsreform ergab (s. Nogueira im vorliegenden Band). Beides zusammen führte zu einer raschen und deutlichen Verbilligung und Verbreiterung des Angebots importierter Güter auf dem brasilianischen Markt. Dies fand seinen Niederschlag auch in der Handelsbilanz. In der ersten Jahreshälfte 1995 war das Importvolumen im Vergleich zum Voijahr doppelt so hoch. Dabei stieg der Import von Konsumgütern um 200%, der von PKWs sogar um 450% (Ipea Nr. 57, Juni 95). Da die Exporte in demselben Zeitraum ungefähr stabil blieben, verwandelte sich schon ab Oktober 1994 der seit über einem Jahrzehnt fast durchgängig hohe Außenhandelsüberschuß Brasiliens in ein rasch steigendes Defizit. Die Handelsbilanz für das Jahr 1994 ergab zwar dank der hohen Überschüsse des ersten Halbjahrs insgesamt noch ein Plus in Höhe von US$ 6,96 Mrd. Dies bedeutete jedoch eine Halbierung des Überschusses gegenüber dem Vorjahr, wo der Außenhandel noch mit einem Plus von US$ 13,07 Mrd. abge35

schlössen hatte. Die Leistungsbilanz resultierte entsprechend in einem Minus von US$ 17,7 Mrd., das allerdings über Kapitalimporte mühelos abgedeckt werden konnte. Gleichzeitig sank die monatliche Inflationsrate auf etwa zwei Prozent — ein geradezu traumhafter Erfolg für das chronisch inflationsgeplagte Land. Das Ansteigen der Importe wurde bis zum Ende des Jahrs 1994 nicht nur hingenommen, sondern zudem noch mit weiteren importsteigernden Maßnahmen im Oktober 1994 ausdrücklich gefördert. Zum einen ging es um die Herstellung einer schärferen internationalen Konkurrenz auf dem Binnenmarkt; diese verdrängte angesichts der Wachstumsimpulse kurzfristig keine nationalen Produzenten, sondern trug maßgeblich dazu bei, Preissteigerungen im Bereich der handelbaren Güter zu unterbinden. Darüber hinaus zeigte sich, daß aufgrund des überraschend schnellen und hohen Vertrauens in den Real die Kapitalimporte deutlich anstiegen. Das daraus resultierende Überangebot an Devisen führte zu einer weiteren Aufwertung der brasilianischen Währung. Der Dollarkurs fiel von der anfanglichen 1:1-Parität auf bis zu R$ 0,85 zu einem US-Dollar; die reale Aufwertung zwischen Juli 1994 und März 1995 erreichte damit zwischen 20% und 40% . Auch um dem entgegenzuwirken und die Nachfrage nach Devisen anzuregen, war der Regierung dieser Anstieg der Importe durchaus willkommen. Mexiko-Krise und Kehrtwende des Piano Real Die mexikanische Währungskrise ab Dezember 1994, der sogenannte "TequilaCrash ", erschütterte den gesamten lateinamerikanischen Kontinent und ließ auch Brasilien nicht unberührt. Mexiko hatte bis dahin als Musterschüler der Region in Sachen wirtschaftlicher Modernisierung gegolten und damit maßgeblich zu der Wertung Lateinamerikas als emerging market beigetragen. Der Schock des mexikanischen Währungszusammenbruchs untergrub nachhaltig das Vertrauen der financial community in Länder mit signifikanten Handels- und Leistungsbilanzdefiziten. Und die Mexiko-Krise untergrub auch in Brasilien das bis zu diesem Moment wenig hinterfragte Vertrauen in die Verläßlichkeit internationaler Kapitalströme zur Deckung eines anhaltenden Leistungsbilanzdefizits. In den ersten Monaten nach dem "Tequila-Crash "flössen insgesamt US$ 7 Mrd. aus Brasilien ab (Gazeta Mercantil, 17.4.95); die Devisenreserven — zu Beginn des Stabilisierungsprogramms noch bei über US$ 40 Mrd. — sanken zeitweise unter die Grenze von US$ 30 Mrd. Der gerade noch wirtschaftspolitisch geförderte Anstieg des Importvolumens wurde über Nacht zur Achillesferse des bis dahin so erfolgreichen Piano Real. Nach überaus kontroversen Diskussionen reagierte schließlich die brasilianische Regierung im März 1995 auf die veränderten Bedingungen: Mit einer ausgesprochen restriktiven Geld- und Kreditpolitik wurde der konjunkturelle Aufschwung gebremst. Die Zinsen am Kreditmarkt, beispielsweise für kurzfristige Unternehmenskredite, stiegen daraufhin auf real 70% Jahreszinsen (Ipea, Nr. 61, Dez. 1995). In der Folge wurde das Wirtschaftswachstum im Jahresverlauf immer schwächer. Nachdem sich im Stabilisierungsboom das Wachstum zuletzt auf 10% p.a. beschleunigt hatte, blieb zuletzt noch ein Zuwachs des BIP von 4,1% für das 36

Gesamtjahr 1995. Für das erste Quartal 1996 wurde nach Angaben der Nationalen Statistikbehörde IBGE sogar ein negatives Wachstum von annähernd minus zwei Prozent erwartet. In der Wechselkurspolitik wurde ebenfalls im März die Kehrtwende vollzogen und der Aufwertungstrend der brasilianischen Währung beendet: Der Real wurde um nominal 5,7% gegenüber dem Dollar abgewertet. Gleichzeitig wurde eine Bandbreite eingeführt, innerhalb derer die Zentralbank den Real frei floaten lassen würde. Als wichtiges Signal an die Finanzmärkte wurde zudem die Ankündigung gewertet, daß notfalls weitere Abwertungen vorgenommen werden würden, falls die Entwicklung der Leistungsbilanz dies erfordere. Die bis Ende 1995 durchgeführten Abwertungen der Bandbreite blieben jedoch moderat und überschritten vor allem nicht die psychologisch wichtige Grenze der l:l-Parität. Da die aggregierte nominale Abwertung des Real von März bis Dezember 1995 in etwa dem Inflationsdifferential zwischen Real und US-Dollar entspricht, ergibt sich rückblickend eine Stabilisierung des realen Wechselkurses auf dem Ausgangsniveau von März 1995. Im Ergebnis war es damit der Zentralbank gelungen, eine noch weitergehende Aufwertung der brasilianischen Währung zu verhindern und unbemerkt die Indexierung des Wechselkurses wieder einzuführen, ohne dafür die überaus negativen Konsequenzen der Reindexierung der gesamten Ökonomie in Kauf nehmen zu müssen. Dieser Erfolg ist umso bemerkenswerter, als die Regierung eine MaxiAbwertung unter allen Umständen vermeiden mußte. Diese hätte zwar den einfachsten Weg zur erneuten Aktivierung der Handelsbilanz dargestellt, weil damit die Importe verteuert und die Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen Produkte auf dem Weltmarkt erhöht worden wären. Eine deutliche Abwertung des Real hätte jedoch den Verlust des nominalen Ankers nach sich gezogen, auf dem das Stabilisierungsprogramm basierte; die damit ausgelöste Abwertungs-InflationsSpirale hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Reindexierung der gesamten brasilianischen Ökonomie und damit zur Aufgabe der Preisstabilität gefuhrt. Um das Absinken des Importvolumens nicht ausschließlich mit dem Mittel der Stabilisierungskrise und der damit verbundenen geringeren nationalen Absorption zu erreichen, nahm die Regierung einige der zuvor verfügten handelsliberalisierenden Maßnahmen wieder zurück und griff vorübergehend zu einem selektiven Protektionismus. Die Zollsätze von verschiedenen langlebigen Konsumgütern, zum Beispiel PKWs und elektrischen Haushaltsgeräten, wurden entgegen den Abkommen im Rahmen des Mercosur (dem Gemeinsamen Markt der Länder des südlichen Lateinamerika) auf 70% erhöht. Dies stellt im derzeitigen lateinamerikanischen Umfeld des Freihandelsfiebers eine durchaus ungewöhnliche Position dar, die als für Brasilien typischer wirtschaftspolitischer Pragmatismus gewertet werden kann. Die Diskussion über die wirtschaftspolitische Kurswende machte die unterschiedlichen Positionen innerhalb der Äea/-Ökonomen deutlich: Auf der einen Seite vertrat Zentralbankdirektor Gustavo Franco die Position der "monetaristas ", die für die Beibehaltung der bisherigen Aufwertungspolitik plädierten; nur diese 37

könne den notwendigen Druck ausüben, unter dem sowohl die nationalen Produzenten ihre Modernisierungsanstrengungen verstärken als auch der öffentliche Sektor seine Reformbemühungen zur Senkung des strukturellen staatlichen Defizits beschleunigen müßten. Auf der anderen Seite stand der sogenannte "desertvolvimentista "-Flügel um Planungsminister José Serra, der eine Politik zum Schutz der nationalen Industrieproduktion einforderte und sich mit der Einfuhrung der selektiven Zollerhöhungen zumindest teilweise durchsetzen konnte. Orthodoxe Stabilisierungspolitik einerseits und selektiver Protektionismus andererseits zeitigten den gewünschten Erfolg: Nachdem die handelspolitischen Maßnahmen noch einmal verschärft worden waren, konnte die Tendenz im Außenhandel ab Jahresmitte für einige Monate umgekehrt werden; insgesamt ergab sich für das Jahr 1995 aber immer noch ein Defizit in der Handelsbilanz von US$ 3,16 Mrd. und ein gegenüber dem Vorjahr um die Hälfte gewachsenes Importvolumen. Das Defizit der Leistungsbilanz belief sich nach vorläufigen Angaben auf mehr als 3% des BIP (Ipea, Carta de Conjuntura Nr. 62, Jan. 1996). Gleichzeitig vermochte das außergewöhnlich hohe Realzinsniveau Kapitalimporte in hohen Mengen anzulocken, so daß die Devisenreserven bei der Zentralbank zwischenzeitlich auf über US$ 50 Mrd. anstiegen. Bei diesen Zuflüssen handelt es sich allerdings zu erheblichen Teilen um spekulatives Portfoliokapital. Hinzu kommt ein wachsender Anteil von kurzfristigen Bankkrediten, die von den brasilianischen Finanzinstitutionen am internationalen Kapitalmarkt eingeworben und an nationale Unternehmen weitergeleitet werden, da deren Verzinsung — trotz eines relativ hohen spread auf den Dollar-Zinssatz — immer noch deutlich unter dem einheimischen Zinsniveau liegt. Die ausländischen Direktinvestitionen beliefen sich in den ersten neun Monaten des Jahrs auf gerade einmal US$ 2,2 Mrd., etwa ebenso viel wie im Vorjahr. Ökonomische Transformation und Veränderungen der Arbeitsbeziehungen Die Stabilisierungskrise fand, wie bereits erwähnt, in einer spürbaren Verlangsamung des Wirtschaftswachstums ihren Ausdruck. Bemerkenswert ist dabei, wie unterschiedlich sich die Aufwertung des einheimischen Geldes auf die verschiedenen Sektoren der brasilianischen Wirtschaft auswirkte. Während das gesamtwirtschaftliche Wachstum für das Jahr 1995 sich auf 4,2% belief, wuchsen die Landwirtschaft mit 5,9% und der Dienstleistungssektor mit 5,7% überproportional, die brasilianische Industrie verzeichnete mit 1,9% jedoch ein deutlich unterdurchschnittliches Wachstum (Ipea, Boletim Conjuntural Nr. 33, April 1996). Dieser Unterschied zeigt deutlich die differenzierte Wirkungsweise des Wechselkursankers: Während die Preise für viele Dienstleistungen nicht international bestimmt werden können17, wird die Industrieproduktion einer

Die Entwicklung der Mieten, die im ersten Jahr des Real um 209% gestiegen sind (DIEESE 1995), macht den Unterschied deutlich zwischen den sogenannten handelbaren Gütern, deren Preise sich unter der Bedingung des freien Handels in den verschiedenen Ländern tendenziell angleichen, und den nicht-handelbaren Gütern, deren Preis tendenziell lokal bestimmt wird. Zur zweiten Gruppe

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abrupten Importkonkurrenz unterworfen, die einen Transformationsprozeß erzwingt und mitunter auch die Liquidierung einzelner Unternehmen oder auch gesamter Branchen zur Folge haben kann18. Deutlich wird der Transformationsdruck der brasilianischen Industrie an der Entwicklung von Lohnniveau und Beschäftigung. Angesichts des geringeren Wachstums und der verschärften Weltmarktkonkurrenz müssen vor allem die Industrieunternehmen, wollen sie ihre Gewinnspannen aufrecht erhalten, ihre Kosten senken und die Produktivität erhöhen19. Entsprechend haben die Unternehmerverbände gleich zu Beginn der Regierung Cardoso die Kampagne "Custo Brasil" (übersetzbar als "Wirtschaftsstandort Brasilien"-Debatte) gestartet, in deren Rahmen sie steuerliche Erleichterungen, die Verbesserung der Infrastruktur und vor allem die Senkung der Lohnnebenkosten sowie die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse fordern. Dabei findet gerade letztere längst statt: Seit Anfang der 90er Jahre schon ist mit der allmählichen Außenöffnung des brasilianischen Binnenmarktes bei gleichzeitiger schwerer Rezession in den ersten Jahren eine klare Tendenz zu Rationalisierungsmaßnahmen zu beobachten. Die deutliche Erhöhung der Produktivität wurde vor allem durch den Abbau bzw. die Auslagerung von Arbeitsplätzen erreicht. Gleichzeitig ist der Anteil der im formellen Sektor erwerbstätigen Bevölkerung von über 60% im Jahr 1990 auf unter 50% im Jahr 1995 gesunken. Dies entspricht einer Verdrängung von annähernd sechs Millionen Arbeitnehmern in weitgehend ungesicherte und oftmals schlechter bezahlte Arbeitsverhältnisse. Die nochmalige Verschärfung des internationalen Konkurrenzdrucks infolge des Piano Real schließlich führte zu einer weiteren Anpassung an die Bedingungen der globalisierten Produktion: Die Verbilligung der Importe schlägt sich jetzt in der verstärkten Einfuhr von Vorprodukten nieder, die zuvor in Brasilien produziert wurden; dadurch sinken interne Wertschöpfung und Beschäftigung im Industriesektor (vgl. Camargo 1995).

gehören auch die Kosten für Dienstleistungen, wie medizinische Versorgung, Privatschulen, Haareschneiden etc. 18

Am stärksten wurden die Bereiche der Textil- und der Schuhproduktion von diesem direkten Verdrängungsprozeß getroffen. Vor allem die Billiglohnkonkurrenz aus asiatischen Ländern führte zu einem Abbau von 20% der Arbeitsplätze innerhalb des ersten Jahres des Real (Carta IBGE, Juni 1995). Aus diesem Grund wurden auch fiir diese beiden Sektoren im Zuge der selektiven Protektion vorübergehend wieder Schutzzölle von bis zu 70% errichtet, um diesen Industriezweigen mehr Zeit zur Anpassung an die neuen Konkurrenzbedingungen zu gewähren.

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Dies betrifft am stärksten die industrielle Kemregion Grande Säo Paulo. Die Auswirkungen der zunehmenden Öffnung und Globalisierung auf periphere Regionen Brasiliens sind bisher erheblich weniger klar. Als Hypothese sei die Annahme formuliert, daß Ausmaß und Art der Wirkung des Wechselkursankers durch die spezifische regionale Zusammensetzung der Produktion (Weltmarkt-, Binnenmarkt- oder Subsistenzproduktion; bzw. handelbare/nicht-handelbare Güter) bestimmt werden. Je geringer der Anteil des weltmarktorientierten Sektors bzw. je geringer dieser mit den anderen Bereichen der regionalen Ökonomie verknüpft ist, desto geringere Auswirkungen müßte der Wechselkursanker haben. Eine empirische Überprüfung dieser Hypothese steht bislang aus.

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Damit einher geht eine ungleichmäßige Entwicklung der Reallöhne: Im formellen Sektor konnte zwischen September 1994 und März 1995 ein leichter Zuwachs der durchschnittlichen Reallöhne von 3,81% verzeichnet werden; allerdings waren diese im Jahr zuvor (Sept. 1993 bis Sept. 1994) um 16,4% gesunken (DIEESE 1995). Der Dienstleistungssektor hingegen, in dem informelle Arbeitsverhältnisse sowie kleine Selbständige und Familienbetriebe eine große Rolle spielen, konnte von dem anfänglichen Boom des Stabilisierungsprogramms stärker profitieren, da er von der Importkonkurrenz unberührt blieb. Auch wenn gerade im Bereich des informellen Sektors Zahlenangaben mit größter Vorsicht behandelt werden müssen, zeigt sich doch ein klarer Trend: Das IBGE jedenfalls registriert für 1995 eine Erhöhung der realen Einkommen bei kleinen Selbständigen und im informellen Sektor um mehr als 16%. Diese Art der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse schwächt nicht zuletzt die brasilianischen Gewerkschaften, die gerade in der industriellen Kernregion von Säo Paulo seit Ende der 70er Jahre stark geworden waren. Den Intentionen der Regierung scheint dies tendenziell entgegenzukommen. Gleich in den ersten Monaten seiner Amtszeit griff Cardoso wiederholt Gewerkschaften und linke Parteien an, die sich seinen Strukturreformen entgegenstellten: Diese seien "Neokonservative" und "Ewiggestrige", die immer noch das überkommene Konzept des starken Staats sowie ihre korporativistischen Eigeninteressen verteidigen würden. Ein Streik der Arbeiter des staatlichen Erdölkonzerns Petrobräs im Mai 1995 wurde zur Machtprobe; Cardoso ließ ihn per Einmarsch des Militärs in die Raffinerien beenden. Dabei konnte er sich zunutze machen, daß der Streik der petroleiros äußerst unpopulär wurde, weil er mit Angebotsverknappungen bei Benzin und Kochgas verbunden war, für die die Medien praktisch einstimmig den Streikenden die Schuld gaben. In Wirklichkeit waren diese Verknappungen jedoch nicht durch die Streiks, sondern durch spekulative Hortungskäufe von Zwischenhändlern verursacht worden waren. Monate später sollte dies sogar der brasilianische Bundesrechnungshof feststellen. Cardoso nutzte die zugespitzte Lage aus, um in hohem Tempo die Gesetze zur Lockerung des Staatsmonopols nicht nur im Ölsektor, sondern auch in den Bereichen Energie und Telekommunikation durch das Parlament zu bringen. Für die Gewerkschaft der Erdölarbeiter war der Streik eine Niederlage auf der ganzen Linie. Sie mußte nicht nur sämtliche Lohnforderungen zurückziehen, die den Streik ausgelöst hatten, sondern sie wurde auch noch zu Strafzahlungen wegen der Ungesetzlichkeit des Streiks und zu Ausgleichszahlungen an das Unternehmen in Höhe von umgerechnet etwa 30 Mio. DM verurteilt. Um diese Summe einzutreiben, wurde auch gleich ein Teil des Gewerkschaftseigentums gepfändet — ein klares Signal für andere streikwillige Gewerkschaften, daß sie dies teuer zu stehen kommen könnte20.

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"Während der Soziologe Cardoso in den sechziger und siebziger Jahren systematisch untersuchte, wie bestimmte politische und gesellschaftliche Projekte nur auf der Basis ganz bestimmter Bündnisse von Klassen, Klassenfraktionen, Schichten und ihren jeweiligen politischen Vertretungen möglich

Der "grüne Anker": Stabilisierungsprogramm und Agrarsektor Oft vergessen wird bei der Analyse des Piano Real der Beitrag des Agrarsektors zur erfolgreichen monetären Stabilisierung. Denn die überraschend niedrigen Inflationsraten begründen sich — analysiert man die Zusammensetzung des Konsumentenpreisindex genauer — nicht zuletzt durch den geringen Anstieg der Lebensmittelpreise: Während sich die akkumulierte Inflation des Piano Real (Juli 1994 bis Dezember 1995) auf 49,29% belief, stiegen die Kosten für Ernährung im allgemeinen um 34,16%, d.h. die Preise gingen real zurück. Zum einen ergab sich diese Preissenkung aus dem im Vergleich zur Gesamtwirtschaft überdurchschnittlich hohen Wachstum des Agrarsektors (s. oben). Dieser Zuwachs basierte freilich weniger auf der monetären Stabilisierung als vielmehr auf einer Rekordernte dank der außergewöhnlich guten klimatischen Bedingungen dieses Jahrs. Zum anderen war der reale Preisrückgang für landwirtschaftliche Produkte und Nahrungsmittel aber sehr wohl Ergebnis einer gezielten Agrarpreispolitik, die als "grüner Anker" (äncora verde) des Piano Real bekannt wurde: Die Regierung hob die staatlichen Mindestpreise für Agrarprodukte, die vor allem die Funktion eines Marktsignals haben, im Vergleich zur Inflation nur unterdurchschnittlich an, während gleichzeitig Importbarrieren für Agrarprodukte beseitigt wurden, wodurch die heimischen Produzenten unter starken Preisdruck gerieten. Diese "äncora verde", die zu der relativ niedrigen Inflationsrate im Jahr 1995 entscheidend beigetragen hat, wird sich in dieser Weise nicht dauerhaft halten lassen. Denn die Probleme der Agrarproduzenten werden noch dadurch verschärft, daß die Regierung die (bis Ende der 80er Jahre sehr hohen) Kreditsubventionen der Landwirtschaft gänzlich gestrichen hat. Damit schlägt sich die Hochzinspolitik auf die Neuverschuldung der Agrarproduzenten nieder, was eine kostendeckende Produktion deutlich erschwert. Mehrfach haben die Produzenten deshalb mit einer deutlichen Verringerung der Produktionsflächen für den nächsten Agrarzyklus gedroht und dies mit großen Traktor-Demonstrationen in Brasilia unterstrichen. Allerdings ist nicht der gesamte Agrarsektor gleichermaßen von dieser Politik betroffen. Die Lobby der Großgrundbesitzer (mehrere Tausend an der Zahl) und Agroindustriellen im Parlament (die sogenannten "ruralistas"), die inzwischen parteiübergreifend mehr als 200 Abgeordnete vereint, hat die Stundung von Altschulden erreicht, indem sie wichtige Verfassungsreformen zu blockieren drohte. Am anderen Ende des Agrarsektors stehen die Landlosen, die mit einer Vielzahl von Landbesetzungen inzwischen erheblichen politischen Druck erzeugen. Diese Landkonflikte endeten in jüngster Zeit mehrfach in blutigen Massakern an landlosen Bauern. Der strukturelle Hintergrund ist in der extrem ungleichen Landverteilung

waren, zielt der Politiker Cardoso in den achtziger und neunziger Jahren darauf, die organisierten politischen und gesellschaftlichen Gruppen aus der angestrebten Konsensbildung der Zivilgesellschaft für das große Transformationsprojekt herauszuhalten", resümiert in diesem Zusammenhang Müller-Plantenberg (1995: 492f.).

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zu suchen: Nach Angaben der Nationalen Statistikbehörde IBGE konzentriert sich der Besitz der Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche in den Händen von 1,2% aller Landeigentümer, während andererseits die Anzahl der Landlosen auf bis zu fünf Millionen Familien geschätzt wird. Auch wenn die Landkonflikte gerade unter der Regierung Cardoso eskaliert sind, bleibt es schwer einzuschätzen, inwieweit und in welcher Form ein Zusammenhang zwischen der aktuellen Agrarpolitik und dem deutlichen Erstarken der MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem-Terra — Landlosenbewegung) besteht. Der verhinderte Bankencrash: Die Sozialisierung der Verluste Der brasilianische Bankensektor hatte innerhalb des instabilen inflationären Umfelds der Vergangenheit mit bemerkenswerter Effizienz operieren können (vgl. Fritz 1996). Darüber hinaus waren die Finanzinstitutionen auch in der Lage gewesen, die wirtschaftspolitische Konstellation der 80er Jahre (s. hierzu auch Belluzzo/ Almeida im vorliegenden Band) in hohem Maße gewinnbringend zu nutzen. In der Folge des Piano Real wurde der Bankensektor nun durch die extreme Veränderung des monetären Umfelds im Kern seiner Geschäftstätigkeit getroffen. Erstaunlicherweise aber gingen die Bankengewinne im ersten Jahr des Real dennoch nicht nennenswert zurück21. Das Bild der hervorragenden Anpassungsfähigkeit des Bankensektors änderte sich schlagartig mit dem finanziellen Zusammenbruch des Banco Econömico im August und der knappen Abwendung des Bankrotts des Banco Nacional im November 1995. Es handelte sich dabei keineswegs um unbedeutende Institutionen: der Banco Econömico war die siebtgrößte Privatbank Brasiliens; aufgrund der regionalen Konzentration ihrer Geschäftstätigkeiten auf den Bundesstaat Bahia hatte sie dort die mit Abstand wichtigste Stellung inne. Der Banco Nacional stand sogar an dritter Stelle der Liste der größten brasilianischen Privatbanken und verfugte über ein bundesweites Filialnetz. Beide Banken befanden sich im Besitz einflußreicher Familien, die auch hohe politische Ämter besetzen. Ausgangspunkt für die schwerwiegenden Probleme im Finanzsektor, die mit dem Zusammenbruch der beiden Banken offen zutage traten, war in der Tat der Wegfall der Inflationsgewinne, die über lange Zeit einen bedeutenden Teil der Bankenprofite ausgemacht hatten. In der ersten Phase des Piano Real hatten sie dies noch kompensieren können, indem sie den Wirtschaftsaufschwung für eine

Die ausführliche Analyse der Bankgeschäfte unter den Bedingungen der Inflation sowie die Entwicklung des Sektors im ersten Jahr nach der Einführung des Real wird von Carvalho im vorliegenden Band geleistet. Der Zeitrahmen seiner Untersuchung endet allerdings kurz vor dem Ausbruch der Krise bei einigen großen brasilianischen Geschäftsbanken, weshalb die jüngsten Entwicklungen an dieser Stelle nachgezeichnet werden.

deutliche Ausweitung ihres Kreditgeschäfts nutzten: Das gesamtwirtschaftliche Kreditvolumen soll im ersten Jahr des Real um 27% gestiegen sein22. Mit der Kehrtwende in der Geldpolitik und dem Anstieg des Zinsniveaus auf astronomische Höhen — für einige Monate erreichte das Zinsniveau 25% im Monat, bei einer Inflation von unter zwei Prozent — geriet eine Vielzahl von Schuldnern in akute Zahlungsschwierigkeiten. Nach Angaben der DIEESE stieg der Anteil der mit Solvenzproblemen behafteten Kredite von 7,8% auf 14% des Portfolios der gesamten Kredite an den Privatsektor. Dies traf diejenigen Banken überproportional, die — oftmals aufgrund ihrer schwierigen finanziellen Ausgangslage — die höchsten Gläubigerrisiken während des Aufschwungs auf sich genommen hatten. Den strukturellen Hintergrund dieser konjunkturell bedingten Entwicklung bildet ein scharfer Konkurrenzkampf an der Spitze des brasilianischen Bankenmarkts. Die mit Abstand größte Privatbank, der Bradesco, hat in den letzten Jahren massive technologische Investitionen vorgenommen und damit die mittelgroßen Banken, die mit ihr im Bereich des Massenkundengeschäfts konkurrieren, deutlich unter Druck gesetzt. Die beiden zusammengebrochenen Banken befanden sich exakt in diesem hart umkämpften Feld der mittelgroßen Banken. Schon die erste Krise des Banco Econòmico war ein Schock für die Öffentlichkeit und für die Finanzmärkte. Als dann aber der Kollaps des Banco Nacional nur mit Mühe verhindert werden konnte und zudem nachträglich bekannt wurde, daß beide Banken schon seit vielen Jahren unter gravierenden finanziellen Problemen gelitten hatten, kamen Zweifel an der Solidität auch der übrigen brasilianischen Banken auf. Bis heute ist unklar, ob die Zentralbank als oberste Aufsichtsbehörde des Bankensektors von diesen Problemen wußte — also zu ihrer Verschleierung beitrug — oder ob ihnen die erheblichen Differenzen zwischen veröffentlichten Bilanzen und realer Lage der Aufsichtsbehörde jahrelang entgangen sind. Inzwischen jedenfalls gehen Schätzungen davon aus, daß sich 150 der circa 250 Banken Brasiliens in manifesten Schwierigkeiten befinden. Für die nächsten Jahre wird mit einer Welle von Fusionen gerechnet, die die Anzahl der verbleibenden Institutionen deutlich verringern wird. \ Die Regierung bemüht sich nach Kräften, die große Krise des Bankensektors abzuwenden. Kurz vor dem Verkauf des Banco Nacional verabschiedete die Regierung überraschend ein umfassendes Programm zur Rettung des Finanzsektors (Programa de Estimulo à Reestruturaqäo e ao Fortalecimento do Sistema Financeiro Nacional — PROER). Dies beinhaltete großzügige Fusionierungshilfen, mit denen der Aufkauf illiquider Banken durch andere Institutionen massiv steuerlich begünstigt wird, sowie eine zinsgünstige Kreditlinie der Zentralbank, die die Konsolidierung der aufkaufenden Institution unterstützen soll. Zudem werden der Zentralbank weitreichende Eingriffskompetenzen bei notleidenden

vgl. Folha de Säo Paulo 15.10.95; zu den enormen Meßproblemen dieser Größe sowie zu den Anstrengungen der Geldbehörden, das Ansteigen des Kreditvolumens zu begrenzen (und zu den Reaktionen der Banken darauf) s. erneut Carvalho in diesem Band.

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Banken zugesprochen: Sie kann im Extremfall Anteile der betroffenen Institution sogar gegen den Willen der Eigner verkaufen. Dieses Programm, das hohe öffentliche Subventionen zur Konsolidierung des Bankensektors bereitstellt, leistet sicherlich einen entscheidenden Beitrag zur Vermeidung einer weitreichenden Bankenkrise, wie sie beispielsweise 1995 in Venezuela stattfand und in Argentinien in demselben Jahr nur dank hoher Stützungskredite des IWF und anderer multilateraler Geber abgewendet werden konnte. Damit sind Brasilien hohe gesamtwirtschaftliche Kosten erspart geblieben, denn aufgrund der Rückwirkungen auf den produktiven Sektor können derartige Bankencrashs die gesamte Ökonomie schnell in eine tiefe Depression stürzen. In jedem Fall hätte dies das Ende des Piano Real bedeutet: Selbst wenn die dann einsetzende Flucht aus den Bankeinlagen nicht einem generellen Mißtrauen gegen die einheimische Währung zuzuschreiben gewesen wäre, sondern vielmehr dem Mißtrauen gegen die Zahlungsfähigkeit einzelner Finanzinstitutionen, hätte die generelle Währungskrise dann nicht mehr verhindert werden können. Trotzdem: Es handelt sich hier — wie Carvalho überzeugend argumentiert (in: Em Tempo, April 1996:4) — um eine Sozialisierung der hohen Verluste einzelner Privatbanken. Hätte die Zentralbank sich anders verhalten, hätten diese Verluste weitgehend von den anderen Großbanken getragen werden müssen. Dieser Zusammenhang soll im folgenden näher erklärt werden. Bei beiden Banken trat die Finanzkrise nicht über Nacht ein, sondern hatte sich über Monate angebahnt. In beiden Fällen hatte die Zentralbank auch schon einige Zeit vor dem offenen Eklat versucht, eine Fusion mit einer solideren Bank in die Wege zu leiten — was ihr im zweiten, aber nicht im ersten Fall gelingen sollte. Während des Zeitraums dieser Bemühungen versorgte sie die zunehmend notleidenden Banken in steigendem Maße mit Liquidität in Form von Rediskontkrediten23. Als das Kreditvolumen die legalen Grenzen längst überschritten hatte, erteilte die Zentralbank zwei öffentlichen Banken im Besitz des Zentralstaats, dem Banco do Brasil und der Caixa Econömica Federal, die Anweisung, sich an der Refinanzierung der zusammenbrechenden Banken zu beteiligen — eine ebenfalls illegale Order. Aus dieser Perspektive diente das staatliche Rettungsprogramm PROER nicht zuletzt der nachträglichen Legalisierung dieser Operationen der Zentralbank.

An dem Einsatz des geldpolitischen Instruments der Rediskontkredite zur Stützung von hochgradig gefährdeten Banken ist abzulesen, daß sich die Struktur der brasilianischen Geldverfassung bisher trotz der Beendigung des chronischen Inflationsprozesses nicht grundlegend verändert hat. Eines der grundlegenden Probleme der brasilianischen Geldverfassung hatte immer darin bestanden, daß die Zentralbank in ihrer Funktion als lender of last resort nie in der Lage war, den Rediskont als sanktionierendes Mittel der kurzfristigen Liquiditätsversorgung der Geschäftsbanken und damit der gesamten Ökonomie durchzusetzen. Stattdessen war die Aktivität der Zentralbank in den letzten Jahren weitgehend auf eine passive Offenmarktpolitik beschränkt, die die Versorgung der von den Geschäftsbanken gewünschten Mischung aus Geld und Quasi-Geld in Form von Staatsschuldpapieren sicherte. Der Rediskont galt immer nur als Hilfe für notleidende Banken - und ist dies offenbar bis heute geblieben.

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Mit dem zunehmenden staatlichen Engagement und der allmählichen Kenntnis von der Krise der beiden Privatbanken bekamen die großen Einleger, die sich via Interbankenmarkt an den notleidenden Banken beteiligt und diese refinanziert hatten, die Möglichkeit, ihre Beteiligungen an den gefährdeten Institutionen zurückzuziehen. Dies verschärfte gleichermaßen die Liquiditätsprobleme der in die Krise geratenen Banken wie auch das Volumen der zur Aufschiebung des Bankrotts notwendigen öffentlichen Liquiditätskredite. Zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Banco Econömico befanden sich dort öffentliche Kredite in Höhe von R$ 3 bis 3,5 Mrd.; diese stellen uneinbringbare Forderungen dar, selbst wenn die Konkursmasse in den nächsten Monaten einen Käufer finden sollte. Bei dem Banco National befanden sich zum Zeitpunkt der Übernahme durch den Unibanco etwa R$ 5 Mrd. öffentlicher Kreditmittel. Hinzu kommen die öffentlichen Kosten der Subventionen für den Käufer Unibanco-, dieser bekam auch noch zu einem relativ niedrigen Kaufpreis sämtliche Konten des Banco National übertragen, während die Gesamtheit des notleidenden Portfolios bei der Zentralbank verblieben ist. Im Ergebnis wurden zwei Bankiersfamilien enteignet; dafür konnten alle anderen Bankeigentümer ihre anteilsmäßigen Verluste auf den Staat abwälzen. Damit behielt der ehemalige Wirtschafts- und Planungsminister unter den Militärs, Delfim Neto, recht, als er die öffentlichen Kosten der Sanierung des privaten Bankensystems auf annähernd R$ 10 Mrd. schätzte. Jetzt schon entspricht diese Summe doch in etwa zwei Prozent des brasilianischen Volkseinkommens, und noch ist die Fusionierungsphase der Banken nicht abgeschlossen. Zum Vergleich: Für das Arbeitsbeschaffiingsprogramm sieht die Regierung Cardoso für den Zeitraum von drei Jahren mit R$ 6 Mrd. nur etwas mehr als die Hälfte dieser Summe vor.

3. Schlußbemerkungen: Der Piano Real — gefangen im eigenen Erfolg Der Piano Real war enorm erfolgreich bei der Inflationsbekämpfung. Nachdem in der Anfangsphase die monetäre Stabilisierung darüber hinaus zu einer deutlichen Expansion der Ökonomie geführt hatte, löste die harte Geldpolitik der zweiten Phase ab dem zweiten Quartal 1995 eine Stabilisierungskrise aus. Konsumnachfrage und Kapazitätsauslastung gingen ebenso zurück wie Investitionsneigung und Importvolumen. Der zeitliche Zusammenfall von stabilitätsbedingter Konjunkturdämpfung und forcierter Integration in den Weltmarkt hat den Transformationsdruck auf die brasilianischen Produzenten verdoppelt. Im Ergebnis ist bisher in erster Linie eine Erhöhung des Technologieniveaus und eine abnehmende Wertschöpfung im formalen Industriesektor festzustellen, verbunden mit der massiven Vernichtung von Arbeitsplätzen. Damit ähnelt die Transformation des modernen Sektors in Brasilien grundsätzlich dem, was in den Industrieländern als jobless growth bezeichnet wird. Für 45

Brasilien jedoch bedeutet dies, daß zu den bisherigen Problemen — die strukturelle Heterogenität und der hohe Grad der sozialen Exklusion — das Phänomen einer Massenarbeitslosigkeit im modernen Sektor hinzukommt, die sich auch in expansiven Phasen nicht reduziert. Dies beschleunigt den Trend zur weiteren Informalisierung (und das heißt in der Regel: zur qualitativen Verschlechterung) der Arbeitsverhältnisse sowie zur Verlagerung von Beschäftigung aus dem Industrie- in den Dienstleistungssektor. Die bisherige Fiskalpolitik ist weit entfernt von einem dauerhaften Ausgleich der öffentlichen Finanzen, auf den das Vertrauen in die Stabilität des brasilianischen Geldes bauen könnte. Allerdings scheint das allgemeine Interesse an der Stabilität bis jetzt so hoch zu sein, daß offenbar niemand nachhaltig an dem real relativ hohen (und einem potentiell noch steigenden) Defizit des Staatshaushalts Anstoß nehmen möchte, solange die Regierung in ihrer Tagespolitik sichtbar bemüht ist, die Fiskalkrise mit kurzfristigen Maßnahmen unter Kontrolle zu halten. Wenn auch auf historisch niedrigem Inflationsniveau, hat sich Brasilien damit in gewisser Weise wieder in einer neuen stop-and-go-Phase eingerichtet, in der der kurzfristigen Feinsteuerung der Geld- und Fiskalpolitik eine sehr hohe Bedeutung zukommt. In dieser neuen Form des "muddling through" wird der Piano Real noch für absehbare Zeit mit einer orthodoxen Hochzinspolitik abgesichert werden müssen. Diese hat die doppelte Funktion der Kontrolle der Inflation sowie der Dämpfung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, so daß indirekt die Importe auf ein Niveau gedrückt werden, das den annähernden Ausgleich der Handelsbilanz ermöglicht. Doch dieser policy mix bleibt erheblichen Risiken unterworfen: Selbst wenn die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Geld- und Fiskalpolitik gesunken sein mögen, stellt das steigende öffentliche Defizit — an dem der mit dem Zinsniveau zeitgleich steigende öffentliche Schuldendienst einen gewichtigen Anteil hat — nach wie vor eine der offenkundigsten Bedrohungen der Geldwertstabilität dar. Hinzu kommt, daß fundamentale Probleme der brasilianischen Geldverfassung bisher noch keineswegs gelöst wurden, wie sich im Umgang mit der Bankenkrise deutlich zeigte. D i r Zentralbank konnte weder gegenüber den öffentlichen noch gegenüber den privaten Geschäftsbanken die restriktive Seite des lender of last resort durchsetzen, die ab einem bestimmten Punkt das Ende des Liquiditätsnachschubs und die Durchsetzung des Konkurses der entsprechenden Institution erfordert. Zusätzlich zu der kostspieligen (und grundsätzlich problematischen) Sozialisierung privater Verluste ist das Risiko weiterhin sehr hoch, so daß die Sanierung von einzelnen Banken per Geldschöpfung bei der Zentralbank durchgeführt wird. Das Ziel der Knapphaltung des einheimischen Geldes ist damit nach wie vor der Gefahr ausgesetzt, im Zweifelsfall den Forderungen der privaten Vermögensbesitzer sowie dem Druck politischer Regionalinteressen untergeordnet zu werden. Das Vertrauen in die brasilianische Ökonomie wird weiterhin geringe Inflationsraten, eine ausgeglichene Handelsbilanz und ein moderates Leistungsbilanzdefizit erfordern. Damit aber hängt die mittelfristige Entwicklung davon ab, welche Dynamik die brasilianischen Exporte entwickeln. Genau an diesem Punkt zeigt sich jedoch das grundlegende Dilemma, in das die brasilianische 46

Ökonomie mit der Stabilisierungsstrategie des Piano Real geraten ist: Die Überbewertung mag bei der Kontrolle des einheimischen Preisniveaus hohe Erfolge zeitigen, stellt jedoch gleichzeitig einen generellen Wettbewerbsnachteil der nationalen Produktion gegenüber dem Weltmarkt dar. Diese Konstellation produziert negative Anreize für Neuinvestitionen, obgleich diese gerade angesichts der forcierten Weltmarktöffnung umso dringlicher wären. Der im März 1995 vorgenommene Kurswechsel — eine partielle Lockerung des Wechselkursankers bei gleichzeitig extrem orthodoxer Geldpolitik — ändert an diesem Dilemma vorerst wenig; er schafft in erster Linie Anreize für spekulative Finanzinvestitionen, nicht für die Modernisierung der Güterproduktion. Die Regierung Cardoso ist mit dem Versprechen angetreten, der "Begleichung der sozialen Schuld" eine hohe Priorität einzuräumen. Im durch die Überbewertung ausgelösten Zielkonflikt zwischen monetärer Stabilisierung, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und einem Verteilungsspielräume eröffnenden Wirtschaftswachstum hat die Regierung jedoch offensichtlich diejenige Option gewählt, die kurzfristig die unbedingte Aufrechterhaltung der monetären Stabilität bei größtmöglichen außenwirtschaftlichen Erfolgen sichert. Das Wachstum wird dabei letztlich ebenso zur abhängigen Restgröße wie der soziale Ausgleich sowie Niveau und Qualität der Beschäftigung. Im Vergleich zur Dollarisierungsstrategie Argentiniens oder der mexikanischen Politik bis zum Kollaps des Peso verfolgt Brasilien allerdings einen erheblich pragmatischeren wirtschaftspolitischen Kurs, der eine gewisse Milderung dieses Zielkonflikts ermöglicht. So konnte sich die brasilianische Regierung sowohl zu einer vorsichtigen Abwertung als auch zur Verletzung des Freihandelspostulats durchringen und eine Politik der selektiven Protektion ergreifen, als die Senkung des Handelsbilanzdefizits zwingend notwendig wurde. Rückblickend betrachtet war für den "Nachzügler" Brasilien der Mexiko-Crash vielleicht ein Warnsignal zum richtigen Zeitpunkt, da dieser mit aller Deutlichkeit die spezifischen Risiken einer Strategie des growth-cum-debt in den 90er Jahren vorführte.

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Roberto Macedo

Vom Cruzado zum Real Die Stabilisierungspläne seit der Redemokratisierung Einleitung Dieser Artikel stellt rückblickend die Versuche der Preisstabilisierung in Brasilien seit dem Jahr 1986 vor und deckt damit genau den Zeitraum ab, der mit der politischen Liberalisierung einsetzt. 1985 hatten die Militärs die Regierungsmacht an Präsident José Sarney übergeben1. Dieser Artikel ist darum bemüht, neben den technischen Aspekten der Stabilisierungsprogramme auch die Bedeutung der politischen Faktoren hervorzuheben, die die Umsetzung und die Ergebnisse dieser Programme vornehmlich bestimmt haben. Der Text ist folgendermaßen gegliedert: Der erste Abschnitt behandelt die gemeinsamen theoretischen Grundlagen der in diesem Artikel analysierten Stabilisierungspläne. Sie basieren auf der Auffassung, daß neben den zugrundeliegenden monetären und fiskalischen Faktoren auch die für Perpetuierung und Ausweitung verantwortlichen Trägheitskomponenten des Inflationsprozesses berücksichtigt werden müssen. Der zweite Abschnitt befaßt sich mit den Programmen der Regierung Sarney und der darauffolgende mit denen der Regierung Collor. Der vierte Abschnitt ist der Analyse des Piano Real gewidmet, der fünfte Abschnitt beinhaltet einige weitergehende Bemerkungen.

José Sarney, langjähriger Mitstreiter der Militärs, wurde in seiner Funktion als Vizepräsident des gewählten Staatspräsidenten und langjährigen Opponenten der Militärs, Tancredo Neves, zu dessen Nachfolger vom Parlament formell bestätigt, nachdem Neves wegen einer plötzlichen Erkrankung am 14.3.1985 sein Amt nicht antreten konnte und am 21. April desselben Jahres verstarb.

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1. Theoretische Aspekte: Fundamentale Ursachen der Inflation und die Beharrungsfaktoren Das Auftreten von chronischen Inflationsprozessen in Lateinamerika, Israel und jüngst auch in Osteuropa hat die Wirtschaftswissenschaftler dazu veranlaßt, über die Schwierigkeiten bei der Überwindung dieser Prozesse nachzudenken und die "heterodox" genannte Politik zur Inflationsbekämpfung zu formulieren. Diese neue Sichtweise erkennt durchaus die zentralen Inflationsursachen an, wie sie von der traditionellen Theorie aufgezeigt werden. Die chronische Inflation wird also im allgemeinen auf anhaltend hohe Defizite der Staatshaushalte zurückgeführt, die gewöhnlich durch die Ausweitung der Geldmenge finanziert und häufig durch verzerrte Wechselkurse und außenwirtschaftliche Ungleichgewichte zusätzlich verschärft wird. Ist ein Inflationsprozeß mit diesen Kennzeichen in Gang gekommen und hält er über einen längeren Zeitraum an, so sehen sich die ökonomischen Akteure dazu veranlaßt, zu formellen und informellen Methoden der Indexierung zu greifen, um auf diese Weise den drohenden realen Wertverfall ihrer Finanzaktiva und Nominaleinkommen zu vermeiden. Mit Methoden, deren Berechnung und Anwendung durch moderne Medien zur Informationsverbreitung, v.a. durch die Informatik, beschleunigt werden, wird die aktuelle Inflation eng an die der Vorperiode gebunden, und es besteht nicht nur die Tendenz zur Fortschreibung, sondern auch zum weiteren Anstieg der hohen Inflationsraten. Das geschieht in dem Maße, wie die zugrundegelegten durchschnittlichen Inflationsraten der Vorperiode zu einem Mindestwert für die Anpassungen in der Folgeperiode werden. Die Erwartung, daß die Inflation hoch bleiben und sich zudem verstärken wird, ist ein weiteres Moment zur Erhaltung und Verschärfung des Inflationsprozesses. Unter dem Gesichtspunkt der Inflationsbekämpfung zieht das verbreitete Auftreten solcher Prozesse zwei Konsequenzen nach sich. Zum ersten wird die Inflationsbekämpfung schwieriger. Denn nun müssen zusätzlich zu der traditionellen Geld-, Fiskal- und Wechselkurspolitik weitere Maßnahmen zur Neutralisierung jener Mechanismen getroffen werden, die die Trägheitskomponenten der Inflation erhalten und verstärken. Diese Politik stößt freilich auf den Widerstand der Wirtschaftsakteure, die nicht bereit sind, auf die Methoden zur Verteidigung des Realwerts ihrer Preise, Geldvermögen und Nominaleinkommen zu verzichten. Zum anderen ist aber auch davon auszugehen, daß angesichts der Resistenz vieler Preise, Nominaleinkommen und Geldvermögen gegen die orthodoxe Politik die traditionelle Bekämpfung der Inflation um so rezessiver ausfallen muß, solange es nicht gelingt, die Trägheitsmechanismen zu überwinden. Je stärker die Trägheitskomponente ausgeprägt ist, umso länger dauert der Stabilisierungsprozeß und die damit verbundene Rezession an. Unter diesen Umständen schlagen die Vertreter der "heterodoxen" Politik mittlerweile vor, gleichzeitig mit den Maßnahmen zur Bekämpfung der fundamentalen Ursachen auch solche zu ergreifen, die geeignet sind, die Trägheitskomponente zu durchbrechen. Unter den verschiedenen Alternativen ist dabei ein 50

Vorschlag auf Resonanz gestoßen und häufig in die Praxis umgesetzt worden: der abrupte Preisstopp, der die Beharrungsinflation jäh unterbricht und die Wirksamkeit der Trägheitsmechanismen im Moment des Einfrierens der Preise auslöscht. Auf dieser neu geschaffenen Basis könnte dann die Inflation bei einer Nullrate oder sehr nahe an Null gehalten werden. Im Falle der Löhne und anderer Einkommen, die in festen Zeitabständen ausgezahlt werden, wird häufig angeregt, den mittleren Realwert der Kontrakte zu berechnen, den diese in den letzten Monaten vor dem Preisstopp hatten, und ihn anschließend in konstante Währungseinheiten zu konvertieren. Dies erklärt sich dadurch, daß diese Einkommen in dem Zeitraum zwischen den Anpassungen einen Realwertverlust erleiden und zwischen "Spitzen" und "Tälern" derart schwanken, daß eine Korrektur nicht einfach durch eine Rückkehr zu dem Wert des letzten Gipfels vorgenommen werden kann. Legte man die "Spitze" als neue Basis zugrunde, so würde dies bedeuten, das Programm mit einer Anhebung der durchschnittlichen Realeinkommen zu initiieren, wodurch von diesem Zeitpunkt an ein neuer Inflationsdruck entstünde. Wenn beispielsweise die Löhne am Tag der Einfuhrung des Programms um 20% angepaßt würden, um sie erneut auf "Spitzen"-Niveau zu bringen, so würde von diesem Moment an ein Druck auf die Preise entstehen, der die Wirksamkeit des Stabilisierungsprogramms gefährdete. Die Konvertierung zum Durchschnittswert dagegen hat geringere Auswirkungen auf die zukünftige Inflationsrate. Die große Schwierigkeit bei der Umsetzung "heterodoxer" Pläne besteht darin, wie die brasilianische Erfahrung veranschaulicht, daß ein Lohn- und Preisstopp (oder eine andere, gleichwertige Maßnahme) infolge der jähen Unterbrechung des Inflationsprozesses eine für die Politiker komfortable Situation schafft. Diese befreien sich innerhalb kurzer Zeit von der Inflation und erhalten dafür häufig einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung, da die Inflation hohe Unsicherheiten schafft. Diese unmittelbaren Ergebnisse verleiten die verantwortlichen Politiker zur Verfolgung einer akkomodierenden Politik — meistens sehr zur Beunruhigung der für die Wirtschaftspolitik verantwortlichen Regierungsmitglieder. Wenn diese dann vorschlagen, im Anschluß an den Lohn- und Preisstopp geld- und fiskalpolitische Maßnahmen zu ergreifen, um die Kontrolle zu sichern und die fundamentalen Inflationsursachen tatsächlich zu bekämpfen, werden ihre Vorschläge häufig von den Politikern abgelehnt, die sich mit den erreichten Ergebnissen zufrieden geben und nicht bereit sind, die weiteren notwendigen Schritte einzuleiten. Ein heterodoxes Programm ist mit einem Menü vergleichbar, das mit einer für die Politiker wohlschmeckenden Vorspeise beginnt — nämlich dem Preisstopp — und als Hauptgericht eine wenig schmackhafte Auswahl von Maßnahmen der Geld- und Fiskalpolitik serviert. Das Hauptgericht wird dann sofort zurückgewiesen, weil die Politiker lieber gleich zu dem gleichfalls angenehmen Nachtisch — nämlich dem politischen Erfolg — übergehen wollen, ohne die "Diätkost" der harten Geldund Fiskalpolitik zu essen. Der Fall Israel veranschaulicht vielleicht am besten die Pläne, die sich konsequent an das heterodoxe Rezept gehalten haben. Hier wurde in einem ersten Schritt eingefroren und unmittelbar danach wurde das 51

Stabilisierungsprogramm mit unpopulären monetären und fiskalischen Anpassungsmaßnahmen konsolidiert, die die Inflationsraten tatsächlich auf ein niedrigeres Niveau brachten. In Brasilien hat dieses Modell bei den ab 1986 angewandten Stabilisierungsplänen nicht erfolgreich funktioniert, wie im folgenden zu sehen sein wird. Der derzeit stattfindende Piano Real ist zur Zeit (Mitte 1995) noch nicht abschätzbar; von der Anlage her unterscheidet er sich jedoch in zwei Aspekten von den vorhergehenden Programmen. Zum einen wurde zur Überwindung der Trägheitskomponente der Inflation nicht der Preisstopp angewandt, sondern eine andere Methode, die an späterer Stelle erläutert werden soll. Zum anderen versucht die Regierung, anders als bei den anderen Stabilisierungsversuchen, das Programm selbst angesichts eines deutlichen Widerstands geld- und fiskalpolitisch zu konsolidieren. Um einen Überblick über die Auswirkungen der verschiedenen Stabilisierungspläne zu geben, die 1986 mit dem Piano Cruzado begannen, stellen wir in Abbildung 1 die monatlichen Inflationsraten vom Januar 1985 bis April 1995 vor. In der Grafik sind die jeweiligen Monate gekennzeichnet, in denen die unterschiedlichen Stabilisierungspläne eingeführt wurden. Der Abbildung 1 sind folgende Merkmale zu entnehmen: 1) Seit 1985 sind sechs Stabilisierungspläne zur Anwendung gekommen; alle fünf Pläne, die dem Piano Real vorausgegangen sind, scheiterten. 2) Mit Ausnahme des Piano Real wurden alle Pläne mit einem Preisstopp eingeleitet; bei allen, einschließlich des letzten, wurde mit der Umrechnung der Löhne in die neue Währung versucht, die Trägheitskomponente zu eliminieren. 3) Nach dem Scheitern der Stabilisierungspläne unter Präsident Sarney kehrte die Inflation auf immer höherem Niveau zurück, während ab dem Piano Collor die Inflation zwar ebenfalls wieder Einzug hielt, die Inflationsraten jedoch nicht so hoch waren wie in der Zeit vor dem Stabilisierungsplan. Hier ist ein wichtiger Aspekt, der später untersucht werden soll: Irgend etwas hat verhindert, daß die Inflation immer weiter anstieg. In Abbildung 2 werden die Inflationsraten aus Abbildung 1 für den Zeitraum 1986-94 auf das ganze Jahr umgerechnet und in Zusammenhang mit dem operationalen Ergebnis der Staatshaushalte gestellt, das normalerweise in Form eines Defizits auftritt und prozentual zum Bruttoinlandsprodukt gemessen wird. Das operationale Ergebnis bezieht sich auf den Nicht-Finanzsektor und umfaßt die Bundesregierung, Länder, Gemeinden und Staatsbetriebe.

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