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Industrialisierung und Aussenpolitik
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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 24

KRITISCHE STUDIEN ZUR GESCHICHTSWISSENSCHAFT

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Christoph Schröder, Hans-Ulrich Wehler

Band 24 Horst Müller-Link Industrialisierung und Außenpolitik

G Ö T T I N G E N · V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T • 1977

Industrialisierung und Außenpolitik Preußen-Deutschland und das Zarenreich von 1860 bis 1890

VON HORST MÜLLER-LINK

GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1977

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutseben

Bibliothek

Müller-Link, Horst Industrialisierung und Außenpolitik: Preußen-Deutschland u. d. Zarenreich von 1860-1890. 1. Aufl. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1977. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 24) ISBN 3-525-35977-2

© Vandenhoeck 8c Ruprecht, Göttingen 1977. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen.

-

Satz

und

Druck:

Guide-Druck,

Bindearbeit: Hubert Sc Co., Göttingen

Tübingen.

-

Inhalt Vorwort 1. Einleitung

9 11

2. Faktoren des sozialökonomischen und politischen Wandels in den deutsch-russischen Beziehungen der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts 2.1 Sozialökonomischer Wandel unter den Bedingungen ökonomischer Rückständigkeit: Rußland bis 1881 2.1.1 Die ökonomische Transformation zwischen Agrarreform und industrieller Revolution 2.1.2 Die soziale Transformation 2.1.3 Das politische Herrschaftssystem im Spannungsfeld des sozialökonomischen Wandels 2.2 Die wirtschaftlichen Grundlagen der deutsch-russischen Beziehungen 2.2.1 Die Struktur des europäischen Agrarmarktes von 1846 bis 1876 und von 1876 bis 1890 2.2.2 Russischer Industrieprotektionismus und ökonomische Rückständigkeit 2.2.3 Industrialisierung und deutscher Industrieexport: Der russische Markt

19

19 21 40 45 58 58 75 88

3. Preußische Revolution „von oben" und die europäische Konstellation 1866 bis 1874

103

3.1 Preußischer Militärstaat und preußisch-deutscher Konstitutionalismus 3.2 Konservative deutsche Außenpolitik und europäischer Status quo

103 106

4. Wechselwirkungen zwischen innerstaatlichen Veränderungen und internationaler Konstellation in der Inkubationszeit des deutschrussischen Antagonismus

120

4.1 Preußisch-deutsche Rüstungspolitik und deutsch-russischer Antagonismus von der „Krieg-in-Sicht-Krise" bis zum Berliner Kongreß 1878

120 5

4.2 Reichsfinanzreform und Reichssteuerreform als Krisenstrategie: Die finanzielle Sicherung des innen- und außenpolitischen Status quo 4.3 Von der „industriellen Revolution" zur „industriellen Depression": Die deutsche Industrie und der russische M a r k t bis 1879 . 4.4 Zur Organisation und Ideologie agrarischer Interessenpolitik in Preußen-Deutschland 4.5 Die Integrationsfunktion antirussischer Politik f ü r die antiliberale Wendung der deutschen Innen- und Wirtschaftspolitik 1875 bis 1879 4.6 Sozialökonomische Krisenstrategie und Außenpolitik 5. Deutsch-russische B e z i e h u n g e n u n d i n t e r n a t i o n a l e r S t a t u s

133 145

164 175

quo

v o n 1 8 7 9 / 8 0 bis 1885

191

5.1 Die Eskalation des ökonomischen Antagonismus unter dem Primat der Innenpolitik 5.1.1 Rußland 5.1.1.1 Innenpolitische Reaktion und russische Von Alexander II. zu Alexander III

127

191 191

Außenpolitik: 191

5.1.1.2 Die Problematik der wirtschaftlichen Rückständigkeit: Der rüstungs-, handels- und finanzpolitische Aspekt . . .

209

5.1.2 Preußen-Deutschland

218

5.1.2.1 Aktionsfelder agrarischer Interessenpolitik 1879-1884: Zoll- und Steuerpolitik, Bimetallismus 5.1.2.2 Die Exportoffensive der deutschen Industrie und der russische Markt 5.2 Die präventive Sicherung des europäischen Status quo gegen den Zweifrontenkrieg 5.2.1 Deutsche Rüstungs- und Bündnispolitik vom Zweibund bis zum Dreibund 5.2.2 Sozialkonservative Innenpolitik und ökonomische Stabilisierungspolitik nach außen 5.2.3 Die Sicherung der finanziellen Kriegsbereitschaft . . . .

218 228 239 239 245 259

6. D e r H ö h e p u n k t des a u ß e n - u n d w i r t s c h a f t s p o l i t i s c h e n A n t a g o nismus zwischen D e u t s c h l a n d u n d R u ß l a n d 6.1 Wirtschaftskrise und Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus 6.1.1 Die russische Wirtschafts- und Finanzpolitik im Spannungsfeld zwischen sozialer Reaktion und Staatsbankrott: Von Bunge zu Vysnegradskij

6

268

268

268

6.1.2 Preußisch-Deutscher Agrarprotektionismus und agrarische Rußlandfeindschaft 6.1.3 Russischer Industrieprotektionismus: Das Dilemma des deutschen Industrieexportes 6.1.4 Sozialökonomische Krisenstrategie und Außenpolitik 1885 bis 1886 6.2 Die Krise der deutschen Außenpolitik als Hegemonialkrise . . . 6.3 Die Bismarcksche Alternative: Innenpolitische Reaktion und Außenpolitik der Sanktionen 6.3.1 Der Ausbau des deutschen Militärstaates 6.3.2 Restriktive Bedingungen einer Transformation der europäischen Konstellation: Die russische Außenpolitik zwischen Dreikaiserbündnis und Rückversicherungsvertrag unter dem Primat der Innenpolitik 6.3.3 Politik der ökonomischen Sanktionen

308 319

7. Die T r a n s f o r m a t i o n der internationalen Konstellation zwischen Hegemonialkrise u n d russisdi-französisdier A n n ä h e r u n g . . . .

339

7.1 Politische und militärische Konsequenzen der Politik der ökonomischen Sanktionen

339

276 283 286 293 303 303

8. Schlußbemerkungen

354

9. A n h a n g

368

9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

Anmerkungen Abkürzungsverzeichnis Quellenverzeichnis Bibliographie Maße und Gewichte

368 471 473 475 498

Personenregister

499

Sachregister

502

7

Vorwort Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation mit dem Titel „Außenwirtschaft und Innenpolitik in den deutsch-russischen Beziehungen von 1860 bis 1890", die im Sommer 1975 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld angenommen wurde. Anregungen und kritische Einwände zur ursprünglichen Fassung wurden, soweit es mir in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit möglich war, bei der Überarbeitung berücksichtigt. Damit soll nicht gesagt sein, daß ich mich der Kritik an der vorliegenden Fassung verschließen möchte. Ich hoffe im Gegenteil, daß das Buch den Anstoß zu einer Diskussion gibt, die den scheinbar „traditionalen" Problemkomplex der Außenpolitik des zweiten deutschen Kaiserreiches über die Grenzen, in denen sich die Forschung bis in die jüngste Zeit bewegt hat, hinausführt. Sollte es mir gelungen sein, Einseitigkeiten und Fehlinterpretationen in der älteren Literatur zum Thema der deutsch-russischen Beziehungen der Ära Bismarck zu korrigieren und neue Perspektiven zu eröffnen, so verdanke ich das in erster Linie Herrn Prof. H.-U. Wehler, Bielefeld, der mir nicht nur die Anregung zu dieser Arbeit gab, sondern mir durch seine Kritik und vielfache Unterstützung Mut machte, sie auch abzuschließen. Für anregende Kritik danke ich darüber hinaus Herrn Prof. J . Kocka, Bielefeld, den Teilnehmern des Bielefelder Kolloquiums zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, meinem Bielefelder Kollegen G. Meyer, Herrn Prof. D. Geyer, Tübingen, dessen kritische Einwände insbesondere zur russischen Seite mir bei der Überarbeitung sehr hilfreich waren, und Herrn Prof. Berding, Gießen, der bei den Vorarbeiten zur Drucklegung mitgeholfen hat. Schließlich bin ich auch allen, die meine Arbeit in den von mir besuchten Archiven unterstützt haben, zu Dank verpflichtet. Ich möchte nicht versäumen, vor allem Sr. Durchlaucht, dem Fürsten Bismarck, dafür zu· danken, daß er mir sein Privatarchiv zugänglich gemacht hat. Mein besonderer Dank gilt Herrn Reitzsch, der als Leiter der Archivs in Friedrichruh keine Mühe gescheut hat, meine Forschungsarbeit zu unterstützen. Bielefeld, im Mai 1976

Horst Müller-Link

9

1. Einleitung Das Ziel dieser Arbeit ist die Analyse des breiten Spektrums sozialökonomischer und politischer Faktoren, die die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen zwischen 1860 und 1890 beeinflußt oder bestimmt haben. Sie versteht sich damit als Beitrag zu einer Diskussion, die - wie vor allem im Rahmen der Friedens- und Konfliktforschung - die sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen internationaler Politik thematisiert und nicht zufällig am Ersten Weltkrieg als dem bevorzugten historischen Fall konkretisiert 1 . Trotz eines wachsenden Interesses der internationalen Historiographie an den sozialökonomischen Problemen der internationalen Beziehungen der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts ist ein Defizit an theoretischen und empirisch ergiebigen Untersuchungen der sozialökonomischen Aspekte der deutsch-russischen Beziehungen in der Ära Bismarck unübersehbar: Die französische Geschichtsschreibung blieb bis in die jüngste Zeit unter dem Eindruck der Arbeiten von Daudet, Hanotoux, Albin und Michon weitgehend diplomatiegeschichtlich orientiert. Erst die neueren Arbeiten von Poidevin und Girault gehen systematisch wirtschaftliche und finanzielle Fragen der russisch-französischen Annäherung zwischen 1887-1914 an 2 . In der sowjetrussischen Geschichtsschreibung gab es schon seit den 1920er Jahren ein lebhaftes Interesse am deutschen Militarismus und an den ökonomischen Gegensätzen als den wichtigsten Ursachen für die Entstehung und Eskalation akuter Antagonismen in den deutsch-russischen Beziehungen der Bismarckzeit. Abgesehen von den ideologischen Problemen des dabei favorisierten Zugangs bleibt dennoch aus der Perspektive sowjetischer Historiker dieser Komplex ein lohnendes Untersuchungsfeld 3 . Die deutsche Geschichtsschreibung schickte sich erst seit den 1960er Jahren an, diese Lücken zu füllen. Wie mit ihren Beiträgen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Antike und des Mittelalters brachte die Geschichtsforschung der D D R einen Prozeß in Gang, der eine völlige Revision der Ergebnisse der älteren deutschen Geschichtsschreibung über die deutsch-russischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg erkennen läßt 4 . Die Quellenlage, die enge Zusammenarbeit mit sowjetischen Historikern und nicht zuletzt die ideologische Orientierung stellten f ü r DDR-Historiker zweifellos günstige Bedingungen dar, um diese Geschichtsschreibung einer gründlichen Kritik zu unterziehen. Auf der anderen Seite wurde die Geschichtsschreibung der BRD bis in die jüngste Zeit durch starre ideologische Barrieren daran gehindert, die sozialökonomischen Aspekte der deutsch-russischen Beziehungen zu thematisieren. Das gilt f ü r die Osteuropa-Forschung, wie sie an den Osteuropa-Instituten gepflegt

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wurde, nicht minder als für die Geschichtsschreibung zur allgemeinen deutschen Geschichte. Während die heftigen Kontroversen der Fachhistorie über die Arbeiten Fritz Fischers das Terrain für eine Neuinterpretation der unmittelbaren Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges freimachten, blieb die Geschichtsschreibung zur europäischen Politik der Ä r a Bismarck in einer T r a d i tion befangen, die sich auf die Darstellung und Interpretation zeitlich eng gefaßter diplomatischer Entscheidungsprozesse beschränkte, dabei weitgehend der im Kaiserreich offiziös geförderten apologetischen Interpretation deutscher Außenpolitik folgte und sich speziell im Hinblick auf die deutsch-russischen Beziehungen durch eine nationalistische Ideologie mit ausgeprägter antirussischer Komponente den Blick für wesentliche Probleme, Voraussetzungen und treibende K r ä f t e russischer Politik verstellen ließ. Dieser Tradition, die von Treitschke, Sybel u. a. und nicht zuletzt von Bismarck selber begründet, durch die Arbeiten von Mareks, Rachfahl, Becker u. a. fortgeführt und dann durch die kollektive Abwehrhaltung gegenüber dem Vorwurf von der Kriegsschuld Deutschlands erheblich gestärkt wurde, konnten auch neuere Arbeiten zu „Bismarcks Außenpolitik" nicht entkommen. Ansätze Fischers und Epsteins, jenseits der Diplomatiegeschichte die seit der zweiten H ä l f t e der 1870er J a h r e schnell fortschreitende ideologische Polarisierung zwischen den offiziell befreundeten Mächten Deutschland und Rußland zu analysieren, kamen über die Deskription antirussischer Ideologien nicht hinaus 5 . Erst im Zuge andauernder Bemühungen, ein neues Selbstverständnis der Geschichtsschreibung als einer kritischen Historischen Sozialwissenschaft zu begründen, wurde auch in der Bundesrepublik die Geschichtsschreibung zur Bismarckzeit von diesem ideologischen Ballast befreit 6 . Die These, daß erst die deutsche Außenpolitik unter C a p r i v i das Ende der von Bismarck kultivierten deutsch-russischen Freundschaft besiegelt habe, findet seit der Abkehr von der reinen Diplomatiegeschichte keinen ernsthaften Anhänger mehr. Konsens herrscht vielmehr darüber, daß eine scheinbar unaufhaltsame Eskalation der Gegensätze noch während der Kanzlerschaft Bismarcks die traditionellen Grundlagen der deutschrussischen Freundschaft zerstörte und die Weichen für das russisch-französische Bündnis - mit oder ohne Rückversicherungsvertrag - am Ende der 1880er J a h r e gestellt wurden. Unter dieser Annahme beginnen die Schwierigkeiten mit dem Versuch, die Ursachen für die schnelle Eskalation der Antagonismen in den deutsch-russischen Beziehungen ausfindig zu machen. Mit Recht werden neben ökonomischen und politischen Gegensätzen auf der Ebene der Handels-, der Finanz- und der Außenpolitik auch soziale und innenpolitische Ursachen geltend gemacht. Zu nennen wären hier insbesondere der aggressive russische Nationalismus auf der einen bzw. der deutsche Militarismus und Imperialismus auf der anderen Seite. V o r a b erscheint es als verfrüht, auf der Suche nach den sozialökonomischen und politischen Ursachen der deutsch-russischen Entfremdung eine Prioritätenskala festzulegen. D a s gleiche gilt für den Versuch, eine auf besonders markante Entscheidungssituationen bezogene Motivforschung bei den exponierten Entscheidungsträgern zu betreiben. Denn das sozialökonomi-

12

sehe und das politische Makro-Umfeld, dessen Erhellung allein die Entstehung, die Lösung und die Konsequenzen strategischer Entscheidungssituationen erklären kann, ist trotz unübersehbarer Fortschritte theoretisch und empirisch noch nicht hinreichend analysiert worden 7 . Das Interesse an den ökonomischen Aspekten der deutsch-russischen Beziehungen konzentrierte sich bisher auf zwei Schwerpunkte: einmal auf die seit den 1870er Jahren schnell wachsende Bedeutung des deutschen Marktes als Absatzgebiet für den russischen Agrarexport und umgekehrt auf die Rolle des russischen Marktes als Absatzgebiet für Produkte der deutschen Industrie; zum anderen auf die Bedeutung des deutschen Kapitalexportes nach Rußland und die Rolle deutschen Kapitals bei der wirtschaftlichen Expansion der deutschen Industrie auf dem Balkan®. Dennoch blieben die Konturen der deutsch-russischen Beziehungen auf der ökonomischen Ebene noch ziemlich unscharf. Forschungsstrategisch muß man sich entgegen dem ersten Eindruck vor der Annahme hüten, daß die Eskalation der wirtschaftlichen Gegensätze linear einer scheinbar unaufhaltsamen Automatik folgte. Läßt der Klassencharakter des deutschen und des russischen Reiches es auch als naheliegend erscheinen, sich vorrangig um den Nachweis des unmittelbaren Einflusses der führenden Klassen dieser Länder auf die Handelspolitik zu bemühen, so findet der einflußtheoretische Ansatz doch schon dort eine Grenze, wo die Klasseninteressen miteinander oder mit denen des Staates kollidieren. Die innenpolitische Dimension der deutschen Handelspolitik, aber auch der deutsch-russischen Kapitalbeziehungen bietet noch viele Probleme 9 . Eklatant deutlich wird das Forschungsdefizit auch hinsichtlich der Frage nach der sozialökonomischen und politischen Dimension der ideologischen Polarisierung: dem Aufstieg eines aggressiven russischen Nationalismus mit einer ausgeprägt antideutschen Komponente auf der einen und der Herausbildung eines russischen Feindbildes, das mehr oder weniger alle sozialen und politischen Gruppen im Kaiserreich erfaßte, auf der anderen Seite 10 . Ähnlich stellt sich die Lage dar in bezug auf die deutschrussische Polarisierung auf der Ebene der Militärpolitik. Weder die militärischen, die finanziellen, die wirtschaftlichen und die sozialen Konsequenzen einer deutschen Militärpolitik, die sich seit der Reichsgründung auf die ständig wachsende Wahrscheinlichkeit eines Krieges mit Rußland einstellte, noch die vielschichtigen Probleme zaristischer Militärpolitik in der Periode einer stetigen Eskalation der deutsch-russischen Polarisierung sind bisher ausreichend untersucht worden 11 . Der noch unzureichende Forschungsstand zur sozialökonomischen und innenpolitischen Dimension der deutsch-russischen Beziehungen kumuliert schließlich in den Schwierigkeiten, schon jetzt die generelle Thematik des Verhältnisses von Politik und Ökonomie bzw. die Frage nach dem Primat der Außen- oder der Innenpolitik zu stellen 12 . Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag zur intensiven Diskussion der noch offenen Probleme leisten. Dabei soll von der Annahme ausgegangen werden, daß die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich im Rahmen einer europäischen Mächtekonstellation 13

vollzog, die durch zwei besonders hervorragende Merkmale gekennzeichnet w a r : durch besonders tiefgreifende qualitative Wandlungen ihres strukturellen Konfliktniveaus und durch auffallende Diskrepanzen in bezug auf wirtschaftliche Potenz, militärische und politische Macht und soziale Organisation 1 3 . Der internationale Status des zaristischen Rußland und des deutschen Reiches im Koordinatennetz der europäischen Pentarchie: ökonomische Rückständigkeit bei beträchtlich reduziertem internationalen Prestige auf der einen, Aufstieg zur wirtschaftlichen und politischen Großmacht auf der anderen Seite, läßt sich unter diesem Aspekt als eine Hauptquelle für die Ansammlung eines deutsch-russischen Konfliktpotentials ausmachen, und zwar um so mehr, je angestrengter die zaristische Regierung den Versuch unternahm, dem Status des späten Nachzüglers im europäischen Industrialisierungsprozeß zu entkommen 14 . Es liegt nahe, ausgehend von den ökonomischen Disparitäten die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Wirtschaft - eingegrenzt: von Außenwirtschaft und Innenpolitik - in den deutsch-russischen Beziehungen der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts anzugeben, d. h. außenpolitische Spannungen nicht als Ausfluß originärer machtpolitischer Ambitionen, sondern als Funktion ökonomischer Veränderungen und der sie begleitenden sozialen und innenpolitischen Spannungen zu sehen. Geht man davon aus, daß im Prozeß der ökonomischen Modernisierung ökonomischer, sozialer und politischer Wandel sich wechselseitig bedingen und daß mit dem G r a d e der ökonomischen Rückständigkeit bzw. mit der zu ihrer Überwindung aufgewandten Energie sich die Risiken ökonomischer Abhängigkeit von außen, sozialer Spannungen und politischer Inkonsistenzen im Innern potenzieren, dann können die sozialökonomischen und innenpolitischen Entwicklungen Deutschlands und Rußlands zwischen 1860 und 1890 als Quellen permanenter zwischenstaatlicher K o n f l i k t e begriffen werden. Als „früher N a c h z ü g l e r " durchlief das Deutsche Reich bis zur nationalstaatlichen Gründungsphase einen Modernisierungsprozeß, der typische Merkmale der „partiellen Modernisierung" eines relativ rückständigen Agrarstaates aufwies 15 . Es ist klar, daß die überkommenen Belastungen einer „partiellen Modernisierung" und die Problematik, ihre Stabilisierungsbedingungen zu erhalten, mit dem erfolgreichen Durchlaufen des „ T a k e - o f f " nicht verschwunden waren, sondern integrale Bestandteile des strukturellen Konfliktniveaus des europäischen Staatensystems zwischen 1860 und 1890 bildeten. Phasenverschoben, unter den Bedingungen hochgradiger ökonomischer Rückständigkeit und unter dem Zwang, diese dennoch in einem möglichst kurzen Zeitraum zu überwinden, bestimmten ähnliche Probleme - in freilich erheblich verschärfter Form - den Beitrag, den die innere Entwicklung Rußlands zur europäischen Konfliktstruktur in der zweiten H ä l f t e des 19. J a h r hunderts beisteuerte. Als Ausdruck scharfer Diskrepanzen, die selbst die Chancen einer erfolgreichen „partiellen Modernisierung" in Frage stellten, läßt sich 14

etwa der in den 1870er und 1880er Jahren extreme russische Nationalismus als Entwicklungsideologie, als Ausdruck kollektiver Frustrationen, sozialer und politischer Integrations- und Diffusionsprobleme, Ungleichheiten ökonomischer Entwicklungschancen und außenpolitischer Handlungsunfähigkeit analysieren1®. Der A u f b a u der Arbeit kann sich mithin an konflikttheoretischen Überlegungen orientieren. Dabei soll von den dominierenden sozialökonomischen und politischen Faktoren als den dispositionellen Grundlagen ausgegangen werden, die die deutsch-russischen Beziehungen zwischen 1860 und 1890 bestimmten. Die Problematik der für die innere Entwicklung Rußlands nach dem K r i m kriege konstitutiven Alternative: weiterer R ü c k f a l l in die ökonomische Rückständigkeit oder sozialökonomischer Wandel als Bedingung und Folge ihrer Überwindung soll neben den strukturellen Veränderungen in den deutsch-russischen Handelsbeziehungen als Beispiel für die Entstehung eines wirtschaftlichen Bezugssystems zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern zunächst im Vordergrund stehen (Kapitel 2 und 3) 17 . Drei G r ü n d e können das rechtfertigen: Erstens bestimmten maßgeblich innere Probleme die Möglichkeiten und A k tionen der russischen Außenpolitik in der Periode der preußischen Hegemonialkriege und nach der Gründung des Deutschen Reiches. Zweitens soll die in der diplomatiegeschichtlich orientierten Literatur zu den deutsch-russischen Beziehungen auffallend einseitige Perspektive preußischdeutscher Rußlandpolitik vermieden und die These ernst genommen werden, daß u. a. die akuten Probleme des sozialökonomischen Wandels und ihr lähmender Einfluß auf die russische Politik während der „ R e f o r m ä r a " Alexander I I . nicht nur die E r f o l g e preußischer Hegemonialpolitik ermöglichten, sondern auch nach der Gründung des Deutschen Reiches Chancen und Spielräume deutscher Außenpolitik bestimmten. Drittens gehörten die Informationen über die innere L a g e Rußlands, die Art und Weise, wie die Probleme des sozialökonomischen Wandels perzipiert und interpretiert wurden, zu den Voraussetzungen, die die Konzeptionen und P r a k tiken preußisch-deutscher Politik erklären können. Die innenpolitische Dimension der deutschen Außenpolitik soll nur im Hinblick auf solche K o n f l i k t p o tentiale einbezogen werden, die als unbewältigte Probleme einer im ganzen erfolgreich vollzogenen „partiellen Modernisierung" in die innere „ V e r f a s s u n g " des neuen Deutschen Reiches eingingen und die nachträglich nur um den Preis einer Eskalation des deutsch-russischen Konfliktpotentials „ b e w ä l t i g t " werden konnten (Kapitel 3.1 und 3.2) 1 8 . In den folgenden Kapiteln soll der Versuch unternommen werden, die U r s a chen für die Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus zu analysieren. Als Periodisierungseinheiten bieten sich 5-Jahres-Zeiträume an, die jeweils eine neue Konfliktstufe markieren. D i e Gliederung von Kapitel 4 geht von der Annahme aus, daß die Wechselwirkung zwischen einer von erheblichen Disparitäten gekennzeichneten K o n 15

stellation und den sich sowohl in Rußland als auch in Deutschland verschärfenden sozialökonomischen und innenpolitischen Problemen die Eskalation des deutschrussischen Antagonismus zur Folge hatte. Die innenpolitische Dimension der deutschen Rußlandpolitik 1 9 läßt sich auf dieser Konfliktstufe in drei Problemkomplexen zusammenfassen: Erstens als Versuch, angesichts einer sich abzeichnenden Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus in präventiver Absicht, die rüstungs- und finanzpolitischen Konsequenzen zu ziehen, womit die Voraussetzungen f ü r eine weitere Eskalation geschaffen waren (Kapitel 4.1 und 4.2). Zweitens auf die Versuche der deutschen Industrie und des preußischen Großgrundbesitzes, in Reaktion auf die industrielle Depression und die Agrarkrise durch Verschiebung der internationalen Konkurrenzbedingungen ihre wirtschaftlichen Interessen gegenüber Rußland durchzusetzen (Kapitel 4.3 und 4.4). Drittens auf die Möglichkeiten bzw. die innen- und außenpolitischen Strategien der deutschen Politik, die weitere Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus zu verhindern oder ihn auf einem wenn auch erhöhten Konfliktniveau zu stabilisieren (Kapitel 4.5 und 4.6). Der im Kapitel 5 behandelte Zeitraum bezeichnet eine weitere Stufe des deutsch-russischen Antagonismus. Obgleich äußerlich durch einen Abbau der zwischenstaatlichen Konflikte gekennzeichnet, wurden in diesem Zeitraum doch die Weichen f ü r eine weitere, ja schubartige Eskalation gestellt. Die Ursachen dafür werden einmal in den sozialökonomischen, durch eine industrielle Depression und zugleich eine Agrarkrise verschärften Problemen gesehen, die sowohl die russische als auch die deutsche Innenpolitik beherrschten (Kapitel 5.1); zum anderen aber in dem Versuch der deutschen Politik, lokalisiert, durch begrenzte präventive Maßnahmen auf dem Gebiete der Rüstungs-, der Wirtschafts- und der Finanzpolitik sowie durch eine noch kalkulierte und verdeckte politische Instrumentalisierung militärischer und wirtschaftlicher Disparitäten den europäischen Status quo zu erhalten (Kapitel 5.2). Dem folgenden Kapitel 6 liegt die Annahme zugrunde, daß seit der Mitte der 80er Jahre die deutsch-russischen Spannungen das Stadium des epidemischen Konfliktes erreichten, das tendenziell die Transformation der europäischen Konstellation einleitete. Als die treibenden K r ä f t e und bestimmenden Merkmale dieser Konfliktstufe stehen im Vordergrund: 1. Die Eskalation der wirtschaftlichen Antagonismen als Folge der international wirksamen industriellen Depression und Agrarkrise (Kapitel 6.1). 2. Die Veränderung der militärischen Kräfteverhältnisse zugunsten der potentiellen Gegner des Deutschen Reiches in einem Zweifrontenkrieg und die daraus resultierende Krise der deutschen Außenpolitik (Kapitel 6.2). 3. Die qualitative Wandlung der deutschen Rußlandpolitik von einer Konzeption des strategischen Konfliktes zu einer Politik der militärischen Drohungen und der kaum noch verhüllten Anwendung ökonomischer Sanktionen als Aternative zum Präventivkrieg. 16

Im Kapitel 7 sollen schließlich die ökonomischen, militärischen und politischen Aspekte dieser Politik im Hinblick auf die Frage analysiert werden, ob und inwieweit sie geeignet war, die Transformation der europäischen Konstellation zu verhindern oder zu beschleunigen. Angesichts der übergreifenden Fragestellung dieser Arbeit und der dabei auftauchenden Teilprobleme stellte sich im Verlaufe des Arbeitsprozesses heraus, daß die Bewältigung des Themas eine breite Materialbasis erforderlich machte. Es wurde versucht, die Sekundärliteratur im Umfeld des Themas nach Möglichkeit auszuwerten. Es kann nicht überraschen, daß die schier unübersehbare Fülle einer einseitig diplomatiegeschichtlichen Literatur zur deutschen Außenpolitik der Bismarckzeit sowie die Aktenpublikation des AA für das Thema dieser Arbeit nur eine notdürftige Grundlage abgeben konnte. Daran änderte auch nichts die Tatsache, daß einzelne Monographien ungeachtet ihres diplomatiegeschichtlichen Schwerpunktes Quellenmaterial enthielten, das sich bei entsprechender Systematisierung auch im Zusammenhang dieser Arbeit als sehr wertvoll erwies 20 . Obwohl die neuere Arbeit von Kumpf-Korfes, die sich auf russische Literatur und neues Archivmaterial stützt, einen wichtigen Beitrag zur sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Erforschung der deutsch-russischen Beziehungen darstellt, muß ihre Materialbasis für systematischere Fragestellungen als unzureichend angesehen werden. Der Versuch, diesem Mangel durch die Erschließung des noch weithin nicht ausgewerteten Materials in den Archiven der D D R abzuhelfen, scheiterte, da mehrfache Anträge zum Besuch der Deutschen ZentralArchive in Potsdam und Merseburg von der Archivverwaltung abgelehnt wurden. Dennoch war es möglich, die vorliegende Arbeit auf eine freilich immer noch erweiterungsbedürftige Materialbasis zu stellen. Dabei erwies es sich als ein Vorteil, daß inzwischen auf eine umfangreiche Literatur zur deutschen und russischen Wirtschaftsgeschichte zurückgegriffen werden konnte. Die während der Auswertung sich abzeichnenden Lücken konnten teilweise durch gedruckte, bisher nicht ausgewertete zeitgenössische Quellen, teils durch ungedrucktes Material im „Politischen Archiv" (Bonn) und im „Geheimen Preußischen StaatsArchiv" (Berlin) gefüllt werden 21 . Vor allem die Konsulatsberichte aus Petersburg und die Berichte der deutschen Botschaft zur russischen Wirtschafts- und Finanzpolitik erwiesen sich als eine ergiebige Quelle, um die Wechselwirkung ökonomischer, finanzieller und politischer Faktoren im politischen Entscheidungsprozeß der deutschen Rußlandpolitik durchsichtiger zu machen. Für die Frage nach dem Einfluß sozialer und militärischer Faktoren sowie wirtschaftlicher Interessen auf die deutsch-russischen Beziehungen stellen die edierten Memoiren und Schriftwechsel beteiligter Personen eine immer noch lohnende Quelle dar 22 . Speziell Im Hinblick auf den Einfluß agrarischer und industrieller Interessen erwies sich darüber hinaus die intensivere Auswertung von Tagungsprotokollen agrarischer Interessengruppen (VSWR und CDL) als ebenso notwendig wie die - freilich nur begrenzt mögliche - Auswertung schriftlich fixierter Aktivitäten industrieller Interessenorganisationen ( C d l , 2

Müller-Link

17

V D E S I , Handelskammerberichte) 23 . Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß in den von Poschinger edierten Aktenstücken, Bismarckreden und Gespräche zum speziellen Aspekt der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen im Rahmen der allgemeinen deutschen Wirtschaftspolitik der Bismarckzeit auf eine wichtige Quelle zurückgegriffen werden konnte.

18

2. Faktoren des sozialökonomischen und politischen Wandels in den deutsch-russischen Beziehungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 2.1 Sozialökonomischer Wandel unter den Bedingungen ökonomischer Rückständigkeit: Rußland bis 1881 Die russische Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liefert ein Beispiel dafür, wie ein rückständiger Agrarstaat durch eine „exogene Störung" die Impulse empfing, die dank ihres kumulativen Effektes den Übergang in eine neue Phase gesamtwirtschaftlichen Wachstums einleiteten. „Der Krimkrieg hatte in rauher Weise den Nimbus der russischen Macht zerstört und gezeigt, wie wenig entwickelt zur Zeit noch die Kräfte des weiten Reiches im Vergleich mit den westlichen Staaten waren", urteilte dreißig Jahre nach seiner Beendigung ein guter Kenner der russischen Geschichte. Die daraus zu ziehenden Konsequenzen waren nach zeitgenössischem Urteil eindeutig: Durch die „Nachbarschaft des technisch-fortgeschrittenen Westens und militärisch-auswärtige Gesichtspunkte" sei die zaristische Regierung zur „Beschleunigung des wirtschaftlichen Fortschritts in Richtung auf den Kapitalismus" gezwungen gewesen1. Der Vergleich mit den Rückwirkungen der Niederlage von 1806 auf die preußische Geschichte drängt sich geradezu auf. Indessen fällt es schwer, im ökonomischen Modernisierungsprozeß selbst auffallende Parallelen zu ziehen. Die Abweichungen lassen sich insbesondere auf die in dreifacher Hinsicht unterschiedliche Ausgangslage im Industiralisierungsprozeß zurückführen: 1. Der ökonomische Entwicklungsstand Preußens zu Beginn des 19. Jahrhunderts wies im Vergleich zu England und Frankreich unverkennbare Symptome ökonomischer Rückständigkeit auf, die in ihrem Ausmaß freilich keineswegs jene Grenze zwischen relativer Rückständigkeit und absoluter Unterentwicklung überschritten hatte, an der die Chancen eines beschleunigten Wachstumsprozesses leicht den Restriktionen der Unterentwicklung hätten zum Opfer fallen können. 2. Während unter der stimulierenden Wirkung der militärischen Niederlage und der durch eiiie freihändlerische Handelspolitik begünstigten Integration des preußisch-deutschen Marktes in das sich verdichtende Geflecht wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den Staaten West- und Mitteleuropas die wirtschaftliche Entwicklung Preußen-Deutschlands eine Phase durchlief, die eine spürbare Annäherung an den wirtschaftlichen Entwicklungsstand der am weitesten fortgeschrittenen Staaten zur Folge hatte, wies die wirtschaftliche Ent2·

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wicklung Rußlands unter dem handels- und industriefeindlichen Militärdespotismus Nikolaus I. deutsliche Stagnationserscheinungen auf. U. a. deshalb vergrößerte sich im Verlaufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rückständigkeit Rußlands gegenüber den westeuropäischen Staaten zusehends. 3. Der auch im Vergleich zu Preußen-Deutschland sich vergrößernde Rückständigkeitsgrad Rußlands bestimmte das Ausmaß, in dem sich die Merkmale ökonomischer Rückständigkeit um die Mitte des Jahrhunderts kumulierten, was die „natürlichen" Industriealisierungsmöglichkeiten nach dem Muster anderer europäischer Staaten verminderte. Zu einem Zeitpunkt, an dem die industrielle Entwicklung Preußen-Deutschlands bereits in die Phase des „great spurt" einmündete, stand der Herausbildung wichtiger „Vorbedingungen", die den Industrialisierungsprozeß in den wirtschaftlich fortgeschrittenen Staaten Europas ermöglicht hatten, eine immer noch kaum zu überschätzende Fülle ökonomischer, sozialer und politischer Hindernisse entgegen. Unzureichende Vorbedingungen in Verbindung mit einem hohen Grad an Rückständigkeit bestimmten die spezifische Ausgangskonstellation, die Modalitäten, das Tempo und nicht zuletzt die Erfolgschancen des russischen Industrialisierungsprozesses2. Die These, daß er aus diesem Grunde zugleich eine Quelle zwischenstaatlicher Konflikte zwischen Deutschland und Rußland bildete, macht es erforderlich, ihn auf drei Ebenen zu analysieren : 1. Als „ökonomischen" Transformationsprozeß mit seinen typischen Problemen: dem Zielkonflikt zwischen schneller nachholender Industrialisierung oder Agrarrevolution, den Chancen, sich die „Vorteile der Rückständigkeit" zunutze zu machen und schließlich der Problematik wachsender ökonomischer Abhängigkeit von außen als Preis des Fortschritts. 2. Als „sozialen" Transformationsprozeß in seiner Wechselwirkung mit ökonomischen Veränderungen. Im Zusammenhang dieser Arbeit können die Probleme der Sozialstruktur nicht umgangen werden, da ihre faktische oder antizipierte Veränderung politische und ökonomische Entscheidungen mit mittelbaren oder unmittelbaren Rückwirkungen auf die deutsch-russischen Beziehungen präformierte. Die sozialen Klassen der traditionalen Agrargesellschaft (Bauern und Adel) können ebensowenig wie die sozialen Klassen der sich entwickelnden Industriegesellschaft (Proletariat und Bourgeoisie) als passive Objekte eines zwangsweise von einer allmächtigen Bürokratie durchgesetzten ökonomischen Transformationsprozesses angesehen werden. Die Weichenstellung für die ökonomische Transformation und ihre Korrekturen waren eher das Resultat von Klassenkämpfen und Rivalitäten innerhalb der Führungselite®. 3. Die „politische" Transformation als Voraussetzung und Folge des ökonomischen und sozialen Transformationsprozesses. Auf dieser analytischen Ebene ergeben sich Probleme aus dem Widerspruch, daß einerseits die Autokratie, durch den Zwang zur Reform ihrer Institutionen und ihrer militärisch-ökonomischen Basis sowie durch die Unsicherheit ihrer traditionalen Führungselite gelähmt, zu schwach blieb, um die energische Führung des ökonomischen und sozialen Transformationsprozesses zu übernehmen, auf der anderen Seite aber 20

die sozialen Voraussetzungen für eine politische Transformation des Zarismus nach westeuropäischen Vorbildern fehlten. Ausgehend von diesem Widerspruch können die innenpolitischen Voraussetzungen für die Erhaltung der Autokratie während der Periode eines beschleunigten sozialökonomischen Wandels in ihren außenpolitischen Konsequenzen gekennzeichnet werden: 1. als Versuch, durch eine tiefgreifende Armeereform die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß die Autoritätskrise des Zarismus und der Zustand äußerer Handlungsunfähigkeit überwunden wurde. Das läßt freilich immer noch die Frage offen, inwieweit dieser Versuch geeignet war, die Armee als Stütze der Autokratie zu erhalten und inwieweit er von seinen inneren und äußeren Voraussetzungen her nicht zugleich das Ende preußisch-russischer Militärtraditionen zugunsten einer militärischen Rivalität einleitete. 2. als den Aufstieg des russischen Nationalismus, der mit einer sich verstärkenden antipreußischen Komponente nicht nur die „Öffentlichkeit" beherrschte, sondern sich auch die ideologische Führung des ökonomischen Reformprozesses, ja selbst der Militär- und Außenpolitik anmaßte. 3. als die Bereitschaft der konservativen Führungselite, in der Defensive gegenüber Konsequenzen des sozialökonomischen Transformationsprozesses ihre Führungsschwäche durch pathologische Problemlösungen noch zu steigern. Die schrittweise Identifizierung mit der antipreußischen Ideologie des Nationalismus und die Geschichte des russisch-türkischen Krieges könnten als Beispiele dienen.

2.1.1 Die ökonomische Transformation zwischen und industrieller Revolution

Agrarreform

Die ökonomische Rückständigkeit Rußlands am Vorabend des Krimkrieges war eklatant: In den europäischen Gouvernements mit einer Bevölkerung von ca. 60 Millionen lebten 80 bis 90% von einer stagnierenden Land- und Forstwirtschaft 1 . Gegenüber der Agrarproduktion war die industrielle Produktion gering. Den relativ höchsten Entwicklungsstand wies dank des Imports von Maschinen und der Beschäftigung ausländischer Techniker die Textilindustrie auf. Während sich die Textilindustrie in den Vororten der zwei Hauptstädte, in den „Fabrikdörfern " der Gouvernements Moskau, Wladimir und Kostroma sowie in den „Kustardörfern" zum führenden Industriezweig entwickelte, der insbesondere bei Baumwollprodukten den Binnenmarkt monopolisierte, gingen die ausländischen Märkte für die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in nicht unbeträchtlichen Mengen exportierten feineren Textilprodukte fast völlig verloren2. Noch stärker als in der Textilindustrie traten im Bergbau, in der Hüttenindustrie, in der eisenverarbeitenden Industrie, im Maschinen- und Gerätebau die Merkmale der Rückständigkeit zutage. Trotz großer Kohlevorkommen hatte ihr Abbau entweder noch gar nicht oder nur in beschränktem Umfang 21

begonnen 3 . Die Roheisenproduktion hatte in der ersten H ä l f t e des Jahrhunderts nur langsam zugenommen, und der Eisenexport aus dem Ural - dem Zentrum des Bergbau- und Hüttenwesens - war seit dem Aufschwung am Ende des 18. Jahrhunderts ständig zurückgegangen 4 . Wie die Textilindustrie konzentrierte sich die eisenverarbeitende Industrie in den Fabrik- und Kustardörfern, ohne freilich im entferntesten den technologischen Standard anderer europäischer Staaten zu erreichen 5 . D a Rußland während der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts im europäischen Handel in die Rolle eines Exporteurs von Nahrungsmitteln, landwirtschaftlichen Rohstoffen und Halbfabrikaten hineingewachsen war, wies die Außenhandelsstruktur die typischen Merkmale eines noch überwiegenden Agrarstaates auf. Gleichzeitig spiegelt die Entwicklung des Außenhandels deutlich die gesamtwirtschaftliche Stagnation wider. Während der Export von industriellen Rohstoffen und Fertigfabrikaten rückläufig war, überstieg der Export von Getreide im Durchschnitt der Jahre 1841 bis 1845 nur geringfügig das zwischen 1801 und 1805 erreichte Niveau". Im letzten Jahrzehnt vor der Aufhebung der Leibeigenschaft verzeichnete der Exporthandel zwar einen deutlichen Aufschwung, aber nicht als Folge fortschreitender wirtschaftlicher Entwickung, sondern aufgrund der steigenden externen Nachfrage der westeuropäischen Staaten nach Agrarprodukten. Der Außenhandelssektor blieb im Verhältnis zum Handel mit Agrarprodukten auf dem Binnenmarkt von untergeordneter Bedeutung 7 . Das hohe Ausmaß der wirtschaftlichen Rückständigkeit am Vorabend des Krimkrieges läßt sich zum Teil auf spezifische geographische Bedingungen und die ausgesprochen feindselige Einstellung zurückführen, die Nikolaus I. sowohl im Hinblick auf befürchtete soziale und politische Konsequenzen als auch aus einer skeptischen Beurteilung der Rentabilität des Eisenbahnbaus einnahm. Wie zur Zeit Peters I. wurden Transporte über weite Entfernungen nahezu ausschließlich auf den natürlichen Wasserstraßen abgewickelt 8 . Ohne den zügigen Ausbau des Eisenbahnnetzes, der erst die schnelle Überwindung großer Entfernungen unabhängig von den Jahreszeiten ermöglichte, waren aber in einem Agrarstaat von der Größe Rußlands der Uberwindung vorkapitalistischer Verhältnisse eindeutige Grenzen gesetzt 9 . Die Entwicklung des Kapitalmarktes und der öffentlichen Finanzwirtschaft wies in der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts ebenfalls deutliche Symptome allgemeiner Stagnation auf. Die vorherrschende Naturalwirtschaft ließ nur eine sehr begrenzte Entwicklung des Geld-, Bank- und Kreditwesens zu. Bis 1854 waren die jahrzehntelangen Bemühungen um eine Neuordnung der Finanzwirtschaft immerhin so weit vorangekommen, daß die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts rapide angewachsene Menge ungedeckter Assignaten aus dem Verkehr gezogen worden war. Aber nach wie vor unterlag die Finanzwirtschaft den Risiken einer Papierwährung, die Entwicklung des Staatshaushaltes stagnierte, und seit der Jahrhundertwende hatten sich die Fälle gehäuft, in denen die Deckung eines akuten Finanzbedarfs durch die Aufnahme von Staats22

anleihen auf den Kapitalmärkten Westeuropas der Erhöhung der bestehenden bzw. der Einführung neuer Steuern vorgezogen wurde 10 . Der Krimkrieg machte das ganze Ausmaß der ökonomischen Rückständigkeit Rußlands deutlich. Auf der anderen Seite erweckten die ersten Erfolge eines gouvernementalen Liberalismus, der sich bewußt an den erfolgreichen „liberalen" Vorbildern der wirtschaftlich entwickelten Staaten Europas orientierte, den Eindruck, daß sich durch die Aufhebung der Leibeigenschaft, den Abbau administrativer Kontrollen, partielle Liberalisierung der Handelspolitik, großzügige Vergabe von Konzessionen f ü r die Gründung von Industrie-, Eisenbahn· und Handelsgesellschaften eine einschneidende Neuordnung des antiquierten Bank- und Kreditsystems sowie durch eine allgemeine Justiz- und Verwaltungsreform das Dilemma des ökonomisch rückständigen Militärstaates auflösen ließ. Denn parallel mit den Reformmaßnahmen setzte nach einer Periode scheinbar „chronischen Siechtums" in der zweiten H ä l f t e der 1860er Jahre eine nur kurzfristig unterbrochene Periode wirtschaftlichen Aufschwungs ein, die vielfache Symptome einer „Gründungsära" aufwies": Die Aufhebung der Leibeigenschaft führte nur zu einer „zeitweiligen Störung der landwirtschaftlichen Produktion". Denn sowohl die Produktion der vier Hauptgetreidearten als auch der Kartoffel- und Zuckerrübenanbau, die Viehzucht, die landwirtschaftlichen Nebengewerbe und der Flachsbau nahmen im Durchschnitt der 60er und 70er Jahre einen Aufschwung 12 . Die Produktion im Bergbau und in der Hüttenindustrie stieg nach dem Rückgang der 60er Jahre wieder an 13 . Bei den verarbeitenden Industrien durchliefen vor allem die Textilindustrie sowie der Maschinen- und Gerätebau eine Periode beschleunigten Wachstums 14 , und zwischen 1857 und 1874 häuften sich die Neugründungen von Banken, Sparkassen und Bodenkreditanstalten, von Eisenbahn-, Dampfschiffahrt-, Handels- und Industriegesellschaften 15 . Am spektakulärsten waren die Fortschritte beim Ausbau des Eisenbahnnetzes. Nachdem sich bis 1861 mit ca. 2 000 Werst die Länge der in Betrieb befindlichen Strecken gegenüber 1853 bereits verdoppelt hatte, wurden zwischen 1861 und 1865 zwar „nur" weitere 2 055 Werst, zwischen 1866 und 1870 jedoch 6 659 Werst neuer Linien eröffnet. 1871 betrug die Gesamtlänge der in Betrieb befindlichen Bahnen bereits 10 531 Werst, und zwischen 1871 und 1875 wuchs sie um weitere 7 424 Werst 1 '. Der forcierte Ausbau des Eisenbahnnetzes und der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung spiegelten sich in der Entwicklung des Außenhandels wider. Gegenüber 1860 verdoppelte sich sein Volumen bis 1870, und bis zur Mitte der 70er Jahre hatte es sich nahezu verdreifacht 1 7 . Unter Finanzminister Reutern f a n d die ökonomische Aufschwungsphase ihren Niederschlag. Die Staatseinnahmen, die zwischen 1816 und 1834 stagniert und bis zum Krimkrieg nur langsam gewachsen waren, stiegen in den 60er und der ersten H ä l f t e der 70er Jahre stetig an. Mit fast 500 Mio. Rbl hatten sie sich 1871 gegenüber dem Vorkriegsjahr 1853 mit ca. 250 Mio. Rbl ungefähr verdoppelt 18 . 23

Die Finanzpolitik Reuterns bemühte sich zudem im großen und ganzen erfolgreich, die Ausgabepolitik der Einnahmeentwicklung anzupassen. Nachdem die Jahre 1864 und 1866-69 noch ein größeres Defizit zwischen 40 und 62 Mio. Rbl aufgewiesen hatten, betrug das Defizit 1873 nur noch 1,2 Mio. Rbl. Die Jahre 1874 und 1875 wiesen bereits Überschüsse von 14,4 bzw. 33,3 Mio. Rbl auf1». Trotz der unverkennbaren Symptome des wirtschaftlichen Aufschwungs wäre die Annahme ein Fehlschluß, daß in der Reformära das Problem der ökonomischen Rückständigkeit entschärft worden wäre und die Reformen ausgereicht hätten, um in einem forcierten Tempo doch noch die Vorbedingungen für ein stetiges gesamtwirtscha/tliches Wachstum zu schaffen. Denn abgesehen von der retardierenden Wirkung, die die vielfältigen „natürlichen" Hindernisse und traditionellen Barrieren für den Industrialisierungsprozeß besaßen, wurde das Dilemma eines rückständigen Agrarstaates offenkundig, mit „Hilfe" der fortgeschrittenen europäischen Staaten den Anschluß an den internationalen industriewirtschaftlichen Entwicklungsstand zu finden: 1. Eine Agrarrevolution, die den Zielkonflikt zwischen Agrarreform oder Industrialisierung hätte entschärfen können, fand nicht statt. Die „Befreiung des Bauern mit dem Lande" führte zur Herausbildung bäuerlicher Subsistenzwirtschaften, die sich durch geringe Produktivität, Stillstand der Technik und rücksichtslose Ausbeutung des Bodens auszeichneten20. Nun gingen zwar die Initiatoren der „Bauernbefreiung" von der Vorstellung aus, daß die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion nur von den großen landwirtschaftlichen Betrieben ausgehen könne21. Aber die gesteigerte Produktivität der gutswirtschaftlichen Betriebe, die sich den veränderten Produktions- und Absatzverhältnissen anpaßten, war nur zum Teil eine Folge verbesserter landwirtschaftlicher Technik, zum anderen Teil hatte sie die Ausbeutung bäuerlicher Arbeitskraft, eine extensive Wirtschaftsweise und Raubbau zur Voraussetzung 22 . 2. Obwohl sich die Industrie seit dem Krimkrieg „mächtig entfaltet" hatte, blieb Rußland ein industriell unterentwickeltes Land. 1871 betrug seine Steinkohlenproduktion erst 0,8 Mio. t, die englische dagegen 90 Mio. und die preußische 12 Mio. Die Eisenerzförderung lag 1875 mit 16,2 kg pro Kopf erheblich unter der des Deutschen Reiches mit 110,3 kg und der Englands mit 521,1 kg. Entsprechend groß waren die Unterschiede in der Produktion von Roheisen, Gußwaren, Walzeisen und Stahl23. Das Ausmaß der Rückständigkeit läßt sich anhand der industriellen Geographie charakterisieren, die sich in den 60er und 70er Jahren herausbildete. Die Textilindustrie behauptete weiter ihre Stellung als der am weitesten entwickelte Industriezweig, und zwar nicht zuletzt infolge des spektakulären Aufschwungs der modernen und konkurrenzfähigen polnischen Textilindustrie mit ihrem Zentrum Lodz. Demgegenüber blieb das Industriegebiet von MoskauWladimir zwar - vor St. Petersburg - das Zentrum der Textilindustrie. Aber der Aufschwung bedeutete hier nicht zugleich gesteigerte Konkurrenzfähigkeit, sondern beruhte auf der Chance einer in vielfacher Hinsicht von traditionalen 24

Strukturen bestimmten Industrie, den Binnenmarkt gegen die in- und ausländischen Konkurrenzen zu schützen 24 . Die Entwicklung des Bergbaus wurde ganz erheblich durch die mangelnde Infrastruktur behindert. Während der Ausbau des Eisenbahnnetzes und die N ä h e zum benachbarten Industriegebiet im Gouvernement Warschau die schnelle Entwicklung des polnischen Bergbaus (Governement Piotrkow in der Gegend von Dombrowo) begünstigte, wurde die intensive Ausbeutung der Steinkohlelager des Donezbeckens einerseits durch den unterentwickelten Stand der dortigen Hüttenindustrie, andererseits durch fehlende Transportverbindungen zum Moskauer Industriegebiet und zur Hüttenindustrie des Ural behindert. Zwar signalisierte die Ausbeutung von Steinkohle und Anthrazit im Donezbecken einen Aufschwung, aber bereits 1871 überstieg die Produktion des polnischen Steinkohlebergbaus mit 18 Mio. Pud die der übrigen Bergbauzentren: des Donezbeckens mit 6,2 Mio., des Moskauer Industriegebietes mit 8,6 Mio. und des Ural mit 0,83 Mio. Pud. Zentrum der Roheisenproduktion blieb der Ural, dessen Eisenindustrie nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in eine schwere Krise geriet und mangels Kapital, wegen technischer Schwierigkeiten bei der Ausbeutung der dortigen Kohlelager und mangels Transportverbindungen zum Donezbecken bei der Verhüttung von Eisenerzen weiterhin auf primitive Verfahren wie die Verhüttung im Frischprozeß unter Verwendung von Holzkohle angewiesen war 25 . 3. Die Bildung eines einheimischen Kapitalmarktes vollzog sich nur langsam. Bei der Industriefinanzierung spielten Banken nur eine untergeordnete Rolle, während der Aufschwung des Außenhandels und der Bedarf an landwirtschaftlichem Kredit die Entstehung von Bodenkreditanstalten und H a n delsbanken förderten. Die Moskauer Industrie arbeitete vorwiegend mit eigenem Kapital, und die St. Petersburger Banken profitierten - wenn sie nicht vorwiegend Handelsbanken waren - vor allem vom Ausbau des Eisenbahnnetzes und dem wachsenden staatlichen Kreditbedarf 2 ®. 4. Der wirtschaftliche Aufschwung vollzog sich nicht nur im Aufwind einer industriellen und agrarischen Hochkonjunktur internationalen Ausmaßes, sondern er hatte auch eine wachsende wirtschaftliche Abhängigkeit von außen zur Folge. D a ß die „Vorteile der Rückständigkeit" nur bei steigender Abhängigkeit von den entwickelten Staaten und keineswegs nur zum Vorteil des unterentwickelten Landes genutzt werden konnten, stellte sich schon bei dem Versuch heraus, den Ausbau des Eisenbahnnetzes voranzutreiben. Schon vor dem Krimkrieg deuteten sich beim Bau der Linie St. Petersburg-Zarskoje Selo und St. Petersburg-Moskau (Nikolaibahn) die vielfältigen Schwierigkeiten an, die die Aufschwungsphase des Eisenbahnbaus bestimmten: Mangel an technischem Know-how und privatem Kapital, hohe und weit über die Ausgangskalkulation hinausgehende Baukosten sowie unerwartet lange Bauzeiten 27 . Nachdem bis zum Krimkrieg mehrere Pläne für den Ausbau des Eisenbahnnetzes an dem Problem gescheitert waren, privates Kapital in den Eisenbahnbau zu lenken, 25

zeichnete sich in dieser Hinsicht eine Wende ab, als 1856 der Bankier Stieglitz die Konzession zum Bau der Linie St. Petersburg-Peterhof erwarb 28 . Den Durchbruch brachte 1857 die Vergabe der Konzession zum Bau von 4 000 Werst Eisenbahnlinien an die von ausländischen Finanzgruppen unter Führung des französischen „Crédit Mobilier" gebildete „Große Russische Eisenbahngesellschaft". Das durch die flüssige Lage auf den europäischen Geldmärkten begünstigte Einströmen ausländischen Kapitals löste eine Gründungs- und Börsenspekulation aus, an der sich neben französischem und englischem Kapital preußische Bankiers und Industriemagnaten sowie die Spitzen der russischen Bürokratie, Großgrundbesitzer und Kaufleute beteiligten 29 . Die Großzügigkeit, die die Regierung bei der Vergabe von Konzessionen an den Tag legte, förderte zwar die Investitionsbereitschaft in- und ausländischen Kapitals. Ein „Eisenbahnfieber" nach westeuropäischem Vorbild löste sie dennoch nicht aus. Vielmehr konnte die Investitionsbereitschaft privater Kapitalgeber im Eisenbahnbau nur dadurch aufrecht erhalten werden, daß den privaten Profitinteressen weitgehende Konzessionen gemacht wurden. Bei der Festlegung der Linienführungen mußten staatliche und private Interessen nicht zwingend kollidieren 30 . Dagegen stand von Anfang an fest, daß die Bereitschaft privaten Kapitals, sich im Eisenbahnbau zu engagieren, nur durch staatliche Garantien und zusätzliche Anreize aufrecht erhalten werden konnte. Die „Große Russische Eisenbahngesellschaft" lieferte das Modell für die Bedingungen, unter denen sich privates Kapital zu engagieren bereit w a r : Entweder wurde das Grundkapital der Eisenbahngesellschaften ganz oder teilweise mit einer hohen staatlichen Zinsgarantie bei niedriger Amortisationsquote ausgestattet, oder der Staat übernahm anstatt der Garantien einen großen Teil der von den Gesellschaften emittierten Aktien und Obligationen. Generelle handelspolitische Gegenleistungen für die Beteiligung ausländischen Kapitals konnten umgangen werden, da nach den Erfahrungen bei der Gründung der „Großen Russischen Eisenbahngesellschaft" die Vertreter ausländischer Banken „weniger Wert auf die für den Erfolg des Eisenbahnprojektes erforderlichen freihändlerischen Zugeständnissen legten". Auch bestimmte Mindestmengen des von den Gesellschaften zu haltenden rollenden Materials konnte die Regierung bei der Konzessionsvergabe durchsetzen. D a f ü r mußte sie aber in vielen Fällen die Vorrechte der zollfreien oder zumindest vergünstigten Einfuhr von Eisenbahnbaumaterialien wie Schienen, Schwellen, Lokomotiven usw. einräumen 31 . Trotz der Großzügigkeit, mit der die Regierung den privaten Kapitalinteressen entgegenkam, ebbte die Spekulationswelle bereits am Ende der 50er Jahre ab, als das Spektakel des Zusammenbruchs der „Großen Russischen Eisenbahngesellschaft" für mehrere Jahre das Vertrauen in den Eisenbahnbau erschütterte 32 . Die Regierung zog daraus die Konsequenzen, als sie mit dem Eisenbahnplan von 1862 die Periode der „systemlosen" Eisenbahnpolitik beendete und den Bahnbau in eigener Regie voranzutreiben suchte. Aber die dabei gemachten Erfahrungen - die Eisenbahnverwaltung war überfordert, die Finanzmittel reichten zur Finanzierung größerer Strecken nicht aus - ließen keine andere 26

Wahl, als mit einem System vermehrter Anreize wiederum privates Kapital in den Eisenbahnbau zu ziehen 33 . Das Modell lieferte jetzt die Konzession zum Bau der Linie Rjasan-Koslow: eine hohe staatliche Zinsgarantie (5 %), eine reduzierte Amortisationsquote (1/10 %), Bewilligung zur Emission von Obligationen in einer Höhe, die erheblich das Eigenkapital der Gesellschaften überstieg und schließlich die Verpflichtung der Finanzverwaltung, einen Teil der Obligationen und Aktien zu übernehmen. Bei der überwiegenden Zahl der in den folgenden Jahren vergebenen Konzessionen wurden nicht nur die Zinsgarantien erhöht (bis zu 6%), sondern auch Garantievorschüsse einschließlich des Versprechens gewährt, entstehende Defizite abzugleichen 3 4 . Angesichts derart weitreichender finanzieller Anreize - verbunden mit zollpolitischen Zugeständnissen beim Bezug von Eisenbahnmaterial - strömte jetzt in- und ausländisches Kapital in großen Mengen in den Eisenbahnbau. Der Aufschwung des Getreideexportes begünstigte diese Entwicklung, und schließlich bemächtigte sich die englische, französische und deutsche Spekulation nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges der russischen Eisenbahnpapiere 3 5 . Diese „Erfolg" verhalf jetzt völlig der Überzeugung zum Durchbruch, daß die Aktivität privaten Kapitals nicht nur den Ausbau des Eisenbahnnetzes am schnellsten vorantreiben könne, sondern sich sowohl mit den strategischen Vorstellungen der militärischen Führung als auch mit dem Interesse an einem beschleunigten gesamtwirtschaftlichen Wachstum durchaus vereinbaren ließ. Symptomatisch dafür war, daß jetzt selbst die wenigen in staatlicher Regie gebauten oder betriebenen Bahnen privaten Eisenbahngesellschaften überlassen wurden 38 . Die Bereitschaft, den Bau und Betrieb der Eisenbahnen privatem Kapital zu überlassen, hatte freilich auch Kehrseiten. Das Urteil des im russischen Eisenbahnbau engagierten europäischen „Eisenbahnkönigs" Strousberg über das russische Eisenbahnwesen charakterisierte die Lage zutreffend: „Die Bahnen sind schlecht gebaut, und werden schlecht erhalten und verwaltet. Der Staat k o n zessioniert, garantiert und gewährt alles. Alles scheitert dort indessen an Umständen, die vorläufig nicht zu bessern sind." 37 Vor allem fiel ins Gewicht, daß mit dem Fortschritt beim Ausbau des Eisenbahnnetzes auch die Belastung der staatlichen Finanzwirtschaft rapide zunahm. Hierin wurde das ganze Dilemma einer Politik offenkundig, die angesichts ökonomischer Rückständigkeit und beschränkter staatlicher Finanzmittel den schnellen Ausbau des Bahnnetzes davon erwartete, daß sie ihn privaten Profitineressen überließ, die aber weitgehend nur auf Kosten der staatlichen Finanz- und Wirtschaftspolitik befriedigt werden konnten. Bis zum Jahresanfang 1874 hatten von 50 Eisenbahngesellschaften nur zehn ihre Linien ohne direkte staatliche Unterstützung gebaut. Von den restlichen 40 Gesellschaften erstreckten sich die staatlichen Garantien bei 20 auf das gesamte Gründungskapital, bei den übrigen nur auf die Obligationen. Dennoch reichten die Garantieverpflichtungen vielen Gesellschaften nicht aus. Bis zum Januar 1874 wurden an Subventionen - teils mit und teils ohne RückZahlungsverpflichtungen - ca. 100 Mio. Rubel gezahlt. Die Summe 27

der von privaten Gesellschaften zwar emittierten, aber mit staatlichen Zinsund Amortisationsgarantien ausgestatteten Aktien und Obligationen erreichte bis 1875 den Betrag von 500 Mio. Rubel. Die daraus resultierenden Zahlungsverpflichtungen wechselten von Jahr zu Jahr je nach der Ertragslage der Gesellschaften. Sie wurden aber bis 1873 in hohem Maße in Anspruch genommen 38 . 5. Auch mit dem imponierenden Anstieg des Außenhandelsvolumens waren nicht automatisch wirtschaftliche Vorteile verbunden. Die Entwicklung der Außenhandelsstruktur zwischen 1871 und 1875 belegt vielmehr, daß sich die Probleme der ökonomischen Rückständigkeit eher verschärft hatten. Mit dem Aufschwung des Außenhandels setzte sich die bereits im Jahrzehnt vor 1861 hervorgetretene Tendenz beschleunigt fort, daß sich Rußland zu einem H a u p t lieferanten f ü r die steigende Nachfrage der Industriestaaten nach Agrarprodukten entwickelte. Der Export von Nahrungsmitteln stieg zwischen 1861 und 1871 um 170% und machte damit mehr als die H l f t e ( d . h . 58,3% gegenüber 45,2% im Jahre 1861) des Gesamtexportes aus. Im gleichen Zeitraum nahm der Export von landwirtschaftlichen Rohstoffen um 78% zu, was einem Anteil von 41,5% am Gesamtexport entsprach. Der Anteil landwirtschaftlicher Produkte am Gesamtexport belief sich demnach im Jahre 1871 auf ca. 97% 3 9 . Der starke Anstieg bei den Nahrungsmitteln ging hauptsächlich auf die Steigerung des Getreideexportes zurück. Von den 1871 exportierten Nhrungsmitteln im Werte von 195,7 Mio. Rubel entfielen auf Getreide 183 Mio. Rubel und die restlichen 12,7 Mio. Rubel auf diverse Nahrungsmittel wie Spiritus, Branntwein, Fleisch, Butter usw. Die stärkste Zunahme verzeichnete der Getreideexport zwischen 1865 und 1875, also in dem Zeitraum, in dem der Ausbau des Eisenbahnnetzes die größten Fortschritte machte 40 . Wurden im Durchschnitt der Jahre 1861-65 nur 4,6% der Ernte exportiert, so stieg der Anteil 1866-70 auf 7,7%, 1871-74 auf 9,1% und 1875-78 sogar auf 14,3% 41 . Außer Getreide wies auch der Export von anderen Nahrungsmitteln wie Mehl und Spiritus hohe Steigerungsraten auf. Bei Vieh und Viehprodukten verzeichnete besonders der Export von Schlachtvieh eine starke Zunahme 42 . Der Export von landwirtschaftlichen Rohstoffen und Halbfabrikaten zur industriellen Weiterverarbeitung stieg ebenfalls deutlich an. Unter diesen Artikeln hatte der Flachsexport die weitaus größte Bedeutung, zumal neben der Flachsfaser in Gestalt von Gespinstflachs und Heede (Werg) auch der Flachsoder Leinsamen in großen Mengen exportiert wurde 43 . Bei den Produkten der Wald- und Forstwirtschaft zeigte vor allem der Export von Holz- und Holzwaren eine erhebliche Steigerung. Obwohl sich der H o l z und Holzwarenexport zwischen 1830 und 1863 schon um 172% erhöht hatte, setzte im Jahre 1864 eine Zunahme ein, die sich in den nächsten Jahren kontinuierlich fortsetzte 44 . Dem starken Anstieg des Exportes stand jedoch eine noch stärkere Steigerung des Importvolumens gegenüber. Dabei wies neben den Rohstoffen f ü r die Eisen- und Textilindustrie auch der Import von industriellen H a l b - und Fertigfabrikaten hohe Steigerungsraten auf 45 . Die Entwicklung des Handels mit 28

den europäischen Staaten nach 1861 macht deutlich, daß der Versuch, in möglichst kurzer Zeit die Unterentwicklung zu überwinden, in mehrfacher Hinsicht die gesteigerte Abhängigkeit von den wirtschaftlich entwickelten Staaten Europas voraussetzte und daß diese Abhängigkeit zu einem retardierenden Moment in der wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands werden konnte. Die wachsende Bedeutung einer exportorientierten Landwirtschaft für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und die starke Steigerung der Exporte von Agrarprodukten vollzogen sich in enger Wechselwirkung mit der Nachfrage auf den europäischen Märkten. Bei einem Gesamtexport von 364,4 Mio. Rubel (1871) wurden allein Waren im Werte von 345,8 Mio. Rubel über die europäische Grenze exportiert. Bei einem Gesamtexport von 431,8 Mio. Rbl, von dem 411,2 Mio. Rbl auf die europäische Grenze entfielen, hatte sich im Jahre 1874 an diesem Verhältnis kaum etwas verändert 4 *. Die Abhängigkeit von den westeuropäischen Märkten machte sich bei Getreide zum erstenmal im Jahre 1872 bemerkbar. Nachdem 1871 infolge der Nachfrage aus Preußen-Deutschland der Getreideexport im Vergleich mit den Vorjahren erheblich gestiegen war, ging er 1872 mit der rückläufigen Nachfrage aus Preußen-Deutschland um 48,3 Mio. Rbl zurück. Die sprunghafte Entwicklung des Spiritusexportes zwischen 1870 und 1872 ging ebenfalls auf die Schwankungen der Nachfrage aus Preußen-Deutschland zurück. Die Exportentwicklung im Jahre 1872 macht zugleich deutlich, daß starke Exportrückgänge bei Getreide und Flachs, die den größten Anteil am Gesamtexport bildeten, durch Steigerungen bei anderen landwirtschaftlichen Produkten nicht ausgeglichen werden konnten 47 . Analog zur Entwicklung des Agrarexportes resultierte das größere Importvolumen fast ausschließlich aus der starken Zunahme der Einfuhr industrieller Rohstoffe und Halbfabrikate aus den europäischen Ländern 48 . Diese Zunahme stand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes, das der europäischen Industrie den russischen Markt eröffnete. Bis zur Mitte der 70er Jahre wurde der Bedarf an Eisenbahnmaterial zum größten Teil durch Importe aus dem Ausland gedeckt. Fest steht, daß bis Mitte der 70er Jahre kein Industriezweig durchgreifende Erfolge in der Anwendung von technischem Know-how nach europäischem Standard aufweisen konnte. So mußten ζ. B. 1875 noch ca. 6/7 des Stahlschienenbedarfs importiert werden, da die Eisenindustrie vorwiegend auf die Produktion der bereits veralteten eisernen Schienen ausgerichtet war. Selbst wenn man konzediert, daß in der Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs der Import von Halb- und Fertigfabrikaten die Einführung und Anwendung technischer Verfahren nicht einschneidend behinderte, so zeichnete sich doch diese Gefahr mit dem konjunkturellen Abschwung 1873/75 ab. Das gilt etwa für die am weitesten entwickelte Textilindustrie, aber auch für den Lokomotiv- und Waggonbau, der sich bis zur Mitte der 70er Jahre soweit entwickelt hatte, daß die einheimische Produktion die Einfuhr von Lokomotiven und Güterwaggons übertraf4®.

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6. Das Dilemma, daß der Versuch zur Überwindung der ökonomischen Rückständigkeit zugleich eine wachsende Abhängigkeit von den entwickelten Staaten bedeutete, trat besonders kraß in den Währungs- und Zahlungsbilanzproblemen der Reformära zutage. Daß man nach der Beendigung des Krimkrieges darauf verzichtete, „die Geldverhältnisse zu ordnen und die Papiergeldmenge zu verringern, in welcher unliquidiert fast die ganzen Kosten des Krimkrieges stecken blieben", war angesichts des unterentwickelten Kapitalmarktes, der geringen Umlaufgeschwindigkeit der vorhandenen Geldmenge und eines schnell wachsenden Geld- und Kreditbedarfs von Handel und Industrie geradezu eine Vorbedingung für den wirtschaftlichen Aufschwung. Die Reichsbank machte daher kaum ernsthafte Versuche, ihren statutenmäßigen Auftrag zu erfüllen und zur „festeren Begründung des Geld- und Kreditsystems" die Papiergeldmenge dratisch zu verringern, sondern sah ihre Aufgabe primär darin, „ihre Geldmittel zu vergrößern und der Industrie und dem Handel die erwartete Unterstützung zu gewähren." 50 Schwerer fiel denn auch das Scheitern des von Finanzminister Reutern 1862/63 unternommenen Versuchs ins Gewicht, die Metalldeckung des Rubels wiederherzustellen, und zwar weniger wegen der hohen Verluste, die dieser Versuch die Staatskasse kostete. Denn die Chance, den Zustand der faktischen Papiergeldwährung mit allen daraus resultierenden Nachteilen und Risiken zu überwinden, war vorläufig vergeben51, und je schwieriger es wurde, die Metalldeckung des Rubels wieder herzustellen, um so deutlicher traten die Nachteile der Papierwährung hervor. 1. Die „Segnungen der Papierwährung" konnten zwar für einen allgemeinen Wirtschaftsaufschwung nutzbar gemacht werden. Aber solange der Kurs des Kreditrubel von dem Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage bestimmt wurde, reagierte er äußerst empfindlich auf Handelskonjunkturen und selbst geringfügige politische Ereignisse52. 2. Da die Finanzverwaltung nach den Erfahrungen von 1862/63 und in realistischer Einschätzung der großen Schwierigkeiten vorläufig auf einen neuen Versuch, die Metallbasis des Rubels wieder herzustellen, verzichtete, stand sie immer wieder vor dem Dilemma, entweder die durch die Rubelkursschwankungen entstehenden Nachteile für die Abwicklung des Außenhandels und die Zahlungsbilanz in Kauf zu nehmen, oder den Rubelkurs auf einem bestimmten Niveau zu stabilisieren. Bei einer durchweg negativen Handels- und Zahlungsbilanz 53 und einem geringen Bestand der Reichsbank an Metallvorräten war sie daher häufig zur Aufnahme von Metallanleihen im Ausland gezwungen54. 3. Die Nachteile der Papierwährung nahmen zu, je weniger sich die Finanzverwaltung darauf beschränken konnte, den auswärtigen Staatskredit zur Stabilisierung des Rubelkurses in Anspruch zu nehmen. Wenn auch die steuerliche Belastung der bäuerlichen Bevölkerung verschärft wurde und die zusätzlichen Staatseinnahmen aus Ablösungszahlungen usw. einen nicht unwichtigen Faktor im Einnahmebudget bildeten, so reichten doch die Finanzmittel bei weitem nicht aus, um die wachsenden Ausgaben aus den „laufenden" Einnahmen zu 30

decken. Sollte das Tempo des Reformprozesses nicht gedrosselt werden, so blieb nur die Alternative, durch eine Steuerreform auch den „besitzenden Teil" der Bevölkerung stärker zu besteuern oder die Vermehrung der inneren und äußeren Staatsschuld in Kauf zu nehmen55. In den 60er Jahren verging daher kaum ein Jahr, in dem die Staatsschuld nicht durch eine neue Anleihe vergrößert wurde. Schon im Verlauf der Agrarreform ging die Regierung im Interesse der Gutsbesitzer eine Verschuldung in Höhe von mehreren 100 Mio. Rbl ein, als sie nicht nur die Verpflichtungen der Gutsherren bei den landwirtschaftlichen Kreditinstituten übernahm, sondern außerdem als Äquivalent für die Ablösungsverpflichtungen der ehemaligen Gutsbauern die Forderungen der Gutsbesitzer durch die Ausgabe von Obligationen befriedigte 56 . Ein noch höherer Anteil an der wachsenden Staatsverschuldung ging auf die Fortschritte des Eisenbahnbaus zurück. Bereits vor dem Krimkrieg waren die finanziellen Mittel für den Eisenbahnbau größtenteils auf dem Anleihewege aufgebracht worden, und an dieser Praxis wurde auch nachher festgehalten 57 . Das in der zweiten Hälfte der 60er Jahre einsetzende forcierte Tempo im Eisenbahnbau wurde mit einem drastischen Anstieg der auswärtigen Staatsschuld erkauft. Denn ihren · Verpflichtungen gegenüber den Eisenbahngesellschaften konnte die Regierung nur durch die Aufnahme von Staatsanleihen auf dem europäischen Kapitalmarkt nachkommen 58 . Nach internationalem Standard war Rußland daher in der Mitte der 70er Jahre ein ökonomisch rückständiges und hochverschuldetes Land. Die gesamte verzinsliche Staatsschuld, die - ohne die Eisenbahnschuld von ca. 380 Mio. Rbl - bis Januar 1872 die Summe von ca. 1 800 Mio. Rbl erreicht hatte, wuchs bis Januar 1875 auf ca. 2 900 Mio. Rbl an. Wegen des darin enthaltenen hohen Anteils der Auslandsverschuldung bedeutete jedes Abbröckeln des Rubelkurses um Kopeken nicht nur eine erhebliche Mehrbelastung für den Staatshaushalt und eine Verschlechterung der Zahlungsbilanz, sondern auch eine Gefährdung des Staatskredits. Daß sich der Rubelkurs zwischen 1870 und 1874 auf einem etwas höheren Niveau stabilisierte und die „konsolidierten Eisenbahnanleihen" einen steigenden Emissionskurs aufwiesen, war u. a. darauf zurückzuführen, daß die Finanzverwaltung - im Bewußtsein dieser Gefahren - auf eine über die unmittelbaren Erfordernisse der Eisenbahnfinanzierung hinausgehende Inanspruchnahme des auswärtigen Staatskredits verzichtete 59 . 4. Der Anstieg der Staatsschuld signalisierte die strukturellen Probleme der Haushaltsentwicklung und im Zusammenhang damit die wachsende Anfälligkeit des Staatshaushalts für politische Einflüsse, wirtschaftliche Konjunkturen und Währungsschwierigkeiten. Entsprechend der Entwicklung des Haushaltsvolumens wiesen die einzelnen Posten im Ausgabeetat durchweg hohe Steigerungsraten auf. Im Vergleich zu anderen Ministerien stieg der Etat des Kriegsministeriums zwar „nur" um 32,9%, aber sein Anteil an den wachsenden Gesamtausgaben schwankte zwischen 29,9% (1867) und 32,5% (1873). Auf die Etats des Kriegs-, Marine- und Finanzministeriums entfielen 1874 mehr als 50% der Gesamtausgaben80. Dem 31

Ausgabebudget mit einem konstant hohen Anteil der Militärausgaben von ca. einem Drittel, gefolgt von einem hohen Etat des Finanzministeriums, aus dem die Reform der Finanzverwaltung, Ausgaben für das Berg- und Hüttenwesen, die „allgemeinen Regierungsausgaben" und „Sonderausgaben" finanziert werden mußten, stand ein Einnahmeetat gegenüber, der sich vor allem durch zwei Merkmale auszeichnete: Erstens durch eine stagnierende Einnahmeentwicklung bei den direkten Steuern zwischen 1870 und 1874". Zweitens durch eine hohe Abhängigkeit des Einnahmebudgets von der Getränkesteuer und den Zöllen. Allein auf die Getränkesteuer entfiel zwischen 1866 und 1874 ein Drittel der Gesamteinnahmen, d. h. ihr fiel im Einnahmebudget die gleiche Rolle zu wie den Militärausgaben im Ausgabeetat112. Die für den Budgetausgleich zunehmend größere Bedeutung der Einnahmen aus der Getränkesteuer und den Zöllen zeigte einen „wunden" Fleck der Haushaltspolitik an. Auf der einen Seite waren sie nicht unbedingt ein Indiz für die größere Konsumkraft der bäuerlichen Bevölkerung, während sie auf der anderen Seite die Haushaltspolitik in eine große Abhängigkeit von Getreideernten und Außenhandelkonjunkturen brachten 63 . Angesichts einer stagnierenden Einnahmeentwicklung bei den direkten Steuern, einer Steuerquote bei den indirekten Steuern, die hauptsächlich die bäuerliche Bevölkerung belasteten und kaum noch drastisch gesteigert werden konnten, sowie einem Ausgabeetat, der die bereits auf mehr als 50% des Gesamtvolumens angestiegenen Forderungen des Kriegs-, Marine- und Finanzministeriums zu decken hatte, stellten die bis 1874 auf 17,3% der Gesamtausgaben gestiegenen Zahlungen für das „Kreditsystem" eine zusätzliche Gefahr für das Budgetgleichgewicht dar. Denn die häufigen Differenzen zwischen den veranschlagten und tatsächlichen Zins- und Amortisationsverpflichtungen, die in der Regel die zusätzliche Inanspruchnahme von Supplementärkrediten erforderlich machten, resultierten häufig aus den Schwankungen des Wechselkurses'4. Die in der Periode des allgemeinen Wirtschaftsaufschwungs verdeckten Probleme, mit denen die Bemühungen um schnelle ökonomische Modernisierung belastet waren, traten in verschärfter Form zutage, als 1875 die Ernteerträge weit hinter denen des Vorjahres zurückblieben, die Preise für Agrarprodukte auf den europäischen Märkten sich rückläufig entwickelten, die Industrie voll in den Sog der weltweiten industriellen Depression geriet, das Fallissement mehrerer Banken das Kreditsystem erschütterte, die Lage der Finanzwirtschaft sich verschlechterte und der auswärtige Staatskredit in Gefahr geriet. Nach dem Aufschwung zwischen 1865 und 1874 leitete nämlich das Jahr 1875 eine Phase des wirtschaftlichen Abschwungs ein, die - nach dem Tiefpunkt 1876 - bis in die erste Jahreshälfte 1878 reichte65. Dieser Abschwung war u. a. durch eine scharfe industrielle Depression gekennzeichnet, und zwar vor allem in der Eisenindustrie und in der Textilindustrie von Moskau-Wladimir66. Verschärft wurde die industrielle Depression durch die Entwicklung in der Landwirtschaft. Diese war zwischen 1875 und 1877 gekennzeichnet durch eine 32

unterdurchschnittliche Ernte als Folge von Mißernten in mehreren Provinzen 1875, eine mittlere Ernte 1876 und einen Rückgang der Nettoerträge pro Kopf bei sämtlichen Getreideernten gegenüber 1874". Die Ernteergebnisse der Jahre 1875 und 1876 stellten nicht nur die Möglichkeit einer größeren steuerlichen Belastung der bäuerlichen Bevölkerung, sondern überhaupt ihre Fähigkeit in Frage, den Ablösungs- und Steuerverpflichtungen nachzukommen. Die Steuerrückstände nahmen seit 1875 schnell zu, und die Fälle häuften sich, in denen sie buchstäblich aus den Bauern „herausgeschlagen" werden mußten. 1877 wurde in einer „statistischen Untersuchung über die Größe der Bauernteile und die Steuerzahlungen" nachgewiesen, daß der Landbesitz der „befreiten" Bauern o f t nicht zur Ernährung ausreichte und daß die Lage der Bauern in den Schwarzerdegebieten besonders schlecht war. In der Praxis führten der Steuerdruck und die hohen Ablösungsverpflichtungen zu einer noch rücksichtsloseren Ausbeutung des Landes mit der Folge, daß die Viehhaltung kaum mehr möglich war, die Ernteerträge sanken und die ohnehin schon hohe Anfälligkeit gegen Dürre und Feuersbrünste zunahm 68 . Auf der anderen Seite wurden die Bauern gezwungen, sogar in den Jahren mit schlechten und mittleren Ernteergebnissen einen größeren Teil ihrer Ernte zu verkaufen und selber zu hungern bzw. für den eigenen Bedarf das Getreide mit Baumrinde zu vermischen, während der Rückgang der Agrarpreise die Gutswirtschaften und größeren bäuerlichen Betriebe zu einer forcierten extensiven Wirtschaftsweise veranlaßte. Infogedessen spiegelte die Entwicklung des Getreideexportes nicht die tatsächliche Lage der bäuerlichen Bevölkerung oder gar eine gesunde Agrarstruktur wider. Die Mißernte 1875 schlug sich - abgesehen vom Weizen - in einem drastischen Rückgang des Getreideexports und anderer landwirtschaftlicher Produkte nieder. Aber bereits die mittlere Ernte 1876 brachte wieder einen deutlichen Anstieg vor allem beim Roggen- und Haferexport, während der Weizenexport etwas zurückging. 1877 stieg die Getreideausfuhr besonders stark an, da die exportorientierten südlichen und südöstlichen Schwarzerdegebiete das beste Ernteergebnis seit 15 Jahren erzielten 69 . Abgesehen davon, daß der nach der Mißernte von 1875 zu verzeichnende Aufstieg des Getreideexportes Ausdruck einer sich verschärfenden Strukturkrise im Agrarsektor und einer zunehmend prekären Lage der bäuerlichen Bevölkerung war, ließ sich diese Tatsache durch gute Ernteerträge und steigende Exportzahlen um so weniger verdecken, als mit dem 1875 einsetzenden Rückgang der Agrarpreise auf dem europäischen Markt die Problematik der Monostruktur des Außenhandels noch schärfer in Erscheinung trat. Die infolge der schlechten Ernte schon reduzierte Roggenausfuhr, aber auch die noch steigenden Weizenexporte mußten in der zweiten Jahreshälfte 1875 trotz „anhaltenden Sinkens der Getreidepreise" auf dem europäischen Markt abgesetzt werden. Z w a r setzte sich der Rückgang des Weizenpreises 1876 nur langsam fort, aber im Jahresdurchschnitt 1877 ging der Weizen- und Roggenpreis stark zurück 70 . 3

Müller-Link

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D a s Zusammentreffen der sich verschärfenden strukturellen Agrarkrise und der industriellen Depression ließ die Problematik der ökonomischen Transformation zwischen A g r a r r e f o r m und „industrieller Revolution" besonders hervortreten. D i e wirtschaftliche Aufschwungsphase hatte z w a r H o f f n u n g e n genährt, daß die Reformen der 60er J a h r e die schnelle Entwicklung des Binnenmarktes ermöglichen würden, aber der Verlauf und die Intensität der Krise machten deutlich, daß sowohl von den Voraussetzungen, unter denen die Reformen eingeleitet worden waren, als auch von der Art ihrer Durchführung her die Entwicklung in dieser Richtung eher blockiert als gefördert wurde. Die strukturelle Krise in der Landwirtschaft, die immer noch den weitaus größten volkswirtschaftlichen Sektor bildete, verminderte sowohl die Steuer- als auch die K o n s u m k r a f t der großen Masse der Bevölkerung, was wegen ihrer engen Verbindung mit der zentralrussischen Industrie die Krise in der Textilindustrie wenn nicht auslöste, so doch erheblich verschärfte. Eine ähnliche Bedeutung wie der Agrarsektor für die Textilindustrie hatte der Eisenbahnbau für die Eisenindustrie. D a s verlangsamte T e m p o im Eisenbahnbau machte erst in aller Schärfe deutlich, in welchem Ausmaß der forcierte Bau seit der Mitte der 60er J a h r e die Entwicklung der Eisenindustrie gestützt hatte' 1 . Außer vielfältigen Symptomen der Agrarkrise und Industriedepression war die wirtschaftliche Entwicklung seit 1875 vor allem auch durch eine akute Krise des Kreditsystems, der Finanzwirtschaft und des auswärtigen Staatskredits bestimmt. D i e Krise des Kreditsystems wurde im Verlauf des Jahres 1875 offenkundig durch den Zusammenbruch mehrerer teils mit europäischem K a p i tal gegründeten Handelshäuser in Kiew, Riga, Odessa usw. und der „Moskauer Commerz- und L e i h b a n k " im Oktober 1875 7 2 . Die Entwicklung der Finanzwirtschaft erreichte bereits 1874 mit einer gegenüber den Vorjahren erheblichen Verschlechterung der Zahlungsbilanz einen kritischen Punkt, obwohl sich die Ausgaben für das „ K r e d i t s y s t e m " auf der H ö h e des Vorjahres bewegten und der Agrarexport dank der guten Ernte den Durchschnitt des Vorjahres erheblich überstieg 7 3 . Die hochgradige Anfälligkeit der Finanzwirtschaft für agrarische und industrielle Konjunkturen wurde 1875 sofort deutlich, u. a. bei der Getränkesteuer, die trotz einer erneuten drastischen Steigerung des Steuersatzes rückläufig war. Der Bericht über den Budgetabschluß für 1875 begründete diese Entwicklung z w a r mit der Mißernte, aber wichtiger war die Beobachtung, „ d a ß der Steuerfuß der Getränkesteuer sein M a x i m u m erreicht, wenn nicht schon überschritten" habe. Die Möglichkeit für eine weitere Steigerung der Steuerquote, die in den letzten Jahren einen entscheidenden Faktor für die „bemerkenswerte Elastizität" der Staatseinnahmen dargestellt hatte, schien wie die „Reichskontrolle" erkannte - erschöpft zu sein 74 . Es kennzeichnet die prekäre L a g e der Finanzwirtschaft, daß sie auf eine weitere Erhöhung der bäuerlichen Steuerquote, die bereits ca. 5 0 % der Ernteerträge ausmachte, verzichten und das private Landeigentum mit einer Grundsteuer belegen mußte 75 . N a c h d e m auf dem Gebiete des Steuerwesens die Früchte der Reformen „bereits ihr volles Resultat geliefert" hatten, blieb zweitens „als wirkendes Agens einer 34

weiteren Einnahmevermehrung bloß jenes zweite Moment, der Fortschritt des nationalen Wohlstandes, welcher die Produktivität der Steuern erhöht, übrig". Es war daher nur konsequent, wenn die Reichsbank auf den allgemeinen wirtschaftlichen Abschwung schon frühzeitig mit den Instrumenten einer antizyklischen Geldpolitik reagierte 76 . Den Problemen war freilich damit nicht mehr beizukommen. Die Reichsbank löste durch ihre Geldpolitik nur eine wilde Haussespekulation an der St. Petersburger Börse aus, der schon bald die unvermeidliche Baisse folgte. Symptomatisch dafür war der Rückgang des Rubelkurses 77 . Darüber hinaus war die Entwicklung des Rubelkurses in den Jahren 1875 und 1876 ein Beweis f ü r die hochgradige Abhängigkeit der russischen Finanzwirtschaft vom Ausland und f ü r die geringen Möglichkeiten, den daraus resultierenden gefährlichen Entwicklungen wirkungsvoll zu begegnen. Denn die in der zweiten Jahreshälfte 1875 sich häufenden und schließlich zu einer regelrechten Kampagne ausweitenden Berichte in der ausländischen Presse über die Mißernte, die schlechte Lage der Industrie, den hohen Stand der Staatsschuld, den Zusammenbruch von Handelsbanken und -häusern und schließlich Gerüchte, daß die russische Regierung die Orientkrise als Vorwand für einen Balkanfeldzug nutzen wollte, drückten auf den Rubelkurs, verstärkten die Rubelspekulation und führten dazu, daß russische Wertpapiere von den europäischen Börsen in größeren Mengen abgestoßen wurden. Die Auswirkungen drohten gegen Jahresende 1875 nach dem Eindruck eines Korrespondenten in St. Petersburg verheerende Ausmaße anzunehmen: „Die in Millionen Rubeln zu uns aus dem Ausland zurückströmenden Effekten erforderten auch Millionen Rubel sofortiger Rimessen, ließen die russische Valuta sich von ihrem Sturz nicht erholen, legten die Verbindung mit dem Auslande beinahe gänzlich lahm. Bei solchen Verhältnissen waren Fallissements der in Valuta operierenden Firmen unausweichlich." 78 In dieser Situation gewann die Stabilisierung des Rubelkurses und des Vertrauens in den Staatskredit absoluten Vorrang. Die Regierung bemühte sich um den Nachweis, daß die Lage der Finanzwirtschaft als „im höchsten Grade zufriedenstellend" anzusehen sei. Der in Schwierigkeiten geratenen „Moskauer Commerz- und Leihbank" räumte sie demonstrativ einen unbegrenzten Stützungskredit ein; sie ließ entschieden Kriegsabsichten dementieren. Zur Eindämmung der Spekulation an den Effekten- und Rubelbörsen erhöhte die Staatsbank bereits im Oktober 1875 den Diskontsatz wieder drastisch auf 6 - 7 % , wobei sie bewußt eine Verknappung der Geldmenge und Schwierigkeiten bei der Abwicklung der Getreideexporte in Kauf nahm, und schließlich verkaufte sie in größeren Mengen Goldtratten zur Hebung des Rubelkurses 79 . Alle diese Maßnahmen erwiesen sich jedoch nicht nur zum Teil als wirkungslos, sondern sie konnten bestenfalls das Tempo verlangsamen, mit dem sich die gesamtwirtschaftliche Lage verschlechterte: 1. Zwar setzte an den europäischen Börsen der allmähliche Rückkauf russischer Wertpapiere ein, aber insgesamt zeigte die Intervention der Reichsbank keine durchschlagende Wirkung. Während sich ihre Goldbestände infolge des 3·

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„Auspowerungsfeldzuges" der ausländischen Spekulation um ca. 50 Mio. Rubel verringerten, hielt der Rückgang des Rubelkurses an 80 . 2. Die Gefahr einer stagnierenden, ja rückläufigen Einnahmeentwicklung war keineswegs überwunden. Nach den Erfahrungen des Jahres 1875 war die Mindestvoraussetzung für einen „natürlichen Fortschritt" in der Einnahmeentwicklung, daß „nicht von außen her wirkende Ursachen die friedliche Entwicklung des Landes" störten. Aber selbst dann ließ sich „nicht erwarten, daß ohne neue Steuern oder eine Erhöhung der bestehenden unsere Staatseinkünfte von Jahr zu Jahr sich in derselben rapiden Progression vermehren werden, wie im Verlaufe des verflossenen Dezenniums" 81 . 3. Der bereits f ü r die Einleitung der Reformära konstitutive Zielkonflikt zwischen Agrarreform und nachholender Industrialisierung hatte sich bis zur Mitte der 70er Jahre auf die Alternative zwischen Agrarrevolution und industrieller Revolution zugespitzt. O b zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch eine andere Möglichkeit bestand, als die Industrialisierung rücksichtslos auf Kosten der Entwicklung des Agrarsektors voranzutreiben, muß mehr als fraglich erscheinen. Einschneidende strukturelle Agrarreformen warfen nicht nur nahezu unlösbare politische, soziale und finanzielle Probleme auf, sondern sie hätten wahrscheinlich mit einer längeren Periode der industriellen Stagnation erkauft werden müssen. Vor diesem Hintergrund wird die Passivität verständlich, mit der die sich schärfende strukturelle Agrarkrise registriert wurde. Eine Korrektur der bisherigen Ergebnisse der Agrarreformen stand überhaupt nicht zur Debatte. Das staatliche Interesse an der Entwicklung des Agrarsektors beschränkte sich darauf, daß die Steuer- und Ablösungszahlungen weiter eingingen und der Getreideexport florierte. Auf der anderen Seite standen fortab die Leistungen staatlicher Wirtschafts- und Finanzpolitik im Vordergrund, durch die der Staat unmittelbar antizyklische Steuerungsfunktionen im Industrialisierungsprozeß übernahm, um eine Stagnation des industriellen Wachstums zu verhindern. Die Krise in der Mitte der 70er Jahre leitete im Bereich der Wirtschaftspolitik das Ende der „liberalen" Ära und die Phase massiver staatlicher Interventionen und Protektion zugunsten der Industrie ein. Erst in dieser Perspektive wird die strategische Bedeutung der Einführung der Goldzölle im Januar 1877 deutlich, zumal wenn berücksichtigt wird, daß die Steuerausfälle wegen der Mißernte des Jahres 1875 erst im Budgetabschluß f ü r 1876 voll zu Buche schlagen konnten und die industrielle Depression in diesem Jahr ihren Tiefpunkt erreichte. Erstens wurde an die Befriedigung schutzzöllnerischer Forderungen der Eisen- und Textilindustrie die Erwartung geknüpft, daß mit dieser stützenden Maßnahme die Gefahr einer stagnierenden Einnahmeentwicklung bei den direkten und indirekten Steuern gemindert werden konnte. Zweitens war nach der Stetigkeit, mit der die Einnahmen aus den Zöllen zwischen 1861 und 1875 gestiegen waren, zu erwarten, daß der Rückgang bei den Steuereinnahmen durch Mehreinnahmen bei den Zöllen ausgeglichen werden konnte. Drittens war die Verordnung, daß Zollzahlungen des 36

Auslandes nicht mehr in Papiergeld, sondern nur noch in Gold oder in Coupons, Staatsanleihen sowie konsolidierten Eisenbahnanleihen geleistet werden durften, eine nach den Erfahrungen von 1875/76 dringend gebotene Präventivmaßnahme, um einem ähnlichen Sturz des Rubelkurses und einer weiteren Verschlechterung der Zahlungsbilanz mit ihren gefährlichen Auswirkungen auf das Kreditsystem begegnen zu können 82 . Tatsächlich aber konnte die Einführung des Goldzolls nicht einmal die bescheidensten Erwartungen der Finanzverwaltung erfüllen angesichts der Belastung, die die Finanzierung des Krieges gegen die Türkei darstellte. Wirtschaftspolitisch kam die Kriegsentscheidung einer Flucht nach vorn gleich, die kurzfristig aus der akuten Krise herausführte. Langfristig jedoch verschärfte sie die Probleme der Finanzwirtschaft, ohne daß der Goldzoll - dessen Einführung durch die zusätzlichen Anforderungen der Kriegsfinanzierung erst recht geboten erscheinen mochte - die verhängnisvolle Entwicklung noch erkennbar hätte beeinflussen können 83 . Zunächst reichten die Rüstungsaufträge an die einheimische Textil- und Eisenindustrie aus, um eine von guten Ernteergebnissen gestützte und bis 1879 andauernde Kriegskonjunktur auszulösen. D a her verzeichnete auch die Einnahmeentwicklung 1878 nach den Stagnationserscheinungen der Vorjahre einen ungewöhnlich starken Anstieg. Waren die ordentlichen Einnahmen nach dem Rückgang 1876 (559 Mio. Rbl) auch noch 1877 (548 Mio. Rbl) rückläufig gewesen, so hatten sie 1878 „eine bis dahin unerhörte H ö h e " erreicht, nämlich 625,9 Mio. Rbl, d. h. 53 Mio. Rbl mehr als der Voranschlag, 78 Mio. Rbl mehr als im Vorjahr und 50 Mio. Rbl mehr als in dem bisher günstigsten Einnahmejahr (1875). Der Versuch, die Kriegskosten über Steuern zu finanzieren, setzte konsequenterweise bei der Getränkesteuer als dem größten Einnahmeposten ein. Die im Juli 1877 in K r a f t getretene bessere Normierung des Spiritusbrandes bewirkte in Verbindung mit einer guten Ernte einen Anstieg der Einnahmen aus der Getränkesteuer von 189 Mio. Rbl 1877 auf 213 Mio. Rbl. Außerdem stiegen die Einnahmen aus den Zöllen, die im ersten Jahre des Goldzolls infolge der gesteigerten Importe des Vorjahres noch auf 52 Mio. Rbl zurückgegangen waren, 1878 auf 79 Mio. Rbl 84 . Abgesehen davon, daß die Einnahmeentwicklung des Jahres 1877 selbst gegenüber dem Vorjahr noch rückläufig war und der ordentliche Etat mit einem Defizit von 37 Mio. Rbl abschloß, reichte der - konjunkturell bedingte Anstieg der Einnahmen nicht aus, um die Kriegskosten über Steuern zu finanzieren. Der Krieg mußte daher vor allem durch die vermehrte Emission von Papiergeld und durch Anleihen finanziert werden. Durch den Ukas v. 25. 10. 76 bekam die Reichsbank freie H a n d bei der Ausgabe von Kreditbillets. Die Summe der „Darlehen aus der Reichsbank" wuchs sehr schnell: 355 Mio. (1. 1. 78), 419 Mio. (1. 1. 80). Die „temporären Kreditbilletemissionen" betrugen: 55 Mio. (1. 1. 77), 305 Mio. (1. 1. 78), 468 Mio. (1. 1. 79). Von etwa 700 Mio. Rbl vor Kriegsausbruch stieg der Papiergeldumlauf auf 944 Mio. Rbl (1. 10. 77) bei einer Metalldeckung von nur 180 Mio. auf 1 213 Mio. Rbl (1. 10. 78) bei einer Metalldeckung von 173 Mio. Rbl 85 . Daneben trat die 37

Finanzverwaltung in den Jahren 1 8 7 7 - 7 9 mit großen Kriegsanleihen an den Kapitalmarkt heran: Auf die 5%igen Bankbillets von 1877 (100 Mio. Rbl Metall) folgte die I. Orientanleihe von 1877 (200 Mio. Rbl Metall, 5 % ) , die „5%ige äußere Anleihe von 1877" (15 Mio. pfd. stri. = 307 Mio. Mark), die I I . Orientanleihe von 1878 (300 Mio. Rbl) und die I I . Orientanleihe von 1879 (300 Mio. Rbl). Hinzu kamen die „Obligationen der Reichskasse" (150 Mio. Rbl 1878, 50 Mio. Rbl 1879) 8 e . Das Gebaren der Finanzverwaltung bei der Finanzierung der Kriegskosten brachte die russische Finanzwirtschaft auf die abschüssige Bahn, es stellte die Fortführung einer geordneten Finanzwirtschaft in Frage und führte zu einer steigenden Abhängigkeit von den europäischen Kapital- und Geldmärkten in einem bisher nicht gekannten Ausmaße: 1. Die durch die Emission von Kreditbillets angeheizte Kriegskonjunktur wies die vielfältigen Symptome eines unkontrollierbaren inflationären Kreislaufs auf: „Steigen der Preise, Diskonterhöhung, Verarmung des Landes bei großen Geldmassen, Suche nach Bargeld, Erhöhung der Ausgaben des Staates." 87 2. Mit dem drastischen Anstieg der „außerordentlichen Ausgaben" zur Finanzierung der Kriegskosten 88 stiegen die Zins- und Amortisationszahlungen für die Staatsschuld 1878 gegenüber dem Vorjahr um 25 Mio. Rbl 8 9 . 3. Der drastische Anstieg der Zahlungen für das „Kreditwesen" im Jahre 1878 war nur zum Teil eine Folge der Anleihepolitik, zum anderen eine Folge des niedrigen Rubelkurses, der in diesem Jahre bei erheblichen Schwankungen auf einen Jahresdurchschnitt von 206,7 Mark/100 Rubel gegenüber 220 im Vorjahre zurückging. An der Berlinder Börse erreichte der Ultimo-Kurs im März/April mit 188 bzw. 190 seinen niedrigsten Punkt. Nach einem allmählichen Anstieg auf 216 im Juli sank er bis Dezember wieder auf 194 ab 60 . 4. Steigende Einnahmen aus den Goldzöllen und der Getränkesteuer, ein äußerlich ausgeglichener Staatshaushalt und ein forcierter Export von Agrarprodukten, mit denen die Finanzverwaltung den Staatskredit zu festigen und die verheerendsten Auswirkungen des sinkenden Rubelkurses auf die Zahlungsbilanz zu neutralisieren hoffte, konnten nicht verhindern, daß die Finanzwirtschaft in eine wachsende Abhängigkeit vom europäischen Kapital- und Geldmarkt geriet. Denn der Rubelkurs und der Staatskredit wurden in den Jahren 1877 und 1878 Objekte einer bisher beispiellosen internationalen Spekulation. Dabei trat besonders die wachsende Abhängigkeit der russischen Valuta und des Staatskredits von der Berliner Wertpapier- und Rubelbörse hervor. Einerseits übten Berliner Spekulanten angesichts des 1878 besonders großen Überangebotes an russischem Getreide mit ihren Waren- und Devisengeschäften nicht nur einen anhaltenden Druck auf den Rubel aus, der ihnen den Ankauf großer Getreidemengen zu niedrigen Preisen ermöglichte, sondern die zur Kriegsfinanzierung emittierten Kreditbillets „flössen in großen Beträgen in Berlin zusammen" 9 1 . Andererseits war die erfolgreiche Kontrahierung der großen Kriegsanleihen alles andere als ein Beweis für die sichere Grundlage des russischen 38

Staatskredits. Denn die erfolgreiche Emission der inneren Anleihen (Orientanleihen) war nur dank der großen Papiergeldzirkulation, der massiven Unterstützung durch die Reichsbank 92 und nicht zuletzt durch das Engagement der ausländischen Spekulation möglich. Auch hier übte wieder die Berliner Spekulation den maßgeblichen Einfluß aus. Während sich der englische und französische Kapitalmarkt gegenüber neuen russischen Anleihen versteifte und der englische Markt 1878 sogar ältere Anleihen abstieß", „begannen mit dem Orientkriege aus Rußland Papieranleihen, sog. Orientanleihen, nach Berlin abzufließen". Die Berliner Banken beteiligten sich an der Rubelspekulation ebenso wie an der Subskription der großen inneren Kriegsanleihen in der Hoffnung, die aufgrund des sinkenden Wechselkurses günstig erworbenen Papiere bei einem erneuten Anstieg des Rubelkurses gewinnbringend abstoßen zu können' 4 . Für die russische Finanzverwaltung war diese Tatsache in mehrfacher Hinsicht ein Grund zur Beunruhigung. Zwar wurden auf diese Weise die unmittelbaren Bedürfnisse der Kriegsfinanzierung befriedigt, aber nur um den Preis einer beispiellosen Abhängigkeit von der Berliner Rubel- und Effektenbörse, die beide einen anhaltenden Druck auf die Valuta ausübten* 5 . Prekär war die Lage auch deshalb, weil einerseits ein Rückgang des 1878 ungewöhnlich starken Getreideexportes und der zu erwartende Rückfluß von Spekulationspapieren leicht zu einem weiteren Absinken des Rubelkurses führen und die unsichere Grundlage des russischen Staatskredits bzw. seine einseitige Abhängigkeit vom Berliner Geld- und Kapitalmarkt offenlegen konnte", andererseits aber durch unvermeidlich scheinende kursstützende Maßnahmen, d. h. primär neue Anleihen, die Abhängigkeit des russischen Staatskredits von Berlin noch einseitiger und größer werden mußte. Angesichts dieser Perspektive erstaunt es nicht, daß die Finanzverwaltung der weiteren Verschlechterung der Lage der Finanzwirtschaft tatenlos zusah. Infolge der Kriegsanforderungen konnte sie weder auf die Emission weiterer Kreditbillets, noch auf neue Anleihen verzichten. Größere Anleihen zur Stützung des Rubelkurses, der der ausländischen Spekulation überlassen wurde, kamen erst recht nicht in Frage 97 . Tatsächlich stand Rußland auf dem Höhepunkt seines Sieges gegen die Türkei vor dem finanziellen Bankrott. Die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme hatten zwanzig Jahre nach dem Krimkrieg ein Ausmaß erreicht, daß Kriegsminister Miljutin und Finanzminister Reutern angesichts der wachsenden Spannungen mit Österreich und England übereinstimmend erklärten, ein zweiter Krieg werde unvermeidbar zu Staatsbankrott und Revolution führen. Spätestens am Jahresende 1878 war unverkennbar, daß die finanziellen Kriegsfolgelasten die Finanzpolitik in eine Kettenreaktion hineinzwangen, in deren Verlauf sich der Zwang, die Mittel zur Befriedigung der Staatsschuld bzw. zur Stützung des Rubelkurses laufend auf dem Anleihwege in Berlin zu beschaffen, als Motor für ein weiteres Wachstum der Staatsausgaben und eine noch größere finanzielle Abhängigkeit vom Berliner Geld- und Kapitalmarkt erwies. Der nächste Schritt in diese Richtung war die III. Orientanleihe von 1879. Wie die „St. Petersburger Zeitung" feststellte, 39

hing die Realisierung dieser großen Anleihe hauptsächlich von der Beteiligung der „auswärtigen Kapitalisten" ab 98 . Während die englischen und französischen Banken eine Beteiligung ablehnte, erwies sich der Berliner Geld- und K a pitalmarkt in einer kritischen Situation als gute Stütze des russischen Staatskredits. Skeptischen Prognosen zum Trotz konnte die neue Anleihe auf dem deutschen Kapitalmarkt dank ihrer hohen Verzinsung bei einem gleichzeitig niedrigen allgemeinen Zinsniveau auf den europäischen Kapitalmärkten nicht nur mühelos realisiert werden, sondern gleichzeitig ging von der Berliner Rubel· und Effektenbörse eine Bewegung aus, die den Rubelkurs von 194 im J a nuar 1879 auf 199 1/2 im Juni, 210 im Juli und 215 im Oktober hinauftrieb".

2.1.2

Die soziale

Transformation

Die russische Gesellschaft war in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine autoritäre Hierarchie, an deren Spitze eine kleine Minderheit adeliger Großgrundbesitzer stand, die sich von der Millionenmasse leibeigener Bauern abschloß 1 . Im Verhältnis zu diesen beiden Gruppen nahmen mittlere und kleinere adlige Grundbesitzer, Kaufleute, Fabrikanten und die Kleinbürger eine hier nicht genau abzugrenzende Zwischenstellung ein 2 . Nachdem vielfältige Barrieren und der Despotismus Nikolaus I. die russische Gesellschaft bis an den Rand der Erstarrung gebracht hatten, leiteten die Reformen seines Nachfolgers einen sozialen Wandlungsprozeß ein, über dessen Ausmaße auch nicht hinwegtäuschen kann, daß Jahrzehnte später Adel und Bauern die Hauptgruppen einer noch überwiegend agrarischen Gesellschaft bildeten. Obgleich die „Bauernbefreiung" ein eindrucksvolles Beispiel dafür liefert, wie sich in dem unvermeidlich gewordenen Reformprozeß die Interessen einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit durchsetzten, überrascht das Ausmaß, in dem die „Adelsfrage" die Reformära bestimmte 3 . Dieser Widerspruch reflektiert einerseits, daß die Leibeigenschaft ein über den agrarischen Produktionsbereich hinausreichendes „Verbundsystem von Herrschaft, Sozialordnung und Ökonomie" (D. Geyer) gebildet hatte und daher nicht angetastet werden konnte, ohne die sozialökonomische Basis für die politische Herrschaft der adeligen Führungselite zu erschüttern 4 . Nachdem viele Gutsbesitzer ihre Güter heruntergewirtschaftet hatten und hochverschuldet in die Reformära eintraten, trat andererseits mit der Aufhebung der Leigeigenschaft erst recht ihre Unfähigkeit hervor, sich auf die Führung von Eigenwirtschaften mit agrarkapitalistischen Methoden umzustellen 5 . Spätestens mit dem Ende der Agrarproduktion in der Mitte der 70er Jahre war daher nicht mehr zu übersehen, daß der Grundadel aufgrund seiner eklatanten Unfähigkeit, sich als ökonomisch potente K r a f t den veränderten Verhältnissen anzupassen, mit der Aufhebung der Leibeigenschaft zugleich seinen Auflösungsprozeß als sozial herrschende Klasse eingeleitet hatte".

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Während die adelige Führungsschicht von dem Alptraum beherrscht wurde, daß sie mit der „Bauernbefreiung" den entscheidenden Schlag gegen ein Privilegiensystem führte, das ihre Stellung als herrschende Minderheit umfassend abgesichert hatte, knüpfte die Masse der bäuerlichen Bevölkerung an die Aufhebung der Leibeigenschaft hoffnungsvolle Erwartungen 7 . Dennoch war die Aufhebung der Leibeigenschaft auch für die unmittelbar betroffenen bäuerlichen Massen kein Aufbruch zu neuen Ufern. Darauf weist schon die Tatsache hin, daß neben der „Adelsfrage" auch die „Bauernfrage" der Reformära ihren Stempel aufdrückte. Durch einen Rechtsakt wurden zwar für die Guts- und Staatsbauern die extremsten Formen persönlicher und rechtlicher Abhängigkeit beseitigt, ohne daß freilich durch eine konsequent fortgeführte Agrargesetzgebung die Rahmenbedingungen geschaffen wurden, die ihnen den Übergang aus den Traditionen jahrhundertelanger Leibeigenschaft in eine agrarkapitalistische Wirtschaftsordnung ermöglicht oder nur erleichtert hätten. Die tatsächliche Entwicklung verlief eher gegenläufig. Denn der andauernde Einfluß wirtschaftlicher Interessen der adeligen Führungsschicht, sozialkonservative Präventivvorstellungen und eine engstirnige Steuerpolitik verhinderten soziale Mobilität, blockierten einen schnellen Differenzierungsprozeß auf dem Lande und konservierten eine analphabetische, durch die obscina an ihre Landanteile gebundene bäuerliche Masse. Wie sich schon in den 70er Jahren zeigte, bildete die ökonomische Kehrseite des vorläufig mißlungenen und erst durch die Agrarreformen Stolypins sich beschleunigenden sozialen Transformationsprozesse eine strukturelle Agrarkrise. Deren wichtigste Symptome: zunehmende Überbevölkerung auf dem Lande, Vorherrschaft kleiner Substistenzwirtschaften, Raubbau, Rückgang der Erträge und Fortdauer naturalwirtschaftlicher Verhältnisse wurden in der Übergangszeit zwar noch verdeckt. Mit dem Ende der internationalen Agrarkonjunktur und sich häufenden Mißernten, die sofort Hungernöte gerade in den fruchtbaren Schwarzerdegebieten zur Folge hatten, traten sie aber um so deutlicher zutage. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß auch nach Aufhebung der Leibeigenschaft die Spannungen auf dem Lande andauerten. Der Verlauf der „Bauernbefreiung" machte ja nicht nur allzu hoch gesteckte Erwartungen auf entschädigungslose Landverteilungen zunichte, sondern Millionen von Bauern wollten sich nicht damit abfinden, daß ein zu kleiner Landanteil, hohe Ablösungszahlungen und verstärkter Steuerdruck das Resultat ihrer „Befreiung" sein sollten. Wenn sich auch Gerüchte über angeblich bevorstehende Neuverteilungen des Landes hartnäckig hielten, so waren doch am Ende der 70er Jahre auch Anzeichen eines Desillusionierungsprozesses unübersehbar 8 . Nach der Reformperiode unerfüllt gebliebener Erwartungen ging dem Rückfall in die Apathie eine Phase bäuerlichen Protestes voraus, der sich nicht mehr ausschließlich gegen den als sozialen Ordnungsfaktor auf dem Lande ohnehin geschwächten Adel richtete 9 , sondern auch vor der Autorität des Zaren nicht mehr halt machte. Immerhin sah sich Alexander II. am Ende seiner Regierungszeit einem 41

zwar noch „friedlichen, kaisertreuen", jedoch in „agraren Fragen gefährlichen Landvolke" gegenüber 10 . Geht man davon aus, daß mehr als 15 Jahre nach Aufhebung der Leibeigenschaft noch ca. 8 5 % der Bevölkerung Rußlands von der Landwirtschaft lebten 11 , dann stellt sich die Frage nach den sozialen Voraussetzungen, die das industriewirtschaftliche Wachstum der Reformperiode und schließlich den industriellen „Take o f f " seit dem Ende der 80er Jahre ermöglichten. Mit der Aufhebung der Leibeigenschaft entstand zwar die „freie Arbeit", aber eine „industrielle Reservearmee" stand damit ebensowenig zur Verfügung wie ein ausreichendes Angebot an fachlich qualifizierter Lohnarbeit. Als besonders restriktiv erwies sich in dieser Beziehung, daß die Bindung großer Teile der Industriearbeiter und der gewerblichen Arbeiter an das Land durch die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht gelöst, sondern eher gefestigt wurde 12 . Eine Ausnahme bildeten die Industrievororte der Hauptstädte und die polnische Industrie, wo sich während der Reformära eine Arbeiterschaft konzentrierte, die die Lösung von der Scholle weitgehend vollzogen hatte 13 . War also die Herausbildung eines westeuropäischen Ländern vergleichbaren Proletariats in den ersten Jahrzehnten der Reformen bis auf einzelne Regionen über erste Ansätze kaum hinausgekommen, so konnte andererseits auch von einer russischen Bourgeoisie, die zum soliden Träger des Industrialisierungsprozesses hätte werden können, am Beginn der Reformära noch keine Rede sein 14 . Zwar konnte das Bürgertum in den größeren Städten auf eine lange Tradition zurückblicken; aber zu den schon von Peter d. Gr. genutzten Vorteilen der Rückständigkeit gehörte die Chance, mit ausländischem Kapital auch Unternehmer und Kaufleute zu engagieren, und auch die Rolle ausländischer Unternehmer an der industriellen Entwicklung der Reformzeit darf - unter Berücksichtigung regionaler Unterschiede - nicht gering veranschlagt werden 15 . Freilich bildete sich im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung eine „junge" Bourgeoisie heraus. Die Besonderheiten im Entstehungsprozeß einer nationalrussischen Bourgeoisie erschließen sich am ehesten im Hinblick auf die industrielle Geographie, deren Konturen sich in den Jahrzehnten nach dem Krimkrieg herausschälten und sich bis zum Eintritt in die Phase des „Take o f f " nicht mehr entscheidend veränderten 1 ". Mit den Veränderungen im Bank- und Kreditwesen bildete sich der Kern einer Finanzbourgeoisie heraus, die sich aufgrund ihrer Rolle bei der Fianzierung des Eisenbahnbaus, ihrer engen Verbindungen zum europäischen Kapitalmarkt und nicht zuletzt dank ihrer Rolle bei der Vermittlung des Staatskredits in St. Petersburg konzentrierte 17 . Regionale Unterschiede bestimmten vor allem die Entwicklung der Handelsund Industriebourgeoisie. Daß der Kaufmann der „Stammvater des modernen Bürgertums" war, läßt sich weder für die Entstehung der Industriebourgeoisie in den baltischen Gourvernements, noch für die Montanindustriellen des Ural behaupten. Die Industriellen der Petersburger Schwerindustrie und des Maschinenbaus, „von denen sich viele erst in der Gründerzeit . . . einen Namen gemacht haben", rekrutierten sich aus den ehemaligen „Unterhaltern von Fabri-

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ken", d. h. jener Gruppe von Unternehmern, die als „halbe Beamte" die „Possessionsfabriken" in eigener oder in staatlicher Regie geleitet hatten. Bei den Hüttenindustriellen des Ural gaben feudale Magnaten, ehemalige Beamte und Pächter von Bergwerken aus der Zeit der Leibeigenschaft weiterhin den Ton an 18 . Ein personeller Zusammenhang zwischen Handels- und Industriebourgeoisie läßt sich noch am ehesten in der polnischen und St. Petersburger Textilindustrie aufzeigen, wobei allerdings der starke Anteil ausländischer Unternehmer zu berücksichtigen ist. Als eine Gruppe von ziemlich starker Homogenität trat dagegen bald nach dem Beginn der Reformen die Bourgeoisie des Moskauer Industriegebietes in Erscheinung. Der Grund dafür liegt darin, daß sie im Unterschied zu den anderen Gruppen der Bourgeoisie sehr stark in der traditionalen Sozial- und Gewerbestruktur des Moskauer Industriegebietes verwurzelt war: 1. Ihre Mitglieder - insbesondere die Textilindustriellen - rekrutierten sich aus ehemaligen bäuerlichen Gewerbetreibenden, die, teilweise noch als Leibeigene, sich als hausindustrielle Verleger und „Bauernfabrikanten" in den gutsherrlichen Fabriken große Vermögen erworben hatten und nach der Aufhebung der Leibeigenschaft die gutsherrlichen Fabriken und Manufakturen übernahmen 19 . 2. Die Moskauer Bourgeoisie zeichnete sich durch eine enge Verbindung von Industrie- und Handelskapital aus. Während die „Bauern-Fabrikanten" zügig ihre Fabriken und Manufakturen erweiterten, zogen Mitglieder der Moskauer Kaufmannschaft energisch die wirtschaftlichen Konsequenzen aus der Aufhebung der Leibeigenschaft. Zum Teil übernahm eine „neue Unternehmerklasse aus kaufmännischen Kreisen" die eingegangenen gutsherrlichen Fabriken, zum anderen erweiterten oder gründeten „Moskauer Kaufleute" unter hohem Kapitaleinsatz Spinnereien, Webereien, Färbereien und Druckereien 20 . 3. Die Mitglieder der Moskauer Bourgeoisie waren zu einem beträchtlichen Teil Angehörige einer Generation, deren Vorfahren als „Altgläubige" verketzert und der Verfolgung durch die Orthodoxie und Bürokratie ausgesetzt waren. Hierin liegt sicherlich ein Schlüssel zur Erklärung der Widersprüchlichkeit, die das sozialpsychologische Profil der Moskauer Bourgeoisie als sozialer Klasse enthält: ausgeprägter Individualismus der Gruppenmitglieder, Entfaltung energischer ökonomischer Aktivität, extremer religiöser Fanatismus und sozialer Konservativismus 21 . Im Vergleich zu den sozialen Konflikten, die den Auflösungsprozeß der traditionellen Agrargesellschaft und die Entstehung neuer Wirtschafts- und Sozialstrukturen auf dem Lande kennzeichneten, nahmen sich die Konflikte in den Gewerbe- und Indurstriezentren zunächst noch bescheiden aus. Spontane Streiks, die oft militärisch unterdrückt wurden, hatte es schon vor Aufhebung der Leibeigenschaft in den „Possesionsfabriken" und staatlichen Bergwerken gegeben. Aber weder damals noch in der Periode des industriellen Aufschwungs der 60er und 70er Jahre konnte von organisierten Streikbewegungen die Rede sein, obgleich die Ausbeutung der „freien Arbeit" in nichts den euro43

päischen Vorbildern frühkapitalistischer Entwicklung nachstand 2 2 . Während die noch enge Verbindung der großen Masse industrieller und gewerblicher Lohnarbeiter mit dem Sande, die insbesondere im Moskauer Industriegebiet intensive Ausbeutung ermöglichte, die Spannungen zwischen den sich herausbildenden Klassen der Industriegesellschaft entschärfte, hatten die Unruhen unter der Arbeiterschaft der Hauptstädte und in der polnischen Industrie noch eher den Charakter spontiner Rebellionen als organisierter Streikaktionen 23 . Charakteristisch f ü r die Reformära waren die Gegensätze, die das Verhältnis zwischen den Gruppen der „jungen" Bourgeoisie Rußlands bestimmten. Der Verlauf einer schon früh erkennbaren Trennungslinie, die ihre Aufspaltung in zwei Großgruppen von mehr oder weniger großer Homogenität erkennen ließ, wurde sicherlich durch die Tatsache beeinflußt, daß sich nur im Moskauer Industriegebiet eine einheimische Bourgeoisie herausbildete, die in der Sozial- und Wirtschaftsstruktur fest verwurzelt war. Die Überfremdung der nur schwach entwickelten Elemente einer nationalen Bourgeoisie in den Industrie- und H a n delszentren der westlichen und nördlichen Randgebiete trat demgegenüber um so deutlicher zutage. Durchschlagender waren freilich die ökonomischen Interessengegensätze, die aus der Standortverteilung der Industriezentren, aus den Vor- und Nachteilen bei der Rohstoff-, Kapital- und Arbeitskräftebeschaffung und schließlich aus den unvermeidlichen Kämpfen um die Aufteilung des inneren Marktes resultierten. H a t t e schon vor Aufhebung der Leibeigenschaft die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen den Industriezentren Moskaus und der baltischen Gouvernements die traditionelle Rivalität zwischen Moskau und Petersburg verschärft, so machte der Aufschwung der Moskauer Textilindustrie, der ihre führende Rolle als wirtschaftliches und gesellschaftliches Zentrum Rußlands untermauerte 24 , die Moskauer Bourgeoisie um so empfindlicher f ü r die Konkurrenz der Petersburger und vor allem der sich schnell entwickelnden polnischen Textilindustrie. Denn insbesondere die polnische Industrie schickte sich nicht nur zur Eroberung des Binnenmarktes an, sondern sie besaß auch aufgrund ihrer geographischen Lage, ihrer Verbindung zu ausländischem Kapital und dank einem ausreichenden Angebot an qualifizierten Facharbeitern Konkurrenzvorteile, denen die Moskauer Industrie ebensowenig gewachsen war wie der Konkurrenz westeuropäischer Industrieprodukte 2 5 . Drei Gründe können dafür angeführt werden, daß der Kampf der Moskauer Bourgeoisie mit der Bourgeoisie der Industriezentren in den Randgebieten während der 60er und 70er Jahre keine scharfe Formen annahm: 1. Die Moskauer Industrie durchlief bis zur Mitte der 70er Jahre eine Expansionsphase, in der sie vor allem mit ihren Baumwollprodukten auf einen noch aufnahmefähigen inneren Markt traf 2 6 . 2. Der Ausbau der Eisenbahnen machte Moskau zum Mittelpunkt des Eisenbahnnetzes. Er erleichterte den Bezug von qualitativ hochwertiger amerikanischer Rohbaumwolle und erweiterte das Absatzgebiet f ü r die Produkte der Moskauer Industrie 27 . 44

3. Der mit dem Aufschwung des Moskauer Industriegebietes gewachsene politische Einfluß Moskaus und seiner Bourgeoisie war stark genug, um gegen freihändlerische Tendenzen die Senkung höherer Zölle besonders bei feineren Textilprodukten zu verhindern 28 . Dennoch dürfen die Konflikte zwischen den Gruppen der Bourgeoisie nicht unterschätzt werden. Wenn sie auch erst seit Mitte der 70er Jahre als Folge der industriellen Depression schärfere Formen annahmen, so wurden sie doch schon vorher bei den Zolltarifreformen von 1857 und 1868 und bei den innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Linienführung des Eisenbahnnetzes ausgetragen. Zudem waren bis in die 80er Jahre nur schwache Ansätze einer Klassenkonstellation erkennbar, die die Gruppen der Bourgeoisie in einer gemeinsamen Frontstellung gegen die agrarische Führungselite zusammengeführt hätte. Zwar war noch der Adel und nicht das „eben aufkommende Fabrikantentum" die „maßgebende Klasse", aber ein Adel, dessen Identität als traditionaler Elite durch die militärische Niederlage des Krimkrieges, durch anhaltende Rivalitäten zwischen den Adelsgruppen und durch mangelnde ökonomische Potenz unterminiert wurde, war kein Gegner f ü r die ökonomisch erfolgreichen Gruppen der Bourgeoisie 29 . Eine differenzierende Klassenanalyse hätte darüber hinaus zu berücksichtigen, daß angesichts der geringen Homogenität des Adels und der Bourgeoisie als sozialer Klassen die Klassenfronten nicht zwischen, sondern quer durch die Gruppen der alten agrarischen und der neuen industriellen Elite verliefen. In der Wahrnehmung ihrer ökonomischen Interessen hatten die „Fabrikfeudalen" der Moskauer Industrie mehr Gemeinsamkeiten mit den reaktionären Vertretern des adeligen Großgrundbesitzes als mit der Bourgeoisie der Randgebiete oder mit den vom ökonomischen und sozialen Abstieg bedrohten und für „liberale" Ideen anfälligen Gruppen des kleinen und mittleren Grundbesitzes. Wenn die Moskauer Bourgeoisie im Kampf um die Erhaltung der obscina und gegen staatliche Eingriffe in die industriellen Arbeitsverhältnisse ihren Anspruch als sozialkonservative Ordnungsmacht anmeldete, entpuppte sie sich als eine energische Verteidigerin der ökonomischen Interessen des adeligen Großgrundbesitzes und seiner sozialen Privilegierung.

2.1.3 Das politische Herrschaftssystem im Spannungsfeld des sozialökonomischen Wandels Bei seinem Regierungsantritt f a n d Alexander II. „den Staat in einem Zustande förmlicher Auflösung" vor. N a c h dem Eindruck zeitgenössischer Beobachter hatte der Krimkrieg und schließlich die militärische Niederlage „die schwachen Seiten des bisherigen Systems" so erbarmungslos aufgedeckt, daß die Möglichkeit, der „Thronwechsel" werde auch einen „SystemWechsel" einleiten, nicht mehr ausgeschlossen werden konnte 1 . Dennoch zeichnete sich keine unmittelbare Gefährdung der Autokratie ab. Denn die innenpolitischen 45

Schwierigkeiten signalisierten zunächst die Unvermeidbarkeit umfassender Reformen, die langfristig allerdings nur dann zur Festigung der Autokratie beitragen konnten, wenn es gelang, „der inneren Entwicklung der Nation Raum zu gönnen und Raum zu schaffen", dabei aber einen „prinzipiellen Bruch mit dem gesamten alten System" zu vermeiden 2 . D a ß die „Agrareinrichtungen" einen Schwerpunkt der unvermeidlich gewordenen Reformen bilden mußten, stand von vornherein fest. Die Agrarreformen liefern freilich auch ein Beispiel dafür, daß unter dem Druck einer akuten Zwangslage zwar Reformen in Gang gesetzt werden mußten, aber die Unmöglichkeit, den Reformprozeß mit einer funktionsfähigen Bürokratie und gegen den Widerstand starker Interessengruppen einzuleiten und fortzuführen, längerfristig die der Autokratie drohenden Gefahren vermehrte. Für einen „wohlwollenden Zaren", der im Sinne bäuerlicher Erwartungen mit der „Bauernbefreiung" Ernst machte, gab es scheinbar keine Möglichkeit, „die Aufhebung der Leibeigenschaft mit der Fortsetzung seiner eigenen Autokratie zu vereinbaren" 3 . Solange der Reformprozeß unter dem Einfluß entgegengesetzter Interessengruppen stand, die in der Regierung, am Zarenhofe und innerhalb der Bürokratie miteinander konkurrierten, konnten die „liberalen" Reformen - wie Engels 1871 resümierte - nur aus jenen „halben Maßregeln liberalen Charakters" bestehen, „die abwechselnd bewilligt, zurückgezogen und wieder bewilligt wurden" 4 . Nachdem ein so entschiedener Befürworter konservativer Reformen „von oben" wie Schweinitz 1866 endlich - wenn auch nur an „verschiedenen Symptomen" - erste „Anfänge von Ordnung und T a t k r a f t " feststellen konnte, glaubte er zwei Jahre später, die Gefahr zu erkennen, daß die innerhalb der Regierung und der Bürokratie sich bekämpfenden Gruppen nicht nur permanent die Regierungsautorität untergruben und ein allgemeines Klima der Unsicherheit schufen, sondern sich auch gegenseitig paralysierten und vielleicht sogar die „Staatsmaschine" beschädigten 5 . Begünstigt durch die Entscheidungsschwäche des Zaren erweiterte sich der Spielraum f ü r eine Öffentlichkeit, die den hinter den Kulissen miteinander rivalisierenden Gruppen einen weiteren Austragungsort für Richtungskämpfe bot und die in dieser Funktion ein quasiinstitutionelles Gewicht neben den traditionellen Institutionen der Autokratie gewann, das ihr „ k r a f t autokratischér Machtvollkommenheit" kaum noch zu nehmen war 6 . Damit steht auch nicht in Widerspruch, daß es nur „ein kleiner Teil der N a tion war, der sich mit Politik beschäftigte" und die neue Öffentlichkeit maßgeblich von einem kleinen Kreis Intellektueller beeinflußt wurde, der frühzeitig die große Bedeutung der Presse f ü r die Erhaltung und den Ausbau des neu gewonnenen Spielraums erkannt hatte 7 . Denn in der „Öffentlichkeit" drückten sich die vielfältigen Rivalitäten, Interessenkonflikte, sozialen Spannungen, Identitätsprobleme, Enttäuschungen und Erwartungen einer Gesellschaft aus, der nach einem 30jährigen Polizeidespotismus der schnelle Anschluß an die entwickelten Industriestaaten des Westens „von oben" verordnet wurde. Im Spannungsfeld verbreiteter Verunsicherung und einer in hohem Maße „geforderten" Gesellschaft artikulierten sich in den Gesellschaftskreisen der beiden 46

Hauptstädte und in der Presse als den hervorragendsten Aktionsfeldern von Öffentlichkeit in einem nach wie vor autokratischen Staate die Konflikte, die sowohl die Veränderungen in Staat und Gesellschaft und die Neubestimmung ihres Verhältnisses als auch das Wiederaufleben der Gegensätze zwischen Petersburg und Moskau begleiteten8. Einen Eindruck von der Intensität dieser Konflikte vermitteln die in der „Öffentlichkeit" und innerhalb der Institutionen der Autokratie ausgetragenen Kämpfe, begleitet von einer dispositionellen Schwäche der traditionalen Instanzen, Entscheidungen auf der Grundlage rationalen Kalküls zu fällen. Die daraus resultierende wachsende Bereitschaft zu pathologischen Problemlösungen fand ihren prägnantesten Ausdruck in dem rapiden Aufschwung des Nationalismus als einer die Öffentlichkeit beherrschenden Ideologie. Wenn diese auf der einen Seite in ihrer Funktion als Integrationsfaktor die Etablierung einer „Öffentlichkeit" neben und in Konkurrenz mit den Institutionen der Autokratie absicherte, so bezog sie auf der anderen Seite ihre Wirksamkeit aus Inferioritäts- und Abhängigkeitsgefühlen, die sich zunächst primär in Aggressionen gegen nationale Minderheiten innerhalb des russischen Staatsverbandes, dann aber zunehmend gegen äußere Feinde - tatsächliche oder vermeintliche - umsetzten 9 . Die offensichtliche Unfähigkeit des Zarismus und seiner alten Führungselite, die Schwächung traditionaler Mechanismen sozialer und politischer Kontrolle zu kompensieren10, leistete der Entstehung nationalistischer Ressentiments ebenso Vorschub wie die im Verlaufe der Reformära zunehmend deutlicher ins Bewußtsein tretenden ökonomischen, militärischen und politischen Disparitäten des europäischen Staatensystems. Hier liegt die Wurzel für die Anfälligkeit, die nicht nur die wichtigsten Institutionen des Zarismus wie die Armee und die Bürokratie, sondern auch die „Gesellschaft" der Hauptstädte und selbst die konservative Elite der adeligen Großgrundbesitzer gegenüber den antideutschen Tendenzen der nationalistischen Ideologie zeigten. Im folgenden sollen unter diesem Aspekt die Armeereform, der wachsende Anteil einer antipreußischen Öffentlichkeit an den wirtschafts-, innen- und außenpolitischen Entscheidungen und schließlich die Resistenzschwäche der Eliten gegen antipreußische Tendenzen skizziert werden. Es erscheint auf den ersten Blick paradox, daß sich ausgerechnet bei der Armeereform die „liberalen" Tendenzen - repräsentiert durch die Person des Kriegsministers Miljutin - am weitesten und konsequentesten durchsetzten. Miljutin konnte ein umfassendes Militärreformprogramm einleiten, dessen Vollzug das Ende der „alten" Armee bedeutete und dessen Ergebnis eine „junge" und „neue" Armee sein sollte11. Die durch keine Intrige zu beeinträchtigende Vorzugsstellung Miljutins beim Zaren hatte zwei Grundlagen: 1. Von den unmittelbaren Rückwirkungen des Krimkrieges waren noch am nachhaltigsten die Erschütterungen zu spüren, die durch die militärische Niederlage in der Militärorganisation ausgelöst wurden. Denn „das ganze Gefüge der Armee war innerlich krank, und sie war nahe daran, den Dienst zu versa47

gen" 1 2 . Daher setzte sich in der politischen und militärischen Führungsspitze die Einsicht durch, daß nur durch eine Reform an Haupt und Gliedern selbst um den Preis einer vorübergehenden Periode außenpolitischen Machtverlustes - die Armee wieder zu einem funktionsfähigen Instrument der Autokratie werden konnte. Die Überzeugung Miljutins, daß die Armeereform sich an „liberalen" Prinzipien zu orientieren habe, stieß zwar in reaktionären Militär· und Adelskreisen auf Widerstand, nicht aber beim Zaren, der „volles Verständnis für die hohe Bedeutung der Sache" hatte. Denn angesichts des desolaten Zustandes der Armee zu einer Zeit, in der die Roonschen Heeresreformen die militärische Grundlage für den Aufstieg Preußens schufen, gab es zu liberalen Reformen keine konservative Alternative 13 . 2. Die „liberalen" Reformen Miljutins bezogen ihre Impulse zunehmend deutlicher aus der Konkurrenz mit Preußen. Seine militärischen Erfolge festigten die Stellung Miljutins, da sie den Zaren von der Notwendigkeit überzeugten, den einmal eingeschlagenen Weg konsequent fortzuführen. Den deutlichsten Einschnitt in dieser Hinsicht markierte der unerwartet schnelle Sieg der preußisch-deutschen Armeen über die französischen. Denn der Aufstieg Preußen-Deutschlands zur militärischen Hegemonialmacht löste in russischen Militärkreisen Bedrohungsgefühle aus, die den weiteren Gang der Militärreformen erheblich beeinflußten. Im Juli 1872 berichtete der deutsche Botschafter in Petersburg, Miljutin habe nur den einen Gedanken, daß „Rußland . . . über kurz oder lang von Deutschland angegriffen" werde, und daß nach der herrschenden Meinung in Deutschland „die russische Macht zu vernichten sei. Deutschland habe seine anderen Nachbarn niedergeworfen, es müsse daher versuchen, mit Rußland ein gleiches zu tun, um unumschränkt Europa das Gesetz zu machen". Das „Hauptmotiv" dieser Anschauungen vermutete der Botschafter in der „Furcht" vor der „aggressiven Richtung Deutschlands", die in nicht geringem Maße durch das „Gefühl der eigenen Schwäche und der Verteidigungsunfähigkeit" genährt werde 14 . Es kann daher nicht überraschen, daß der weitere Verlauf der russischen Militärreformen zunehmend von der Rivalität mit der neuen militärischen Hegemonialmacht beeinflußt wurde: Die allgemeine Wehrpflicht nach preußischem Vorbild wurde zwar erst im Januar 1874 eingeführt, aber die mit der Vorbereitung beauftragten Kommissionen hatten bereits im November 1870 mit den Planungen zur Bildung einer . Reservearmee - dem Kernstück der Armeereform - ihre Arbeit aufgenommen. Denn der Verlauf des deutsch-französischen Krieges hatte gezeigt, daß sich zukünftig „in einem Kriege mit einer Großmacht nur durch die Aufstellung und Verwendung gewaltiger Heeresmassen ein durchschlagender Erfolg erzielen" ließ und eine Armee „ohne eine genügende Reserve zur Führung eines großen Krieges nicht stark genug" sein konnte 15 . Darüber hinaus entwickelte die russische Militärführung selbst nach dem Urteil des deutschen Botschafters vom militärischen Standpunkt aus „sehr richtige Grundsätze", wenn sie zu Beginn der 70er Jahre die „Verstärkung der Weichsellinie als Verteidigungs- und Operationsbasis sowohl Preußen als auch 48

Österreich gegenüber" in Angriff nahm. Auf Betreiben Miljutins wurde nicht nur der Ausbau der Festungen und strategischen Bahnen in Richtung auf die preußischen Grenze hin beschleunigt vorangetrieben, sondern auch die Kavallerie- und Artillerieeinheiten an der peußischen Grenze wurden nach und nach verstärkt 1 6 . Schließlich ab es Anzeichen dafür, daß Preußen-Deutschland neben England im Feindbild der Armee allmählich in die Rolle des natürlichen Feindes hineinwuchs. Die Gründlichkeit, mit der die Armeereform vorangetrieben wurde, leistete dieser Entwicklung Vorschub. Denn im Zuge der Militärreformen verschwand das Offizierskorps, dessen Bewußtsein noch von der Erinnerung an die preußisch-russische Waffenbrüderschaft und von dem Glauben an die Verteidigungsaufgabe gegen die Revolution bestimmt wurde. Das neue Offizierskorps war - bei entsprechender Förderung von oben - empfänglich f ü r ein von Furcht- und Inferioritätsgefühlen bestimmtes Feindbild, in dem PreußenDeutschland an erster Stelle rangierte 17 . Gerade in ihrer antipreußischen Komponente spiegelten die Militärreformen darüber hinaus die allgemeine Grundstimmung der Reformära wider. Denn der Wandlungsprozeß im Militärsektor vollzog sich in Übereinstimmung und unter der Einwirkung einer wachsenden Animosität der „Öffentlichkeit" gegenüber Preußen-Deutschland. Dieser Zusammenhang hatte eine - bisher unterdrückte - Tradition. Zur Zeit Nikolaus I. hatte die Unzufriedenheit in Armeekreisen mit dem „preußischen Zaren" und die trotz scharfer Kontrollen sich artikulierende Kritik der „Intelligenz" in ihren zwei wichtigsten Erscheinungsformen - den „Westlern" und den „Slawophilen" - eine ausgeprägte antipreußische Spitze 18 . Bismarck f a n d daher bereits während seiner Petersburger Zeit (1859-1862) „die Anfänge der Wirksamkeit jener politischen-literarischen Partei vor, deren unausgesetztes Streben" es angeblich war, „die Beziehungen zwischen Deutschen und Russen systematisch zu verbittern" 1 9 . Aus diesen Anfängen entwickelte sich in den 60er und 70er Jahren eine von antipreußischen Ressentiments bestimmte nationalistische Strömung, die - von der liberalen und konservativen Presse Preußen-Deutschlands gleichermaßen als „Panslawismus" bekämpft - sich auch in der „Öffentlichkeit" artikulierte. Für diese Entwicklung waren vor allem fünf Faktoren wichtig: 1. Die „Intelligenz" der beiden Hauptstädte Petersburg und Moskau nutzte gleichermaßen die Chance, die ihr die Aufhebung der Pressezensur bot, um zu den aktuellen Problemen der inneren Politik Position zu beziehen 20 . Aber die Anhänger liberaler oder gar sozialistischer Ideen blieben eine macht- und besitzlose Vorhut, die ohne Resonanz in der Masse des Volkes von der Pressezensur bald wieder unterdrückt wurde. 2. Seinen Aufstieg zur beherrschenden Ideologie der Reformperiode verdankte der „revolutionäre Konservatismus" Moskauer Provenienz seiner nationalistischen Komponente 2 1 . Als „konservative Opposition" gegen den „Europäismus" artikulierte die Moskauer „Intelligenz" am radikalsten die Ideologie einer nationalrussischen Identitätsforderung, für die sich - wie die Reaktion 4

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auf den Polenaufstand zeigte - auch die von der Europäisierung Rußlands überzeugten Anhänger liberaler Ideen als anfällig erwiesen 22 . Die Wirksamkeit der nationalrussischen Ideologie blieb begrenzt, solange die nichtassimilierten Minoritäten ihr primäres Aggressionsobjekt bildeten. Das änderte sich in dem Maße, in dem sie sich gegen äußere Feinde - allen voran Preußen-Deutschland - wandte. Zehn Jahre, nachdem Bismarck die ersten Äußerungen von Deutschfeindlichkeit in der „Öffentlichkeit" registriert hatte, war nicht mehr zu verkennen, „daß sich selbst in Petersburg" eine gewisse Bitterkeit gegen Deutschland entwickelte, die in dem „wilden Ton" der Presse gegen Preußen einen deutlichen Ausdruck fand. Die nationalistische Ideologie, wie sie von den „national-demokratischen", „panslawistisch-demokratischen", „radikal-panslawistischen" und „liberalen" Blättern unter Führung der „Moskauer Zeitung", der „Moskwa", des „Golos", der „St. Petersburger Zeitung" u. a. propagiert wurde, galt 1868 als „einseitig antipreußisch und antideutsch" 23 . 3. Nachdem zu Beginn der Reformära die antipreußische Komponente des russischen Nationalismus Funktion der Bemühungen einer intellektuellen Minderheit war, die neue „Öffentlichkeit" gegen reaktionäre Gruppen zu behaupten 24 , resultierte die zunehmende Aggressivität der nationalrussischen Identitätsforderung aus dem Gefühl der Unterlegenheit und Abhängigkeit von den fortgeschrittenen Staaten Europas. Die „Tatsache der Abhängigkeit" konnte auch nach Überzeugung der keineswegs europafeindlichen liberalen Kreise „keinem Zweifel unterliegen". „Es genügt ein Blick um uns her", stellte Anfang der 70er Jahre einer ihrer Vertreter fest, „um zu sehen, wie wenig Selbständigkeit in unserem Leben noch vorhanden ist: aus Westeuropa beziehen wir unsere Institutionen . . .; unsere Gelehrten . . . haben ihre Studien im Ausland beschlossen; aus Westeuropa stammen die Muster unserer W a f f e n und unserer Preßgesetze; Preußens Beispiel bewegt uns zur Einführung der Erbswurst, und dasselbe Preußen oder England liefert uns die Argumente für oder gegen die klassische Bildung; viele Zweige der Industrie liegen Rußland noch ganz fern, nicht weil sie bei uns unmöglich sind, sondern weil sie uns durch die Vorzüglichkeit der westeuropäischen Industrie und wegen der eigenen Unwissenheit verschlossen sind; im Handel sind wir jetzt noch ein Gegenstand der Exploitation" 2 5 . In gleichem Sinne bestimmte Katkov im Januar 1872 als die Wurzel der „nationalen Richtung" den Wunsch, „daß Rußland in seinen Angelegenheiten und in der Beurteilung seiner Interessen selbständig" sein müsse. „Wir lassen uns in unseren Meinungen von dem russischen Interesse leiten", insistierte K a t k o v gegenüber dem preußischen Prinzen Friedrich Karl, „obwohl wir keineswegs die enragierten Deutschenfresser sind, wie man uns in den deutschen Zeitungen darstellt" 26 . 4. Aus dem verbreiteten Bewußtsein der Inferiorität und Abhängigkeit heraus artikulierten die Vertreter der Moskauer „Intelligenz" am entschiedensten die neue nationalrussische Identitätsforderung. Diese deckte sich - sowohl in ihrer antipreußischen Spitze als auch in ihrer sozialkonservativen und religiösen Komponente - nicht nur mit den Vorstellungen, die das Selbstbewußtsein 50

der Moskauer Bourgeoisie als sozialer Gruppe konstituierte, sondern sie war auch hervorragend geeignet, die ökonomischen Interessen der Moskauer Bourgeoisie ideologisch offensiv zu vertreten 27 . 5. Die Moskauer „Intelligenz" propagierte in der Periode einer allgemeinen Verunsicherung der traditionalen Gewalten als Verteidiger von Religion, Familie, Eigentum, Autokratie und Vaterland jene Ideologie eines „revolutionären Konservatismus", die nicht nur in der Masse des Volkes und bei der Moskauer Bourgeoisie einen Resonanzboden fand, sondern die auch der traditionalen militärisch-agrarischen Elite, die sich durch Reformzwänge, Prestigeverlust, Aushöhlung der ökonomischen Basis ihrer sozialen Privilegierung und die Aussicht auf Minderung ihres politischen Einflusses verunsichert fühlte, einen ideologischen Rückhalt geben konnte. Das Bedürfnis der traditionellen Elite nach ideologischem Rückhalt war um so stärker, als sie unter der Herrschaft Nikolaus' I. nur unzureichend durch neue Jahrgänge ergänzt worden war und ihre führenden Mitglieder zum großen Teil einer älteren Generation aus der Zeit Alexanders I. angehörten 28 . Untermauert wurde der ideologische Führungsanspruch Moskaus durch die ökonomische Entwicklung. Vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Aufschwungs des Moskauer Industriegebietes brachte die nationalrussische Ideologie mit Nachdruck den politischen und wirtschaftlichen Führungsanspruch Moskaus, d. h. der Moskauer Bourgeoisie und des Moskauer Adels, zum Ausdruck. Die Anzeichen dafür, daß sich Petersburg und die traditionale Elite diesem Anspruch kaum noch widersetzen konnten, häuften sich bereits in den 60er Jahren. Regierungsmitglieder, die sich zu wenig gefügig zeigten, lebten in ständiger Furcht, durch Angriffe der Moskauer Presse ihren Einfluß beim Zaren zu verlieren, während andere ihre Stellung dadurch sicherten, daß sie offen die Moskauer Industrieinteressen vertraten. „Vor aller Augen verschiebt sich der Schwerpunkt der Macht", stellte Schweinitz im Januar 1869 fest. Sie werde zwar „wenigstens scheinbar, noch lange bei der Krone" bleiben, „aber ihre Grundlagen, ihre Organe, ihre Wirkungen" würden „allmählich ganz andere". Wenige Monate darauf registrierte Schweinitz, daß die „Nationalen" schon ihre Kandidaten für Ministerposten auswählten und „mit großer Zuversicht" den Zeitpunkt abwarteten, „wo sie an die Reihe kommen" würden. Einige äußerten sogar die Ansicht, „daß, sobald die Regierung, vielleicht infolge äußerer Veranlassung, die nationale K r a f t nötig haben wird, sie zu ihnen greifen" müsse29. Das Problem, wie sich der Führungsanspruch Moskaus bei den Auseinandersetzungen um die Eisenbahnpolitik, die Handelspolitik oder um die Fabrikgesetzgebung durchsetzte, bildet noch ein weites Untersuchungsfeld. Man kann davon ausgehen, daß bei diesen Auseinandersetzungen die zunehmende Polarisierung zwischen preußenfreundlichen Gruppen adeliger Großgrundbesitzer und deren Organen, wie dem „aristokratischen Vest'" und - zunächst noch - der „Novoe Vremja", auf der einen und dem antideutschen Nationalismus Moskauer Provenienz auf der anderen Seite eine wachsende Bedeutung spiel4*

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te 30 . An dieser Stelle sollen freilich nur die Etappen skizziert werden, die den Anspruch dieses Nationalismus auch auf die Außenpolitik begründeten. Die internen Auseinandersetzungen über die Frage, wie dem polnischen Aufstand von 1863 begegnet werden sollte, ließ noch keine Bereitschaft der Regierung erkennen, sich mit der „nationalen" Öffentlichkeit zu identifizieren. Bei der Bewältigung des Aufstandes, der für die nationale Presse eine willkommene Chance bot, den neugewonnenen innenpolitischen Spielraum auszunutzen und zugleich zu erweitern, reagierte die Regierung auch im Sinne der Moskauer Presse, als sie den Aufstand brutal unterdrückte und danach zu einer Phase rücksichtsloser Russifizierungspolitik in den polnischen und baltischen Gouvernements überging. Aber vorausgegangen waren dieser Entscheidung Differenzen innerhalb der Regierung, bei denen es nach der intimen Kenntnis Bismarcks vornehmlich um zwei miteinander konkurrierende „Prinzipien" ging: das „Antideutsche, welches das Wohlwollen der Polen und Franzosen zu erweitern wünschte" und vom Außenminister Gortschakow vertreten wurde, setzte sich nicht gegen das zweite Prinzip durch, „das hauptsächlich in dem Kaiser und anderen seiner Diener seinen Sitz hatte" und das „die freundschaftlichen Beziehungen mit Preußen unter allen Umständen festzuhalten" wünschte 31 . Diese Einstellung des Zaren und einflußreicher Mitglieder der konservativen Adelspartei am H o f e ging nicht ohne weiteres über das unmittelbare Interesse an einer solidarischen Haltung bei der Unterdrückung des polnischen Aufstandes hinaus. In keinem Falle war sie stark genug, um in den darauffolgenden Jahren alle Vorbehalte, die gegen den Aufstieg Preußen-Deutschlands zu einer europäischen Großmacht von der nationalen Presse artikuliert wurden, zu überwinden. In der nationalrussischen Ideologie stieg Preußen mit seinen militärischen Erfolgen seit Königgrätz zu einer bedrohlichen Macht auf, die in ihrem aggressiven Expansionsdrang selbst vor einem Eingriff in die inneren Angelegenheiten Rußlands nicht halt machen würde. Die tiefsitzende Animosität gegen Preußen schlug sich bereits nach dem militärischen Erfolge Preußens im Kriege gegen Österreich in der massiv propagierten Forderung der „nationalen" Presse nieder, die Russifizierungspolitik in den Ostseeprovinzen und in Polen zum Instrument der Abwehr gegen die von Preußen ausgehende Bedrohung zu machen 32 . In der Regierung und der konservativen Adelspartei waren die Reaktionen auf die preußischen Siege keineswegs einheitlich oder gar vorbehaltlos preußenfreundlich. Während die konservative „Vest'" die „Erfolge der deutschen Politik Preußens" zustimmend kommentierte, sah Gortschakow, der nach dem Krimkrieg die Leitung der Außenpolitik mit der Zielsetzung übernommen hatte, „für Rußland den Fehlschlag jenes Krieges wieder gut" zu machen, seine Berechnung durchkreuzt, daß ein preußisch-österreichischer Krieg zur Schwächung beider Gegner führen und der russischen Außenpolitik wieder ein größeres Gewicht in der europäischen Politik geben werde. Nachdem die militärische Entscheidung eindeutig zugunsten Preußens gefallen war und sich die 52

Gegner schnell über die Friedensbedingungen verständigten, war für die russische Außenpolitik diese Chance verpaßt 33 . Von dieser frustrierenden Erfahrung blieben die preußenfreundlichen Adelskreise nicht unberührt. Hatte die „Erniedrigung" im Krimkriege ihr Selbstbewußtsein ohnehin erheblich erschüttert, so bereitete sich in diesen Kreisen nach dem preußischen Sieg über Österreich die Befürchtung aus, daß sich das „historische" Abhängigkeitsverhältnis der preußischen Außenpolitik von Rußland auflösen, vielleicht sogar in sein Gegenteil umkehren könnte. Daß Preußen-Deutschland sich anschickte, die bisherige Rollenverteilung: Preußen als „Vasallenstaat" des russischen „Schulmeisters", „Mißachtung auf der russischen Seite" und „Mangel an Selbst- und Staatsgefühl in zahl- und einflußreichen preußischen Kreisen", umzukehren, schuf eine von Inferioritäts- und Rivalitätsgefühlen bestimmte psychische Disposition, die Gortschakow den nötigen Spielraum verschaffte, um „antideutsche Tendenzen", wie sie vehement in der nationalen Presse vertreten wurden, in der Praxis der russischen Politik zu berücksichtigen34. Die Widersprüche zwischen der Rolle, die die russische Diplomatie in der letzten Phase der preußischen Hegemonialkriege spielte, und der Bereitschaft des Zaren, die „Bewachung" Österreich-Ungarns während des deutsch-französischen Krieges zu übernehmen, machte das ganze Dilemma der Regierung in einer Situation deutlich, in der sie durch militärische Schwäche und außenpolitische Isolierung nach außen weitgehend handlungsunfähig, nach innen aber mehr denn je auf außenpolitische Erfolge angewiesen war. Die Stationierung russischer Truppen an der österreichischen Grenze trug dazu bei, preußische Vorbehalte gegen die militärische Kraftprobe mit Frankreich zu beseitigen, sie sollte aber zugleich eine wichtige Hilfe zur Verwirklichung derjenigen außenpolitischen Kalkulationen leisten, die in der nationalistischen und antipreußischen Presse durchgespielt wurden und die Gortschakow bereits an den deutsch-österreichischen Krieg geknüpft hatte. Ging die Rechnung, daß die militärische Auseinandersetzung zwischen gleichwertig eingeschätzten Gegners zu einem Ermattungskrieg führe, diesmal nicht auf, dann hatte die von der preußenfreundlichen Adelspartei unter Führung des Zaren gehegte Erwartung, sich durch die wohlwollende Neutralität im deutsch-französischen Kriege die politische Führung des neuen Deutschen Reiches verpflichtet zu haben, kein größeres Gewicht als das eines moralischen Appells35. Im Hinblick auf die innenpolitischen Rückwirkungen war die unerwartet schnelle Niederlage Frankreichs und die Gründung des deutschen Reiches selbst unter der Voraussetzung, daß die russischen Balkaninteressen zu einem späteren Zeitpunkt die massive Unterstützung der deutschen Politik finden sollten, mehr als eine diplomatische Schlappe, die durch die Kündigung der Meerengenklausel des Pariser Vertrages schwerlich wettgemacht werden konnte. Denn die heftige Reaktion der „nationalen" Öffentlichkeit brachte die preußenfreundlichen Gruppen am Zarenhofe in ein verschärftes innenpolitisches Dilemma. Dieses bestand nach Ansicht des preußischen Militârattachés Lignitz darin, daß die Siege der preußisch-deutschen Armeen die „auf sozialen Grund53

lagen ruhende" Animosität gegen Deutschland aktivierten. In militärischen und zivilen Kreisen habe sich das unbehagliche Gefühl durchgesetzt, unter dem „deutschen Schulmeister" stehen zu müssen, seitdem „das gewaltige Deutsche Reich auf dem preußischen rocher de bronze aufgebaut und Beweise seine Offensivkraft" gegeben habe. Außerdem habe der „breiter und selbstbewußter auftretende Deutsche" noch dazu beigetragen, „dem der Inferiorität anhaftenden Mißtrauen neue Nahrung zu geben, so daß eine wirkliche Antipathie gegen das Deutschtum" entstanden sei, die im wesentlichen auf Furcht beruhe 3 '. Obgleich sich die Furcht- und Bedrohungsgefühle der militärischen Führungsspitze unmittelbar in die strategischen Planungen des Generalstabes umsetzten 37 , war die heftige Reaktion der „nationalen Öffentlichkeit" auf die veränderten europäischen Machtverhältnisse nicht primär gegen das Deutsche Reich gerichtet. Zumindest vorübergehend brachte die nationalrussische Ideologie weniger die gesellschaftlichen und inen politischen Konflikte der Reformära zum Ausdruck, sondern sie artikulierte jetzt ein expansionistisches außenpolitisches Programm mit einer eindeutig gegen Österreich-Ungarn und die Türkei gerichteten Spitze 38 . Diese ideologische Ambivalenz läßt sich zum Teil sozialpsychologisch erklären. In seinen chauvinistischen und religiös verbrämten Elementen brachte das außenpolitische „Programm" der „Panslawisten" die entschiedene Ablehnung der veränderten europäischen Machtverhältnisse als Folge der preußischen Hegemonialkriege zum Ausdruck. Nach der frustrierenden Erfahrung, daß Preußen-Deutschland nicht nur ungeschwächt, sondern als die führende Militärmacht Europas aus dem Kriege mit Frankreich hervorgegangen war, verschaffte es dem vom Bewußtsein der eigenen Unterlegenheit genährten Wunsch nach Revision der europäischen Machtverhältnisse zumindest vorübergehend eine Ersatzbefriedigung, in dem es statt des in jeder Hinsicht überlegenen und gerade deswegen nicht angreifbaren Feindes den als schwächer eingeschätzten Gegner zum Aggressionsobjekt machte. Diese Reaktion erklärt sowohl die eindeutige Aggressionsrichtung, wie sie in der panslawistischen Forderung nach Befreiung der unter österreichischer und türkischer Herrschaft lebenden Balkanslawen zum Ausdruck kam, als auch die lebhaft kultivierten Illusionen über die geringe Widerstandskraft des „schwachen Mannes am Bosporus" und den „verfaulenden" österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat. Diese sozialpsychische Funktion kann plausibel machen, warum der „Panslawismus" von oben geduldet wurde. Denn das außenpolitische Engagement der panslawistischen Presse war geeignet, die Kritik an der nach innen und außen handlungsunfähigen traditionalen Führungselite aufzufangen, freilich um den Preis, daß sie für die Zukunft ihre innen- und außenpolitischen Probleme verschärfte. Der hohe innenpolitische Mobilisierungseffekt der panslawistischen Ideologie machte es der traditionalen Elite zunehmend schwerer, ihre außenpolitische Handlungsfähigkeit durch die seit dem Krimkrieg sehr erfolgreiche Expansion in Asien unter Beweis zu stellen. Den auf eine Verständigung mit dem Deutschen Reich bedachten konservativen Adelsgruppen blieb seit dem 54

deutsch-französischen Kriege keine Wahl, als den Schwerpunkt der russischen Außenpolitik von Asien zum Balkan zu verlagern und sich dabei der wohlwollenden Unterstützung der neuen Großmacht zu vergewissern. Diese Gruppen rechneten fest mit der deutschen „Dankbarkeit" für den Fall, daß sie den Zeitpunkt für eine aktionistische Politik auf dem Balkan gekommen hielten. Sollten die in die deutsche Politik gesetzten Erwartungen nicht erfüllt werden, mußte die Ernüchterung bei diesen Gruppen um so größer sein, je mehr sie zu der Überzeugung kamen, daß angesichts der innenpolitischen Schwierigkeiten nur noch eine populäre und erfolgreiche Balkanpolitik das angeschlagene Prestige des Zarismus wieder herstellen konnte. Dieser Zeitpunkt kam 1876, als unter der Wechselwirkung zwischen dem Ausbruch von Balkanunruhen auf der einen und der sich verschärfenden innenpolitischen und wirtschaftlichen Spannungen auf der anderen Seite die Balance zwischen Innen- und Außenorientierung verloren zu gehen drohte. Mitte der 70er Jahre zeichnete sich mithin als ein Resultat der 15jährigen Reformperiode ab, daß die Chance einer „partiellen Modernisierung", d. h. im Spannungsfeld eines andauernden sozialökonomischen Wandels die Autokratie erfolgreich zu verfechten, vergeben worden war. Daß dieses Ergebnis in der ersten Hälfte der 70er Jahre noch nicht voll offenkundig wurde, hatte vor allem drei Ursachen: 1. Die Armeereform zeigte insofern Erfolge, als durch sie eine - freilich kaum zulängliche - Voraussetzung zur Wiedergewinnung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit des Zarismus geschaffen worden war. Hatte der preußische Gesandte in Paris noch 1868 ein Interesse Rußlands, „die orientalische Frage schon jetzt gewaltsam zum Ausbruch zu bringen", nicht erkennen können, weil es sich „in bezug auf die Schwierigkeiten des Transportes von Truppen und Lebensmitteln nach dem Süden" in einer „nur wenig besseren Lage als zur Zeit des Krimkrieges" befinde, so konnte 10 Jahre später ni¿ht ausgeschlossen werden, daß Rußland militärisch imstande war, im Orient „loszuschlagen " se . 2. Zu einer Zeit, in der die traditionale Elite unfähig war, den anhaltenden Autoritätsschwund der Autokratie zu verhindern, absorbierte der Nationalismus kollektive Unzufriedenheit und setzte sie in Aggressionen teils gegen Minderheiten, teils gegen äußere Gegner um40. 3. Der industrielle Aufschwung und die internationale Agrarkonjunktur verdeckten die sozialen Spannungen und verstellten den Blick für die langfristig um so gefährlicheren Veränderungen der Wirtschafts- und Sozialstruktur 41 . Konservativen, für „revolutionäre Strömungen" besonders empfindlichen Beobachtern blieb freilich nicht verborgen, daß dem äußeren Schein zum Trotz die Institutionen der Autokratie allmählich untergraben wurden 42 . Vor allem in der Armee ging „der Angriff gleichsam unterirdisch" vor sich. Durch die Reformen sollte zwar das Ansehen Rußlands als einer europäischen Militärmacht, mit der man zu rechnen hatte, wieder hergestellt werden, aber die Ein55

satzbereitschaft der „neuen" Armee für einen äußeren Krieg ließ sich ebenso bezweifeln wie ihre Zuverlässigkeit als Stütze der Autokratie: Die neue Rekrutengeneration hatte noch keinen Beweis für ihre Einsatzbereitschaft geliefert. Das neue Offizierskorps genoß bei preußischen Militärs und reaktionären Adelskreisen schon deshalb einen schlechten Ruf, weil in ihm aus den „höheren Ständen" die Söhne verarmter Gutsbesitzer dominierten, deren Einstellung weniger von Loyalitätsgefühlen gegenüber dem Zaren bzw. dem Bewußtsein „kastenmäßiger Unterschiede" als von dem Interesse an einem festen Einkommen und neuen „nationalen" Loyalitäten bestimmt wurde. Das Offizierskorps konnte vielleicht sogar zu einer Gefahr für die Autokratie werden, gehörte doch ein großer Teil einer gesellschaftlichen Schicht an, „welche dem Einfluß moderner Irrlehren noch zugänglicher" war als die „Dekabristen" 4 8 . Diese von reaktionären Gruppen in der Armee mit Mißtrauen beobachteten Veränderungen in der inneren Struktur der Armee konnten freilich wiederum nur im Zusammenhang mit den Widersprüchen und Halbheiten gesehen werden, die die Reformära insgesamt kennzeichneten und die auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet den Wert der Armee als Instrument zaristischer Außenpolitik zu beschränken drohten. Gerade aus seiner konservativen Grundhaltung heraus hatte der preußische Militärbevollmächtigte Schweinitz schon den Verlauf der Agrarreform und die Praktiken der Finanzwirtschaft kritisiert, da „die definitive Regelung der bäuerlichen Verhältnisse" doch „letztlich entscheidend für das Schicksal Rußlands" sein werde und es „für die Schätzung der Wehrkraft" nicht unwichtig scheine, „ob der zu beobachtende Staat Steuerkraft, ob er eine gleichmäßig verteilte . . . reiche Landbevölkerung" hatte oder ob seine Wälder zerstört, seine Felder ausgesogen wurden. Mitte der 70er Jahre hatte dieses Problem trotz der großen Fortschritte der Industrie nichts von seiner Aktualität verloren, sondern es war noch durch die Angst vor den sozialen Folgen des ökonomischen Wandels ergänzt worden 44 . Solange die internationale Agrarkonjunktur sowie der industrielle Aufschwung andauerten und die der Autokratie längerfristig von dem „unterirdischen Angriff" drohenden Gefahren in der „Trägheit der Massen" ein scheinbar unüberwindliches Bollwerk fanden, bestand für die „regierenden und besitzenden Klassen" kein Anlaß, eine einschneidende Korrektur der Agrarreformen zu akzeptieren oder gar „von oben" einzuleiten 45 . Das Zusammentreffen der Mißernte von 1875 mit dem Rückgang der Agrarpreise auf dem europäischen Markt und mit dem Tiefpunkt der industriellen Depression, einer akuten Krise der Finanzwirtschaft und schließlich dem Ausbruch von Unruhen auf dem Balkan schufen freilich sehr schnell eine innenpolitische Gesamtlage, die nach der Überzeugung Bismarcks „exzeptionell" war und in der es für die traditionale Elite gar nicht mehr um Korrekturen an den bisherigen Resultaten der Reformen gehen konnte, sondern nur noch die Alternative blieb, die wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten in eine akute Krise der Autokratie ausufern zu lassen oder in einer Expansion nach außen die Flucht nach vorn anzutreten. Mit dieser Alternative war die Entscheidung präformiert, zu56

mal - wie Moltke urteilte - Alexander II. „konstitutionellen" Forderungen k a u m nachgeben würde und die „Theorie, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben", auch in Rußland j a nicht neu sei 46 . D i e Vorgeschichte des Krieges gegen die Türkei und die Widersprüche des Entscheidungsprozesses lassen freilich wenig Zweifel daran, daß ein Balkanfeldzug z w a r auf kurze Sicht die der Autokratie drohenden Gefahren abwenden konnte, daß er zugleich aber Risiken enthielt, die auf lange Sicht um so gefährlicher werden konnten. Vier Gründe waren es vor allem, die die Entscheidung für einen Balkankrieg beeinflußten: 1. Angesichts der Aussicht auf eine sich stetig verschärfende Wirtschaftsund Finanzkrise war ein Krieg und die durch ihn ausgelöste Kriegskonjunktur das letzte und kurzfristig allein noch wirksame Mittel eines wirtschaftlichen Krisenmanagements 4 7 . 2. Ein B a l k a n f e l d z u g deckte sich sowohl mit dem Interesse der Moskauer Bourgeoisie an der Erweiterung politisch abgesicherter Absatzmärkte als auch mit dem Interesse der Großgrundbesitzer, die Hauptrouten für den Getreideexport aus den südrussischen H ä f e n unter Kontrolle zu bekommen 4 8 . 3. Ein Krieg war als Test für die „neue" Armee geeignet und zugleich ein Ventil für die in Armeekreisen herrschende Unzufriedenheit 4 9 . 4. Es bedeutete keine große Schwierigkeit, für einen als „Glaubenskrieg" propagierten Balkanfeldzug die innere Kriegsbereitschaft des Offizierskorps und der Masse der bäuerlichen Bevölkerung zu mobilisieren und die Zustimmung der panslawistischen Presse zu finden 5 0 . Auf der anderen Seite sprachen vier nicht minder wichtige Gründe gegen einen K r i e g : 1. Kriegsminister Miljutin machte militärische Gründe geltend, „denn die von ihm geleitete Armeereform befand sich noch in den ersten Stadien ihrer Durchführung; die allgemeine Wehrpflicht war erst zwei J a h r e zuvor zum Gesetz geworden, und die N e u b e w a f f n u n g der Infanterie war ebenfalls noch in den A n f ä n g e n " 5 1 . 2. D i e L a g e der Finanzwirtschaft war für einen Krieg denkbar ungünstig: Es gab nur noch einen engen Spielraum, um die Kriegskosten über die Steuern zu finanzieren. Die Bemühungen der Finanzverwaltung, den Rubelkurs und das Vertrauen in den Staatskredit gegen die internationale Spekulation zu stützen, wurden nicht nur durch einen Krieg zunichte gemacht, sondern sie erwiesen sich im Hinblick auf die Anforderungen der Kriegswirtschaft nachträglich als ein schwerwiegender Fehler, der durch die Einführung des Goldzolles wettgemacht werden mußte. Darüber hinaus konnte sich die Papierwährung im Kriegsfall als das entscheidende Schwächemoment für den Fall erweisen, daß der auswärtige Kredit zusammenbrach und der Sturz des Rubelkurses die Emission von Papiergeld überholte 5 2 . 3. V o m Standpunkt einer „dynastischen" und „konservativen" Politik bestanden erhebliche Bedenken gegen ein militärisches Eingreifen auf dem Balkan. Denn die Resultate einer 15jährigen Reformperiode schlossen unübersehbar 57

das Risiko ein, „daß jeder Krieg, in den Rußland verwickelt würde, das Zartum gefährden und die Revolution befördern müsse. Ob siegreich oder nicht", so warnte Schweinitz, „werde er das Volk über die eigene K r a f t und die U n f ä higkeit der Regierenden" aufklären. Bereits die Mobilisierung der Öffentlichkeit und des Volkes für den Krieg schränkte die Handlungsfähigkeit des Zaren so weit ein, daß er sich kaum noch gegen den Krieg stemmen konnte 53 . 4. Je größer die militärischen, die finanziellen und die innenpolitischen Risiken eines Balkankrieges waren, um so mehr waren die Adelskreise auf eine wohlwollende Unterstützung des Deutschen Reiches als der führenden europäischen Militärmacht angewiesen. Denn nur diese konnte es ihnen erlauben, einen begrenzten Krieg erfolgreich zu führen und damit die Kriegsrisiken in vertretbaren Grenzen zu halten. Vor diesem Hintergrund läßt sich die Unentschlossenheit des Zaren in den entscheidenden Monaten vor dem Kriegsausbruch erklären, aber auch die Hartnäckigkeit, mit der er von der deutschen Politik den Beweis der „Dankbarkeit" für die russische Haltung während des deutsch-französischen Krieges forderte.

2.2 D i e wirtschaftlichen Grundlagen der deutsch-russischen Beziehungen 2.2.1 Die Struktur des europäischen Agrarmarktes von 1846 bis 1876 und von 1876 bis 1890 Der nach dem Krimkrieg eingeleitete sozialökonomische Transformationsprozeß beendete eine Periode in den außenwirtschaftlichen Beziehungen Rußlands zu den europäischen Staaten, in der der Export von Agrarprodukten auf dem Seewege nach England die Grundlage eines insgesamt stagnierenden Außenhandels gebildet und sich der weitwaus unbeduetendere Landhandel im wesentlichen auf die Grenzprovinzen der unmittelbar mit Rußland benachbarten Staaten im Westen beschränkt hatte 1 . Bis zur Mitte der 40er Jahre war der Getreideexport nach England auch keine ernsthafte Konkurrenz für die fast ausschließlich auf dem englischen Markt abgesetzten preußischen Weizenexporte, die in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts stark angestiegen waren und im Durchschnitt der Jahre 1840 bis 1845 ungefähr ein Drittel der gesamten englischen Weizeneinfuhren deckten 2 . In den anderthalb Jahrzehnten nach der Aufhebung der englischen Kornzölle (1846) trat jedoch auf dem englischen Markt nicht nur amerikanisches Getreide, sondern auch der steigende russische Getreideexport in eine sich verschärfende Konkurrenz mit der preußischen Landwirtschaft, die nach der Krise der 20er und 30er Jahre während der 40er und 50er Jahre auffallende Fortschritte bei der Entwicklung agrarkapitalistischer Produktionsverhältnisse machte und verstärkt auf den englischen Markt drängte 3 . Besonders empfindlich machte sich die russische Konkurrenz auf dem 58

englischen Markt f ü r die preußischen Weizenexporteure bemerkbar, da Weizen in dieser Phase eines steigenden russischen Getreideexportes unbestritten die erste Stelle einnahm 4 . Dennoch kam die preußisch-russische Konkurrenz auf dem englischen Getreidemarkt in den 50er Jahren nicht über erste Ansätze hinaus, da der Anstieg sowohl des preußischen als auch des russischen Getreideexportes wesentlich von der schnell steigenden Nachfrage bestimmt wurde und dem russischen Agrarexport trotz der 1846 einsetzenden Steigerung weiterhin eine im Vergleich zum Binnenhandel relativ geringe Bedeutung zukam. Seit den 1860er Jahren jedoch vollzogen sich auf dem europäischen Agrarmarkt einschneidende Veränderungen, die ihren Ausdruck u. a. in einer schubartigen Steigerung des russischen Agrarexportes fanden. D a f ü r waren hauptsächlich vier Gründe maßgebend: 1. Die Aufhebung der Leibeigenschaft hatte zur Folge, daß das Angebot von Agrarprodukten auf dem Binnenmarkt erheblich anstieg. Denn nicht nur die Agrarproduktion der gutsherrlichen Wirtschaften nahm zu, sondern unter dem Druck hoher, in Naturalien nicht einlösbarer Ablösungs- und Steuerverpflichtungen gingen auch die bäuerlichen Wirtschaften dazu über, einen erheblich größeren Teil ihrer Getreideproduktion in den Handel zu bringen 6 . 2. Der schnelle Ausbau des Eisenbahnnetzes begünstigte den Binnen- und Exporthandel mit Agrarprodukten. Bis 1868/69 waren die getreidereichen zentralen und südlichen Gouvernements nicht nur mit dem zentralrussischen Industriegebiet um Moskau, sondern auch mit den Getreideexporthäfen der Ostsee, des Schwarzen und des Asowschen Meeres durch Eisenbahnen verbunden 6 . 3. Während auf dem russischen Agrarmarkt das Angebot schnell zunahm und sich die Transportmöglichkeiten verbesserten, stieg die Nachfrage auf dem europäischen Agrarmarkt. England, das 1852-59 noch 36,7 kg Weizen pro Kopf der Bevölkerung importiert hatte, führte 1860-67 bereits 60,5 kg ein. Zwischen 1870 und 1875 stieg die Weizeneinfuhr von 30,9 Mio. englischer Zentner (ca. 50,8 kg) auf 51,9 Mio. Zentner 7 . Der deutsche Zollverein konnte in der Periode eines beschleunigten und stetigen Wachstums der Industriewirtschaft zwischen 1850 und 1873 bei einem gleichzeitigen Bevölkerungsanstieg um mehr als 10 Millionen den Getreidebedarf immer weniger aus der eigenen Produktion decken 8 . Er vollzog damit den Übergang von einem Getreideexportland zu einem Getreideimportland 9 . 4. Auf der Woge einer andauernden Agrarkonjunktur wiesen die Preise f ü r Agrarprodukte sowohl auf dem russischen Binnen- als auch auf dem europäischen Agrarmarkt eine steigende Tendenz auf 10 . Die Reform Alexanders II. und die Entwicklung des europäischen Agrarmarktes summierten also die Anreize, die zu einem rapiden Aufschwung des russischen Binnen- und Exporthandels mit Agrarprodukten führten. Die bereits im ersten Jahrzehnt nach 1861 sich abzeichnende Verschiebung der Relation zwischen Land- und Seehandel weist darauf hin, daß die engere Verbindung des russischen mit dem europäischen Markte vor allem eine starke Ausweitung des deutsch-russischen Außenhandels zur Folge hatte. Noch vor der Gründung 59

des preußisch-deutschen Reiches waren in der Entwicklung des russischen Außenhandels Veränderungen erkennbar, die die deutsch-russischen Beziehungen in den folgenden Jahrzehnten nachhaltig bestimmten: die quantitative Ausweitung des Exportvolumens und der Wandel der Exportstruktur 1 1 . Außer den amerikanischen Getreideexporten, die vor allem seit den 60er Jahren auf den europäischen Markt drängten, trat zur gleichen Zeit Rußland auf dem englischen Markt in scharfe Konkurrenz zur preußischen Landwirtschaft, und zwar hauptsächlich bei Weizen. Während die Weizenexporte aus den Vereinigten Staaten nach England von 17,6 Mio. Ztr. im Fünfjahresdurchschnitt 1856/60 auf 44,8 Mio. Ztr. 1861/65 anstiegen, steigerte gleichzeitig Rußland seine Weizenexporte nach England von 18,5 Mio. Ztr. auf 28 Mio. Ztr. Im Fünfjahresdurchschnitt 1866/70 stieg sein Weizenexport nach England drastisch auf 52,4 Mio. Ztr., dagegen gingen die englischen Weizeneinfuhren aus den Vereinigten Staaten auf 36,3 Mio. Ztr. zurück. Im Verlaufe der 70er Jahre übernahm Amerika dann eindeutig die Rolle des Hauptlieferanten f ü r den englischen Weizenmarkt. Die russischen Weizenexporte nach England stiegen im Fünfjahresdurchschnitt 1871/75 relativ geringfügig auf 58,8 Mio. Ztr. an, gleichzeitig steigerte sich jedoch der amerikanische Weizenexport nach England auf 88,5 Mio. Ztr. 12 . Noch während der Kampf zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten um die führende Position andauerte - und als neue Konkurrenten Indien und Australien auftauchten - , gingen die Weizenexporte nach England aus Deutschland und Österreich-Ungarn zurück. Im Fünfjahresdurchschnitt 1861/65 hatte der Weizenexport aus Deutschland und Österreich mit 32,3 Mio. Ztr. noch den russischen von 28 Mio. Ztr. übertroffen. Mit 28,9 Mio. Ztr. 1866/70 und 17,7 Mio. Ztr. 1871/75 war er seitdem jedoch stark rückläufig 13 . Der erste große Aufschwung des russischen Getreideexportes in der zweiten H ä l f t e der 60er Jahre erhöhte zunächst die Bedeutung der Hafenstädte des Schwarzen und Asowschen Meeres als Hauptumschlagplätze des Getreideexportes. Die Ausfuhr aus Odessa, dem führenden Exporthafen Südrußlands, stieg ζ. B. von 1869 = 1,67 Mio. Tschetwert auf 1870 = 5,43 Mio. und 1871 = 5,69 Mio. Tschetwert. Über die H ä f e n Odessa, Taganrog, Rostow am Don, Berdjansk und Mariupol liefen 1871 ca. 78% der Weizenausfuhren, dem Gewichte nach 50ύ und dem Werte nach 68ύ der gesamten Getreideausfuhr 1 4 . Außerdem hatten auch die baltischen H ä f e n Kronstadt, St. Petersburg, Libau und Riga einen beträchtlichen Anteil am Weizenexport. Von diesem gingen 1871 nur 8,6% über die Landesgrenze, dagegen immer noch 12,6% über die baltischen Häfen 1 5 . Neben dem Weizenexport verzeichnete auch der Roggenexport in den 60er Jahren einen erheblichen Aufschwung. Aber im Unterschied zum Weizen ging ein erheblich größerer Teil (38%) der Roggenexporte schon 1871 über die Landesgrenze. Auf die H ä f e n des Schwarzen und Asowschen Meeres entfielen 31% und auf die Ostseehäfen 27,8%. Gegenüber 1861 hatte damit bereits eine deutliche Verschiebung der Roggenexporte auf Kosten der Ostseehäfen (1861 = 60

41,3%) und zugunsten der Landesgrenze (1861 = 30%) sowie der H ä f e n des Schwarzen und Asowschen Meeres (1861 = 2 1 % ) stattgefunden 1 6 . Begünstigt durch den Ausbau der Eisenbahnen zur westlichen Landesgrenze wurde die steigende Roggenproduktion der mittleren Gouvernements und des Wolgagebietes auf den deutschen und österreichischen Markt gelenkt. Als Absatzgebiet für russischen Roggen stand Deutschland mit 1,37 Mio. von insgesamt 3,9 Mio. Tschetwert bereits 1871 an erster Stelle, gefolgt von England 0,96 Mio. und Holland mit 0,56 Mio. Tschetwert 17 . Bei Gerste f a n d in den 60er Jahren eine ähnliche Verschiebung der Exportwege zugunsten der H ä f e n des Schwarzen und Asowschen Meeres sowie der Landesgrenze wie bei Roggen statt. Deutschland nahm 1871 zwar als Absatzgebiet für russische Gerste nur den dritten Platz hinter England und Holland ein, aber gegenüber 1861 erhöhte sich der Gersteexport nach Deutschland um 368%, so daß Deutschland auch für russische Gerste ein wichtiger Abnehmer wurde 18 . Wie bei Weizen blieb auch beim H a f e r England das Hauptabsatzgebiet 1 9 . Insgesamt machten die Exporte nach Deutschland auf dem direkten Wege bei den vier Hauptgetreidearten im Jahre 1871 ca. 11,3% des gesamten russischen Getreideexportes in die europäischen Länder aus20. In der ersten H ä l f t e der 70er Jahre nahmen die Agrarexporte in das deutsche Zollgebiet in einem solchen Maße zu, daß die bis dahin noch überwiegenden und weiter ansteigenden österreichischen Importe eingeholt und übertroffen wurden 2 1 . Begünstigt durch die freihändlerische deutsche Handelspolitik wurde Rußland damit in der Mitte der 70er Jahre zum größten Roggen- und Weizenlieferanten Deutschlands. 1874 entfielen auf russische Exporte 25,75% der deutschen Weizen- und 36,67% der deutschen Roggeneinfuhr, 1875 38,4% bzw. 34,48%. Bei Gerste behauptete Österreich-Ungarn auch in den 70er Jahren den ersten Platz im deutschen Gesamtimport, während der österreichische H a ferexport den russischen ebenfalls noch übertraf 2 2 . Während also der Anteil Rußlands am deutschen Getreideimport erheblich zunahm, wurde gleichzeitig das Getreide deutscher H e r k u n f t auf dem englischen M a r k t von der amerikanischen und russischen Konkurrenz weiter zurückgedrängt. Zwischen 1868/69 und 1876/76 steigerten die Vereinigten Staaten ihren Getreide- und Mehlexport von 39,48 Mio. auf 128,38 Mio. Bushel. 1876 wurden 65,5% aller amerikanischen Getreideexporte auf dem englischen Markt abgesetzt, darunter vor allem Weizen und Mais, während Rußland den größten Teil seines Exportweizens ebenfalls auf den englischen Markt brachte. Im Durchschnitt der Jahre 1874/76 belieferten die Vereinigten Staaten den englischen Markt mit 25,3 Mio. Rußland mit 8,3 Mio. und Deutschland mit 4,7 Mio. Ztr. Weizen und Weizenmehl 28 . Außer seiner wachsenden Bedeutung für den russischen Getreideexport gewann der deutsche Markt auch eine zunehmende Bedeutung f ü r den russischen Spiritus- und Viehexport. Bis zum Ende der 60er Jahre stellte die russische Spiritusfabrikation noch keine ernsthafte Konkurrenz für das „älteste land61

wirtschaftliche Gewerbe" der preußischen Provinzen dar. Denn während in den alten preußischen Provinzen die Zahl der Brennereien von 35 364 im Jahre 1820 - parallel zu den Erhöhungen der Maischraumsteuer in den Jahren 1824, 1838, 1853 und 1854-1861 auf 8 262 zurückgegangen war, hatte sich die Produktion der übriggebliebenen Brennereien erheblich erhöht. Der Konzentrationsprozeß im preußischen Brennereigewerbe trug mit dazu bei, daß die meist von Gutsbesitzern betriebenen Brennereien über den Bedarf des Binnenmarktes hinaus einen schwunghaften Spiritusexport - wiederum vor allem nach England - betreiben konnten. So stieg der Export der preußischen Brennereien von 1846 = 123 000 hl auf 1866 = 329 000 hl24. Der russische Spiritusexport stieg zwar bereits in den 60er Jahren deutlich an, mit 3 507 Pud im Jahre 1868 fiel der Branntwein- und Spiritusexport nach Deutschland jedoch kaum ins Gewicht 25 . Die Lage veränderte sich aber schlagartig, als infolge des hohen Bedarfs an Branntwein und Spiritus während des deutsch-französischen Krieges der Export nach Deutschland auf 524 434 Pud anstieg. Die Türkei importierte im gleichen Jahr 96 180 und Österreich nur 25 713 Pud Spiritus und Branntwein. 1871 beliefen sich die entsprechenden Zahlen auf 303 799, 169 427 und 16 615 Pud 26 . Zwar stieg im gleichen Jahr auch der preußische Spiritusexport auf 481 000 hl, aber damit hatte er seinen Höhepunkt überschritten. Nicht zuletzt infolge der zunehmenden russischen Konkurrenz fiel er bis 1875 auf 399 000 hl27. Die Absatzrichtung für russisches Schlachtvieh wurde in den 60er und 70er Jahren wesentlich davon beeinflußt, daß die Hauptlieferanten die südlichen und südöstlichen Gouvernements im Verein mit den Steppengebieten waren und der russische Viehexport nach England durch strenge Absperrungsmaßnahmen stark behindert, seit 1872 ganz unterbunden wurde. Infolgedessen ging der steigende russische Viehexport über die westliche Landesgrenze nicht nur nach Österreich-Ungarn, sondern auch nach Preußen, wo die Viehzucht zwischen 1846 und 1867 einen starken Aufschwung genommen hatte und sich in den folgenden Jahren auf dem erreichten Niveau hielt 28 . Der Export von russischem Hornvieh nach Deutschland stieg zwischen 1861 und 1871 von 854 auf 26 729 Stück, nach Österreich von 18 264 auf 36 092 Stück, während nach England im Jahre 1871 nur 147 Stück exportiert wurden. Von den 1871 aus Rußland insgesamt exportierten Schweinen (365 180) ging ebenfalls der weitaus größte Teil nach Preußen (267 813) und nach Österreich (97 155). An Kleinvieh, darunter besonders Schafe und Kälber, exportierte Rußland 1871 739 Stück nach Preußen und Hamburg, aber nur 13 666 Stück nach Österreich29. Beim Export russischer Rohstoffe und Halbfabrikate nach Deutschland dominierten seit den 60er Jahren rohe Schafwolle, Flachs, Heede, Leinsaat und Hanf sowie Hölzer und Holzwaren. Hinter England, das 1871 512 179 Pud roher Schafwolle aus Rußland importierte, wurde Deutschland mit 113 099 Pud zum zweitgrößten Abnehmer russischer Wolle, gefolgt von Österreich mit 73 335 Pud. Als Abnehmer für russischen Gespinstflachs (Flachs und Heede) 62

behielt England zwar seine führende Position mit 1871 = 6,08 Mio. Pud gegenüber 1861 = 3,11 Mio. Pud, gleichzeitig steigerte sich jedoch der Export nach Deutschland von 360 043 Pud (1861) auf 3,06 Mio. Pud (1871). Bei Leinsaat stieg der russische Export nach Deutschland gleichzeitig von 160 000 auf 267 109 Tschetwert, und bei Hanf nahm Deutschland 1871 mit 1,03 Mio. Pud unmittelbar hinter England die zweite Stelle ein. Von sämtlichen aus Rußland exportierten Hölzern gingen 1871 ca. 50% nach Deutschland. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß Danzig wegen seiner günstigen Lage nahe der Weichselmündung einen Hauptstapelplatz russischer Hölzer für den europäischen Markt bildete30. Faßt man die russischen Exporte nach Deutschland, von denen der allergrößte Teil auf die genannten landwirtschaftlichen Produkte entfiel, dem Werte nach zusammen, dann ergibt sich für 1871 gegenüber 1861 eine Steigerung von 24,2 auf 74,9 Mio. Rbl. Der Hauptschub dieser Steigerung ging nach Preußen, das 1871 russische Waren im Werte von 61,7 Mio. Tbl gegenüber 20 Mio. Rbl 1861 einführte. Zu Beginn der 70er Jahre wurde Deutschland damit hinter England mit 171,7 Mio. Rbl noch vor Frankreich und Österreich-Ungarn mit 33,9 Mio. bzw. 13,83 Mio. Rbl zum zweitgrößten Abnehmer der ständig steigenden russischen Agrarexporte. 48,7% der russischen Gesamtausfuhr gingen 1871 nach England, 21,2% nach Deutschland, 9,6% nach Frankreich, 4,2% nach Holland und 3,9% nach Österreich31. Die Grundlagen, auf denen sich der deutsch-russische Handel mit Agrarprodukten von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte der 70er Jahre entwickelt hatte, veränderte sich entscheidend in den folgenden fünfzehn Jahren. Das auslösende Moment war der 1875/76 einsetzende Preisrückgang auf dem europäischen Agrarmarkt. Während die Aufschwungsphase des europäischen Handels mit Agrarprodukten zwischen 1850 und 1875 wesentlich von der seit Beginn der 50er Jahre anhaltenden Tendenz steigender Agrarpreise stimuliert worden war, wurde für die folgenden anderthalb Jahrzehnte eine allgemeine „Preisminderung" bei den Massenprodukten der Landwirtschaft „die wichtigste Signatur der Zeit" 32 . Die Preisentwicklung in Preußen folgte der auf dem europäischen Agrarmarkt. Im preußischen Landwirtschaftsministerium konstatierte man die „sehr erheblichen Schwierigkeiten", mit denen die Landwirtschaft aufgrund der bei Getreide und Vieh gleichermaßen sinkenden Preise zu kämpfen habe. Tatsächlich verzeichneten die Durchschnittspreise in Preußen bei den Hauptgetreidearten Weizen und Roggen im Jahre 1875 einen starken Einbruch. Sie stiegen 1876 und 1877 wieder an, ohne das Niveau während der ersten Hälfte der 70er Jahre zu erreichen33. Die auf die folgenden Jahre gesetzten Hoffnungen, „daß sich die elementaren Bedingungen der Produktion und die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse nicht allzu ungünstig" gestalteten, erfüllten sich jedoch nicht. Im Gegenteil: Aufgrund einer außerordentlich guten Ernte in Rußland, Österreich-Ungarn, Deutschland, England und den Vereinigten Staaten ging der Durchschnittspreis in Preußen bei Weizen fast auf das Niveau von 63

1875 zurück, und der Roggenpreis erreichte einen absoluten Tiefstand, weit unter dem von 1875. Die bei „überaus niedrigen, konstant weichenden Getreidepreisen" entstandenen Verluste konnten infolge der auch in den anderen Bereichen der landwirtschaftlichen Produktion „ungünstigen Preiskonjunkturen" weder durch ausreichende Viehpreise noch durch die landwirtschaftlichen Nebengewerbe - die mit Ausnahme der Brennereien und der Zuckerrübenindustrie „unter dem Druck der weit verbreiteten Geschäftslosigkeit, ungünstiger, zumeist weichender Preise und schwieriger Absatzverhältnisse zu kämpfen" hatten - ausgeglichen werden 34 . Das Jahr 1879 wurde für Preußen mit einem weiteren Rückgang des Weizenpreises, einem kaum nennenswerten Anstieg des Roggenpreises und einem absoluten Tiefstand bei Gerste und Hafer „das billigste Kornjahr des 70er-Jahrzehnts". Nur die landwirtschaftlichen Nebengewerbe erzielten noch „im ganzen zufriedenstellende Preise", während die Produkte der Viehzucht wiederum auf „ungünstige Konjunkturen und meistens weichende Preise" trafen 3 5 . Die Auswirkungen des Preisrückgangs auf dem europäischen Agrarmarkt machten sich in den östlichen Provinzen Preußens besonders empfindlich bemerkbar, und zwar weniger deshalb, weil dort die Getreidepreise durchweg etwas unter, im Westen dagegen etwas über dem mittleren Durchschnitt lagen 36 . Im Durchschnitt der Jahre 1 8 7 6 - 1 8 7 9 sanken die Getreidepreise in Preußen zwar unter den Jahresdurchschnitt 1 8 7 1 - 1 8 7 5 , aber auch in den östlichen Provinzen lagen sie noch über dem der Jahre 1863 bis 1866. Erst in der 1880er Jahren führte der „Preissturz" unter das Niveau der 1860er Jahre 3 7 . Ob dieser Verfall der Getreidepreise schon solche außerordentlichen Reaktionen wie die Einführung und sukzessive drastische Erhöhung von Getreidezöllen innerhalb eines Zeitraumes von nur acht Jahren ( 1 8 7 9 - 1 8 8 7 ) zwingend erforderlich machte, läßt sich schon mit dem Argument bezweifeln, daß der Preissturz bei Getreide in früheren Perioden den der 80er Jahre weit übertroffen hatte, ohne daß Preußen zum „Agrarhochschutz" übergegangen wäre 38 . Darüber hinaus wurde die Skepsis der Zeitgenossen - darunter auch führender Vertreter des Großgrundbesitzes - hinsichtlich der Frage, inwieweit Getreidezölle überhaupt das Preisniveau auf dem inländischen Markt beeinflussen konnten, von der Entwicklung bestätigt. Der Preisverfall war am stärksten, nachdem der Zoll für Weizen und Roggen 1885 bereits verdreifacht worden war. Unabhängig von der in die Zolltheorie hineinreichenden Frage, unter welchen Bedingungen im allgemeinen

die Einkommensverteilung

oder

die

„Terms of Trade" zugunsten der „geschützten" Wirtschaftsräume verändern können 39 , lassen sich Gründe ausmachen, warum sich vor allem die Interessenvertreter des preußischen Großgrundbesitzes innerhalb kurzer Zeit von überzeugten Freihändlern zu prinzipiellen Befürwortern extrem hoher Agrarzölle mauserten und warum der Aufstieg des preußisch-deutschen Agrarprotektionismus zugleich eine Periode mehr oder weniger verdeckter Rußlandfeindschaft der agrarischen Elite Preußen einleitete.

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Der 1875 einsetzende Preisverfall beendete eine jahrzehntelange agrarische Hochkonjunktur, in der sich die Agrarpreise bei steigender Tendenz auf hohem Niveau bewegt hatten. Die Kehrseite dieser agrarischen Hochkonjunktur hatte speziell in den östlichen Provinzen Preußens einen außerordentlichen Anstieg der Grundrenten, eine anhaltende Güterspekulation bei steigenden Güterpreisen, hohe und - in Erwartung einer andauernden Konjunktur - langfristig eingegangene hypothekarische Verschuldungen sowie langfristig festgelegte Pachten gebildet 40 . Unter diesen Bedingungen „mußte schon ein Stillstand in der Aufwärtsbewegung der Preise als Kalamität empfunden" werden, während andererseits eine schnelle Anpassung „des in seinen Kapitalrotationen langatmigen Grundbesitzes" kaum möglich war 41 . Die Bewegung der Güterpreise und der Pachten folgte zunächst nicht dem Preisverfall der landwirtschaftlichen Produkte. In den östlichen Provinzen folgten die Güterpreise und Pachten vielmehr nur mit einem erheblichen „Time Lag" den Agrarpreisen, während sie in anderen deutschen Agrargebieten mit überwiegend kleinem und mittleren Grundbesitz bis zum Ende der 80er Jahre nahezu stabil blieben. In Ost- und Westpreußen bewegten sich die Preise bei fortgesetzten Güterverkäufen zwischen 1876 und 1877 auf teils hohem, teils noch steigendem Niveau, während in Pommern der seit den 50er Jahren schwunghaft betriebene Güterhandel in diesen Jahren fast aufhörte, „da die geforderten Preise mit den jetzigen Erträgen in keinem Verhältnis" mehr standen. In Posen mit 1 386 kreistagsberechtigten Rittergütern und 713 größeren Gütern ein Schwerpunkt des Großgrundbesitzes - führte die Diskrepanz zwischen hohen Güterpreisen und sinkenden Erträgen zu einer „bemerkbaren Zunahme der Zwangsverkäufe", ohne daß dabei die Güterpreise gesunken wären. Erst auf dem H ö h e p u n k t des Preisverfalls bei Agrarprodukten setzte in den östlichen Provinzen auf breiter Basis ein Preissturz bei Gütern und Pachten ein, wohingegen in den westlichen Provinzen Preußens und in Sachsen die Güter- und Pachtpreise noch weiter anstiegen 42 . Angesichts dieser Entwicklung lag es nahe, sinkende Erträge im Bereich der Produktionskosten auszugleichen. In den östlichen Provinzen führte zwischen 1875 und 1877 ein steigendes Angebot an Arbeitskräften auch prompt zu Lohnreduktionen bis zu 20% und mehr des Tagelohnes 43 . Der Möglichkeit, die sinkenden Erträge durch weitere Lohnreduktionen auszugleichen, wurde aber eine Grenze gesetzt, als seit 1878 das Arbeitskräfteangebot wieder nachließ 44 . Die Diskrepanz zwischen den relativ schnell und stetig abfallenden Preisen auf dem europäischen Agrarmarkt und der „in der N a t u r der landwirtschaftlichen Verhältnisse" liegenden, durch jahrzehntelange agrarische Hochkonjunktur noch erhöhten Schwierigkeiten, „daß jede Änderung in dem herrschenden Wirtschaftssystem, welche Anspruch auf Dauer machen will, sich langsam und allmählich vollzieht" 45 ,, machte daher eine schnell steigende Verschuldung unvermeidlich. Die Pfandbriefschuld in Preußen, die zwischen 1855 und 1865 nur um 47 Mio. Taler, im folgenden Jahrzehnt der Hochkonjunktur aber bereits um 123 Mio. Taler zugenommen hatte, stieg in der Periode sinkender Agrarpreise zwischen 5

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1875 und 1884 um 132 Mio. Taler. Der Versuch von 1883, in den Bezirken von 50 Amtsgerichten die H ö h e der Grundschulden im Verhältnis zum Grundsteuerreinertrag nach verschiedenen Besitzgruppen festzustellen sowie die seit April 1886 f ü r Preußen durchgeführte fortlaufende Anschreibung der jährlich eingetragenen und gelöschten Hypotheken und Grundschulden machten zudem deutlich, daß die bis dahin schon erreichte hohe Verschuldung des preußischen Grundbesitzes stetig anstieg, wobei der Großgrundbesitz vor allem in den östlichen Provinzen Preußens einen erheblich höheren Verschuldungsgrad als der kleinere und mittlere Grundbesitz aufwies 49 . Vor diesem Hintergrund wird nicht nur die starke Fixierung der Hauptvertreter des preußischen Großgrundbesitzes auf die Veränderungen des europäischen Agrarmarktes, sondern auch die sich versteifende Abwehrhaltung gegenüber einer scheinbar „äußeren" Bedrohung verständlich. Solange die agrarische Hochkonjunktur angedauert hatte, kam daher auch die Entwicklung eines deutsch-russischen Wirtschaftsantagonismus auf dem deutschen und europäischen Agrarmarkt, der durch das Auftreten Rußlands als Großexporteur von Agrarprodukten bedingt war, über erste Ansätze nicht hinaus. Trotz der steigenden Exporte amerikanischen und russischen Weizens nach England konnten die preußischen Großgrundbesitzer dort immer noch einen beträchtlichen Teil ihrer Weizenproduktion absetzen. D a f ü r bildete wiederum die Einfuhr russischen Getreides nach Preußen eine wichtige Voraussetzung, da das stärkereiche und kleberarme preußische Getreide durch die Mischung mit dem kleberhaltigen russischen Getreide wesentlich besser auf dem englischen Markt abgesetzt werden konnte. Die Stellung der Ostseehäfen Königsberg, Danzig, Lübeck und Stettin als Zentren des preußischen Getreidehandels beruhte nicht zuletzt darauf, daß sie einen großen Teil russischen Getreides über die Eisenbahnstationen Wirballen, Alexandrowo und Mlawa bezogen 47 . Deutlichere Ansätze einer deutsch-russischen Wirtschaftsrivalität als auf dem europäischen Getreidemarkt waren vor dem Beginn der Agrarkrise infolge der steigenden russischen Viehexporte erkennbar, und zwar vor allem wegen ihrer indirekten Wirkung auf den deutschen Viehexport nach England. Mit einem jährlichen Export von 64 000 Stück Rindvieh im Durchschnitt der Jahre 1872 und 1876 blieb England trotz der starken Einfuhrbeschränkungen immer noch der „lohnendste und fast ausschließlich gesuchte" M a r k t für die deutschen Viehexporte 48 . Freilich drängte das russische Vieh, das wegen seiner starken Rinderpestverdächtigkeit seit 1872 ganz vom englischen Markt ausgeschlossen worden war, jetzt verstärkt auf die preußischen und österreichischen Viehmärkte, mit der Folge, daß England auch bei deutschem Viehexport die Einfuhrbestimmungen verschärfte. Das Landesökonomiekollegium zog schon 1871 daraus die Folgerung, daß nur ein „generelles Vieheinfuhr-Verbot" gegen Rußland und Österreich die „Rinderpest-Verdächtigkeit Deutschlands anderen Staaten gegenüber" aufheben könne 49 . Bis zur Mitte der 70er Jahre konnte das Problem noch dadurch entschärft werden, daß sich das Reichskanzleramt erfolgreich um eine Lockerung der englischen Einfuhrbeschränkungen bemühte 66

und der Export trotz der bestehenden Einfuhrbeschränkungen weiter florierte50. Das Problem wurde akuter, als mit der einsetzenden Agrarkrise die Preise auf den europäischen Viehmärkten spürbar zurückgingen und eine angebliche Rinderpestinvasion für die englische Regierung den Vorwand lieferte, prohibitive Maßnahmen gegen ausländische Viehimporte einzuführen. Der Viehhandel Schleswig-Holsteins, der 1875 noch floriert hatte, geriet bereits 1876 in „gänzliches Stocken", und als England im Januar 1877 sogar vorübergehend die Einfuhr von Rindvieh generell verbot, wurden die „Beschränkungen der Viehausfuhr nach England" zu einer „Kalamität" für diese Provinz. Als die Einfuhrbeschränkungen in den folgenden Jahren wieder gelockert wurden, verhinderte die starke amerikanische Konkurrenz, daß der Viehexport aus Schleswig-Holstein seine frühere Bedeutung zurückgewann. Während der Rindviehexport aus den Vereinigten Staaten nach England von nur 392 Stück im Jahre 1876 auf 76 117 Stück (1879) und 154 814 Stück (1880) anstieg, ging der Rindviehexport aus Schleswig-Holstein 1879/80 gegenüber 1876 auf die H ä l f t e zurück. In den folgenden Jahren ging der Rindviehbestand in Schleswig-Holstein stetig zurück, während sich der Export nach England auf dem Niveau von 1879/80 einpendelte 51 . Aber nicht nur in Schleswig-Holstein, sondern auch in anderen preußischen Provinzen wie Ost- und Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien, Sachsen, in der Rheinprovinz und Westfalen wirkten sich jetzt die Agrarkrise, die englischen Importbeschränkungen und die amerikanische Konkurrenz nachhaltig aus. In den Jahren von 1876 bis 1878 standen die Viehmärkte dieser Provinzen bei rückläufigem Exporthandel und einem steigenden Angebot unter einem andauernden Preisdruck. Besonders auffällige Preisbewegungen verzeichnete der Pferde- und Schweinehandel. Mit dem Pferdeausfuhrverbot von 1875 gingen die Pferdepreise um 20% zurück und 1876 und 1877 hielt die rückläufige Entwicklung unvermindert an. Die Schweinepreise, die 1875 noch einen „geradezu anomalen Stand" erreicht hatten - z . B . erreichte in Sachsen der Preis für Schweinefleisch die doppelte H ö h e des Rindfleischpreises - , gingen 1876 und 1877 langsam aber stetig zurück und fielen seit Januar 1878 „in unausgesetzter Folge" von 125 Mark/100 kg bis auf 114 Mark/100 kg im Dezember 1879 52 . Dieser Preisdruck war eine wichtige Bedingung für die schnelle Entwicklung des deutsch-russischen Wirtschaftsantagonismus, denn der Konkurrenzkampf auf den preußischen Viehmärkten wurde nicht nur durch die englischen Viehimportbeschränkungen, sondern ebensosehr und noch unmittelbarer durch steigende russische Viehexporte verschärft. Besonders nachdrücklich trat die russische Konkurrenz in den Zentren des preußischen Pferdehandels in Ostpreußen und Posen auf. 1876 wurden aus Rußland „viele Pferde über die Grenzen auf preußische Märkte gebracht, wodurch die Preise noch mehr gedrückt wurden", und auch 1877 wurde „eine nicht geringe Menge Pferde eingeführt zum wesentlichen Schaden der deutschen Verkäufer". 1878 machten die Einfuhren aus J*

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Rußland und Österreich-Ungarn den größten Teil der deutschen Pferdeimporte aus 53 . Bei Schweinen, wo der 1876 einsetzende Preisrutsch besonders stark war, trat die Rolle Rußlands als Konkurrenz der preußischen Landwirtschaft noch deutlicher hervor. Von der deutschen Gesamteinfuhr des Jahres 1878 an Schweinen entfielen auf Rußland 46,52%. Bei den anderen Vieharten trat Rußland entweder gar nicht oder nur in sehr geringem Umfange als Konkurrent auf. So rangierte Österreich-Ungarn bei Stieren, Ochsen, Jungvieh, Kälbern und Kühen unangefochten an erster Stelle der deutschen Einfuhr. Bei den Schafimporten des Jahres 1878 entfielen zwar auf Österreich-Ungarn 66,8 %, mit 26,8% nahm Rußland aber immer noch einen respektablen Platz in der deutschen Gesamteinfuhr ein54. Mit veterinärpolizeilichen Maßnahmen, durch die Vieheinfuhren entweder ganz verboten oder erheblichen Beschränkungen unterworfen wurden, leitete die preußisch-deutsche Wirtschaftspolitik den - noch verkappten - Schutz der eigenen Viehzucht gegen russische Viehexporte ein 55 . Die zweite Phase der deutschen „Abwehrmaßregeln" gegen die russischen Vieheinfuhren wurde mit dem handelspolitischen Umschwung von 1879 eingeleitet. Durch den Zolltarif wurden Vieh und tierische Produkte generell einem Zoll unterworfen, und bestehende Viehzölle - wie der Schweinezoll - wurden erhöht5®. Nachdem schon die Motive zu diesem Gesetzentwurf sich nicht mit der Einführung eines „Kontrollzolls" hatten begnügen wollen, setzte sich in den Verordnungen vom 25. Juni 1880 und 6. März 1883 die protektionistische Tendenz gegen die Einfuhr ausländischer Vieh- und Fleischimporte fort 57 . Veterinärpolizeilich und zollpolitisch vor der ausländischen Konkurrenz geschützt, nahm die Viehzucht in Preußen einen deutlichen Aufschwung. Nach der Viehzählung vom 10. Januar 1883 hatte die Zahl der Pferde gegenüber 1873 um ca. 135 000 Stück zugenommen, wobei sowohl absolut als auch im Verhältnis zur Fläche Ostpreußen den „bei weitem größten Zuwachs" aufwies, gefolgt von Schleswig-Holstein und Posen. Auch die Rindviehzucht machte zwischen 1873 und 1883 „gewaltige Fortschritte". Die Zahl der Kälber unter einem halben Jahr nahm um ca. 59 000 bzw. 55 000 Stück zu. Die Zählung von 1883 ergab außerdem eine starke Vermehrung des Rindviehbestandes in den östlichen und eine ζ. T. erhebliche Abnahme in den westlichen Provinzen. Der Schweinebestand vergrößerte sich mit 1883 = 5,8 Mio. gegenüber 1873 um ca. 1,5 Mio., wobei die Zunahme sich ziemlich gleichmäßig auf alle Provinzen verteilte. Lediglich der Schafbestand nahm zwischen 1873 und 1883 ab. Dabei spielten nicht nur die „ungünstigen Preis- und Absatzverhältnisse" eine Rolle, sondern auch der bereits lange vor dieser Periode offenkundige Zusammenhang zwischen der Teilung der Gemeinheiten und der Aufhebung der Hut- und Weidegerechtigkeit auf der einen und einer intensiven Bewirtschaftung des Bodens auf der anderen Seite. Der Abnahmetrend setzte sich in den östlichen Provinzen, die immer noch den Schwerpunkt der preußischen Schafzucht bildeten, zwischen 1873 und 1883 nur beschleunigt fort 58 . Der Zunahme der Viehbestände in Preußen stand aber keineswegs eine ent68

sprechende Abnahme der ausländischen Zufuhren gegenüber. Vielmehr zeigte die Einfuhr von Vieh und anderen lebenden Tieren in das Zollgebiet des Deutschen Reiches trotz Veterinär- und zollpolitischer Schutzmaßnahmen eine steigende Tendenz 59 . Gleichzeitig läßt jedoch der Blick auf die Herkunft der ausländischen Zufuhren in das deutsche Zollgebiet deutliche Verschiebungen erkennen. Während in den 70er Jahren der russische Viehexport die Hauptkonkurrenz für die preußische Viehwirtschaft darstellte, gegen den sich die Veterinär· und zollpolitischen Schutzmaßnahmen auch in erster Linie gerichtet hatten, nahmen die Viehimporte aus Rußland drastisch ab. Die Schweineeinfuhr, die mit ca. 657 000 Stück im Jahre 1880 den größten Anteil an der Gesamteinfuhr von ca. 1,27 Mio. Stück ausgemacht hatte, ging bis 1884 auf ca. 288 000 Stück zurück. An Kühen wurden 1884 nur noch 19 Stück, Ochsen wurden überhaupt nicht mehr eingeführt. Lediglich die Zahl der importierten Pferde war mit ca. 21 500 Stück im Jahre 1884 wesentlich höher als im Jahre 1880 mit ca. 9 400 Stück 60 . Demgegenüber fand eine drastische Steigerung der Vieheinfuhren aus den Vereinigten Staaten statt, gegen die sich dann auch in erster Linie die Verordnung vom 6. Mai 1883, die den Import von Schweinen amerikanischen Ursprungs untersagte, richtete. Auch die Zolltarifnovelle vom Mai 1885 zielte hauptsächlich darauf ab, den Viehimporten aus den Vereinigten Staaten einen Riegel vorzuschieben. Entsprechend war die Einfuhr von Vieh und lebenden Tieren in das deutsche Zollgebiet seit 1884 rückläufig, und bis 1889 hatte sie sich gegenüber 1883 ungefähr halbiert. Besonders stark war der Rückgang bei Schafen, Schweinen und Lämmern, während bei Rindvieh die Einfuhr trotz der erheblichen Beschränkungen weiter zunahm und die Einfuhr von Pferden nahezu konstant blieb 61 . Während demnach die russische Konkurrenz seit dem Ende der 70er Jahre für die preußische Viehwirtschaft sehr schnell an Bedeutung verlor, kam auf der anderen Seite das Gewicht Rußlands als Konkurrent der preußischen Landwirtschaft um so stärker dadurch zur Geltung, daß sich die expansive Entwicklung des russischen Getreideexportes auch in den ersten Jahren des Preisrückgangs auf dem europäischen Agrarmarkt fortsetzte und während der 80er Jahre Rußland trotz der deutschen Getreidezölle bei den Getreideeinfuhren in das deutsche Zollgebiet einen überragenden Platz einnahm. Der russische Export von Zerealien, Hülsenfrüchten und Mehl stieg zwischen 1875 und 1878 von 52,11 auf 62,98 bzw. 87,15 Mio. hl, wobei die stärkste Steigerung des Weizenexportes in das Jahr 1878 fiel, als die während des russisch-türkischen Krieges aufgestauten Weizenvorräte auf den europäischen Markt geworfen wurden 92 . Der starke Anstieg des russischen Getreideexportes verschärfte zwar den Preisdruck auf den europäischen Agrarmärkten, er schädigte jedoch noch nicht unmittelbar die Exportinteressen der preußischen Landwirtschaft, die den Preisrückgang durch steigende Exporte vor allem auf dem englischen Markt kompensierte 63 . Unmittelbar spürbar wurde dagegen die russische Konkurrenz auf dem deutschen Binnenmarkt. Mit der einsetzenden Agrarkrise wuchsen die deutschen Getreideeinfuhren schneller als die Ausfuhren, und zwar vor allem

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bei Weizen. Hier wies die deutsche Außenhandelsstatistik im J a h r e 1875 zum letzten Mal einen Exportüberschuß auf. Seitdem stieg die Einfuhr sehr schnell und 1878 hatte sie sich gegenüber 1875 bereits mehr als verdoppelt. In den Jahren 1875 und 1876 stieg auch die deutsche Roggeneinfuhr wesentlich schneller als die Ausfuhr. Lediglich 1878 entwickelte sich die Einfuhr etwas rückläufig, während die Ausfuhr eine Steigerung aufwies. Wie bei Roggen nahm auch die Gerste- und Hafereinfuhr zwischen 1875 und 1877 stark zu und ging 1878 wieder etwas zurück 6 4 . Der endgültige Übergang des Deutschen Reiches von einem Getreideexportzu einem Getreideimportland und der R ü c k g a n g der Getreidepreise auf dem europäischen A g r a r m a r k t leitete zugleich eine Phase ein, in der Rußland zum gefährlichsten Konkurrenten der preußischen Getreideproduktion wurde. N o c h Mitte der 70er J a h r e ging die preußische Landwirtschaftsverwaltung davon aus, daß die Steigerung der russischen Getreideausfuhr nach Preußen ihren H ö hepunkt überschritten hatte. Die zu Beginn der 70er J a h r e „erstaunlich gewachsenen russischen Getreidezufuhren" nach Ostpreußen ließen 1875 „ g a n z beträchtlich" nach, und obwohl noch immer „ansehnliche Mengen von Buchweizen und leichtem R o g g e n " aus Rußland eingeführt wurden, war die Einfuhr 1876 doch geringer als zu Beginn der 70er Jahre 6 5 . N a c h d e m aber der Ausbruch des russisch-türkischen Krieges die russischen Getreideexporte vorübergehend herabgedrückt und in den östlichen Provinzen Preußens einen deutlichen Anstieg der Getreidepreise verursacht hatte, nahm seit Oktober 1877 „der wieder freigewordene russische Import einen gewaltigen Aufschwung, was . . . die Preise ganz bedeutend" senkte. Wie in Ostpreußen trat auch in Westpreußen im Herbst 1877 durch die „enormen Zufuhren aus Rußl a n d " ein „ R ü c k s c h l a g " in der Preisentwicklung ein, und in Brandenburg und Pommern drückte die russische, zum Teil auch die „überseeische" Konkurrenz die Preise „bis zum Verlust" bzw. „unter die Produktionskosten" herunter. Die „reichliche E r n t e " des Jahres 1878 brachte für die preußische Landwirtschaft vor allem deswegen „nicht die Vorteile, die man sich davon versprach", weil „der Überfluß Rußlands, der Donauländer und N o r d a m e r i k a s " sich auch nach Deutschland wandte, obwohl dessen „Bedarf durch die eigene gute Ernte vermindert" war. Der Zufluß „gewaltiger Massen von Getreide" drückte die Preise angeblich auf einen Stand, „der für die preußische Landwirtschaft nicht mehr auskömmlich war 8 6 . Die Aufschlüsselung der deutschen Getreideeinfuhren nach Herkunftsländern belegt, daß der starke Preisrückgang des Jahres 1878 nicht zuletzt auf den starken Anstieg der russischen Getreideexporte nach Deutschland zurückging. Von den deutschen Weizeneinfuhren des Jahres 1878, die mit 1,06 Mio. t einen bisherigen Höchststand erreichten, entfiel zwar ein beträchtlicher Teil auf die überseeischen Zufuhren, nämlich 22,2% der Gesamteinfuhr. Der größte Teil entfiel jedoch auf Österreich-Ungarn mit 39,2% und Rußland mit 3 6 , 2 % . Der Import von Roggen über die russische Landesgrenze belief sich auf 35,4% der gesamten deutschen Roggeneinfuhr. Der Anteil Österreich-Ungarns betrug 70

hier nur 8 , 8 % . Wegen der hohen Roggenzufuhren über die Seehäfen, Belgien und die Niederlande dürfte der tatsächliche Anteil der russischen Roggeneinfuhren mehr als 6 0 %

der deutschen Gesamteinfuhr ausgemacht haben. Bei

Gerste entfielen auf Österreich-Ungarn 6 5 , 4 % , auf Rußland 16,8% der deutschen Gesamteinfuhr, während bei H a f e r wieder Rußland mit 4 1 , 3 % an erster Stelle vor Österreich-Ungarn mit 2 9 % lag 6 7 . Im J a h r e 1879 gestaltete sich der Anteil des Auslandes an der deutschen Getreideeinfuhr wie folgt (in % ) " :

Weizen Roggen Gerste Hafer

Rußland

Österreich-Ungarn

24

37

39

62

9 68 35

29 22

10 56

Amerika

9

D i e überragende Rolle, die Rußland als Lieferant von Roggen nach Deutschland einnahm, war für die preußische Landwirtschaft insofern besonders bedrohlich, als nach der erstmals für 1878 aufgestellten Ackerbaustatistik der größte Teil des unter den Pflug genommenen Ackerlandes mit Roggen bebaut w u r d e " . Für sich genommen stellte die russische Konkurrenz auf dem Binnenmarkt noch nicht die Rentabilität der preußischen Getreideproduktion in Frage, vorausgesetzt, daß der Zolltarif von 1879 eine preisbildende Funktion erfüllte und es gelang, der Getreideproduktion vermehrte Absatzchancen im Inland und auf den ausländischen Märkten - vor allem dem englischen - zu eröffnen. T a t sächlich zeichnete sich zunächst eine günstige Entwicklung ab. Die Getreidezölle waren noch nicht in K r a f t getreten, als die Getreidepreise bereits so stark in die H ö h e gingen, daß Gerüchte über eine Suspendierung der Getreidezölle zu kursieren begannen. 1880 und 1881 setzte sich die steigende Tendenz fort 7 0 . Diese Preisentwicklung lieferte freilich keinen Beweis dafür, daß die Getreidezölle von 1879 hoch genug waren, um die preußische Landwirtschaft v o m Druck der russischen Konkurrenz zu entlasten. Denn 1879 herrschten „ g a n z abnorme" Witterungsverhältnisse, von denen „ g a n z vorzugsweise Deutschland und mehr noch die östlichen N a c h b a r s t a a t e n " betroffen wurden, d. h. also „gerade diejenigen Länder, welche das Hauptproduktionsgebiet des R o g g e n s " einschlossen. 1880 und 1881 waren für die deutsche Landwirtschaft wieder ungünstige Erntejahre, während in Rußland 1880 die Ernteerträge noch hinter denen des Vorjahres zurückblieben, 1881 aber die Ernteerträge wieder über denen des Jahres 1879 lagen 7 1 . D i e J a h r e steigender Getreidepreise auf dem deutschen Binnenmarkt fielen daher nicht nur mit einem starken Rückgang des russischen Getreideexportes insgesamt zusammen - gegenüber 1878 ging die Ausfuhr von Weizen und Roggen 1880 und 1881 um mehr als 5 0 % zurück - , sondern auch der Anteil Rußlands an der deutschen Getreideeinfuhr war rückläufig 7 2 . In den Jahren 1882 bis 1884 kehrte sich aber die Entwicklung wieder 71

um. Obwohl die preußische Landwirtschaft in keinem dieser Jahre überdurchschnittliche Ernteergebnisse erzielte, gingen die Getreidepreise auf dem Binnenmarkt rapide zurück. Nach einem starken Rückgang 1882 und 1883 erreichte der Roggenpreis im Durchschnitt des preußischen Staates 1884 den Tiefstand von 1878, und im selben Jahr der Weizenpreis den tiefsten Stand seit der Reichsgründung 73 . Die Jahre des Preisrückgangs fielen mit dem erneuten Anstieg des russischen Getreideexports zusammen. Wenn er auch noch hinter den Jahren 1878 und 1879 zurückblieb, so stieg er doch in den Jahren 1883 und 1884 erheblich 74 . Damit war wiederum ein starker Anstieg der russischen Getreidezufuhren nach Deutschland verbunden. Gegenüber 1881 hatten sich die Getreideeinfuhren aus Rußland 1884 mehr als verdoppelt 75 . D a gleichzeitig der russische Anteil an der deutschen Getreideeinfuhr hohe Steigerungsraten aufwies, konnte 1884 nur noch wenig Zweifel daran bestehen, daß Rußland „die Versorgung Deutschlands mit Getreidefrüchten übernommen" hatte 76 . Die Rückwirkungen dieser Entwicklung zeigten sich vor allem in der preußischen Landwirtschaft. Die russischen Getreidezufuhren übten hier einen unmittelbaren Druck auf die Getreidepreise aus. Das zeigte sich schon 1881, als die Preise für Weizen, Gerste und Hafer noch eine steigende Tendenz beibehielten, der am Jahresanfang noch hohe Roggenpreis aber aufgrund „der sehr beträchtlichen südrussischen Zufuhren von Monat zu Monat nicht unerheblich" nachgab. Infolge des starken russischen Konkurrenzdrucks lagen die Getreidepreise während der folgenden Jahre in den östlichen Provinzen Preußens vor allem bei Weizen und Roggen ständig erheblich unter dem Niveau in den anderen Gebieten des Deutschen Reiches. Der starke Druck der russischen Konkurrenz auf die preußische Landwirtschaft zeigte sich auch darin, daß sich nach der Anbaustatistik für 1883 die Anbaufläche für Roggen - wo die russische Konkurrenz am stärksten war - gegenüber 1878 verringert, die für Weizen und Gerste dagegen zugenommen hatte 77 . Die russische Konkurrenz traf die preußische Landwirtschaft um so empfindlicher, als sie nicht mehr - wie noch am Ende der 70er Jahre - imstande war, verminderte Absatzchancen und sinkende Verkaufserlöse auf dem Binnenmarkt durch einen gesteigerten Export zu lohnenden Preisen zu kompensieren. Während die gesamte deutsche Getreideausfuhr zwischen 1880 und 1884 stark zurückging, wiesen die Importüberschüsse zwischen 1881 und 1884 hohe Steigerungsraten auf 78 . Die Verdreifachung der deutschen Einfuhrzölle auf Weizen und Roggen durch die Zolltarifnovelle vom Mai 1885 war der Versuch, der unmittelbar drohenden Gefahr eines erneuten Preiseinbruchs aud dem deutschen Binnenmarkt infolge erhöhter ausländischer Zufuhren zuvorzukommen. Denn nachdem sich die Durchschnittspreise von 1883 noch bis zur Ernte von 1884 wenigstens „einigermaßen" behauptet hatten, trat bei allen Getreidearten ein „rapider Preissturz" ein, als im August die Ernte eingebracht worden war und zugleich „Berichte des Auslandes überaus reiche Ernten in fast allen europäischen und überseeischen Ländern verkündeten". Der Preissturz fiel also genau in die Monate, die „bei Verwertung der Ernte für die Mehrheit der Landwirte die

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wichtigsten" waren 7 9 . Die Erhöhung der deutschen Getreidezölle zeigte scheinbar insofern Wirkung, als die Getreideeinfuhr in das deutsche Zollgebiet in den Jahren 1885 und 1886 gegenüber 1884 sowohl insgesamt als auch in bezug auf die wichtigsten Herkunftsländer stark zurückging 8 0 . D a s bedeutete jedoch noch nicht, daß sich damit auch die L a g e der preußischen Landwirtschaft verbessert hätte. Erstens hatte die rückläufige Getreideimportentwicklung nicht zwangsläufig auch einen Anstieg der Getreidepreise zur Folge. Denn die Getreidepreisentwicklung der J a h r e 1885 und 1886 wurde weniger durch die ausländische Konkurrenz als durch die guten Ernteerträge in Preußen und durch die mit der Getreidezollerhöhung verbundene Getreidespekulation bestimmt. Hier liegt der G r u n d dafür, daß trotz einer rückläufigen Entwicklung der Getreidezufuhren die Getreidepreise in Preußen weiter zurückgingen und 1886 einen „unerhört niedrigen S t a n d " erreichten 81 . Zweitens behielt Rußland für die Preisbildung auf dem preußischen Getreidemarkt weiterhin eine große Bedeutung. Z w a r wies die russische Getreideausfuhr insgesamt vor allem im J a h r e 1886 infolge einer schlechten Ernte einen starken Rückgang auf, wobei in der Einfuhr nach Deutschland die hohen Agrarzölle zusätzlich einen „sehr bedeutenden hemmenden Einfluß ausübten" 8 2 . Aber zugleich wurde die protektionistische Wirkung der deutschen Getreidezölle gegen die russische Konkurrenz durch den R ü c k g a n g d«s Rubelkurses zunichte gemacht. In der zweiten Jahreshälfte 1886 erreichte der Getreidepreis zugleich mit dem Rubelkurs den bisher niedrigsten Stand. Demnach stellten die Einfuhren aus Rußland auch in den Jahren 1885 und 1886 den größten Anteil an der deutschen Gesamteinfuhr, obwohl der russische Getreideexport nach Deutschland dem absoluten Betrag nach in diesen Jahren zurückging 8 3 . Drittens konnte die preußische Landwirtschaft das verlorene Terrain auf ihren ausländischen Absatzmärkten auch 1885 und 1886 nicht zurückgewinnen. Z w a r gingen die Importüberschüsse in diesen Jahren stark zurück, aber darin zeigte sich vor allem der starke R ü c k g a n g der ausländischen Einfuhren, während sich der R ü c k g a n g des deutschen Getreideexportes unvermindert fortsetzte 8 4 . O b die Getreidezollerhöhung von 1885 überhaupt noch eine preisbildende Funktion haben würde, konnte nach allgemeiner Erwartung frühestens das J a h r 1887, das „ v o n der an die Zollerhöhungen anschließenden Spekulation weniger berührt w u r d e " , zeigen 85 . Die Aussichten waren freilich zunächst für die preußische Landwirtschaft keineswegs günstig. Die reichen Ernten der Vorjahre in Preußen, große Vorräte sowohl in Preußen als auch in den Vereinigten Staaten und die sich früh eröffnende Aussicht auf eine gute Ernte in Rußland ließen von vornherein eine ungünstige Preisentwicklung erwarten. T a t sächlich gaben bei Roggen, Gerste und H a f e r die „unerhört niedrigen Preise" des Vorjahres von Monat zu Monat noch weiter nach und erreichten nach der Ernte im September/Oktober einen absoluten Tiefstand. Die Entwicklung des Weizenpreises machte eine Ausnahme. N a c h d e m sich bereits im Dezember eine Erholung abzeichnete, stieg er während des ersten Halbjahres 1887 „nicht ganz unbeträchtlich". Aber nach der Ernte gingen auch die Weizenpreise in den Mo73

naten September und Oktober 1887 wieder erheblich zurück. Wie 1884 erreichten die Getreidepreise insgesamt damit wieder einen Tiefstand ausgerechnet in den Monaten, die „bei Verwertung der Ernte f ü r die Mehrheit der Landwirte die wichtigsten" waren 89 . Wiederum schien der unittelbare Preisdruck auf die russische Konkurrenz zurückzugehen. Bereits im ersten Halbjahr 1887 zeigte die russische Gesamtausfuhr gegenüber demselben Zeitraum des Vorjahres eine Steigerung bei Weizen um 17,38%, bei Roggen um 50,1%, bei Gerste umd 220,5% und bei H a f e r um 108,8%. Insgesamt stieg in diesem Zeitraum der russische Export von Weizen, Roggen, Gerste, H a f e r , Mais, Erbsen, Grütze und Mehl von 87,7 auf 145,5 Mio. Pud. Während der zweiten Jahreshälfte setzte sich diese Entwicklung fort. Zwischen Anfang Januar und Ende November stieg die gesamte russische Getreideausfuhr gegenüber demselben Zeitraum des Vorjahres von 215,94 auf 312,56 Mio. Pud. Vor allem der Getreideexport aus den H ä f e n des Schwarzen und Asowschen Meeres nahm einen starken Aufschwung. Wurden ζ. B. zwischen Anfang Januar und Ende N o vember aus Odessa 55,16 Mio. Pud exportiert, so waren es im selben Zeitraum 1887 84,01 Mio. Pud. Gleichzeitig nahm aber auch der Getreideexport über die Ostseehäfen und die Landesgrenzen deutlich zu 87 . Angesichts dieser Entwicklung vollzog sich die Preisbildung im preußischen Getreidehandel während der zweiten Jahreshälfte 1887 in einem bisher nicht erreichten Maße unter dem Einfluß der auf die Überschwemmung des deutschen Marktes mit russischem Getreide fixierten Spekulation 88 . Gegen die russische Getreideausfuhr richtete sich daher auch in erster Linie die Zolltarifnovelle vom Dezember 1887, durch die rückwirkend ab 26. November der Weizen- und Roggenzoll gegenüber 1879 verfünffacht und der Haferzoll vervierfacht wurde, während der Gerstezoll fast den fünffachen Satz erreichte. Diese erneute Erhöhung konnte jedoch nicht verhindern, daß mit Ausnahme von Weizen und Gerste die Getreideeinfuhr 1888 weiter anstieg und sich die Steigerungstendenz in den folgenden zwei Jahren bei allen Getreidearten beschleunigt fortsetzte. Die Einfuhr von Roggen erreichte 1889, die von Weizen und Gerste 1890 einen absoluten Höchststand 8 9 . Der starke Anstieg der deutschen Getreideeinfuhren zeigte eine auffallende Parallelität mit der Entwicklung des russischen Getreideexportes. 1887 und 1888 waren in Rußland besonders gute Erntejahre und nach dem verlangsamten Anstieg der Ausfuhr zwischen 1881 und 1885 sowie dem Rückgang 1885 und 1886 wies der Export 1888 Rekordzahlen auf. Gegenüber 1885 hatte er sich nahezu verdoppelt. 1889 ging die Getreideausfuhr zwar wieder gegenüber dem Vorjahr zurück, sie lag aber immer noch weit über dem Niveau der 80er Jahre 90 . Entsprechend nahm der Getreideexport nach Deutschland trotz der hohen Getreidezölle erheblich zu. Die Roggenausfuhr war 1889 so stark, daß sie sich gegenüber 1887 verdoppelt hatte. Der Anteil Rußlands an der deutschen Roggeneinfuhr stieg von 1887 = 65,29% auf 1888 = 72,06% und 1889 = 86,83%.Die russische Weizenausfuhr nach Deutschland ging zwar nach dem starken Anstieg 1887 im folgenden J a h r wieder zurück, lag aber 1889 bereits 74

wieder über dem Stand von 1887. Nach dem Rückgang von 1887 = 46,74% auf 1888 = 45,26% betrug der russische Anteil an der deutschen Weizeneinfuhr 1889 wieder 58,28%, derjenige an der deutschen Hafereinfuhr nahm ebenfalls zu, von 1887 = 72,33% auf 1888 = 74,92% und 1889 = 91,31%. N u r bei Gerste entwickelte er sich nach dem Höchststand von 1887 = 62,65% rückläufig auf 1888 = 49,65% und 1889 = 43,09% 9 1 . Auch die Entwicklung des russischen Anteils am deutschen Gesamtimport bestätigt die Rolle Rußlands als ausländischer Hauptlieferant der deutschen Nahrungsmittelzufuhr. Nach dem Rückgang 1885 = 11,5% und 1886 = 9% stieg er 1887 auf 11,4% und erreichte 1888 und 1889 mit 13,3 bzw. 13,5% einen bisherigen Höchststand 9 2 . Dennoch war die russische Konkurrenz seit der Getreidezollerhöhung von 1887 für die preußische Landwirtschaft weniger fühlbar als in den vorangegangenen Jahren. Zwar konnte die preußische Landwirtschaft auf den ausländischen Märkten auch am Ende der 80er Jahre nicht mit den russischen und amerikanischen Getreideexporten konkurrieren. 1889 und 1890 ging die deutsche Getreideausfuhr insgesamt bis zur Bedeutungslosigkeit zurück 93 . Aber auf dem Binnenmarkt verbesserten sich die Absatzchancen auch für die preußische Getreideproduktion, da sich trotz des starken Anstiegs der russischen Getreidezufuhren die rückläufige Preisentwicklung nicht fortsetzte. Schon im Dezember zeigten die Weizenpreise eine steigende Tendenz, die dann 1888 und 1889 anhielt. Die Preisentwicklung bei Roggen, Gerste und H a f e r verlief ähnlich 94 . 1890 ließ der russische Konkurrenzdruck weiter nach. Zwar erreichte die Zufuhr von Weizen und Gerste aus Rußland einen neuen Höchststand, aber die steigende Preistendenz wurde dadurch nicht unterbrochen. Darüber hinaus ging bei steigenden Preisen die russische Roggen- und Hafereinfuhr gegenüber dem Vorjahr stark zurück 95 . Die russische Getreideausfuhr hatte damit vorläufig ihren Höhepunkt überschritten. Infolge der Mißernten von 1891 und 1892 ging sie 1891 unter den Stand von 1887 zurück und 1892 lag sie sogar unter dem des Jahres 18809".

2.2.2 Russischer Industrieprotektionismus

und ökonomische

Rückständigkeit

Im Unterschied zu Preußen, das mit dem freihändlerischen Zolltarif von 1818 einen radikalen Bruch mit den bis dahin bestimmenden merkantilistischen Prinzipien seiner provinziell und städtisch differenzierten Handelspolitik vollzog und so eine wichtige Voraussetzung für einen preußisch-deutschen Binnenmarkt mit vielfältigen Beziehungen zu den Märkten der westeuropäischen Staaten schuf, wurde die russische Zollpolitik 1822 „ganz nach den Grundsätzen des Merkantilsystems geordnet" 1 . H a t t e der „liberale" Zolltarif von 1819 noch in der Tradition einer primär an ergiebigen Finanzzöllen interessierten Zollpolitik gestanden, so wurde mit dem Zolltarif von 1822 ein entschiedenes Prohibitivsystem inauguriert. Ein hoher Einfuhrzoll auf Luxusgegenstände befriedigte das finanzpolitische Interesse, während der Import von Industriepro75

dukten entweder durch extrem hohe Zölle erschwert oder durch Einfuhrverbote überhaupt unterbunden wurde. Abgesehen von einigen Modifikationen in den Jahren 1836, 1838 und 1842, in denen sich das Interesse an höheren Zolleinnahmen niederschlug, bewegte sich die russische Zollpolitik bis zur Mitte des Jahrhunderts in den protektionistisch-prohibitiven Bahnen von 1822. Das deckte sich sowohl mit den - nach dem Dekabristenaufstand von 1825 noch verstärkten Interesse des Militärdespotismus Nikolaus' I., durch eine „Abgrenzungspolitik" das Eindringen westlicher Einflüsse zu unterbinden, als auch mit dem Interesse der Moskauer Kaufmannschaft und adeliger M a n u f a k turbesitzer, ihre Monopolstellung auf dem Binnenmarkt durch eine überlegene ausländische Konkurrenz nicht gefährden zu lassen. Solange die auf Leibeigenschaft basierende Produktion im Agrarsektor vorherrschte und der Exporthandel mit Agrarprodukten insgesamt stagnierte, fiel demgegenüber das Exportinteresse des Adels und das Interesse an der billigen Einfuhr landwirtschaftlicher Maschinen und Geräte nicht ins Gewicht 2 . Abgesehen von den vielen Hindernissen, die einem industriellen Wachstum entgegenstanden, trug die Zollpolitik unter der Herrschaft des Zolltarifs von 1822 erheblich dazu bei, daß Rußland in der Mitte des 19. Jahrhunderts einen im Vergleich zu anderen europäischen Staaten hohen Grad wirtschaftlicher Rückständigkeit aufwies 3 . Nicht zuletzt aus diesem Grunde wurde die protektionistisch-prohibitive Tendenz seit 1822 durch die Zolltarife von 1850 und 1857 erheblich aufgeweicht, ohne daß damit der Übergang zu den „Grundsätzen des Freihandels und der finanziellen Zölle" bereits vollzogen worden wäre. Zwar wurden einige Zollpositionen entweder ganz abgeschafft oder erheblich reduziert, aber von insgesamt 301 Hauptpositionen waren nur 59 zollfrei, 237 blieben zollpflichtig, und bei 5 weiteren bestand ein generelles Einfuhrverbot. Im Durchschnitt lag die Zollbelastung der zollpflichtigen Artikel nicht unter einem 50%igen Wertzoll. Bei einigen Gegenständen machte er sogar 100 bis 400% aus 4 . Die Bedeutung des Zolltarifs von 1857 lag deshalb vor allem darin, daß er - wie sich schnell herausstellte - nur den A u f t a k t f ü r eine ganze Reihe weiterer Zollsenkungen in den folgenden Jahren bildete. Hierzu gehörten vor allem die Herabsetzung des Roheisenzolls um ein Drittel (1859), die Aufhebung der Zölle auf Eisen, Maschinen und Zubehör f ü r Maschinenbauanstalten (1861), die Reduktion der Zölle auf Einzelteile f ü r landwirtschaftliche Maschinen und Geräte (1861) und 1868 die Senkung der Gußeisenzölle 5 . N u r schrittweise und keineswegs ohne Auseinandersetzungen zwischen agrarischen und industriellen Interessen setzte sich also die Überzeugung durch, daß das bereits 1857 postulierte „unaufschiebbare nationale Bedürfnis" letztlich eine Liberalisierung der Handelspolitik unvermeidbar machte. Der Widerstand ging vor allem von den Industriellen und Kaufleuten der Moskauer Textilindustrie aus. Als der Deutsche Zollverein 1864/65 auf einen Handelsvertrag mit Rußland drängte, warnte die Moskauer Kaufmannschaft vor „leichtfertigen Konzessionen" und vor der Gefahr einer „Überschwemmung" mit ausländischen Industrieprodukten, an der die einheimische Industrie zugrunde gehen 76

müsse 6 . Der Einfluß der Moskauer Textilindustrie war nicht nur groß genug, um auch zukünftig eine handelsvertragliche Bindung der Zollpolitik, sondern auch ihre konsequente Liberalisierung nach preußischem Vorbild zu verhindern. Während die zollfreie Einfuhr von Rohbaumwolle das Interesse der Textilindustrie am Bezug billiger Rohstoffe befriedigte, standen die protektionistischen Zollsätze für H a l b - und Fertigfabrikate des höchstentwickelten Industriezweiges nie zur Disposition. Auf der anderen Seite deckte sich die Zollpolitik seit 1857 mit dem Interesse der Großgrundbesitzer am billigen Bezug von landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten einerseits und dem schnellen Ausbau des Eisenbahnnetzes zur Steigerung des Getreideexportes andererseits. Mit dem Abbau der Zölle bei den Produkten der Eisenindustrie und des Maschinenbaus setzte sich dieses agrarische Interesse zunächst voll durch, da die einheimische Industrie bei weitem nicht in der Lage war, die stark steigende Nachfrage zu befriedigen 7 . Ohne daß es zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen gekommen wäre, konnte die russische Zollpolitik zwischen 1857 und 1867 den Kompromiß zwischen den agrarischen und industriellen Interessen auf einer insgesamt gemäßigt schutzzöllnerischen Grundlinie verfolgen. Während der Wert der zollfrei importierten Waren von 15,7 Mio. Rbl (1861) auf 69,7 Mio. Rbl (1868) anstieg und der Import von Maschinen, Produkten der Eisenindustrie, Chemikalien usw. erheblich zunahm, ging die Einfuhr von Baumwollgarnen sowie von baumwollenen und seidenen Geweben zurück 8 . Dennoch kam es bereits 1868 zu einer handelspolitischen Reaktion gegen eine weitere Liberalisierung der Handelspolitik. N a c h dem Grundsatz, der einheimischen Industrie durch den billigen Bezug von Rohstoffen und eine Verbesserung ihrer Konkurrenzbedingungen auf dem Binnenmarkt Marktvorteile und damit Entwicklungschancen zu geben, blieben im neuen Zolltarif von 1868 (mit Wirkung vom Januar 1869) Rohstoffe f ü r die Textil- und Eisenindustrie (wie Erze und Metalle in unbearbeitetem Zustand, Steinkohle, Rohbaumwolle, Roh- und Sorteneisen) generell zollfrei, während die Zollsätze f ü r H a l b - und Fertigfabrikate mit unterschiedlichen Spannen erhöht wurden. Außer der Erhöhung von ohnehin schon protektionistischen Sätzen f ü r Fabrikate der Textilindustrie zielte der neue Zolltarif mit seinen relativ niedrigen Zöllen auf Halbfabrikate der Eisenindustrie, auf Maschinen und Lokomotiven - wobei landwirtschaftliche Maschinen und Geräte weiterhin zollfrei blieben - , auf eine stärkere Förderung des einheimischen Maschinenbaus und der eisenverarbeitenden Industrie 9 . In den hohen Sätzen f ü r die Fabrikate der Baumwollindustrie trug der neue Zolltarif von 1868 wiederum der Furcht der Moskauer Textilindustrie „vor einer massenhaften Einfuhr" Rechnung, und zwar nicht etwa deshalb, weil die ausländische Konkurrenz das Wachstum der Textilindustrie seit der letzten Zolltarifreform verhindert hatte, sondern weil die im Preis niedrigen Einfuhren ausländischer Baumwollfabrikate das höhere inländische Preisniveau der Baumwollfabrikate, dem die Moskauer Textilindustrie den Aufschwung der 60er Jahre verdankte, akut gefährdeten. Vor allem aber zog der Zolltarif von 1868 Konsequenzen aus der Erfahrung, daß der seit 1857 77

schrittweise durchgeführte Abbau bisheriger Zollpositionen zusammen mit der zollfreien Einfuhr von Eisenbahnmaterialien die Entwicklung der inländischen Eisenindustrie blockierte oder zumindest verzögerte. Bis 1867 wurde der Bedarf an Lokomotiven und Eisenbahnwaggons fast ausschließlich vom Ausland gedeckt. Die Maschinenfabrik des Herzogs von Leuchtenberg baute zwar die erste russische Lokomotive, lieferte bis 1867 aber nur 17 Lokomotiven; die im Besitz der Regierung befindliche Alexandrowsche Eisengießerei produzierte hauptsächlich im Staatsauftrag bis 1867 192 Lokomotiven, 293 Personenwagen und 2608 Güterwagen 1 0 . Der einheimische Maschinenbau und die Eisenindustrie waren zweifellos auch jetzt noch nicht in der Lage, die Nachfrage in quantitativer und qualitativer Hinsicht zu befriedigen. Der Zolltarif von 1868 begnügte sich daher auch mit relativ geringen Zollerhöhungen auf Produkte der Eisenindustrie und des Maschinenbaus, hielt der ausländischen Konkurrenz also immer noch gute Marktchancen offen. Im Unterschied zu den protektionistischen Zollsätzen bei den Produkten der Textilindustrie lag bei der Eisenund Montanindustrie das Schwergewicht der staatlichen Förderung nicht auf den Zöllen, sondern den vermehrten Staatsaufträgen, dazu auf dem Versuch, von Fall zu Fall den Eisenbahngesellschaften des Recht zum Bezug zollfreien Eisenbahnmaterials zu beschränken 11 . Bis in die zweite H ä l f t e der 70er Jahre bestand für die russische Wirtschaftspolitik kein zwingender Anlaß, von dieser Linie abzuweichen, da sie dem zurückgebliebenen Entwicklungsstand der Montan- und Eisenindustrie Rechnung trug, ihr gleichzeitig Entwicklungschancen offenhielt und darüber hinaus der schnell wachsenden Nachfrage und dem staatlichen Interesse am schnellen Ausbau des Eisenbahnnetzes entgegenkam 12 . Zwar führte die wachsende Nachfrage nach Produkten der Montan- und Eisenindustrie zu einem deutlichen Anstieg der Importe. So stieg etwa der Anteil ausländischen Roheisens am inländischen Verbrauch von 8% (1866/70) auf 11% (1871/75), der Anteil ausländischen Eisens noch stärker von 12% (1866/70) auf 31% (1871/75) und die Kohleeinfuhr von 1866/70 = 49,1 Mio. Pud auf 1871/70 = 60,5 Mio. Pud 13 . Staatliche Rüstungsaufträge, Staatsaufträge zur Lieferung von Eisenbahnbaumaterial und die Gewährung von Prämien erwiesen sich dennoch als ausreichend, um auch die Entwicklung der Montanindustrie voranzutreiben. Bei Perm an der Kama entstand während dieser Zeit eine Gußstahlkanonenfabrik, die führend in der Produktion von Kriegsmaterial wurde. Außerdem entstanden im Ural vier neue Bessemer-Stahlwerke, darunter ein großes Stahlwerk mit einer Jahresproduktion von 800 000 Pud, das als erstes Hüttenwerk Stahlschienen aus uralischem Eisen walzte 14 . Die Montanindustrie im Gouvernement Petersburg baute mit Hilfe neuer technischer Verfahren ihre Stellung als Zentrum der Rüstungsindustrie weiter aus. Ein staatliches Stahlwerk mit der größten Gußstahlkanonenfabrik des Landes führte 1876 ein neues Verfahren zur Herstellung blasenfreier Güsse ein. 1877 begann man in Alexandrowsky bei Petersburg mit dem Bau eines modernen Martinstahlwalzwerkes, das 78

vor allem Geschütze und Geschosse liefern sollte, und die Putiloff-Werke im Gouvernement Petersburg konnten ihre Flußeisenproduktion erheblich steigern. Eine ähnliche Entwicklung zeichnete sich im Moskauer Industriegebiet vor allem im Bereich des Maschinenbaus ab. In Sormova bei Nischni-Nowgorod entstand ein Werk f ü r den Lokomotivbau, im Gouvernement Moskau das Eisenwerk Kolomna mit großen Werkstätten f ü r den Lokomotiv- und Brückenbau sowie das Hüttenwerk Kulebaki. Außer Petersburg wurde die Moskauer Industrie zum Mittelpunkt der Produktion von Eisen- und Stahldraht, während trotz des Aufschwungs im Maschinanbau die baltischen Gouvernements ihre Führung gegenüber der Moskauer Industrie behaupteten 15 . Einen deutlichen Aufstieg erlebte auch die polnische Montanindustrie 1 8 . Erst unter dem Druck der 1874/75 auch in Rußland voll einsetzenden industriellen Depression und dem damit einhergehenden Rückgang im Eisenbahnbau erhielt die innenpolitische Diskussion um einen verstärkten Industrieprotektionismus neuen Auftrieb 1 7 . Der Boden f ü r weitreichende protektionistische Forderungen war insofern günstig, als die einheimische Industrie nach der Periode eines wirtschaftlichen Aufschwungs inzwischen sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht in der Lage war, einen größeren Teil der inneren Nachfrage zu decken. Der Anteil der ausländischen Konkurrenz mußte in der Phase einer rückläufigen Nachfrage verringert werden, wenn man nicht die bisherigen Industrialisierungserfolge in Frage stellen wollte. Denn soviel stand fest, daß die einheimische Industrie trotz ihres Aufschwungs bei weitem noch nicht in der Lage war, bei sinkenden Preisen und rückläufiger Nachfrage erfolgreich mit der ausländischen Konkurrenz auf dem Binnenmarkt zu konkurrieren. Das bedeutete jedoch noch nicht zwangsläufig den konsequenten Übergang zum zollpolitischen Protektionismus. Mit der Einführung der Goldzölle zum Januar 1877 kam die Regierung zwar protektionistischen Tendenzen in der Eisen- und vor allem der Textilindustrie weit entgegen, indem die wichtigsten Roh- und Brennstoffe für die Textilindustrie (Rohbaumwolle, Roheisen, Steinkohlen) weiterhin zollfrei blieben, während die ohnehin protektionistischen Sätze für Fabrikate der Textilindustrie und die 1868 teils erhöhten, teils neu eingeführten Zölle auf H a l b - und Fertigfabrikate der Eisenindustrie um ca. 25 bis 30% erhöht wurden. Aber ausschlaggebend für die Einführung des Goldzolls waren nicht protektionistische, sondern finanz- und währungspolitische Gründe 18 . Die Erschwerung der ausländischen Konkurrenz durch die Goldzölle bildete nur die Spitze eines Eisberges protektionistischer Maßnahmen, mit denen die Stagnation der industriellen Entwicklung verhindert werden sollte. Die Geldpolitik spielte dabei eine wichtige Rolle. Der Schwerpunkt aber lag auf der Steigerung der staatlichen Nachfrage, der Bevorzugung der einheimischen Industrie gegenüber der ausländischen bei der Vergabe von Staatsaufträgen, Auflagen für die Eisenbahngesellschaften beim Bezug ihrer Materialien, dem Ausbau des Prämiensystems und schließlich der Aufhebung bisher gewährter Vergünstigungen beim Bezug von Eisenbahnmaterial aus dem Ausland 1 *. Diese Politik staatlicher Wirtschaftsförderung, die in den Jahren 79

der Kriegswirtschaft 1877/78 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, hatte den Erfolg, daß die in den vorangegangenen Jahren erweiterten Produktionskapazitäten in den ersten Jahren der Depression ausgelastet blieben und diese schließlich von einer bis 1879/80 andauernden Kriegskonjunktur abgelöst wurde, die außer der Eisenindustrie auch die Textilindustrie erfaßte 20 . Nach der protektionistischen Korrektur in der zweiten Hälfte der 70er Jahre gewannen diese Tendenzen in der ersten Hälfte der 80er Jahre einen stetig wachsenden Einfluß auf die Wirtschaftspolitik, bis sie schließlich nach der Mitte der 80er Jahre zur unbestrittenen Vorherrschaft gelangten. Wie schon bei der Einführung der Goldzölle leisteten die Bedürfnisse der Finanzwirtschaft dieser Entwicklung Vorschub. Das gilt vor allem in bezug auf die allgemeine Zolltariferhöhung um 10% seit dem Januar 1881, die mit einer Verdoppelung der Zolldepotgebühren verbunden wurde. Auch die Zolltarifreform, die im Juli 1882 in Kraft trat, veränderte den Charakter des Zolltarifs von 1868 noch nicht im schutzzöllnerischen Sinne, sondern zielte darauf ab, die durch die Steuerreform Bunges verursachten Mindereinnahmen bei den direkten Steuern durch eine Steigerung der Zolleinnahmen zumindest teilweise abzugleichen21. Von nachhaltigerem Einfluß auf das Erstarken protektionistischer Tendenzen in der Zollpolitik war die Tatsache, daß die Kriegskonjunktur im Gefolge des russisch-türkischen Krieges von einer langanhaltenden industriellen Depression abgelöst wurde, die 1866 ihren Tiefpunkt erreichte22. Die intensive Wechselwirkung zwischen Depression und stufenweiser Verschärfung des protektionistischen Kurses war auf die eklatante Unfähigkeit aller Industriezweige zurückzuführen, unter den Bedingungen einer andauernden Stockung mit der ausländischen Konkurrenz auf dem inneren Markt zu konkurrieren. Noch während der Kriegskonjunktur gab es Hinweise darauf, daß ein Verzicht auf zusätzliche Protektion für einzelne Branchen das Risiko der Stagnation, teilweise sogar der Rückentwicklung einschloß. Akute Existenzprobleme gab es vor allem im Maschinenbau, und hier wiederum besonders im Bereich des Eisenbahnwaggon- und Lokomotivbaus, nachdem dieser während der 60er und 70er Jahre einen deutlichen Aufschwung genommen hatte, aber jetzt die Auswirkungen des stagnierenden Eisenbahnbaus um so stärker zu spüren bekam. Daher setzten sich schon frühzeitig die protektionistischen Forderungen dieser Branche in der Zollpolitik durch. Bereits im Mai 1877 wurde in eindeutig protektionistischer Absicht der Zoll auf Lokomotiven und Tender erhöht. Weitere Erhöhungen folgten 1880 und 1882. In der Periode eines verlangsamten Eisenbahnbaus - zwischen 1878 und 1885 wuchs das Eisenbahnnetz nur von 21 476 auf 24 041 Werst - war freilich damit allein ein durchschlagender Erfolg nicht zu erzielen, zumal da viele Eisenbahngesellschaften, denen bei der Konzessionsvergabe noch nicht die Verpflichtung zum Bezug von Eisenbahnmaterial aus dem Inland auferlegt worden war, immer noch Lokomotiven und Waggons teilweise zollfrei aus dem Ausland beziehen konnten. Daher mußte die Regierung „im Interesse der Erhaltung der Fabriken wieder Maschinen und Waggons auf Vorrat anfertigen lassen". In Verbindung mit den Erhöhungen 80

der Zölle auf Eisenbahnmaterial und einer Eisenbahnpolitik, die vor der Vergabe von Konzessionen für neue Linien den Bezug sämtlicher Materialien aus dem Inland obligatorisch machte, bildete die staatliche Vorratspolitik eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß der Maschinenbau die Übergangsperiode zum verlangsamten Bahnbau überstand und einen zunehmend größeren Anteil der Nachfrage auf Kosten der ausländischen Importe decken konnte 23 . Dabei behaupteten die baltischen Gouvernements weiterhin ihre Führung gegenüber dem Maschinenbau des Moskauer Industriegebietes. Auf dieser Grundlage erlebte der Maschinenbau einen neuen Aufschwung, als sich am Ende der 1880er Jahre der Eisenbahnbau wieder beschleunigte und die Regierung nicht zögerte, auf Drängen der Lokomotiv- und Eisenbahnbaufabrikanten die Zölle 1889 noch weiter zu erhöhen 24 . Wenn auch die finanzpolitischen Bedürfnisse und die industrielle Depression die protektionistischen Tendenzen zunächst begünstigten, so setzten sich diese doch auf der ganzen zollpolitischen Linie keineswegs so mühelos wie bei den Maschinenzöllen durch. Der Weg zu dem nahezu lückenlosen industriellen Prohibitivzollsystem von 1891 führte über heftige innenpolitische Auseinandersetzungen, für die die Interessengegensätze zwischen den industriellen Hauptzentren charakteristischer waren als der Gegensatz zwischen industriellen Schutzzöllnern einerseits und agrarischen Freihändlers bzw. finanzpolitischen Interessen andererseits 25 . War für die industrielle Geographie, die sich in der Periode des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs während der 60er und 70er Jahre herausgebildet hatte, schon die Rivalität zwischen den Industriezentren des inneren Rußland (Ural-Moskau) und der westlichen Gouvernements (Polen-Ostseeprovinzen) konstitutiv 2 ®, so mußte sie unter ' dem anhaltenden Druck der industriellen Depression in einen offenen Kampf umschlagen, bei dem es letztlich um weitreichende Entscheidungen über die zukünftige industrielle Struktur und die Grundlagen der zukünftigen Industrialisierungspolitik ging. Unter dem Druck einer anhaltenden industriellen Depression konnte es der Industrie in den westlichen Gouvernements aufgrund vielfältiger Wettbewerbsvorteile nicht schwerfallen, ihren Anteil am Binnenmarkt auf Kosten der konkurrenzschwachen und an eine monopolistische Beherrschung des Binnenmarktes gewohnten Industrie des inneren Rußland unaufhaltsam zu steigern. Die sich in den 60er und 70er Jahren schnell entwickelnde polnische Textilindustrie hat schon in den 70er Jahren ihre Expansion auf dem Binnenmarkt begonnen, sich aber zunächst noch auf die westlichen und südwestlichen Gouvernements beschränkt. Anfang der 80er Jahre dehnte sie ihr Absatzgebiet auch auf Südrußland aus. Der Durchbruch erfolgte Mitte der 80er Jahre, und zwar gleichzeitig auf dem kaukasischen und zentralrussischen, etwas später auch auf dem asiatischen Markt 2 7 . Zeitgenössischen Berichten über die Auswirkungen der industriellen Depression in der Moskauer Textilindustrie zufolge schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, wann die polnische Textilindustrie auch in die traditionellen Märkte der zentralrussischen Textilindustrie einbrach. Denn nachdem hier z . B . die Preise für Kattun seit 1879 um nahezu die H ä l f t e ge6

Müller-Link

81

sunken w a r e n , d r o h t e 1884 ein S c h r u m p f u n g s p r o z e ß größeren Ausmaßes einzusetzen. „ G e g e n w ä r t i g stocken alle Geschäfte, m a n c h e B a u m w o l l f a b r i k e n sind schon geschlossen, man hört von vielen B a n k r o t t e n und e r w a r t e t noch m e h r " , lauteten Berichte v o m J a h r e s e n d e 1884 28 . E t w a z u r gleichen Zeit wie die Textilindustrie schickte sich auch die polnische M o n t a n - u n d Eisenindustrie an, die K o n k u r r e n z b e d i n g u n g e n auf dem Binnenmarkt

einschneidend

zu

verändern.

Die

industrielle

Depression,

deren

R ü c k w i r k u n g e n sich in den übrigen Zentren der M o n t a n - und Eisenindustrie e m p f i n d l i c h b e m e r k b a r machte, leitete die Phase einer beschleunigten E x p a n sion der polnischen M o n t a n - u n d Eisenindustrie ein. Zu der „sehr wenig erf r e u l i c h e n " Lage der in St. Petersburg, Moskau, dem U r a l und dem südrussischen Industriegebiet gelegenen W e r k e stand die E n t w i c k l u n g der in russisch Polen gelegenen W e r k e in einem „scharfen G e g e n s a t z " . W ä h r e n d sich die Lage in den übrigen Industriegebieten zusehends verschlechtere, sei die polnische I n dustrie f ü r eine längere Periode mit A u f t r ä g e n versehen, die sie in dem geforderten Z e i t r a u m a u s z u f ü h r e n imstande sei. D e r Z e i t p u n k t sei daher absehbar, w a n n die polnische Industrie den K a m p f um den inneren M a r k t endgültig zu ihren Gunsten entscheiden w e r d e : „Polen w i r d binnen k u r z e m ein N o r d - E n g l a n d ähnliches Aussehen gewinnen und einen Teil des H a n d e l s in R u ß l a n d an sich ziehen, der f r ü h e r im Alleinbesitze einiger weniger Firmen in St. Petersburg, Moskau, C h a r k o f f und N i j n i - N o w g o r o d war." 2 9 Diese Prognose w a r insofern realistisch, als die industrielle Depression u n d die E x p a n s i o n der polnischen Industrie auf dem B i n n e n m a r k t den vergleichsweise hohen R ü c k s t ä n d i g k e i t s g r a d der alten Industriezentren des

„inneren"

R u ß l a n d gegenüber der I n d u s t r i e in den westlichen G o u v e r n e m e n t s noch deutlicher machte. W ä h r e n d die Industrie der Ostseeprovinzen

z w a r nicht das

W a c h s t u m der polnischen Industrie mitvollziehen k o n n t e , aber noch über vergleichbare Wettbewerbsvorteile v e r f ü g t e , können die Schwierigkeiten

kaum

hoch genug veranschlagt werden, die nicht n u r der Ü b e r w i n d u n g der R ü c k ständigkeit der Industriezentren des inneren R u ß l a n d , sondern auch der E n t w i c k l u n g des neuen I n d u s t r i e z e n t r u m s im Donezbecken im Wege standen. T r o t z eines ungeheuren Arbeitseinsatzes k o n n t e die P r o d u k t i v i t ä t der U r a l industrie w ä h r e n d der 80er J a h r e k a u m nennenswert gesteigert werden 3 0 . E n ner der wichtigsten G r ü n d e lag darin, d a ß a u f g r u n d fehlender T r a n s p o r t v e r bindungen zu den Steinkohlelagern, die sich zur V e r h ü t t u n g von Eisenerzen eigneten, meist H o l z k o h l e weiter v e r w e n d e t werden m u ß t e und der T r a n s p o r t von uralischem Eisen hauptsächlich auf dem z w a r billigen, aber mühseligen Wasserwege

erfolgte.

Ähnliche

Schwierigkeiten

bei

der

Beschaffung

von

B r e n n m a t e r i a l h a t t e die Moskauer M o n t a n i n d u s t r i e . Auch hier w u r d e die R o h eisenproduktion stark d a d u r c h behindert, d a ß das Moskauer

Industriegebiet

k a u m über v e r k o k b a r e K o h l e v e r f ü g t e und wegen schlechter T r a n s p o r t v e r b i n dungen sowie unzureichender Technik die b e n a c h b a r t e n Kohlelager nur u n z u reichend ausgebeutet w u r d e n . 82

Die Steinkohleproduktion des Moskauer Industriegebietes ging zwischen 1880 und 1887 sogar von 25 auf 17,6 Mio. Pud zurück. Wie die Uralindustrie blieb das Moskauer Industriegebiet während der ersten H ä l f t e der 80er Jahre noch hauptsächlich auf englische Kohle angewiesen, die mit hohen Frachtkosten über die baltischen H ä f e n importiert werden mußte. Bei einem Kohlebedarf von ca. 96 Mio. Pud (68 Mio. für Fabriken und 28 Mio. f ü r Heizungszwecke) verbrauchte das Moskauer Industriegebiet 1880 nur 5 Mio. Pud an einheimischer Kohle 31 . Die Steinkohleproduktion des Donezbeckens hätte zwar inzwischen einen großen Teil des Bedarfs an Steinkohle im Moskauer Industriegebiet und in der Uralindustrie decken können. Denn nachdem dort die Steinkohleproduktion schon am Ende der 70er Jahre auf ca. 100 Mio. Pud gesteigert worden war, gingen 1883 Berechnungen der Regierung davon aus, daß die Kohlegruben eine Fördermenge von ca. 166 Mio. Pud erreichen könnten, tatsächlich jedoch wegen fehlender Transportverbindungen zum Moskauer Industriegebiet und zum Ural nur ca. 100 Mio. Pud förderten, den größten Teil davon f ü r den eigenen Bedarf, für den Eisenbahnbetrieb und für Heizungszwecke der näheren Umgebung 32 . In engem Zusammenhang damit stand die durch Kapital- und Arbeitskräftemangel bedingte langsame Entwicklung der südrussischen Eisenindustrie. Seit 1881 wurden zwar die Eisenerzlager von Krivoi-Rog abgebaut, aber 1885 gab es dort erst zwei Eisenhütten. Auch das Netz der Donez-Kohlenbahnen war zwar am Ende der 70er Jahre im wesentlichen fertiggestellt worden, das wichtige Anschlußstück der Krivoi-Rog-Bahn, das die Kohlenlager mit dem Eisenerzgebiet von Jekaterinoslaw verband, blieb aber bis 1884 unvollendet 33 . Angesichts der Größe der zu überwindenden Schwierigkeiten konnten die alten Industriezentren des inneren Rußland mit der Industrie in den baltischen Gouvernements und vor allem mit der auf den inneren Markt drängenden polnischen Industrie ebensowenig konkurrieren wie die Industrie „Neu-Rußlands". Vor allem mußte die unzureichende Infrastruktur, die die Entwicklung dieser Industriegebiete wechselseitig behinderte, verbessert werden. So lange das nicht der Fall war, bestand die Chance eines möglichst gleichmäßigen industriellen Wachstums vor allem darin, durch staatliche Intervention Wettbewerbsvorteile des Auslandes und der westlichen Industrie auf dem Binnenmarkt auszugleichen und damit eine Verschiebung der inneren Konkurrenzbedingungen, die das Wachstum der Industriegebiete des inneren Rußland gefährden konnte, zu verhindern. In diesem gemeinsamen Interesse fanden sich am Ende der 70er Jahre die Eisen- und Textilindustriellen der Moskauer Industrie mit den Montanindustriellen des Urals und Neu-Rußland in einer Frontstellung gegen die polnische und die Petersburger Industrie zusammen 34 . Unter dem Einfluß dieser industriellen Interessenphalanx wurde die Zollpolitik seit dem Ende der 7Oer Jahre Schritt für Schritt auf einen protektionistischen Kurs festgelegt, dessen doppelte Zielrichtung immer deutlicher hervortrat: einmal die ausländische Konkurrenz zurückzudrängen und sodann auch die spezifischen Wettbewerbsvorteile der westlichen Industriegebiete auszuglei6'

83

chen. In dieser Hinsicht hatte die Einführung eines Zolls auf Rohbaumwolle 1878 Signalwirkung. Mochte dieser Zoll auch in erster Linie finanzpolitische Gründe haben, so wurde doch damit zum ersten Mal gegen das Prinzip des Tarifs von 1868 verstoßen, industrielle Rohstoffe zollfrei zu lassen. Im Kampf um den inneren Markt war die Einführung eines Zolls auf Rohbaumwolle ein nicht zu unterschätzender Erfolg der Moskauer Textilindustriellen. Denn er verriet die Absicht, die Rohstoffbasis für den wichtigsten Massenartikel der Moskauer Textilindustrie stärker als bisher auf billige asiatische und kaukasische Baumwolle zu gründen und gleichzeitig der Textilindustrie in den polnischen und baltischen Gouvernements den Bezug amerikanischer Rohbaumwolle zu verteuern 35 . Eine weitere Bresche in das Zollsystem zugunsten einer differentiellen Benachteiligung der westlichen Industriegebiete wurde 1880 mit der Einführung des Roheisenzolls geschlagen, der noch zwei Jahre zuvor am Widerstand der Maschinenbaufabrikanten gescheitert war. Wenige Monate darauf verzichtete man im letzten Moment auf eine Erhöhung des Roheisenzolls. Statt dessen wurden die Lizenzen f ü r die freie Einfuhr von Roh- und Fabrikateisen mit Wirkung vom Januar 1881 aufgehoben. Selbstverständlich war auch der Roheisenzoll, der zusätzlich 1884 außerhalb der allgemeinen Zollerhöhungen von 1881 und 1885 weiter erhöht wurde, ein Differentialzoll zu ungunsten der westlichen Industriegebiete, da diese beim Bezug von Roheisen hauptsächlich auf oberschlesische und englische Importe angewiesen waren 39 . Eine nicht mehr verdeckte différentielle Benachteiligung der polnischen Industrie, die einen großen Teil ihres Kohlebedarfs aus dem benachbarten oberschlesischen Bergbau bezog, bedeutete die Einführung eines Kohlezolls über die westliche Landesgrenze 1880. Auf Drängen der Grubenbesitzer des Donezbeckens wurde der Kohlezoll auf alle Grenzen ausgedehnt, allerdings unter Beibehaltung der differentiellen Zölle an der westlichen Landesgrenze gegenüber den H ä f e n der Ostsee und des Schwarzen Meeres 37 . D a ß die industriellen Schutzzöllner während der ersten H ä l f t e der 1880er Jahre wichtige Siege erfochten, macht die Entwicklung der Importe deutlich. Noch während der zweiten H ä l f t e der 70er Jahre wiesen diese trotz der Goldzölle und einiger Modifikationen des Zolltarifs noch eine Steigerung auf. Der Wert der Einfuhr über die europäische Grenze stieg in diesem Zeitraum noch um 16%, der Wert der zollfreien Importwaren sogar um 72% und der Import von Rohstoffen und Halbfabrikaten nahm um 14% des Wertes zu. Lediglich bei Handwerks- und Fabrikerzeugnissen zeigte sich ein Rückgang um 7% 3 8 . Dagegen zeigte die Importentwicklung während der ersten H ä l f t e der 80er Jahre bei vielen Positionen eine rückläufige Entwicklung. Auffallend stark war der Rückgang in der Warengruppe IV (Maschinen, Apparate, Metallwaren, Wollwaren, Leinen- und Hanferzeugnisse) der Einfuhrstatistik. Der Warenwert dieser Gruppe fiel von 1881 = 113,9 Mio. (davon 104,8 Mio. über die europäische Grenze) auf 73,1 Mio. Rbl. Allein der Import von Metallwaren ging von 2,5 Mio. auf 974 000 Pud zurück. Einen starken Rückgang wies auch die 84

Warengruppe II (Eisen, Stahl in Stangen, Schienen, Platten usw.) auf. Hier belief sich der Gesamtimport 1885 nur noch auf 17,25 gegenüber 24,38 Mio. Pud im Jahre 1881. Der Anteil ausländischen Eisens am inneren Verbrauch sank von 3 5 % (1876/80) auf 2 6 % (1881/85) 39 . Während demnach die Zollpolitik in der ersten Hälfte der 80er Jahre bei Halb- und Fertigfabrikaten der Eisen- und Textilindustrie eine teils protektionistische, teils bereits eine prohibitive Funktion erfüllte, setzte sich trotz der Zölle der Anstieg bei den Roheisen- und Kohleimporten dort. Der Anteil ausländischen Roheisens am inneren Verbrauch stieg von 2 6 % (1876/80) auf 3 2 % (1881/85). Der Kohleimport stieg von 97,1 Mio. in den Jahren 1876 bis 1880 auf 112,2 Mio. Pud im Jahresdurchschnitt 1881 bis 1885 40 . Insgesamt spiegelte die Importentwicklung der ersten Hälfte der 80er Jahre den Entwicklungsstand und die Interessen der Industriegebiete des inneren Rußland wider. Während die Zölle bei Halb- und Fertigfabrikaten der am weitesten entwickelten Moskauer Textilindustrie nahezu prohibitive Sätze erreichte und die Zölle auf Halb- und Fertigfabrikate der Textilindustrie den Druck der ausländischen Konkurrenz auf dem Binnenmarkt

verringerten,

machte der steigende Roheisenimport deutlich, daß die Roheisenproduktion des inneren Rußland und des Donezbeckens mit der Nachfrage nicht Schritt gehalten hatte. Ähnliches gilt für die Kohleproduktion. Während die Kohleimporte weiter anstiegen, nahm zugleich der Anteil der von den Eisenbahnen verbrauchten südrussischen Kohle deutlich zu41. Vielleicht noch wichtiger aber war, daß trotz des Aufschwungs der polnischen Industrie einerseits und der starken Auswirkungen der industriellen Depression auf die Industrie des inneren Rußland andererseits die industrielle Geographie nicht entscheidend verändert wurde 42 . Darüber hinaus wurden in der Zwischenzeit vor allem im Bereich der Infrastruktur wichtige Voraussetzungen für ein beschleunigtes Wachstum auch der Industriezentren des inneren Rußland und des Donezbeckens geschaffen. 1884 wurde endlich die Krivoi-Rog-Bahn fertiggestellt. Damit war die Stammlinie eines Regionalnetzes geschaffen, das in den folgenden Jahren weiter ausgebaut wurde und die Hüttenwerke und Kohlenbergwerke des Donez mit dem Meer verband. Im Dezember

1885 wurde auch die Eisenbahnlinie

Jekaterinen-

burg-Tjumen vollendet, die sich an die Linie Perm-Jekaterinenburg und damit an die große Wasserstraße der Kama und Wolga anschloß. Zum ersten Mal war damit der Ural, der immer noch das führende Zentrum der Montanindustrie bildete, an die Kohlelager des Donezbeckens angeschlossen und ein entscheidender Mangel beseitigt, der bisher die Entwicklung des ältesten und des neuesten Industriezentrums behindert hatte 43 . Auch in der Moskauer Textilindustrie wurden während der ersten Hälfte der 80er Jahre wichtige Voraussetzungen für eine beschleunigte Wachstumsphase insofern geschaffen, als die Auswirkungen der Depression den Konzentrationsprozeß und die Entwicklung zum mechanisierten Großbetrieb förderten 44 . 85

Zu dem Zeitpunkt, an dem die industrielle Depression ihren Tiefpunkt erreichte, leiteten die Montan- und Textilindustriellen des Ural, des Moskauer Industriegebietes und des Donez die Eskalation des Kampfes um den Binnenmarkt ein. Ziel dieses Kampfes war der konsequente Industrieprotektionismus auf Kosten der Landwirtschaft und der ausländischen Konkurrenz sowie der systematische Abbau der noch bestehenden Wettbewerbsvorteile der westlichen Industriegebiete auf dem Binnenmarkt. Einen ersten Erfolg stellte die Einführung von Zöllen auf landwirtschaftliche Maschinen und Geräte im Jahre 1885 dar. Auf einem Kongreß der Eisenindustriellen im November desselben Jahres, an dem die Vertreter der wichtigsten Ministerien teilnahmen, setzte sich die Mehrheit dafür ein, daß zur Abwehr der ausländischen Konkurrenz und der Offensive der polnischen Hüttenwerke ein jährlicher Rückgang der Importquote für Roheisen um 1,5 Mio. Pud angestrebt und die Zölle für Eisen weiter erhöht werden sollten. Zur gleichen Zeit sagten Vertreter der Moskauer Industrie der polnischen Industrie den verschärften Kampf an, da ihr billigere Kredite zur Verfügung stünden, sie beim Bezug von Rohstoffen begünstigt sei, günstigere Eisenbahntarife ausnützen könne und schließlich auch noch weniger Steuern bezahle. Die von der Regierung eingesetzte Janschull-Kommission bestätigte zwar, daß die polnische Industrie aus ihrer geographischen Lage Wettbewerbsvorteile, u. a. beim Bezug von Brennmaterial ziehe. Sie lehnte jedoch hohe Differentialzölle oder gar die Errichtung der 1850 erst aufgehobenen Zollgrenze zwischen Polen und Rußland ab und schlug statt dessen eine höhere Besteuerung der polnischen Industrie vor 45 . Aber bereits im Juli 1886 gab die Regierung den unausgesetzten Klagen der Grubenbesitzer des Donezbeckens nach, als sie den Zoll für alle über die H ä f e n des Schwarzen und Asowschen Meeres eingeführten Steinkohlen erhöhte. Diese Zollerhöhung ließ zwar die Kohlezölle über die westliche Landesgrenze unangetastet, doch sie verfolgte die doppelte Zielsetzung, durch Zurückdrängung der ausländischen Konkurrenz der Donezkohle bessere Absatzchancen zu geben und zugleich die Textil- und Eisenindustrie des inneren Rußland durch den günstigeren Bezug südrussischer Kohle gegenüber der polnischen Industrie konkurrenzfähiger zu machen. Durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes eröffnete sich jetzt sogar schon die Perspektive, dem südrussischen Bergbau selbst in Polen ein neues Absatzgebiet auf Kosten der oberschlesischen Importe zu verschaffen. Die „Warschauer Stahlfabrik" z. B. bezog zu dieser Zeit bereits den größten Teil ihres Bedarfs an Roheisen und Koks aus dem Gouvernement Jekaterinoslaw über eine Entfernung von ca. 1 300 Werst 46 . Seit dem Frühjahr 1887 setzten sich schließlich in der Zollpolitik die protektionistischen Forderungen der Industrie des inneren Rußland auf der ganzen Linie durch. Mit der Erhöhung der Zölle auf Rohbaumwolle konnten die Textilindustriellen Moskaus einen weiteren Erfolg im Kampf gegen die Lodzer Textilindustrie um billige Rohstoffe für sich verbuchen. Zugunsten der Eisenindustrie des Ural, Moskaus und des Donez wurde der ohnehin schon hohe Roheisenzoll verdoppelt und die Zölle auf Eisen, Stahl und Kohle wurden be86

trächtlich erhöht. Im Oktober 1887 wurden weitere Zollerhöhungen auf Eisenund Textilprodukte angekündigt und kurz darauf in K r a f t gesetzt 47 . Abgesehen davon, daß durch diese Zollerhöhungen die différentielle Benachteiligung der polnischen Industrie weiter verschärft wurde, trat die antipolnische Komponente des verschärften Industrieprotektionismus auch in dem „Allerhöchsten Befehl" vom April 1887 hervor, der die Erhöhung der Eisenzölle befahl, „um in den westlichen Grenzgebieten der weiteren Entwicklung der bestehenden und der Entwicklung solcher neuen Gußeisen-Schmelzereien und Eisenwerke vorzubeugen, welche mit fremdem Material und unter Beihilfe fremder Arbeiter arbeiten". Im Mai publizierte die „St. Petersburger Zeitung" das Gesetz zur „Beschränkung der Ausländer bei Erwerbung von Eigentum und Nutzungsrechten an Grundstücken", das noch im Juni 1887 in K r a f t trat 48 . Die Gültigkeit dieses Gesetzes erstreckte sich zwar nicht nur auf die polnischen Gouvernements, sondern auch auf Bessarabien, Wilna, Witebsk, Wolhynien, Grodno, Kiew, Kowno, Kurland, Livland, Minsk und Podolien, aber es zielte vor allem auf Handels- und Industrieunternehmungen, die mit ausländischem Kapital in Polen gebildet worden waren 49 , mit ausländischen Arbeitskräften arbeiteten und damit über jene zwei Produktionsfaktoren verfügten, an denen es dem ältesten Industriezentrum im Ural ebenso mangelte wie dem neuesten im Donezbecken. Durch zollpolitische Maßnahmen allein hätte daher kaum verhindert werden können, daß die Entwicklungschancen der alten und neuen Industriezentren des inneren Rußland durch die Expansion der polnischen Industrie auf dem Binnenmarkt beeinträchtigt wurden. Angesichts dieser Problematik waren die Maßnahmen gegen die polnische Industrie und der Übergang zum verschärften Industrieprotektionismus im Jahre 1887 mehr als ein kurzfristiger Erfolg der industriellen Schutzzöllner des inneren Rußland. Sie bildeten nur den ersten Schritt eines langfristig konzipierten Industrialisierungsprogramms, das endlich die Stagnation der Industriezentren des inneren Rußland und des Donezbeckens überwinden und den Übergang zu einem beschleunigten Wachstum dieser Gebiete einleiten sollte. Während daher in den folgenden Jahren die Maßnahmen gegen die polnische Industrie verschärft wurden und der verschärfte Industrieprotektionismus des Jahres 1887 in den MendeleevTarif des Jahres 1891 mit Wertzöllen von durchschnittlich 33% einmündete, unternahm die Regierung energische Anstrengungen, um diejenigen Hindernisse zu beseitigen, die bisher einem dem polnischen ähnlichen Aufschwung der Montanindustrie des Ural und des Donezbeckens entgegengestanden hatten 50 . Bei den Diskussionen am Ende der 80er Jahre über die Industrialisierungspolitik bestand Einigkeit darüber, daß es vor allem um die Bewältigung von zwei Problemen ging: nämlich des Kapitalmangels und des Mangels an qualifizierten Arbeitskräften. Zugleich aber stand fest, daß diese Probleme ohne schubartigen Zufluß ausländischen Kapitals, ausländischer Technologie und ausländischer Arbeitskräfte nicht zu bewältigen waren 51 .

87

2.2.3 Industrialisierung und deutscher Der russische Markt

Industrieexport:

Während der letzten zwei Jahrzehnte vor dem Beginn der russischen Reformära hatte England als der industriell fortgeschrittenste Staat Europas seine Rolle als erster Handelspartner Rußlands unangefochten behaupten können. Mit dem seit der Aufhebung der englischen Kornzölle steigenden Export russischer Agrarprodukte nach England wuchsen umgekehrt die Importe englischer Industriewaren nach Rußland stetig an. Im Zeitraum zwischen 1841 und 1861 erhöhte sich das Gesamtvolumen des russisch-englischen Handels von 55,6 auf 124 Mio. Rbl. Da der russische Agrarexport nach England stärker zunahm als die englischen Importe nach Rußland, wurde der russische Handel zwischen 1851 und 1861 für England passiv 1 . Wenn die Ausweitung des Handels zwischen dem deutschen Zollverein und Rußland in den zwei Jahrzehnten vor dem Beginn der Reformära auch bei weitem nicht ausreichte, um im russischen Handel England den ersten Platz streitig zu machen, so nahm doch immerhin das Gesamtvolumen des russischen Handels mit dem Zollverein zwischen 1841 und 1861 von 19,2 auf 62,1 Mio. Rubel zu. Wie im russisch-englischen Handel wiesen die russischen Zufuhren eine größere Steigerungsrate auf (1841-1851 um 6 3 % , 1851-1861 um 135%) als die Exporte des Zollvereins - der weitaus größte Teil davon entfiel auf Preußen - nach Rußland (1841-1851 um 53%, 1851-1861 um 90%). Im Unterschied zum russisch-englischen Handel aber blieb für den Zollverein der Handel mit Rußland ein Aktivhandel. 1841 überstieg die russische Ausfuhr des Zollvereins die Einfuhr um 6,6 Mio. Rubel (um 105%), 1851 um 9,58 Mio. (um 9 3 % ) und 1861 um 13,66 Mio. Rubel (um 56%) 2 . Die Entwicklung des russischen Außenhandels im ersten Jahrzehnt der Reformära ließ die Tendenz erkennen, daß England seine Rolle als H a u p t h a n delspartner in der Periode des beschleunigten Wachstums der russischen Wirtschaft noch erheblich ausbauen würde. Seit 1861 stiegen nicht nur die russischen Exporte nach England stetig an (von 76,3 auf 1870 = 127,06 Mio. Rubel), sondern die englischen Exporte nach Rußland wiesen ein noch schnelleres Wachstum auf: von 1861 = 47,7 auf 1870 = 106,08 Mio. Rbl. Entsprechend verringerten sich während der 60er Jahre im russisch-englischen Handel die russischen Exportüberschüsse®. Der Durchbruch der industriellen Revolution in Preußen-Deutschland ließ es freilich nicht mehr zu, daß England als stärkste Industriemacht auch weiterhin nahezu unangefochten seine führende Rolle als Handelspartner Rußlands behaupten konnte. Auf der einen Seite gewann der sich schnell entwickelnde preußische Industriestaat als Abnehmer f ü r die russischen Agrarexporte eine wachsende Bedeutung 4 , während auf der anderen Seite die Industrie des deutschen Zollvereins stärker als bisher gegen die englische Konkurrenz auf den russischen M a r k t drängte. Die Ausfuhr aus dem Zollverein nach Rußland, die zwischen 1851 und 1861 nur um 90% zugenommen hatte, stieg im folgenden 88

Jahrzehnt um 329% (von 1861 = 37,9 auf 1871 = 162,5 Mio. Rbl). Im gleichen Zeitraum nahm die englische Ausfuhr nach Rußland nur um 103% zu. Hatte der Anteil der Einfuhren aus dem Gebiete des deutschen Zollvereins am Gesamtimport Rußlands 1861 noch 26,5% betragen, so stieg er bis 1871 auf 45,6%. Die Importe aus England dagegen machten 1871 nur noch 27,4% der russischen Gesamteinfuhr aus. Das handelspolitische Verhältnis Rußlands zum deutschen Zollverein und England hatte sich bis zum Beginn der 70er Jahre so entwickelt, daß das neue deutsche Reich mit nahezu 50% den ersten Platz im russischen Importhandel vor England mit etwas über 25% einnahm, als Exportland für russische Agrarexporte aber hinter England den zweiten Platz behauptete. Im Unterschied zu England entwickelte sich der Handel Rußlands mit dem deutschen Zollverein, der schon von jeher ein „ausgesprochener Aktivhandel" gewesen war, mit dem starken Anstieg der Einfuhren während der 60er Jahre für Rußland zu einem „Passivhandel in der prononciertesten Weise". 1861 hatte die Handelsbilanz des deutschen Zollvereins mit Rußland noch einen relativ niedrigen Exportüberschuß in Höhe von 13,66 Mio. Rubel ausgewiesen. 1871 hatte sich dieser Betrag auf 87,6 Mio. Rubel erhöht 5 . Die Struktur des in den 60er Jahren expandierenden deutschen Rußlandexportes legt die Wechselwirkung zwischen den sich stark erweiternden Absatzchancen für die Industrieprodukte der wirtschaftlich „entwickelten" europäischen Staaten auf dem „unterentwickelten" russischen Markt einerseits und dem beschleunigten Wachstum der deutschen Industrie andererseits offen. Der Export von Fertigfabrikaten der Textilindustrie aus dem deutschen Zollverein nach Rußland wies zwischen 1861 und 1871 eine kontinuierliche Steigerung auf, bei feineren Geweben z . B . um 57%". Die Bedeutung dieser Steigerung liegt darin, daß sie trotz der gerade bei Textilfabrikaten noch protektionistischen Sätze des russischen Zolltarifs möglich war und die technische Überlegenheit des Westens selbst auf dem am weitesten entwickelten Sektor der russischen Industrie demonstrierte. Bei einigen Produkten wie ζ. B. Geweben aus Seide und Wolle behauptete die Textilindustrie im Gebiete des deutschen Zollvereins während der 60er Jahre unangefochten den ersten Platz in der russischen Einfuhr. Die Entwicklung der russischen Importe von Baumwollfabrikaten aus dem deutschen Zollverein war weniger spektakulär, weil die russische Baumwollindustrie durch hohe Zollsätze geschützt und darüber hinaus auch hinsichtlich der Qualität ausländischen Produkten gewachsen war. Immerhin kamen zu Beginn der 70er Jahre ca. drei Viertel der russischen Importe an Baumwollfabrikaten aus dem Gebiete des deutschen Zollvereins 7 . Im Unterschied zu den Produkten der Textilindustrie behauptete England bei den russischen Importen von Produkten der Eisen- und Stahlindustrie und des Bergbaus auch in den 60er Jahren den ersten Platz, obwohl auch hier der Import aus dem deutschen Zollvereinsgebiet erhebliche Steigerungsraten aufwies. Die westeuropäischen Staaten profitierten vor allem von der Nachfrage nach Eisenbahnbaumaterial, die parallel zu dem forcierten Ausbau des russischen Eisenbahnnetzes während der zweiten Hälfte der 60er Jahre einsetzte. In diesem 89

Zusammenhang nahm auch bei Eisenfabrikaten die Ausfuhr aus dem deutschen Zollverein nach Rußland stark zu, zumal da die privaten Eisenbahngesellschaften regen Gebrauch von dem Zugeständnis der zollfreien Einfuhr von Material machten und selbst bei den in Rußland hergestellten Eisenbahnwaggons zum größten Teil ausländische Eisenteile, Räder, Puffer, Achsen, Federn usw. verwendet wurden 8 . Im Verlaufe der 70er Jahre vollzogen sich in den Voraussetzungen, unter denen der Export von Industrieprodukten aus dem Zollverein nach Rußland während der 60er Jahre einen starken Aufschwung genommen hatte, einschneidende Veränderungen. Dazu rechnet vor allem die „Große Depression", die 1873 in Deutschland die mehr als 20jährige Periode der industriellen Hochkonjunktur und in Rußland den erst mühsam in Gang gekommenen allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung beendete. Denn jetzt entwickelte sich nicht nur die russische Nachfrage nach Industriegütern rückläufig, sondern noch bevor durch die Einführung der Goldzölle ab Januar 1877 protektionistische Tendenzen wieder einen stärkeren Einfluß auf die russische Zollpolitik gewannen, leitete die zaristische Regierung zum Schutze der heimischen Industrie Maßnahmen ein, durch die die Absatzchancenn ausländischer Industrieprodukte auf dem russischen Markt noch weiter verringert wurden 9 . Die Entwicklung der deutschen Exportquote: 1873 = 2,4%, 1874 = 3,14%, 1875 = 9,3%, 1876 = 15,7% und 1877 = 21% signalisiert deutlich die seit der Depression nach 1873 schnell wachsende Bedeutung der auswärtigen Absatzmärkte für die deutsche Industrie 10 . Schon wegen der geographischen Nähe und seiner Größe richtete sich der steigende Exportdruck der deutschen Industrie vor allem auf den russischen Markt. N a c h der russischen Statistik gelang es der deutschen Industrie, ihren russischen Marktanteil gegen die englische Konkurrenz bald zu vergrößern. Zwischen 1873 und 1875 stieg der deutsche Export nach Rußland linear von 167 auf 221,4 Mio. Rubel. Das entsprach einem Anstieg der deutschen Einfuhren am russischen Gesamtimport von 40,2 auf 44,5%. Bis dahin hatten sich freilich noch nicht stärkere protektionistische Tendenzen in der russischen Wirtschaftspolitik durchgesetzt. Von den 2,4 Mio. Pud Gußeisen, die ζ. B. aus Preußen nach Rußland exportiert wurden, waren 2,2 Mio. Pud zollfrei 11 . Mit dem wachsenden Einfluß protektionistischer Tendenzen seit 1875 setzte prompt eine rückläufige Entwicklung des deutschen Industrieexportes nach Rußland ein. Dem Werte nach sank er von 1875 = 221,4 auf 1876 = 197,7 und 1877 = 148,5 Mio. Rbl. Dennoch ging das Vordringen des Protektionismus in der russischen Wirtschaftspolitik vor allem auf Kosten der englischen Konkurrenz. Denn der Anteil der deutschen Einfuhr am russischen Gesamtimport stieg weiter auf 1876 = 44,6% und 1877 auf mehr als die H ä l f t e (50,9%) 1 2 . Die Belebung der Nachfrage durch die Kriegskonjunktur der Jahre 1877 bis 1880 ermöglichte es, daß die deutsche Industrie nach dem Rückgang im Jahre 1878 (47,2%) im Jahre 1879 = 48,4% und 1880 = 49% einen Marktanteil behaupten konnte, der immer noch größer als vor Beginn der Depression war 13 . Ein ähnliches Bild ergibt sich nach der deutschen Ausfuhrstatistik. Danach ging zwar 90

der Anteil des Exportes nach Rußland an der deutschen Gesamtausfuhr von 1873 = 9,88% auf 1880 = 9,21% zurück. Dem Werte nach stieg er jedoch von 1873 = 347 Mio. Mark auf 1880 = 401,5 Mio. Mark 1 4 . Differenziert nach Warengruppen zeigt die Entwicklung des deutschen Rußlandexportes während der 70er Jahre, daß das „Exportventil" in bezug auf den russischen Markt zumindest teilweise funktionierte, und zwar trotz des verschärften protektionistischen Kurses der russischen Wirtschaftspolitik. N a türlich war die Entwicklung bei den einzelnen Warengattungen, deren Zahl sich bis zum Ende der 70er Jahre auf mehr als 900 erhöht hatte, unterschiedlich. Von den größeren Gruppen wiesen die Kolonialwaren den größten Rückgang auf. Ihr Anteil am deutschen Gesamtexport ging von 1872/73 = 26,52% auf 1880/81 = 10,9% zurück. Demgegenüber war der Rückgang bei den Produkten der Textilindustrie gering, zumal wenn man die hier besonders hohen protektionistischen Sätze des russischen Zolltarifs berücksichtigt. So fiel etwa bei Garn der Anteil des Rußlandexportes an der deutschen Gesamteinfuhr zwischen 1872/73 und 1880/81 von 20,71% auf 17,6%, bei Spinnstoffen von 14,59% auf 14,35%, bei Seiler-, Webe- und Wirkwaren von 5,48 auf 5% 1 5 . Die wichtigsten Exportartikel der Eisenindustrie wiesen teils einen Rückgang und teils eine Steigerung auf. Leicht rückläufig war der Anteil der Metallwaren (von 11,32 auf 11,14%), stärker dagegen der Rückgang bei Maschinen, Fahrzeugen und Apparaten (von 23,28% auf 20,25%). Dagegen stiegen rohe Metalle von 4,86% auf 11,03% und roh bearbeitete Metalle von 19,06 auf 22,86% l e . Der Blick auf die Rolle, die der Rußlandexport während der 70er Jahre für die Entwicklung führender Zentren der deutschen Eisenindustrie und des Maschinenbaus spielte, macht eutlich, daß das Exportventil nicht zuletzt dank intensiver Wahrnehmung von Absatzchancen auf dem russischen Markt funktionierte. Der starke Rückgang der Exportquote im Jahre 1878 fiel nicht zufällig mit einem rückläufigen Anteil an der russischen Gesamteinfuhr zusammen17. 1. Die württembergische Eisenindustrie: Wie der württembergische Industrielle Decker 1878 vor der Eisenenquetekommission des Bundesrates zu Protokoll gab, hatten mehrere Maschinenfabriken in Eßlingen während der letzten Jahre erhebliche Mengen an Lokomotiven, hydraulischen Motoren, Mühleneinrichtungen, Maschinen für Papiereinrichtungen sowie kleinere Maschinen nach Rußland exportiert. Decker selber, der Lokomitiven, Dampfmaschinen, -pumpen und -kessel in mehrere europäische Staaten exportierte, hatte noch kurz vorher aus Rußland einen Auftrag über 11 Kessel in Höhe von 60 000 Mark erhalten, wobei der russische Auftraggeber eine Ausnahmeregelung für die freie Einfuhr hatte erreichen können 18 . 2. Die bergisch-märkische Eisenindustrie: Hier waren es neben der Kleineisenindustrie in Hagen, Remscheid und Solingen auch größere Eisenwerke dieses Bezirks (wie Mannesmann in Remscheid mit einer Exportquote von ca. 50%), 91

die seit 1873/74 einen wachsenden Anteil ihrer Produktion auf dem russischen Markt absetzten 19 . 3. Die Berliner und die sächsische Maschinenbauindustrie: Der in der 1870er Jahren schnell steigende Exportanteil der größten sächsischen Maschinenfabriken ging zu einem erheblichen Teil auf die Steigerung des Rußlandexportes zurück. Wie stark die sächsische Maschinenbauindustrie von ihm abhängig wurde, geht aus der Feststellung Hartmanns hervor, daß seine Bilanz nach den Verlusten der Vorjahre zwar wieder im Geschäftsjahr 1877/78 mit Gewinn abschloß, der sogar den Verlust der Vorjahre kompensierte, daß andererseits aber dieser Gewinn in der Hauptsache auf die stark angestiegene russische Nachfrage nach Lokomotiven zurückging und sich der Export nach Rußland von 16,43% der Produktion des Jahres 1876/77 auf 47,74% im Geschäftsjahr 1877/78 erhöht habe 20 . Die Maschinenfabrik Gruson in Buckau (Magdeburg), deren Exportanteil zwischen 15 und 20% schwankte, lieferte zwischen 1873 und 1878 regelmäßig einen großen Teil ihrer Produktion an Eisenteilen aus Hartguß nach Rußland. 1876 konnte sie neu mit Pulvermaschinen ins Rußlandgeschäft einsteigen21. Eine besondere Abhängigkeit von russischen Aufträgen zeigt die Absatzentwicklung der Berliner Maschinenbau-Aktiengesellschaft von L. Schwartzkopff während der 70er Jahre. Schwartzkopff, der neben Dampfmaschinen und -hämmern, Eisenbahneinrichtungen, Weichen, Drehscheiben, Brücken usw. hauptsächlich Lokomotiven produzierte, setzte in den Geschäftsjahren 1870/71 und 1871/72 31 bzw. 30 Lokomotiven auf dem inländischen, aber 38 bzw. 82 Lokomotiven auf dem ausländischen Markt, vor allem dem russischen, ab. In den Jahren 1872/73 bis 1874/75 verlor infolge der stärker gestiegenen inländischen Nachfrage nach Lokomotiven der russische Markt wieder relativ an Bedeutung. In diesen Jahren setzte Schwartzkopff 65/136/113 Lokomotiven auf dem inländischen und 54/4/17 Lokomotiven auf ausländischen Märkten ab. Seit 1874/75 gewann mit der rückläufigen inländischen Nachfrage jedoch der russische Markt für Schwartzkopff wieder eine hervorragende Bedeutung. Zwischen 1874/75 und 1877/78 setzte er auf dem Binnenmarkt nur 16/9/20 Lokomotiven, dagegen 84/40/48 auf ausländischen Märkten ab. Die Gesamtzahl der Lokomotiven, die Schwartzkopff und die Berliner Maschinenfabrik Borsig zwischen 1866 und 1878 nach Rußland exportierte, belief sich auf ca. 800 22 . 4. Die rheinisch-westfälische Industrie: Für die rheinisch-westfälische Eisenund Stahlindustrie gab die Depression der 70er Jahre den Anstoß, den Absatzrückgang auf dem Binnenmarkt durch verstärkte Exportanstrengungen zu kompensieren, um - die vorhandenen Produktionskapazitäten „halbwegs" auszulasten 23 . Nahezu sämtliche Firmen dieses deutschen Industriereviers der Bochumer Verein, Phoenix/Ruhrort, die Gutehoffnungshütte in Oberhausen, Poensgen in Düsseldorf, Krupp in Essen, Hoesch und Haniel in DuisburgRuhrort, die Friedrich-Wilhelms-Hütte bei Müllheim, der Hörder Bergwerksund Hüttenverein, die Westfälische Union in H a m m - konzentrierten dabei 92

ihre Exportanstrengungen mit deutlich erkennbarem Erfolg auf den russischen Markt. Außer der industriellen Stockung bildeten der forcierte Ausbau des russischen Eisenbahnnetzes und die von der russischen Industrie nicht zu bewältigende Nachfrage nach qualitativ hochwertigen Eisenbahnbaumaterialien die entscheidenden Faktoren f ü r die Expansion nach Osten. Das Röhrenwerk Poensgen in Düsseldorf z. B. - mit einem Röhrenexport von 38 000 Ztr. im Jahre 1878 der größte Röhrenexporteur des Deutschen Reiches - setzte 1876 gegen starke englische und belgische Konkurrenz den größten Teil seiner Exporte von Siederöhren f ü r den Lokomotivbau auf dem russischen Markt ab: 10 698 Ztr. Im Vergleich dazu gingen nach Frankreich nur 2 124 Ztr. 1877 exportierte Poensgen zwar keine Siederöhren nach Rußland, dafür stand er aber mit 4 488 Ztr. an erster Stelle der exportierten Gasröhren, gefolgt von Frankreich mit 3 052 Zentnern 24 . Für die vier Werke der Westfälischen Union in H a m m , Nachrodt, Lippstadt und Werdohl war Rußland bereits 1873 das erste Exportland für Walzdraht und Stabeisen vor Holland (Gesamtexport dorthin: 187 088, Österreich: 183 482, England: 152 596 kg). Im Zeitraum zwischen 1873 und 1877 steigerte die Westfälische Union mit ihrem Gesamtexport (1873 = 1,18, 1874 = 2,06, 1875 = 2,46, 1876 = 6,05, 1877 = 12,58 Mio. kg) auch ihren Rußlandexport vor allem bei Walzdraht ganz erheblich 25 . Außer Firmen wie Poensgen und die Westfälische Union, die aufgrund ihres spezifizierten Produktionsprogramms in besonders hohem Maße vom Ausbau des russischen Eisenbahnnetzes profitierten, teilten sich die anderen großen Werke der rheinisch-westfälischen Eisenindustrie die Anteile am steigenden Rußlandexport von Eisenbahnmaterialien wie Eisen- und Stahlschienen, Achsen, Räder, Bandagen, Bleche, Bandeisen, Bauträger usw. 26 . Für Phoenix, das Dortmunder Stahlwerk von Hoesch und für die Gutehoffnungshütte in Oberhausen wurde Rußland bis 1877 zum H a u p t e x p o r t m a r k t f ü r Stahl- und Eisenschienen 27 . Daneben gab es eine Reihe von Firmen, die dort in den 70er J a h ren erhebliche Anteile ihrer Produktion absetzten. Die Firma Haniel in Ruhrort lieferte Mitte der 7Oer Jahre „große Quantitäten Eisen und Stahl nach Rußland", die Friedrich-Wilhelm-Hütte bei Mülheim exportierte Gießerei-Roheisen, Gußwaren, Röhren und Maschinen, und der Hörder-Bergwerks- und Hüttenverein hatte einen „starken Export" nach Rußland u. a. von Schienen 28 . Eine besondere Stellung nahm das Krupp-Werk in Essen während dieser Expansionsphase der deutschen Industrie ein. Denn es lieferte nicht nur Lokomotiven, Waggons, Schienen, Bleche usw., sondern auch Rüstungsmaterial nach Rußland. Im Geschäftsjahr 1877/78 erhöhte K r u p p f ü r seine Produktion in Essen die Arbeiterzahl von 8 400 (1876/77) auf 9 000 wegen der „bedeutenden Kanonenbestellungen aus Rußland", die kurzfristig geliefert werden mußten 29 . 5. Die oberschlesische Industrie: Wegen ihrer N ä h e zum russischen M a r k t hatte die oberschlesische Industrie gegenüber anderen deutschen Industriegebieten zwar erhebliche Vorteile, geriet aber durch die stetige Steigerung ihres Ab93

satzes dorthin in eine einseitige Exportabhängigkeit. Diese konnte nur ζ. T. durch die gleichzeitige Expansion auf anderen benachbarten Märkten gemindert werden, so etwa von dem Puddel- und Walzwerk Hegenscheidt in Kattowitz, das zusammen mit einer angegliederten Drahtfabrik in Gleiwitz Walzeisen und Drahtfabrikate sowohl nach Russisch-Polen als auch nach Österreich und Rumänien exportierte 30 . Für die größten Unternehmen der oberschlesischen Industrie war der russische Markt bis zur Mitte der 70er Jahre zum zentralen, ausländischen Absatzgebiet geworden, dessen Bedeutung nach dem Beginn der Depression und dem in Österreich 1876 einsetzenden Industrieprotektionismus noch erheblich zunahm. Nachdem ζ. B. die Bismarckhütte bei Schwientochlowitz bis 1878 den österreichischen M a r k t als Absatzgebiet für Rohschienen, Handelseisen und Fassoneisen verloren hatte, blieb Rußland als „bestes auswärtiges Absatzgebiet" übrig. Während die Bismarckhütte in N o r maljahren den größten Teil ihres Exportes in Russisch-Polen absetzte, ermöglichte die vorübergehende Zurückdrängung der englischen und belgischen Konkurrenz durch die Blockade während des russisch-türkischen Krieges auch „einen sehr schönen Export nach Odessa und Kiew", so daß vorübergehend der Export den Absatz auf dem inländischen Markt überstieg 31 . Ähnlich stieg der Export der Königs-Laura-Hütte nach Rußland zwischen 1875 und 1878 stetig an, während der Export nach Österreich infolge der Zollerhöhungen auf Rohschienen vom Mai 1877 nahezu völlig aufhörte 3 2 . Für die Borsig-Werke in Oberschlesien, die durchschnittlich 25% ihrer Produktion exportierten, verlor der österreichische Markt seit Beginn der Depression zunehmend an Bedeutung als Absatzgebiet f ü r Roheisen, während seit 1873/74 zunehmend größere Teile der Produktion zu Preisen, die erheblich über denen des Binnenmarktes lagen, auf dem russischen Markt abgesetzt wurden 33 . Auch die Gleiwitzer H ü t t e exportierte wie die anderen führenden Eisenhütten dieses Bezirks (Donnersmarck-Hütte, Tarnowitzer Hütte) weit Beginn der 1870er Jahre zunehmend größere Mengen von Roheisen, Rohschienen, Gußwaren, Stabeisen und Blechen nach Rußland 3 4 . Nicht nur f ü r Produkte der Eisenindustrie gewann der russische M a r k t in den 1870er Jahren eine hervorragende Bedeutung, sondern auch f ü r den Bergbau und die Zinkindustrie Oberschlesiens. Infolge des stark wachsenden russischen Kohlebedarfs, der vom einheimischen Bergbau nicht gedeckt werden konnte, setzte der oberschlesische Bergbau seit Mitte der 70er Jahre im Jahresdurchschnitt ca. 2,5 bis 3 Mio. Ztr. Kohle in Rußland zollfrei ab. Gleichzeitig erreichte der Zinkexport eine „beträchtliche Höhe". 1877 wurden allein von der „Schlesischen Aktiengesellschaft für Bergbau und Zinkhüttenbetrieb" ca. 40 000 Ztr. Zink nach Rußland exportiert 35 . Die Entwicklung der deutschen Industriewirtschaft nach 1879 widerlegte scheinbar die pessimistischen Prognosen der Freihandelsanhänger, daß der Übergang zum Industrieprotektionismus eine Verminderung von Exportchancen zur Folge haben werde. Im Gegenteil zeigte die Entwicklung der Exportquote f ü r die gesamte Industrie, daß das „Exportventil" zwischen 1879 und 94

1885/86 im großen und ganzen funktionierte 3 ". In bezug auf die „Dynamik der Exportquote" erwies sich der freihändlerische Skeptizismus dennoch als nicht ganz unberechtigt. Denn nach dem Einbruch des Jahres 1878 stieg die Exportquote 1879 zwar steil an, sank jedoch nach dem Höchststand wieder von 1880 ab, ohne daß sich während der ganzen Periode eine durchgreifende Besserung der Konjunktur gezeigt hätte. Die Lage der deutschen Eisenindustrie spiegelt ziemlich genau diese Entwicklung wider. Im Sog einer von den USA ausgehenden Wiederbelebung der Industriekonjunktur auf dem Weltmarkt machte sich „genau von dem Zeitpunkt ab, in dem der neue Zolltarif in Wirksamkeit trat", in fast allen Bereichen der deutschen Eisenindustrie und des Maschinenbaus eine „erfreuliche Wendung zum Besseren" bemerkbar 37 . Die bis zum Jahresbeginn 1882 vorliegenden Daten der industriellen Entwicklung ließen die wenn auch noch vorsichtige Annahme zu, daß die deutsche Eisenindustrie nach der Depression der 70er Jahre mit Beginn der 80er Jahre in eine neue Aufschwungsphase eingetreten war. Die Zahl der in der deutschen Eisenindustrie Beschäftigten hatte zwar noch nicht den Stand der „Gründerjahre" vor 1873 erreicht. Sie war jedoch im Verlaufe der Jahre 1879 bis 1881 stetig gestiegen, und die Produktion wies in allen Bereichen der Eisenindustrie eine „ansehnliche Steigerung" auf 38 . Für sich allein war der Anstieg der Produktion allerdings noch „kein Beweis f ü r einen tatsächlich vorhandenen Aufschwung" 3 9 . Die Preisentwicklung ließ eher eine skeptische Beurteilung der Konjunkturentwicklung als berechtigt erscheinen. So hatten die Preise in der Eisenindustrie zwar von Mitte 1880 bis Oktober 1880 angezogen, fielen dann aber bis Frühjahr 1881 auf einen Tiefstand ab. Erst ab Juli 1881 trat nach einigen Schwankungen eine teilweise Steigerung ein, die kurz nach Jahresbeginn 1882 ihren H ö h e p u n k t erreichte, sich bis Juli wieder abschwächte und dann bis Jahresende 1882 ziemlich fest blieb 40 . Im Unterschied zur Preisentwicklung aber hatte sich in bezug auf die Sicherung des inneren Marktes gegen die ausländische Konkurrenz „die neue H a n delspolitik mit ihrer Tendenz, Rohstoffe in der Regel zollfrei zu belassen, von den Halbfabrikaten nur Zollsätze von durchschnittlich mäßiger H ö h e zu erheben, recht gut bewährt" 4 1 . Unmittelbar nach dem Inkrafttreten des neuen Zolltarifs zeigte sich die Wirkung dieser „Tendenz" darin, daß die Einfuhr von Eisenfabrikaten aller Art um mehr als die Hälfte, bei einzelnen Produkten sogar um zwei Drittel und mehr zurückging. Die erheblichen Mindereinfuhren bei H a l b - und Fertigfabrikaten, wo die Bedarfsdeckung jetzt von der heimischen Industrie übernommen werden konnte, sowie die Überzeugung, daß es der deutschen Eisenindustrie mit dem Zolltarif von 1879 gelungen war, „bis zu einem gewissen Grade den einheimischen Markt zu sichern", gaben der deutschen Industrie die „notwendige Sicherheit der Produktion" wieder 42 . Jetzt kam es, begünstigt durch die flüssige Lage des Kapitalmarktes und ein niedriges Zinsniveau darauf an, die „verlustbringenden Preise durch Vervollkomm95

nung der Fabrikation, mit welcher eine Vermehrung H a n d in H a n d ging, möglichst zu paralysieren" 43 . Damit konnte die deutsche Eisenindustrie nicht nur eine gesteigerte Nachfrage auf dem Binnenmarkt auch bei relativ niedrigem Preisniveau noch mit Gewinn befriedigen 44 , sondern ein zusätzliches Exportpotential entwickeln, das schubartig auf die Auslandsmärkte drängte. Während die Einfuhren bei Halb- und Fertigfabrikaten zwischen 1880 und 1882 bis auf einzelne Ausnahmen spürbar zurückgingen, wiesen diese Produkte einen „schnell steigenden Export" auf. Die Mehreinfuhr bei Roheisen brauchte nicht als „ungünstiges Zeichen" gewertet zu werden. Sie entsprach vielmehr der „Tendenz" des Tarifs von 1879, denn es war lohnender, „anstatt des Roheisens die daraus hergestellten Fabrikate zu exportieren" 45 . Am Jahresende 1881 traf der Vorsitzende des „Vereins deutscher Eisenhüttenleute" sicher den doppelten Kern des sich abzeichnenden konjunkturellen Aufschwungs, als er die „rege Tätigkeit" auf allen Gebieten der Eisen- und Stahlindustrie auf die „gesteigerte Nachfrage des Inlandes" und den „stets wachsenden Export" zurückführte 4 9 . In den Jahren zwischen 1880 und 1882, in denen die deutsche Industrie ein wachsendes Exportpotential entwickelte, ging freilich die Bedeutung des russischen Marktes f ü r den deutschen Industrieexport zurück. In Verbindung mit dem Ende der Nachkriegskonjunktur schlugen die im Januar 1881 in K r a f t tretenden protektionistischen Maßnahmen auf den russischen Importhandel in ganzer Breite durch 47 . Danach gab es jedoch in der ersten Jahreshälfte 1882 Anzeichen dafür, daß sich nicht nur der Aufschwung der deutschen Eisenindustrie fortsetzte, sondern auch die rückläufige Entwicklung im Export nach Rußland sich wieder umkehren würde. Aufgrund der starken Nachfrage aus Rußland und dem übrigen Ausland war im Juli 1882 ζ. B. der größte Teil der deutschen Produktion an Walzdraht bereits f ü r die nächsten Monate verkauft, während eine Reihe von Produkten der deutschen Eisenindustrie im Rußlandexport immerhin ermutigende Steigerungsraten aufwiesen, bei anderen allerdings sich die rückläufige Entwicklung des Jahres 1881 fortsetzte 48 . Trotz des 1881 und 1882 zu konstatierenden Rückgangs behielt der russische M a r k t eine nicht zu unterschätzende Bedeutung als Absatzgebiet der deutschen Eisenindustrie. Der auffallend starke Rückgang des Exportes von Eisenbahnschienen und Lokomotiven war weniger eine unmittelbare Folge der Zollerhöhungen als der Stagnation im Eisenbahnbau und der bevorzugten Vergabe von Staatsaufträgen an die heimische Industrie 49 . Die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie auf dem russischen Markt wurde durch die Zollerhöhungen noch keineswegs generell in Frage gestellt, zumal andere wichtige Exportartikel wie landwirtschaftliche Maschinen und Geräte weiterhin zollfrei eingeführt werden konnten. Zwar rangierte Rußland während der ersten drei Quartale des Jahres 1881 im Export von deutschem Roheisen nur an sechster Stelle hinter Belgien, Frankreich, Österreich, den Niederlanden und den Vereinigten Staaten, und der größte Teil des deutschen Exportes von Brucheisen ging nach Österreich. Aber der russische Anteil am deutschen Export von H a l b - und Fertigfabrikaten zeigt ein anderes Bild. Für 96

schmiedbares Eisen in Stäben, einem der „wichtigsten Ausfuhrartikel der deutschen Eisenindustrie", war Rußland der wichtigste Konsument vor Belgien. Im Export von Eisendraht und Drahtstiften, die unter den Eisenwaren die größte Exportsteigerungsrate aufwiesen, stand Rußland immerhin an dritter Stelle hinter den Vereinigten Staaten und England. Bei den groben Eisenwaren gehörte Rußland vor den Niederlanden mit zu den „wichtigsten Abnehmern" 5 0 . Eine ähnliche Entwicklung wie der Rußlandexport der deutschen Eisenindustrie zeigte - trotz der hohen Importzölle 5 1 - die Entwicklung des Exportes der deutschen Textilindustrie zwischen 1880 und 1882. Einem Rückgang im Jahre 1881 folgte 1882 ein Anstieg, der bei einzelnen Posten das Niveau von 1880 erreichte und teilweise überstieg. So zeigte der Export von wollenen und nichtwollenen Geweben nach dem Rückgang des Jahres 1881 insgesamt eine Steigerung, die bei wollenen Geweben den Rußlandexport über den Stand von 1880 hob. Das entspricht auch dem großen Anteil (1882 = ca. ein Drittel), den deutsche Wollwaren nach wie vor an der russischen Gesamteinfuhr hatten 52 . Auch als Absatzgebiet f ü r den deutschen Steinkohlebergbau, die Zink-, Blei-, Zement- und Salzproduktion nahm die Bedeutung des russischen Marktes zwischen 1880 und 1882 nicht ab, sondern zu 53 . Dabei kam der größte Teil dieser Exporte aus dem oberschlesischen Industriegebiet 54 . Insgesamt entwickelte sich der Anteil Rußlands am deutschen Gesamtexport mit 1881 = 6,2% gegenüber den Vorjahren rückläufig und mit dem geringfügigen Anstieg 1882 = 6,5% blieb er erheblich unter dem Stand des Jahres 1880 mit 7,8% 55 . In diesen Jahren einer sich wenn auch nur zögernd belebenden Konjunktur gewährte die „neue Wirtschaftspolitik" der deutschen Industrie noch eine Reihe von Kompensationen f ü r die verminderten Absatzchancen auf dem russischen Markt. Die „tastende Expansion" der deutschen Industrie auf überseeischen Märkten, die freilich kurzfristig kaum von einer nachhaltigen Wirkung für den industriellen Aufschwung sein konnte5®, bildete nur die spektakulärste Seite eines umfassenden Wirtschaftsförderungsprogramms, das einerseits der deutschen Eisenindustrie erweiterte Absatzchancen auf dem Binnenmarkt bot, andererseits darauf abzielte, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie auf den internationalen Märkten zu erhöhen. Nicht nur der Boom im amerikanischen Eisenbahnbau und die steigende Nachfrage auf den westeuropäischen Märkten stützten die Industriekonjunktur zwischen 1879 und 1882, sondern auch die bevorzugte Vergabe von Aufträgen der preußischen Eisenbahnverwaltungen an die heimische Industrie auf Kosten der ausländischen Konkurrenz. In dieser Hinsicht erwiesen sich die zwischen 1879 und 1882 durchgeführten großen Verstaatlichungsoperationen preußischer Eisenbahnen als eine durchaus industriefreundliche Operation. Wie schon in der Gründerzeit, als die Eisenindustrie durch Aufträge des Staates und der Eisenbahnen überhäuft wurde 57 , war es auch jetzt wieder vorrangig, das Interesse der Militärverwaltung an einer Steigerung der allgemeinen Kriegsbereitschaft, das der deutschen Eisenindustrie weitere Absatzchancen zu „lohnenden Preisen" garantierte. Von dem 1880 in Preußen produzierten schmiedbaren Ei7

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sen waren immerhin 31,5% für den Eisenbahnbedarf bestimmt, von der Flußeisenproduktion sogar 80% 58 . Die Jahre 1881 und 1882 brachten eine bevorzugte Behandlung der heimischen Industrie bei der Vergabe von Aufträgen an Oberbaumaterial und Betriebsmittel für die preußischen Staatsbahnen. Während 1880 gegenüber 1879 der Lokomotivbestand des Reiches nur um acht Stück angewachsen war, industrielle Berechnungen den jährlichen Mehrbedarf aber auf ca. 500 Stück schätzten, konnte die deutsche Industrie 1882 darauf verweisen, daß die Verstaatlichung der preußischen Eisenbahnen ihr bisher „sehr reiche Aufträge" gebracht habe. Im Etat für 1882/83 war der Bedarf der preußischen Staatsbahnen an Oberbaumaterial aus Stahl und Eisen (ohne Schienen) mit 75 090 t, an Stahlschienen mit 38 793 t, an Steinkohlen und Koks mit 1,06 Mio. t veranschlagt 59 . „Neue Aussichten für die Eisen- und Stahlindustrie" 60 eröffneten sich im Rahmen der „neuen Wirtschaftspolitik" auch auf dem Gebiete des Schiffbaus und der Flußschiffahrt. Vor allem kam die Marineverwaltung den Erwartungen der deutschen Eisenindustrie entgegen, indem sie bei der Auftragsvergabe die englische Konkurrenz immer häufiger zurückwies. So fielen ζ. B. der Dillinger Hütte vermehrte Aufträge zur Herstellung von Compound-Panzerplatten zu, und spätestens seit 1882 verwendete die Marine im Unterschied zu den Privatschiffswerften ausschließlich Material der deutschen Blechindustrie 61 . Eine kompensatorische Funktion für verminderte Exportchancen auf dem russischen Markt hatte die „neue Wirtschaftspolitik" auch auf dem Gebiete des Verkehrswesens. Die neue Organisation der Staatseisenbahnverwaltung, die starke Repräsentation industrieller Interessenvertreter im „Ausschuß der Verkehrsinteressenten" und in der „Eisenbahntarifkommission", die Aktivitäten des „Westfälischen Kohlenausfuhrvereins" sowie die Wiederbelebung des „Centraivereins zur Hebung der deutschen Fluß- und Kanalschiffahrt" bildeten den institutionellen Rahmen, in dem die Interessen der rheinisch-westfälischen Eisen- und Montanindustrie wirksam vertreten werden konnten 62 . Aber während das zunehmende Gewicht, das sie auf verkehrspolitische Erleichterungen legte, weniger eine unmittelbare Reaktion auf die russischen Zollerhöhungen darstellte, sondern eher auf den Anpassungsdruck zurückzuführen war, den die verschärften Konkurrenzbedingungen auf den internationalen Märkten ausübten, legte die oberschlesische Industrie vorrangig Gewicht darauf, auf verkehrspolitischem Gebiet Kompensationen für Benachteiligungen zu erreichen, die ihr durch Rußland und Österreich-Ungarn zugefügt wurden. Die Ermäßigung von Frachttarifen auf den Eisenbahnlinien, die das oberschlesische Industriegebiet mit dem Binnenmarkt verbanden, erwies sich als ein hervorragend geeignetes Mittel, um die Absatzchancen für Produkte der oberschlesichen Industrie nach der noch „einzig freien Seite" hin gegen die rheinisch-westfälische und englische Konkurrenz zu erhöhen 63 . Angesichts der großen Bedeutung, die der Stettiner Kohlenmarkt für die Versorgung Berlins hatte, leitete ζ. B. der oberschlesische Bergbau mit Kartellabsprachen und Ausnahmetarifen für Transporte nach Stettin die Phase eines verschärften Kampfes um den Binnen98

markt ein®4. Darüber hinaus konnte die oberschlesische Industrie auf verkehrspolitischem Gebiete bis zu einem bestimmten Grade die Konkurrenznachteile reduzieren, die ihr auf ihrem „natürlichen Markt" durch die russische Zollpolitik entstanden waren. Wie „belebend" eine „wirkliche Frachtermäßigung" auf die oberschlesische Industrie wirkte, läßt sich daran demonstrieren, daß sich schon bald nach der Einführung eines verbilligten Tarifs f ü r Transporte nach Stettin „ein Export in oberschlesischem Walzeisen nach Riga bzw. Libau hinaus bis Charkow und Umgegend nach Südrußland entwickelt" hatte, wodurch wiederum die Eisenbahnverwaltungen, auf deren Linien die direkten Transporte von oberschlesischem Walzeisen nach Südrußland bisher hauptsächlich durchgeführt worden waren, ihrerseits zu erheblichen Frachtermäßigungen gezwungen wurden 65 . Außerdem zeigte sich auch die Direktion der oberschlesischen Eisenbahnen bereit, für Eisenbahntransporte von oberschlesischen Produkten auf dem direkten Wege zum russischen Absatzgebiet tarifliche Kompensationen für handelspolitische Benachteiligungen zu gewähren 66 . Darüber hinaus zog die oberschlesische Industrie aus den erschwerten Bedingungen für den Warenexport nach Rußland die Konsequenz des verstärkten Kapitalexportes. Angesichts der günstigen geographischen Bedingungen erwies sich die protektionistische russische Zollpolitik geradezu als Stimulans für anhaltende Kapitalinvestitionen der oberschlesischen Industrie in der Montanindustrie von Sosnowice und Czenstochau. Die Zolltariferhöhung vom Juli 1882 war f ü r viele oberschlesische Industrielle der letzte Anstoß, um jenseits der Grenze Zweigwerke zu etablieren, die ihre Rohstoffe und ihr Heizmaterial zum großen Teil aus Oberschlesien bezogen". Das Ende des Eisenbahnbooms in den Vereinigten Staaten, das eine neue Abschwungsphase der internationalen Industriekonjunktur einleitete, markierte auch einen neuen Abschnitt im Verhältnis der deutschen Industrie zum russischen Markt. Während seit Jahresende 1882 der Export von Eisenbahnmaterial deutlich zurückging und der deutsche Eisenmarkt zunehmend „flauer" wurde, blieb zwar der Markt f ü r Eisenbahnmaterial noch „ziemlich günstig", da von den preußischen Eisenbahnverwaltungen „nicht unbeträchtliche Quantitäten Schienen sowie Befestigungsmaterial auf dem Submissionswege zu lohnenden Preisen vergeben worden" waren, aber für einen längeren Zeitraum konnten staatliche Submissionen die Konjunktur auf dem deutschen Eisenmarkt ebensowenig stützen wie die von der Industrie durchaus anerkannten Bemühungen der Staatseisenbahnverwaltungen, den Wünschen nach billigen Transporttarifen entgegenzukommen 68 . Auch während dieser bis 1886 andauernden Depressionsphase funktionierte zunächst das „Exportventil". Das zeigt die Entwicklung des Exportes von Eisen- und Stahlfabrikaten sowie Maschinen. Hier stieg die Exportquote, die in der Phase des allgemeinen Aufschwungs zwischen 1880 und 1882 von 30,16% auf 27,57% zurückgegangen war, sofort wieder auf 29% im Jahre 1883 69 . Auf der anderen Seite läßt sich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Verlauf der neuen Depressionsphase und den durch die zunehmende Absperrung des russischen Marktes verminderten Exportchan7·

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cen aufzeigen. Schon der Anstieg des deutschen Rußlandexportes während des Jahres 1882 war nicht zuletzt auf die Erwartung neuer Erhöhungen des russischen Zolltarifs zurückzuführen. Die großen und stark auf den Export nach Rußland orientierten Werke der westfälischen Eisenindustrie profitierten zunächst noch von der Zollerhöhung auf Walzdraht im Juli 1882, da die russischen Ziehereien und Stiftenfabriken große Bestellungen aufgaben, um noch vor dem Inkrafttreten der neuen Zollsätze möglichst große Mengen Walzdraht einzuführen. Da die russischen Firmen auch noch eine Hinausschiebung der Zollerhöhungen durchsetzen konnten, waren die Kapazitäten der westfälischen Drahtindustrie f ü r mehrere Monate „aufs äußerste in Anspruch genommen", was wiederum auf die Produktion von Roh- und Halbfabrikaten positiv zurückwirkte 7 0 . Diesem „scheinbaren Wachsen" des deutschen Rußlandexportes mußte aber kurz darauf „ein um so größerer Rückschlag naturgemäß folgen". In den ersten Monaten des Jahres 1883 machte sich auf dem Markt f ü r Eisenwalzdraht eine „große Stille" bemerkbar. „Der Ausfall des Exportes nach Rußland", notierte der Marktbericht f ü r April 1883, „hat einen anderweitigen Ersatz noch nicht gefunden, und bleibt daher ein erheblicher Teil des Arbeitsbedürfnisses vorderhand ungedeckt". Einen Monat später dauerte die „Stille" noch an, so daß sich alle Erwartungen an das Ausland anknüpften, „von welchem erneute Anregungen jedoch noch nicht ausgegangen" waren. Im Verlaufe des Jahres 1883 kam der deutsche Rußlandexport in Eisendraht ganz zum Erliegen 71 . Infolge einer weiterhin „ungünstigen Lage des internationalen Eisenmarktes" und einer weiteren „Verminderung des Exportes" setzte sich auch bei Eisenbahnmaterial die „unleugbar vorhandene Abnahme der Nachfrage" bis zum Jahresende 1883 fort. Speziell die verminderte Ausfuhr von Schienen und D r a h t nach Rußland machte sich um so nachhaltiger bemerkbar, als nicht nur die deutsche, sondern auch die englische Eisenindustrie f ü r beide Artikel den russischen und den nordamerikanischen Markt als verloren ansehen mußten und - ähnlich wie in der zweiten H ä l f t e der 70er Jahre - „die Konkurrenz der englischen Überproduktion" auf sämtliche Bereiche der deutschen Eisenindustrie zurückwirkte 7 2 . Wenn auch die Erhöhung der Zölle auf verschiedene Walzeisensorten vom Juli 1882 den Rußlandexport der rheinisch-westfälischen Eisenindustrie, die bis dahin ca. 600 000 t Walzeisen (Walzdraht, Rund-, Quadrat-, Flach- und Bandeisen) jährlich auf dem russischen Markt abgesetzt hatte, besonders hart traf, so bedeutete das doch keineswegs, daß damit der Rußlandexport der deutschen Eisenindustrie insgesamt einen entscheidenden Schlag erlitten hatte. Der allgemeine Rückgang der Preise und Gewinne übte während des Jahres 1883 auf die Lage der deutschen Eisenindustrie eine nachhaltigere Wirkung aus als die erschwerte Absatzchance auf dem russischen Markt 7 3 . Im Gegenteil funktionierte das „Exportventil" auch noch in bezug auf den Rußlandexport. Während ζ. B. der Export von Eisendraht und Eisenbahnschienen gegenüber dem Vorjahr drastisch zurückging, war der Rückgang bei anderen Produkten wie schmiedbarem Eisen in Stäben weniger stark. Dagegen wies die Ausfuhr von 100

Maschinen, Dampfkesseln, groben Eisenwaren, rohen Platten und Blechen und vor allem von Roheisen eine Steigerung auf. I m Unterschied zu den Produkten der Eisenindustrie ging der Rußlandexport von Produkten der Textilindustrie 1883 gegenüber dem Vorjahr auf der ganzen Linie zurück. N a c h den Zollerhöhungen von 1882 hatte die Verzollung von Produkten der Textilindustrie eine H ö h e erreicht, die die Rentabilität des deutschen Exportes überhaupt in Frage stellte. Erst die erneuten Zollerhöhungen von 1884 und 1885 schlugen auch im Rußlandexport der deutschen Eisenindustrie auf der ganzen Linie durch. Mit Ausnahme von Roheisen, das in immer größeren Mengen nach Rußland exportiert wurde, war der Rußlandexport sämtlicher Produkte der deutschen Eisenund Textilindustrie während der J a h r e 1883 bis 1885 durch einen mehr oder weniger starken Rückgang gekennzeichnet 7 4 . T r o t z ihrer N ä h e zum russischen Markte war auch die oberschlesische Eisenindustrie nicht mehr in der Lage, die erneute Erschwerung der Absatzchancen anderweitig zu kompensieren. D a ß hier der „allgemeine Niedergang der Industrie, vor allem der Montanindustrie" in unmittelbarem Zusammenhang mit der schrittweisen Abschnürung der oberschlesischen Industrie von ihrem „natürlichen" Absatzgebiet stand, macht der R ü c k g a n g des Rußlandexportes aus Oberschlesien deutlich. 1884 ging besonders stark der E x p o r t von Eisenblechen, Eisenwaren, Maschinen und Walzeisen zurück. Die Einnahmen der Zollkammer Sosnowice, wo der größte Teil der E x p o r t e nach Rußland abgefertigt wurde, sanken trotz der erhöhten Zölle. Infolge des 1885 eingeführten Zolles auf landwirtschaftliche Maschinen und Geräte ging jetzt auch der Maschinenexport aus Oberschlesien stark zurück 7 5 . N u r die Zölle auf Rohmaterialien und K o h l e hatten noch keine H ö h e erreicht, die den E x p o r t der oberschlesischen Industrie hätte beeinträchtigen können. Im Gegenteil wies der deutsche E x p o r t von Roheisen, rohem Zink, Zinkerzen, Zement und K o k s , der zum größten Teil aus Oberschlesien kam, während der ersten H ä l f t e der 80er J a h r e hohe Steigerungsraten auf. Eine Ausnahme machte lediglich der Steinkohleexport, der freilich auch weiterhin einen großen Anteil an der Gesamtproduktion behauptete 7 6 . Hauptsächlich auf den starken Anstieg des Exportes von Produkten der oberschlesischen Montanindustrie war es zurückzuführen, daß der Rückgang der russischen Ausfuhr am deutschen Gesamtexport: 1882 = 6 , 2 % , 1883 = 5 , 7 % , 1884 = 5,2% nicht stärker ausfiel und 1885 sogar zum Stillstand kam 7 7 . U m so empfindlicher wurde die oberschlesische Industrie getroffen, als die zaristische Regierung auf dem Tiefpunkt der industriellen Depression in den J a h ren 1886 und 1887 nicht nur die Zölle auf Fabrikate weiter erhöhte, sondern auch die von Rohprodukten der Montanindustrie und des Bergbaus mit hochprotektionistischen Zöllen belegte, um eine Verschiebung der inneren Konkurrenzbedingungen zugunsten der polnischen Industrie und die Stagnation der Indurstriezentren des inneren Rußland zu verhindern 7 8 . Jetzt sank der Anteil Rußlands an der deutschen Gesamtausfuhr weiter von 1885 = 5,2% auf 1886 = 101

4,9% und 1887 = 4,1%. Während sich der Rückgang im Export von Fabrikaten der Textil- und Eisenindustrie weiter fortsetzte, verzeichnete der Export von Produkten des Bergbaus und Rohprodukten der Montanindustrie einen einbruchartigen Rückschlag. Der Roheisenexport wurde 1887 gegenüber dem Vorjahr nahezu halbiert, und der Steinkohleexport war 1887 um ein Drittel niedriger als im Jahre 1866. Besonders drastisch war der Rückgang der fast ausschließlich aus Oberschlesien ausgeführten Zinkerze: Hier hatte sich der Export bereits 1886 gegenüber dem Vorjahr halbiert und 1887 war er bis zur Bedeutungslosigkeit abgesunken. Im Export von rohem Zink aus Oberschlesien verlief die Entwicklung ähnlich. Lediglich die Ausfuhr von Koks stieg auch während der Jahre 1886 und 1887 weiter an 79 . Obwohl in den folgenden Jahren der protektionistische Kurs der russischen Zollpolitik beibehalten wurde und mit den protektionistisch-prohibitiven Sätzen des Mendeleev-Tarifs von 1891 einen Höhepunkt erreichte, bezeichnete der starke Rückschlag der Jahre 1886 und 1887 doch zugleich wieder eine Wende im deutschen Industrieexport nach Rußland. Der Anteil Rußlands am deutschen Gesamtexport erreichte zwar nicht die Sätze vom Ende der 70er Jahre, doch stieg er bereits 1888 wieder auf 5,9% und mit 6% in den Jahren 1889 und 1890 hielt er sich auf dieser Höhe 8 0 . Freilich war die Entwicklung des Rußlandexportes der verschiedenen Branchen der deutschen Industrie während der Jahre 1888 bis 1890 sehr unterschiedlich. Denn im Zuge eines allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs, der in Rußland die empfindliche Wachstumsstörung beendete, wurde der streng protektionistische Kurs teilweise durch die Wiederbelebung der Nachfrage unterlaufen 8 1 .

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3. Preußische Revolution „von oben" und die europäische Konstellation 1866 bis 1874 Nach dem übereinstimmenden Urteil liberaler und konservativer Zeitgenossen waren die preußischen Hegemonialkriege von 1866 und 1870/71 Ausdruck einer revolutionären Politik. Das galt insbesondere im Hinblick auf ihre zwei spektakulärsten Resultate: Zielstrebig beseitigte sie nicht nur innerhalb weniger Jahre die zahlreichen innen- und außenpolitischen Hindernisse, die bisher die Entstehung eines deutschen Nationalstaates blockiert hatten, sondern sie löste auch das Problem der inneren politischen Verfassung des neuen Reiches in einer Weise, die die Gegensätze zwischen Absolutismus und Parlamentarismus scheinbar vermittelte. Revolutionär dagegen war diese Politik nicht in bezug auf ihre treibenden Kräfte und die eingesetzten Mittel. Denn die Gründung eines konstitutionellen deutschen Nationalstaates wurde erreicht, ohne daß die alte Gesellschaft revolutionär verändert und die alten Gewalten gestürzt worden wären. Im Gegenteil war die revolutionäre Politik „von oben", die mit den Mitteln der preußischen Militärmacht die Forderungen des Liberalismus nach nationaler Einheit und scheinbar auch nach politischer Teilhabe erfüllte, eine Präventivpolitik gegen die Bedrohung der sozialen und politischen Grundlagen des preußischen Militärstaates, d. h. gegen die soziale und politische Revolution 1 . Wenn auch zugegeben werden muß, daß diese Gefahr zumindest kurzfristig erheblich vermindert wurde, so war dieser Erfolg doch relativ. Denn aufgrund seiner spezifischen Gründungsbedingungen blieb das neue Reich Spannungen und Belastungen ausgesetzt, die eine primär auf die Erhaltung des gesellschaftlichen und politischen Status quo gerichtete Politik nach innen und außen präformierten. Im folgenden sollen daher die innen- und außenpolitischen Dimensionen deutscher Außenpolitik, insofern sie für die Entwicklung des deutschrussischen Verhältnisses seit der Reichsgründung konstitutiv waren, skizziert werden.

3.1 Preußischer Militärstaat und preußisch-deutscher Konstitutionalismus Die unerwartet schnellen Siege über Österreich und Frankreich bedeuteten für den preußischen Militärstaat einen enormen Macht- und Prestigegewinn und eine Festigung seiner sozialen und institutionellen Grundlagen. Daher kann auch nicht die Leichtigkeit überraschen, mit der in der Gründungsphase des neuen Reiches die Institutionen des preußischen Absolutismus gegen die Souveränitätsansprüche der verbündeten Monarchen und des Reichstags be103

hauptet werden konnten. Als Inhaber der preußischen K r o n e und der Bundespräsidialgewalt behielt der preußische K ö n i g mit der militärischen K o m m a n dogewalt und dem Monopol in der Reichsaußenpolitik seine privilegierte Stellung in den traditionellen Aktionsräumen, in denen auch weiterhin Militärund Zivilkabinett, Generalstab und H o f , Diplomaten und Großgrundbesitzer, Minister und Bürokraten um Einfluß konkurrierten 1 . Auf der anderen Seite reichten die militärischen Erfolge, Prestigegewinn und „konstitutionelle" Sicherungen allein nicht aus, um die preußische Prärogative in der Außen- und Militärpolitik dauerhaft föderalistischen und parlamentarischen Einflüssen zu entziehen. Die potentielle Bedrohung der Institutionen des preußischen Militärstaates und seiner sozialen Grundlagen bildet daher einen entscheidenden Schlüssel zur Analyse der Innen- und Außenpolitik des Reiches. In diesem Zusammenhang verdienen vor allem drei Probleme Beachtung, die - wenn auch noch verdeckt - schon die Gründungsphase des neuen Reiches kennzeichneten: 1. Der Erfolg, mit dem sich die preußische Politik dem Verfassungskonflikt durch die Hinwendung zu ihrer „deutschen A u f g a b e " , d. h. durch eine expansive Außenpolitik, entzogen hatte, war eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Festigung der preußischen Militärmonarchie. Unter der Voraussetzung freilich, daß mit der Niederlage Frankreichs die außenpolitische Grenze der preußischen Hegemonialpolitik erreicht worden war, ließ die Reichsgründung ein Legitimationsdefizit des innenpolitischen Status quo entstehen, das sich um so empfindlicher bemerkbar machen mußte, je länger sich die Außenpolitik des neuen Reiches friedlich gebärdete. Z w a r war der außenpolitische Spielraum nicht so weit eingeschränkt, daß Bismarck auf die Erzeugung außenpolitischer Spannungen als Instrument innenpolitischer Konfliktregelung hätte verzichten müssen. Auch löste sich das außenpolitische Feindbild, in dem der „Feind im Westen" die erste Stelle einnahm, mit der Reichsgründung nicht auf 2 . Aber wenn dem Nationalismus nicht beständig neue N a h r u n g gegeben wurde, war der Zeitpunkt absehbar, an dem er seine Funktion als die beherrschende, den innenpolitischen Status quo stützende Ideologie einbüßte. Die Bismarcksche Politik zog daraus schon frühzeitig die Konsequenz, indem sie das äußere Feindbild durch eine Innenpolitik der „negativen Integration" ergänzte 3 . 2. Bei der Reichsgründung wurde auf eine Ordnung des Reichsfinanzwesens verzichtet, die eine reibungslose Finanzierung der Militärausgaben erlaubt hätte. Während die dem Reich zugewiesenen Einnahmen aus den indirekten Steuern zur Bestreitung der „gemeinschaftlichen A u f g a b e n " nicht ausreichten, waren die hauptsächlich auf die Einnahmen aus den direkten Steuern angewiesenen Haushalte der Bundesstaaten überfordert, wenn sie über die Matrikularumlagen ein chronisches Defizit im Reichshaushalt finanzieren sollten. D a die Kosten des Militärwesens den allergrößten Teil der Reichsausgaben ausmachten, bildete der jährliche K a m p f zwischen dem Reich und den Bundesstaaten um die H ö h e der Matrikularbeiträge eine Reibungsfläche, die die Widerstände 104

gegen steigende Rüstungsausgaben, die „Verpreußung" des Reichsheeres und das preußische Monopol in der Außenpolitik wachhielt 4 . Um diesen Konfliktherd zu beseitigen, erschien eine Reichsfinanzreform, durch die das Reich auch finanziell auf eigene Füße gestellt wurde, dringlich. Die noch zur Zeit des Norddeutschen Bundes und dann wieder nach der Reichsgründung unternommenen Vorstöße Bismarcks in dieser Richtung machten jedoch deutlich, daß jeder Versuch, durch eine „steuervermehrende" Reichsfinanzreform das preußische Monopol in der Außen- und Militärpolitik abzusichern, nur bedeuten konnte, den finanziellen Konflikt zwischen dem Reich und den Bundesstaaten auf eine andere Ebene zu verlagern. Denn abgesehen davon, daß quer durch die Reichstagsparteien in prinzipiellen Fragen der Steuer- und Finanzpolitik tiefgreifende Differenzen bestanden, erblickten die liberalen Mehrheitsparteien im Steuerbewilligungsrecht einen Hebel, mit dessen Hilfe der Status quo der innenpolitischen Machtverteilung vielleicht doch noch im Sinne liberaler Prinzipien verändert werden könnte. Die Zustimmung der liberalen Parteien zum Gesetz über die Friedenspräsenzstärke vom Dezember 1871, das für drei Jahre die Finanzierung der laufenden Militärausgaben durch ein Pauschquantum regelte, signalisierte noch nicht eine grundsätzlich veränderte Einstellung, sondern lediglich die Abneigung, zum gegenwärtigen Zeitpunkt die alte Frage des „Verfassungskonfliktes" zum Austrag zu bringen. Die französischen Kriegskontributionen, die zu einem erheblichen Teil für militärische Zwecke verwandt wurden, machten diesen Aufschub auch für die preußische Militärverwaltung akzeptabel. Freilich war damit der Konflikt, der sich leicht zu einer schweren innenpolitischen Belastung ausweiten konnte, nur vertagt. Die Frage blieb offen, zu welchem Zeitpunkt seine Austragung unvermeidlich wurde und ob die Finanzlage der Bundesstaaten, der Finanzbedarf des Reiches oder Mehrforderungen der Finanzverwaltung den unmittelbaren Anstoß geben würden. 3. Die Bereitschaft der liberalen Parteien, dem Konflikt über den Status quo der innenpolitischen Machtverteilung aus dem Wege zu gehen, beruhte nicht zuletzt auf der Erwartung, daß auch ohne die offene und direkte Konfrontation auf dem Wege evolutionärer Entwicklung die politische Struktur des neuen Reiches sich im Sinne liberaler Prinzipien verändern würde. Trotz ihrer affirmativen Haltung gegenüber den Veränderungen, in denen sich ein enormer Machtzuwachs des preußischen Militärstaates manifestierte, fühlten sich die Exponenten des nationalen Liberalismus als Vertreter eines ökonomisch erfolgreichen Bürgertums, auf dessen Unterstützung die Monarchie auch in Z u k u n f t angewiesen sein würde, wenn sie ihre Rolle als europäische Großmacht spielen wollte. Angesichts der dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung schien es unaufhaltsam, daß die ökonomischen und sozialen Grundlagen des preußischen Militärstaates ausgehöhlt würden und dem ökonomisch erfolgreichen Bürgertum ein wachsender politischer Einfluß im neuen Reich auf Kosten der alten Gewalten zufallen müsse. Derartige H o f f n u n g e n wurden nicht nur durch die offenkundige innere Zerrissenheit des politischen Konservativismus und die wenn auch unzureichenden Zugeständnisse des preußischen Militärstaates an 105

den Konstitutionalismus, sondern vor allem durch die Tatsache genährt, daß die Bismarcksche Wirtschaftspolitik seit der Gründung des Norddeutschen Bundes im „liberalen Strom" segelte, ja scheinbar sogar segeln mußte 5 . Wenn auch Bismarck den ökonomischen Ausbau des Reiches selbst um den Preis eines Dauerkonfliktes mit den preußischen Konservativen einer liberalen Bürokratie und den liberalen Parteien überließ, so unterschätzten die Vertreter des politischen und ökonomischen Liberalismus doch die Entschlossenheit Bismarcks, auch in Z u k u n f t die Institutionen des preußischen Militärstaates gegen parlamentarische Ansprüche zu verteidigen. Darüber hinaus stützte sich der liberale Optimismus auf die Erfahrung eines andauernden beschleunigten industriellen Wachstums, dessen sozialintegrative Funktion wiederum eine der entscheidenden Voraussetzungen für Bismarck gebildet hatte, ein zunehmend größeres Feld der inneren Politik den Vertretern des ökonomischen Liberalismus zu überlassen 6 . Schließlich konnte auch nicht übersehen werden, daß die Auswirkungen der internationalen Agrarkonjunktur in der preußischen Landwirtschaft die Desorganisation des politischen Konservativismus förderten und die Formierung einer konservativen agrarischen Phalanx gegen die H e r r schaft des ökonomischen Liberalismus erschwerten. In dieser Perspektive wird deutlich, daß das Ende der industriellen Hochkonjunktur 1873 und die kurz darauf einsetzende Agrarkrise nicht nur entscheidende Voraussetzungen veränderten, auf die sich die Erwartungen des politischen Liberalismus in bezug auf den weiteren inneren Ausbau des Reiches gestützt hatten, sondern der ökonomische und politische Liberalismus sich auch dem Konflikt um seine definitive Rolle als Stütze oder als Gegner des innenpolitischen Status quo stellen mußte.

3.2 K o n s e r v a t i v e deutsche A u ß e n p o l i t i k u n d europäischer S t a t u s q u o Die zum Zeitpunkt seiner Gründung auf eine „konservative Rolle" festgelegte Außenpolitik des Deutschen Reiches unterschied sich erheblich von der vielfach als „revolutionär" eingestuften preußischen Außenpolitik seit der Mitte der 60er Jahre 1 . Dieser Wandel kann weder mit innen- noch außenpolitischen Gründen allein, sondern nur aus ihrem Zusammenhang erklärt werden 2 . Die Außenpolitik der territorialen „Saturiertheit" des neuen Reiches beruhte auf Voraussetzungen, die - ohne einer blassen Gleichgewichtstheorie zu erliegen - zunächst in seiner Stellung im europäischen Staatensystem gesehen werden können. Der „homo novus" bildete ein neues Machtzentrum, dessen militärische K r a f t ausgereicht hätte, um auf dem Kontinent die hegemoniale Rolle zu spielen, die England als Seemacht behauptete 3 . Wenn das neue Reich nach dem Selbstverständnis einflußreicher gesellschaftlicher Gruppen sowie seiner militärischen und politischen Führung die „stärkste Großmacht" war 4 , so entsprach das nicht nur der Einschätzung in den anderen europäischen Staaten, sondern auch der tatsächlichen Verteilung der militärischen Kräfteverhältnisse in Europa: Frankreich war militärisch und wirtschaftlich geschwächt, ö s t e r 106

reich-Ungarn war nach dem Urteil Treitschkes kaum in der Lage, „den Rang einer Großmacht zu behaupten", und Rußland hatte sich wirtschaftlich und militärisch noch nicht soweit erholt, daß es in der europäischen Politik bereits wieder eine aktive Rolle hätte übernehmen können 5 . Die anerkannte militärische Hegemonie des neuen Reiches ließ auch nur den Gedanken an eine Fortsetzung der preußischen kriegerischen Hegemonialpolitik als zu riskant erscheinen. Denn die Bedingungen des deutsch-französischen Friedensvertrages bezeichneten die - nicht zuletzt von Furcht bestimmte Grenze dessen, was die anderen Staaten an Machtverschiebungen in Europa hinzunehmen bereit waren". Der Außenpolitik der „Saturiertheit" entsprach eine Innenpolitik, der es primär um die „Konsolidierung" des innenpolitischen Status quo ging und gehen mußte. Denn abgesehen davon, daß die innere Bereitschaft f ü r die Fortführung einer riskanten Außenpolitik fehlte, wurde die „innere Reichsgründung" formell zwar ohne größere Reibungen durch die Übernahme der Verfassung des Norddeutschen Bundes vollzogen. Aber die soziale, institutionelle und ideologische Verfassungslage war zu labil, als daß sie den Belastungen einer anhaltenden Risikopolitik ausgesetzt werden konnte. Eine deutsche Politik, der es im wohlverstandenen Interesse ihrer preußischen Basis um die Sicherung des innen- und außenpolitischen Status quo gehen mußte, sah sich daher einem doppelten Dilemma gegenüber, das - als Resultat der spezifischen Gründungsbedingungen des Deutschen Reiches - vielleicht überhaupt nicht aufzulösen w a r : Sollte nicht ein innenpolitischer riskanter Prestigeverlust in Kauf genommen werden, mußte die militärische Basis der neu gewonnenen Hegemonialstellung erhalten werden 7 . Wenn auch die Bismarcksche Politik als Erfolg f ü r sich verbuchen konnte, die europäischen Machtverhältnisse grundlegend verändert zu haben, ohne daß sich die potentiellen Gegner in einer Front gegen das neue Reich zusammenfanden, so blieb doch Frankreich der Kristallisationspunkt, wo sich im europäischen Konfliktfall andere Staaten in einer antideutschen Koalition zusammenfinden konnten. Die militärischen Planungen des preußischen Generalstabes lassen keinen Zweifel daran, daß seit 1871 sowohl mit Österreich-Ungarn als auch mit Rußland als potentiellen Gegnern gerechnet wurde 8 . Dieses doppelte Dilemma bestimmte maßgeblich die Voraussetzungen und Strategien deutscher „Friedenspolitik": 1. Die sofort nach der Reichsgründung eingeleitete Aufrüstung dokumentierte die Entschlossenheit der militärischen und politischen Führung, auf keinen Fall zuzulassen, daß die militärische Basis der gewonnenen Hegemonialstellung geschwächt wurde 9 . 2. Die militärische Aufrüstung wurde gegenüber Frankreich durch eine „Sprache des Krieges" ergänzt mit dem Ziel, die französischen Aufrüstungsversuche zumindest zu beeinträchtigen. Einschüchterungspolitik wurde die „natürliche W a f f e des Siegers" 10 . D a ß zu dieser Politik keine Alternative entwickelt wurde, kann nicht allein auf die zunächst wie selbstverständlich vorausgesetzte Annahme zurückgeführt 107

werden, es mit einem letztlich unversöhnlichen Besiegten zu tun zu haben 11 . Schwerer wog der militärische Alptraum: Die Diskrepanz zwischen dem Bewußtsein, noch nie über ein so eindeutig überlegenes Militärpotential gegenüber dem künftigen Gegner verfügt zu haben, mit dem Tage des Friedensschlusses aber in einen Rüstungswettlauf eingespannt zu werden, dessen Tempo von den Erfolgen der französischen Aufrüstungsversuche bestimmt würde und in dem die Zeit für Frankreich arbeitete 12 . Das Wort Moltkes vom „bewaffneten Frieden" brachte diesen militärischen Alptraum ebenso zum Ausdruck wie die deutsche Außenpolitik. Schon 1871, als ein neuer Krieg für Frankreich noch der „reine Selbstmord" gewesen wäre, drohte Bismarck offen mit Krieg für den Fall, daß Frankreich seine Aufrüstung in dem angeschlagenen Tempo fortsetzen sollte, und in den folgenden Jahren nahm er Erhöhungen des französischen Militärbudgets, Schwierigkeiten bei der Zahlung der Kriegskontribution, deutschfeindliche Äußerungen der französischen Presse usw. zum Anlaß, diese Drohungen zu wiederholen 13 . Wenn auch Aufrüstung und Einschüchterung die Politik des Deutschen Reiches von Anfang an bestimmten, so war doch zugleich unübersehbar, daß eine ausschließlich auf diese beiden Elemente gestützte Politik nicht nur die militärischen Probleme verschärfen, sondern weitreichende wirtschaftliche, soziale, innen- und außenpolitische Konsequenzen haben konnte: 1. Ebensowenig wie Moltke wollte sich Bismarck auf ein Wettrüsten einlassen, das schon in naher Zukunft die Möglichkeiten der Reichsfinanzwirtschaft in ihrem derzeitigen Stadium überfordert hätte, das die nur notdürftig verdeckten Klassengegensätze ausgerechnet an dem besonders neuralgischen Punkt der Rüstungsfinanzierung wieder aufbrechen lassen und in letzter Konsequenz die innere Struktur der Armee verändern konnte 14 . 2. Für einen Präventivkrieg gab es keine „positiven" Ziele, während gleichzeitig seine politischen und militärischen Risiken nicht mehr zureichend kalkulierbar waren 15 . 3. Die Einschüchterungspolitik konnte nur wirksam sein, wenn zumindest einigermaßen sicher war, daß die anderen europäischen Staaten in einem neuen Krieg wieder neutral blieben. Offene Drohungen waren freilich geeignet, diese Bereitschaft zu vermindern. Von dieser Problematik her muß die „europäische" Dimension deutscher „Friedenspolitik" gesehen werden. Im europäischen Rahmen war die deutsche Politik intentional geradezu die „politische" Alternative zu dem militärisch nicht auflösbaren Dilemma 16 . Dieser Zusammenhang spiegelt sich erstens in dem Verzicht darauf wider, die militärische Hegemonialstellung politisch gegenüber Frankreich nur verdeckt, im europäischen Rahmen überhaupt nicht auszuspielen und sich statt dessen als unbedingte Friedensmacht darzustellen. Denn hatte die Gründung des Deutschen Reiches schon den Anstoß für eine europäische Rüstungswelle gegeben, so schien eine latente Hegemonialstellung noch verhindern zu können, 108

daß sich das Tempo des deutsch-französischen Rüstungswettlaufs auf die gesamte europäische Ebene verlagerte 17 . Zweitens läßt sich aus der militärischen Lage die Notwendigkeit einer aktiven „Drei-Kaiser-Politik" ableiten, der es vorrangig darum ging, schon in Friedenszeiten die Isolierung Frankreichs für den Konfliktfall zu organisieren. Den Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn kam in dieser Hinsicht eine vorrangige Bedeutung zu, und zwar nicht nur, weil diese als Kontinentalmächte trotz ihrer militärischen Schwäche im Kriegsfall eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen konnten 18 , sondern weil in diesen Staaten Animosität die Einstellung einflußreicher Gruppen gegenüber dem neuen Reich bestimmte und die daraus gezogenen militärischen Konsequenzen die Hegemonie des Reiches gefährden konnten 19 . Nach der verächtlichen Bemerkung Bismarcks zu urteilen, „wie wenig die drei Potentaten in Wahrheit von den Bedürfnissen ihrer Untertanen, moderner Gesetzgebung und den Künsten des Friedens" verstanden, bot die intensive Kultivierung ihrer konservativen Mentalität und die Pflege ihrer persönlichen Beziehungen durchaus eine Chance, Rußland und Österreich politisch an das Reich zu binden, damit die militärische Problematik zu entschärfen und der deutschen Frankreichpolitik einen größeren Handlungsspielraum zu verschaffen. Die Erfolgschancen dieses Kalküls wuchsen mit der Möglichkeit, Frankreichs revolutionäre Traditionen als ein „heilsames Schreckmittel" zur Festigung der „Solidarität der monarchischen Interessen" mit antifranzösischer Spitze zu benutzen 20 . Damit war freilich noch nicht darüber entschieden, ob der „cauchemar des révolutions" die der „Drei-Kaiser-Politik" zugedachte Funktion auch ganz erfüllte. Die Intensität, mit der Bismarck die „monarchische Solidarität" kultivierte, scheint eher ein Indiz für die Skepsis zu sein, auf die Dauer die „materiellen" Differenzen zwischen den östlichen Monarchien überbrücken zu können. Kann man schon davon ausgehen, daß trotz wachsender sozialökonomischer Spannungen, die den Transformationsprozeß in Rußland begleiteten, von einer Gefährdung der Autokratie, die dem Appell an die monarchische Solidarität eine starke Resonanz verschafft hätte, noch nicht die Rede sein konnte21, so erweckte angesichts der Differenzen zwischen den Monarchien die „Drei-Kaiser-Politik" den Eindruck eines künstlichen und unzeitgemäßen Versuchs, die Tradition der „Heiligen Allianz" wiederzubeleben. Schon gegenüber scheinbar „rein außenpolitischen" Gegensätzen wie der russisch-österreichischen Balkanrivalität zeigte es sich, daß die Außenpolitik dieser Mächte nur noch sehr bedingt auf Kabinettspolitik reduziert werden konnte, je mehr sie eine Funktion der Bemühungen traditionaler Eliten wurde, anachronistische politische und soziale Positionen in der Periode eines andauernden Prozesses sozialökonomischen Wandels zu verteidigen. Diesem Funktionswandel unterlag die deutsche Außenpolitik ebenso wie die österreichische und die russische, und letztlich ging es nur um den Grad der außenpolitischen Handlungsfreiheit, den die traditionalen Eliten in den östlichen Monarchien behaupten konnten 22 . 109

Die „Drei-Kaiser-Politik" ging von der Voraussetzung aus, daß diese außenpolitische Handlungsfreiheit soweit verteidigt werden konnte, daß ein Ausgleich der aus den sozioökonomischen Veränderungen resultierenden zwischenstaatlichen Gegensätze auf der Basis eines „monarchischen" Interessenausgleichs möglich blieb. In bezug auf die russisch-österreichische Balkanrivalität war diese Voraussetzung in der ersten Hälfte der 70er Jahre noch vorhanden. Auch wenn Moltke dort im April 1871 den Herd für einen militärischen Konflikt sah, glaubte Bismarck doch drei Jahre später noch davon ausgehen zu können, daß der österreichisch-russische Antagonismus auf dem Balkan eine gewisse Grenze nicht überschreiten werde 23 . Für dieses Kalkül waren drei Gründe ausschlaggebend: 1. Die zaristische Regierung war für eine aktive Balkanpolitik militärisch noch nicht hinreichend vorbereitet 24 . 2. Trotz des „Panslawismus" war sie noch keinem unmittelbaren außenpolitischen Handlungszwang ausgesetzt, während ihre Außenpolitik andererseits von dem Interesse bestimmt wurde, eine Risikopolitik zu vermeiden, die die Autokratie nur schwer kalkulierbaren Risiken im Innern ausgesetzt hätte. Die Expansion in Asien war in diesem Zusammenhang unvergleichlich risikoärmer als eine Expansionspolitik auf dem Balkan. Insofern war auch die Bismarcksche Annahme richtig, daß Rußland mit Galizien und Konstantinopel nicht viel anfangen könne 25 . 3. Die österreichische Regierung war sich der inneren Schwäche des Vielvölkerstaates zu sehr bewußt, als daß sie ohne Rückendeckung Deutschlands eine Aktivierung ihrer Balkanpolitik gegen russische Interessen riskieren konnte. Aber gerade in dieser Beziehung war die deutsche Position von Anfang an eindeutig, indem sie davon ausging, dasß Österreich-Ungarn sich zunächst „auf sich selbst zurückwendet, anstatt nach außen hin Ziele innerhalb der Interessensphäre fremder Mächte zu verfolgen". Für die habsburgische Monarchie sei der Frieden, „und zwar ein unbewaffneter wahrer Frieden", ein „dringendes Bedürfnis, mehr wie für eine andere Macht", und schließlich sei „inmitten des finanziellen Verfalls" nur durch „die Verbesserung ihres Kredits und mittels allergründlichster Reformen" der Staatsbankrott vielleicht zu vermeiden 26 . Während also die Erwartung, daß sich der russisch-österreichische Antagonismus eingrenzen lasse, durchaus einer realistischen Einschätzung der innenpolitischen Voraussetzungen russischer und österreichischer Außenpolitik entsprach, gab es in den deutsch-russischen Beziehungen keinen Konfliktherd, der die Bedeutung der russisch-österreichischen Balkanrivalität besessen hätte. Darüber hinaus konnte die „Drei-Kaiser-Politik" auf den traditionell guten, auch verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den militärisch-feudalen Kreisen des Berliner und St. Petersburger Hofs aufbauen. Die Festigkeit dieser Beziehungen war durch die während des Krimkrieges, des Polenaufstandes und der preußischen Hegemonialkriege wechselseitig demonstrierte Bereitschaft, sich bei der Verfolgung außenpolitischer Interessen zu verständigen und notfalls zu unterstützen, mehrfach bewiesen worden. In diesem Zusammenhang kam der ver110

traulichen Information eine zentrale Bedeutung zu, daß Alexander II. „aus Tradition" und „aus Familiengründen" auch dem neuen Reich „im ganzen aufrichtig wohl" gesonnen sei27. Die deutsch-russischen Beziehungen hatten freilich auch die andere Seite, daß der nach dem Krimkrieg in Rußland eingeleitete Transformationsprozeß von Spannungen begleitet wurde, die auf die zwischenstaatlichen Beziehungen überzugreifen drohten. In den 60er Jahren ging diese Gefahr vor allem von der Russifizierungspolitik aus, die - von der nationalrussischen Presse propagiert und von der zaristischen Regierung aus innenpolitischen Gründen unterstützt - eine regelrechte Pressefehde zwischen deutschen und russischen Blättern auslöste. Als schließlich die zaristische Regierung auch nicht gegen die antideutsche Agitation einschritt, mit der ein großer Teil der russischen Presse auf die deutschen Siege reagierte, leitete der baltendeutsche Publizist v. Ekkardt daraus bereits ab, daß die im Gefolge der „liberalen" Reformen „radikale innere Umgestaltung der großen östlichen Monarchie eine Veränderung in den auswärtigen Beziehungen derselben zur schließlichen Konsequenz haben müsse" 28 . Auch Bismarck war weit davon entfernt, die antideutsche Stimmung in der nationalrussischen Presse zu unterschätzen 29 . Aber im Unterschied zu v. Ekkardt stellte f ü r ihn der russische Nationalismus noch keine unmittelbare Gefahr f ü r die traditionellen Beziehungen zwischen den H ö f e n dar, sondern er galt ihm nur als ein Symptom dafür, daß „die monarchischen Regierungen für das Bedürfnis des Zusammenhaltens im Interesse staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung kein Verständnis haben, sondern sich chauvinistische Regungen ihrer Untertanen dienstbar" machten 30 . Unter drei Voraussetzungen war diese Bismarcksche Beurteilung des Verhältnisses russischer Außen- und Innenpolitik sowohl mit den preußisch-russischen Traditionen als auch mit der konservativen Ideologie der „Drei-KaiserPolitik" vereinbar: 1. nämlich unter der Bedingung, daß die zaristische Regierung gegenüber nationalistischen Forderungen ihre Handlungsfähigkeit nach außen behaupten konnte; 2. die deutsche Politik peinlich genau jede Einmischung in die russische Innenpolitik vermied, die den antideutschen und nationalistischen Tendenzen Auftrieb gegeben hätte; 3. die traditionell preußenfreundlichen Eliten Rußlands von den Vorteilen guter Beziehungen auch mit dem neuen Reich überzeugt werden konnten. Die erste Annahme traf in der ersten H ä l f t e der 70er Jahre für die russische Politik sowohl gegenüber Österreich-Ungarn als auch gegenüber Deutschland zu. D a ß auch die zweite Voraussetzung erfüllt wurde, war seit der Reichsgründung eines der Ziele deutscher „Kalmierungspolitik". H a t t e Bismarck in den Jahren 1868/69 noch versucht, die antideutsche Stimmung in der nationalrussischen Presse zurückzudämmen, den Widerstand baltischer Barone, Professoren und Geistlicher gegen die Russifizierungspolitik indirekt dadurch unterstützt, 111

daß er die preußische Presse mit Material über die Zustände in den baltischen Provinzen versorgte, und hatte er schließlich sogar auf diplomatischem Wege interveniert 3 1 , so vermied er seit der Reichsgründung alles, was auch nur den Anschein einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten Rußlands haben konnte: Er lehnte es ab, seinen Jugendfreund G r a f Kayserling, der als K u r a t o r der Universität D o r p a t beim Zaren in U n g n a d e gefallen war, zum preußischen Kultusminister zu machen. Während baltendeutsche Emigranten wie Bock und v. E c k a r d t weiterhin in der deutschen Presse die Agitation gegen die Russifizierungspolitik fortsetzten und die „ G r e n z b o t e n " drohend verkündeten: „ D e n Altrussen schlägt das Gewissen über die Mißhandlung, mit denen sie in den Ostseeprovinzen das Deutschtum und den Protestantismus heimgesucht haben", drückte Bismarck wiederholt seine „gründliche" und „grundsätzliche" Abneigung gegen die von „geschickten baltischen Wortführern genährte A g i t a t i o n " aus 3 2 . Auf der anderen Seite überspielte die Bismarcksche Diplomatie bewußt den von Moltke diagnostizierten „Widerspruch in den materiellen Interessen" und die „gegenseitige Abneigung in Glauben und Sitten" zwischen den „ V ö l k e r n " , indem er an die „gemeinsamen K ä m p f e gegen die französische Überm a c h t " und die „verwandtschaftlichen Verhältnisse der Herrscher" anknüpfte 33 . N a c h dem Eindruck v. Eckardts war das Auswärtige A m t nicht nur bemüht, „alles beiseite zu schieben, was die guten Beziehungen zu Rußland hätte stören können", sondern es hielt sogar „die Gefährlichkeit der nationalen P a r tei für eine Einbildung" 3 4 . Die Notwendigkeit, die zaristische Regierung von den Vorteilen zu überzeugen, die die Verständigung mit der neuen Großmacht bieten konnte, war die dritte und von Bismarck ernst genommene Voraussetzung einer erfolgreichen Drei-Kaiser-Politik. Denn außer der von Furcht bestimmten Reaktion in Armeekreisen und in der Öffentlichkeit wurde auch in preußenfreundlichen Kreisen am Zarenhofe der in seinen militärischen Resultaten überraschende Aufstieg der neuen Großmacht wenn nicht als Bedrohung, so doch als ein empfindlicher Schlag gegen den Einfluß Rußlands in der europäischen Politik empfunden. D i e alte Rollenverteilung zwischen Preußen und Rußland war durch die Gründung des neuen Reiches umgekehrt worden, und es blieb eines der schwierigsten Probleme der deutschen Rußlandpolitik, für die traditionalen Eliten Rußlands, deren Selbstverständnis noch von dieser alten Rollenverteilung bestimmt wurde, die neuen Machtverhältnisse in Europa akzeptabel erscheinen zu lassen 35 . Die territoriale Kompensationsfrage, die sich noch am ehesten zur Bewältigung dieses Problems geeignet hätte, war nicht aktuell, allerdings nicht, weil kein territoriales Kompensationsobjekt in Sicht gewesen oder die zaristische Regierung die Kündigung der Meerengenklausel als ausreichend erachtet hätte, sondern weil sie nicht in der L a g e war, Kompensationsforderungen auf dem Balkan militärisch durchzusetzen 3 9 . E s war daher folgerichtig und zunächst erfolgversprechend, wenn die deutsche Diplomatie daran arbeitete, die russische Regierung durch Absichtserklärungen und Empfehlungen mit dem Status quo in Europa zu versöhnen. Der 112

ersten Kategorie können die wiederholten Beteuerungen zugeordnet werden, daß das neue Reich „saturiert" und nur an seiner Konsolidierung interessiert sei. Darüber hinaus kam es darauf an, auch die zaristische Regierung von den Vorteilen einer „ausschließlich auf sich selbst, und sozusagen in sich selbst hineingewendeten Politik", die sie seit der Aufhebung der Leibeigenschaft verfolgt hatte, zu überzeugen. Eine gewisse Attraktivität gewannen derartige Empfehlungen sowohl für die russische Regierung als auch für die „nationale" Öffentlichkeit, weil sie mit scheinbaren Zugeständnissen verbunden waren, die das Kompensationsproblem auf die ökonomische Ebene verlagerten. So erklärte die deutsche Regierung ζ. B. ihre Bereitschaft, die zur Uberwindung der wirtschaftlichen Rückständigkeit unternommenen Anstrengungen selbst dann vorbehaltlos als eine innerrussische Angelegenheit zu behandeln, wenn daraus eine Schädigung der deutschen Wirtschaftsinteressen abgeleitet werden konnte. Während seines Besuches in Petersburg hielt sich Prinz Karl von Preußen an Bismarcksche Instruktionen, als er im Gespräch mit Katkov das Recht Rußlands anerkannte, das „in einigen Jahren" zu vollbringen, „was andere Völker in Jahrhunderten erreichten", und dabei hinzufügte: „unsere Interessen kollidieren in keiner Weise mit denjenigen Rußlands". Der Versicherung Katkovs, daß Rußland in allen Bereichen nur seinen Interessen folge, stimmte der preußische Prinz vorbehaltlos zu, er erkannte ausdrücklich an, daß niemand das Recht habe, sich über die russische Zollpolitik zu beklagen, auch wenn darüber in Deutschland „eine gewisse Unzufriedenheit" herrsche. Auf dieser Linie lehnte Bismarck im Norddeutschen und im Deutschen Reichstag wiederholt Forderungen, in diplomatischen Verhandlungen auf eine Senkung der russischen Einfuhrzölle zu drängen, mit dem Argument ab, man könne sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes einmischen 37 . Geht man davon aus, daß der „cauchemar des révolutions" als Integrationsklammer f ü r die ideologische Blockbildung der östlichen Monarchien noch stark war und auch die Politik des materiellen Interessenausgleichs unter den gegebenen Bedingungen Erfolg hatte, so bleibt doch die Frage offen, ob die Drei-Kaiser-Politik insgesamt die ihr von Bismarck zugedachte Funktion erfüllte. Sicher erweckte die wiederholte Demonstration der guten Beziehungen zwischen den H ö f e n von Berlin, St. Petersburg und Wien den beabsichtigten, durch eine geschickte Pressepolitik geförderten Eindruck, daß Frankreich seine außenpolitische Isolierung nicht durchbrechen könne. Es war auch richtig, wenn Bismarck am Jahresanfang 1874 konstatierte: Frankreich werde, falls es Revanchegedanken hege, keinen Alliierten finden, aber ohne einen werde es ihn nicht wagen 38 . Abgesehen davon, daß mit derartigen Demonstrationen verdeckt wurde oder auch verdeckt werden sollte, wie labil die Grundlagen des konservativ-monarchistischen Blocks tatsächlich waren, bestand. 1. mit der Entschlossenheit, Elsaß-Lothringen „ein halbes Jahrhundert mit den W a f f e n zu schützen" 39 , auch die militärische Belastung des deutsch-französischen Rüstungswettlaufs mit allen seinen Konsequenzen für die deutsche Militär·, Finanz- und Innenpolitik fort und entsprach 8

Müller-Link

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2. das „Drei-Kaiser-Bündnis" von 1873 einem zeitlich bedingten Interessenausgleich aller Beteiligten, ohne daß das essentielle deutsche Interesse befriedigt worden wäre, Klarheit über die europäischen Ziele der zaristischen Außenpolitik zu gewinnen. Es verschaffte dagegen der Regierung in St. Petersburg - zur Durchführung einer ungestörten Expansionspolitik in Asien - die erwünschte Ruhe an der diplomatischen Front in Europa und zugleich die Möglichkeit, die Fixierung ihres Verhältnisses zu Frankreich zu vermeiden. Für die deutsche Politik war dieser Zustand erträglich, solange die überlegene Offensivkraft der deutschen Armeen ohne tiefgreifende finanzielle Belastungen und ohne Steigerung der Friedenspräsenzstärke aufrecht erhalten werden konnte 40 . Seit dem Jahresende 1873 nahm die Entwicklung in Europa indessen einen Verlauf, der die Klärung des Grundproblems deutscher Nachkriegspolitik verlangte: Die Beantwortung der Frage, ob Bismarck die „Gunst der Zeitspanne", die der „Schwächezustand" Frankreichs bot, politisch hatte nutzen können, „um inzwischen Deutschlands Verhältnis zu den evtl. später als Bundesgenossen für Frankreich in Betracht kommenden Staaten so zu gestalten, daß sie auch dann (d. h. nach Frankreichs militärischem Wiedererstarken) dessen Werben kein Gehör schenken würden" 41 . Deshalb mußte die europäische Politik durch die unerwartete Schnelligkeit, mit der sich Frankreich militärisch und finanziell von der Niederlage erholt hatte, in Fluß geraten 42 . Das Kalkül, durch eine hohe Kriegskontribution Frankreich „für lange Zeit dem Deutschen Reich tributpflichtig zu machen", ging nicht auf, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die militärische Überlegenheit und der andauernde politische Druck des Deutschen Reiches der Regierung Thiers den innenpolitischen Rückhalt verschafften, um die wirtschaftlichen und finanziellen Kräfte zu mobilisieren. Das „Journal Officiel" konnte schon 1873 verkünden, daß Frankreich fast ein Jahr vor dem vereinbarten Termin die Kriegskontribution bis auf die letzten Centimes bezahlt hatte, und das Budget für 1875 erstmals seit dem Kriege kein Defizit mehr aufwies 43 . Tatsächlich wirkte in Deutschland die Reibungslosigkeit, mit der Paris neue Steuern durchsetzte und die Kriegskontribution aufbrachte, spektakulär 44 . Nicht weniger Aufsehen erregte die Tatsache, daß Frankreich eine Armeereform nach preußischem Muster und die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht einleitete, zumal da Moltke es im April 1871 noch für sehr unwahrscheinlich gehalten hatte, daß nach den bisherigen Erfahrungen mit den gefährlichen und unzuverlässigen Nationalgarden irgendeine französische Regierung die allgemeine Wehrpflicht riskieren werde45. Durch Gesetze allein aber konnte noch nicht das militärische „Stärkeverhältnis" in Westeuropa grundsätzlich verändert werden. Entscheidend blieb die „praktische Durchführung" des Militärgesetzes von 1872. Die französische Territorialarmee stand 1873 „nur auf dem Papier", und auch 1875 war sie noch „kein Grund zur Beunruhigung". Ebensowenig veränderte das neue Cadre-Gesetz vom März 1875 die militärpolitische Lage 46 . Dennoch wurde die Entwicklung in preußischen Militärkreisen zunehmend als schwerer erträglich empfunden. Der Alptraum eines langen internationalen Rüstungswettlaufs, an 114

dessen Ende der „Rassenkrieg" mit Massenheeren stand, trat in allen Äußerungen hervor, in denen sich Moltke melancholisch über die Notwendigkeit einer allgemeinen Abrüstung meditierte, allerdings nicht, um den Krieg generell aus der Welt zu schaffen, sondern um ihn durch den „disziplinierten Fachkrieg" erst wieder zu ermöglichen 47 . Die von Bismarck dem Präventivkrieg entgegengesetzte „politische" Alternative zur Lösung des sich verschärfenden militärischen Dilemmas war der Versuch, an einem entscheidenden Wendepunkt der europäischen Militärpolitik im letzten Moment noch die „spanische Wand" zu durchstoßen, hinter der die französische Regierung ihre Aufrüstungspolitik betrieb. Diesem Ziel diente die im Verlaufe des Jahres 1874 verschärfte Einschüchterungspolitik, die geradezu als ein Test für die Arnimsche These gewertet werden kann, daß die deutsche Politik die „spanische Wand . . . jederzeit umwerfen konnte" 4 8 . Die systematische Verschärfung der deutsch-französischen Spannungen stellte insofern eine wichtige Abweichung von der bisher verfolgten „Friedenspolitik" dar, als die militärische Überlegenheit über Frankreich jetzt kaum noch verdeckt zur Durchsetzung eines politischen Zieles ausgenutzt wurde. Das zeigte sich sofort in den internationalen Auswirkungen. Die deutsche Politik, die den deutsch-französischen Antagonismus auch aus innenpolitischen Gründen 49 verschärfte, machte das deutsch-französische Verhältnis und zugleich das Interventionsproblem zum beherrschenden Thema der europäischen Politik. Seit dem Jahresende 1873 hielten sich in den Zentren der europäischen Diplomatie hartnäckige Gerüchte über die wirklichen Absichten der deutschen Frankreichpolitik, wie etwa die „Tollheiten", die der englische Botschafter in Berlin nach London berichtete 50 . Wenn auch die englische Diplomatie vielleicht besonders empfindlich auf den deutschen Versuch reagierte, dauerhaft Frankreich zu schwächen, so war doch die entscheidende Frage, wie die zaristische Regierung reagieren würde. Vor allem in dieser Hinsicht waren die Rückwirkungen der massiven Einschüchterungspolitik beunruhigend. Während auf der einen Seite die Abneigung des Zaren unverkennbar war, sich in das deutsch-französische Verhältnis einzumischen oder gar Position gegen Deutschland zu beziehen 51 , mußte Bismarck die Erfahrung machen, daß die zaristische Außenpolitik die Konturen einer „Zweiseelenpolitik" annahm. Auf der Linie „monarchischer Solidarität" hielt sich Alexander I I . zwar zurück, er tolerierte aber zugleich militärische Manöver, militärische Maßnahmen des Generalstabes und Äußerungen in seiner unmittelbaren Umgebung, die aus deutscher Perspektive in ihrer Gesamtheit als versteckte Stellungnahme zugunsten Frankreichs interpretiert werden mußten. Russische Diplomatenkreise zeigten ein besonderes Mißtrauen gegen die deutsche Politik. Der Botschafter in Paris kleidete es ζ. B. in die Frage, ob Deutschlands friedliche Gesinnung „vielleicht einem Wandel unterliegen könnte, wenn gewisse Änderungen in der französischen Regierung einträten oder wenn diese es zustande bringe, Bündnisse zu schließen und ihre Militärmacht wieder aufzurichten". Kurz darauf stellte der vom Außenministerium finan8*

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zierte „ N o r d " fest, daß die deutschen Friedensbeteuerungen keinen Widerhall fänden, „weil die Tatsachen ihnen widersprächen" 5 2 . D a ß Bismarck auf „provokatorische Schritte" gegen Frankreich drängte, „um seine Rüstungen herunterzudrücken" 5 3 , löste noch keine offiziellen Reaktionen der russischen Diplomatie aus. Aber am Zarenhofe bildete sich eine antipreußische Partei, die aus ihrer Sympathie für den französischen Anspruch auf Elsaß-Lothringen keinen Hehl machte. Nicht nur der auffällig zunehmende Austausch von Aufmerksamkeiten zwischen der französischen Regierung und Mitgliedern der Zarenfamilie, sondern auch Äußerungen russischer Diplomaten spiegelten das Anwachsen der antideutschen Stimmungen am Zarenhof wider. „ H e r r v. Bismarck wird keinen Krieg anfangen können", erklärte Gortschakow schon im Februar 1874 gegenüber französischen Diplomaten, „denn er würde die moralische Meinung gegen sich haben." Schließlich ging er noch erheblich darüber mit der Erklärung hinaus, daß Europa „ein starkes Frankreich" brauche 5 4 . Ein kritischer Punkt wurde erreicht, als Bismarck im August 1874 trotz der Warnungen von Schweinitz die spanische Republik anerkannte und damit gegen das monarchische Solidaritätsgefühl des Zaren verstieß. Denn jetzt gab Alexander II. dem Drängen Miljutins nach, die russische Militärpolitik stärker als bisher auf die Eventualität eines deutsch-russischen Krieges auszurichten 5 5 . Ein Vergleich der politischen Lage in Europa am Jahresende 1874 mit der bei Abschluß des „Drei-Kaiser-Bündnisses" macht deutlich, daß sie sich sowohl am „negativen" Pol im Westen als auch am „positiven" Pol im Osten zuungunsten des neuen Reiches verschlechtert hatte: Der deutsche Druck auf Frankreich rückte nicht nur das deutsch-französische Verhältnis ins Zentrum der europäischen Politik, sondern er machte auch die europäischen Staaten auf die intensiven Anstrengungen aufmerksam, die Frankreich zur Wiedergewinnung seiner europäischen Großmachtrolle machte; beides z w a n g sie, diesem französischen Anspruch gegenüber Stellung zu beziehen. D a s deckte sich noch mit den Intentionen Bismarcks. Gleichzeitig war jedoch der deutsche Druck geeignet, dem französischen Anspruch in Europa Sympathien zu verschaffen. Denn allen Beteuerungen zum Trotz, das Deutsche Reich verfolge „keine Macht-, sondern eine Sicherheitspolitik", wuchs das Mißtrauen gegen die deutschen „Friedensabsichten". In einer derartigen Atmosphäre reagierten die europäischen Mächte ohne Ausnahme mit „sympathischer Überraschung" auf die schnelle „Wiedergeburt" Frankreichs 5 6 . D i e russische Reaktion war für die deutsche Politik insofern alarmierend, als sich die K l a m mern des konservativ-monarchischen Blocks als nicht stark genug erwiesen, um den Zaren und die preußenfreundlichen Gruppen am Zarenhofe bei anhaltenden deutsch-französischen Spannungen gegen die antideutschen' Tendenzen in diplomatischen und militärischen Kreisen sowie in der Öffentlichkeit zu immunisieren. H a t t e schon die Drei-Kaiser-Politik bis dahin keine Klarheit in der Frage schaffen können, wie Rußland sich im Falle eines deutsch-französischen Krieges verhalten würde, so kam jetzt die Ungewißheit hinzu, ob der Z a r dazu gedrängt werden konnte, gegen die Tradition preußisch-russischer Freundschaft 116

den französischen Großmachtanspruch zu stützen. Alarmierend war ζ. B. die laute Überlegung des deutschfreundlichen Peter Schuwalow, ob Deutschland nicht doch „ f ü r das russische Interesse zu gründlich gesiegt" habe 5 7 . Vor die Alternative gestellt, entweder zur „Friedenspolitik" der ersten Nachkriegsjahre zurückzukehren oder auf die K l ä r u n g der Frage zu drängen, wie sich die europäischen Staaten - allen voran Rußland - zu den französischen Ansprüchen stellten, trat Bismarck die diplomatische Flucht nach vorn an. Während er systematisch die Spannungen mit Frankreich verschärfte, leitete er eine diplomatische Offensive mit dem Ziel ein, den Zaren und die preußenfreundlichen Kreise vor den antideutschen Tendenzen soweit zu schützen, daß sie der deutschen Frankreichpolitik auch in einer akuten Spannungssituation den gewünschten Spielraum einräumten. D a m i t war eine wichtige Korrektur der Drei-Kaiser-Politik verbunden. Denn die „Mission R a d o w i t z " ging von der Annahme aus, daß in der aktuellen Situation nur die nachträgliche Befriedigung des 1871 unbefriedigt gebliebenen Kompensationsbedürfnisses - oder zumindest die Aussicht darauf - die preußenfreundlichen Gruppen am Zarenhofe dazu veranlassen könne, sich hinter die deutsche Frankreichpolitik zu stellen 58 . D i e Mission R a d o w i t z und damit der Bismarcksche Versuch, mit russischer Rückendeckung die Frage der zukünftigen Rolle Frankreichs in der europäischen Politik nach den deutschen Vorstellungen zu entscheiden, scheiterte nicht, weil Bismarck das Kompensationsbedürfnis prinzipiell falsch eingeschätzt hatte, sondern weil sich die zaristische Regierung noch keinem innenpolitischen Z w a n g ausgesetzt sah, die B a l k a n f r a g e aufzurollen 5 9 . Deshalb überschätzte Bismarck die Attraktivität seines Angebotes für den Zaren, wenn er glaubte, die Resultate der Mission R a d o w i t z nicht abwarten zu müssen und durch die Steigerung des Drucks bis zu kaum noch verhüllten Präventivkriegsdrohungen Frankreich mit Unterstützung „ E u r o p a s " zum Verzicht auf sein Aufrüstungsprogramm zwingen zu können 6 0 . H i n z u kam, daß die Kriegshysterie einen Punkt erreichte, an dem sie leicht „in den militärischen K o n f l i k t hinüberwachsen" konnte, zumal Frankreich keine Anstalten machte, dem deutschen D r u c k nachzugeben und statt dessen seine Aufrüstungsmaßnahmen beschleunigt fortsetzte 6 1 . A u f dem Höhepunkt der K a m p a g n e zeichnete sich nicht nur das Scheitern der Mission R a d o w i t z ab, sondern Alexander II., der sich bis dahin trotz französischen Drängens zurückgehalten hatte, sah sich jetzt zu einer Intervention zugunsten Frankreichs gezwungen. Unter dem Eindruck der v o m Generalstab genährten Vorstellung, schon bald in einen europäischen Krieg verwickelt zu werden, für den Rußland militärisch nicht vorbereitet war, sah der Zar keine andere Möglichkeit mehr, als in der Rolle des Friedensvermittlers dem S p a n nungszustand ein Ende zu machen 6 2 . D i e Ergebnisse dieser „Krieg-in-Sicht-Krise" lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen: 1. D i e Krise h a u e in einer entscheidenden Frage der europäischen Politik die Labilität des deutsch-russischen Interessenausgleichs an den T a g gebracht. 117

Es war deutlich geworden, daß die konservativ-monarchische Blockbildung in Friedenszeiten keine Gewähr dafür bot, auch in einer Phase akuter Spannungen die Isolierung Frankreichs aufrechtzuerhalten. Um diese Erfahrung machen zu können, hatte Bismarck zwar unfreiwillig „Rußlands alles beherrschende Position unvernünftig stark in Evidenz gesetzt". Aber dadurch, daß er die Krise so schnell wie möglich abwiegelte und eher eine diplomatische Schlappe einsteckte, als sich in außenpolitischen Zugzwang bringen zu lassen, wurden direkte Rückwirkungen der Krise auf die deutsch-russischen Beziehungen vermieden 63 . D a insbesondere die Bedingungen, auf denen die Drei-Kaiser-Politik basierte, durch die Krise nicht beseitigt wurden, bestand f ü r die deutsche Außenpolitik keine Veranlassung, auf der diplomatischen Ebene von der bisher verfolgten Strategie in den deutsch-russischen Beziehungen abzuweichen: Man habe nicht zu befürchten - so Bismarck im August 1875 - , „daß Kaiser Alexander von der Freundschaft f ü r Deutschland abgebracht werden kann, Rußland und Deutschland haben keine widerstreitenden Interessen" 64 . 2. Indirekt freilich wirkte sich auf die deutsch-russischen Beziehungen um so nachhaltiger das Scheitern des Versuches aus, Ausmaß und Tempo der französischen Rüstungen durch eine massive Drohung zu beeinflussen. Wenn Bismarck auch weit von einem Eingeständnis der eigenen diplomatischen Schlappe entfernt war, so mußte er doch zugeben, daß für Frankreich der „Kriegslärm erwünscht gewesen" sei, „um eine ganz beträchtliche Verstärkung der Armee durchzusetzen 65 . Unter diesem Aspekt gewinnt die H a l t u n g der russischen Diplomatie in der Krise von 1875 erst ihre längerfristige Bedeutung. Denn mit seiner „Artigkeit für Frankreich" 6 6 hatte das zaristische Rußland demonstriert, daß nicht die Solidarität der europäischen Monarchien gegenüber der Revolution und der Französischen Republik als ihrem Symbol, sondern die Gleichgewichtstheorie die Dominante der russischen Diplomatie gegenüber Frankreich bildete. Darüber hinaus hatte diese durch ihre Intervention das Interesse an einer militärischen Erholung Frankreichs als Gegengewicht zur deutschen Hegemonie in Europa zu erkennen gegeben, indem sie den deutschen Vorwand zurückwies, daß die anhaltenden Rüstungen Frankreichs eine Gefährdung des europäischen Friedens darstellten. Aus deutscher Perspektive machte die russische Garantie f ü r die europäische Großmachtstellung eines republikanischen Frankreich nicht nur einen deutschen Präventivkrieg gegen Frankreich schlagartig zu einem militärpolitisch nicht mehr vertretbaren Risiko, sondern sie machte auch die deutschen Einschüchterungsversuche, die permanente Drohung mit dem Präventivkrieg, zu einem politisch untauglichen oder zumindest stumpfen Instrument, um Frankreich an einem beschleunigten Rüstungstempo und damit an dem Versuch, die militärischen Kräfteverhältnisse in Westeuropa zu seinen Gunsten zu verändern, zu behindern. Sicherlich war die Gefahr einer Verschiebung der militärischen Kräfteverhältnisse zugunsten Frankreichs kurzfristig leicht zu bannen. Das Gesetz zur Wehrordnung vom 28. September 1875 holte den französischen Vorsprung mühelos ein. Dennoch stellte die „Krieg-in-Sicht-Krise" die deut118

sehe Frankreichpolitik in aller Schärfe vor das Problem, daß man „den Gegner immer stärker werden" sehe und - „vom militärischen Standpunkte aus" die von den preußischen Militärs gehegte „Furcht vor der Zukunft" als berechtigt anzuerkennen gezwungen war, gleichzeitig aber dank der Haltung des „befreundeten" Rußland auf absehbare Zeit und unter allen Umständen „den vielleicht später zu führenden Krieg" vermeiden mußte 67 . Die Konsequenz dieses kurzfristig nicht aufzulösenden gordischen Knotens lag in der auf lange Sicht gestellten Aufgabe einer zukünftigen deutschen „Friedenspolitik", um den Preis eines deutsch-französischen Wettrüstens mit allen finanz- und innenpolitischen Konsequenzen die Aushöhlung der militärpolitischen Basis deutscher „Friedenspolitik" zu verhindern. Nur durch das noch bestehende extreme Ungleichgewicht des deutschen und französischen Militärpotentials entging die deutsche Politik dem Zwang, schon kurzfristig die innenpolitischen Weichen für eine längere Periode des deutsch-französischen Wettrüstens umstellen zu müssen. Immerhin signalisierte die Warnung Moltkes, daß sich seit Jahresende 1876 „in der Entwicklung der neugeordneten militärischen Verhältnisse Frankreichs ein rascheres Tempo bemerkbar" mache, und zwar in einer Weise, „die uns gefährlich sei oder uns wenigstens nötige, immer weiterzugehen", eine merkliche Zunahme dieses Drucks 68 .

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4. Wechselwirkungen zwischen innerstaatlichen Veränderungen und internationaler Konstellation in der Inkubationszeit des deutsch-russischen Antagonismus

4.1 Preußisch-deutsche Rüstungspolitik und deutsch-russischer Antagonismus von der „Krieg-in-Sicht-Krise" bis zum Berliner Kongreß 1878 Obwohl wenige Monate nach der „Krieg-in-Sicht-Krise" Unruhen auf dem Balkan ausbrachen, blieb die politische Lage in Europa bis zur Jahresmitte 1876 äußerlich unverändert. Wie in den ersten Nachkriegsjahren bewegten sich die deutsch-russischen Beziehungen in dem durch die „Drei-Kaiser-Politik" abgesteckten Rahmen. Sicherlich ging Moltke in seinen strategischen Planungen von einer offenen Konstellation in Europa aus, die auch die Möglichkeit eines Krieges gegen Rußland und Frankreich nicht ausschloß. Aber noch war „schwer einzusehen, welchen gerechtfertigten Anlaß Rußland haben könnte, sich mit Frankreich gegen uns zu verbünden", es sei denn, Rußland beabsichtige die Eroberung der Provinz Preußen mit den Häfen von Königsberg und Danzig 1 . Auf der anderen Seite zeichneten sich nach der „Krieg-in-Sicht-Krise" zunehmend deutlicher die Konturen eines deutsch-französischen Rüstungswettlaufs ab 2 , ohne daß gegenüber der militärischen Forderung nach beschleunigter Aufrüstung eine „politische" Alternative hätte angeboten werden können. Darüber hinaus war das Vertrauen des Militärstrategen Moltke in die Festigkeit der deutsch-russischen „Freundschaft" nach der Krieg-in-Sicht-Krise so weit erschüttert worden, daß ihm schon die geringste - diesmal von Rußland ausgehende — Verschärfung der Spannungen in Europa ausreichte, um selbst die Möglichkeit eines russischen Angriffs in seine Planungen einzubeziehen. Die im Frühjahr 1876 eingehenden Nachrichten, daß die russischen Truppen an der galizischen Grenze unauffällig und allmählich verstärkt würden, um „eine von Rußland nach eigenen Ideen in Aussicht genommene Lösung der bosnisch-herzegowinischen Frage seiner Zeit Österreich gegenüber mit Nachdruck durchzusetzen", konnten noch als „Gerüchte" interpretiert werden, die ihre Ursache in der Reform der russischen Heeresorganisation und in unbedenklichen Truppenverschiebungen der russischen Armee hatten 3 . Im Hinblick auf ihre „militärische Möglichkeit" bejahte der Generalstab jedoch am Jahresende 1876 die Bismarcksche Frage, ob „bedeutende russische Streitkräfte unter den augenblicklichen Umständen in anderer Richtung als gegen die Türkei" versammelt werden könnten. Eine Reihe der seit November 1876 von Rußland durchgeführten Maßnahmen ließ nach Überzeugung der preußischen Militärs 120

zumindest die „Deutung" zu, daß das „Gewitter der orientalischen Frage sich gegen Westen entladen" könne und „daß man in Rußland die Eventualität eines Krieges gegen Deutschland ernstlich ins Auge faßte". Als „Fingerzeige f ü r eine veränderte Aktionsrichtung" dienten dem Generalstab neben Art und Umfang der militärischen Maßnahmen die Tatsache, daß in Polen und an der preußischen Grenze heimliche Truppenkonzentrationen durchgeführt wurden. Im Rückblick auf die russische Militärpolitik seit 1870/71 erschien es dem preußischen Militârattaché in Petersburg im Februar 1877 geradezu so, als ob das Kriegsministerium „nach der deutsch-österreichischen Grenze unter fast völliger Vernachlässigung eines evtl. türkischen Kriegsschauplatzes" gearbeitet hätte. Das Eisenbahnnetz „gegen Preußen (nicht gegen Österreich)" sei inzwischen von einer „ausreichenden strategischen Vollständigkeit". Auch daß die innere Kriegsbereitschaft für einen Krieg gegen Deutschland in der Masse der bäuerlichen Bevölkerung innerhalb kurzer Zeit erzeugt werden könne, stand f ü r den Generalstab außer Frage 4 . Die in vollem Gange befindlichen russischen Kriegsvorbereitungen, die zumindest „tatsächlich" oder „vielleicht intentionell" eine „Spitze gegen Deutschland" hatten, sich andererseits aber „auch ebensogut wie gegen Deutschland gegen Österreich wenden" konnten 5 , mobilisierten Befürchtungen der preußischen Militärs, schon in naher Z u k u n f t ohne die Unterstützung einer anderen europäischen Macht in einen Zweifrontenkrieg verwickelt zu werden, f ü r den das Reich militärisch nicht hinreichend gerüstet war. Das militärische und politische Dilemma war offenkundig: einerseits „auf 200 Meilen Entfernung nach zwei Seiten hin Front machen zu müssen, dabei aber nur nach der einen mit ungefähr dem Gegner gleichen K r ä f t e n " auftreten zu können, andererseits „selbst die allgemeinsten Dispositionen nicht näher umschreiben zu können", solange Ungewißheit über die Rolle der Türkei, Englands, Dänemarks und vor allem Österreich-Ungarns im Falle eines russischen Angriffs auf Deutschland bestand 6 . In der Bismarckschen Reaktion auf die russischen Kriegsvorbereitungen artikulierte sich - wie bei Moltke - die als „ungewöhnlich groß" empfundene Schwierigkeit, „über den Verlauf der großen politischen Dinge eine Vorausberechnung anzustellen". Die zukünftige Richtung der französischen Politik bildete nicht den Kern dieser Schwierigkeit. Zwar bestand ein Unsicherheitsfaktor darin, daß Frankreich bei einer noch nicht vorherzusehenden Entwicklung der „politischen Konjunktur" bereits vor der Beendigung der Reorganisation seines Militärwesens versucht sein konnte, einen Krieg gegen Deutschland zu riskieren. Aber für eine unmittelbar von Frankreich ausgehende Gefährdung des europäischen Status quo gab es nicht das geringste Anzeichen 7 . Schwieriger war dagegen die richtige Einschätzung der N a h - und Fernziele der russischen Politik. Im Unterschied zum Generalstab sah Bismarck in den russischen Kriegsvorbereitungen keineswegs eine unmittelbare militärische Bedrohung. Gegen die Argumentation des Generalstabes, daß die russische Streitmacht „das Bedürfnis eines Krieges mit der Türkei übersteige und möglicherweise die Be-

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Stimmung habe, gleichzeitig gegen einen Nachbarn Front zu machen", machte Bismarck zweierlei geltend: Erstens sei die Gesamtstärke der mobilen und noch in Mobilisierung befindlichen Truppen „nicht zu viel für einen sicheren Krieg gegen die Türkei" und lediglich Ausdruck der „Notwendigkeit zu siegen, in welcher sich die Russen befinden werden, wenn sie sich schlagen". Zweitens lasse sich die Stärke und Verteilung der Reserve ebenso wie die Stationierung von zwei zusätzlichen Divisionen in Warschau und Radow mit der „Rücksicht auf die Polen erklären", die in einem russisch-türkischen Krieg eine „günstige" Gelegenheit sehen würden. In dieser Einschätzung wurde Bismarck durch die diplomatischen Berichte aus Petersburg und Wien bestätigt8. Skeptischer als die Militärs beurteilte Bismarck auch die Möglichkeit, daß in der großen Masse der bäuerlichen Bevölkerung die innere Bereitschaft zum Krieg gegen Deutschland vorhanden sei oder kurzfristig erzeugt werden könne. Auch in dieser Frage wichen die diplomatischen Informationen von der Einschätzung der Lage durch die Militärs ab. So verkannte Schweinitz zwar keineswegs die Breitenwirkung, die die Mobilisierung des religiösen Empfindens im „Landvolk" haben könne. Schweinitz unterstrich aber zugleich die Unwirksamkeit etwaiger Versuche „von oben", die antitürkische Spitze des religiösen Empfindens der bäuerlichen Massen gegen Deutschland umzubiegen9. Dennoch war Bismarck weit davon entfernt, die Bedeutung der militärischen Maßnahmen Rußlands zu unterschätzen. Aus ihrer Art und ihrem Umfang extrapolierte er zwar nicht die Wahrscheinlichkeit eines russischen Angriffs auf Deutschland oder Österreich-Ungarn, aber sie erschienen ihm „für die Kontrollierung anderseitiger Symptome von großem Wert" 10 . 1. Die russischen Kriegsvorbereitungen gewannen ihre Bedeutung für Bismarck erst vor dem Hintergrund der innenpolitischen Entwicklung, die seit der Mitte der 70er Jahre von einer sich rapide verschärfenden allgemeinen Wirtschaftskrise, einer akuten Krise der Finanzwirtschaft und schließlich von Symptomen bestimmt wurde, die eine Krise der Autokratie signalisierten11. Hatte Schweinitz noch im Februar 1876 entschieden die Ansicht vertreten, „daß das offizielle Rußland den Frieden dringend wünsche" und er „in St. Petersburg nicht nur keine Kriegspartei, sondern keinen einzigen Staatsmann oder General entdecken könne, welcher Krieg wolle", so verdichteten sich im Verlaufe des Jahres 1876 die Anzeichen zum Verdacht und schließlich am Jahresende zur Gewißheit, daß das „offizielle Rußland" den Krieg vorbereitete, um den aus der wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung resultierenden Gefahren für die Autokratie durch einen erfolgreichen und populären Krieg zu entgehen12. 2. An sich war die Möglichkeit, daß die traditionale Elite unter wachsendem wirtschaftlichem, finanziellem und innenpolitischem Druck eine militärische Lösung der schwelenden Balkankrise ins Auge faßte, für die deutsche Politik keineswegs alarmierend. Denn schließlich konnte die zaristische Expansionspolitik auf dem Balkan als Versuch gewertet werden, das 1870/71 nicht befriedigte und in der Mission Radowitz von Bismarck anerkannte Kompensa122

tionsbediirfnis f ü r die machtpolitischen Verschiebungen in Mitteleuropa nachträglich zu befriedigen 13 . Alarmierend war freilich, daß die zaristische Regierung diesen Versuch zu einem Zeitpunkt unternahm, an dem die traditionale preußenfreundliche Elite unter wachsendem innenpolitischem Druck nur schwer die Balance zwischen einer vom Kampf um die Verteidigung ihrer Machtpositionen beherrschten Innenpolitik und einer deutschfreundlichen Außenpolitik aufrechterhalten konnte. Diesen zunächst „mehr instinktmäßig" als aktenmäßig belegten Eindruck 14 gewann Bismarck einmal durch die H a l t u n g der russischen Presse, die noch bis zum Sommer 1876 „mit ganz geringen Ausnahmen" die offiziell verfolgte „Friedenspolitik" unterstützt hatte, in der sich aber mit zunehmendem Engagement f ü r die „slawische Sache" immer deutlicher antideutsche Stimmungen durchsetzten. In den folgenden Monaten schaukelten sich in der deutschen und russischen Presse die gegenseitigen Vorwürfe so weit hoch, daß sich der Zar bereits über das in deutschen Zeitungen gegenüber den russischen Absichten auf dem Balkan geäußerte Mißtrauen beklagte. Wenige Wochen später mußte Bismarck zur Begründung der „exzeptionellen" innenpolitischen Lage des Zarismus zugeben: „Die Stimmung in Rußland bringt vielfach den Gedanken zum Ausdruck, daß Rußland kühl von uns behandelt würde." Schließlich steigerte sich die antideutsche Stimmung in der russischen Presse bis zu dem Vorwurf, daß die deutsche Politik bewußt eine Beilegung der Balkankrise im russischen Interesse blockiert habe und jetzt Rußland in einen Krieg mit der Türkei hineinziehen wolle. Mehrere Zeitungen zogen daraus die Konsequenz, „daß der virtuelle Zerfall des Drei-KaiserBündnisses bevorstehe oder schon erfolgt sei und suchten ihre Leser an den Gedanken zu gewöhnen, wobei mehr oder weniger deutlich auf Frankreich hingewiesen wurde". Von da war es nicht mehr weit bis zu der Forderung, „daß man den Frieden erhalten müsse, um später um so stärker zu sein gegen andere Feinde und gegen falsche Freunde; neue Allianzen anstelle derjenigen, die sich nicht bewährt hätten, wurden anempfohlen" 1 5 . Auffällig war, daß die zunehmend deutschfeindliche Stimmung keineswegs auf die „nationalen" Presseorgane beschränkt blieb, die schon in der Vergangenheit von einer tiefsitzenden Animosität gegen Preußen bzw. gegen das Deutsche Reich beherrscht worden waren. Selbst der als deutschfreundlich bekannte „St. Petersburger Herold" rechnete inzwischen das „Schweigen Deutschlands" zu den „feindlichen Elementen, mit denen Rußland der Kampf bevorsteht, wenn es sich zum Schutze der im Orient unterdrückten Menschen aufwirft" 1 6 . Vor allem aber stellte sich mit nahezu absoluter Gewißheit heraus, daß die antideutschen Artikel in der russischen Presse von oben „inspiriert" wurden. O b darin nur eine - wie Schweinitz vermutete - „Diversion" gesehen werden mußte, oder ob dahinter die „Vorbereitung zu diplomatischer Aktion" stand 17 , war aus der Berliner Perspektive zumindest eine offene Frage, wenn nicht sogar schon frühzeitig zugunsten der zweiten Möglichkeit entschieden. Während der Zar nichts gegen die antideutsche Stimmung in der Presse unternahm, bewegte sich die russische Diplomatie zu offensichtlich in Paralleli123

tat mit den in den Zeitungen vertretenen Angriffen gegen die Drei-Kaiser-Politik und den militärischen Maßnahmen an der deutschen und österreichischen Grenze. Für Bismarck summierten sich die Anzeichen zu dem Eindruck, daß Druck auf die deutsche Politik ausgeübt werden sollte, nicht mehr nur „platonisch" im Rahmen der Drei-Kaiser-Politik die deutsch-russische Freundschaft zu betonen, sondern weitaus nachdrücklicher als bisher die russischen Interessen auf dem Balkan auch gegen Österreich und England zu vertreten 18 . Sah Bismarck nach den Erfahrungen während der „Krieg-in-Sicht-Krise" schon in der leisesten Andeutung einer russisch-französischen Annäherung „ein ernstes, die größte Aufmerksamkeit in Anspruch nehmendes Symptom", so machten die Manöver der russischen Diplomatie auf ihn einen um so nachhaltigeren Eindruck, weil sie vor dem Hintergrund einer Reihe von Maßnahmen erfolgten, mit denen Frankreich seine Kriegsbereitschaft zu steigern suchte. Außerdem nutzte die französische Diplomatie die reservierte H a l t u n g der deutschen Politik dazu, um sie als die „stille Feindin Rußlands zu diffamieren" 1 9 . Zwar fehlten zu dieser Zeit noch wichtige Voraussetzungen, um einen evtl. bestehenden Plan zu verwirklichen, „welcher dem Drei-Kaiser-Bunde eine andere Staatengruppierung zu substituieren bezweckte, deren Hauptbestandteile Frankreich und Rußland, und deren Endziele durch Zusammenzählung der beiderseitigen Interessen im voraus berechenbar gewesen wäre". Aber in der Atmosphäre eines allgemeinen Mißtrauens zwischen den europäischen Staaten erschien Bismarck die bloße Existenz eines solchen Planes „als Merkmal f ü r die Neigungen von Dingen und Personen sehr beobachtenswert" 20 . Als Resümee bleibt festzuhalten: Vor dem Hintergrund einer geschäftigen Aktivität in der europäischen Diplomatie, die den Eindruck erweckte, als ob der „Aufrollungsprozeß" der Balkanfrage noch durch das gegenseitige Einvernehmen zwischen den europäischen Staaten beigelegt werden konnte 21 , zeichneten sich am Jahresende 1876 die Konturen einer europäischen Konfliktlage ab, die im Westen von einer Verschärfung der deutsch-französischen Spannungen und im Osten von der Möglichkeit bestimmt wurde, daß sich angesichts der inneren Krise des zaristischen Systems die Gegensätze zwischen den Dreikaisermächten stetig verschärften und schließlich den europäischen Konfliktfall mit dem Risiko eines Zweifrontenkrieges auslösten. Obgleich diese Konfliktlage aus den „wenigen realen und vielen fiktiven Angaben" keineswegs zwingend abgeleitet werden konnte, so wurde sie doch von der politischen und mehr noch von der militärischen Führung des Reiches so konkret antizipiert, daß eine erhebliche Kurskorrektur an der in den Nachkriegsjahren verfolgten „Friedenspolitik" eingeleitet wurde. Auf die wichtigsten Elemente dieser Korrektur wies Bismarck hin, als er seine Entschlossenheit ausdrückte, „mit Rüstungen und dem Bemühen um Bündnisse" nicht mehr zu warten 22 . Ende Januar 1877 leitete Bismarck die ersten konkreten Schritte zur Verwirklichung einer präventiven Bündnispolitik ein. Den Ansatzpunkt bildete die „Substituierung" des Drei-Kaiser-Bundes: Wenn dieser nicht mehr hielt, so ergab sich nach den Bismarckschen Überlegungen das „einfache Substraktionsex124

empel: 1 von 3 macht 2". Mit der schnellen und zustimmenden Reaktion Andrássys, er betrachte es „schon jetzt als selbstverständlich, daß im Falle eines russisch-französischen Bündnisses ein enger Zusammenschluß Deutschlands und Österreichs der gegebene und naturgemäße Weg sei", waren am Jahresanfang die Weichen f ü r den Zweibund von 1879 gestellt 23 . Ergänzt wurden die diplomatischen Schritte in Richtung auf eine präventive Bündnispolitik mit antirussischer Spitze durch eine beschleunigte Aufrüstung, die sich freilich stärker gegen Westen als gegen Osten richtete. Das entsprach durchaus den strategischen Überlegungen des Generalstabes für die Eventualität eines in naher Z u k u n f t bevorstehenden Zweifrontenkrieges. Der Ausbau des russischen Eisenbahnnetzes und die Verteilung der russischen Truppen an der preußischen Grenze bestätigten Moltke zwar die Berechtigung des von ihm verfolgten Zieles, „auf ein auch den militärischen Anforderungen gerecht werdendes Gesamtsystem" des Eisenbahnbaus in Preußen und im Reich hinzuarbeiten, doch beschränkte er sich darauf, als „dringlich" nur die Erhöhung der Leistungsfähigkeit schon bestehender Bahnen in den östlichen Provinzen Preußens zu fordern und im übrigen die Richtungen anzugeben, für die Neuanlagen und Verbesserungen nötig waren 24 . Im Zentrum der Überlegungen Moltkes stand die Notwendigkeit, die Kriegsbereitschaft nach Westen kurzfristig weiter zu steigern. Denn angesichts der größer gewordenen Wahrscheinlichkeit eines Zweifrontenkrieges k a m für ihn alles darauf an, unter Ausnutzung der überlegenen Offensivkraft im Westen dort militärische Entscheidungen zu erzwingen, noch bevor Rußland seine Armeen vollständig mobilisieren konnte. Aufgrund dieser Überlegungen waren die russischen Kriegsvorbereitungen für Moltke Anlaß genug, um nachdrücklich die sofortige Beseitigung von „Mißständen" an der Westfront zu fordern, für die er vergeblich „schon seit längerer Zeit und wiederholt" eingetreten war. Darüber hinaus sollten die in Metz stehenden Bataillone und Batterien auf volle Kriegsstärke gebracht werden, „sobald eine Verwicklung mit dem Nachbarstaate auch nur wahrscheinlich" würde, und schließlich forderte Moltke den sofortigen Ausbau der Eisenbahnen auf dem linken Rheinufer, da dies „von der entscheidendsten Wichtigkeit f ü r die Sicherung von Metz sowie für den Aufmarsch der Armee" sei25. Die Bismarcksche Reaktion auf die militärischen Forderungen wurden von dem Grundsatz bestimmt, „den Wünschen des Grafen Moltke soviel wie möglich entgegenzukommen". Im Frühjahr 1877 bewies Bismarck mit dieser Haltung, daß die schubweise Aufrüstung die beste und außenpolitisch wirksamste Maßnahme war, um der Gefahr des Zweifrontenkrieges zu begegnen. „Aus Gründen der Politik" befürwortete er die sofortige Durchführung der von Moltke vorgeschlagenen Maßregeln, ohne grundsätzliche politische oder finanzielle Bedenken gelten zu lassen: „Weder das Aufsehen, welches entstehen, noch der Geldaufwand, welcher nötig würde, könnten dagegen in Betracht kommen." Den Widerstand Wilhelms I. gegen die Verstärkung der Garnison von Metz überwand er durch ein gemeinsames Vorgehen mit „militärischen Autoritäten" wie Moltke und dem Kriegsminister Kameke 26 . 125

Die Konsequenz, mit der Bismarck die Annäherung an Österreich-Ungarn vorantrieb, sowie der Nachdruck, mit dem er die Forderungen Moltkes unterstützte, bedeuteten nicht, daß sich die Voraussetzungen und Strategie deutscher Außenpolitik unter dem Eindruck einer als Bedrohung antizipierten europäischen Konfliktlage auf präventive Bündnispolitik und Aufrüstung beschränkt hätten. Eine Reduktion deutscher Außenpolitik auf diese beiden Elemente war in der konkreten Situation um die Jahreswende 1876/77 weder geeignet, die Gefahr eines Zweifrontenkrieges zu vermindern, noch hätte sie dem zu dieser Zeit noch vorhandenen außenpolitischen Handlungsspielraum entsprochen. Denn erstens erschienen die militärischen Probleme eines Zweifrontenkrieges auch im Bündnis mit Österreich-Ungarn als nahezu unlösbar. Selbst f ü r den Fall, daß die strategische Rechnung Moltkes aufging und die deutschen Armeen schon in der dritten Woche nach Kriegsausbruch eine „große Entscheidungsschlacht" im Westen herbeiführen konnten, reichten die militärischen K r ä f t e doch wieder nicht aus, um den militärischen Erfolg etwa durch die Verfolgung der französischen Armeen bis Paris auszubeuten. Denn mit Rücksicht auf die Ostfront mußte es bereits dann - so Moltke - „der Diplomatie überlassen werden, ob sie uns, wenn auch nur auf der Grundlage des Status quo ante, nach dieser Seite hin Ruhe schaffen kann" 2 7 . Darüber hinaus hätten während der ersten Kriegsphase ausgerechnet die preußischen Ostprovinzen nur notdürftig militärisch gesichert werden können, und letztlich bestand auch keine Klarheit darüber, ob Österreich-Ungarn die ihm zugedachte militärische Rolle zu übernehmen bereit bzw. in der Lage war 28 . Zweitens mußten die Erfahrungen aus der „Krieg-in-Sicht-Krise" berücksichtigt werden. Zumindest war „bei der Spannung der Situation" nicht ausgeschlossen, daß in den europäischen Kabinetten wieder „Mißdeutungen" über die deutsche Politik entstanden, „die gerade gegenwärtig störend, vielleicht gefährlich f ü r den Frieden werden konnten". Im Hinblick auf diese Problematik war die Verstärkung der Garnison von Metz, verbunden mit dem Versuch, „das politische Aufsehen, welches die Maßregel erregen würde, abzuschwächen", der von Wilhelm I. befürworteten Erhöhung der Friedenspräsenzstärke vorzuziehen, in welcher das Ausland „eine nach allen Seiten gerichtete Vermehrung der disponiblen Wehrkraft sehen und nach nicht ausgesprochenen politischen Gründen und Zwecken suchen" würde 29 . Drittens kam es darauf an, insbesondere gegenüber Rußland jedes Aufsehen zu vermeiden, und zwar nicht nur, weil akute deutsch-französische Spannungen der russischen Diplomatie die Chance geboten hätten, wirksamen Druck auf die deutsche Politik auszuüben. Im Januar 1877 waren sich Bismarck, Moltke und Roon darin einig, daß es „schwer auf der europäischen Situation lasten" würde, „wenn Rußland unbefriedigt aus der orientalischen Sache herausgehe". Im März fand Moltke es geradezu bedauerlich, daß Rußland den Krieg gegen die Türkei vielleicht im letzten Moment noch vermeiden würde, „weil das eine Verbitterung und Unzufriedenheit im Gefolge haben werde" und es immer bedenklich sei, „wenn man einen unzufriedenen Nachbarn neben 126

sich habe" 30 . Gerade die Einsicht, daß die traditionale Elite einen militärischen Erfolg auf dem Balkan suchte, um den inneren Schwierigkeiten zu entgehen, machte es f ü r die deutsche Diplomatie zwingend, alles zu vermeiden, was die Aktionsrichtung der russischen Politik vom Balkan weg nach Westen bzw. gegen Österreich-Ungarn lenken konnte. D a ß die russische Politik schließlich im Frühjahr 1877 endgültig in die gewünschte Richtung einschwenkte, kann deshalb auch zum Teil als Erfolg der deutschen Politik bewertet werden. Das starre Festhalten an der „Drei-KaiserPolitik" kam einer indirekten Garantie der territorialen Integrität ÖsterreichUngarns durch die stärkste Militärmacht in Europa gleich und machte damit russische Kriegsabsichten gegen den Vielvölkerstaat zu einem nicht mehr vertretbaren Risiko, während die deutsche Kalmierungspolitik im Westen bei gleichzeitiger Steigerung der Kriegsbereitschaft der russischen Diplomatie die Möglichkeit aus der H a n d nahm, den deutsch-französischen Antagonismus in einer entscheidenden Phase der russischen Innen- und Außenpolitik politisch auszuspielen. Schließlich hatte sich die zaristische Regierung inzwischen in der Balkanfrage innen- und außenpolitisch so weit exponiert, daß ihr der Rückweg verbaut war. Die Zurücknahme der Kriegsvorbereitungen wäre einer „weltgeschichtlichen Blamage" mit unabsehbaren Konsequenzen f ü r die zaristische Autokratie gleichgekommen 31 . Selbst wenn man davon ausgeht, daß einflußreiche ökonomische Interessengruppen zum Kriege gegen die Türkei drängten 32 , so belegt doch die Tatsache, daß die zaristische Regierung sich schließlich mit Österreich-Ungarn über die Kriegsziele verständigte - wobei sie erhebliche territoriale Zugeständnisse machte - und daß der Balkanfeldzug gegen den anfänglichen Widerstand des Kriegs- und Finanzministers sowie ohne deutsche Unterstützung eingeleitet wurde, in welche innen- und außenpolitische Sackgasse sich die zaristische Politik hineinmanövriert hatte 33 .

4.2 Reidisfinanzreform und Reichssteuerreform als Krisenstrategie: Die finanzielle Sicherung des innen- und außenpolitischen Status quo D a ß der russisch-türkische Krieg die deutsche Politik vom „cauchemar des coalitions" entlastete und ihr den zeitweise beträchtlich eingeengten außenpolitischen Handlungsspielraum zurückgab 1 , darf nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr sich die europäische Gesamtlage zuungunsten des Deutschen Reiches verändert hatte. Die nach der Reichsgründung in der Bismarckschen Konzeption deutscher Außenpolitik enthaltenen „politischen" Garantien zur Aufrechterhaltung des europäischen Status quo waren erheblich aufgeweicht und teilweise durch „militärische" abgelöst worden. Diese Tatsache hatte Konsequenzen u. a. auch f ü r die Reichsfinanzwirtschaft. Nachdem die Militärverwaltung durch die Beseitigung des Pauschquantums von einer finanziellen Fessel befreit worden war und die Krieg-in-Sicht-Krise jeden Zweifel daran beseitigt hatte, 127

daß die militärische Überlegenheit nach Westen nur in ständiger Konkurrenz mit den Aufwendungen behauptet werden konnte, die das finanzeil so vitale Frankreich für die Aufrüstung bereitstellte, meldete die Militärverwaltung laufend finanzielle Mehrforderungen an. Im Voranschlag des Etats f ü r 1875 tauchten prompt Mehrforderungen von ca. 50 Millionen Mark gegenüber dem Vorjahr auf. Um die Jahreswende 1876/77 erforderte die Steigerung der Kriegsbereitschaft nach der Überzeugung Moltkes zusätzliche Finanzmittel in einer Höhe, daß „nur das Reich die Behebung der entgegenstehenden Schwierigkeiten und die Beschaffung der Geldmittel in die H a n d nehmen" konnte 2 . Zwar konnte die Finanzverwaltung noch die Erwartungen der Militärs erfüllen 8 ; doch öffnete sich seit 1875 die Schere zwischen der begrenzten Ergiebigkeit des Steuersystems auf der einen und den stetig steigenden Finanzansprüchen einer expansiven Rüstungspolitik auf der anderen Seite 4 . Schon zu Beginn dieser Entwicklung hatte Bismarck die „große und würdige" innenpolitische Aufgabe darin gesehen, „dem Deutschen Reich eine mächtige, unerschütterliche finanzielle Grundlage zu geben, welche demselben eine dominierende Stellung" verleihe 5 . Der Lösung dieser Aufgabe kam er aber zunächst nicht näher. Im April 1876 erschien die Finanzlage bereits als „düster", da das Reich mit einem „verborgenen Defizit" in H ö h e von 129,8 Millionen Mark wirtschaftete, das nur durch „sachkundige Gruppierungen" einigermaßen verdeckt wurde®. Der Etatvorschlag für 1877/78 war „infolge der Steigerung der Reichsausgaben" wiederum ein Anlaß zur Skepsis 7 . Im Frühjahr 1878 begründete die Regierung die dringende Notwendigkeit einer spürbaren Vermehrung der Reichseinnahmen mit der unübersehbaren „Reichsfinanzkrise", als deren Ursache sie den „der Reichsgründung sich anschließenden Ausbau insbesondere des Heerwesens und der Marine" bezeichnete, der jetzt dringend eine „breitere Steuerbasis" erfordere 8 . Die „mit den Jahren sich verschlimmernde Wunde am Körper des Reiches" 9 machte die Verschärfung der bis dahin verdeckt schwelenden innenpolitischen Auseinandersetzungen um eine Reichsfinanzreform unvermeidlich, wobei die aufbrechenden Probleme der Rüstungsfinanzierung der Kritik am System des „bewaffneten Friedens" und des „preußischen Militarismus" neuen Auftrieb gaben. Noch war die öffentliche Meinung weit davon entfernt, steigende Rüstungsausgaben als „Naturgesetz" hinzunehmen. Bloße Statistiken, wonach die europäischen Staatsausgaben - der größte Teil davon f ü r Rüstungen - zwischen 1875 und 1877 von jährlich 9,2 auf 11,5 Milliarden Mark, d. h. um 22% gestiegen seien, lösten ζ. B. bei einem engagierten liberalen Journalisten wie Eduard Wiss emotionale Abwehrreaktionen gegen eine weitere Steigerung der Rüstungsausgaben aus10. Auf der anderen Seite entwickelten selbst die der militärischen Hegemonie Preußens gegenüber keineswegs unkritischen, aus finanziellem Eigeninteresse aber auf die Vermehrung der Reichseinnahmen drängenden Vertreter deutscher Bundesstaaten in der Abwehr der Kritik am Militarismus jene Verteidigungsideologie, die zunehmend die innenpolitische Diskussion um die Reichsfinanzreform beeinflußte. Neben Moritz Mohl, Mitglied des 128

•württembergischen Abgeordnetenhauses, blieb es vor allem konservativen Finanztheoretikern wie Adolph Wagner und Felix Geffcken vorbehalten, angesichts der „Reichsfinanzkrise" die konservative Finanztheorie neu zu begründen und die Verteidigungsideologie zu ihrem festen Bestandteil zu machen 11 . Der Versuch, das „Gesetz" von den wachsenden Staatsausgaben zu retten 12 , führte die konservative Finanztheorie zwangsläufig zu der „prinzipiellen" Frage nach den „richtigen Deckungsmitteln" f ü r den wachsenden Reichsfinanzbedarf im Zeitalter einer schnell expandierenden deutschen Rüstungspolitik 18 . Dabei verband sie die Kritik am preußisch-deutschen Finanz- und Steuersystem in seiner historisch überkommenen Form mit zwei prinzipiellen Anforderungen an das zukünftige Reichsfinanzwesen: Es müsse erstens „in seiner Einnahmewirtschaft Expansionsfähigkeit besitzen . . . um sich dem stetigen Finanzbedarf anzupassen" und zweitens müsse das „Präventivprinzip" konsequent auf die Finanzpolitik übertragen werden 14 . Um die Mitte der 70er Jahre boten sich vier Möglichkeiten an, um den wachsenden Reichsfinanzbedarf zu befriedigen: 1. Die Beanspruchung des Reichskredits nach Art. 73 der RV. Tatsächlich leiteten die „kleinen Schulden" der Marine- und Telegraphenverwaltung von 1875 bis 1876 die erste Periode einer ununterbrochenen Kette neuer Reichsanleihen ein, über die zunehmend größere außerordentliche Ausgabe der Heeres-, Marine- und Eisenbahnverwaltung finanziert wurden 15 . Die zunehmende Reichsverschuldung entschärfte zwar kurzfristig die Reichsfinanzkrise. Sie stand jedoch nicht nur im Widerspruch zu der finanziellen Zielvorstellung, „die Befriedigung staatlicher Bedürfnisse durch Schuldenaufnahme im Frieden möglichst zu vermeiden" 18 , sondern mit der Finanzierung steigender Militärausgaben auf dem Anleihewege setzte man sich der Gefahr aus, bei Ausbruch eines Krieges die finanzielle Mobilmachung den Imponderabilien des internationalen Geldmarktes überlassen zu müssen17. 2. Die Möglichkeit, steigende Rüstungsausgaben über die Matrikularbeiträge auf die Haushalte der Bundesstaaten abzuwälzen, wurde seit Mitte der 70er Jahre problematisch, da sich die Finanzlage der Bundesstaaten rapide verschlechterte. Wie im Reich wiesen die Etats der meisten Bundesstaaten steigende Defizite auf 18 . Die Wirtschaftskrise bildete nicht die eigentliche Ursache der bundesstaatlichen „Finanznot". Denn sie ließ nur die chronischen Mängel anachronistischer Strukturen in den Steuersystemen der meisten Bundesstaaten deutlicher hervortreten. Angesichts der politischen Schwierigkeiten, die bundesstaatlichen Steuerreformen bzw. der Vermehrung der Staatseinnahmen aus direkten Steuern entgegenstanden, verstärkte der Finanzdruck den bundesstaatlichen Widerstand gegen die Matrikularbeiträge. Zumal die Reduktion der Matrikularbeiträge zu Beginn der 70er Jahre vorwiegend den größeren Bundesstaaten zugute gekommen war, mobilisierte die Aussicht auf steigende Matrikularbeiträge 19 bei gleichzeitiger Verschlechterung der eigenen Finanzlage in den kleineren und süddeutschen Staaten die latenten Ressentiments gegen die preußische Hegemonie im Reich. Schon im Mai 1875 forderte Sachsen-Weimar 9

Müller-Link

129

stellvertretend für mehrere Bundesstaaten im Bundesrat die Abschaffung der Matrikularbeiträge, die -

als Kopfsteuer -

die Kleinstaaten

unverhältnismä-

ßig mehr belasteten als die wirtschaftlich stärkeren Bundesstaaten. S y m p t o m a tisch war auch die Agitation Mohls, der für Württemberg die Reichsmilitärund Außenpolitik zwar nicht zu „einer Frage von M a r k und Pfennig herabwürdigen" wollte, dennoch heftig dagegen opponierte, „daß die Finanzen des Reiches in einer Weise eingerichtet sein müssen, welche den deutschen Einzelstaaten durch Reichsumlagen von hohen, wechselnden und steigenden Beträgen jede geordnete Finanzwirtschaft unmöglich machen, dieselben in die peinlichsten Defizite stürzen und sie nötigen, ihre Angehörigen mit den lästigen Steuern zu bedrücken" 2 0 . Den entscheidenden R ü c k h a l t gegen die finanziellen A n sprüche des Reiches erhielt die bundesstaatliche Front, als Preußen sein „natürliches Schwergewicht" einbrachte und im J u l i 1877 die Führung im K a m p f gegen die Matrikularbeiträge übernahm 2 1 . 3. V o r dem Hintergrund der zunehmenden

Reichsverschuldung

und

der

Verhärtung des bundesstaatlichen Widerstandes gegen die Matrikularbeiträge mußte die Frage akut werden, wie die Reichseinnahmen entweder aus den vorhandenen oder aus neuen Steuerquellen gesteigert werden konnten. Wenn das Reich nicht unpopulär werden wollte, ließ sich - wie Albert Schäffle bemerkte - angesichts der „finanziellen D ü r r e " in den Reichs-, Landes- und Gemeindekassen dem wachsenden Reichsfinanzbedarf „durch Vermehrung der direkten Steuern für erhöhte Matrikularbeiträge viel schwerer die Deckung verschaffen, als durch die Vermehrung der indirekten Reichssteuern, der B r a n n t wein-, T a b a k - und Zolleinnahmen" 2 2 . 4. Eine weitere Möglichkeit, die Reichseinnahmen zu steigern, bestand darin, sämtliche deutsche Eisenbahnen außerhalb Bayerns für das Reich zu erwerben. 1875 griff Bismarck das O b j e k t auf 2 3 . Neben militärischen

Gründen 2 4

sprach dafür der doppelte finanzielle Aspekt, daß die derzeitige Finanzlage der Privateisenbahnen und die Lage auf dem G e l d m a r k t günstig waren, um „die hauptsächlichsten Privatbahnen . . . unter billigen Bedingungen zu erwerben" und daß „gut geleitete Eisenbahnen dem Reich Einnahmen zwischen 2 0 0 und 3 0 0 Millionen M a r k verschaffen würden". „Der Reichshaushalt würde", so formulierte der zeitgenössische Historiker Poschinger die an das P r o j e k t geknüpften Erwartungen, „von Grund aus anders gestaltet sein." 2 5 K o n t r a s t i e r t man die Dringlichkeit, mit der sich seit der Mitte der 70er J a h re das Problem einer drastischen Steigerung der laufenden Einnahmen des R e i ches stellte, mit den Widerständen, die den hier skizzierten Lösungsmöglichkeiten entgegenstanden, dann stand eine Politik des innenpolitischen Krisenmanagements, die erstens finanzpolitische „ P a l l i a t i v e " vermeiden und zweitens an dem „altpreußischen G r u n d s a t z " festhalten wollte, „daß die laufenden Ausgaben durch laufende Einnahmen gedeckt werden müssen" 2 6 , letztlich vor der A l ternative, entweder im K a m p f um höhere Matrikularbeiträge bzw. um das Reichseisenbahnprojekt

einen

Dauerkonflikt

zwischen

dem Reich

und

den

Bundesstaaten zu riskieren oder mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln 130

eine Reichsfinanzreform mit dem Ziel einer spürbaren Steigerung der Reichseinnahmen aus den indirekten Steuern im Reichstag durchzusetzen. Fest steht, daß Bismarck nie daran gedacht hat, einen jährlich wiederkehrenden Konflikt zwischen dem Reich und den Bundesstaaten um höhere Matrikularbeiträge zu riskieren. Denn abgesehen davon, daß ein Erfolg in dieser Richtung die langwierige Reform der bundesstaatlichen Steuersysteme vorausgesetzt hätte - wobei offen blieb, ob während einer andauernden Wirtschaftskrise die Einnahmen aus den direkten Steuern in der gewünschten H ö h e hätten gesteigert werden können - , hatte Bismarck schon zu einem Zeitpunkt, an dem die Steigerung der Einnahmen des Reiches noch nicht als ein unmittelbar dringliches Problem der Reichsfinanzpolitik erschienen war, in der Verminderung der Matrikularbeiträge die „Aufgabe einer wohlerwogenen Reichspolitik" gesehen 27 . Auch hinsichtlich des Reichseisenbahnprojektes ließ Bismarck mit Rücksicht auf die bundesstaatlichen Widerstände 2 8 schon im Frühjahr 1876 durchblicken, daß er zur Verwirklichung dieses „nationalen Bedürfnisses" keinen Dauerkonflikt zwischen Reich und Bundesstaaten riskieren wolle, was ihn freilich nicht daran hinderte, weiterhin die große Bedeutung zu betonen, die er dem Reichseisenbahnprojekt beimesse29. Die Rücksicht auf die Bundesstaaten machte also eine Reichsfinanzreform auf der Grundlage einer Vermehrung der Einnahmen aus den indirekten Steuern unvermeidlich. Wie Bismarck schon im Frühjahr 1875 vermutete, waren die Widerstände in dieser Richtung keineswegs geringer als der bundesstaatliche Widerstand gegen höhere Matrikularbeiträge und das Reichseisenbahnprojekt 30 . Bei dem Versuch, diese Schwierigkeiten zu überwinden, war es ein nicht zu unterschätzender Aktivposten, daß der Ausbau der dem Reich aus den Zöllen und den inneren Verbrauchssteuern zustehenden Einnahmen eine Basis bildete, auf der sich relativ leicht eine Verständigung zwischen dem Reich und den Bundesstaaten über die Reichsfinanzreform herstellen ließ 31 . Das Programm eines einfachen Konsumsteuer- und Finanzzollsystems, das Bismarck am 22. November 1875 im Reichstag entwickelte 32 , fand die Zustimmung der Bundesstaaten und wurde selbst in seiner modifizierten Form auf der Heidelberger Konferenz im August 1878 akzeptiert 33 . Konnte bei den Finanzverwaltungen der Einzelstaaten das „entscheidende Interesse an der möglichsten Minderung der Matrikularbeiträge" 3 4 mühelos in eine einheitliche Stellungnahme des Bundesrates über die anzustrebende Reichsfinanzreform umgesetzt werden, dann fiel um so stärker der Widerstand ins Gewicht, den die liberale Reichstagsmajorität den Versuchen zur Steigerung der Einnahmen aus den Quellen entgegensetzte, die dem Reich nach der Verfassung zustanden 35 . Die freihändlerische Tabuisierung allgemeiner Importzölle setzte von vornherein auch den Möglichkeiten, die Zolleinnahmen des Reiches zu steigern, eine Grenze. Diese Tatsache war um so gravierender, als die Prognose des Freikonservativen Kardorff, „daß die Mehrausgaben des Reiches in viel stärkerer Progression steigen werden als die Einnahmen aus den Zöllen", von der Wirklichkeit sogar noch übertroffen wurde. Denn ausgerechnet in der Zeit eines bereits als chronisch 9*

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angesehenen Defizits im Reichshaushalt entwickelten sich die Zolleinnahmen rückläufig. Mitbedingt durch das Ende der industriellen und agrarischen Hochkonjunktur gingen die Einnahmen aus den Zöllen und Verbrauchssteuern nicht nur ihrem absoluten Betrag nach zurück. Ihr Anteil an den gesamten Reichsausgaben verringerte sich von 77,3% (1873) auf 63,7% (1875), 61% (1877/78) und 58% (1878/79) 3 ". Die liberalen Parteien beschränkten sich darauf, die in den Haushaltsvoranschlägen erscheinenden budgetmäßigen Defizite aus Rückstellungen, durch fiktive Überschüsse und - in begrenztem Rahmen - durch Vermehrung der schwebenden Staatsschuld zu „bilancieren" 37 . Wenn es auch auf diese Weise gelang, ohne neue Steuern und ohne allzu drastische Steigerung der Matrikularbeiträge das Budget im Gleichgewicht zu halten, so kann doch daraus nicht gefolgert werden, daß es das Ziel der liberalen Parteien gewesen wäre, die Reichsfinanzwirtschaft vom Reformzwang zu entlasten. Je klarer sich vielmehr die Tendenz abzeichnete, unter dem postulierten Primat „militär-politischer Notwendigkeiten" die Militärausgaben ständig zu erhöhen und damit finanzpolitische Fakten zu schaffen, die die Vermehrung der Reichseinnahmen unvermeidlich machten, um so mehr war die von den liberalen Parteien verfolgte Haushaltspolitik geeignet, die Dringlichkeit einer Reichsfinanzreform zu verschärfen. Es kann offen bleiben, ob ein Ende der industriellen Depression und der Agrarkrise das sich abzeichnende Dilemma der Reichsfinanzwirtschaft vermindert hätte und die Haushaltspolitik von dieser Erwartung beeinflußt wurde. Der Widerstand gegen die Bismarckschen Reichsfinanzreformpläne zeigte jedenfalls System insofern, als die zunehmend deutlicher zutage tretende „Reichsfinanznot" noch einmal die Chance zu bieten schien, an einer empfindlichen Stelle des preußisch-deutschen Konstitutionalismus den Hebel liberaler Politik wirksam anzusetzen. Weder die Nationalliberalen noch die Fortschrittspartei waren prinzipiell gegen eine Vermehrung der Reichseinnahmen 3 ®. Das liberale Credo, das dem inneren Ausbau des Reiches auch im Bereich der Finanz- und Steuerpolitik einen hohen Stellenwert einräumte, Schloß freilich nicht zugleich den Verzicht auf die Forderung ein, daß eine Reichsfinanzreform nach den Vorstellungen liberaler Finanz- und Steuerpolitik durchgeführt und mit einer gründlichen Reform der bundesstaatlichen Steuersysteme gekoppelt werden sollte. Vor allem aber war der Widerstand der liberalen Parteien darauf angelegt, die Aushöhlung des Einnahmebewilligungsrechts durch indirekte Steuern zu verhindern und für ihre Beteiligung an einer Reichsfinanzreform „konstitutionelle Äquivalente" durchzusetzen. Die Erfolgschancen dieser Politik schienen unter dem Druck wachsender Rüstungsausgaben einerseits und einer Verschlechterung der Finanzlage des Reiches und der Bundesstaaten andererseits günstig zu sein39. D a ß nicht nur diese Rechnung sich als falsch erwies, sondern auch der Versuch der liberalen Parteien, sich im Widerspruch zu den Bismarckschen Reichsfinanzreformplänen als parlamentarische K r a f t zu profilieren, mit einem Fiasko des politischen und ökonomischen Liberalismus endete, läßt die H o f f n u n g auf konstitutionelle Zugeständnisse nachträglich

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vielleicht als ein liberales Wunschdenken erscheinen. Zumindest bleibt die Frage nach der Konfliktbereitschaft und -fähigkeit der liberalen Parteien ebenso offen wie die Frage nach den konkreten Durchsetzungschancen liberaler Politik in einem Militärstaat 40 . Im Zusammenhang dieser Arbeit soll nur dem Problem nachgegangen werden, welche Rolle die deutsch-russische Wirtschaftsrivalität bei der Formierung agrarischer und industrieller Interessengruppen gegen den politischen und ökonomischen Liberalismus spielte und welchen Beitrag diese Rivalität dazu leistete, daß die Auseinandersetzungen um die Reichsfinanzreform in ein System der innenpolitischen und sozialökonomischen Reaktion einmündeten, das die Eskalation der deutsch-russischen Antagonismen voraussetzte und beschleunigte.

4.3 Von der „industriellen Revolution" zur „industriellen Depression": Die deutsche Industrie und der russische M a r k t bis 1 8 7 9 Im Zeitraum zwischen dem Abschluß des preußisch-russischen Schiffahrtsvertrages vom 14. März 1825 und dem Krim-Krieg scheiterten alle Versuche, der Industrieproduktion des Zollvereins durch eine Liberalisierung der deutschrussischen Handelsbeziehungen eine „lohnende Ausfuhr auf gesetzlichem Wege" zu verschaffen 1 . Bemühungen der preußischen Diplomatie, „bei jeder geeigneten Veranlassung" die zaristische Regierung „auf die großen russischen Interessen aufmerksam zu machen, welche unter der russischen Handelspolitik zu leiden hatten", waren vergeblich, solange Rußland nach merkantilistischer Manier für seine wirtschaftlichen Schwierigkeiten und insbesondere für die kritische Lage seines Geldmarktes die ausländischen Importe verantwortlich machte. Nachdem man sich auf preußischer Seite vorübergehend damit abgefunden hatte, „daß eine Besserung des Zustandes nicht im großen, sondern nur im kleinen erreichbar sei", weckten die Lockerung des starren prohibitiven Zollsystems, der russisch-französische Handelsvertrag von 1857 und die Anstrengungen, die Rußland zur Überwindung seiner ökonomischen Rückständigkeit machte, bei der verstärkt auf ausländische Märkte drängenden preußischdeutschen Industrie die Erwartung, Rußland werde sich zu einer weiteren Liberalisierung seiner Handelspolitik und zum Abschluß eines Handelsvertrages mit dem Zollverein bereitfinden 2 . Wiederholte diplomatische Vorstöße der preußischen Regierung in dieser Richtung mußten 1867 vorläufig jedoch als gescheitert angesehen werden. Übrig blieb auf preußisch-deutscher Seite das Bewußtsein, von einem großen Markt mit ständig sich erweiternden Absatzchancen wenn nicht abgeschnitten, so doch durch eine „feindliche" Handelspolitik in den Absatzmöglichkeiten erheblich behindert zu werden3. Vorübergehend nahmen die am Rußlandexport interessierten Industrien 4 diese Tatsache als unveränderlich hin, weil wichtige Voraussetzungen fehlten, die der preußischen Regierung ein über die vorsichtige diplomatische Intervention hinausge133

hendes Engagement zugunsten des deutschen Industrieexportes erlaubt hätten. Der bloße Gedanke etwa daran, die deutschen Exportinteressen gegenüber Rußland durch Drohungen mit einer Kampfzollpolitik durchzusetzen, war angesichts der allgemein zur Herrschaft gelangten freihändlerischen Ideen tabu. H i n z u kam, daß die deutsche Industrie trotz erheblicher Behinderungen ihren Rußlandexport merklich steigern konnte, und wo sich Vertreter der deutschen Industrie - wie etwa der Eisenindustrielle Lueg - auf dem russischen Markt gegenüber anderen ausländischen Konkurrenten benachteiligt fühlten, wurden sie dadurch entschädigt, daß sie im „eigenen Lande" noch „genügende Beschäftigung" fanden 5 . Das Problem einer Regelung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen wurde erst wieder um die Mitte der 70er Jahre akut, freilich in wesentlich verschärfter Form: Unter dem Druck einer industriellen Depression internationalen Ausmaßes sowie vor dem Hintergrund der in beiden Ländern sich formierenden wirtschaftlichen Interessengruppen, die die Zollpolitik in protektionistischem Sinne zu beeinflussen suchten. Der „Krach" von 1873 und die Plötzlichkeit, mit der die „große Depression" alle Bereiche der deutschen Industrie ergriff, kollidierte so stark mit den hochgesteckten Erwartungen an die Fortdauer der Hochkonjunktur, daß sich in großen Teilen der deutschen Industrie Anzeichen einer „psychischen Depression" breitmachten, noch ehe die ökonomischen Folgen der Krise voll zutage traten®. Intensität und Dauer der Depression waren Erfahrungen, die in wichtigen Branchen der Textil- und Eisenindustrie den Widerstand gegen einen eindeutig freihändlerischen Kurs der deutschen Zoll- und Handelspolitik verstärkten 7 . Wenn auch das starke Übergewicht der Anhänger des Freihandels in der Bürokratie, in den Parlamenten und in der Öffentlichkeit kaum Illusionen aufkommen ließ, schon in naher Z u k u n f t schutzzöllnerischen Bestrebungen größeres politisches Gewicht verschaffen zu können, so zeigen doch die überreizten Reaktionen auf die zunächst vergeblichen Vorstöße zugunsten einer auch nur bescheidenen Revision des Tarifs von 1873, wie sehr führende Vertreter der deutschen Eisenindustrie schon in der frühen Phase der Depression auf die Zollund Handelspolitik als Instrument der Krisensteuerung fixiert waren 8 . Auf der anderen Seite wäre es verfehlt, zu diesem Zeitpunkt bereits zollpolitischen Forderungen in der Prioritätenskala industrieller Interessenpolitik einen eindeutigen Vorrang einzuräumen. Gerade die zunächst noch geringe politische Resonanz protektionistischer Forderungen verstärkte den Druck, sich marktkonform zu verhalten, also nicht von Staats wegen, sondern im Rahmen des liberalen Konkurrenzkapitalismus auf der nationalen und internationalen Ebene die Krise zu bekämpfen. Infolgedessen waren innerhalb der Interessenverbände der Eisenindustrie die Reaktionen auf die ablehnende Haltung des Reichstages gegenüber den schutzzöllnerischen Vorstößen gespalten. Gegen die Alternative, entweder die Schutzzollagitation zu verstärken oder abzuwarten, um durch die Krise selbst die Vorurteile gegen die „berechtigten" zollpolitischen Forderungen beseitigen zu lassen, setzte sich in den internen Diskussionen die vorläufige 134

Uberzeugung durch, „den Wegfall des Zollschutzes als eine unvermeidliche und nicht mehr zu ändernde Tatsache hinzunehmen" und statt dessen „die vollste Tätigkeit . . . auf die Erlangung günstigerer Produktionsbedingungen zu lenken"». In der Frühphase der Depression folgte die Politik der organisierten industriellen Interessen im wesentlichen dieser Maxime. Ohne schutzzöllnerischen Gedanken prinzipiell abzuschwören, bewegte sie sich mit ihren kurzfristigen Zielsetzungen ganz im Rahmen des liberalen Konkurrenzkapitalismus. Senkung der Produktionskosten - insbesondere durch Kürzung der in der Hochkonjunktur angestiegenen Löhne 10 - , Beseitigung der noch bestehenden Restzölle auf landwirtschaftliche Produkte, „weil ohne billigere Nahrungsmittel die Löhne nicht genügend reduziert werden" konnten, niedrigere Eisenbahnfrachttarife und die „Anbahnung günstiger Handelsverträge" 1 1 bildeten die wesentlichsten Bestandteile einer Interessenpolitik, der es darauf ankam, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie auf den europäischen Märkten auch unter den Bedingungen eines sich verschärfenden internationalen Konkurrenzkampfes zu erhalten. Sie stellte geradezu die konsequente liberale Alternative zu protektionistischen Ambitionen dar 12 . Mit der durch das innenpolitische Übergewicht der Anhänger des Freihandels erzwungenen Abwendung industrieller Interessenpolitik von schutzzöllnerischen Ambitionen eröffnete sich die Möglichkeit, daß auch in absehbarer Zeit freihändlerische Tendenzen ihren dominierenden Einfluß auf die deutsche Zollund Handelspolitik würden behaupten können. Der Druck der Krise schien es geradezu notwendig zu machen, daß sich die Verbände der deutschen Textilund Eisenindustrie mit den exponiertesten Vertretern des Freihandels in der Bürokratie und im Reichstag in dem Bemühen zusammenfanden, möglichst günstige Ausgangsbedingungen f ü r eine große Exportoffensive der deutschen Industrie auf den benachbarten europäischen Märkten zu schaffen. Eine entscheidende Voraussetzung dafür war freilich, daß auch die Zoll- und Handelspolitik der übrigen europäischen Staaten einen ähnlich freihändlerischen Kurs verfolgte. Je vorbehaltloser sich jedoch die Vertreter des Freihandels zu der Aufgabe bekannten, die Konkurrenzbedingungen auf den europäischen Märkten zugunsten der deutschen Industrie zu verbessern, um so offenkundiger trat das Dilemma einer Zoll- und Handelspolitik hervor, die noch prinzipiell an freihändlerischen Prinzipien festhielt, als sich unter dem Druck der Depression die protektionistischen K r ä f t e in den benachbarten Staaten bereits durchsetzten. Zwischen der Tatsache, daß - wie der Präsident des Reichskanzleramtes Delbrück schon im Dezember 1875 im Reichstag zugeben mußte - „im ganzen aus denselben Ursachen jetzt durch Europa ein protektionistischer Zug" ging, sowie der erklärten Bereitschaft des preußischen Finanzministers Camphausen, „der Überproduktion des Inlandes durch Erweiterung des Absatzgebietes den wünschenswerten Abzug zu schaffen" 13 , bestand eine von einer freihändlerischen Handelspolitik nicht aufzulösende Diskrepanz, da sie über keine Sanktionsmit135

tel verfügte, um andere Staaten von ihrem protektionistischen Kurs abzubringen. Der schnelle Sieg der protektionistischen Tendenzen in den Nachbarstaaten des Deutschen Reiches ließ als Alternative zu einer freihändlerischen deutschen Handelspolitik nur die Wendung „rechtsum kehrt" zu, deren mögliche Konsequenzen der nationalliberale Abgeordnete Braun-Gera schon in den Debatten um den Tarif von 1873 als ein notwendiges Korrelat der Vorstellungen des Saar-Industriellen Stumm geschildert hatte, Deutschland könne anderen Nationen in bezug auf ihr Zollsystem und ihre inneren Verhältnisse beeinflussen. „Wir müßten", sagte Braun im Juni 1873 vor dem Reichstag, „das System der westeuropäischen Handelsverträge aufheben . . ., das System der Differentialtarife wieder empfehlen . . . , in die Maßregeln fremder Staaten eingreifen und sogar am Ende Krieg führen mit einem Lande, das einen schlechten Tarif hat, nachdem wir unsere Waren nicht günstig absetzen können" 1 4 . In dem freihändlerischen Dilemma erkannte ein so exponierter Vertreter der deutschen Eisenindustrie wie Baare schon frühzeitig die Chance, die Bestrebungen zur Verbesserung der Konkurrenzbedingungen auf den auswärtigen Märkten in eine neue Phase des Kampfes um den inneren Markt umzubiegen. Seine auf der Generalversammlung des „Bochumer Vereins" im September 1875 erhobene Forderung nach „Reziprozität" enthielt den Kern einer neu motivierten schutzzöllnerischen Kampagne, die den Entscheidungskampf zwischen Freihändlern und Schutzzöllnern einleitete 15 . Bis dahin hatten der schutzzöllnerische Pressure Group der Eisenindustriellen vorwiegend die französischen Ausfuhrvergütungen als „schutzzöllnerischer Vorwand" gegen den Abbau der Eisenzölle gedient, wobei sich das politische Feindbild vom revanchelüsternen Feind im Westen mühelos mit den schutzzöllnerischen Forderungen zur Deckung bringen ließ 16 . Seit dem Beginn der Depression konnten jedoch die französischen Ausfuhrvergütungen zunehmend weniger für die eigenen Schwierigkeiten verantwortlich gemacht werden. Das Schloß nicht aus, daß auf der einen Seite industrielle Interessenvertreter weiterhin an der Forderung nach Beseitigung der „Titres d'acquits à caution" festhielten und dabei die nach wie vor verbreitete „Antipathie gegen Frankreich" mobilisierten 17 , während sich andererseits auch prinzipielle Freihändler dazu drängen ließen, gegenüber Frankreich stärker die „nationale Seite" der deutschen Handelspolitik zu vertreten, um so die extremsten schutzzöllnerischen Vorstöße abzuwehren 18 . Die Nachgiebigkeit der Freihändler gegenüber der Forderung nach „Ausgleichungsabgaben", die ausschließlich mit dem französischen Exportförderungssystem begründet wurde, konnte jedoch für den Entscheidungskampf um die grundsätzliche Richtung der deutschen Zoll- und Handelspolitik günstigstenfalls aufschiebende Wirkung haben. Denn der Gesetzentwurf über die „Ausgleichungsabgaben" entsprach zwar als ökonomische „Verteidigungsmaßnahme" dem außenpolitischen Feindbild der „Freihändler" und der „Schutzzöllner", er bezeichnete aber nicht die genaue Richtung, in der vor allem einflußreiche Gruppen der Eisenindustrie den Ausweg aus der Krise zu suchen begannen: In der Erschließung neuer Märkte vor allem in Osteuropa 136

und als Folge der dabei auftretenden Schwierigkeiten in der Verdrängung der auswärtigen Konkurrenz vom inneren Markt. D i e Erwartungen besserer Exportchancen richteten sich zunächst auf den österreichischen M a r k t . Deshalb standen die Verhandlungen über die Erneuerung bzw. Verlängerung des am 1. J a n u a r 1878 auslaufenden Handelsvertrages von 1868 unter dem Druck der „außerordentlichen Anstrengungen", die die deutsche Industrie zur Durchsetzung ihrer „gewaltigen Interessen" unternahm 1 9 ; d. h. sie wurden zum Testfall für die Möglichkeit einer freihändlerischen deutschen Handelspolitik, der Industrie verbesserte Exportchancen zu sichern. Im Gegensatz zu Österreich-Ungarn bestanden zwischen Deutschland und Rußland keine handelsvertraglichen Beziehungen. Der Druck der Krise und die Tatsache der „noch immer sehr erschwerten Einfuhr nach R u ß l a n d " veranlaßten den V D E S I aber schon bald, „die Bestrebungen wieder aufzunehmen, die seinerzeit vom Deutschen H a n d e l s t a g für die Erreichung besserer Einfuhrbedingungen . . . vergeblich eingeleitet worden" waren. Man machte sich zwar keine Illusionen, „sofort zu reüssieren", aber bei einem noch florierenden Rußlandexport schloß das die H o f f n u n g nicht aus, etwa durch „Kompensationen" die russische Grenze für deutsche Industrieprodukte durchlässiger machen zu können 2 0 . Im Frühjahr 1875 gingen der deutschen Industrie erste Informationen über die Absicht der österreichischen und russischen Regierung zu, einen verstärkt protektionistischen K u r s einzuschlagen: Österreich wolle die Eisenzölle erhöhen, „ u m seinen heimischen Werken gegen die andrängende auswärtige K o n kurrenz einen wirksamen Schutz zu bieten". In Rußland sei mit einem ganzen Bündel protektionistischer Maßnahmen zu rechnen 21 . D a ß in Rußland und Österreich-Ungarn die „entschiedensten Anstrengungen" für eine Erhöhung der Eisenzölle gemacht wurden, alarmierte nicht nur die oberschlesische, sondern auch die rheinisch-westfälische Eisenindustrie. So erschien es ζ. B. dem Generaldirektor der Gute-Hoffnungs-Hütte, Lueg, als ein „nationalökonomischer Fehler", wenn die deutsche Industrie den Vorgängen auf diesem für sie „ins Gewicht fallenden Absatzgebiete" nicht „volle Berücksichtigung" schenkte. Denn gerade jetzt, wo die deutsche Industrie bei der Eroberung des russischen Marktes gegen die englische Konkurrenz „einige E r f o l g e " zu verzeichnen habe, treffe Rußland „die weitgehendsten Maßregeln zur K r ä f t i g u n g seiner eigenen Industrie und zur Verdrängung der ausländischen Konkurrenz" 2 2 . Solange die definitive Entscheidung über den zukünftigen K u r s der Zollund Handelspolitik in den östlichen Nachbarstaaten noch nicht gefallen war, vermieden es die Interessenverbände der deutschen Industrie, nun auch ihrerseits der Verdrängung der ausländischen Konkurrenz vom deutschen Binnenmarkt die absolute Priorität einzuräumen. Vielmehr war ihre Politik weiterhin darauf ausgerichtet, die osteuropäischen Märkte der deutschen Industrie als Absatzgebiete zu erhalten. Vertreter der oberschlesischen Industrie intensivierten ihre Bemühungen um die „ Ö f f n u n g der russischen und österreichischen 137

Grenze", indem sie bei der Reichsregierung gegen die zu erwartenden Zollerhöhungen in Rußland protestierten bzw. in bezug auf die bevorstehenden deutsch-österreichischen Handelsvertragsverhandlungen ihre Forderungen präzisierten. Für die rheinisch-westfälische Eisenindustrie bekräftigte der Langnam-Verein sein ungebrochenes Interesse an der Erweiterung des Rußlandexportes mit der Forderung, jetzt „Handelsverträge auch dort abzuschließen, wo sie noch nicht bestehen" 23 . Unübersehbar bildete das Erstarken protektionistischer Kräfte in den östlichen Nachbarstaaten des Deutschen Reiches aber auch einen Faktor, der erheblich dazu beitrug, daß der Einfluß der Freihändler auf die deutsche Wirtschaftspolitik zusehends von protektionistischen Kräften zurückgedrängt werden konnte. Denn während die industriellen Interessenvertreter von einer scheinbar freihändlerischen Position aus noch ihre Anstrengungen um die Erhaltung günstiger Absatzbedingungen auf den östlichen Märkten intensivierten, nutzten sie das Erstarken schutzzöllnerischer Tendenzen in Rußland und Österreich zu neuen Angriffen auf die freihändlerische deutsche Handelspolitik. Erst dadurch, daß sie Ressentiments gegen die russische und österreichische Zollpolitik aktivieren konnte, erhielt ζ. B. die schutzzöllnerische Formel des Generaldirektors der Bismarck-Hütte in Oberschlesien, Kollmann: „Keine freie Einfuhr ohne das Korrelat der freien Ausfuhr" ihre besondere agitatorische Wirksamkeit. Auf der Generalversammlung der östlichen Gruppe des V D E S I vom Juni 1876 wurde die Forderung nach einem Roheisenzoll erstmalig damit begründet, daß ohne die Abkehr von der freihändlerischen deutschen Handelspolitik gegenüber Rußland und Österreich die „volle Parität, mindestens aber eine entsprechend weitgehende Reziprozität" nicht erreicht werden könne 24 . In der rheinisch-westfälischen Eisenindustrie setzten sich schnell ähnliche Vorstellungen durch 25 . Zunächst wandten sich die industriellen Interessenverbände mit der Forderung nach Reziprozität noch nicht prinzipiell gegen das Freihandelsprinzip, sondern nur gegen seine „unbedingte Anerkennung und Durchführung einseitig von Deutschland" 2 9 . Konkret ging es um das Nahziel, den Wegfall der Eisenzölle im letzten Moment noch zu verhindern. Das Scheitern dieses Versuchs kann als Symptom dafür gewertet werden, wie wenig die schutzzöllnerischen Tendenzen in Rußland und Österreich - obwohl sensibel registriert - noch als „schutzzöllnerischer Vorwand" im Kampf gegen die Freihändler ausgebeutet werden konnten. Andererseits deuteten Reaktionen führender Vertreter der deutschen Eisenindustrie auf die ersten Nachrichten über erstarkende protektionistische Tendenzen in Rußland und Österreich darauf hin, daß mit der vorläufigen Entscheidung über die Eisenzölle die russische und österreichische Zoll- und Handelspolitik an Bedeutung für die Auseinandersetzungen um die deutsche Zoll- und Handelspolitik nicht verlieren würden, sondern die östlichen Nachbarstaaten leicht den entscheidenden „schutzzöllnerischen Vorwand" liefern konnten, um die prinzipielle Abkehr vom Freihandel zu motivieren und herbeizuführen. Schon 1875 befürchtete Lueg, daß als Folge protektionistischer 138

Tendenzen in Rußland der deutsche Markt zum „Tummelplatz f ü r die ausländische und heimische Industrie" werde, „da England, weil Rußland ihm als Absatzgebiet entrissen, die Produktion seiner Eisen- und Stahlwerke wo nur immer möglich unterzubringen und sicher in Deutschland einen Hauptabnehmer suchen wird". Für die deutsche Industrie folgerte Lueg daraus, daß ihr „nur Deutschland als Absatzgebiet übrig bleibt" und es eine „unlösbare Aufgabe" sei, der ausländischen Konkurrenz auf dem einheimischen Markt bei Fortfall der letzten Zölle noch standzuhalten 27 . Ähnlich wie Lueg schon 1875 beschworen drei Jahre später andere führende Vertreter der Eisen- und Textilindustrie vor den Enquête-Kommissionen die Gefahr, daß der Sieg protektionistischer Tendenzen in Rußland nicht nur die Absatzchancen der deutschen Industrie auf dem russischen Markt drastisch reduzieren, sondern endgültig die große Überlegenheit der englischen Industrie über ihren deutschen Konkurrenten auf den europäischen Märkten sichtbar machen müsse28. Natürlich reichten bloße Warnungen vor dem drohenden Verlust des russischen Marktes und der Überschwemmung der europäischen Märkte mit den Produkten der englischen Industrie allein nicht aus, um der schutzzöllnerischen Bewegung auch in Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen. Auf drei wichtige Faktoren, die die Entwicklung in dieser Richtung nachhaltig förderten, wies Direktor Richter von der oberschlesischen Königs- und Laurahütte hin, als er vor der EisenEnquête-Kommission die Hindernisse nannte, die den Export nach Rußland und Österreich erschwerten: Die „bestehenden Zölle des Auslandes", die „Valutaverhältnisse desselben" und schließlich „die Unterstützung, welche die fremden Staaten ihrer Industrie gewähren" 29 . Die Einführung der russischen Goldzölle zum 1. Januar 1877 fand in der deutschen Öffentlichkeit weite Resonanz, und zwar weniger, weil sie den deutschen Rußlandexport weiter erschwerten und in Industriekreisen Anlaß zu neuen Klagen waren 30 , sondern vor allem durch das Ausmaß, in dem diese N o t m a ß n a h m e der zaristischen Regierung von schutzzöllnerischen Gruppen agitatorisch ausgebeutet wurde. Jetzt schien kaum noch ein Zweifel daran erlaubt, daß die russische Zollpolitik zum Schaden großer Teile der deutschen Textil- und Eisenindustrie die befürchtete protektionistische Schwenkung vollzogen hatte. Symptomatisch war die Hilflosigkeit, mit der der Linksliberale Eugen Richter im Dezember 1876 mit seiner Reichstagsinterpellation zur russischen Zollpolitik unfreiwillig Wasser auf die Mühlen der Schutzzöllner goß. Dem Freikonservativen von Kardorff kamen die russischen Goldzölle gerade recht, um seine Ablehnung der nur gegen Frankreich gerichteten „Ausgleichungsabgaben" zu begründen 31 . Langfristig bedeutsamer als die Opposition gegen die „Ausgleichungsabgaben" war, daß Kardorff als Vertreter oberschlesischer Industrieinteressen stellvertretend für die wichtigsten Organisationen der deutschen Eisen- und Textilindustrie vorexerzierte, wie leicht die tatsächlichen oder angeblichen Ziele der russischen Zollpolitik sich agitatorisch ausnutzen ließen, um den radikalen Kurswechsel der deutschen Zoll- und Handelspolitik durchzusetzen 32 . 139

Neben dem wachsenden Einfluß protektionistischer K r ä f t e auf die Zollpolitik Rußlands und Österreichs beeinflußten die instabilen Währungsverhältnisse dieser Länder nachhaltig die innenpolitischen Auseinandersetzungen um die deutsche Zoll- und Handelspolitik. Die starken Kursschwankungen der russischen und österreichischen Valuta im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Auswirkungen des russisch-türkischen Krieges von 1877/78 und die andauernde „Unsicherheit des Geschäftsverkehrs" machten jede längerfristige Kalkulation deutscher Exporteure nach Rußland und Österreich unmöglich 33 . Darüber hinaus maßen die deutschen Exporteure den russischen und österreichischen Währungsverhältnissen eine besondere Bedeutung aufgrund ihrer protektionistischen Wirkung bei. Schätzungen deutscher Industrieller der durch die Kursverluste des österreichischen Guldens bewirkten Verteuerung des Exportes nach Österreich bewegten sich zwischen 13 bis 15 Prozent. Einigkeit bestand darüber, daß die durch den besonders starken Kursverlust des Rubels verursachte Verteuerung des deutschen Rußlandexportes noch erheblich höher zu veranschlagen sei34. Die protektionistische Wirkung der russischen Zollpolitik und Valutaverhältnisse wurde perfektioniert durch jenes „Ausschließungssystem der ausländischen Konkurrenz gegenüber", mit dem die russische Industrie seit ca. 1875 von der Regierung „gepäppelt" wurde 35 . Die Berliner Maschinen- und Lokomotivfabrikanten Schwartzkopff und Borsig fühlten sich förmlich vor eine „chinesische Mauer um Rußland" gestellt, nachdem auf Befehl der Petersburger Regierung Lokomotiven und Waggons möglichst im Inland produziert werden sollten. Den Rückgang des Schienenexportes der rheinisch-westfälischen Industrie führte Thielen von Phoenix unter anderem darauf zurück, daß in Rußland und Österreich die Industrie durch Prämien und Staatsaufträge „auf alle Weise begünstigt" wurde. Der Dortmunder Stahlindustrielle Hoesch registrierte verbittert, daß Rußland der deutschen Industrie nur noch die „Brosamen, die von des H e r r n Tische fallen", zukommen lasse und der russische Import von Produkten der deutschen Eisenindustrie nur deshalb noch nicht aufgehört habe, weil die inländischen Werke noch nicht in der Lage seien, „den Anforderungen des riesigen russischen Bedarfs zu genügen" 39 . Der anhaltende Druck der industriellen Depression und das Ausmaß, in dem die Exportchancen der deutschen Industrie durch die russische Zollpolitik, die starken Kursverluste des Rubels und die Industrieförderungsmaßnahmen der zaristischen Regierung reduziert wurden, begründeten letztlich die vielfachen Äußerungen führender Vertreter und Organisationen der deutschen Eisen- und Textilindustrie, in denen sie ihre in bezug auf den russischen Markt gründlich gestörten Absatzerwartungen artikulierten 37 . Es k a n n daher nicht überraschen, daß nach wie vor ein ungebrochenes Interesse an der Erhaltung und Erweiterung des Exportes in die osteuropäischen Staaten fortbestand, dieses aber zusehends von Aktivitäten mit dem Ziel überlagert wurde, als Kompensation für sich vermindernde Absatzchancen auf dem russischen und österreichischen Markt die Anstrengungen zur Sicherung des Binnenmarktes zu verstärken. Da140

bei konnten sich die entschiedenen Befürworter einer schutzzöllnerischen Antwort auf die russische Absperrungspolitik auf vier nur schwer widerlegbare Argumentationsstränge stützen: 1. D i e Forderung nach Schutz des deutschen Binnenmarktes stützte sich unter anderem auf die Prognose, daß die zaristische Regierung in absehbarer Zeit nicht von ihrem protektionistischen K u r s abgebracht werden könne. Vor der Eisen-Enquête-Kommission bestand ein so exponierter Vertreter der rheinischwestfälischen Eisenindustrie wie Baare hartnäckig auf der Notwendigkeit, die deutsche Eisenindustrie durch Zölle zu schützen, da sie sonst „rettungslos verloren sei". Eine Ermäßigung oder gar der Wegfall der russischen Zölle wäre zwar „von allergrößtem N u t z e n " , andererseits aber nur ein „Palliativmittel"; denn der deutsche Rußlandexport werde weiterhin durch „die Abneigung der russischen Regierung gegen den Import fremder Fabrikate" und den „anderweitigen Schutz, welchen sie . . . der Industrie des eigenen Landes gewährt", empfindlich beeinträchtigt. Poensgen stimmte zu, daß auf deutsche Zölle nicht verzichtet werden könne, solange die zaristische Regierung auf dem „Ausschließungssystem" beharre 3 8 . Aufgrund ihrer starken Abhängigkeit vom russischen M a r k t legten sich die sächsischen Maschinenfabrikanten Gruson (Magdeburg) und H a r t m a n n (Chemnitz) nicht so eindeutig fest. Falls der hohe Zoll auf Maschinen aufgehoben würde, wollte H a r t m a n n „nicht weiter für Zölle plädieren" und Gruson „mit dem größten Vergnügen auf Einfuhrzölle verzichten", wenn „Frankreich, Österreich und Rußland ihre Zölle fallenlassen" 3 9 . Selbst bei oberschlesischen Industriellen war die Alternative nicht tabu, zollpolitischen Erleichterungen im E x p o r t nach Rußland und Österreich den Vorrang vor der Sicherung des inneren Marktes zu geben. „Wenn die österreichische und russische Grenze freigegeben" würden, könnte die oberschlesische Industrie nach Ansicht des Bergrates Scherbening „dahin einen solchen Absatz gewinnen", daß sie „des weiteren Transportes nach dem Inlande und nach der Küste hin in dem Maße nicht bedürfte. Schlesien und die Grenzlande würden wenigstens mit der jetzigen Produktion vollauf beschäftigt sein". D a ß eine Aufhebung der russischen und österreichischen Zölle für die schlesische Industrie wegen ihrer N ä h e zum russischen und österreichischen M a r k t günstiger sein könne als die Einführung deutscher Eisenzölle, gab auch Thielen bereitwillig zu 4 0 . Dennoch setzten sich in der oberschlesischen Industrie diejenigen durch, die angesichts der „gänzlichen Aussichtslosigkeit", zu einer handelsvertraglichen Vereinbarung mit Rußland zu kommen, auf schutzzöllnerische Kompensationen drängten 4 1 . 2. Engagierte industrielle Schutzzöllner, vor allem aus Oberschlesien, konnten ihrer schutzzöllnerischen Argumentation einen besonderen Nachdruck mit dem Hinweis geben, daß selbst im Falle von russischen Zollsenkungen die deutsche Industrie schon aufgrund des „zweiten Zollschutzes", den die Valutaverhältnisse Rußlands und Österreichs boten, nicht auf die Verdrängung der ausländischen Konkurrenz vom Binnenmarkt verzichten könne 4 2 . 141

3. Zunehmend mehr Industrievertreter schlossen sich der Oberzeugung an, daß die deutsche Industrie zukünftig kaum jemals wieder so günstige Konkurrenzbedingungen auf dem russischen M a r k t vorfinden werde wie in der Vergangenheit. Befürchtungen, daß die durch protektionistische Maßnahmen begünstigte russische Industrie bald in der L a g e sei, die N a c h f r a g e auch nach qualitativ hochwertigen Industriegütern zu decken, bestimmte vor allem die Äußerungen oberschlesischer Industrieller 4 3 . Geradezu wie ein Alptraum mußte ihnen auch die Aussicht erscheinen, daß der spektakuläre Aufschwung der polnischen Industrie sich nicht nur auch in Zukunft fortsetzen und entsprechend die N a c h f r a g e nach Produkten aus Oberschlesien abnehmen werde, sondern daß diese Entwicklung durch die anhaltende Abwanderung von Technikern und Facharbeitern aus Oberschlesien nach Polen noch beschleunigt werde 4 4 . 4. Die Energie, mit der die industriellen Schutzzöllner auf eine Revision der freihändlerischen deutschen Zoll- und Handelspolitik drängten, entsprach einerseits einer realistischen Einschätzung der Widerstände, die die osteuropäischen Staaten den Importen von Industriegütern aus Deutschland entgegensetzten. Andererseits waren die Bestrebungen zum Schutz des inneren Marktes durchaus mit dem vitalen Exportinteresse vereinbar, das neben der rheinischwestfälischen Eisenindustrie vor allem die oberschlesischen Industriellen an ihre „natürlichen Absatzgebiete" in Rußland und Österreich knüpften. Denn der Schutz des deutschen Binnenmarktes ließ sich als notwendig propagieren, um die Nachteile verminderter Exportchancen zu kompensieren, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie auf den europäischen Märkten auch unter den Bedingungen einer hartnäckigen Depression zu sichern und die Voraussetzungen für eine Exportoffensive zu schaffen, bei der sich die englische und die deutsche Industrie aufgrund ihrer Überlegenheit über die österreichische und französische Konkurrenz den russischen M a r k t aufteilten. Für oberschlesische Industrielle, die sich wegen ihrer N ä h e zum russischen Markt besondere E x portvorteile ausrechneten, hatte die Vorstellung, sich den großen russischen M a r k t mit der englischen Industrie aufteilen zu können, etwas besonders Verlockendes 4 5 . Selbst wenn unterstellt wird, daß die Vertreter freihändlerischer Positionen der ökonomisch begründeten Argumentation der Schutzzöllner nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten, so bleibt doch überraschend, wie schnell die schutzzöllnerische Bewegung auch an politischer Stoßkraft gewann. Denn sie mußte sich unter anderem einmal gegen einen innenpolitisch starken Gegner wie die Freihändler durchsetzen, zum anderen waren die engagiertesten Schutzzöllner sich durchaus der Tatsache bewußt, daß die angestrebte radikale Wendung der deutschen Zoll- und Handelspolitik die außen- und wirtschaftspolitischen Beziehungen des Deutschen Reiches zu den führenden europäischen Staaten tangieren würde und die daraus resultierenden politischen Widerstände unterlaufen werden mußten. In diesem Zusammenhang erwiesen sich ein allgemein ausbreitendes Krisenbewußtsein und die Gefahr einer tatsächlichen oder vermeintlichen Übervorteilung durch die europäischen N a c h b a r s t a a 142

ten als die wirksamsten Helfer einer agitatorisch geführten Kampagne, die schließlich auch in Deutschland den schutzzöllnerischen Kräften zum Durchbruch verhalf. Es wäre zu kurz gegriffen, die Eindringlichkeit, mit der die Exponenten des Schutzzolls die Vision eines Kampfes zwischen den größten europäischen Staaten um Märkte beschworen, als bloßen Zweckpessimismus abzuqualifizieren. Nach mehreren vergeblichen Anläufen schreckten die industriellen Schutzzöllner in der letzten und entscheidenden Phase des Kampfes gegen das „Manchestertum" nicht mehr davor zurück, auch gegen Rußland und Österreich nationalistische Ressentiments anzuheizen 46 , wobei sich schon sehr, bald eine Verschiebung des äußeren Feindbildes von Osten nach Westen abzeichnete 47 . Durch die agitatorische Ausnutzung antirussischer Ressentiments für ihre innenpolitischen Zwecke näherten sich die Schutzzöllner jenem Grenzbereich, in dem der wirtschaftliche Antagonismus zwischen den Wirtschaftsgruppen nicht offen befeindeter Mächte zwischenstaatliches Konfliktpotential soweit anhäufte, daß die Eskalation wirtschaftlicher Antagonismen und ihr Übergreifen auf die politische Ebene nur schwer zu vermeiden waren 48 . Auf dem Höhepunkt des innenpolitischen Kampfes um den deutschen Zolltarif hatte sich die zwischenstaatliche Wirtschaftsrivalität in Europa bereits so verschärft, daß es schon nicht mehr nur darum ging, die aus den handelspolitischen Disparitäten in Europa resultierende Benachteiligung der deutschen Industrie auszugleichen, sondern auch zu verhindern, daß die angestrebte protektionistische deutsche Zollpolitik ihrerseits den Nachbarstaaten als Vorwand für neue Behinderungen des deutschen Exportes diente. Von dem Katalog, mit dem der C d l die letzte Phase des Kampfes um eine protektionistische Zolltarifreform einleitete4*, war daher nur noch ein kleiner Schritt bis zu dem Versuch, die deutsche Außenpolitik entweder auf dem Wege einer Verständigungspolitik oder eines Konfrontationskurses direkter als bisher den wirtschaftlichen Interessen der Industrie nutzbar zu machen. Solange die Entscheidung über die konkrete Gestalt des Zolltarifs von 1879 noch nicht gefallen war, knüpfte der C d l noch Erwartungen an eine deutsche Politik gegenüber den östlichen Nachbarn, die „mehr als bisher geschehen die bestehenden politischen Freundschaften auch auf die wirtschaftlichen Interessen und auf die Verkehrssphäre" ausdehnte 50 . Gerade weil das Interesse an einer Verständigungspolitik noch überwog, registrierte man um so empfindlicher die Grenze für eine Politik des Interessenausgleichs mit Rußland, die durch den inzwischen hohen Grad der wirtschaftlichen Polarisierung markiert wurde51. Der „politische Allianzrahmen" des Drei-Kaiser-Bündnisses, der sich während des russisch-türkischen Krieges als so brüchig erwiesen hatte, wurde erst recht nicht als stark genug eingeschätzt, um ihn als wirksames politisches Instrument zugunsten deutscher Exportinteressen benutzen zu können. Immerhin erschien eine Rußlandpolitik des wirtschaftlichen und politischen Interessenausgleichs noch nicht als unrealistisch, solange die deutsche Zolltarifreform nicht Veränderungen einschloß, die einem empfindlichen Schlag gegen den rus143

sischen Agrarexport nach Deutschland gleichkamen oder zumindest als ein solcher interpretiert werden konnten. Dennoch überwog letztlich in Industriekreisen die Skepsis, durch eine Politik der Verständigung die zaristische Regierung zu Zugeständnissen an die deutschen Exportinteressen veranlassen zu können. Hier schlug die realistische Einschätzung der K r ä f t e durch, die die zaristische Regierung auf einen protektionistischen K u r s drängten. Entsprechend große H o f f n u n g e n setzte man daher auf zwei Möglichkeiten, die - obwohl sie einen begrenzten wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum der zaristischen Regierung unterstellten - dennoch geeignet schienen, gewisse Konzessionen an die deutschen Exportinteressen durchzusetzen. Erstens die Chance, durch die Ausnutzung des russisch-englischen Gegensatzes auf dem Balkan der deutschen Industrie Wettbewerbsvorteile auf Kosten der englischen zu verschaffen 5 2 . Auf diesem K a l k ü l bauten die Vorschläge auf, einmal handelspolitische Attaches nach Rußland zu entsenden, um „den Sehwinkel der russischen Tarifwacher zu erweitern, zum andern auf die Umkehrung des Systems der russischen Differentialzölle hinzuarbeiten, das bisher die Einfuhren auf dem Seewege, also vorwiegend die englischen, zuungunsten der Einfuhren auf dem Landwege, also vorwiegend der deutschen, begünstigt hatte 5 3 . Zweitens befürwortete der C d l gegenüber der russischen Regierung ein „energisches und schneidiges Auftreten Deutschlands". Konkret Schloß das die Erwartung an die deutsche Außenpolitik ein, „aus der bisherigen schablonenmäßigen Behandlung der internationalen Verkehrsbeziehungen herauszutreten und den Weg von K a m p f und Differentialzöllen zu beschreiten" 5 4 . N a c h den Überlegungen, die der Generalsekretär des C d l , Beutner, anstellte, machte die bloße Drohung mit Retorsionszöllen, d. h. mit Zöllen gegen den russischen Agrarexport, entweder den gewünschten „ E i n d r u c k " auf die zaristische Regierung, oder die „magnetische K r a f t der materiellen Interessen" löste einen deutsch-russischen Zollkrieg mit unübersehbaren wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen aus. Zweifellos war der C d l daran interessiert, einen deutsch-russischen Zollkrieg zu vermeiden. Er Schloß diese Eventualität z w a r nicht völlig aus, ohne daß er sie allerdings als im Interesse der deutschen Industrie liegend oder gar für unumgänglich gehalten hätte 5 5 . D i e Überlegungen des C d l waren noch ganz auf den zeitlich befristeten Versuch abgestellt, deutsche Getreidezölle als „Kompensationsobjekte bei den Vertragsverhandlungen mit Österreich und R u ß l a n d " zu verwenden. Die an die bloße Drohung mit Getreidezöllen geknüpften Erwartungen basierten darauf, daß „die Furcht vor Getreidezöllen Österreich und in zweiter Linie auch Rußland bewegen dürfte, in die dargebotene H a n d einzuschlagen und sich auch in wirtschaftlicher Beziehung fester aneinander anzuschließen wie dies in politischer Beziehung teilweise geschehen" war. Man rechnete sich aus, daß gegenüber Österreich und Rußland, die „in weit höherem G r a d e als Deutschland" Agrikulturstaaten waren und in deren Außenhandel der E x p o r t landwirtschaftlicher Rohprodukte „eine der wichtigsten R o l l e n " spielte, die Drohung mit deutschen Agrarzöllen Eindruck machen würde. Auf der anderen Seite hütete sich der C d l davor, 144

durch überzogene zollpolitische Forderungen die Fronten zu verhärten. N a c h den Vorstellungen, die er im Anschluß an List über ein „veredeltes Kontinentalsystem" entwickelte, waren die Interessen der „drei Ostmächte" trotz aller Divergenzen doch „nicht so ungleich, daß nicht durch nur mäßige Zollsätze ihre wechselseitigen Interessen ins Gleichgewicht zu stellen" gewesen wären 56 . D a ß die Verbände der Textil- und Eisenindustrie im Juli 1879 schließlich Agrarzöllen, die den russischen Agrarexport nach Deutschland empfindlich trafen, zustimmten, belegt nur, daß sie unter dem Druck agrarischer Interessen zwar ihre schutzzöllnerischen Ziele weitgehend verwirklichen konnten, zugleich aber eine Entscheidung trafen, die ihren Exportinteressen besonders in bezug auf Rußland und Österreich entgegenlief. Durch die Einführung deutscher Agrarzölle wurde von deutscher Seite vorläufig die Tür für eine Politik des deutsch-russischen Interessenausgleichs zugeschlagen.

4.4 Zur Organisation und Ideologie agrarischer Interessenpolitik in Preußen-Deutschland Im „Landes-Ökonomie-Kollegium" und in den landwirtschaftlichen Vereinen, die schon während der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts und beschleunigt seit dem Abschluß der Agrarreformgesetzgebung 1848/50 die „ ö k o n o m i schen Gesellschaften" als die am weitesten verbreitete Organisationsform landwirtschaftlicher Interessen abgelöst hatten, besaß die preußische Landwirtschaft zur Landwirtschaftsverwaltung gute Verbindungen, die sich bei der Bewältigung landwirtschaftlicher Probleme nutzen ließen 1 . Dennoch setzte sich in Kreisen des preußischen Großgrundbesitzes seit der Mitte des Jahrhunderts die Überzeugung durch, daß sich die anstehenden Probleme nicht mehr in den von der preußischen Landeskulturpolitik vorgezeichneten Bahnen und im Zusammenspiel zwischen landwirtschaftlichen Vereinen und „Landes-Ökonomie-Kollegium" bewältigen ließen: In andauernden Klagen über die „Not der Landwirtschaft" drückten die am stärksten marktorientierten und am höchsten verschuldeten Großgrundbesitzer der östlichen Provinzen ihren Anspruch nach staatlicher Begünstigung auch nach Abschluß der Agrarreform aus. Aufgrund der starken Beanspruchung des landwirtschaftlichen Kredits und einer schwankenden Preisentwicklung der vier Hauptgetreidearten während der 30er und 40er Jahre hatte die Verschuldung vieler Güter in der Mitte des Jahrhunderts einen Stand erreicht, daß nur unter der Voraussetzung steigender Agrarpreise die Produktion auf dem erreichten Niveau gehalten und die Einlösung der eingegangenen Verbindlichkeiten gesichert werden konnte. In vielen Fällen war der landwirtschaftliche Kredit so weit ausgeschöpft, daß f ü r die Fortführung agrarkapitalistischer Reformen kaum noch ein Spielraum blieb 2 . Das Dilemma, statt Naturalleistungen Löhne in Geld zahlen, Meliorationen durchführen und in landwirtschaftlichen Geräten neu investieren zu müssen, den zur Verfügung 10

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stehenden landwirtschaftlichen Kreditrahmen aber schon überzogen zu haben, bildete im Bewußtsein vieler Gutsbesitzer das zunehmend unerträglicher werdende Ergebnis der preußischen Agrarreform. Der „mangelnde Kredit" - sowohl beim Personal- als auch beim Realkredit - wurde als unmittelbar „drohende Gefahr" empfunden. Die „täglich fühlbarer werdende Geldkalamität" kam bereits 1850 auf den Provinziallandtagen vielfach zur Sprache, sie bildete den Gegenstand einer Anfrage der Vertreter der östlichen Provinzen im Abgeordnetenhaus und sie beschäftigte bis 1857 die eigens zur Untersuchung der Kreditverhältnisse des ländlichen Grundbesitzes gebildete „Kredit-Kommission" 3 . Die ablehnende Haltung des Landwirtschaftsministeriums, „der Grundbesitz möge sich durch eigene Intelligenz und Tätigkeit zu helfen suchen", konnte die Vertreter des preußischen Großgrundbesitzes nicht befriedigen. Hinzu kam, daß sich die preußische Regierung aus agrarischer Perspektive gegenüber Forderungen nach Erweiterung des landwirtschaftlichen Kreditwesens nicht nur abweisend verhielt, sondern auch bereits in der Vergangenheit zur Verschärfung der landwirtschaftlichen Kreditfrage beigetragen hatte, indem sie „Handel und Industrie dem Ackerbau gegenüber, dem doch eigentlich die erste Stelle gebührte, so unverhältnismäßig begünstigt hatte" 4 . Auf dem Boden einer ohnehin virulenten Feindschaft preußischer Gutsbesitzer gegen die Entwicklung Preußens zum „Industriestaat" bildete die akute „Geldnot" den Kristallisationspunkt, an dem sich eine von antiindustriellen und antikapitalistischen Ressentiments beherrschte agrarische Opposition gegen die angebliche Bevorzugung von Industrie und Handel durch die staatliche Wirtschafts- und Finanzpolitik entzündete. Immerhin zeigten sich in der Gründung von „Bauernvereinen" bereits die ersten organisatorischen Konsequenzen einer agrarischen Opposition 5 . Wenn trotzdem die Formierung einer agrarischen Opposition in den 50er und frühen 60er Jahren nicht über erste Ansätze hinauskam, so deswegen, weil die „politischen" Bauernvereine unterdrückt wurden, vor allem aber weil die Getreidepreise eine steigende Tendenz zeigten, der Getreideexport nach England florierte und die Güter- und Pachtpreise anstiegen. Die Entschädigungszahlungen für die Heranziehung des Großgrundbesitzes zur Grundsteuer entschärften zusätzlich das landwirtschaftliche Kreditproblem. Solange sich freilich während der 60er Jahre das Privatkapital aus der Landwirtschaft zurückhielt, reichte schon ein vorübergehender Preisrückgang bei Agrarprodukten aus, um das Kreditproblem wieder zu aktualisieren. Sofort wurden Existenzbefürchtungen genährt, als 1863 die Getreidepreise in einem „wahrhaft schreckenerregenden" Maße fielen®. Aber im Unterschied zu den Reaktionen, die die „Geldnot" der 50er Jahre ausgelöst hatte, führte dieser Preisrückgang den preußischen Grundbesitzern zum ersten Male vor Augen, wie abhängig sie mit fortschreitender agrarkapitalistischer Produktionsweise und zunehmender Marktorientierung von der Preisentwicklung auf dem europäischen Agrarmarkt geworden waren. Denn auf der Suche nach der Ursache für den Preisrückgang kamen sie zu der Einsicht, daß der Grund „kein zufälliger, bald vor146

übergehender, sondern ein bleibender" war. Der Preisrückgang wurde als Folge der „Konkurrenz des Auslandes" angesehen, „welches begünstigt durch Boden, Klima und niedrige Erzeugungskosten einerseits und erleichterten, beschleunigten und wohlfeileren Transport durch Eisenbahnen und Dampfschiffe andererseits" einen Druck auf die Preise ausübte. Im Jahre 1869 - wieder ein Jahr eines relativ geringfügigen Preisrückgangs - artikulierte die „Berliner Revue" die neue Qualität agrarischer Bedrohungsgefühle, die die ausländische Konkurrenz auslöste: „Zur Kreditnot und dem Aufheben der Wuchergesetze kommt, wie wenn der Ruin des Grundbesitzerstandes beschlossen wäre . . . , eine dritte Kalamität . . . , gegen die noch gar kein Mittel sichtbar ist, die Konkurrenz des jungfräulichen Bodens in den überseeischen Ländern." 7 Als auslösendes Moment der Bedrohungsgefühle spielte neben der steigenden amerikanischen Agrarproduktion auch die wachsende Bedeutung Rußlands als Exporteur von Agrarprodukten eine erhebliche Rolle. Dem Redakteur der „Illustrierten Landwirtschaftlichen Zeitung" erschien es 1867 keineswegs als übertrieben, „wenn man heute mit Furcht an die Konkurrenz des russischen Getreides denkt". Anlaß dafür gab weniger die Tatsache, daß seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die russische Getreideproduktion - insbesondere diejenige Südrußlands - langsam aber stetig gestiegen war, denn sie lag trotz aller Fortschritte „noch in der Wiege". Aber nach der Aufhebung der Leibeigenschaft eröffnete sich die bedrückende Aussicht, daß der Ausfuhrhandel Südrußlands schon in naher Zukunft „riesige Dimensionen" annehmen und zum „Schrecken des deutschen Getreidebauers" werden könne, wenn erst einmal die Steppe unter den Pflug genommen, durch bessere Bearbeitung des Bodens die Erträge gesteigert, mehr für den Export produziert, Eisenbahnen gebaut und schließlich der Getreidehandel unter Beteiligung von Großproduzenten neu organisiert würde 8 . In Verbindung mit dem als dringlich empfundenen Bedürfnis, die organisatorische Vertretung der agrarischen Interessen Preußens den in der Gründung des „Norddeutschen Bundes" kumulierenden politischen Veränderungen anzupassen, hatte die Erfahrung, in einem bisher nicht gekannten Ausmaße den Veränderungen des europäischen Agrarmarktes ausgesetzt zu sein, erste Konsequenzen für eine ideologische und organisatorische Neuorientierung agrarischer Interessenpolitik. Die Debatten auf dem 1. und 2. „Kongreß Norddeutscher Landwirte" im Februar 1868 und 1869 über die „Organisationsfrage" machten deutlich, daß den Initiatoren die Wahrung der Interessen des preußischen Großgrundbesitzes weniger in der bisherigen Verbindung der landwirtschaftlichen Vereine mit der preußischen Landwirtschaftsverwaltung, als in einer öffentlichkeitsorientierten „organischen Vertretung der Norddeutschen Landwirtschaft" gesichert erschien 9 . Es konnte auch nicht überraschen, daß die „Kreditnot des Grundbesitzes" die Debatten und Entschließungen beherrschte. Auffallend war jedoch, daß sich bereits der erste „Kongreß" mit der Frage von Schutzzöllen befaßte, wenn er sich auch nach Abschluß der Debatten „gegen jegliche Schutzzölle" aussprach. Immerhin gibt diese Tatsache und die For10*

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derung nach Abschaffung aller „Differentialtarife" auf den Eisenbahnen einen Hinweis auf die Empfindlichkeit, mit der die preußischen Agrarier auf die europäische Agrarkrise seit der Mitte der 70er Jahre reagierten. Einmal auf die „verderbliche Konkurrenz" des Auslandes aufmerksam gemacht, war der Freihandel als Prinzip der preußisch-deutschen Handelspolitik für die Vertreter des preußischen Großgrundbesitzes prinzipiell nicht mehr tabu 10 . Nur vor dem Hintergrund der agrarischen Hochkonjunktur in der ersten Hälfte der 70er Jahre, des endlich während der „Gründerzeit" einsetzenden und auch nach dem „Krach" von 1873 andauernden Zustroms privaten Kapitals in die Landwirtschaft auch der östlichen Provinzen und einer konsequent freihändlerischen deutschen Handelspolitik, die die industriefeindlichen Ressentiments der Agrarier zeitweise verdrängte und ihre Forderung nach „billigem Eisen" befriedigte 11 , blieb die ideologische und organisatorische Neuorientierung der preußischen Großgrundbesitzer bis zur Mitte der 70er Jahre in den Anfängen stecken. Der „Kongreß Norddeutscher Landwirte" nahm noch nicht den Charakter einer „einseitigen Interessenvertretung" an, was sich auch in seiner Umbenennung zum „Kongreß Deutscher Landwirte" 1872 dokumentierte. Mehr noch: Durch die Gründung des „Deutschen Landwirtschaftsrates" ( D L R ) im April 1872 entstand für die preußischen Agrarier eine ernstzunehmende Konkurrenzorganisation, da die landwirtschaftlichen Zentralvereine des gesamten deutschen Reichsgebietes den organisatorischen Unterbau des D L R bildeten und im Rahmen einer Organisation, die sich die Wahrung der landwirtschaftlichen Interessen „im Gesamtumfange des Deutschen Reiches" zum Ziele setzte, die Verfolgung partikularer Interessen des preußischen Großgrundbesitzes auf erhebliche Widerstände stoßen konnte 12 . Wurde demnach durch die Gründung des D L R eher die Tradition preußischer Landeskulturpolitik gestärkt, die „hauptsächlich auf Verbreitung praktischer Verbesserungen und rationeller Grundlage, weniger auf Entwicklung der Theorie gerichtet war 13 , so traten unter dem Druck des 1875/76 einsetzenden Preisrückgangs auf dem europäischen Agrarmarkt um so stärker die vorübergehend verdrängten Probleme der weltwirtschaftlichen Verflechtung der preußischen Landwirtschaft in den Vordergrund. Die Schärfe, mit der die preußische Landwirtschaft jetzt mit den Veränderungen auf dem europäischen Agrarmarkt konfrontiert wurde, zeigte sich in den unmittelbaren organisatorischen Konsequenzen agrarischer Interessenpolitik. Das verbreitete Bewußtsein, die von der Agrarkrise aufgeworfenen wirtschaftlichen Probleme nur noch im Rahmen der allgemeinen deutschen Wirtschaftspolitik und nicht mehr im Rahmen preußischer Landeskulturpolitik, die der Arbeit der landwirtschaftlichen Vereine „Binnenfunktion" zugewiesen hatte, bewältigen zu können, mündete schon bald nach dem Ausbruch der Krise in „amtliche" Versuche ein, den Einfluß der landwirtschaftlichen Vereine als Interessenorganisationen der preußischen Landwirtschaft auf Landes- und Reichsebene zu stärken 14 . Die engere personelle Verflechtung zwischen den preußischen Landwirtschaftlichen Vereinen, dem Landes-Ökonomie-Kollegium 148

und dem DLR wirkte sich nach zwei Richtungen zugunsten einer effektiven Vertretung der landwirtschaftlichen Interessen Preußens aus. Mit der Doppelmitgliedschaft ihrer Vertreter im LÖK und DLR vollzogen die landwirtschaftlichen Vereine die Wandlung von bloßen „Fachvereinen" zu „konsultativen Organen der Landwirte, welche über alle einschlägigen Fragen und darüber hinaus diskutieren und votieren" 15 . Zweitens gewann der Posten des Vorsitzenden und Delegierten eines landwirtschaftlichen Vereins für diejenigen preußischen Großgrundbesitzer an Attraktivität, die die Reichsgesetzgebung für die Schädigung ihrer wirtschaftlichen Interessen verantwortlich machten. Ihnen konnte die Aktivität einer Institution nicht gleichgültig sein, die es als ihren Hauptzweck ansah, in Gutachten, motivierten Vorstellungen usw. im Namen der „deutschen" Landwirtschaft beim Reichskanzleramt und beim Reichstag zu intervenieren. Freilich war den Versuchen, den DLR in eine Organisation zur Durchsetzung partikularer Interessen des preußischen Großgrundbesitzes umzuwandeln, von vornherein dadurch eine deutliche Grenze gesetzt, daß die Vertreter Preußens im DLR nicht die Mehrheit besaßen und die Agrarkrise die landwirtschaftlichen Gebiete des Reiches mit ihren stark voneinander abweichenden Produktionsbedingungen, Besitzverhältnissen und Marktbeziehungen in unterschiedlicher Intensität traf 19 . Deshalb ließ sich der DLR nur schwer auf alle landwirtschaftlichen Interessen im Reichsumfange zufriedenstellende Forderungen festlegen und sich in keinem Fall ohne Widerstand als verlängerter Arm der ökonomischen Interessen des preußischen Großgrundbesitzes benutzen17. Der Mangel an einer Interessenvertretung, die auf Reichsebene die Interessen des preußischen Großgrundbesitzes wirkungsvoll vertreten konnte, war unverträglich mit dem ausgeprägten Krisenbewußtsein, das die preußischen Großgrundbesitzer entwickelten, weil ihre Grundrenten infolge hoher Verschuldung und entsprechend hoher Fixkostenbelastung und infolge starker Exportorientierung besonders empfindlich auf den Preisrückgang reagierten. In dem „Bedürfnis nach einer von den Einflüssen der zentralisierten zahllosen Provinzial- und Lokalvereine unabhängigen Bewegung", die „Gesinnungsverwandte" zusammenführen und befähigen sollte, „ihren Uberzeugungen einen möglichst bestimmten Ausdruck zu verleihen" 18 , aktivierten preußische Großgrundbesitzer bereits vorhandene oder gründeten neue landwirtschaftliche Interessenvertretungen, die nominell zwar auch Mitgliedern anderer Bundesstaaten offen standen, tatsächlich jedoch von einer eindeutigen Mehrheit preußischer Großgrundbesitzer beherrscht wurden. Der „Kongreß Deutscher Landwirte" und die im Februar 1876 gegründete „Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer" entpuppten sich als preußische Katalysatoren einer agrarisch-konservativen Bewegung, die sich seit der Mitte der 70er Jahre in der deutschen Innenpolitik bemerkbar machte und deren preußische Führer sich durch den ganz dezidiert artikulierten Willen auszeichneten, den drohenden sozialen, ökonomischen und politischen Machtverlust der traditionalen Elite Preußens durch eine drastische Korrektur der Richtung, die die innenpolitische Entwicklung seit 149

1848 und speziell seit der Gründung des Norddeutschen Bundes eingeschlagen hatte, zu verhindern 19 . Im Unterschied zu ihrem bisher „rein aristokratischen Charakter" wurde die Interessenpolitik des preußischen Großgrundbesitzes seit der Mitte der 70er Jahre auf eine ganz neue organisatorische, agitatorische und ideologische Basis gestellt. Den unmittelbaren Anstoß dazu gab die beginnende Agrarkrise. Aber die entscheidenen Voraussetzungen für den damit sofort einsetzenden Wandlungsprozeß agrarischer Interessenpolitik waren einmal die Auswirkungen der bereits mehrere Jahre andauernden industriellen Depression und das Bewußtsein der agrarischen Elite Preußens, als „Feldherren ohne Massen" kurzfristig kaum ihren Einfluß auf die Reichspolitik sichern zu können 20 . Die im „Kongreß" und in der „Vereinigung" organisierten Mitglieder der preußischen Landaristokratie verstanden ihre Organisationen als Agitationszentralen einer „Bewegung", die unter „konservativem Banner" so unterschiedliche soziale und politische Gruppen, ökonomische Interessen und religiöse Gemeinschaften wie „Minister und Hoflieferanten a. D., preußische Landräte, kleinstaatliche Partikularisten, strenggläubige Protestanten, feudale Reaktionäre, Agrarier, Schutzzöllner, Zünftler" in gemeinsamer Frontstellung gegen den politischen und ökonomischen Liberalismus zu vereinigen suchte. Sie hatten nach den Worten des Freiherrn v. Ungern-Sternberg - des sächsischen Vertreters in der „Vereinigung" - der „agrarischen Bewegung" im ganzen Deutschen Reich „die Richtung anzugeben und den Boden für die kommende Saat zu lockern" 21 . Vor dem Hintergrund einer industriellen Depression und einer Agrarkrise wurde die agrarische Bewegung für die innenpolitische Entwicklung richtungsweisend, indem sie sich gegen das 1866 inaugurierte „System der herrschenden Gesetzgebung", gegen die anstelle der „alten geregelten Verhältnisse" getretene „schrankenlose Gewerbe-, Wucher-, Actien-, Zug-, Coalitions- und Streikfreiheit" radikal antiliberal gebärdete. Das Programm der „Vereinigung", wie es der Freiherr v. Thüngen-Roßbach, der führende bayerische Vertreter, interpretierte, gab die Antwort auf die Frage nach den geeigneten Maßregeln, „um zur Ruhe und Ordnung zurückzukehren" : „Bruch mit dem jetzigen System und gründliche Umgestaltung der gesamten modernen Wirtschaftsgesetzgebung im Sinne agrarischer Forderungen." 22 Auch die Aktivität, mit der sich „Kongreß" und „Vereinigung" um Breitenwirkung ihrer antiliberalen Programmatik bemühten, weisen beide als Agitationsvereine der sich formierenden agrarisch-konservativen Bewegung aus, die, von Preußen ausgehend, ihre Wirksamkeit auf das gesamte deutsche Reichsgebiet erstrecken sollte. In diesem Sinne forderte v. Thüngen-Roßbach bei der Diskussion der Statuten der „Vereinigung" die Aufstellung eines Programms, das „für ganz Deutschland zu gelten habe" 23 . Die „Machtergreifung" auf dem „Kongreß" (Februar 1875), die „Ära-Artikel" in der „Kreuzzeitung" (Juni 1875) und die Gründung der „Vereinigung" (Februar 1876) leiteten eine Hochflut agrarischer Broschüren und Schmähschriften ein, in denen sich Ressentiments gegen den Industrie- und Handelskapitalismus sowie seine ökonomischen und politischen Träger entluden 24 . 150

Während „allerorten über Deutschland eine durch die wirtschaftlichen Verhältnisse verursachte tiefe Mißstimmung" zu konstatieren war 25 , zogen Mitglieder des „Kongresses" und der „Vereinigung" durch die ländlichen Gebiete, um - so Ungern-Sternberg - Bewegung in die „schwerfällige Masse" der landwirtschaftlichen Bevölkerung zu bringen bzw. um - so der Stadtgerichtsrat Wilmanns aus Berlin - durch „scharfe und rücksichtslose Kritik der bestehenden Zustände" ihren wirtschaftlichen Beschwerden Geltung zu verschaffen und so der ganzen Bewegung die Bahn zu öffnen2®. Den Anknüpfungspunkt f ü r organisatorische Versuche, der agrarischen Bewegung eine Massenbasis in der landwirtschaftlichen Bevölkerung zu schaffen, bildeten die D o r f - und Bauernvereine, die bis dahin im Windschatten der landwirtschaftlichen Vereine existiert hatten. Konservative Zeitgenossen wie Steinmann-Bucher erkannten sofort die „politische Seite" des Versuchs, über die Bauernvereine, den „Kongreß" und die „Vereinigung" die agrarische Bewegung bewußt an den ländlichen Vereinen und am D L R vorbei zu organisieren und die bisherigen Führer von liberaler Couleur in den ländlichen Interessenvertretungen auszuwechseln. In dieser Funktion erschien Ungern-Sternberg die „Vereinigung" als die direkte „Vorläuferin des Bundes der Landwirte" 2 7 . Die Presse- und Broschürenagitation sowie die Mobilisierung der landwirtschaftlichen Bevölkerung sollten zunächst einen begrenzten Zweck erfüllen: nämlich eine Bewegung hervorrufen, „die, wenn sie nachhaltig sein soll, nicht etwa von oben nach unten gehen muß, sondern umgekehrt" 2 8 . Damit verband sich freilich die - trotz massiver Kritik an den parlamentarischen Institutionen - von den führenden Vertretern des preußischen Großgrundbesitzes durchaus erkannte Notwendigkeit, daß die von der agrarischen Bewegung artikulierten Forderungen auch in den parlamentarischen Institutionen des Reiches vertreten und von da in den politischen Entscheidungsprozeß eingebracht werden mußten. Um die „ungesunden Verhältnisse in gesunde zu verwandeln", mußte der „Weg der Gesetzgebung" beschritten (Graf zu Stolberg-Wernigerode) und vom Lande aus ein Prozeß der „Regeneration der Parlamente" eingeleitet werden (Graf v. d. Schulenburg-Beetzendorf) 29 . Wenn die „Vereinigung" nach der rückblickenden Feststellung ihres führenden Mitgliedes Freiherr, v. Ungern-Sternberg auf „Bismarcks wirtschaftspolitischer Umkehr bedeutend eingewirkt" hat 30 , dann verdankte sie das nicht ausschließlich ihrer Programmatik oder den vielfältigen persönlichen Verbindungen ihrer Repräsentanten mit den politischen Institutionen und Verwaltungsinstanzen. Denn das Ausmaß der Unterstützung, das den ökonomischen Forderungen der preußischen Großgrundbesitzer „von oben" gewährt wurde, war nicht zuletzt davon abhängig, wie weit die agrarische „Regeneration der Parlamente" vorangetrieben werden konnte. Im politischen System des Kaiserreiches gewann die agrarische Bewegung ihre ersten Erfolge dadurch, daß sie sich H a n d in H a n d mit den auf die Aufrüttelung der Landbevölkerung zielenden Bestrebungen vier Monate nach Gründung der „Vereinigung" in der „Deutsch-Konservativen Partei" eine parteipolitische Organisation schuf, die die agrarische Bewegung für Wahlzwecke 151

ausbeutete. Mehr noch: D a ß der agrarisch-preußische Konservativismus seine politische Zersplitterung überwinden konnte, aktualisierte den seit der Reichsgründung vertagten „Dualismus einer konservativen und einer liberalen Regierungspartei", der Bismarck nach Jahren der Zusammenarbeit mit dem Liberalismus die Alternative einer ungeschminkt konservativen Innenpolitik eröffnete 31 . Mit dem Ergebnis der Reichstagswahlen im Januar 1877 waren die Initiatoren der agrarischen Bewegung im großen und ganzen zufrieden 32 . Die dennoch bleibende Aussicht, bis zu den nächsten Reichstagswahlen erst in mehrjähriger Arbeit den Boden für die konservative Eroberung der Parlamente vorbereiten zu müssen, ließ es als dringlich erscheinen, die Grundlagen agrarischer Interessenpolitik und die Frage nach den Möglichkeiten ihrer Weiterentwicklung zu überprüfen. Erstaunlich schnell kristallisierten sich aus diesem Überprüfungsprozeß die Umrisse einer modifizierten Strategie heraus, die nach drei Richtungen die weitere Entwicklung agrarischer Interessenpolitik bestimmen sollte: zur Durchsetzung der Interessen des preußischen Großgrundbesitzes noch stärker als bisher die agrarische Bewegung einzuspannen, die Divergenzen zwischen den konservativen Richtungen bzw. zwischen den landwirtschaftlichen Klassen und Regionen des Reiches zu überspielen und die Verständigung mit solchen wirtschaftlichen und politischen Gruppen zu suchen, deren Interessen nicht strikt im Widerspruch mit den agrarischen Forderungen standen 33 . Hinter den vielfältigen Formen einer von gesteigerten Integrationsproblemen geforderten ideologischen Anreicherung des agrarischen Programms blieb damit als H a u p t problem einer agrarischen Interessenpolitik der Zwang, die historische Gegnerschaft des preußischen Großgrundbesitzes zur Industrie einerseits und zu anderen landwirtschaftlichen Klassen und Regionen zu überwinden. Die ideologische Entwicklung der agrarischen Interessenpolitik und die Entwicklung ihrer materiellen Forderungen kann daher zunächst als Folge dieses doppelten Kompromißzwanges gesehen werden. Es wäre verfehlt, in diesem Zusammenhang davon auszugehen, daß der Rückgang der europäischen Agrarpreise die bisher freihändlerischen preußischen Agrarier mehr oder weniger unmittelbar zum schutzzöllnerischen Bündnis von „Roggen und Eisen" gedrängt hätte. Vielmehr muß deutlich unterschieden werden: 1. zwischen dem materiellen Inhalt der Forderungen an die Reichspolitik, die die Vertreter des preußischen Großgrundbesitzes aus ihrer wirtschaftlichen Krisenlage ableiteten, 2. zwischen den ideologischen Orientierungen, die geeignet waren, die wirtschaftlichen Interessen des preußischen Großgrundbesitzes mittels einer starken agrarischen Bewegung notfalls gegen andere Wirtschaftsgruppen durchzusetzen, 3. zwischen der Tatsache, daß die partikularen Interessen wirtschaftlicher Gruppen mit den „Essentials" preußisch-deutscher Finanz- und Wirtschaftspolitik in Übereinstimmung gebracht werden mußten. 152

In dieser Perspektive läßt sich die Entwicklung der materiellen Forderungen agrarischer Interessenpolitik in ihrem Verhältnis zur ideologischen Ausbildung einer agrarischen Rußlandfeindschaft bestimmen. Die „Kreditnot", die in den 1850er und 60er J a h r e n den A n l a ß für anhaltende Klagen des preußischen Großgrundbesitzes geliefert hatte, bildete keinen Gegenstand agrarischer Forderungen mehr, seitdem nach dem deutsch-französischen Kriege der K a p i t a l f l u ß in die preußische L a n d w i r t s c h a f t eingesetzt hatte. Zwischen 1871 und 1875 richteten sich die wirtschaftlichen Forderungen des preußischen Großgrundbesitzes, wie sie im Abgeordnetenhaus und im Reichstag artikuliert wurden, gegen bestimmte Erscheinungen der Nachkriegsperiode wie die Abwanderung ländlicher Arbeitskräfte in die Industriegebiete 34 . Der Schwerpunkt agrarischer Interessenpolitik lag jedoch in dem entschiedenen Kampf gegen die industriellen Schutzzöllner. Die Vertreter des preußischen Großgrundbesitzes rannten damit nicht nur bei den Exponenten des Freihandels in der preußischen Bürokratie offene Türen ein 35 , sondern sie konnten sich auch der Rückendeckung durch die landwirtschaftlichen Interessenvertretungen aus den übrigen Teilen des Deutschen Reiches sicher sein 36 . Die sich im Verlaufe des Jahres 1875 verstärkende Organisation und Agitation der industriellen Schutzzöllner änderte an der prinzipiellen freihändlerischen Einstellung der zentralen landwirtschaftlichen Interessenorganisation des Deutschen Reiches noch nichts. Auf die „sehr starke schutzzöllnerische Bewegung" reagierte der DLR im Oktober 1875 mit der ausdrücklichen Aufforderung an die gesetzgebenden Faktoren des Reiches, „an der Durchführung der Bestimmungen des Gesetzes vom 7. J u l i 1873 festhalten zu wollen und alle Anträge auf Abänderung im protektionistischen Sinne entschieden abzulehnen" 3 7 . Die von preußischen Agrariern dominierten Interessenorganisationen reagierten differenzierter. Die ursprüngliche und mit dem „Kongreß" abgestimmte Fassung § 2, Abs. 3 des Programms der „Vereinigung" forderte noch ganz offen die Beseitigung aller Schutzzölle. Die offene H a l t u n g in der Frage der Schutzzölle, ^vie sie das Programm in der endgültigen Fassung formulierte 3 8 , w a r das Ergebnis lebhafter Diskussionen, bei denen grundsätzliche Einigkeit nur in der von antiliberalen und antikapitalistischen Ressentiments bestimmten Frontstellung gegen die „große handelspolitische Familie" des internationalen „Manchestertums" bestand 3 9 . N u r gingen die Meinungen darüber auseinander, ob sich aus dieser Frontstellung heraus die „Bedürfnisfrage bei der L a n d w i r t s c h a f t " besser aufrollen lasse, ohne gleichzeitig die „Bedürfnisfrage bei der Industrie" zu stellen, „um eine W a f f e den Großindustriellen gegenüber zu behalten" (so der Korreferent Eisner v. Gronow), oder ob man, wie es v. Kameke formulierte, durch starres Festhalten an den fünf Worten: „alle Schutzzölle sind zu beseitigen", nicht auf dem besten Wege wäre, einfach das Grab für den Erfolg unserer Tendenzen zu graben, „da nämlich dann die ganze süddeutsche und rheinische Industrie als Gegner der landwirtschaftlichen Interessen betrachtet werden müsse" 40 . Den materiellen Inhalt der agrarischen „Tendenzen", der also schon mit der strategischen Überlegung formuliert wurde, durch eine differen-

153

zierte H a l t u n g gegenüber den industriellen Schutzzöllnern die Durchsetzungschancen der entscheidenden agrarischen Forderungen zu erhöhen, bildeten Beschwerden über die hohen Staats- und Gemeindeabgaben und die Forderungen nach einer die Ungleichheiten in der Besteuerung des „mobilen K a p i t a l s " und des Grundgesitzes beseitigenden Steuerreform. Die Initiatoren der „Steuer- und Wirtschaftsreformer" sahen von A n f a n g an „gerade in der Steuergesetzgebung ein großes F e l d " vor sich, auf das sich die zukünftige Tätigkeit der agrarischen Interessenorganisationen in ihrem K a m p f gegen die „semitische Gesetzgebung" konzentrieren mußte 41 . Schon bei der Abfassung der umfangreichen agrarischen Forderungskataloge, in dem Forderungen zur Steuergesetzgebung an erster Stelle rangierten, war die Problematik bewußt, daß bei weitem nicht alle Forderungen die gleichen Durchsetzungschancen hatten. Aus diesem Grunde meldeten sich schon auf der zweiten Versammlung der „Vereinigung" im Februar 1877 Stimmen, die auf eine Revision des Programms drängten 4 2 . „Ohne dringende N o t w e n d i g k e i t " sah die Mehrheit jedoch noch keinen Anlaß zur Änderung des Programms, zumal der § 2/3 in der bestehenden Form einen „weiten Spielraum" für eine „sehr verschiedenartige" Interpretation ließ 43 . Die Art und Weise, in der dieser Spielraum zur Durchsetzung agrarischer Forderungen im Bereich der Steuer- und Finanzpolitik genutzt wurde, trug nicht nur taktischen Überlegungen, sondern vor allem den sich verschärfenden Problemen in der Finanzwirtschaft Preußens und des Reiches Rechnung 4 4 . Angesichts des gerade in der „Gründerzeit" schnell gestiegenen Verschuldungsgrades des preußischen Großgrundbesitzes und der ebenfalls sich abzeichnenden Steigerung der Zuschläge zu den direkten Steuern wurde in der steuerlichen Entlastung das Mittel gesehen, mit dem am unmittelbarsten und wirksamsten die Schädigung des Landrenteninteresses durch den Preisrückgang auf dem europäischen Agrarmarkt kompensiert werden konnte. Auf der anderen Seite verengte aber die sich verschlechternde Finanzlage Preußens und des Reiches zusehends den Spielraum, um die agrarische Forderung nach Beseitigung der „Doppelbesteuer u n g " durchzusetzen. Erst diese Tatsache veranlaßte die preußischen Agrarier, sich jetzt die fiskalpolitischen - noch nicht jedoch schutzzöllnerischen - Bedenken gegen die freihändlerische Handelspolitik, zu eigen zu machen, die sie bisher so entschieden zurückgewiesen hatten 4 5 . U m die Doppelbesteuerung zu beseitigen, mußte entweder eine durchgreifende Steuerreform in Preußen eingeleitet werden - darauf zielte der Widerstand der Liberalen im Reichstag gegen die Bismarckschen Steuerprojekte - , oder die preußische Finanzverwaltung erhielt wieder einen Spielraum für mögliche Steuerentlastungen, indem der Staatshaushalt von den Matrikularumlagen befreit wurde. Aus der Perspektive der preußischen Agrarier war es daher konsequent, daß sie sich jetzt nachdrücklich für die Vermehrung der Reichseinnahmen einsetzten. U m die Entlastung des preußischen Staatshaushalts von den Matrikularbeiträgen zu erreichen, stellten sie in Rechnung, daß auf der einen Seite der sich verschärfende internationale Rüstungswettlauf wachsende Anforderungen an die Reichsfinanzwirtschaft stellen würde, während auf der anderen Seite eine über die An154

forderungen der Rüstungsfinanzierung hinausgehende Steigerung der Reichseinnahmen sich am wirksamsten und am schnellsten durch die Steigerung der dem Reich nach der Verfassung zustehenden Finanzquellen erreichen ließ. U n ter diesem doppelten Aspekt präzisierte sich die Stellung, die die zweite Versammlung der „Vereinigung" im Februar 1877 zur Frage einer die agrarischen Interessen berücksichtigenden Zolltarif- und Reichsfinanzreform bezog. „Solange insbesondere ganz Europa seine ultima ratio erblickt in Kruppschen Geschützen und den besten Gewehren" und solange das Deutsche Reich genötigt sei, „bis an die Zähne bewaffnet zu sein", während die Reichsverfassung „in ihren Steuereinnahmen zum größten Teil auf die indirekten Intraden und Zölle angewiesen" war, erschien der „absolute Freihandel" als „durchaus unausführbar", als eine „schöne Theorie" 4 ". Das anzustrebende Ziel konnte in dieser Lage nur ein „rationelles Zollsystem" sein, das die verfassungspolitisch gegebenen Möglichkeiten zur Steigerung der Reichseinnahmen nutzte, ohne die einzelnen Zollpositionen „zu einem besonderen Schutzzoll f ü r einzelne Industriezweige ausarten" zu lassen47. War man schon „gezwungen", sich zur Durchsetzung steuerpolitischer Forderungen auf die Steigerung der Reichseinnahmen aus den Zöllen einzulassen 48 , dann entsprach einem „rationellen Zollsystem" noch am ehesten ein „Finanzzollsystem" mit einem gemäßigt prozentualen Wertzoll auf sämtliche Einfuhrartikel in das deutsche Zollgebiet unter gleichzeitiger Beibehaltung der bestehenden Finanzzölle auf Salz, Zucker, Branntwein, Bier, Wein und Tabak 4 9 . Für die führenden Interessenvertreter des preußischen Großgrundbesitzes hatten also im Frühjahr 1877 Zölle auf Agrarprodukte primär als „Finanzzölle" und nicht als „Schutzzölle" Bedeutung, wobei lediglich Divergenzen darüber bestanden, in welcher Höhe ein prozentualer Wertzoll die Bedürfnisse der Reichsfinanzwirtschaft und der agrarischen Steuerpolitik befriedigen konnte. Als unterste Grenze wurde - wie von Frege und Niendorf beantragt - ein 3%iger Wertzoll als ausreichend erachtet, um den „gegenwärtigen Zolletat auf das reichlichste zu decken", während andererseits im H i n blick auf die Wahrscheinlichkeit eines wachsenden Reichsfinanzbedarfs auch ein 5 - 6 % i g e r Wertzoll sich als durchaus notwendig erweisen könne 50 . Die Diskussion über die H ö h e des anzustrebenden Wertzolls wurde durch die Erfahrung des folgenden Jahres entschieden, daß die ursprünglich anvisierten niedrigen Finanzzölle eines allgemeinen Wertzolltarifs in H ö h e von 3% nicht ausreichten, um das schnell wachsende Defizit im Reichshaushalt a b z u gleichen und sich durch die „stets wachsenden Bedürfnisse des Reiches" die Gefahr einer erheblichen Mehrbelastung der einzelstaatlichen Etats durch steigende Matrikularumlagen abzeichnete. Auf der Versammlung der „Vereinigung" im Februar 1878 rechnete Thüngen-Roßbach den Agrariern f ü r das Haushaltsjahr 1877/78 Matrikularbeiträge in H ö h e von 81 Mio. Mark vor, die 1878/79 auf 109 Mio. Mark ansteigen würden, ohne daß damit das zu erwartende Defizit im Reichshaushalt gedeckt werden könne. Katastrophal wurden die Aussichten insbesondere dadurch, daß zwar im Etat 1877/78 die außerordentlichen Ausgaben nur um 20 Mio. Mark höher als die außerordentlichen Einnah155

men veranschlagt waren, aber nach allen bisherigen Erfahrungen die außerordentlichen Ausgaben aufgrund der in ihnen liegenden Steigerungstendenzen eine „ständige Zugabe, gewissermaßen eine Verbrämung aller Budgets" bildeten. Diese Befürchtung lag um so näher, als von den veranschlagten außerordentlichen Ausgaben in H ö h e von ca. 127,8 Mio. Mark allein 81 Mio. auf das Heer und die Marine entfielen, also zwei Posten, „die einem Danaidenfaß vergleichbar, unersättlich" waren. Um den Reichshaushalt „dauernd" ohne Matrikularbeiträge ins Gleichgewicht zu bringen, waren bei tatsächlich zu erwartenden Ausgaben im außerordentlichen Etat von 120 Mio. Mark und Matrikularbeiträgen von 81 Mio. Mark zumindest 201 Mio. Mark an neuen Reichseinnahmen zu beschaffen 51 . Vor diesem Hintergrund artikulierten führende preußische Agrarier jetzt ihr dringendes Interesse an einer Reichsfinanzreform, die trotz steigender Rüstungsausgaben den finanziellen Spielraum für die Beseitigung der ungeliebten „Doppelbesteuerung" schaffen sollte. Jetzt erst begeisterten sie sich richtig für die indirekten Steuern, weil diese doch „sehr elastisch" seien und nur ganz geringfügige Erhöhungen schon ganz bedeutende Mehrerträge erbringen könnten 52 . Aus agrarischer Perspektive zeichnete sich um die Jahreswende 1877/78 die Möglichkeit ab, den angestrebten finanziellen Effekt über eine Erhöhung der indirekten Steuerquote zu erreichen, ohne daß die mit vielen agrarischen Vorbehalten verbundene Reform der Rübenzucker-, der Branntwein- und der Tabaksteuer ins Zentrum einer Reichsfinanzreform rücken mußte. Sicherlich wurde die Möglichkeit, die Einnahmen aus der Branntweinsteuer „reichlicher fließen" zu lassen, nicht prinzipiell ausgeschlossen, aber eine Branntweinsteuerreform zum gegenwärtigen Zeitpunkt wurde als nicht wünschenswert angesehen. Im Hinblick auf eine Reform der Rübenzuckersteuer waren die agrarischen Vorbehalte nicht geringer als beim Branntwein. Man wollte lieber „von einer Erhöhung der Rübenzuckersteuer vorerst Abstand nehmen, da sich passendere Objekte f ü r die Erzielung von Mehreinnahmen" finden ließen 53 . N a türlich war für die in der Tabakfabrikation am wenigsten engagierten preußischen Agrarier kein Gegenstand für eine hohe indirekte Besteuerung so „vorzüglich" geeignet wie der Tabak. Hier mußte „der Hebel eingesetzt werden, wenn es sich um Mehrbeschaffung von Geldmitteln für das Reich" handelte. Mehr noch: Von allen Arten der Tabakbesteuerung schien ihnen am geeignetsten das „Monopol mit Selbstbetrieb", denn dieses „richtig angelegt und gehandhabt, müßte in Deutschland gut und gerne seine 200 Mio. Mark abwerfen und damit das Reich aus allen seinen Geldnöten befreien". Unter Abzug der Kosten für die Errichtung des Monopols bleibe für die Reichskasse immer noch eine Reineinnahme aus dem Tabakmonopol von 130 Mio. Mark, d . h . gegenüber den bisherigen Einnahmen aus der Tabaksteuer ein Mehrertrag von 117 Mio. Mark 54 . Die drastische Steigerung der Reichseinnahmen aus den Zöllen bildete den zweiten und unverzichtbaren Schwerpunkt eines agrarischen Reichsfinanzreformplanes, dessen Konturen sich im Februar 1878 auf den Versammlungen 156

der „Vereinigung" und des „Kongresses" herausschälten. Die Agrarier blieben jetzt nicht mehr bei der Forderung nach einer Reform des deutschen Zolltarifs im Sinne allgemeiner und prozentual noch unbestimmter Wertzölle stehen. Die zollpolitischen Forderungen konkretisierten sich jetzt unter dem Zwang, bei einem auf ca. 200 Mio. Mark geschätzten Mehrbedarf des Reiches und Mehreinnahmen aus dem Tabakmonopol von ca. 120 Mio. Mark die verbleibende Lükke von 80 Mio. Mark decken zu müssen. Schon der Vergleich der Reichseinnahmen seit der am 1. Januar in K r a f t getretenen Reform des Zolltarifs mit den erheblich höheren Einnahmen, die andere Staaten aus den Zöllen zogen, machte den Rückgriff auf die Zölle für ein agrarisches Reichsfinanzreformprogramm attraktiv. Wie der Tabak konnte auch diese Einnahmequelle nach internationalem Vergleich „zu einem weit höheren Beträgnis gebracht werden" 55 . Zusätzliche Attraktivität für die agrarischen Vorstellungen einer Reichsfinanzreform gewannen die Zölle dadurch, daß seit der Gründung des Deutschen Reiches die Handelsbilanz nicht nur ständig einen Importüberschuß ausgewiesen hatte, sondern die Überschüsse nach dem Rückgang zwischen 1874 und 1875 seit 1876 wieder anstiegen, wobei der Zusammenhang der Handelsbilanzentwicklung mit der Steigerung der Agrarimportüberschüsse sofort in die Augen sprang 56 . Für die Einstellung der Agrarier zur Reichsfinanzreform hatte diese Entwicklung der Importüberschüsse eine zweifache Bedeutung. Die Tatsache, daß mit der wirtschaftlichen Entwicklung Preußen-Deutschlands die zunehmende Güternachfrage des Binnenmarktes nur durch eine wachsende Steigerung der Importe befriedigt werden konnte, lenkte den Blick auf die Möglichkeit, durch eine Besteuerung der Importe in Form von Importzöllen dem Reich eine Finanzquelle von relativ stetiger Einnahmeentwicklung zu erschließen. Da zweitens die Entwicklung Preußen-Deutschlands zu einem Importland für Agrarprodukte, wie sie in dem großen Anteil von Agrarprodukten an der Gesamteinfuhr und in den wachsenden Importüberschüssen bei Getreide und Vieh zum Ausdruck kam, unverkennbar war 57 , konnte nur ein Zoll auf die landwirtschaftlichen Massenprodukte „eine in nennenswertem Umfang stetige Einnahme des Reiches aus den Zöllen garantieren". Unter fiskalischen Gesichtspunkten ließ sich die H ö h e der anzustrebenden Zölle auf Agrarprodukte im Rahmen eines allgemeinen Wertzolltarifs in jedem Fall dahin angeben, daß der ursprünglich anvisierte Wertzoll von 3% weder die finanzpolitischen Möglichkeiten ausschöpfte, noch den Finanzbedarf des Reiches befriedigen konnte. Beiden Anforderungen entsprach nach den Berechnungen, die von Thüngen-Roßbach anstellte, am ehesten ein Wertzoll auf landwirtschaftliche Produkte in H ö h e von 7% ; denn bei einer durchschnittlichen Einfuhr sämtlicher landwirtschaftlicher Produkte im Werte von ca. 2 200 Mio. Mark im Jahresdurchschnitt 1875-1876 ergab sich bei einem 7%igen Wertzoll eine Einnahme von 154 Mio. Mark, die selbst bei einem angenommenen Rückgang der Einfuhren um die H ä l f t e immer noch ca. 80 Mio. Mark ergeben und damit zumindest die im Reichsfinanzreformentwurf ungedeckte Lücke füllen würde. Unter der 157

Voraussetzung, daß Zoll- und Steuererhöhungen bei der Braumalzsteuer, Industrieimporten, Importen von „Genußmitteln" sowie die Einführung einer „statistischen G e b ü h r " Mehreinnahmen von ca. 30 Mio. M a r k erbrachte, konnte eine agrarische Reichsfinanzreform,

deren Schwerpunkt

das

Tabakmonopol

(Mehreinnahmen: 117 Mio. M a r k ) und die Zölle auf landwirtschaftliche P r o dukte (Mehreinnahmen mindestens 80 Mio. M a r k ) bildeten, dem Reich Mehreinnahmen von 2 2 7 Mio. M a r k , mithin 27 Mio. M a r k mehr als für den Augenblick benötigt, verschaffen 5 8 . Diese „glänzende Perspektive" eines agrarischen Reichsfinanzreformprogramms versprach die Voraussetzungen für eine Befriedigung der Bedürfnisse der Reichsfinanzwirtschaft

und

der

Bundesstaaten

ebenso zu schaffen wie für die Erfüllung der zentralsten steuerpolitischen F o r derungen des preußischen Großgrundbesitzes. W ä h r e n d sie der Finanzleitung die Möglichkeit offerierte, „wenigstens einen Teil der bisherigen Sünden wiedergutzumachen", in dem über den Mehrbedarf hinaus sogar die Finanzmittel zum Abbau der bereits erheblich angewachsenen Reichsschulden bereitgestellt werden konnten, versprach sie den Einzelstaaten die Erfüllung ihrer Forderung nach „Aufhören der Matrikularbeiträge". D a m i t war ihnen die - aus agrarischer Perspektive natürlich entscheidende - Möglichkeit gegeben, „ihre inländische Besteuerung einer gründlichen Revision zu unterziehen und eine gerechtere Verteilung der Steuerlast herbeizuführen". Die bei der

anzustrebenden

„gerechten Verteilung der Steuerlast" zu berücksichtigenden Prinzipien mußten natürlich die Interessen des preußischen Großgrundbesitzes und der landwirtschaftlichen Gewerbe, in zweiter Linie die agrarischen Ressentiments gegen die Bevorzugung des mobilen Kapitals und der Großindustrie befriedigen 5 9 . In bezug auf seine finanz- und steuerpolitischen Implikationen fand das von Thüngen-Roßbach

entwickelte

Programm

einer agrarischen

Reichsfinanzre-

f o r m bei den versammelten Agrariern breite Zustimmung 8 0 . D i e Tatsache freilich, daß die in finanz- und steuerpolitischer Absicht aufgestellte Forderung nach 7 % igen Wertzöllen auf Agrarprodukte nicht erhoben werden

konnte,

„ohne die Streitfrage, ob Schutzzoll oder Freihandel zu berühren" 8 1 , machte deutlich, wie stark in den von den preußischen Großgrundbesitzern dominierten Organisationen und erst recht im D L R die Widerstände waren, die eigene freihändlerische Vergangenheit zu verleugnen und sich auf ein Feilschen um Zolltarifpositionen mit den bisher bekämpften industriellen Schutzzöllnern einzulassen. O b w o h l führende preußische Agrarier in ihren Plädoyers für F i n a n z zölle auf Agrarprodukte den Eindruck zu vermeiden suchten, „als ob wir uns für den Schutzzoll aussprechen", formierte sich bereits im Februar 1 8 7 7 auf der Versammlung der „Vereinigung" der freihändlerische Widerstand gegen einen zollpolitischen K o m p r o m i ß mit der Industrie. Unterstützt von Anträgen sprachen sich mehrere Redner entschieden

gegen allgemeine Wertzölle

landwirtschaftliche Produkte und für die Aufhebung der noch

auf

bestehenden

Schutzzölle aus. Selbst von Agrariern, die bereit waren, auf der Basis von gleichmäßigen Finanzzöllen „der Industrie einen ehrlichen und das W o h l des Staates wahrenden K o m p r o m i ß " anzubieten, wurde gleichzeitig die Befürch158

tung geäußert, „ f ü r die Fabrikanten die Kastanien aus dem Feuer zu holen", dabei aber selber zu kurz zu kommen" 2 . Ein J a h r später war der Widerstand der agrarischen Freihändler noch keineswegs überwunden. D a s zeigte sich vor allem auf der Versammlung des D L R im J a n u a r 1878. Bei den Debatten über die zahlreichen und widersprüchlichen Anträgen zur Zollpolitik standen die Anhänger eines prinzipiellen Freihandels und Gegner eines zollpolitischen Interessenausgleichs mit den protektionistischen Verbänden der Industrie in scharfer Opposition zu den Befürwortern eines zollpolitischen Interessenausgleichs zwischen Industrie und Landwirtschaft. Die Argumente reichten von der Behauptung, daß Industrie und Landwirtschaft „diametral entgegengesetzte Interessen" hätten (v. Borries) bis zur These, „daß die Interessen der Industrie identisch sind mit denen der L a n d w i r t s c h a f t " (Knauer-Gröbers). Ebenso unvereinbar standen sich die Positionen in der speziellen Frage der zollpolitischen Forderungen gegenüber. Die Forderung des Freiherrn v. Rothkirch: „Wir müssen Finanzzölle auflegen, um unsere Einnahmen zu vermehren und unsere direkten Steuern zu vermindern", wobei ein Finanzzoll auf Getreide konzediert werden sollte, provozierte sofort die Warnung des Freiherrn v. Rabenau, daß damit zukünftig der Abschluß von Handelsverträgen unmöglich gemacht und ein „Zollkrieg aller mit allen" unausweichlich werde. Den Versuch, die Zweckmäßigkeit des agrarisch-industriellen Interessenausgleichs mit der finanziellen Ergiebigkeit von Finanzzöllen auf „Massenprodukte", die in Millionen Zentnern importiert wurden, zu begründen (Knauer-Gröbers), konterten andere Agrarier damit, daß sie aus demselben G r u n d Zölle auf Agrarprodukte befürworteten, industrielle Schutzzölle aber, die zur „Einschläferung der deutschen Industrie" führen und diese konkurrenzunfähig machen würden, entschieden ablehnten (Oelschlägel) 6 3 . Die freihändlerische Opposition aus den eigenen Reihen war auch im „ K o n g r e ß " und in der „Vereinigung" am Jahresanf a n g 1878 noch keineswegs gebrochen. „ D i e eifrigsten, ja geradezu wütenden Freihändler waren, und sind es teilweise noch, die L a n d w i r t e " , stellte v. Thüngen-Roßbach auf der „Vereinigung" fest. Einen Monat später sprach sich der ostpreußische Provinziallandtag gegen Getreide- und Eisenzölle aus, und auch die landwirtschaftlichen Vereine formulierten immer wieder Resolutionen gegen Getreidezölle 6 4 . D i e antiindustriellen und antischutzzöllnerischen Ressentiments aufzulösen, bildete daher eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche agrarische Interessenpolitik, wie sie von preußischen Großgrundbesitzern verfolgt wurde. Wenn auch in der finanzpolitischen Begründung von Agrarzöllen auf keinen Fall ein rein taktischer Versuch preußischer Großgrundbesitzer gesehen werden kann, auf dem U m w e g über Finanzzölle möglichst schnell zu Schutzzöllen für die Landwirtschaft zu kommen, so machte es doch die P r o p a g a n d a für Finanzzölle vielen Agrariern leichter, ihre freihändlerische Vergangenheit zu leugnen 65 . Im Verhältnis zu den Widerständen, die den Bemühungen um die O r g a nisation einer ideologisch geschlossenen agrarischen Bewegung im Wege standen, läßt sich auch der Stellenwert des deutsch-russischen Wirtschaftsantago159

nismus in den innenpolitischen Auseinandersetzungen seit der M i t t e der 70er J a h r e bestimmen. Gerade weil sich die „Vereinigung" und der „ K o n g r e ß " als Agitationszentralen einer agrarischen Bewegung verstanden, deren S t ä r k e nicht zuletzt davon abhing, ob die „Solidarität der landwirtschaftlichen Interessen" glaubhaft propagiert werden konnte, durften sich die Interessenvertreter des preußischen Großgrundbesitzes nicht dem Verdacht aussetzen, die landwirtschaftliche Bevölkerung für Zwecke auszubeuten, „die ihren Interessen eigentlich ferne" standen 6 6 . Darüber hinaus spricht es für die Heterogenität der agrarischen Bewegung, daß sich das Bewußtsein von Gemeinsamkeit der in ihr zusammengefaßten Gruppen und Interessen nur aus einer übermäßigen und agitatorisch geförderten Fixierung auf den gemeinsamen äußeren Feind entwickeln konnte. D i e heftige antisemitische Agitation befriedigte primär das Bedürfnis nach einer negativen Integrationsideologie. Für die Initiatoren der agrarischen Bewegung w a r es auch ein nicht hoch genug zu veranschlagender agitatorischer Aktivposten, wenn sie die Forderung nach Getreidezöllen nicht mit den steuerpolitischen Forderungen des preußischen Großgrundbesitzes, sondern mit der ausländischen

Konkurrenz

begründen

und

Bedrohungsgefühle

mobilisieren

konnten. Diese agitatorische Funktion wurde primär bestimmt durch eine wachsende agrarische Rußlandfeindschaft der sich formierenden agrarischen

Bewegung.

H a t t e v. Below noch während der Debatten im Reichstag im M a i 1 8 7 3 die „hauptsächlichste Schädigung der wirtschaftlichen Interessen des Ostens" darauf zurückgeführt, „daß er nach R u ß l a n d zu durch eine förmliche chinesische Schutzzollmauer von der Erweiterung seines Marktes abgehalten" werde, mit dieser Tatsache aber die Forderung nach Abbau der deutschen Eisenzölle und einer Verbesserung der Kommunikationswege zur Steigerung des „Binnenkonsums" landwirtschaftlicher Produkte aus den östlichen Provinzen motiviert 6 7 , so hatte sich dreieinhalb J a h r e später die Einstellung führender Vertreter des preußischen Großgrundbesitzes gegenüber der russischen Zollpolitik drastisch geändert. J e t z t diente sie ihnen als V o r w a n d , um die finanzpolitische Revision des deutschen Zolltarifs voranzutreiben. D i e Einführung des Goldzolls in R u ß land im J a n u a r 1 8 7 7 w a r dazu hervorragend geeignet. Während sich die V e r treter der liberalen Parteien bei den Debatten über die Interpellation Richters für einen wirtschaftlichen

Interessenausgleich

Anwendung politischen Drucks -

mit R u ß l a n d -

freilich

unter

einsetzten, bezog ζ. B. Bethusy-Huc,

der

selber in der N ä h e der russischen Grenze wohnte und außerdem Besitzer einer „kleinen S c h o l l e " jenseits der russischen Grenze war, eindeutig Position zugunsten eines „friedlichen, aber darum nicht unwirksamen Zollkrieges gegen R u ß l a n d " , da selbst im Falle einer erfolgreichen politischen Intervention „eine U n erträglichkeit etwas minder unerträglich" gemacht und der alte Zustand, der den Handelsverkehr zwischen beiden Ländern bisher nahezu unmöglich gemacht habe, nur wieder hergestellt werde 6 8 . Zwei M o n a t e später sprach sich die „Vereinigung" für die „Bevollmächtigung des Reichskanzlers zur Anwendung von Retorsionszöllen aus" 6 9 .

160

Die vorangegangenen heftigen Debatten über diese Resolution machten den Zweck deutlich: Es ging weder primär darum, einen Vorwand f ü r die Einführung hoher Agrarzölle mit protektionistischer Wirkung zu finden, noch war es die Absicht, den Forderungen der Industrie nach Ö f f n u n g des russischen Marktes Gewicht zu verschaffen. Gerade weil zu diesem Zeitpunkt die Aussichten für eine „vollständige Revision der Zollgesetzgebung" nicht zuletzt dank des Widerstandes in den eigenen Reihen noch als relativ gering eingeschätzt wurden, legte man - so Stolberg - Gewicht darauf, „die Retorsionszölle als Drücker zu haben", nicht weil man an einen Erfolg dieser Drohung glaubte, sondern um das innenpolitische Terrain für einen zollpolitischen Kompromiß zwischen Industrie und Landwirtschaft auf der Basis eines allgemeinen Wertzolltarifs mit gleichmäßigen Finanzzöllen vorzubereiten 70 . Die Forderung nach Retorsionszöllen gegen Rußland war f ü r diesen Zweck aus zwei Gründen besonders gut geeignet: 1. Die eifrigsten Verfechter des Kompromisses zwischen Industrie und Landwirtschaft wie Frege und Niendorf nutzten auch am extensivsten die Chance, um agrarische Bedrohungsgefühle zu aktivieren und am Beispiel der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen zu demonstrieren, daß Deutschland mit der „an sich richtigen Freihandelstheorie" nicht allein vorgehen könne. Für Frege war die „in mancher Hinsicht mythische Existenz" des Weltmarktes ausreichender Beweis f ü r die Unfähigkeit der deutschen Landwirtschaft, „mit der Getreide- und Fleischproduktion der östlichen und amerikanischen Länder in einen Wettbewerb einzutreten auf dem sogenannten Weltmarkt". Die versammelten Agrarier sollten sich insbesondere, „des russischen und ungarischen Weizens" erinnern, der „uns überschwemmt, an den russischen Sprit, endlich an die gegen früher so völlig umgestalteten Transportverhältnisse, die Differentialfrachten usw.". Sarkastisch kritisierte Niendorf die „tiefe Weisheit" des „absoluten Freihandels", das Deutsche Reich vom russischen Getreide „überfluten" zu lassen und durch billige Differentialtarife noch Importprämien für russisches Getreide zu gewähren, während gleichzeitig Rußland die deutschen Industrieprodukte einem hohen Zoll unterwerfe 7 1 . 2. Die Retorsionszölle auf russische Exporte konnten Zölle auf die breite Skala von Agrarprodukten rechtfertigen, ohne daß man sich dem Vorwurf einer auf die Verteuerung der Nahrungsmittel zielenden Zolltarifreform aussetzte. Angesichts der Tatsache, daß Rußland Agrarprodukte exportieren mußte und neben England „kein anderes Absatzgebiet als das Deutsche Reich" hatte, war nicht von vornherein auszuschließen, daß bei niedrigen Wertzöllen die russischen Getreideeinfuhr auf dem bisherigen Preisniveau anhalten würde 72 . In dem Maße, in dem die Agitation agrarischer Interessenpolitik den Kampf um eine finanzpolitische Revision des deutschen Zolltarifs mit der Forderung nach Retorsionszöllen gegen die protektionistische Zollpolitik Rußlands voranzutreiben suchte, vermischten sich die finanz- und steuerpolitischen Gesichtspunkte zusehends mit agrarprotektionistischen Motiven. Diese Entwicklung trat auf den Jahresversammlungen der landwirtschaftlichen Interessenorganisa11

Müller-Link

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tionen im Januar/Februar 1878 scharf hervor. Während auf der Versammlung der „Vereinigung" im Februar 1877 protektionistische Motive nur in schwachen Ansätzen zur Begründung eines allgemeinen Wertzolltarifs herangezogen wurden, entwarf Thüngen-Roßbach ein Jahr später nicht nur sein präzises Programm für eine agrarische Finanzreform, sondern er schwor jetzt offen seinen „Jünglingsjahren" ab, in denen er „wie fast alle Landwirte, auch wütender Freihändler" gewesen war 73 . Die Agitation gegen Rußland als Feind der deutschen Landwirtschaft spielte eine hervorragende Rolle, um den Abfall vom Freihandel zu rechtfertigen. Es spricht für sich, wenn Thüngen-Roßbach die Krise in der Landwirtschaft damit zu erklären suchte, daß „das Ausland uns mit seinen Produkten überschwemmt und den Rahm bei uns abschöpft" und gleichzeitig auf Österreich-Ungarn-Rußland und die Donauländer als die „hauptsächlich bei uns getreideeinführenden Länder" hinwies, wenn Borries, keineswegs ein Befürworter von Agrarzöllen im D L R in protektionistischer Absicht erklärte: „Wir essen in Westfalen das Weizenbrot nicht von westfälischem Weizen, sondern zum Teil von russischem Weizen, der von Holland eingeführt wird." 7 4 Es kann keine Rede davon sein, daß die agrarischen Interessenorganisationen in der Agitation gegen die freihändlerische Handelspolitik bereits insgesamt am Jahresanfang 1878 die „schutzzöllnerische" Wendung vollzogen und die bisherigen Entschließungen nur ein „Maske" gewesen wären, „um das längst im Geheimen mit den Industriellen geschlossene Bündnis zu verdecken und für den Übergang ins schutzzöllnerische Lager eine Brücke zu schaffen" 7 5 . Noch gab es kaum jemanden, der sich zu einseitig protektionistisch motivierten Schutzzöllen bekannt hätte. Ein Zoll auf landwirtschaftliche Massenprodukte sollte nach allgemeinem Konsens als „Finanzzoll" bzw. als ein „Steuerausgleichszoll" einen Beitrag zur „Verwaltung des Staates" leisten, denn - so drückte LehmannRadowitz die herrschende Meinung aus - : „Gesunde Finanzen sind die wahre Stärke jeglicher Regierung." 7 9 Unter anderem waren hier Vorbehalte wirksam, daß sich mit der Forderung nach einem „wahren Schutzzoll, der eine chinesische Mauer um den Staat zieht", in der Presse ein Sturm des Unwillens erheben und ein solcher Vorschlag in den „gesetzgebenden Versammlungen" niemals durchgehen werde 77 . Weitaus wirksamer waren jedoch generelle Bedenken im Hinblick auf die Wirkung, die Zölle für die Preisentwicklung haben konnten. Im günstigsten Fall schien ein Finanzzoll geeignet, „der ungesunden Spekulation, den sogenannten Getreideschwänzen, einen Riegel vorzuschieben" und damit den Wert der Getreideproduktion „um etwas" zu erhöhen. Andererseits war es mehr als fraglich, ob die Landwirtschaft durch Zölle überhaupt „schützbar" war, oder ob die weitaus bessere Alternative zu agrarischen Schutzzöllen nicht eine „Agrarverfassung" war, die die Landwirtschaft „über aller Konkurrenz erhaben auf eine elastische Basis" gestellt hätte. Ins Gewicht fiel auch, daß die verschärfte Konkurrenz auf dem Agrarmarkt hauptsächlich von den Vereinigten Staaten, Rußland und Österreich-Ungarn ausging, also sämtlich Länder mit währungsbedingten und stark schwankenden Wechselkur162

sen, die mit Abwertungseffekten die protektionistische Wirkung deutscher Agrarzölle neutralisierten. U n d schließlich war es noch keineswegs ausgemacht, daß eine protektionistische Politik speziell gegen Agrarimporte aus den östlichen Nachbarstaaten nicht weitaus wirksamer auf dem Gebiete der Eisenbahntarifpolitik betrieben werden konnte 78 . Im Hinblick auf diese Bedenken wurde die Reihenfolge der unmittelbar zu verwirklichenden agrarischen Forderungen weiterhin angeführt von der Forderung nach „Finanzzöllen" in Form eines allgemeinen Wertzolls auf Agrarprodukte, der dem Reich und den Bundesstaaten die Mittel zur Verfügung stellte, um Erleichterungen bei den direkten Steuern zu ermöglichen. Die Forderung nach „Finanzzöllen", um die „Einnahmen zu vermehren" und die „direkten Steuern zu vermindern", formulierte Freiherr v. Rothkirch geradezu als Alternative zu anderen Maßnahmen gegen Gefahren, die der Landwirtschaft aus der „Verrückung der Verkehrsverhältnisse" drohten. Von dieser Position aus opponierte auch einer der führenden Agitatoren der agrarischen Bewegung, Perrot, gegen die „protektionistischen" Implikationen eines 7% igen Wertzolls, wie ihn Thüngen-Roßbach vorgeschlagen hatte. Mit einem Finanzzoll von 7% schien es Perrot nicht mehr vereinbar, daß die Möglichkeit eines Rückgangs der Agrarimporte bis zu 50% einkalkuliert wurde, während andererseits ein 5% iger Wertzoll ohne den möglichen Effekt einer stark rückläufigen Importentwicklung annähernd den gleichen finanziellen Ertrag liefern und die Differenz durch eine höhere Besteuerung des „mobilen Kapitals" gedeckt werden konnte 78 . Im Unterschied zu den Getreidezöllen setzten sich bei den Debatten über Viehzölle am Jahresanfang 1878 die protektionistischen Tendenzen durch. Ausschlaggebend hierfür dürfte die Tatsache gewesen sein, daß von dem Rückgang der Viehpreise nicht nur die preußischen Großgrundbesitzer, sondern auch die mittleren und kleineren bäuerlichen Wirtschaften mit einer begrenzten Marktorientierung empfindlich getroffen wurden 80 . Während sich daher die überwiegende Mehrheit auf der Versammlung des D L R im Januar 1878 noch entschieden gegen Schutzzölle auf Getreide wandte, stimmte sie gleichzeitig veterinärpolizeilichen Maßregeln mit dem Ziel zu, den Viehimport aus Rußland und Österreich-Ungarn zu unterbinden 8 1 . Erst in der letzten Phase des innenpolitischen Kampfes um die Zolltarifreform vom Juli 1879 gewann in den agrarischen Interessenorganisationen auch die schutzzöllnerische Motivation f ü r Getreidezölle ein durchschlagendes Gewicht, und zwar nicht zuletzt unter dem Einfluß einer massiven Agitation gegen die russische Agrarkonkurrenz, die erst nach dem Ende des russisch-türkischen Krieges zusammen mit den amerikanischen Exporten durch das erdrückende Übergewicht die Entwicklung auf dem europäischen Agrarmarkt bestimmte 82 .

11*

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4.5 D i e Integrationsfunktion antirussischer Politik für die antiliberale Wendung der deutschen Innen- und Wirtschaftspolitik 1875-1879 Mit der Formierung starker schutzzöllnerischer Interessenverbände der Industrie und einer in ihren Zielsetzungen unbestimmteren agrarischen Bewegung, die sich beide zumindest partiell aus dem wirtschaftlichen Interessengegensatz zu Rußland herleiteten 1 , wird eine für die Verschärfung des deutschrussischen Wirtschaftsantagonismus während der zweiten Hälfte der 70er Jahre wichtige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung erfaßt. Denn sowohl die industrielle Schutzzollagitation als auch die agrarische Bewegung waren Symptome einer Entwicklung, die sich einerseits - und seit 1873/75 zunehmend deutlicher - als eine Unterminierung der sozialökonomischen Grundlagen des preußisch-deutschen Konstitutionalismus, seiner innenpolitischen Stabilität und seiner außenpolitischen Hegemonialstellung entpuppte, zum anderen einer primär als Krisenmanagement zu verstehenden Innen- und Wirtschaftspolitik verschiedene Handlungsalternativen offenließ. Daß die deutsche Politik auf einen gegen die russischen Wirtschaftsinteressen verstoßenden Kurs festgelegt wurde, indem sie sich mit den Forderungen agrarischer und industrieller Interessenverbände identifizierte, kann - abgesehen von außenpolitischen Rücksichtnahmen - schon deshalb nicht als zwangsläufig angesehen werden. Der politische Entscheidungsprozeß, der schließlich in die innen- und wirtschaftspolitische Reaktion des Jahres 1879 mündete, läßt sich vor dem Hintergrund einer um die Mitte der 70er Jahre in ihren Konturen deutlich erkennbaren und durch die Wechselwirkung von zwei Entwicklungsverläufen bestimmten Krisensituation analysieren: dem von der Rüstungs- und Militärpolitik ausgehenden Sog einer „Reichsfinanzkrise" einerseits2, der Wirtschaftskrise in den wichtigsten Bereichen von Industrie und Landwirtschaft und den sich mit ihr verschärfenden soziopolitischen Konflikten andererseits. Die Kritik am bisherigen „System", wie sie am radikalsten von den Initiatoren der agrarischen Bewegung propagiert wurde, entsprach einer auch in der politischen Führung verbreiteten Furcht davor, durch das Festhalten an der „liberalen Ära" für eine unabsehbare Zeit ein gesellschaftliches und wirtschaftliches Konfliktpotential mit unabsehbaren politischen Konsequenzen zu konservieren. Daß der politische und ökonomische Liberalismus unter den Bedingungen einer andauernden und sich verschärfenden Wirtschafts- und Finanzkrise seine Rolle als „staatserhaltende K r a f t " einbüßte, schuf im Bismarckschen Kalkül schon 1875 in geradezu zwingender Eindeutigkeit eine innenpolitische Gesamtlage, in der die Opfer zu groß wurden, als daß um des Friedens mit den liberalen Parteien willen an dem bisher verfolgten innenpolitischen Kurs festgehalten werden konnte 3 . In der Öffentlichkeit verhalf die ökonomische Krise in relativ kurzer Zeit einer von liberalen Harmonievorstellungen des Laissez-faire abweichenden sozialkonservativen Ideologie zum Durchbruch; sie ließ die Neubestimmung des Verhältnisses der gesellschaftlichen Gruppen und 164

politischen Parteien zueinander als auch gegenüber dem Staat als dringendes Bedürfnis erscheinen; und sie eröffnete konservativen Kräften ein in der Gründerzeit nicht vorhandenes weites Betätigungsfeld. Dennoch: Für einen schnellen und völligen „Bruch mit dem Bestehenden" fehlten in mehrfacher Hinsicht die Voraussetzungen. Die Notwendigkeit, bisher staatstragende politische Gruppen aus dem System des preußisch-deutschen Konstitutionalismus zu eliminieren oder gar das System selbst zu liquidieren, blieb eine ultima ratio, solange nicht ausgeschlossen werden konnte, daß ein anpassungs- und kompromißbereiter Liberalismus auch einer systemstabilisierenden Reformpolitik unter konservativen Vorzeichen seine Mitarbeit nicht versagen würde 4 . Andererseits demonstrierte die Zähigkeit der innenpolitischen Auseinandersetzungen mit dem Liberalismus, wie wenig die von einigen reaktionären Vertretern des preußischen Grund- und Militäradels geforderte offene Reaktion mit der längerfristigen Zielvorstellung vereinbar war, die Institutionen und sozialen Grundlagen des preußischen Militärstaates auch unter dem Druck einer andauernden ökonomischen Krise zu konservieren. Der Formierungsprozeß von Gruppen, auf die sich eine entschieden reaktionäre Politik hätte stützen können, hatte 1875-1877 erst seine Anfangsphase durchlaufen, während die Reichstagswahlen vom Januar 1877, in denen sich zum ersten Mal die industriellen und agrarischen Organisationen massiv gegen den Liberalismus engagiert hatten, für die konservative Eroberung der Parlamente eine deutliche Grenze erkennen ließen 5 . Die Entschlossenheit zum offenen Bruch mit der liberalen Mehrheit wuchs erst in dem Maße, in dem 1. die Vertreter des politischen und ökonomischen Liberalismus in den Parlamenten und in der Bürokratie der dringlicher werdenden Reichsfinanzreform politisch motivierten Widerstand entgegensetzten; 2. mit dem Andauern der Wirtschaftskrise die Erfolge und die Ideologie des ökonomischen Liberalismus von der Erfahrung diskreditiert wurden; 3. die Industrie- und Agrarkrise die Sammlung organisierter Interessengruppen begünstigte, mit deren Hilfe sich die allgemeine Unzufriedenheit in konservative Wahlentscheidungen umsetzen ließ; 4. die sich formierenden industriellen und agrarischen Verbände bereit zeigten, ohne die vom Liberalismus geforderten „konstitutionellen Äquivalente" ihren Beitrag zur Überwindung der Krise des Steuer- und Militärstaats zu leisten und darüber hinaus die Eroberung der Parlamente nach den Spielregeln des konstitutionellen Systems zu bewerkstelligen. In dieser Perspektive ist nicht nur die Widersprüchlichkeit der Bismarckschen Strategien gegenüber dem politischen und ökonomischen Liberalismus, sondern auch seine Abneigung zu interpretieren, den Forderungen der sich formierenden industriellen und agrarischen Verbände frühzeitig entgegenzukommen oder sich gar mit ihnen zu identifizieren". Bis zum Jahresende 1878 ließ er sich weder durch Klagen preußischer Großgrundbesitzer über „mangelnde Unterstützung von oben", noch durch Beschwerden des VDESI über die „ebenso andauernde als grundsätzliche Schweigsamkeit" der Regierung oder durch

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Drohungen mit einem Produktionsboykott dazu bringen, seine Zurückhaltung aufzugeben 7 . Die Bismarcksche Hinhaltetaktik zielte darauf ab, die Opposition industrieller und agrarischer Verbände gegen den Liberalismus auf die Basis einer gemeinsamen Interessenspolitik zu stellen, die - parlamentarisch abgesichert und erweitert - mit oder ohne die liberalen Parteien die Reichsfinanzreform vorantreiben sollte. Solange der Widerstand der liberalen Parteien und der Bürokratie nicht gebrochen war, Interessengegensätze und traditionelle Abneigung das Verhältnis zwischen industriellen und agrarischen Interessenverbänden bestimmte und keine Aussicht bestand, durch Wahlentscheidungen eine Reichstagsmehrheit für die Reichsfinanzreform zu erzwingen, behielt Bismarck eine taktische Reserve, die die konkurrierenden Wirtschaftsgruppen einem permanenten Kompromißzwang sowohl untereinander als auch gegenüber den Anforderungen einer auf den internationalen Rüstungswettlauf umzustellenden Reichsfinanzwirtschaft aussetzte. D a ß sie ihre wirtschaftlichen Forderungen auf dem mühsamen Weg der „Eroberung der Parlamente" würden durchsetzen müssen, wurde von führenden Vertretern agrarischer und industrieller Interessen früh begriffen 8 . Ungeachtet anhaltender Kritik an bestimmten Auswüchsen einer einseitig an fiskalischen oder militärischen Interessen ausgerichteten Reformpolitik 9 setzte sich zudem die Einsicht durch, daß die industriellen und agrarischen Forderungen nur im Rahmen einer von militärpolitischen Imperativen bestimmten Reichsfinanzreform ohne „konstitutionelle Äquivalente" realisiert werden konnten 10 . Schwieriger war es aber, die materiellen Interessengegensätze und die Relikte traditioneller Animosität zwischen Industrie und Landwirtschaft zu überwinden, den Ausgleich der materiellen Interessen mit den Zielvorstellungen des Bismarckschen Reichsfinanzreformprogramms vom November 1875 zu verbinden und auf dieser Grundlage Reichstagsmehrheiten zu verändern. Die Bewältigung dieser Problematik, die letztlich die Abkehr von der „liberalen Ä r a " unvermeidlich machte, vollzog sich in zwei Phasen: Die erste zwischen 1875 und 1877 ließ noch die Möglichkeit eines Kompromisses offen, der — ohne massiven Verstoß gegen die russischen Wirtschaftsinteressen - Vorbehalte des politischen und ökonomischen Liberalismus sowohl mit den politischen Zielsetzungen Bismarcks als auch mit den Interessen agrarischer und industrieller Verbände verband. Erst in der zweiten Phase von 1878 bis zum Sommer 1879 bedingten sich unausweichlich innen- und wirtschaftspolitische Reaktion einerseits und die Eskalation des deutsch-russischen Wirtschaftsantagonismus andererseits. Solange die Reichsfinanzwirtschaft mit einem „verborgenen" Defizit arbeitete und die industrielle Depression noch nicht ihren Tiefpunkt erreicht hatte, arbeiteten die industriellen Schutzzöllner noch auf eine Reichsfinanzreform mit mäßigen Schutzzöllen auf Industrieprodukte und Finanzzöllen auf besonders ergiebige Konsumartikel hin. Agrarzölle standen noch keineswegs zur Disposition. Die Basis, auf der die Industrie im Kampf um die Beibehaltung der Eisenzölle den Interessenausgleich mit dem preußischen Großgrundbesitz suchte, 166

waren die „Grundsteuerfrage" und die Beibehaltung des f ü r die norddeutsche Landwirtschaft wichtigen Zolls auf Branntwein 1 1 . Aus der Perspektive der Industriellen gab es bis zum Jahresende 1877 Gründe f ü r die Annahme, daß auf dieser Basis die Reichsfinanz- und Zolltarifreform durchgeführt werden konnten: 1. Dieser Kompromiß stimmte prinzipiell mit dem von Bismarck im N o vember 1875 verkündeten Programm einer Reichsfinanzreform, das Agrarzölle ausschloß, überein 12 . 2. Weder die einflußreichsten Interessenvertretungen der preußischen und deutschen Landwirtschaft noch ihre Vertreter in den Parlamenten waren auf Agrarzölle festgelegt. Im Gegenteil waren sie noch weit davon entfernt, sich im Zeichen der „Solidarität" von Industrie und Landwirtschaft mit den protektionistischen Zielen der Industriellen zu identifizieren 13 . 3. das Ergebnis der Reichstagswahlen vom Januar 1877 legte einen von Teilen der Nationalliberalen und des Zentrums mitgetragenen Kompromiß agrarischer, industrieller und finanzpolitischer Interessen - und zwar ohne Agrarzölle - nahe 14 . 4. Es wäre zu weit gegriffen, in der unverhüllten Drohung mit Kampfzöllen gegenüber Rußland, mit der Bismarck im Dezember 1876 auf die Interpellation Richters reagierte, ein indirektes Plädoyer für landwirtschaftliche Schutzzölle zu sehen. In Übereinstimmung mit den Ansichten, die in den Interessenorganisationen des preußischen Großgrundbesitzes artikuliert wurden, waren im Bismarckschen Kalkül Agrarzölle noch primär als Finanzzölle wünschbar und die Agitation gegen die russische Zollpolitik im extremsten Fall ein Mittel, die Öffentlichkeit an die Möglichkeit von Finanzzöllen auf Agrarprodukte zu gewöhnen. Insofern widersprach Poschinger zu Recht der Interpretation des „Economist", die Bismarcksche Reichstagsrede vom 5. Dezember 1876 sei „durch und durch eine Freihandelsrede" gewesen, denn - so Poschinger Bismarck war „von dem Nutzen von Retorsionszöllen bzw. Kampfzöllen bereits vollständig überzeugt" 15 . Im Verlaufe des Jahres 1878 verflüchtigten sich jedoch sehr schnell die Aussichten f ü r eine Reichsfinanzreform im Rahmen der Vorstellungen, die Bismarck im November 1875 öffentlich verkündet und auf die er sich im August 1878 mit den Bundesstaaten verständigt hatte1®. Statt dessen ging die Entwicklung in Richtung auf eine „konservative Steuerreform", die - auf der Basis von Industrie- und Agrarzöllen - in einer f ü r die Finanzwirtschaft Preußens und die finanziellen Bedürfnisse des Reiches vorteilhaften Weise Reichsfinanzreform, Umschwung der Handelspolitik und bundesstaatliche Steuerreform miteinander verquickte 17 . Mit dem Zusammenschluß von 204 Reichstagsabgeordneten zur „Freien wirtschaftlichen Vereinigung" im Oktober 1878 wurde eine Querverbindung durch die Reichstagsparteien von Teilen der Nationalliberalen über das Zentrum bis hin zu den beiden konservativen Fraktionen geschaffen, die sich als tragfähige parlamentarische Basis zur Durchführung einer „konservativen Steuerreform" erwies. Mangelnde Kompromißbereitschaft der 167

Nationalliberalen kann keineswegs dafür verantwortlich gemacht werden, daß die Reichsfinanzreformversuche in einer innenpolitischen und wirtschaftlichen Reaktion einmündeten 18 . Durchschlagender als Sozialistenfurcht und fehlende Kompromißbereitschaft der Nationalliberalen waren zwei andere Faktoren: 1. Unter den Belastungen eines beschleunigten Rüstungswettlaufs hatte sich die Lage der Reichsfinanzwirtschaft inzwischen erheblich verschlechtert 19 . Nach den Berechnungen, die der Präsident des Reichskanzleramtes H o f m a n n im Frühjahr 1878 anstellte, wären zur Erreichung des Minimalziels einer wie immer gearteten Reichsfinanzreform: Deckung der laufenden Mehrausgaben bei gleichzeitiger Beseitigung der Matrikularbeiträge, Mehreinnahmen des Reiches von ca. 250 Mio. Mark erforderlich gewesen, was einer Verdoppelung der Einnahmen des Reiches aus den Zoll- und Verbrauchssteuern nach dem Voranschlag für 1878/79 entsprochen hätte 20 . Damit trat das Mißverhältnis zwischen den „Abschlagszahlungen", wie sie Bismarck bisher im Reichstag immer wieder durchzusetzen versucht hatte, und dem tatsächlichen Reichsfinanzbedarf eklatant hervor. Die Tabaksteuervorlage vom Februar 1878 war deshalb auch keine Alternative zu einer Reichsfinanzreform, die ergiebige Finanzzölle auf „Verzehrungsgegenstände des täglichen Bedarfs" nicht mehr tabuisierte. Während Bismarck die Tabaksteuervorlage noch zum entscheidenden Testfall für das zukünftige Verhältnis zu den liberalen Parteien und als Alternative zu einer umfassenden Zolltarifreform stilisierte 21 , entwickelte Thüngen-Roßbach vor der „Vereinigung" ein agrarisches Reichsfinanzreformprogramm mit zwei Schwerpunkten: Reform der Tabaksteuer möglichst im Sinne eines Monopols und Zolltarifreform unter Einschluß ergiebiger „Finanzzölle" auf landwirtschaftliche „Massenprodukte". Thüngen-Roßbach konnte gleichzeitig darauf verweisen, daß Bismarck jetzt kein Gegner mehr von „vernünftigen Zöllen" sei. Gegenüber Kardorff hielt Bismarck Ende März 1878 zwar noch grundsätzlich an seinem Reichsfinanzreformprogramm von 1875 fest, um sich dann aber vorzutasten: „Ich schrecke auch vor Getreidezöllen nicht zurück." 2 2 2. Einer primär an ergiebigen Finanzzöllen auf landwirtschaftliche Massenprodukte interessierten Zolltarifreform mußte sich freilich die Problematik eröffnen, daß sich das Finanzzollideal einer maximalen Steigerung der Zolleinnahmen nur bei einem bestimmten Zollsatz erreichen ließ, während eine aus schutzzöllnerischen Motiven über diese Schwelle hinausgehende Zollerhöhung zu einer Verringerung der Einnahmen führen konnte. Diese Problematik war von den Liberalen bisher immer als eines ihrer wichtigsten Argumente zur Abwehr schutzzöllnerischer Ambitionen ins Feld geführt worden, und auch Befürworter einer „konservativen Steuerreform" wie Varnbüler verschlossen sich keineswegs dem Problem, daß der Schutzzoll doch eigentlich das Gegenteil eines Finanzzolls sei, da er die Einnahmen vermindere statt sie zu erhöhen 23 . Von daher erklären sich die Bemühungen Bismarcks, die bei einem allgemeinen Finanzzollsystem zu berücksichtigende kritische Grenze eines bestimmten Zollsatzes nicht zu überschreiten. Zu bestimmen war diese Grenze einerseits aus der Einsicht, daß „das finanzielle Ergebnis . . . an sich je nach dem Prozentsatz, 168

welcher die Gesamteinfuhr ad valorem trifft, ein sehr erhebliches sein könne", andererseits aus der Tatsache, daß nach den statistischen Importdaten für 1877 „jedes einzelne Prozent des Wertes der Gesamteinfuhr etwa 36 Mio. Mark betragen würde" 2 4 . Daß eine Reichsfinanzreform zumindest die Einnahmen des Reiches um den Betrag der Matrikularbeiträge vermehren müsse, leistete eine wesentliche Entscheidungshilfe dazu, daß Bismarck am Jahresende 1878 einen 5% igen Wertzoll auf alle in das deutsche Zollgebiet eingeführten Waren als vorläufige Kalkulationsgröße anvisierte. Das deckte sich im wesentlichen mit dem Projekt eines Wertzolltarifs, das der Ausschuß der „Steuer- und Wirtschaftsreformer" im Frühjahr beim Reichskanzleramt eingereicht hatte. Immerhin hielt sich Bismarck damit noch unterhalb der von Thüngen-Roßbach im Februar 1878 bereits anvisierten Grenze von 6 bis 7% 2 5 . Vom finanzpolitischen Interesse her, die Einnahmen des Reiches so weit zu steigern, daß trotz steigender Mehrausgaben über die Matrikularbeiträge hinaus Überweisungen an die Bundesstaaten möglich wurden, um ihnen den Abbau der direkten Steuern zu ermöglichen, verfolgte Bismarck - wie die preußischen Agrarier - weiterhin die Steigerung der Einnahmen aus der Tabaksteuer2®. Andererseits mußten der starke Anstieg der Getreideeinfuhr im Verlaufe des Jahres 1878, die nach Jahren des Rückgangs wieder ansteigenden Importüberschüsse und schließlich der Rückgang der Getreidepreise, die 1878 und in der ersten Jahreshälfte 1879 einen Tiefpunkt erreichten, geradezu als Aufforderung erscheinen, schon aus finanzpolitischen Gründen einen höheren Wertzoll auf Agrarprodukte anzuvisieren 27 . Denn jetzt eröffnete sich die finanzpolitisch vielversprechende Perspektive, aus einem Massenimportartikel hohe Zollerträge zu erzielen, ohne als Folge eines über 5 Prozent hinausgehenden Wertzolls auf Getreide einen Rückgang der Einfuhren und damit der Zollerträge befürchten zu müssen. Von daher läßt sich die Bedeutung des russischen Agrarexportes zwischen 1877 und 1879 für die letzte Etappe der innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Reichsfinanz- und Zolltarif reform von 1879 in dreifacher Hinsicht bestimmen: 1. Die steigende Getreideeinfuhr aus Rußland erleichterte es, einen Ausweg aus den festgefahrenen Bemühungen um eine Reichsfinanzreform vom November 1875 zu finden, ohne daß das finanzpolitische Hauptziel, die Vermehrung der Einnahmen des Reiches zur Finanzierung steigender Rüstungsausgaben, in Frage gestellt worden wäre. Dieser Aspekt kann schon deshalb nicht unterschätzt werden, weil das Tabakmonopol und das Reichseisenbahnprojekt kaum Aussicht auf baldige Verwirklichung hatten, sondern sich zusehends zu einem Konfliktherd zwischen der Reichsfinanzwirtschaft einerseits und den wirtschaftlichen Interessengruppen andererseits auszuweiten drohten 28 . 2. Agrarzölle eröffneten die Aussicht, die Forderungen einer schnell expandierenden Reichsfinanzwirtschaft mit den steuerpolitischen Forderungen des preußischen Großgrundbesitzes in Übereinstimmung zu bringen und Finanzprojekte zu vermeiden, die - wie etwa die später unvermeidbare Zucker- und 169

Branntweinsteuerreform - leicht gegen die wirtschaftlichen Interessen des preußischen Großgrundbesitzes verstoßen konnten. 3. Der starke Anstieg der Getreideeinfuhren bei gleichzeitig sinkenden Preisen aktivierte Bedrohungsgefühle gegenüber der ausländischen Konkurrenz, die - agitatorisch ausgebeutet - hervorragend geeignet waren, die Vorbehalte in agrarischen Kreisen gegen einen agrarisch-industriellen Interessenausgleich abzubauen und die Widerstände in der Öffentlichkeit gegen eine Zolltarifreform auf der Grundlage kombinierter Agrar- und Industriezölle zu überwinden. Dieser These soll im folgenden kurz nachgegangen werden. Wenn auch exponierte preußische Großgrundbesitzer, Industrielle wie der Textilindustrielle Lohren und vor allem die Führer der Freikonservativen wie Stumm, Kardorff und Varnbüler sich schon frühzeitig für Agrar- und Industriezölle einsetzten, so war doch der industriell-agrarische Interessenausgleich bei der anstehenden Zolltarifreform keineswegs so unproblematisch wie im Falle Oberschlesiens, das schon seiner wirtschaftlichen Struktur nach in die „Kategorie der Verbindung von landwirtschaftlichen Interessen und von Interessen der Montanindustrie" fiel 29 . Im D L R dominierten immer noch die freihändlerischen Tendenzen, und auch bei führenden Vertretern der agrarischen Bewegung saßen agrarische Ressentiments gegenüber der Industrie noch zu tief, als daß sie den Kampf um „billiges Eisen" bei der Aussicht auf Agrarzölle aufgegeben hätten. Mit seinem Appell an das gemeinsame schutzzöllnerische Interesse von Industrie und Landwirtschaft war der Textilfabrikant Hessel bei der „Vereinigung" im Februar 1878 noch auf heftige Vorbehalte gestoßen. Man wisse nicht einmal - meinte ζ. B. Perrot mißtrauisch - , ob man „durch die Unterstützung der Fabrikanten" den der Landwirtschaft so notwendigen Schutz erhalte, wenn es tatsächlich zu Verhandlungen über die Zollfrage im Reichstag komme. Ähnlich mißtrauisch reagierte Reder-Buchek, wenn er bei Hessel die Absicht zu erkennen glaubte, die versammelten Agrarier „möglicherweise mit einem Schlage zu Schutzzöllnern zu machen, womöglich den Beitritt unseres Vereins zu dem des Centraivereins der Industriellen zu befürworten" 3 0 . Noch im N o vember 1878 bestritt Wedell-Malchow vor der Eisenenquête-Kommission nicht, daß „eine gewisse Strömung" in der Landwirtschaft der östlichen Provinzen vorhanden sei, „die sich im allgemeinen für den Schutzzoll" ausspreche, aber vom Standpunkt des eisenverbrauchenden „Konsumenten" war Wedeil noch keineswegs bereit, vorbehaltlos Vieh- und Getreidezölle als Kompensationsobjekt für Eisenzölle anzuerkennen. Er vermutete sogar, daß die „Herren aus dem Osten, welche jetzt schutzzöllnerische Velleitäten haben", als Konsumenten von Eisen eine „entschieden andere Meinung bekommen" würden, „sobald sie an die Frage konkret herantreten". Die Frage Stumms, ob die der preußischen Landwirtschaft durch die Wiedereinführung der Eisenzölle entstehenden Nachteile nicht „durch andere gesetzgeberische Maßregeln ausgeglichen werden" könnten, war für Wedeil eine politische Frage, die günstigenfalls durch „möglichst niedrige" Eisenzölle entschieden werden solle, wenn das „Unglück" schon nicht zu vermeiden sei31. 170

Bei internen Beratungen über Agrarzölle im Januar 1879 plädierten v. Schöning und v. Maltzahn-Gültz noch für den Freihandel, und selbst ein so eindeutiger Verfechter des industriell-agrarischen Interessenausgleichs wie v. Mirbach-Sorquitten meldete noch im Februar 1879 vor der „Vereinigung" die stereotypen agrarischen Vorbehalte gegenüber der Industrie an: „Wir haben uns früher gegen Eisenzölle ausgesprochen, und zwar nicht ohne Überlegung, weil wir Privilegien beseitigen wollten. Wir haben unsere Farbe nach keiner Seite hin gewechselt." 32 Es wäre zu verkürzt, im hinhaltenden Widerstand der Agrarier gegen hohe Eisenzölle nur ein taktisches Mittel zu sehen, um möglichst hohe „Schutzzölle" auch für die Landwirtschaft durchzusetzen. Gerade für die letzte Phase des Kampfes um die Zolltarifreform von 1879 muß generell unterschieden werden zwischen den primär verfolgten wirtschaftlichen Interessen und den Möglichkeiten, diese durchzusetzen. Protektionistische Tendenzen hatten sich innerhalb der landwirtschaftlichen Interessenorganisationen auf breiter Basis nur gegenüber Viehimporten durchgesetzt 33 . Aber gerade der Widerstand des Cdl gegen den Versuch, mit 39% igen Wertzöllen auf Vieh agrarprotektionistische Ziele nicht nur mit veterinärpolizeilichen Maßnahmen, sondern auch in der Zolltarifreform durchzusetzen, macht deutlich, daß eine primär agrarprotektionistisch motivierte Zolltarifreform kaum die Unterstützung der Industrie gefunden hätte 34 . Dagegen hatten Zölle auf Agrarprodukte die größten Durchsetzungschancen bei der Industrie, wenn sie dazu verhelfen sollten, trotz steigender Rüstungsausgaben die finanziellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die direkte Besteuerung des Großgrundbesitzes verringert werden konnte. Die Attraktivität des Entwurfs eines autonomen Zolltarifs, den der C d l im März 1878 vorgelegt hatte, beruhte vor allem darauf, daß er angesichts der „immer größer werdenden Staatsausgaben" und einer „fast unerschwinglichen Höhe", die die direkten Steuern inzwischen erreicht hatten, ausdrücklich die Notwendigkeit anerkannte, die Einnahmen des Reiches zu vermehren und dabei in einem „erhöhten Maße" die „Zuflucht" zu den indirekten Steuern zu nehmen35. Deshalb hielt Bismarck an Getreidezöllen als Teil einer „Steuerreform" fest, die die angebliche „Ungerechtigkeit" einer „Doppelbesteuerung" des Großgrundbesitzes beseitigte. In diesem Sinne begrüßte die „Vereinigung" den „Dezemberbrief" von 1878, der die letzte Phase des Kampfes um die „konservative Steuerreform" eröffnete, als Beweis für die Absicht der Regierung, „die notwendigen Ermäßigungen der direkten Steuern ganz parallel mit der Zunahme der indirekten Steuern eintreten zu lassen" 36 . Ein anderes Problem war es, für eine Zolltarifreform auf der Grundlage von Industrie- und Agrarzöllen Mehrheiten in den Interessenorganisationen von Industrie und Landwirtschaft, im Reichstag und im Bundesrat zu finden. Nachdem sich die Finanzminister der Bundesstaaten auf der Heidelberger Konferenz im August 1878 noch über eine Reichsfinanzreform auf der Grundlage des Programms vom November 1875 verständigt hatten, wollten die Bundesstaaten zwei Monate später nicht ohne weiteres akzeptieren, daß die Reichsfinanz- und Steuerreform jetzt „materiell 171

und formell mit der Zolltarifreform verbunden" werden sollte 37 . Der Schock, den der „Dezemberbrief" bei den Nationalliberalen auslöste, kann als Symptom dafür gelten, wie wenig die „Öffentlichkeit" noch auf Agrarzölle vorbereitet war 38 . H a t t e Bismarck schon die Zustimmung des Bundesrates zu Agrarzöllen mit dem Argument zu gewinnen versucht, daß eine gleichmäßige Verzollung aller Importe nicht als Schutzzoll f ü r einzelne Produktionszweige diffamiert werden konnte 39 , so machte die von ihm seit Januar 1879 massiv geförderte Agitationskampagne f ü r Agrarzölle deutlich, daß er keineswegs unterschätzte, wie unpopulär Agrarzölle waren 40 . Es bestand auch kein Zweifel daran, daß selbst eine noch so massive Agitation für „Steuergesetze" den Vertretern von Parteien und Interessenorganisationen, die Agrar- und Industriezölle zu akzeptieren bereit waren, nicht den nötigen Rückhalt bei ihren Wählern geben konnte. Zur Durchsetzung einer „konservativen Steuerreform" mußte man nach Bismarckschem Kalkül „ein wirtschaftliches Programm aufstellen und dasselbe in das Bewußtsein der Wähler einzuführen suchen" 41 . Von daher erklärte es sich, daß in der massiven Agitationskampagne während der ersten Jahreshälfte 1879 die Probleme der Reichsfinanzreform und die von den liberalen Parteiel daran geknüpften „politischen" Probleme kaum eine Rolle spielten. Um so heftiger war die Agitation f ü r ein „wirtschaftliches Programm", das die wirtschaftlichen Krisenängste und vor allem die Furcht vor der Agrarkonkurrenz Rußlands mobilisierte. Die in der letzten Phase der innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Zolltarifreform von 1879 agitatorisch systematisch ausgespielte Rolle Rußlands als bedrohlicher Konkurrent f ü r die deutsche Landwirtschaft, der durch seine protektionistische Zollpolitik zugleich massiv gegen die Interessen der deutschen Industrie verstieß, hatte einen entscheidenden Anteil daran, daß der freihändlerische Widerstand in den landwirtschaftlichen Organisationen zurückgedrängt, die Industrie f ü r Agrarzölle gewonnen und eine parlamentarische Mehrheit für eine konservative Steuerreform zustande gebracht werden konnte 42 . Die Beiträge Bismarcks und der Agrarier während der Reichstagsdebatten sprechen für sich. Zölle auf landwirtschaftliche Produkte wurden nicht als „Finanzzölle", sondern ausschließlich als „Schutzzölle" und als „Kampfzölle" begründet. In der protektionistischen Begründung beschränkte sich Bismarck nicht auf den allgemeinen Hinweis, daß Deutschland inzwischen „durch die weit geöffneten Tore" seiner Einfuhr zur „Ablagerungsstätte aller Überproduktion des Auslandes" geworden sei43. Seine „interessante Rede" über Getreidezölle vom 21. Mai 1879 schürte massiv Bedrohungsgefühle vor allem gegenüber Rußland. Die Produktion in den fruchtbaren Ländern des europäischen Ostens und des amerikanischen Westens sei eine „noch ganz unbeschränkte" und könne sich „beliebig steigern". Es sei auch „ganz unzweifelhaft", daß die Getreidepreise „nach Osten gradatim abnehmen", und zwar deshalb, weil bisher „die Entwicklung der großen östlichen Getreideländer noch nicht die Wirkung auf unseren M a r k t " gehabt habe wie gegenwärtig. Aus seinem eigenen Lebensbereich konnte Bismarck illustrieren, daß die Bäcker ihm „das aus russi172

schem Roggen gebackene Brot ins H a u s auf dem Lande verkaufen" und er in Friedrichsruh russisches Brot essen müsse44. Am zweiten Tag der Debatten über die Zolltarifvorlage verteidigte v. Minnigerode Agrarzölle mit dem beschwörenden Hinweis, daß die preußische Landwirtschaft durch die „ungeheure N a turalwirtschaft des außerdeutschen Ostens und auch des überseeischen Westens . . . mit einer erdrückenden Masse von Produkten auf dem Weltmarkt jetzt überschüttet" werde und dagegen bei den gegenwärtigen Produktionskosten „in keiner Weise" aufkommen könne. Ein Ausweichen auf die Viehzucht sei auch nicht möglich, da auch hier die ausländische Konkurrenz stark sei45. Um die Bedrohungsgefühle gegenüber der russischen Konkurrenz noch zu verstärken, kam Mirbach-Sorquitten gerade zum richtigen Zeitpunkt „eine große Menge von russischem H o l z die Memel herunter", es „überschwemmt nun per Bahn das Land, während unser Holz in den Königlichen Forsten bleibt und verfault" 4 6 . Die Befürchtungen der Vertreter des preußischen Getreidehandels, daß durch Getreidezölle der Handel von Danzig und Königsberg zugunsten der russischen H ä f e n Libau und Riga beeinträchtigt würde, wies Bismarck schroff zurück, während sich Minnigerode immerhin noch Gedanken darüber machte, wie eine Beeinträchtigung der russischen Getreidedurchfuhr über Königsberg und Danzig verhindert werden könne 47 . Ließ die Bedrohung der preußischen Landwirtschaft durch die russische Agrarkonkurrenz landwirtschaftliche „Schutzzölle" als unausweichlich erscheinen, so wurden agitatorisch Agrarzölle in ihrer Funktion als Kampfzölle gegen die Schädigung des deutschen Industrieexports durch die russische Zollpolitik zum Kristallisationspunkt, an dem sich die Interessen von Industrie und Landwirtschaft zur Abwehr einer gemeinsamen Gefahr zusammenfinden mußten. Bei der Verteidigung der Regierungsvorlage zeigten sich die Regierungsvertreter als eifrige Verfechter der industriell-agrarischen Annäherung, wenn es darum ging, die Doppelfunktion von Agrarzöllen im Spannungsfeld deutsch-russischer Wirtschaftsrivalität zu verteidigen. Bismarck vertrat scheinbar die Interessen der deutschen Industrie und Landwirtschaft gleichermaßen, wenn er die Agrarzölle als ein hervorragendes Kampfmittel zur Ö f f n u n g des russischen Marktes propagierte. Stand auf der einen Seite fest, daß die größere Quantität der Korneinfuhr, die die Landwirtschaft „am meisten belästigte", auf den Eisenbahnen aus dem Innern Rußlands zu außerordentlich günstigen Frachtsätzen über Alexandrow, Breslau und die baltischen H ä f e n nach Deutschland gelangte, so war auf der anderen Seite diese Tatsache, daß das russische Getreide einen „Zwangskurs, eine gebundene Marschroute" hatte, „die es notwendig auf die Wege der deutschen baltischen H ä f e n " verwies, der Punkt, „wo die Kampfzölle zur Eröffnung der russischen Grenzen unter Umständen wirksam werden" konnten. Holzzölle ließen sich als besonders wirksames Kampfmittel zur Ö f f nung des russischen Marktes verteidigen: „Der Holzzoll, gerade weil das H o l z gebunden ist an diesen Wasserweg, eignet sich Rußland gegenüber ganz vorzüglich zu einem Kampfzoll." 4 8 Die antirussische Agitation Bismarcks und preußischer Agrarier machten es dem Präsidenten des Reichskanzleramtes H o f 173

mann leicht, den Kampfzollparagraphen der Zolltarifvorlage zu verteidigen. Wenn Hofmann vom Reichstag verlangte, der Regierung eine „Vollmacht in die Hand zu geben, damit sie auch allgemein ausländischen Tarifen gegenüber", die die deutschen Erzeugnisse „ganz besonders belasten, Waffen in der Hand habe", so konnte das nur als Freibrief für eine spätere Erhöhung der Agrarzölle unter dem Vorwand von Kampfmaßnahmen gegen die russische Zollpolitik interpretiert werden. Angesichts der Struktur des deutsch-russischen Außenhandels konnte jede generelle Erhöhung des russischen Zolltarifs als „differenzielle Behandlung" deutscher Erzeugnisse und somit als ein „Akt der Feindseligkeit" interpretiert werden 49 . Der Erfolg der antirussischen Kampagne läßt sich an zwei Resultaten demonstrieren: wenn die parlamentarischen Vertreter des Liberalismus und des politischen Katholizismus nicht in der Rolle von Repräsentanten wirtschaftlicher Gruppen mit prinzipiell freihändlerischen Interessen oder als exponierte Gegner der innenpolitischen Reaktion überhaupt eine protektionistische Zolltarifreform ablehnten, bot die antirussische Agitation den kompromißbereiten Vertretern des rechten Liberalismus und des Zentrums die Möglichkeit, ohne Gesichtsverlust ins schutzzöllnerische Lager überzuwechseln. Mit Rücksicht auf seine ländliche Wählerschaft konnte sich das Zentrum ohnehin einer massiven Agitation, die systematisch agrarische Rußlandängste mobilisierte, kaum widersetzen50. Die Wirkung der antirussischen Agitation auf Vertreter des rechten Liberalismus war geradezu verblüffend und könnte ohne die bereits vorhandene traditionelle Rußlandfeindschaft der Liberalen kaum erklärt werden. Während ein Vertreter des linken Flügels wie Forckenbeck sich von dem mit „furchtbarer Schnelligkeit entwickelnden System Bismarck" - das hieß für Forckenbeck: „allgemeine Wehrpflicht, ungemessene und überreichliche indirekte Steuern, ein disziplinierter und herabgewürdigter Reichstag und eine durch den Kampf aller materiellen Interessen verdorbene und daher ohnmächtige öffentliche Meinung" - distanzierte, begründete Bennigsen seine Zustimmung zu der Zolltarifvorlage wie ein von Konkurrenzängsten geplagter Agrarier: „Je näher uns durch die Dampfschiffahrtsverbindungen und durch Eisenbahnen diejenigen Länder gerückt sind, welche Getreide erheblich billiger produzieren als wir, desto gefährlicher ist die Konkurrenz für unsere Landwirte, und das ist etwas, was in der letzten Generation seitens Amerika und in den letzten zehn Jahren seitens Rußland herbeigeführt worden ist." 51 Der materielle Inhalt des zollpolitischen Kompromisses zwischen Industrie und Landwirtschaft bestimmte sich nach dem Primärinteresse der Industrie an der Sicherung des inneren Marktes, während sich die agrarischen Interessen und diejenigen Bismarcks primär am finanziellen Ertrag und erst in zweiter Linie an der Zurückdrängung der russischen Agrarkonkurrenz orientierten. In der Zustimmung zu „Kampfzöllen" gegen Rußland, d. h. zu Agrarzöllen, die die agrarischen Zielvorstellungen sowohl in finanzieller als auch in protektionistischer Hinsicht maximal verbanden, gewannen die Industriellen einen ausreichenden Spielraum, um Industriezölle in der gewünschten Höhe mit agrari174

scher Unterstützung durchsetzen zu können. Auf der anderen Seite konnte es auch nicht mehr überraschen, daß die Zolltarifreform vom Juli 1879 vor der Grenze 5%iger Wertzölle nicht halt machte, sondern zu damaligen Preisen nur den Weizen mit einem 5% igen Wertzoll, dagegen Roggen - bei dem die russischen Zufuhren eine besondere Steigerung aufwiesen - mit einem 7% igen und H a f e r sogar mit einem 8% igen Wertzoll belegte. Auch die Viehund Holzzölle, ein wichtiger Bestandteil agrarischer Abwehrmaßnahmen gegen die russische Konkurrenz, fanden die Zustimmung der Industrie 52 .

4.6 Sozialökonomische Krisenstrategie und Außenpolitik Der handelspolitische Umschwung in Preußen-Deutschland erfolgte nicht weniger als in Österreich-Ungarn und Rußland primär defensiv als Reaktion auf systemgefährdende Entwicklungen einer sozialökonomischen Krisenlage. Das ändert freilich nichts daran, daß er zugleich nachhaltige Auswirkungen auf die politisch-ökonomischen Dreieckskonstellation Rußland-DeutschlandÖsterreich-Ungarn hatte. Vor allem trug er zur Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus bei: 1. Die erfolgreiche finanzpolitische Absicherung einer expansiven Rüstungspolitik verschärfte ökonomisch den Kampf um die politische Hegemonie in Europa und übte auf die zaristische Regierung einen zusätzlichen Zwang aus, noch stärker als bisher ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik in den Dienst der Rüstungspolitik zu stellen, wenn sie sich nicht mit der militärischen und politischen Hegemonie Deutschlands auf dem Kontinent abfinden wollte. 2. Ein autonomer deutscher Zolltarif, der neben Einfuhrzöllen auf Industrieprodukte auch Agrarzölle enthielt, richtete sich direkt gegen die Exportinteressen der russischen Großgrundbesitzer und die Finanzinteressen des russischen Staates. Darüber hinaus enthielt er eine Kampfansage der deutschen Industrie an die russische Zollpolitik. 3. Die massive Schädigung der russischen Wirtschaftsinteressen erfolgte zu einem Zeitpunkt, an dem der ökonomische Transformationsprozeß und die Finanzkrise in eine akute Krise der Autokratie einmündeten. Das erfolgreiche Krisenmanagement der Führungsgruppen des deutschen Staates war - „monarchischer Solidarität" zum Trotz - das probate Mittel, um die Stellung der traditionalen Eliten Rußlands noch weiter zu schwächen und damit die sozialen und innenpolitischen Grundlagen einer deutschfreundlichen Politik auszuhöhlen. Diese Probleme gaben der deutschen Außenpolitik in der zweiten H ä l f t e der 70er Jahre eine neue Dimension. Denn das Übergreifen der sich schnell verschärfenden ökonomischen Antagonismen auf die politischen Beziehungen zu verhindern, wurde seitdem zu einem Hauptproblem der deutschen Rußlandpolitik 1 . 175

Schon anläßlich der ersten Anzeichen einer handelspolitischen Reaktion in anderen europäischen Staaten machte Bismarck klar, daß für ihn die Frage der zukünftigen deutschen Wirtschaftspolitik weder auf der Ebene ökonomischer Theorien, noch mit Rücksicht auf die Interessen anderer Staaten, sondern unter dem Primat der inneren Politik entschieden würde. Gegenüber den Zollerhöhungen, die Italien in der Jahresmitte 1875 der Kündigung seiner Handelsverträge folgen ließ, vertrat er die kompromißlose Haltung, „daß gegenüber den Staaten, welche ihre Tarife zum Nachteil der deutschen Ausfuhr erhöhen, nicht anderes tunlich sei, als Repressalien gegen ihre Produkte. Die von der Volkswirtschaft dagegen zu erhebenden Bedenken würden von politischen Gründen überwogen" 2 . Eine solche Position ließ nur einen sehr engen Spielraum für handelspolitische Verhandlungen mit dem Ziel, die Erschwerung des deutschen Industrieexportes ζ. B. durch das in Frankreich praktizierte Exportförderungssystem der tires acquits-à-caution, durch den russischen Zolltarif mit seinen protektionistischen Einschlägen oder durch die Erhöhung der russischen und österreichischen Importzölle auf Industrieprodukte zu verhindern. Zugrunde lag der Bismarckschen Reaktion eine - wie sich schnell zeigen sollte - durchaus realistische Einschätzung derjenigen Kräfte, die in den europäischen Staaten auf einen protektionistischen Kurs drängten sowie die Überzeugung, daß es letztlich aussichtslos sei, sie auf dem Verhandlungswege von einem protektionistischen Kurs abzubringen. Denn auch die Nachbarstaaten litten unter der „Überproduktion", und einer freihändlerischen deutschen Handelspolitik konnte es deshalb nicht mehr gelingen, „neue Absatzgebiete im Ausland zu ermitteln oder zu erschließen, welche uns die vermehrte Ausfuhr dauernd abzunehmen bereit wären" 3 . Die Einsicht in die Zwangssituation, die die europäischen Staaten auf einen protektionistischen Kurs drängte, läßt die Drohung mit deutschen Zollrepressalien nicht nur als Versuch erscheinen, der deutschen Industrie ausländische Absatzmärkte zu erhalten, sondern auch als eine Möglichkeit, das „Ausland" für die Maßnahmen zum „Schutz der heimischen Industrie", und letztlich für die Abkehr der deutschen Handelspolitik vom Freihandel verantwortlich zu machen. Solange England keine Anstalten machte, seine freihändlerische Handelspolitik aufzugeben, mußte diese Funktion vor allem den europäischen Kontinentalstaaten zufallen, die als Absatzmärkte für deutsche Industrieprodukte eine große Bedeutung besaßen und in denen starke protektionistische Tendenzen entweder bereits vorhanden waren - wie in Frankreich und Rußland - oder sich unter dem Druck der industriellen Depression schnell durchzusetzen begannen - wie in Österreich-Ungarn. Wie freilich die daraus resultierende Verschärfung der ökonomischen Gegensätze zwischen Deutschland und seinen Nachbarstaaten mit den Prinzipien der deutschen Außenpolitik und insbesondere einer Politik des Interessenausgleichs zwischen den Drei-Kaiser-Mächten zu vereinbaren war, blieb zunächst noch ein offenes Problem der deutschen Außen- und Wirtschaftspolitik. Gegenüber Frankreich erschien als unproblematisch eine Politik, die auf die angeblich in besonderem Maße deutschfeindli176

che französische Wirtschaftspolitik mit der Androhung von Repressalien reagierte, da angesichts des ohnehin manifesten deutsch-französischen Gegensatzes von der Eskalation ökonomischer Spannungen politisch unerwünschte Nebenwirkungen kaum zu befürchten waren 4 . Die wiederholt erhobenen Forderungen nach Repressalien gegen die französischen titres acquits-à-caution standen freilich in auffallendem Gegensatz zu dem geringen Spielraum, über den die deutsche Zollpolitik gegenüber Frankreich verfügte 5 . Gerade das bestätigt die Funktion, die die Auseinandersetzungen über die französischen Ausfuhrvergütungen hatten. Deutschlands politischer Hauptfeind mußte den Vorwand liefern, um den „Schutz deutscher Interessen . . . ausschließlich in . . . eigenen Zolleinrichtungen suchen" zu können 6 . Im Unterschied zum deutsch-französischen Verhältnis, wo das politische Feindbild dem wirtschaftlichen entsprach, wurde mit dem Aufbruch starker wirtschaftlicher Gegensätze zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland für die deutsche Außenpolitik das Problem akut, wie sich die bisher schon nur mühsam aufrecht erhaltene politische Verbindung des Drei-Kaiser-Bündnisses trotz verschärfter wirtschaftlicher Antagonismen aufrechterhalten ließ. Das Dilemma nahm deutliche Konturen an, als im Oktober 1876 Österreich-Ungarn den 1868 geschlossenen Zollund Handelsvertrag mit dem Zollverein in der Absicht kündigte, einen protektionistischen Kurs einzuschlagen, etwa zur gleichen Zeit die deutsche Industrie gegen die geplanten Zollerhöhungen Rußlands intervenierte und aufgrund der stimulierenden Wirkung von industrieller Depression, Agrar- und Balkankrise die Spannungen zwischen den Drei-Kaiser-Mächten einen Grad erreichten, daß die deutschen Militärs die Möglichkeit eines deutsch-russischen Krieges in nicht allzu ferner Zukunft antizipierten 7 . Im Hinblick auf die Österreich-Ungarn gegenüber einzunehmende Haltung stand im Oktober 1876 für Bismarck fest, daß die „eigene Gesetzgebung den deutschen Erzeugnissen die Bürgschaften gewähren" müsse, die man „in dem Wohlwollen fremder Regierungen bei der Ausführung von Handelsverträgen nicht finden" könne 8 . Wenn dennoch Bismarck die Frage der zukünftigen handelspolitischen Beziehungen zu österreich-Ungarn „dilatorisch" behandelte, so sprachen dafür zunächst innenpolitische Gründe, allen voran die Möglichkeit, der deutschen „öffentlichkeit" die Unzeitgemäßheit einer freihändlerischen deutschen Handelspolitik zu demonstrieren®. Hinsichtlich ihrer außenpolitischen Funktion erscheint die Verschleppungstaktik bei den Handelsvertragsverhandlungen als elementarer Bestandteil einer Strategie, politische Kooperation und eine kalkulierte Verschärfung des ökonomischen Gegensatzes in den deutsch-österreichischen Beziehungen miteinander zu vermitteln. Entscheidend war der Punkt, an dem der Versuch, die Hartnäckigkeit der auf protektionistische Forderungen starker Gruppen der Industrie festgelegte Verhandlungsposition der österreichischen Delegation für innenpolitische Zwecke auszubeuten, mit der „Rücksicht auf die österreichischungarische Regierung" kollidierte 10 . Denn die Fortführung einer Strategie, die aus Gründen der inneren Politik an einer Verschärfung der ohnehin nicht aufzuhebenden wirtschaftlichen Interessengegensätze zwischen Deutschland und 12 Müller-Link

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Österreich-Ungarn interessiert war, wurde in ihren außenpolitischen Implikationen um so problematischer, je erfolgreicher sie sich nach innen erwies. Die Forderung nach „Autonomie" bzw. „Reziprozität" mobilisierte antideutsche Ressentiments in Österreich-Ungarn und drohte einen deutsch-österreichischen Zollkrieg auszulösen, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem Bismarck angesichts der verschärften Spannungen zwischen den Drei-Kaiser-Mächten verdeckt auf eine engere Verbindung mit Österreich-Ungarn hinarbeitete 11 . Auf Regierungsebene ließ sich diese Gefahr eingrenzen, da der Beginn der deutschösterreichischen Handelsvertragsverhandlungen ungefähr mit dem Ausbruch des russisch-türkischen Krieges zusammenfiel, der die österreichische Regierung den Interessen der deutschen Politik gefügig machte. Angesichts des russischen Vormarsches auf dem Balkan lief Andrássy im Juli 1877 bei Bismarck offene Türen ein, wenn er die H o f f n u n g aussprach, daß auch ein Abbruch der Zollverhandlungen die politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern nicht berühren werde. Ohne politisch unerwünschte Nebenwirkungen konnten im O k tober die Handelsvertragsverhandlungen „in rücksichtsvoller Form und ohne Verstimmung zu zeigen" endlich abgebrochen werden 12 . Mehr noch: Den außenpolitischen Handlungsspielraum gegenüber der österreichischen Regierung schätzte Bismarck hoch genug ein, um nach dem ergebnislosen Abbruch der Handelsvertragsverhandlungen der deutschen Öffentlichkeit und insbesondere den industriellen Interessenverbänden erst recht die N o t wendigkeit von Kampfzöllen, sprich deutschen Agrarzöllen, gegen die Schädigung des deutschen Industrieexportes durch die protektionistische Politik Österreich-Ungarns klarzumachen. Das Interesse Österreich-Ungarns an einer zollfreien Einfuhr seiner Agrarprodukte nach Deutschland bei gleichzeitiger Protektion seiner Industrie stellte er als eine „übertriebene Zumutung" dar, der gegenüber die deutsche Zollpolitik an ihrer Autonomie festhalten müsse, um „Repressalien gegen übertriebene Schutzzölle auf unsere Exportartikel" anwenden zu können 13 . Das Bismarcksche Kalkül, eine weitere Eskalation der deutsch-österreichischen Wirtschaftsrivalität seinen innenpolitischen Zielen nutzbar zu machen, ging offenbar auf. Denn schon kurz nach dem Abbruch der Handelsvertragsverhandlungen verständigte er sich mit Andrássy darüber, daß „selbstverständlich" sowohl die österreichischen Zollerhöhungen als auch etwaige deutsche Agrarzölle auf die politischen Beziehungen beider Länder ohne Rückwirkungen bleiben sollten 14 . Für Andrássy bedeutete dies das Eingeständnis, daß der österreichischen Politik in der Endphase des russisch-türkischen Krieges kein Spielraum blieb, um den ökonomischen Interessen der österreichischen Industrie und der ungarischen Landwirtschaft gegenüber Deutschland politischen Nachdruck zu verschaffen. Auf dieser Verständigungsbasis konnte Bismarck zu Recht behaupten, daß die Handelsbeziehungen zwischen zwei Ländern die politischen Beziehungen kaum beeinflußten und daß speziell f ü r die deutsch-österreichischen Beziehungen dieser Einfluß ganz belanglos gewesen sei. Damit bestritt er freilich noch nicht, daß das „politische Leben immer mehr auf das wirtschaftliche Gebiet hinüberspiele" 15 . Gerade weil er die 178

Möglichkeit des Übergreifens der ökonomischen Antagonismen auf die außenpolitischen Beziehungen nicht unterschätzte, formulierte er nach dem Abbruch der deutsch-österreichischen Handelsvertragsverhandlungen das im Hinblick auf die weitere Entwicklung der deutsch-österreichischen Handelsbeziehungen zu berücksichtigende Interesse der deutschen Politik als Abneigung dagegen, 1. „daß die inneren Schwierigkeiten Österreichs vermehrt werden ", da Deutschland „politisch einer befreundeten und, solange sie das ist, einer leistungsfähigen Macht in Wien bedürfe; 2. als Verhinderung einer Situation, in der „alle Parteien in die Lage kämen, unsere herrische Unzufriedenheit als Sündenbock für die eigenen Torheiten anzuklagen"; 3. als Verhinderung „zweifelhafter Zollresultate", die die Stellung Andrássys als des Exponenten der deutsch-österreichischen Bündnispolitik unterminieren könnten 16 . Diesen Überlegungen entsprach es, wenn Bismarck nach dem Abbruch der Handelsvertragsverhandlungen sofort dem österreichischen Vorschlag zustimmte, den Zoll- und Handelsvertrag von 1868 um ein halbes Jahr zu verlängern, ohne dabei den Versuch zu machen, eine einjährige Verlängerung des Vertrages durchzusetzen, aus Furcht davor, „daß es für die deutschfeindlichen Elemente Österreichs, welche dort an dem Regierungswechsel gegen uns arbeiten, leicht zu verwertendes Material liefern würde". Angesichts der sich noch verschärfenden außenpolitischen Spannungen zwischen Österreich-Ungarn und Rußland konnte sich Bismarck mit einer Verlängerung des handelspolitischen Provisoriums bis Ende 1878 und mit dem neuen Handelsvertrag vom 16. Dezember 1878, der für ein Jahr die gegenseitige Tarifautonomie zugestand, mühelos gegenüber Österreich außen- und handelspolitisch den Spielraum sichern, den er für die Reform des deutschen Zolltarifs von 1879 brauchte. Der anhaltende außenpolitische Druck zwang die österreichisch-ungarische Regierung trotz einer im Innern „leidenschaftlich gefärbten Erörterung" der deutsch-österreichischen Wirtschaftsbeziehungen dazu, ohne Interventionsmöglichkeit die Einführung deutscher Agrarzölle mit „ängstlicher Spannung" abzuwarten 17 . Außer Frankreich und Österreich-Ungarn war Rußland das dritte Land, dessen protektionistische Zollpolitik den industriellen Schutzzöllnern einen Vorwand lieferte, um die Neuorientierung der deutschen Handelspolitik voranzutreiben18. Nur wurde der Wert der russischen Zollpolitik als Agitationsfaktor im Kampfe der deutschen Industrie um den Binnenmarkt dadurch beeinträchtigt, daß die Schädigung der deutschen Exportinteressen durch die russische Zollpolitik keineswegs neu war und sich die deutsche Industrie damit im großen und ganzen abgefunden hatte. Aber die Einführung der Goldzölle im Januar 1877 trug erheblich dazu bei, die Position der prinzipiellen Freihändler zu erschüttern. Mit seiner Interpellation, was die Regierung zum „Schutz der deutschen Industrie" gegen die jüngsten russischen Zollerhöhungen zu tun gedächte, machte Eugen Richter - unfreiwillig - das Dilemma der Anhänger des Freihandels deutlich. Rußland, das bisher jede handelsvertragliche Bindung 12·

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verweigert hatte, demonstrierte mit der neuen Zollerhöhung die Ohnmacht einer freihändlerischen Position gegenüber einer Regierung, die an einer autonomen Handelspolitik festzuhalten entschlossen war 1 9 . Es war daher konsequent, wenn Richter die Anwendung politischen Drucks forderte, um die zaristische Regierung zur Zurücknahme der Zollerhöhungen zu veranlassen. Ohne die Anwendung politischer Druckmittel blieb den Freihändlern nur noch der Appell an die Einsicht der zaristischen Regierung, daß eine protektionistische Zollpolitik ihrem wohlverstandenen eigenen Interesse zuwiderlaufe. In seiner Antwort 2 0 auf die Interpellation Richters verschärfte Bismarck dieses Dilemma der Freihändler, wenn er einerseits sein Bedauern ausdrückte, „daß eine uns in dem Maße befreundete Regierung eine wirtschaftliche Politik betreibt, bei der sie innerlich nicht kräftiger und wohlhabender wird", gleichzeitig aber kategorisch die Forderung nach Anwendung politischer Druckmittel zurückwies. D a mit blieb nur noch die Alternative, sich entweder mit der Schädigung deutscher Exportinteressen abzufinden oder wirtschaftliche Kampfmaßnahmen zu ergreifen. Am Jahresende 1876 hielt Bismarck prinzipiell noch beide Möglichkeiten offen 21 . D a ß der Schwerpunkt der Bismarckschen Reichstagsrede vom 5. Dezember 1876 auf der Drohung mit Kampfzollen lag, muß vor dem Hintergrund der innenpolitischen Auseinandersetzung zwischen Freihändlern und Schutzzöllnern erstens als Versuch gewertet werden, aus der wirtschaftlichen Kampfposition gegenüber Rußland und Österreich-Ungarn den Versuch der Freihändler abzuwehren, durch die partielle Konzession von „Ausgleichungsabgaben" auf französische Importe die schutzzöllnerische Agitation einseitig auf Frankreich abzuleiten und ihr damit die Stoßkraft zu nehmen 22 . Zweitens war die Drohung mit Kampfzöllen gegenüber dem Agrarstaat Rußland besonders geeignet, das innenpolitische Terrain für eine Zolltarifreform, die Zölle auf sämtliche Agrarpolitik einschloß, vorzubereiten oder zumindest diese Möglichkeit offenzuhalten. Es war sicher kein Zufall, wenn Bismarck wiederholt und „ausdrücklich" auf „die großen Massen von russischem Getreide, Holz, Vieh" hinwies, an die sich eine deutsche Kampfzollpolitik „russischerseits" zu halten habe. Wenn seine Antwort auf die Interpellation Richters dennoch den Eindruck einer „Freihandelsrede" erweckte, so trug sie damit der innen- und außenpolitischen Grenze Rechnung, die einer allzu rücksichtslosen Ausnutzung der russischen Zollpolitik für innenpolitische Zwecke gesetzt war. Nach innen wurde diese Grenze von dem Interesse bestimmt, die Entscheidung über die Modalitäten der Reichsfinanzreform offenzuhalten und zu vermeiden, durch eine vorzeitige Festlegung auf Agrarzölle die schutzzöllnerische Position der Industriellen zu stärken 23 . Nach außen wurde diese Grenze durch das Risiko gesetzt, daß eine zu scharfe wirtschaftliche Kampfposition gegenüber Rußland die ohnehin seit dem Jahresende 1876 deutlich zunehmenden Spannungen zwischen beiden Ländern verschärfen und denjenigen Kräften in Rußland Auftrieb geben konnte, die statt einer militärischen Aktion auf dem Balkan für eine grundsätzliche Neuorientierung der russischen Außenpolitik mit antideutscher Spitze plädier180

ten 24 . Vor allem im Hinblick auf diese außenpolitische Grenze bemühte sich Bismarck nicht nur, den Eindruck zu erwecken, daß die prinzipielle Entscheidung über die zukünftige deutsche Handelspolitik noch offen war, sondern er postulierte bei der Abwehr des Versuchs, die deutsche Außenpolitik auf freihändlerische Positionen festzulegen, die strikte Trennung von Wirtschaft und Politik als ein zentrales Prinzip der deutschen Außenpolitik 25 . In der konkreten Situation um die Jahreswende 1876/77 drückte diese programmatische Festlegung den Glauben an die Möglichkeit aus, ähnlich wie die Beziehungen zu Österreich-Ungarn auch die deutsch-russischen Beziehungen so steuern zu können, daß ein Übergreifen eskalierender und aus innenpolitischen Gründen nicht aufzuhebender wirtschaftlicher Gegensätze auf die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland verhindert wurde. Eine entscheidende Bedeutung mußte in diesem Zusammenhang der Frage beigemessen werden, wie groß der Handlungsspielraum der deutschen Rußlandpolitik tatsächlich war. Die Bismarcksche Prämisse, daß am Vorabend des russisch-türkischen Krieges die „politischen Verhältnisse" noch viel fluktuierender als die „Verkehrsverhältnisse" waren, schätzte ihn zu Recht noch hoch ein. Denn in der akuten innenpolitischen Krise, die die Aufnahme einer aktiven Balkanpolitik selbst unter erheblichen militärischen, finanziellen und außenpolitischen Risiken als unvermeidlich erscheinen ließ, war die zaristische Regierung sowohl innen- als auch außenpolitisch auf eine wohlwollende H a l t u n g der deutschen Politik angewiesen 26 . In dieser Abhängigkeit machte die bloße Drohung mit Kampfzöllen auf die Massenartikel des russischen Agrarexportes nachhaltigen Eindruck, ohne daß St. Petersburg in der Lage gewesen wäre, die Drohung zurückzuweisen. Ihre schwache handelspolitische Position brachte die zaristische Regierung dadurch zum Ausdruck, daß sie durch eine entgegenkommende Haltung dem Versuch entgegenarbeitete, unter dem Vorwand der russischen Zollerhöhungen eine umfassende Wende der deutschen Handelspolitik einzuleiten: Ende 1876 ergriff sie die Initiative zu handelspolitischen Verhandlungen, die sie bisher immer abgelehnt hatte. Sie machte das Zugeständnis, daß für eine Übergangszeit deutsche Exporteure den Zoll noch in Papierrubeln entrichten durften. Außerdem wurde die deutsche Industrie gerade im Kriegsjahr 1877 durch vermehrte Aufträge, f ü r die zum Teil zollpolitische Ausnahmeregelungen zugestanden wurden, mehr als entschädigt 27 . Das russische Entgegenkommen änderte aber prinzipiell nichts an der Entschlossenheit Bismarcks, „Defensivmaßregeln" gegen russische Agrarexporte zu ergreifen 28 . Drei Gründe waren d a f ü r ausschlaggebend. Erstens war die Aussicht, daß Rußland bei Handelsvertragsverhandlungen durchschlagende Konzessionen machen würde, sehr gering. Der russische Finanzminister Reutern sprach zwar wiederholt seine Bereitschaft zu Verhandlungen über die „Erleichterung der Verkehrsverhältnisse" aus, eröffnete aber nicht die Aussicht auf „Tarif-Konzessionen". Die Erklärungen Reuterns waren daher f ü r Bismarck nur ein Grund mehr, „deutscherseits an die Reform seiner Zoll- und Steuerpolitik heranzutreten" 2 9 . 181

Zweitens spielte die Überlegung mit, daß man der zaristischen Regierung in der gegenwärtigen Zwangslage die Überzeugung „von den Vorteilen einer auf sicherer Grundlage beruhenden, die beiderseitigen Interessen befriedigenden Gestaltung der Verkehrsverhältnisse mit Deutschland" vielleicht „beibringen" könne bzw. daß sich die „Verlegenheit, in der sich Rußland zur Zeit auf der Balkanhalbinsel" befand, „ausnutzen" ließe, um Konzessionen zu erreichen. Aber die Wahrscheinlichkeit war ziemlich groß, daß Rußland in einer akuten Zwangslage Konzessionen machte, „die es, wenn der politische Himmel sich aufgeklärt, unbehindert zurücknehmen könnte" 3 0 . Drittens fiel ins Gewicht, daß ein handelspolitischer Kompromiß zwischen Deutschland und Rußland, der deutscherseits den Verzicht auf Agrarzölle hätte einschließen müssen, Bismarck ein wichtiges Alibi für eine Reichsfinanzreform unter Einschluß von Agrarzöllen genommen hätte. Die handelspolitische Frontstellung mußte ebenso wie gegenüber Österreich-Ungarn aufrechterhalten werden, um den Umschwung der deutschen Handelspolitik innenpolitisch abzusichern. Dennoch stellte sich das Problem, wie eine Schädigung der russischen Wirtschaftsinteressen politisch neutralisiert werden konnte, im Frühjahr 1877 nicht, weil die zaristische Regierung vom Krieg gegen die Türkei voll in Anspruch genommen war und weil die innenpolitischen Voraussetzungen noch nicht vorhanden waren, um den Umschwung der deutschen Handelspolitik zu vollziehen 31 . Das Problem wurde erst wieder nach dem russisch-türkischen Krieg akut, diesmal freilich in einer weitaus schärferen Form, da entgegen den Erwartungen die innenpolitischen Spannungen des zaristischen Systems sich verschärften, und da vor dem Hintergrund angestrengter Bemühungen des Finanzministers Reutern, mit den finanziellen Folgen der Kriegswirtschaft fertig zu werden, die deutsche Handelspolitik daranging, die bisher nur als Drohung vorhandene Schädigung elementarer russischer Finanz- und Wirtschaftsinteressen in die Praxis umzusetzen. Geht man davon aus, daß die Strategien deutscher Rußlandpolitik seit der Reichsgründung durch das vitale Interesse bestimmt wurden, eine unbegrenzte Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus zu verhindern, dann war der Eintritt Rußlands in den Krieg gegen die Türkei ein Erfolg deutscher Politik, denn mehr als ein Jahr absorbierte der Balkankrieg Spannungen des sozialökonomischen Transformationsprozesses, von dem in der Vergangenheit die Impulse f ü r eine Verschärfung der deutsch-russischen Spannungen ausgegangen waren. Die Eroberung Plewnas, der Vorstoß der russischen Armeen bis vor Konstantinopel und schließlich das Diktat von Stefano eröffneten darüber hinaus die Aussicht, daß der „Durst nach Waffenruhm und Georgenkreuzen" gestillt werden und neuer „militärischer Prestigegewinn" die innenpolitische Stellung der traditionalen Führungsgruppe hinreichend festigen konnte, um die russische Außenpolitik dem innenpolitischen Druck zu entziehen. Kronprinz Friedrich Wilhelm sprach im November 1877 eine offensichtlich von der politischen und militärischen Führung des Reiches geteilte H o f f nung aus, als er in der europäischen Politik ein „neues Feld der Konjekturen" 182

erkannte, dessen Umrisse von der Aussicht bestimmt wurden, daß das russische Reich nun „recht lange durch seine inneren Angelegenheiten von der Beschäftigung mit Deutschlands Entwicklung wie auch mit der großen Politik ferngehalten" werde 32 . Das schloß die Möglichkeit ein, daß Bismarck wieder an die alten Fäden der Drei-Kaiser-Politik hätte anknüpfen können und auch wieder einen größeren Spielraum für seine Frankreichpolitik gewonnen hätte 33 . Statt dessen verschärften sich jedoch deutsch-russische Gegensätze nach dem Kriege in einem derartigen Tempo, daß nicht nur die Fortführung der Dreikaiserpolitik illusorisch wurde, sondern die deutsche Politik der Gefahr eines Zweifrontenkrieges nur noch dadurch begegnen zu können glaubte, daß sie auf eine präventive Bündnispolitik mit unverkennbar antirussischer Spitze einschwenkte. Dieser Eskalationsprozeß kann unter den folgenden Aspekten subsumiert werden: 1. Das innere Kriegsziel Rußlands wurde nicht erreicht. Noch während des Krieges gab es Anzeichen dafür, daß der unter erheblichen militärischen, finanziellen und außenpolitischen Risiken unternommene Versuch, die Gefährdung der Autokratie zu verhindern, zu scheitern drohte. Der Verlauf des Feldzuges ließ unerwartet viele Fehler in der militärischen Führung, der Organisation usw. hervortreten. In auffallender Parallelität zu den militärischen Mißerfolgen nahm die Kritik am „System" und seinen Trägern zu. Die erweiterte Kriegszielpolitik war nicht zuletzt deshalb schon eine Folge wachsender innerer Schwierigkeiten, und die in der letzten Phase des Krieges von allen Gruppen geforderte Eroberung Konstantinopels enthielt die letzte Chance, das innere Kriegsziel doch noch zu erreichen. Das Diktat von Stefano ging zwar auch noch weit über die ursprünglich verfolgten Kriegsziele hinaus, aber nachhaltige innenpolitische Rückwirkungen zur Festigung der Autokratie konnte es um so weniger haben, als angesichts gesteigerter Erwartungen ein mit der Eroberung Konstantinopels vergleichbarer militärischer Prestigegewinn nicht mehr zu erzielen war und selbst diese Rückzugsposition unter dem massiven englischen und österreichischen Druck preisgegeben werden mußte 34 . Mit dem letzten Mittel der militärischen Expansion auf dem Balkan war daher die Chance vertan, ein Legitimationsdefizit der Autokratie und ihrer Institutionen zu beseitigen. Statt dessen hatte der Krieg die der Autokratie besonders bedrohlichen Entwicklungen wie die Mobilisierung der „Gesellschaft" und vor allem die Krise der Finanzwirtschaft drastisch verschärft 35 . Seit dem Ende des türkischen Krieges steuerte die innere Entwicklung daher einem Punkt zu, an dem der sozialökonomische Transformationsprozeß die Transformation des politischen Systems zu erzwingen drohte. D a ß Vera Sassulitsch nach dem Attentat auf den Petersburger Stadthauptmann im April 1879 unter dem Beifall der Petersburger Gesellschaft freigesprochen wurde, wurde von Schweinitz als ein besonders spektakulärer Beweis für den rapiden Autoritätsschwund der Autokratie empfunden. Einen Monat später lief es Schweinitz angeblich kalt über den Rücken, als ihm Peter Suvalov erklärte, daß die Organe der Regierung nicht mehr ausreichten, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Denn diese Einschätzung 183

machte ein Mann, „welcher sechs Jahre lang an der Spitze der .dritten Abteilung' gestanden hat, also im Besitz . . . der vollständigsten Kenntnis der inneren Zustände war". In den folgenden Monaten trat der „zunehmende Marasmus der Staatsgewalt" immer deutlicher hervor, und am Jahresanfang mußte Schweinitz konstatieren, daß die „Selbstherrschaft" bis zur „Selbsterhaltung" abgeschwächt worden war 3 ". 2. Welche Rolle die deutsche Diplomatie bei der Auflösung der polarisierten Konfliktlage auf dem Balkan auch spielen würde, eine Eskalation des deutschrussischen Antagonismus zu verhindern, war dem Einfluß der deutschen Diplomatie durch die Dauerkrise des zaristischen Systems bereits weitgehend entzogen, es sei denn, sie hätte sich zur Verteidigerin des Friedens von Stefano aufgeworfen. „So interessant die diplomatische Situation in diesem Augenblick auch ist", schrieb Schweinitz im Mai 1878, „hat doch die Frage nach den Rückwirkungen, welche die äußere Politik auf die innere ausüben wird, ebenso große Wichtigkeit für uns." Entscheidend für die deutsche Diplomatie sei letztlich die Frage, „ob Rußland nach dem Kriege in den Zustand der Ruhe oder in den der Anarchie" treten werde 37 . Der internationale Prestigegewinn, den Bismarck in der Rolle des „ehrlichen Maklers" für sich verbuchen konnte, wurde damit erkauft, daß die deutsche Politik einerseits von den „höheren Kreisen" des Zarismus zum Sündenbock für die militärischen und diplomatischen Mißerfolge gemacht wurde, andererseits den Kristallisationspunkt bildete, an dem sich antideutsche Ressentiments eines beschädigten Nationalgefühls und die Unzufriedenheit mit den inneren Zuständen Luft machten 38 . Während der Zar und Gortschakow aus ihrer Mißstimmung über die deutsche Politik keinen Hehl machten und auf die stereotyp vertretene deutsche Forderung, sich mit Österreich-Ungarn zu verständigen, ebenso stereotyp wiederholten, daß das im Hinblick auf die Rolle, die Rußland während des deutsch-französischen Krieges gespielt habe, „jetzt nicht genug" sein könne, war die innenpolitische Lage durch „heftige Zornesausbrüche der panslawistischen deutschfeindlichen Politiker in den Spalten der russischen Zeitungen gekennzeichnet, ohne daß die geringsten Anzeichen einer „Gegenwirkung" von oben erkennbar gewesen wären 39 . 3. Die akute Krise der Autokratie, die in der Wechselwirkung mit dem schrittweise erzwungenen Verzicht auf das Diktat von Stefano die Animosität aller Gruppen gegen Deutschland verstärkte, stellte eine permanente Bedrohung des europäischen Status quo dar. Zwar gab es keine „Kriegspartei", die auf eine Fortführung des Krieges mit veränderter Richtung drängte. Die milirischen und finanziellen Voraussetzungen wären dazu noch weitaus ungünstiger als zu Beginn des Krieges gegen die Türkei gewesen40. Dennoch wurden „große Truppenaufstellungen" vorgenommen und die Neuausrüstung der Artillerie „mit erhöhtem Eifer" vorangetrieben, weil - wie Gortschakow das begründete - Rußland jetzt ganz auf sich selbst angewiesen sei und sich „auf alles vorzubereiten" habe 41 . Die trotz der finanziellen Misere beschleunigt vorangetriebene Aufrüstung war primär das letzte Mittel, um ein völliges Fiasko der 184

russischen Balkanpolitik zu verhindern 42 . Bedrohlicher als der Versuch, durch beschleunigte Rüstungen die diplomatischen Verhandlungen zu beeinflussen, war aus deutscher Perspektive freilich die Möglichkeit, daß die zaristische Regierung durch partielle „konstitutionelle" Zugeständnisse das kritische Stadium der Finanzwirtschaft überwinden konnte, dann aber nach einigen Jahren um weitere konstitutionelle Zugeständnisse zu verhindern - wieder „Krieg anfangen müsse", für den schon jetzt die militärischen Voraussetzungen geschaffen werden sollten 43 . Für den Fall, daß sich die zaristische Regierung auf einen Krieg gegen Österreich-Ungarn vorbereitete, wäre die deutsche Politik gezwungen gewesen, dieses entweder fallen zu lassen, oder sich zum Garanten seiner territorialen Integrität aufzuwerfen. Abzuwarten, bis sich die Entwicklung auf diese Alternative zuspitzte, war für die deutsche Politik in jedem Fall bedrohlich. Denn die erste Möglichkeit Schloß das Risiko ein, Österreich-Ungarn in die Arme Frankreichs oder Rußlands zu treiben, d. h. die gefürchtete Kaunitzsche Koalition von 1756 abzuwarten. Im zweiten Fall riskierte die deutsche Politik, daß die zaristische Regierung in einer akuten inneren Krisenlage die Annäherung an Frankreich suchen mußte. 4. Man kann davon ausgehen, daß Bismarck unter dem Eindruck der Berichte über die sich zuspitzende Krise des zaristischen Systems diese Alternative konkret antizipierte, daß er zudem entschlossen war, nicht abzuwarten, bis sich die Entwicklung so weit zugespitzt hatte, daß er ferner die Sicherung der territorialen Integrität Österreich-Ungarns durch die deutsche Politik als das geringere Übel ansah, und daß er schließlich am Jahresende 1878 entschlossen war, eine Präventivpolitik zu betreiben, der es primär darum ging, die Zuspitzung der Entwicklung auf die Alternative: Zweifrontenkrieg an der Seite Österreich-Ungarns einerseits, internationale Isolierung andererseits zu verhindern. Die Verbindung Deutschlands mit Österreich-Ungarn in einem „organischen Bündnis", für das die Weichen bereits vor dem russisch-türkischen Krieg gestellt worden waren, bedeutete nicht nur das Eingeständnis, daß einer Fortführung der Drei-Kaiser-Politik die Grundlagen entzogen worden waren, sondern auch den Bruch mit den militärisch-dynastischen Traditionen, die die Beziehungen zwischen den Höfen von Berlin und St. Petersburg seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bestimmt hatten 44 . Diese durch verwandtschaftliche Beziehungen untermauerte Tradition war noch so stark, daß sie den Zaren - insofern er „Herr seiner eigenen Beschlüsse" blieb - trotz aller Verstimmung vor einer antideutschen Politik immunisierte, während andererseits Wilhelm I. einer Rußlandpolitik seine Zustimmung versagte, die seiner sentimentalen Auffassung von der traditionellen preußisch-russischen Freundschaft entgegenlief. Diese Problematik wurde nicht erst im August/September akut 45 . Die letzte Phase der innenpolitischen Auseinandersetzungen um den Zweibundvertrag verliert an Dramatik dadurch, daß Bismarck seit Jahresanfang 1879 seine Rußlandpolitik an dem Ziel orientierte, die Zustimmung Wilhelms I. für eine Neuorientierung der deutschen Außenpolitik mit antirussischer Spitze zu ge185

winnen. Die kalkulierte Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus auf der diplomatischen, noch stärker auf der ökonomischen Ebene sollte im Bismarckschen Kalkül eine Spannungssituation erzeugen, die dem Kaiser letztlich keine Wahl mehr ließ, als gegen seine persönlichen Neigungen die Schwenkung der deutschen Außenpolitik zu vollziehen. 1. Auf der diplomatischen Ebene lenkte die deutsche Außenpolitik nach dem Berliner Kongreß auf einen antirussischen Kurs ein, den Holstein als eine Politik der „Nadelstiche" und Schweinitz als eine der „Schikanen" bezeichnete4®. Symptomatisch für die in den Balkankommissionen verfolgte Bismarcksche Politik war die Klage des Zaren im März 1879, daß er zu jeder „orientalischen Detailfrage" aus Berlin die Antwort erhalte, man müsse sich in Wien erkundigen. Kurz darauf glaubte Schweinitz die „übellaunige Politik" seiner Regierung zu durchschauen, „welche dem Kaiser Alexander die ehrlich gemeinte Ausführung des Berliner Vertrages erschwerte". Damit erreichte Bismarck zwar, daß Österreich und Deutschland in eine gemeinsame diplomatische Front gegen Rußland hineingezogen wurden. Auch die Mißstimmung des Zaren war unübersehbar. Aber das Ziel, Alexander II. „zu einer Unvorsichtigkeit zu veranlassen", deren es bedurft hätte, „wenn Kaiser Wilhelm die beabsichtigte Schwenkung zu Österreich gestatten sollte", wurde durch die diplomatische Schikane allein nicht erreicht 47 . 2. Weitaus massiver war daher auch die Politik der ökonomischen Schikanen. Die Thronrede vom 12. Februar 1879 kündigte Maßnahmen zur Ausschließung des russischen Viehexportes vom deutschen Markt mit der Begründung an, daß „die beunruhigenden Nachrichten über den Ausbruch der Pest im Osten Europas" die Reichsregierung „in die bedauerliche Notwendigkeit versetzt" hätten, „Vorsichtsmaßregeln zu treffen, welche dem Verkehr lästig fallen". Ein angeblich neuer Pestfall Mitte Februar, diesmal in Petersburg, diente als Vorwand, um weitere Maßnahmen gegen die russischen Viehexporte anzukündigen. Anfang März rechnete der Präsident des Reichskanzleramtes H o f mann zu diesen Maßnahmen „namentlich die Beschränkung der aus Rußland eingehenden Personen und Waren auf bestimmte Stationen und, wenn die Gefahr noch näherkommen sollte, die Einrichtung von Quarantänen mit einem militärischen Kordon" 4 8 . Schweinitz erkannte sofort, daß es Bismarck bei der „Pestsperre" nicht primär um Schutzmaßnahmen ging. Aus Berlin erhielt er immer wieder „unangenehme Telegramme, welche neue vexatorische Sperrmaßregeln in Aussicht" stellten, „obgleich gar keine Pest mehr existierte". Als Schweinitz Einwendungen machte, erhielt er eine „wutschnaubende Antwort". Damit stand für ihn fest, daß es in Berlin eine „Pest-um-jeden-Preis" gab und daß Bismarck „einen neuen Pestfall wünschte, um Rußland noch mehr schikanieren zu können, als er es ohnehin schon" tat 49 . Die Reaktion auf die Maßnahmen gegen den russischen Viehexport übertraf an Schärfe die Empörung über die mangelnde Unterstützung russischer Balkaninteressen durch die deutsche Außenpolitik. Aus der „Mißstimmung" über die deutsche Diplomatie entwickelte sich ein „offener Groll", als Bismarck „eine 186

Art von Grenzsperre gegen Rußland verfügte, und damit zugleich dem russischen Exporthandel schwere Hemmnisse schuf . . . da war kaum ein Schmähwort zu übeltönend, als daß es nicht von den russischen Zeitungen gegen Deutschland, seinen Staatsleiter und seine Politik geschleudert wäre" 5 0 . Der „ H a ß " , den die deutschen „Sicherheitsmaßregeln" gegen die Pest auslösten, bezeichnete nach dem Eindruck von Schweinitz „geradezu einen Wendepunkt in der Stimmung der Russen gegen die Deutschen". Vor allem die Reaktionen der Führungsspitze waren für Schweinitz alarmierend. Nachdem er im Februar als den in Petersburg herrschenden Eindruck berichtete, „daß Deutschland einen erwünschten Vorwand hastig benutzte, um die Verlegenheit Rußlands zu erhöhen", stellte er kurz darauf fest: „Die Mißstimmung gegen uns wegen der Pestschikane nimmt zu, und zwar in allen Kreisen." Innenminister Walujew sprach offen aus, daß die Pestsperre das „Mißtrauen" und den „Mißmut" über die deutsche Politik „bedeutend steigere". Finanzminister Greigh langweilte Schweinitz mit „Klagen über die Pestsperre". Nach Ansicht des Kriegsministers Miljutin war es Bismarck „bei seiner Pestsperre um ganz andere Dinge zu tun als um die Pest" 51 . Insgesamt machte die Pestsperre in Petersburg einen so starken Eindruck, daß Gortschakow durch den Berliner Botschafter einen offiziellen Protest in scharfer Form anmeldete. Doch das Ziel, den Zaren „so zu reizen, daß er sich ins Unrecht setzte", erreichte Bismarck auch damit noch nicht. Alexander II. sprach sich nur mit „Betrübnis" über das deutsche Vorgehen aus: „Früher würde man mich in irgendeiner vertraulichen Weise vorbereitet haben, ehe man zu Maßregeln geschritten wäre, die mir unangenehm sein müssen", klagte er gegenüber Schweinitz 52 . Andererseits gelang es, die in den Balkankommissionen gemeinsam eingenommene antirussische Position der deutschen und der österreichischen Delegation mit der Pestsperre auch auf das wirtschaftliche Gebiet zu übertragen. Während Bismarck keinen Zweifel daran ließ, daß er in der Verfolgung agrarprotektionistischer Ziele Österreich-Ungarn keine Sonderstellung einzuräumen bereit war, legte er jetzt großen Wert darauf, daß die Pestmaßnahmen gegen Rußland von Deutschland und Österreich gemeinsam durchgeführt wurden, da „selbstverständlich nur ein gleichmäßiges Vorgehen der beiden Staaten Deutschland und Österreich die Gefahr von beiden abwenden könne" 53 . Die Pestsperre gegen Rußland muß weiterhin im Zusammenhang mit dem Ziel gesehen werden, in der Wirtschaftspolitik endgültig die Abkehr vom Liberalismus zu vollziehen, die Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus voranzutreiben und sich f ü r den Umschwung der deutschen Handelspolitik antirussische Ressentiments zunutze zu machen. Dieser Wechselbezug zwischen innenund außenpolitischen Zielen macht die Kritik des Abgeordneten Thilenius an der Nachrichtenpolitik in der Pestfrage deutlich: „Offiziell werden wir beruhigt, offiziös beunruhigt und privatim alarmiert." Fester Bestandteil dieser Nachrichtenpolitik waren Zeitungsartikel, die von Bismarck in die offiziöse Presse lanciert wurden und - nach entsprechend heftigen Gegenreaktionen der russischen Presse - einen regelrechten Pressekrieg auslösten 54 . In die glei187

che Richtung wirkte die Rücksichtslosigkeit, mit der Bismarck in der letzten Phase des Kampfes um die deutsche Zolltarifreform Gefühle der Bedrohung durch die russische Agrarkonkurrenz mobilisierte 55 . Jenseits der damit bewirkten ideologischen Polarisierung muß auf zwei weitere Aspekte hingewiesen werden, um den außenpolitischen Stellenwert der massiven Kampagne zur Durchsetzung deutscher Agrarzölle bestimmen zu können. Erstens löste der Dezemberbrief von 1878 in den östlichen Nachbarstaaten, deren Wirtschaftsinteressen durch deutsche Agrarzölle erheblich beeinträchtigt wurden, prompt Assoziationen von einem bevorstehenden europäischen Wirtschaftskrieg aus. Von österreichischer Seite kam die Feststellung, die deutsche Absicht, Agrarzölle einzuführen, sei das Produkt eines „sehr rücksichtslosen, aber zielbewußten nationalen Egoismus", und „der neue wirtschaftliche Feldzug des kriegerischen Reichskanzlers werde für die Nachbarn Deutschlands mindestens ebenso gefährlich werden wir die Begründung des Zollvereins" 56 . Mehr als ein halbes Jahr vor der Entscheidung über die deutsche Zolltarifreform beschrieb der „Golos" in Rußland die Wirkung von deutschen Agrarzöllen als eine „Bedrückung des Exportes russischer landwirtschaftlicher Produkte nach Preußen", die für Rußland „sehr unvorteilhaft" und für die Landwirtschaft mancher russischer Provinzen sogar „ruinierend" wäre. Deutsche Agrarzölle konnten nach Ansicht des „Golos" leicht den Auftakt zu einem „preußischen Zollkrieg" gegen Rußland bilden, und zwar „in einer Epoche . . ., wo eine Vermehrung der russischen Produktivität im höchsten Maße wünschenswert" und „alle Hindernisse sehr fühlbar" seien57. Zweitens: Wie immer die deutschen Agrarzölle motiviert wurden, als „Kampfzölle", als „Schutzzölle" oder als „Finanzzölle", in der kritischen Lage, in der sich die russische Finanzwirtschaft nach dem Kriege befand, bedeuteten Agrarzölle einen besonders massiven Verstoß gegen die „monarchische Solidarität", weil sie nicht nur als Kampfansage an die Industrie und die Großgrundbesitzer interpretiert werden mußten, sondern weil angesichts der strukturellen Agrarkrise und einer kritischen Lage der Zahlungs- und Handelsbilanz die Schädigung des russischen Agrarexportes noch am ehesten die zaristische Regierung zwingen konnte, „konstitutionelle" Zugeständnisse zu machen58. Dennoch ließ sich der Zar immer noch nicht zu der beabsichtigten Unvorsichtigkeit hinreißen, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil Schweinitz die diplomatischen und wirtschaftlichen Schikanen herunterzuspielen suchte und in seinen Berichten gleichzeitig Hinweise vermied, die Bismarck für seine Zwecke hätte ausbeuten können. Ungeachtet der Bismarckschen Warnungen vor den „Einflüssen" der panslawistischen Revolution auf den Kaiser Alexander verbanden sich bei Wilhelm I. und Schweinitz mit einer für Bismarcksche Begriffe sentimentalen Auffassung der deutsch-russischen Beziehungen der Wunsch nach Festigung der Autokratie und die Überzeugung, daß der Zar durchaus in der Lage sei, die drohende Anarchie durch einen „Zustand der Ruhe" zu beseitigen, sei es durch eine entschieden konservative Reaktion, sei es durch konstitutionelle Zugeständnisse 59 . 188

Zwischen April und August 1879 konnte Bismarck den immer noch zögernden Kaiser endlich doch erfolgreich manipulieren, so daß dieser - als der Zar endlich die erwartete Unvorsichtigkeit beging - schließlich nach einem letzten Druck dem Bündnis mit Österreich zustimmte. Dieser „Erfolg" war vor allem der Taktik zu verdanken, daß Bismarck in enger Zusammenarbeit mit den Militärs den Kaiser davon überzeugen konnte, daß seine persönliche Beziehung zu dem Zaren kein Hindernis mehr f ü r eine deutschfeindliche Wendung der russischen Außenpolitik war. Im April 1879 hatte die russische Mißstimmung über die deutsche Politik schon soweit zugenommen, daß auch Schweinitz bereits „Mißtrauen und sogar Vorsichtsmaßregeln diplomatischer und strategischer N a t u r gegen Rußland" für angebracht hielt. Aber während er gleichzeitig daran festhielt, „daß der Kaiser Alexander uns unvergleichlich mehr Garantien gewähre wie Kaiser Franz Joseph", und strategische Vorsichtsmaßregeln damit begründete, daß Rußland trotz der „finanziellen Kalamität" seine Rüstungsausgaben nicht verringere 90 , war es Wasser auf die Bismarckschen Mühlen, daß der Petersburger Militarattaché ν. Lignitz alarmierende Berichte nach Berlin schickte. Die Bildung von vierten Bataillonen im April 1879 war „seit längerer Zeit vorauszusehen" und für Schweinitz auch kein Anlaß zur Beunruhigung. Lignitz dagegen zeigte sich überrascht, „daß man bei den gegenwärtigen finanziellen Zuständen und noch ehe die Armee als retabliert anzusehen" war, „eine so wesentliche und kostspielige Veränderung mit einem Schlage ins Leben treten" ließ. Lignitz ließ es sich auch nicht nehmen, aus diesem Anlaß auszurechnen, daß sich die Friedenspräsenzstärke seit dem Sommer 1878 um 58 000 Mann, die Kriegsstärke um 420 000 Mann erhöht hatte®1. Während Schweinitz in den folgenden Monaten darüber klagte, „daß in Berlin alles, was von hier kommt, gleichviel ob von der russischen Regierung oder von mir, mit schlechter Laune und Geringschätzung behandelt wird" 6 2 , setzte Lignitz seine dramatische Berichterstattung fort. Im Juni alarmierte er mit der Meldung, Miljutin „organisierte das Gewicht der 80 Mio. Menschen, als wenn es sich um eine Völkerwanderung nach Westen handle". Die gleiche Tendenz enthielt ein H i n weis auf einen Artikel in der „Moskauer Zeitung" über „strategische Betrachtungen rücksichtlich unserer Westgrenze", in dem „von Österreich an keiner Stelle, aber von vermeintlichen Eroberungsgelüsten Deutschlands und den dagegen zu ergreifenden Maßnahmen die Rede" gewesen sei63. Bismarck, der, „durch die Juden" genau über die russischen Truppenverschiebungen an der preußischen Grenze informiert, darin ebensowenig wie Kriegsminister Kameke eine Bedrohung erblickte, nutzte die Alarmstimmung, die die Berichte von Lignitz bei Moltke auslösten, um dessen „militärische Autorität" gegenüber Wilhelm I. auszuspielen 64 . Mit ausschließlich politischen Argumenten wäre es schwer gewesen, Wilhelm I. von der Notwendigkeit einer deutsch-österreichischen „Defensivallianz" zu überzeugen, zumal Ratgeber des Kaisers wie Graf Goltz und Graf Redern in dem Bündnis mit Österreich eine „Partie inégale" sahen, da Deutschland im Falle eines russischen Angriffs auf Österreich zum Beistand verpflichtet werden sollte, Österreich im Falle eines französischen 189

A n g r i f f s aber nicht 95 . Mit militärpolitischen Argumenten ließ sich diese Kritik unterlaufen. Als sich Wilhelm I. wunderte: „Der Fürst hat sich früher selbst dagegen ausgesprochen, daß wir uns durch Allianzen die H ä n d e binden", konterte Bismarck: „Solange wir noch unfertig waren." Ähnlich argumentierte M o l t k e : Wenn Deutschland nicht in der L a g e sei, einen französischen Angriff „aus eigenen K r ä f t e n " abzuwehren, „so könnte ein Deutsches Reich auf die Dauer überhaupt nicht bestehen" 6 6 . Vorausgesetzt, daß Wilhelm I. von der „russischen G e f a h r " überzeugt werden konnte, erschien das Bündnis mit Österreich unter militärpolitischen Gesichtspunkten geradezu zwingend 6 7 . Durch ein Bündnis mit Rußland die Gefahr eines Zweifrontenkrieges zu bannen, erschien Moltke militärisch als riskant, da im Kriegsfall gegen die „westliche M a c h t " die russischen Truppen erst dann auf dem K a m p f p l a t z erscheinen würden, wenn dort die Hauptentscheidungen schon gefallen" waren und Rußland dann mit seinen „frischen und überwältigenden K r ä f t e n " zum „ H e r r n der Situation" werden müsse 68 . Ebenso konsequent, wie er aus militärischen Gründen ein deutsch-russisches Bündnis als Sicherung gegen den Zweifrontenkrieg ablehnte, befürwortete Moltke mit militärischen Argumenten ein deutsch-österreichisches Bündnis. Während in einem Krieg mit Frankreich „Deutschland auf der ganzen Front dem ersten Angriff ausgesetzt" sei, trage bei einem Krieg mit Rußland Österreich zunächst die Hauptlast, denn: „Der Krieg mit Rußland berührt den Kaiserstaat unmittelbar in seinen Lebensinteressen, er nötigt ihn zu einer äußersten Kraftanstrengung, deren Wirkung gleich anfangs für uns hervortritt." 6 9 Als sich Alexander II. mit der „Briefohrfeige" auch noch zu der „erwarteten Unvorsichtigkeit" hinreißen ließ, war Wilhelm I. kaum noch in der Lage, dem Drängen nach einer „ D e f e n s i v a l l i a n z " Widerstand zu leisten. Einen Monat nach der „Briefohrfeige" war der Entwurf z u m deutsch-österreichischen Bündnis fertig 7 0 .

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5. Deutsch-russische Beziehungen und internationaler Status quo von 1879/80 bis 1885 5.1 Die Eskalation des ökonomischen Antagonismus unter dem P r i m a t der Innenpolitik

5.1.1 5.1.1.1 Innenpolitische II. zu Alexander III.

Reaktion

Rußland

und russische Außenpolitik:

Von

Alexander

Die sich während der zweiten Hälfte der 70er Jahre verschärfende Krise der Autokratie, in der die ökonomischen und sozialen Disparitäten des nach dem Krimkrieg eingeleiteten Transformationsprozesses einen ersten Höhepunkt erreichten, hatte erheblich zur Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus beigetragen und auf beiden Seiten tiefgreifende Zweifel daran geweckt, daß die politischen und ökonomischen Gegensätze noch im Geiste „monarchischer Solidarität" beigelegt werden konnten. Mit ihrer Kurskorrektur zog die deutsche Außenpolitik als erste die Konsequenz aus der Erfahrung, daß die russische Außenpolitik eine erhöhte Bereitschaft zeigte, aus den Bahnen einer konservativen Außenpolitik auszubrechen1. Demgegenüber war die russische Außenpolitik noch weit davon entfernt, aus dem verschärften deutsch-russischen Antagonismus direkte Konsequenzen zu ziehen. Die Abneigung des Zaren, sich auf eine antideutsche Politik einzulassen, war immer noch unübersehbar. Persönliche Gründe spielten dabei nur zum Teil eine Rolle. Immerhin war in den Kreisen der traditionell preußenfreundlichen militärisch-feudalen Elite die Enttäuschung groß, die preußische Macht gefördert und dafür nun die Undankbarkeit des neuen Reiches geerntet zu haben. Auch war Alexander II. jetzt keineswegs mehr für Zweifel unzugänglich, daß die russische Haltung 1870 vielleicht doch ein Fehler gewesen sei2. Außer persönlichen Gründen bestimmten drei weitere Faktoren die Abneigung des Zaren gegen eine Neuorientierung der russischen Außenpolitik: 1. Das Gefühl der Ohnmacht, das sich mit der Enttäuschung über die deutsche Politik verband. Symptomatisch war der Ausdruck hilflosen Bedauerns, mit dem der Zar die Nachricht von den „Pestschikanen" quittierte. Auch die „Briefohrfeige" drückte eher Hilflosigkeit als die Entschlossenheit aus, die politischen Konsequenzen aus der deutschen Politik zu ziehen3. 2. Obwohl die Verstimmung des Zaren soweit fortgeschritten war, daß er weder die Presse, noch diplomatische und militärische Kreise daran hinderte zu 191

„französisieren", überwogen doch die politischen Vorbehalte gegen eine Annäherung an Frankreich. Denn die Gefahr war zu deutlich, entweder für eine französische Revanchepolitik eingespannt zu werden oder die Wirksamkeit der deutsch-französischen Rivalität bzw. das aktuelle Interesse Frankreichs an einer Verständigung mit Rußland zu überschätzen und sich international zu isolieren4. 3. Nach dem Debakel des Türkenfeldzuges setzte sich in Regierungskreisen die Überzeugung durch, daß der Verzicht auf eine Risikopolitik nach außen geradezu eine unerläßliche Voraussetzung dafür war, mit den durch die Kriegswirtschaft drastisch verschärften inneren Problemen fertig zu werden und die der Autokratie drohenden Gefahren auf dem Wege einer „friedlichen und legalen Fortentwicklung" zu meistern5. Jetzt zeigte der Zar endlich die von konservativen Kreisen lange erwartete Energie im Kampf gegen den nihilistischen Terror und darüber hinaus Anzeichen für die Bereitschaft, „konstitutionelle" Zugeständnisse zu machen. Während im Februar 1880 Loris Melikow, der „liberalste" Innenminister, mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattet wurde, gestattete der Zar die Ausarbeitung von Gesetzentwürfen mit dem Ziel, den „gemäßigten Elementen der Gesellschaft" und den Selbstverwaltungskörperschaften (Semstwos und den Dumas) einen - wenn auch beschränkten - Einfluß auf die Regierungspolitik zu gewähren*. Ihre unmittelbare Aktualität bezog die Diskussion um „konstitutionelle" Reformen nur zum Teil aus den spektakulären Attentaten der „Nihilisten". Ausschlaggebend war die Lage in Landwirtschaft und Industrie und die daraus resultierende Gefahr für die Finanzwirtschaft. Waren in den vorangegangenen Jahren durch gute Ernteergebnisse, steigenden Getreideexport und die industrielle Kriegskonjunktur die Probleme einer strukturellen Agrarkrise verdeckt worden, so trat 1880 durch die industrielle Depression und vor allem durch eine schlechte Ernte eine „allgemeine Kalamität in den Produktionsverhältnissen auf landwirtschaftlichem und industriellem Gebiet" hervor. Das schlechte Ernteergebnis von 1880 reichte aus, um in mehreren Provinzen eine regelrechte Hungersnot auszulösen. Der russische Bankier Raffalowitsch sprach im November „von der russischen Hungersnot, die im Ausland nicht annähernd bekannt" sei. Loris Melikow habe den Getreidespekulanten massiv Strafen angedroht, falls sie durch Hortung von Getreidevorräten die Preise weiter in die Höhe trieben und damit sogar die Versorgung von St. Petersburg gefährdeten. Ein generelles Ausfuhrverbot für Getreide sei nur aus Furcht vor einer allgemeinen Panik nicht erlassen worden 7 . Die unmittelbaren Rückwirkungen der schlechten Ernte und industriellen Depression spiegelte sich in einer gelegentlich bis zur Furcht vor der Revolution „von unten" gesteigerten Unsicherheit in der Einschätzung des „Volkes" wider. Nicht von einer „Minderheit", sondern von der großen Masse der bäuerlichen Bevölkerung schien die „Auflösung der staatlichen Ordnung" auszugehen. Eine bisher nicht gekannte Bewegung, die in die schwerfällige Masse der Bevölkerung gekommen war, alarmierte um so mehr, als einer „nihilistischen" Agitation, die bisher am Wi192

derstand des Volkes gescheitert war, jetzt eine durchaus realistische Chance eingeräumt werden mußte, die Unzufriedenheit der Bauern über die bisherigen Ergebnisse ihrer „Befreiung" gegen die Autokratie zu mobilisieren 8 . Darüber hinaus verschärfte das Ende der Nachkriegskonjunktur und der offene Ausbruch einer strukturellen Agrarkrise die Lage der Finanzwirtschaft in einem solchen Maße, daß die zaristische Regierung schon aus finanziellen Gründen zum Verzicht auf eine riskante Außenpolitik gezwungen war. Der Budgetanschlag f ü r 1880 hatte noch in optimistischer Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung einen geringfügigen Überschuß im ordentlichen Etat ausgewiesen 9 . Aber ein skeptischer Beobachter wie Schweinitz war schon jetzt nicht mehr bereit, die Lage der Finanz Wirtschaft ausschließlich nach dem „ziffernmäßigen Gleichgewicht der ordentlichen Einnahmen und Ausgaben" und „ohne Rücksicht auf die Schuldenlast, auf die Masse des im Verkehr befindlichen Papiergeldes und ohne Rücksicht auf die damit in engstem Zusammenhang stehende Entwertung der Landesvaluta" zu beurteilen. Vor allem schien es auch eine „unsinnige" Behauptung, daß die Kriegskosten bereits vollständig gezahlt seien. Sie seien „nicht gezahlt, sondern nur durch Anleihen und durch die Papiergeldfabrikation gedeckt". Außerdem sei nichts anderes bewiesen, als „daß die laufenden ordentlichen Ausgaben und die Zinsen der Staatsschuld noch immer durch die ordentlichen Steuern und Regalienerträgnisse gedeckt werden können", und zwar hauptsächlich dank des Goldzolls und der hohen Besteuerung des Branntweins. Dagegen hätten die Steuern, „aus deren Mehrerträgnis in erster Linie auf zunehmenden Wohlstand und auf eine wirtschaftliche Hebung geschlossen werden könnte", keine steigende Tendenz gezeigt 10 . Diese skeptische Beurteilung der Finanzlage erwies sich im Verlaufe des J a h res 1880 als berechtigt. Noch im April schien nicht ausgeschlossen, daß mit Unterstützung der Rothschildgruppe eine neue Anleihe emittiert werden konnte, zumal die Einnahmen aus dieser Anleihe f ü r „produktive" Zwecke wie den Bau von Hafenanlagen und Verbesserungen des Eisenbahnwesens ausgegeben werden sollten 11 . Dieser Anleiheversuch machte jedoch ein Dilemma deutlich, das die russische Innen- und Außenpolitik der 80er Jahre maßgeblich bestimmte. Vor dem Hintergrund akuter russisch-englischer Gegensätze auf dem Balkan und in Asien unternahm die englische Regierung in Zusammenarbeit mit dem Hause Rothschild den Versuch, ihren außenpolitischen Forderungen massiven finanziellen Nachdruck zu verleihen. Während in der englischen Finanzpresse eine Kampagne gegen den russischen Staatskredit einsetzte, organisierten die Rothschilds den Widerstand gegen russische Staatsanleihen auf internationaler Ebene. Im April/Mai scheiterten nicht nur die Anleiheverhandlungen, sondern jetzt setzte ein starker Abfluß russischer Staatspapiere vom englischen Kapitalmarkt ein. Die Anleihechancen wurden damit so reduziert, daß der offizielle „Regierungsbote" es für angebracht hielt, trotz eines akuten Finanzbedarfes jede Anleiheabsicht zu dementieren 12 . Darüber hinaus bildete der gescheiterte Anleiheversuch bei der Rothschildgruppe den A u f t a k t f ü r eine rapide Verschlechterung der Finanzlage. Gekennzeichnet war die Entwicklung ein13

Müller-Link

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mal durch das eklatante Mißverhältnis zwischen den im Budget veranschlagten Einnahmen und dem durch die Mißernte und industrielle Depression bedingten starken Rückgang der Einnahmen aus den Zöllen und der Branntweinsteuer, ganz abgesehen „von der Stundung der direkten Abgaben in vielen Gegenden, wo der Staat nicht nehmen, von ihm aber vieles hineingeführt" werden mußte, „wollte er seine Untertanen durch den Winter bringen". Zweitens stand dem Rückgang der Einnahmen ein über den Budgetanschlag weit hinausgehender Anstieg der Ausgaben gegenüber. Schon die außerordentlichen Ausgaben des Kriegsministeriums erreichten bis Oktober die Höhe von 48 Mio. Rubel. Die turkestanische und chinesische Expedition belastete den Ausgabeetat mit mehr als 57 Mio. Rubel, wobei das Ende dieser und ähnlicher Ausgaben nicht abgesehen werden konnte. Pessimistische Schätzungen gingen davon aus, daß die Mehrausgaben den Budgetanschlag im November schon um 120 bis 150 Mio. Rubel überstiegen. Drittens heizte Finanzminister Greigh die Inflation an, indem er die Wirtschaftskonjunktur durch eine schubartige Vermehrung der Geldmenge zu beleben versuchte. Die Kaufkraft der im Oktober kursierenden Kreditbilletts (1,13 Mrd. Rbl.) war kaum größer als die der 700 Mio. vor Ausbruch des Türkenkrieges. Viertens wurde die Entwicklung der Staatsschuld bedrohlich. Die auswärtige Staatsschuld in Metallanleihen wies zwar einen Rückgang auf, der sich freilich innerhalb der Grenzen der regelmäßigen Amortisation bewegte. Gleichzeitig stieg jedoch durch die 3. Orientanleihe die Schuld in Kreditrubeln von 1,9 Mrd. auf über 2 Mrd., und der Kursrückgang an den internationalen Effekten- und Devisenbörsen hielt unvermindert an 13 . Insgesamt verschlechterte sich im Verlaufe des Jahres 1880 die Lage der Finanzwirtschaft so rapide, daß es nur eines kleinen Anstoßes bedurfte, um den Finanzminister Greigh zu stürzen 14 . Die Informationen, die das Auswärtige Amt im November 1880 von dem russischen Bankier Raffalowitsch erhielt, „daß man in wohlunterrichteten Kreisen große Besorgnis in bezug auf die Finanzlage des Landes hege", wurde aus anderen Quellen bestätigt. Nach Ansicht Bleichröders ζ. B. konnte man die finanzielle Lage Rußlands am Jahresende 1880 „nur als eine höchst traurige bezeichnen". Inzwischen wurde sogar in Kreisen der in- und ausländischen Finanzwelt die Möglichkeit eines Staatsbankrotts diskutiert. Im Innern werde man sich, so Raffalowitsch, „über kurz oder lang für Bankrott erklären", zumal von einflußreichen Leuten in Rußland der Plan lanciert werde, daß man, anstatt den Wert des Papierrubels um 40 Kop. zu reduzieren, „den unvermeidlichen Bankrott gründlicher ausbeuten und den Rubel sofort auf 25 Kop. herabsetzen müsse". Grundsätzlich Schloß auch der Präsident der deutschen Reichsbank, Dechend, die Möglichkeit nicht aus, daß Rußland wie schon im Jahre 1843 wieder einmal geneigt sein könne, „einer bestimmten Klasse seiner Gläubiger gegenüber - nämlich den Besitzern von Papierrubeln - Bankrott zu machen", hielt aber einen Bankrott für unwahrscheinlich, weil er die finanzielle Lage Rußlands weniger skeptisch als Raffalowitsch beurteilte, vor allem aber davon ausging, daß die zaristische Regierung einen solchen Versuch mit Rücksicht auf den auswärtigen Kredit nicht 194

unternehmen werde. Während Raffalowitsch es für möglich hielt, daß von dem unvermeidlich bevorstehenden finanziellen „Krach" im Innern der auswärtige Kredit Rußlands nicht betroffen werden müsse, war für Dechend ein Bankrott im Innern allein nicht denkbar, da Rußland bei dem Versuch, seine innere Schuld um 50 oder sogar 75% zu reduzieren, auch seinen Kredit im Ausland einbüßen müsse. Da es aber ausländischen Kredit „notwendig" bedürfe, werde es „alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel anwenden, um den Ruin desselben zu vermeiden" 15 . Trotz des inzwischen erreichten hohen Niveaus der russischen Staatsschuld und der sich im Verlaufe des Jahres 1880 verschlechternden Finanz- und Wirtschaftslage, die die starke Abhängigkeit der Finanzwirtschaft von der Haltung der ausländischen Kapitalmärkte an den Tag brachte, bestand in russischen und europäischen Finanzkreisen Einigkeit darüber, daß der russische Auslandskredit noch nicht gefährdet war. So wie Schweinitz bei aller Skepsis gegenüber der weiteren Finanzentwicklung davon ausging, daß Rußland seine Staatsschuld trotz bedeutender Zins- und Amortisationszahlungen noch aus laufenden Einnahmen decken konnte, bekräftigte Raffalowitsch: „Rußland sei in der Lage, seinen fremden Gläubigern gerecht zu werden, und diese würden von den russischen Finanzschwierigkeiten nicht zu leiden haben." Der Reichsbankpräsident ging sogar noch weiter mit seiner Feststellung, daß - abgesehen von den Besitzern der Rubelnoten - die Besitzer russischer Staatspapiere „nach der heutigen Lage zu urteilen, gute Papiere in Händen" hätten 16 . In dieser Situation kam der Haltung deutscher Banken und des deutschen Kapitalmarktes eine erhebliche Bedeutung für die Aufrechterhaltung des internationalen Vertrauens in den russischen Staatskredit zu 17 . Schon kurz nach dem Scheitern der Verhandlungen mit den Rothschilds über die 5% ige konsolidierte Anleihe übernahm eine deutsche Bankengruppe unter Führung des Berliner Bankhauses Mendelssohn, der Disconto-Gesellschaft und unter Beteiligung französischer Banken die Emission neuer Eisenbahnobligationen. Die deutschen Bankhäuser verschafften damit der russischen Finanzverwaltung nicht nur die Mittel zur Deckung eines Teils der über dem Budgetvoranschlag hinausgehenden außerordentlichen Ausgaben, sondern stellten darüber hinaus Mittel für die dringend notwendigen Stützungsaktionen der russischen Valuta bereit 18 . In einer durch akute Spannungen zwischen Rußland und den Zweibundmächten politisch empfindlichen Situation, die bereits dazu geführt hatte, daß die zaristische Regierung im Unterschied zur bisherigen Praxis auf die ausdrückliche Angabe auch deutscher Zahlungsstellen für die neue Anleihe verzichtete, honorierte das russische Finanzministerium das Verhalten der deutschen Banken, indem es bei der zur Stützung der russischen Valuta erforderlichen Reduktion von Auslandsguthaben im September/Oktober 1880 die Auslandsguthaben bei französischen Banken um ca. 180 Mio. frs reduzierte, Guthaben bei deutschen Banken (Mendelssohn, Warschauer, Krause in Berlin, Behrens & Söhne, Norddeutsche Bank in Hamburg) aber kaum antastete. Umgekehrt erklärten sich Mendelssohn und die Disconto-Gesellschaft ausdrücklich und wiederholt auch 13*

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zur Übernahme weiterer russischer Anleihen bereit 19 . D i e Rolle deutscher Banken bei der Stützung des russischen Staatskredits und des Rubelkurses war eine der entscheidenden Gründe dafür, daß Dechend den russischen Staatskredit trotz der rapiden Verschlechterung der russischen Finanzlage nicht gefährdet sah. D a ß die zaristische Regierung an der Festigung ihres auswärtigen Kredits unbedingt interessiert war, leitete Dechend schon aus der Tatsache ab, daß die Deutsche Reichsbank über Depositen in H ö h e von 115 Mio. Rbl. verfügte, wobei an der Spitze der Depositoren neben zahlreichen russischen Fürsten und hohen Würdenträgern die Gemahlin des Zaren mit 1 1 / 2 Mio. Rbl. in Wertpapieren stand. Außerdem verfügte die zaristische Regierung mit ca. 200 Mio. M a r k über beträchtliche Auslandsguthaben, obwohl sie diese im September und O k tober 1880 um fast die H ä l f t e reduziert hatte. Der Rest sollte ganz offensichtlich zur Stützung des auswärtigen Kredits reserviert werden 2 0 . Bei der ablehnenden H a l t u n g der Rothschilds und der - politisch bedingten - Versteifung des englischen K a p i t a l m a r k t e s gegen russische Anleihen, riskierte die zaristische Regierung damit gezwungenermaßen, daß die L a g e der russischen Staatsfinanzen zunehmend von der H a l t u n g des Kapitalmarktes eines Landes abhängig wurde, das sich gegenüber den außen- und handelspolitischen Interessen Rußlands auf einem eindeutigen Kollisionskurs bewegte. Die 1880 noch offene Entscheidung zwischen Paris und Berlin über ihre zukünftige Rolle als Zentren des russischen Auslandskredits konnte unter dem Druck einer sich weiter verschlechternden L a g e der russischen Staatsfinanzen und wegen der Unsicherheit über die H a l t u n g des französischen Marktes und der französischen Rothschilds leicht zugunsten einer extrem einseitigen Abhängigkeit der russischen Finanzwirtschaft v o m deutschen K a p i t a l m a r k t entschieden werden. T r o t z der Stützungsaktion deutscher und französischer Banken konnte sich die russische Finanzpolitik unter dem Druck einer sich rapide verschlechternden Finanz- und Wirtschaftslage nicht länger der Alternative: Innerer Staatsbankrott oder Sanieurng der Finanzen durch drastische K ü r z u n g der Staatsausgaben entziehen. Die innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Auflösung dieser Alternative kristallisierten sich um zwei Probleme: Erstens um die finanziellen Konsequenzen einer Rüstungspolitik, die nach den depremierenden Erfahrungen des russisch-türkischen Krieges und nach der Eskalation der ökonomischen und politischen Gegensätze zu der führenden europäischen Militärmacht mehr denn je dem Z w a n g einer drastischen Steigerung des Militärpotentials und der Kriegsbereitschaft unterlag. Zweitens um die finanz- und steuerpolitischen Probleme, die die bisherigen Versuche zur Überwindung der wirtschaftlichen Rückständigkeit und der finanziellen Folgelasten des russisch-türkischen Krieges aufgeworfen hatten und die durch eine strukturelle Agrarkrise und eine industrielle Depression noch verschärft wurden. Angesichts der finanziellen Mißwirtschaft unter Greigh bedurfte es keiner großen Weitsicht für die Prognose, daß der neue Finanzminister A b a z a für 1881 ein „miserables B u d g e t " vorweisen werde 2 1 . D a m i t schien „mehr denn je der Zeitpunkt gekommen zu sein, an welchem die seit Jahren geplanten Fi196

nanzreformen zur Reife kommen" mußten. Dabei konnte es sich nach Schweinitz nur darum handeln, auf der einen Seite durch „gründliche Reformen wie die Aufhebung der Kopfsteuer, die Einführung einer Einkommensteuer und die Reorganisation der Reichsbank die vorhandene Steuerkraft zur richtigen Ausnutzung zu bringen", auf der anderen Seite „das Kriegsbudget auf mäßige Grenzen zurückzuführen". Ein „Aufschwung zum Besseren", stabilere Kreditverhältnisse und eine festere Notierung der russischen Valuta würden dann nicht ausbleiben. In Petersburg war jetzt vielfach die Meinung zu hören, „daß solange der Kriegsminister unkontrolliert mit beiden H ä n d e n in den Staatssäkkel greift, der Bauer anstatt zu arbeiten sich betrinkt, solange die Glieder der hohen Beamtenkaste auf Kosten des Staates und des Staatseigentums sich durch- und forthelfen, auch der beste Finanzminister keine radikale Änderung herbeizuführen vermöge" 22 . Da Abaza sowohl eine innere Abwertung des Rubels als auch eine Verringerung der Umlaufmittel ablehnte, da „der große Vorrat von Kreditbilletten der Beweglichkeit im Handel und Verkehr zugute komme" und der niedrige Kurs des Rubels „den Grundbesitzern die Abtragung ihrer Schulden erleichtere" 23 , blieb ihm nichts anderes übrig, als die Ausgaben drastisch zu verringern, neue Steuern zu erheben und neue Anleihen aufzunehmen. Dabei rückte der Militäretat als größter Ausgabeposten zwangsläufig ins Zentrum der finanzpolitischen Bemühungen Abazas um eine Kürzung der „unproduktiven" Ausgaben. Bereits bei Aufstellung des Budgetvoranschlages f ü r 1880 hatte Finanzminister Greigh mit finanzpolitischen Gründen den Zaren von der Notwendigkeit einer Verminderung des Militäretats zu überzeugen versucht. Er war dabei zunächst insofern erfolgreich, als Alexander II. einer Verminderung des Effektivbestandes um 36 000 Mann zustimmte, was einer Beurlaubung fast des ganzen Jahrgangs 1876 gleichkam 24 . Während der anschließenden Auseinandersetzungen um die endgültige Aufstellung des Etats erwies sich jedoch die These des Kriegsministers Miljutin, daß Rußland aus den veränderten Beziehungen zu Deutschland als stärkster Militärmacht auch die militärischen Konsequenzen ziehen müsse und daß ohne massive Verstärkung der Kriegsbereitschaft nach Westen selbst der territoriale Besitzstand Rußlands in Polen gegenüber den Zweibundmächten nicht mehr garantiert werden könne, als eine unüberwindliche Barriere f ü r die stärksten finanziellen Zwänge, die auf eine Verminderung des Militärbudgets drängten. Gegen den überragenden Einfluß, den Miljutin schon seit fast 20 Jahren beim Zaren behauptete, konnte sich kein Finanzminister durchsetzen. Die vorgesehene Verminderung des Armeebestandes unterblieb, die außerordentlichen Ausgaben des Kriegsministeriums stiegen weiter, während Miljutin die Meinung beim Zaren vertrat: „Unser finanzieller und wirtschaftlicher Zustand ist doch einmal grundschlecht; wenigstens wollen wir eine starke und gute Armee haben." 25 Nach der Entlassung Greighs knüpften sich an den neuen Finanzminister Erwartungen, daß dieser „ein Gegengewicht gegen den allmächtigen Kriegsminister" bilden, die „Verringerung der Ausgaben des Kriegsministeriums durchsetzen" und „gründliche Reformen" einleiten werde 26 . T a t 197

sächlich ging Abaza sofort auf Kollisionskurs mit Miljutin. In seinem „Alleruntertänigsten R a p p o r t " zum Etat für 1881 erklärte er, daß die letzte Kopeke schon von den ordentlichen Ausgaben absorbiert werde, obwohl sich die Einnahmen der Reichskasse in den letzten zwanzig Jahren mehr als verdoppelt hätten und in der gegenwärtigen Lage „dem natürlichen Zuwachs" der Staatseinnahmen bestimmte Grenzen gesetzt seien. Konsequenterweise folgerte Abaza, „die gegenwärtigen Ausgaben des Reiches f ü r Militärmittel einzuschränken". Aufgrund der gegenwärtig „friedlichen Richtung" der russischen Außenpolitik sei es finanzpolitisch nicht länger vertretbar, fast ein Drittel der Ausgaben f ü r das Kriegsministerium auszugeben 27 . Unter dem Druck der finanziellen Schwierigkeiten und der prekären wirtschaftlichen Lage zeichnete sich am Jahresanfang 1881 ab, daß die „Probe auf die Allmacht des Kriegsministers" diesmal zugunsten des Finanzministers ausfiel. Abaza konnte bei Alexander II. die ersten Schritte in Richtung auf eine sowohl finanz- als auch sozialpolitische Gesichtspunkte berücksichtigende Finanz- und Steuerreform durchsetzen. Wichtigste Bestandteile dieser Reform waren: Beendigung der finanziell aufwendigen chinesischen Expedition, Abstriche im Militäretat in H ö h e von 40 Mio. Rbl., Aufhebung der Salzakzise ab Januar 1881 bei gleichzeitiger Zollsenkung für Salzimporte, als Ersatz für die dadurch entstehenden Einnahmeverluste von 13 Mio. Rbl. die Erhöhung der Handelspatentsteuer, Erhöhung sämtlicher Eingangszölle um 10 % und die Verdoppelung der Zolldepotgebühren. Gleichzeitig setzte Abaza beim Zaren das Versprechen durch, die Menge der in Umlauf befindlichen Kreditbilletts schrittweise um jährlich 50 Mio. Rbl. durch entsprechende Verminderung der Staatsschuld bei der Reichsbank zu reduzieren. Wie die Zollerhöhungen verfolgte diese Maßnahme zugleich einen finanziellen und wirtschaftlichen Zweck: Auf der einen Seite den Rubelkurs zu stabilisieren und auf der anderen Seite die Bereitstellung von Mitteln an die Reichsbank, „Darlehen zum Zwecke der Hebung des Handels und der Industrie zu erteilen, ohne zu weiteren Emissionen von Kreditbilletten zu schreiten" 28 . Auch die Resonanz, die die Pläne Abazas in der öffentlichen Meinung fanden, kennzeichnet das Ausmaß der wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten, aber auch die wachsende Bereitschaft, auf „friedlichem" Wege und selbst bei äußerem Prestigeverlust und bei zunehmender ökonomischer Abhängigkeit vom Ausland einen Ausweg aus der Misere zu finden. N a c h Meinung von Schweinitz waren die Pläne Abazas einfach „nur durchführbar, wenn die auswärtige Politik den europäischen Börsen Vertrauen einflößte". Selbst die „bisher chauvinistischen und vorwiegend in Offizierskreisen gelesene „Novoe Vremja" wollte nur schwer „begreifen, warum das Kriegs- und Marineministerium von den Leiden, die Rußland in diesem Jahre betroffen haben, nichts wissen" wollten, zumal eine Reduzierung des Personalbestandes der Armee und Flotte einfacher als eine Steigerung der Militärausgaben sei. In gleichem Sinne kommentierte der „Golos" die hohen Militärausgaben im Budgetentwurf für 1881: „Wir haben vor uns fiktive Bedürfnisse, welche geeignet sind, daß Land zu erschöpfen und ihm nichts dafür zu bieten." Sowohl der

198

„Golos" als auch die „Novoe Vremja" und andere Zeitungen erkannten das entscheidende Zentrum des Widerstandes gegen eine Verringerung der Militärausgaben in der militärischen Führungsspitze, für die eine durch die Finanzlage erzwungene Reduktion des Personalbestandes der Armee in einer Phase akuter Spannungen zwischen Rußland und den Zweibundmächten einer Kapitulation mit unabsehbaren

Konsequenzen

gleichkam. Dem Argument

der

„Novoe

Vremja", daß „permanente Defizite und gekünstelte Finanzen das Land weit mehr schwächen als wenn es seine Armee um die Hälfte reduzierte", stand die offensichtlich durch nichts zu erschütternde Überzeugung von „Kabinettsstrategen" gegenüber, „daß eine Armeeverringerung um nur eine Division Europa sogleich veranlassen würde, über uns herzufallen und uns das Zartum Polen zu entreißen". In der Armeeführung erkannte auch Lignitz das entscheidende Hindernis für die Verwirklichung der Finanzpläne Abazas, solange nicht „ein gründlicher Systemwechsel" eingetreten sei29. Offenbar waren die Enttäuschung Alexanders I I . über die deutsche Politik und der Zwang, das militärische Prestige der Autokratie wiederherzustellen, so groß, daß er unter dem Druck der sich rapide verschärfenden Krise der Autokratie eher zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit war, als einer kostspieligen Umorientierung der russischen Militärpolitik auf einen möglichen Konflikt mit der stärksten Militärmacht Europas Einhalt zu gebieten. Andererseits war die akute Krise der Autokratie in Verbindung mit dem Gefühl der militärischen Schwäche und finanziellen Abhängigkeit von den europäischen Kapitalmärkten die beste Garantie, daß die deutsche Option zugunsten österreich-Ungarns schon in naher Zukunft zum auslösenden Moment für die Bildung eines russisch-französischen Gegenbündnisses würde. Während der letzten Phase der deutsch-österreichischen Verhandlungen arbeiteten russische Diplomaten „wie die Bienen, um alles zu Fall zu bringen". Als das nicht gelang, beeilten sich selbst „Panslawisten" wie Gortschakow und der ehemalige Botschafter in Konstantinopel, Ignat'ev, bei jeder Gelegenheit die russische Friedensliebe zu betonen, und der Zar bekannte sich im März 1881 zur Tradition preußisch-russischer Freundschaft, „als ob nichts gewesen wäre" 3 0 . Eine friedliche Außenpolitik und die Aussicht auf „konstitutionelle" Zugeständnisse konnten freilich die innere Lage des zaristischen Systems kurzfristig nicht mehr entscheidend beeinflussen. Mit der Ermordung Alexander I I . erlitt die Autokratie erneut eine „schwere Erschütterung". Leroy-Beaulieu schilderte kurz danach die Lage: „Wer das heutige Rußland, seine Enttäuschungen durch Krieg und Frieden, den öffentlichen und privaten Druck durch finanzielle Verlegenheiten, durch niedrigen

Stand des Papiergeldes,

Hungersnot

und

schlechte Ernten kennt, wer den bitteren Rückschlag nachfühlt, den die wirkungslosen, unvollendeten großen Reformen geübt: den überrascht nicht mehr die Leidenschaft und Verwegenheit der Regierungsfeinde, nicht die Gleichgültigkeit und scheinbare Erstarrung der Gesellschaft, noch die moralische Verlassenheit und Unentschlossenheit der Regierung." 3 1 199

In dieser Lage erwies sich die von Alexander I I . in seinem letzten Regierungsjahr gezeigte Bereitschaft, über die liberalen Reformen der 60er Jahre einen Schritt hinauszugehen, als ein Bumerang, der zur Diskreditierung liberaler Tendenzen und ihrer führenden Repräsentanten beitrug 32 . Der Tod des „Reformators" leitete daher nach einer kurzen Unsicherheitsphase, während der Liberale und Reaktionäre den neuen Zaren auf ihre Seite zu ziehen suchten, die endgültige Reaktion gegen die liberale Reformperiode ein 33 . In seinem berühmten Manifest vom April 1881 verkündete Alexander I I I . seine Überzeugung, daß Rußland jetzt nur noch die Wahl zwischen einer starken Autokratie und der Anarchie habe und erteilte allen „konstitutionellen" Experimenten eine entschiedene Absage 34 . Das Manifest leitete in den obersten Hof-, Militär- und Verwaltungsstellen ein umfangreiches Revirement ein, dessen prominenteste Opfer Exponenten liberaler Vorstellungen wie Loris Melikow, Finanzminister Abaza und vor allem Kriegsminister Miljutin waren. Im Verlaufe der nächsten Jahre wurden die Errungenschaften der liberalen Ära: Pressefreiheit, Autonomie der Universitäten, die Stärkung der Selbstverwaltungsorgane und die Institution der Friedensrichter als unvereinbar mit der unbeschränkten Autokratie entweder abgeschafft oder drastisch eingeschränkt. Und unter der Herrschaft der Notstandsgesetze von 1881 hörten die terroristischen Aktionen bald auf. Die Entschlossenheit, die unbeschränkte Autokratie durch ein rücksichtsloses System der innenpolitischen Repression zu verteidigen, war eine entscheidende Voraussetzung, die die außenpolitische Orientierung der russischen Politik in der Ära Alexander I I I . vorgab. Eine weitere Bedingung sowohl für die innenals auch die außenpolitische Orientierung Alexander I I I . war eine - durch die Hegemonialmacht Preußen-Deutschland garantierte - europäische Gesamtlage, die dem zaristischen System nicht nur die Anerkennung als europäischer Großmacht und damit einen Handlungsspielraum in der europäischen Politik, sondern auch Möglichkeiten für eine expansive Politik vorenthielt, von der innenpolitische Rückwirkungen zur Festigung der Autokratie ausgehen konnten. Die „Slawophilen" Katkov, Aksakov und Ignat'ev hielten zwar weiterhin daran fest, daß die inneren Übel durch äußere Fehler erzeugt worden seien und durch eine Aktion nach außen geheilt werden könnten 35 . Aber bei den führenden Repräsentanten der Reaktion setzte sich sehr schnell die Entschlossenheit durch, auf der Basis einer konservativen Politik nach innen und außen die Autokratie keinen Belastungen auszusetzen, deren Konsequenzen nach den bisherigen Erfahrungen nicht kalkuliert werden konnten. Alexander I I I . beeilte sich, sofort nach seinem Regierungsantritt seine Bereitschaft zur Fortführung der von seinem Vater verfolgten Verständigungspolitik mit dem Deutschen Reich zu erklären. 1881 trat er dem Drei-Kaiser-Bündnis bei. Und die Ernennung von Giers im Frühjahr 1882 war das „Osterei", mit dem der neue Zar den Zweibundmächten die prinzipielle Bereitschaft zur Anerkennung des europäischen Status quo signalisierte 36 . Die Prinzipien der Giersschen Politik: „Erhaltung des Friedens", Wiederherstellung des „Einvernehmens" zwischen den

200

Drei-Kaiser-Mächten, Absage an die „auf Konstantinopel gerichteten Tendenz e n " und schließlich das Ziel, die Regelung der B a l k a n f r a g e „auf einen günstigen Zeitpunkt zu verschieben", basierten ganz auf der Einsicht in die innenpolitischen Belastungen, denen das zaristische System durch eine europäische Risikopolitik ausgesetzt werde. Veränderungen des Status quo auf dem Balkan, wie etwa die Vereinigung Bulgariens mit Rumelien, paßten nicht in das K o n zept der Giersschen Politik, denn ein derartiger Vorgang konnte - so Giers im M ä r z 1883 - „doch weiterführen als gegenwärtig, w o wir von H a u s aus viel zu tun haben, wünschenswert ist" 3 7 . Solange eine expansive Außenpolitik repressive Stabilisierungserfolge des Systems nach innen in Frage stellte, f a n d Giers den innenpolitischen Rückhalt beim Zaren und den einflußreichsten Repräsentanten der Reaktion wie dem Innenminister Tolstoj, dem Oberprokurator des Synod, Pobedonoscev, und dem Redakteur des „ G r a z d a n i n " , dem Fürsten Mescerskij. Auch der Reichsrat war jetzt „mehr als früher geeignet, einer friedlichen äußeren und inneren Politik als Stütze zu dienen" 3 8 . V o m russischen Pol waren damit freilich noch nicht die Weichen für eine Stabilisierung des europäischen Status quo gestellt. D i e russische Außenpolitik war zu eindeutig auf Repression und Stabilisierung im Inneren bezogen, die um kurzfristiger Erfolge willen langfristig die sozialen und ökonomischen Spannungen verschärfen mußte. Ansätze zur Wiedergewinnung einer festen Orientierung zaristischer Außenpolitik drohten daher ständig von der inneren Krise des Systems unterlaufen zu werden. Aus der Summe der Konflikte, die die innere Entwicklung bestimmten, zog Schweinitz am Jahresende 1883 das vorläufige Fazit, daß trotz einer äußerlichen Beruhigung und trotz des innenpolitischen Rückhalts, den die Gierssche Außenpolitik noch fand, die innenpolitische Basis für eine friedliche Außenpolitik sehr labil war. Rußland erschien ihm immer noch als ein „durch äußere Mißerfolge und innere Übelstände zu leidenschaftlichen Ausbrüchen geneigter N a c h b a r " . E t w a zur gleichen Zeit Schloß sich Bismarck der Ansicht des österreichischen Außenministers K á l n o k y an, daß die Verhältnisse in Rußland doch nicht der Art seien, daß man sich „mit vollkommener Seelenruhe dem Vertrauen in die Zukunft hingeben" könne. D a s russische Reich treibe „höchstwahrscheinlich inneren Umwälzungen entgegen, durch welche die heute maßgebenden Personen und die ehrlich friedlichen Gesinnungen über N a c h t hinweggespült werden könnten" 3 9 . O b und zu welchem Zeitpunkt diese Prognose in Erfüllung gehen würde, w a r natürlich vor allen Dingen von zwei Faktoren abhängig: von dem Ausmaß und der Intensität der sozialökonomischen und innenpolitischen Spannungen einerseits und von der Fähigkeit der traditionalen Elite andererseits, den für die Autokratie besonders gefährlichen Entwicklungen zuvorzukommen und sich nicht auf nackte Repression zu beschränken. D i e entscheidende Urasche für die notdürftig verdeckte Krise der Autokratie bildete die sich verschärfende Krise der Landwirtschaft. Zwanzig J a h r e nach der Aufhebung der Leibeigenschaft hatten sich die sozialen und wirtschaftlichen Spannungen in der Landwirtschaft so verschärft, daß der Versuch zu ei201

ner dauerhaften Festigung der Autokratie nur dann noch Aussicht auf Erfolg haben konnte, wenn diese sich zu einer einschneidenden Korrektur der bisherigen Resultate der „Bauernbefreiung" bereitfand. In der Einstellung Alexander III. zur „Bauernfrage" zeigte sich freilich, daß die traditionale Elite aus einer verstärkten Abwehrhaltung heraus jeden Eingriff in die Agrarverhältnisse ablehnte, der auch nur im entferntesten eine - tatsächliche oder vermeintliche - Gefährdung der Autokratie nach sich ziehen konnte. In der nur unfreiwillig angenommenen Rolle als „Bauernkaiser" verzichtete Alexander III. auf Eingriffe, die die wirtschaftliche und soziale Lage der bäuerlichen Bevölkerung hätten verbessern können. Statt dessen wurden in dem größten Agrarstaat Europas bis zur Hungerkatastrophe 1890/91 die landwirtschaftlichen Probleme nicht von einem Landwirtschaftsministerium, sondern aus der politischen Perspektive reaktionärer Innenminister entschieden. Während die politische und soziale Kontrolle der bäuerlichen Bevölkerung verstärkt wurde, verschärfte sich die strukturelle Agrarkrise weiter, und mit dem „Verfall des Zentrums" kam sie schließlich in der zweiten H ä l f t e der 80er Jahre zum vollen Durchbruch 40 . Die Krise im Agrarsektor verlor auch dadurch nichts von ihrer Schärfe, daß sich die Entwicklung stark exportorientierter Großbetriebe auf agrarkapitalistische Basis beschleunigt fortsetzte. Der steigende Import landwirtschaftlicher Maschinen und die Verlagerung der einheimischen Produktion landwirtschaftlicher Maschinen aus den Weichselgouvernements und den baltischen Provinzen in die südlichen und östlichen Steppengebiete waren deutliche Symptome dafür, daß sich mit der beschleunigten Entfaltung agrarkapitalistischer Strukturen der Schwerpunkt der landwirtschaftlichen Produktion nach Süden verschob. Auch der Anstieg des Getreideexportes zu Beginn der 80er Jahre dürfte nicht nur auf eine extensive Wirtschaftsführung, sondern auch auf den beschleunigten Übergang adeliger Gutswirtschaften zum agrarkapitalistischen Großbetrieb zurückzuführen sein41. Aber gerade diese Betriebe bekamen mit zunehmender Exportorientierung ihre Abhängigkeit von der Getreidepreisentwicklung auf dem europäischen Agrarmarkt und von der Getreidespekulation zu spüren. Nach dem vorübergehenden Anstieg der Agrarpreise zwischen 1878 und 1881 setzte ein erneuter Preisrückgang auf dem europäischen Agrarmarkt ein, der in den folgenden Jahren unaufhaltsam anhielt. Schon nach den günstigen Ernteergebnissen des Jahres 1882 kam es im russischen Getreidehandel zu Stockungen, die allerdings weniger durch die verschärfte Konkurrenz auf dem europäischen Agrarmarkt als durch Fehlspekulationen großer Getreidehändler bedingt waren 42 . „Die Gutsbesitzer haben nichts verkauft, die Kaufleute setzen infogedessen nichts ab", lautete ein Bericht vom Dezember 1882. Am Jahresende 1883 häuften sich bei den großen Getreidehändlern in den Hafenstädten des Schwarzen und Asowschen Meeres riesige Getreidevorräte, während der Export über die Ostseehäfen und über die westliche Landesgrenze noch relativ flüssig war. Insgesamt kam der Getreideexport, „eine der wichtigsten Bedingungen für Rußlands ökonomische Lage", während der zweiten Jahreshälfte 202

1883 fast zum Erliegen 43 . Noch bevor auf dem europäischen Agrarmarkt in der Jahresmitte 1884 eine neue Phase eines allgemeinen Preisverfalls einsetzte, konnten die russischen Gutsbesitzer ihr Getreide nur noch bei sinkenden Preisen, die schnell unter die Produktionskosten absanken, verkaufen. Gegen Jahresende 1884 erfuhr Schweinitz „von vielen Bekannten, die große Güter haben, daß ihre Geschäfte sehr schlecht gehen", und f ü r Schweinitz war es ausgemacht: „In Weizen kann Rußland gegenwärtig kaum noch konkurrieren." 4 4 Der rapide Anstieg der hypothekarischen Verschuldung bei den BodenkreditAktiengesellschaften und vermehrte Zwangsverkäufe adeliger Güter waren eindeutig Hinweise darauf, daß diese Entwicklung eine akute Existenzbedrohung auch für die größeren adeligen Gutswirtschaften bedeutete 45 . Verschärft wurden die Auswirkungen der Agrarkrise durch die industrielle Depression, von der vor allem in zentralrussischen Industriegebiet um Moskau die Entwicklung der ersten H ä l f t e der 80er Jahre bestimmt wurde. Viele Moskauer Industrielle und Kaufleute, die während der industriellen Aufschwungsphase der 60er und 70er Jahre die Güter bankrotter Adeliger aufgekauft hatten, stießen diese jetzt ab und beschleunigten damit den Verfall der Güterpreise4e. Auf eine weitere Wechselwirkung zwischen industrieller Depression und struktureller Agrarkrise wies der Moskauer „Semstwo" hin: „Viele Fabriken sind geschlossen, andere haben den Betrieb reduziert . . . der Tiefstand ist so arg, daß viele Fabrikarbeiter, die den Ackerbau schon verlernt hatten, in die Dörfer zurückkehren und zum Pflug greifen." 47 Umgekehrt erkannte Schweinitz am Jahresanfang 1885 in den Rückwirkungen der europäischen Agrarkrise auf die Lage der russischen Industrie einen „eklatanten Beweis f ü r die weitreichende und verderbliche Wirkung zu niedriger Getreidepreise" : „Weil unter dem Druck fremder Konkurernz die Getreidepreise fielen, ist der Landwirt verarmt und hat an K a u f k r a f t verloren; seitdem vermag der Industrielle seine Erzeugnisse nicht mehr in dem bisherigen Umfange abzusetzen; was von Industrie und Handel lebt, sieht sich ebenfalls in seinem Erwerb geschmälert, alle Welt muß sich einschränken." 48 Angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage und der sich mit ihr verschärfenden sozialen Spannungen stand von vornherein fest, daß die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung allein nicht schon mit einer Festigung der Autokratie gleichgesetzt werden konnte. Noch während der Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Reaktionären über den zukünftigen innenpolitischen Kurs hatte Finanzminister Abaza sein Plädoyer f ü r eine liberale Politik auf das Argument gestützt, „daß der Thron sich nicht ausschließlich auf eine Million Bajonette und ein Beamtenheer stützen" könne 49 . Aber auch nach dem Sieg der Reaktion gingen selbst die konsequentesten Verfechter einer Repressionspolitik davon aus, daß die Autokratie nur dann Überlebenschancen hatte, wenn ihre sozialen Grundlagen erhalten und die wirtschaftlichen Probleme bewältigt werden konnten. Diese Überzeugung fand ihren Niederschlag in einer Politik der sozialen Reaktion, die die Repressionspolitik ergänzte. So war die Religionspolitik Pobedonoscevs, die dem System Alexander III. seinen „spezi203

fisch-kirchlichen" Charakter verlieh, darauf ausgerichtet, „den Einfluß religiösen Lebens nicht nur bei dem niederen Volke, sondern auch bei allen Klassen der Nation und in sämtlichen Unterrichtsanstalten von der Volksschule bis zu den Universitäten zu heben und zu kräftigen" 5 0 . Soziale Reaktion bedeutete vor allem auch die Erhaltung des Adels als sozialer Stütze eines Systems, das aufgrund seiner permanenten Defensivlage auf die in der „Bauernfrage" liegende ständige Provokation zu einschneidenden ökonomischen und sozialen Reformen nur mit verstärkter Repression reagieren konnte und damit seine soziale Basis aushöhlte. War nach dem Amtsantritt Alexanders III. zunächst nur von den Bauern die Rede, so kam mit der Übernahme des Innenministeriums durch Tolstoj (Mai 1882) „eine andere Auffassung zur Geltung", nämlich die „Lehre von der Wiederbelebung des Adels" 51 . D a ß der Adel ungeachtet der starken Erschütterungen seiner ökonomischen Stellung immer noch über die ökonomische Potenz verfügte, um die Rolle als soziale Stütze der Autokratie noch spielen zu können, zeigt die Größe des sich im Besitz des Adels befindlichen Grundbesitzes (79%) 5 2 . Bei den Versuchen zur „Wiederbelebung des Adels" ging es zunächst darum, seinen Einfluß auf dem Lande wiederherzustellen, den er während der liberalen Ära eingebüßt hatte 53 . Darüber hinaus sollte die führende Stellung der Angehörigen des adeligen Großgrundbesitzes in der Bürokratie und in der Armee, die im Verlaufe der liberalen Ära geschwächt worden war, wieder gefestigt werden 54 . Ob freilich das Zusammenspiel von innenpolitischer Repression und Wiederbelebung des Adels noch mehr sein konnte als der geeignetste Weg, um die Entwicklung in Richtung auf eine gewaltsame Veränderung zu beschleunigen, wagte Schweinitz schon am Jahresende 1883 zu bezweifeln; denn die Alternative, die „administrativen, ökonomischen und sittlichen Schäden" entweder durch die innenpolitische und soziale Reaktion oder durch „ein in modernem Geiste reformiertes Regierungssystem" zu beheben, hatte sich bereits weitgehend verflüchtigt 55 . D a ß die Klasse des adeligen Großgrundbesitzes nur sehr bedingt imstande war, die ihr zugedachte Rolle als Stütze der sozialen Reaktion zu spielen, sagt jedoch noch nichts Endgültiges über die Erfolgschancen der sozialen Reaktion aus. Denn die Schwäche und Unfähigkeit der traditionalen Führungselite eröffnete Einflußbereiche, in die eine neue und energische industrielle Elite vorzustoßen suchte. Die erfolgreichsten Anstrengungen in dieser Richtung wurden von der Moskauer Bourgeoisie gemacht. Ihr publizistischer Vertreter Katkov begrüßte in den Moskauer Nachrichten das Manifest, in dem der neue Zar die uneingeschränkte Autokratie als Ziel seiner Politik proklamierte, als „himmlisches Manna" und meldete damit den Anspruch der Moskauer Bourgeoisie an, eine führende Rolle im System der politischen und sozialen Reaktion zu übernehmen 56 . Bei einem Zaren, dessen Verhältnis gegenüber den akuten Problemen einer sozialökonomischen Krisenlage von einer passiven Abwehrhaltung gegenüber jeglicher Veränderung überhaupt bestimmt wurde, war die prinzipielle Ablehnung jeglicher Liberalisierungstendenz die Basis, auf der der Einfluß der führenden Repräsentanten des neuen Systems beruhte 57 . Mit der demonstrativ 204

bekundeten Bereitschaft, die Autokratie zu verteidigen, sicherte sich die Moskauer Bourgeoisie von vornherein große Einflußchancen. Als Stütze der innenpolitischen und sozialen Reaktion war die Moskauer Bourgeoisie auch deshalb disponiert, weil erstens ihre ökonomischen Interessen und ihre ideologische Orientierung sich mit einer reaktionären Agrar- und Religionspolitik deckte, die die Masse der bäuerlichen Bevölkerung in den traditionellen Formen ökonomischer Abhängigkeit, sozialer Kontrolle und religiöser Bevormundung zu halten suchte 58 , und weil zweitens ein Erfolg der innenpolitischen Reaktion nicht zuletzt davon abhängig war, inwieweit die Bourgeoisie des größten Industriegebietes ihre Rolle bei der Disziplinierung des in der Reformperiode stetig angewachsenen „schwarzen Volkes" der Fabrikarbeiter zu spielen in der Lage war. Den bereits in den letzten Jahren aufgetretenen Streiks von Fabrikarbeitern fehlte zwar noch jede feste Organisation, aber als Warnung vor einer zukünftigen Gefahr verfehlten sie jedoch nicht ihre Wirkung 59 . Beim Regierungsantritt Alexander III. lag der Schwerpunkt von Arbeiterrevolten noch in der Petersburger Industrie. Unter den Auswirkungn der industriellen Depression und einer verstärkten Ausbeutung kam es jedoch auch in der Moskauer Industrie immer häufiger zu Arbeitsunruhen, die mit den Massenstreiks vom Februar 1885 einen vorläufigen Höhepunkt erreichten 60 . Aus der Wechselwirkung zwischen einer strukturellen Agrarkrise und einer industriellen Depression, zwischen der Schwäche der traditionalen Führungselite und dem energisch vertretenen Anspruch der Moskauer Bourgeoisie als Stütze der Reaktion und schließlich aus dem Prestigeverlust der Autokratie und ihrer Institutionen resultierte jenes so schwer durchschaubare Konglomerat von Stimmungen und Interessen, das einen hochgradigen Zwang zu pathologischen Problemlösungen konstituierte. Das zeigte sich auch in der Minoritätenpolitik. Aufgrund der Diskrepanz zwischen den Erwartungen und der tatsächlichen Lage der bäuerlichen Bevölkerung machte die innenpolitische Defensivlage der Autokratie die Tolerierung oder bewußte Ausnutzung solcher Mechanismen der sozialen Konfliktregelung notwendig, die - ohne die Ursachen der wirtschaftlichen und sozialen Spannungen anzurühren - die Ableitung sozialer Spannungen und des sozialen Protestes auf vermeintliche Gegner erlaubten. Den in dieser Richtung entschiedensten Versuch unternahm Ignat'ev, als er kurz nach der Übernahme des Innenministeriums „planmäßig die revolutionären Leidenschaften von den bisherigen Objekten, Dynastie und Bürokratie" ab- und auf die „zwei empfindlichsten Punkte, nämlich gegen die Juden und gegen die Balten", hinzulenken suchte 61 . Die von der offiziösen Presse und den von der Regierung in die westlichen Gouvernements entsandten Agitatoren entfachte Hetzkampagne gegen die Juden, die angeblichen Mörder des Zaren und Förderer des Nihilismus, lösten Pogrome in einem bisher nicht erlebten Ausmaße aus, denen die staatlichen Organe zunächst tatenlos zusahen. Ein zeitgenössischer Beobachter führte die Kampagne gegen die drei bis vier Millionen Juden, die vorwiegend in den westlichen Gouvernements lebten und stellenweise 15 bis 2 0 % der dort ansässi205

gen Bevölkerung ausmachten, nicht auf religiöse Antipathien, sondern auf die Initiative der Regierung zurück 6 2 . Erst als die Pogrome ein Stadium erreichten, in dem sich die Wut der Bauern auch gegen den Adel, die Beamten und die Gutsbesitzer wandte, verhinderte die Polizei weitere Ausschreitungen. Freilich blieben die Juden durch den Erlaß „temporärer Maßregeln" von 1882 weiterhin eine scharf diskriminierte Minderheit. Eine ähnliche Funktion wie die Judenpogrome hatte die gleichzeitig neu a u f f l a m m e n d e K a m p a g n e gegen die Baltendeutschen und die in den westlichen Gouvernements lebenden Deutschen. Zum Teil stellte die Diskriminierung der in Rußland lebenden Deutschen eine Reaktion auf die seit den 70er Jahren sich verstärkende

Einwanderungswelle

deutscher

Kolonisten

in

die

westlichen

Agrargebiete dar 6 3 . Aber die diskriminierende Politik gegenüber der deutschen Minderheit wurde vor allem von der kollektiven Abwehrhaltung eines russischen Nationalismus gestützt, dessen Wirksamkeit über die „öffentliche Mein u n g " hinaus bis an den Zarenhof, die Spitzen der Bürokratie und vor allem in die Kreise der Moskauer Bourgeoisie reichte. In der von Offizierskreisen, Mitgliedern des H o f e s und der St. Petersburger und Moskauer Gesellschaft beeinflußten „Öffentlichkeit" setzte sich die Unzufriedenheit mit den inneren Zuständen in heftige Ressentiments gegenüber Deutschland als dem militärisch, politisch und ökonomisch übermächtigen Gegner um. D a ß sich die antideutschen Ressentiments vorrangig an der deutschen Außenpolitik

entzündeten,

machte nur den engen Spielraum deutlich, der der Öffentlichkeit im System der inneren Reaktion noch verblieben war. D a „weite Gebiete des kirchlichen und staatlichen Lebens und viele, von Zeit zu Zeit auf den Index gesetzte T a gesfragen" der Kommentierung in der Presse entzogen wurden, konnte die Publizistik die innere Politik nur „behutsam und umschreibend", die Fragen der äußeren Politik d a f ü r um so ausführlicher behandeln, „ u m das Interesse der Leser, das Sensationsbedürfnis und die nationale Eitelkeit rege zu halten". Die Publizistik befriedigte diese Bedürfnisse, indem sie unablässig den „Rassenhaß" zwischen der germanischen und der slawischen Rasse schürte 64 . Während die Leitung der Außenpolitik demonstrativ „friedliche" Absichten bekundete, wurde in der Öffentlichkeit das Axiom aufrechterhalten, „daß Rußland in Berlin geschädigt w u r d e " , und - so klagte Schweinitz - „weil dies gerade in Berlin geschah, so schiebt man alle Schuld auf uns". Die emotionale Komponente dieser Stimmung war stark genug, um heftige Drohungen gegen den vermeintlich Schuldigen zu stimulieren. Es spricht für sich, wenn Schweinitz den sinnlosen, aber allgemeinen Wunsch, „den Berliner Vertrag zu rächen", mit der in Frankreich herrschenden Stimmung nach „revanche pour S a d o w a " verglich 6 5 . Außenpolitische Rücksichten waren für die einflußreichsten Repräsentanten des Systems der innenpolitischen Reaktion kein Anlaß, derartige offen antideutschen Artikulationen eines russischen Nationalismus zu unterdrücken. Im Gegenteil war die „deutschfeindliche Gesinnung" für das System der innenpolitischen Reaktion bis zu dem G r a d e erwünscht und notwendig, an dem sie 206

„durch amtliche Agitation und durch andauernde Pressepolemik bis zur Friedensgefährdung gesteigert werden k o n n t e " " . Außer in der „Öffentlichkeit" behaupteten sich nationalistische Tendenzen mit einer ausgeprägt antideutschen Komponente vor allem in der Armee. Die Polarisierung der deutsch-russischen Gegensätze hatte am Ende der 70er J a h r e ein Stadium erreicht, daß der Regierungsantritt eines Zaren, „der als Zarewitsch durch sein ganzes Wesen und durch viele Äußerungen seine Abneigung gegen die Deutschen zur Schau getragen hatte", sofort der Meinung zum Durchbruch verhalf, man könne unter der neuen Regierung „durch Deutschfeindlichkeit Karriere machen" 8 7 . Durch das sofort nach Ignat'evs Amtsantritt als Innenminister eingeleitete Revirement in den wichtigsten H o f - , Verwaltungs- und Militärstellen wurden die von der Tradition preußisch-russischer Freundschaft noch beeinflußten Mitglieder der feudalen Militäraristokratie völlig in den Hintergrund gedrängt. D a s zeigte sich u. a. in der personellen Besetzung der höchsten militärischen Ränge. Der neue Kriegsminister Vannovskij ersetzte sofort den als deutschfreundlich bekannten Chef des Generalstabes, G r a f Heyden, durch den als „Franzosenfreund" und Organisator der militärischen Defensivmaßregeln zur preußischen Grenze hin bekanntgewordenen General Obrucev. Der Chef der Artillerieverwaltung, Baranzov, gegen den schon unter Miljutin V o r w ü r f e wegen seiner Vorliebe für das preußische Militär und der Entschiedenheit, mit der er die N e u b e w a f f n u n g der Artillerie durch Kruppsche Geschütze betrieb, erhoben worden waren, wurde abgelöst, und schließlich nahm der als S y m p a thisant der „slawophilen Aktionspartei" bekannte und mit einer Französin verheiratete Leiter des Marineministeriums, Admiral Sestakov, unter den Beratern Alexanders I I I . eine hervorragende Stellung ein. Darüber hinaus wurden hohe militärische R ä n g e durch „remüante slawophile O f f i z i e r e " besetzt 68 . Der Austausch in der militärischen Führungsspitze vollzog sich reibungslos, weil hier das Bewußtsein, durch die militärische Hegemonialmacht PreußenDeutschland an militärischen Erfolgen gehindert zu werden, besonders starke Inferioritätsgefühle wachhielt. D i e Furcht vor der überragenden militärischen Stärke des potentiellen Gegners ließ erst gar nicht ernsthafte Gedanken an einen Krieg gegen das Deutsche Reich aufkommen. Man wollte keinen Krieg gegen Deutschland. Aber um so mehr verfestigte sich in den Militärkreisen ein Feindbild, in dem Deutschland vor England und Österreich-Ungarn die Rolle des Hauptgegners einnahm. „Unser Feind ist der Deutsche" konnte der populäre General Skobelev im Frühjahr 1882 öffentlich verkünden. Der Ausbau von Festungen und strategischen Bahnen an der Westgrenze war für die militärische Führung eine selbstverständliche „Sicherheitsmaßregel", und um die Anhäufung von Kavallerie und Artillerie an der preußischen Grenze zu verhindern, war Giers im Petersburger Kabinett „nicht einflußreich genug", obwohl gerade diese militärische Maßregel den „ K e i m zum K o n f l i k t " legte 69 . An einen A b b a u der antideutschen Komponente der russischen Militärpolitik war solange nicht zu denken, als militärische Machtverhältnisse in Europa bestanden, die 207

der russischen Politik gegenüber der deutschen nur eine bescheidene Rolle als europäischer Großmacht zu spielen erlaubten. Im Gegenteil zeichnete sich Anf a n g der 1880er J a h r e ab, daß die russischen Anstrengungen um die Wiedergewinnung der militärischen Basis für eine europäische Großmachtpolitik

die

deutsch-russische Konkurrenz auf der militärischen Ebene erst recht in G a n g setzten und der russischen Militärpolitik damit eine zunehmend eindeutigere antideutsche Richtung gegeben wurde 7 0 . Außer der von antideutschen Ressentiments beherrschten „Öffentlichkeit" und einer auf die preußisch-deutsche Armee als potentiellem Gegner fixierten Armeeführung läßt sich in der Moskauer Bourgeoisie ein nicht geringer zu bewertendes Zentrum antideutscher Tendenzen eines russischen

Nationalismus

ausmachen, der das politische und soziale K l i m a der Reaktion beherrschte. Der Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und dem Aufstieg eines antideutschen Nationalismus zur ideologischen Macht der Reaktion lag in der Wechselwirkung zwischen der Rolle, die die Moskauer Bourgeoisie in einer sozialökonomischen Krisenlage als Stütze der Autokratie übernahm und in der Tatsache, daß die Moskauer Bourgeoisie mit wachsenden politischen Einflußchancen in der Verfolgung ihrer ökonomischen Interessen mehr denn je auf Deutschland als dem ökonomischen Hauptgegner fixiert war. Die Agitation gegen die Abhängigkeit von einem politisch, militärisch und ökonomisch überlegenen Gegner tat ein Übriges, um antideutschen Tendenzen in der Wirtschaftspolitik zum Durchbruch zu verhelfen. Dieser Prozeß konnte natürlich nicht bruchlos erfolgen, denn die Interessen der Industrie des inneren Rußland mußten gegen konkurrierende Interessen, aber auch gegen agrarische Interessen sowie gegen außen- und finanzpolitische Widerstände durchgesetzt werden 7 1 . Im Hinblick auf ihre spezifisch antideutsche Komponente ging es bei diesen Auseinandersetzungen der Moskauer Bourgeoisie vorrangig um folgende Ziele: 1. U m die Sicherung des Binnenmarktes gegen den deutschen E x p o r t . J e länger die industrielle Depression andauerte, um so weniger waren die Moskauer Industriellen bereit, sich mit den protektionistischen Sätzen des Zolltarifs zufrieden zu geben, sondern drängten jetzt auf die völlige Ausschließung der deutschen Konkurrenz vom Binnenmarkt 7 2 . 2. U m die Sicherung des Binnenmarktes gegen die polnische Industrie, die sich unter Ausnutzung von Konkurrenzvorteilen, vor allem aber mit H i l f e deutschen K a p i t a l s und deutscher Arbeitskräfte anschickte, die Konkurrenzverhältnisse auf dem Binnenmarkt zu ihren Gunsten zu verändern 7 3 . 3. U m in Asien neue Absatz- und - was noch wichtiger war - neue Rohstoffmärkte zu gewinnen. Ein E r f o l g in dieser Richtung setzte freilich nicht nur, die Ausdehnung des politischen Einflusses in Asien durch eine militärische Expansion, sondern ebenso die Notwendigkeit voraus, zumindest bis zur Phase eines neuen industriellen Aufschwungs die aus der N a c h b a r s c h a f t zu Deutschland resultierenden Konkurrenzvorteile der polnischen Industrie zu beseitigen 74 . 208

4. N a c h der militärischen Expansion auf dem Balkan die ökonomische Expansion folgen zu lassen, was freilich die Ausdehnung des politischen Einflusses voraussetzte. Einer Politik der „offenen T ü r " fehlten angesichts der englischen, österreichischen und deutschen Konkurrenz auf den Märkten des Balkan einerseits und der an eine monopolistische Beherrschung des Binnenmarktes gewöhnten Moskauer Industrie von vornherein die Voraussetzungen 75 . 5. Unter dem Druck der industriellen Depression und der Unfähigkeit, auf den inneren und äußeren Märkten mit der Industrie anderer europäischer Staaten konkurrieren zu können, zeigte die Moskauer Bourgeoisie ein hohes M a ß von Bereitschaft, auch um den Preis eines Krieges gegen die Zweibundmächte den Balkan als Absatzgebiet zu behaupten. Nicht zufällig waren Moskauer Industrielle seit dem Berliner Kongreß, der den neu gewonnenen politischen Einfluß Rußlands auf dem Balkan wieder einschränkte und damit die an den Balkan geknüpften Absatzerwartungen enttäuschte, entschiedene Anhänger der These, daß der Weg nach Konstantinopel jetzt nur noch durch das Brandenburger Tor führen könne 76 . Aus der Summe der K r ä f t e und Tendenzen, die die russische Innenpolitik seit dem Amtsantritt Alexander III. beeinflußten, kann demnach das Fazit gezogen werden, daß nicht nur eine politisch einflußlose „Öffentlichkeit" von antideutschen Tendenzen, sondern auch die Einstellung und die Interessen einflußreicher Gruppen der innenpolitischen und sozialen Reaktion von der Fixierung auf Deutschland als dem politischen, militärischen und ökonomischen Gegner beherrscht wurden. Die Unsicherheit darüber, wie lange die russische Politik die Balance zwischen einer andauernden akuten inneren Krisenlage und einer friedlichen Politik nach außen behaupten konnte, Schloß daher zugleich auch die Möglichkeit ein, daß die Tolerierung nationalistischer Emotionen mit einer ausgeprägt antideutschen Spitze und eine auf den Kollisionskurs mit Deutschland festgelegten Wirtschaftspolitik ihre systemstabilisierende Funktion nicht mehr erfüllen konnten, es sei denn, daß die russische Politik auch nach außen auf einen antideutschen Kurs einschwenkte.

5.1.1.2 Die Problematik der wirtschaftlichen handels- und finanzpolitische Aspekt

Rückständigkeit:

Der

rüstungs-,

Nachdem sich die Periode liberaler Reformen als ein in hohem Maße systemgefährdendes Experiment erwiesen hatte, stellte die konsequente innenpolitische und soziale Raktion in erster Linie eine Abwehr gegen die sich verschärfende Krise der Autokratie dar. Behält man im Blick, daß die sich in den Jahren 1880 und 1881 abzeichnende Bereitschaft Alexander III. zu einer fortschreitenden Liberalisierung nicht zuletzt die Entschlossenheit ausdrückte, eher durch „konstitutionelle" Zugeständnisse die wirtschaftlichen und finanziellen K r ä f t e des Landes zu mobilisieren, als um den Preis eines inneren und äußeren Macht- bzw. Prestigeverlustes die Militärausgaben drastisch zu kürzen, dann 14

Müller-Link

209

schien der Verzicht auf Liberalisierung es geradezu unvermeidlich zu machen, daß im Bereich der Militärpolitik doch noch die Konsequenzen aus der wirtschaftlichen und finanziellen Zwangslage gezogen wurden. Denn die Abwehr gegen die Folgen des sozialökonomischen Wandels, die zugunsten des kurzfristigen Ziels, die unbeschränkte Autokratie zu erhalten, auf die langfristig notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Reformen verzichtete, stellte die wirtschaftliche Existenz eines großen Teils der steuerzahlenden bäuerlichen Bevölkerung und damit die Möglichkeit, die ordentlichen Einnahmen auf der bisherigen H ö h e zu halten - geschweige denn zu steigern - überhaupt in Frage. Die industrielle Depression und die Entwicklung auf den europäischen Agrarmärkten mußten die finanziellen Zwänge noch erheblich verschärfen 1 . Die Voraussetzung für eine Kürzung der Militärausgaben war auch insofern günstig, als die innere Repression einen erweiterten Spielraum schuf, um ohne unmittelbare Gefährdung der Autokratie eine Periode außenpolitischer Lähmung in Kauf zu nehmen. Es war also keineswegs zufällig, wenn der neue Zar sofort nach seinem Regierungsantritt rigorose Sparmaßnahmen bei den ordentlichen und außerordentlichen Ausgaben forderte und davon den Militäretat nicht ausschloß. Wie die anderen Ressorts mußte der neue Kriegsminister Vannovskij „sparen", indem er 20 000 Mann weniger als im Vorjahr aushob und die Ausgaben der Militärverwaltung senkte 2 . In den folgenden Jahren tauchten zwar prompt wieder Mehrforderungen des Kriegs- und Marineministeriums auf. Aber dabei bestätigte sich nur, daß es Alexander III. im Unterschied zu seinem Vorgänger mit der Forderung nach Verringerung der Staatsausgaben ernst war. Im Vergleich zu den Jahren 1881 und 1882 wies der Etat des Kriegsministeriums 1883 und 1884 in den ordentlichen Ausgaben nur geringfügige Steigerungen auf. Gegenüber dem Höchststand von 1880 in H ö h e von 229 Mio. Rubel ging er bis 1884 sogar auf 201 Mio. Rubel zurück 3 . Mit Sparmaßnahmen allein ließ sich freilich keine Besserung der Finanzlage mehr erzielen. Denn es ging um die Bewältigung finanzpolitischer Probleme, von denen nicht zuletzt das Schicksal der Autokratie abhing. Die erste große finanzpolitische Aufgabe bestand darin, unter den Bedingungen einer strukturellen Agrarkrise und einer industriellen Depression eine kontinuierliche Steigerung der ordentlichen Einnahmen zu sichern und die Abhängigkeit der Einnahmeentwicklung von den Ernteschwankungen zu vermindern. Außerdem mußte trotz Wirtschafts- und Finanzkrise das Vertrauen in den Staatskredit aufrecht erhalten und ein weiteres Absinken des Rubelkurses verhindert werden. Schließlich war es unerläßlich, den Zwang zur Neuverschuldung abzubauen und eine ähnlich drastische Zunahme der Staatsschuld wie in den vergangenen Jahren zu verhindern. Als Alexander III. im Frühjahr 1882 Bunge zum Nachfolger Abazas ernannte, ging er davon aus, daß ein anerkannter professoraler Finanzfachmann „ein Schwächling ohne Rückhalt in der Finanzwelt, der Presse und der Gesellschaft" - noch am ehesten zur Bewältigung dieser Probleme in der Lage war 4 . Wenn Bunge auch zunächst davon ausgehen konnte, unter dem Druck einer so210

zialökonomischen Krise die Priorität finanzpolitischer Zielsetzungen mit Unterstützung des Zaren gegenüber Interessengruppen behaupten zu können, so gab er sich doch keinen Illusionen darüber hin, daß seine Finanzpolitik nicht kurzfristig angelegt sein konnte und die Priorität langfristiger finanzpolitischer Zielsetzungen mit den unmittelbaren Erfordernissen einer antizyklischen Wirtschafts- und Finanzpolitik in Übereinstimmung gebracht werden mußte. Sowohl die unmittelbaren Probleme der Bungeschen Steuerreform und Anleihepolitik als auch die langfristig konzipierte Vorbereitung einer Währungsreform wurden von dieser Problematik beherrscht: 1. Die Steuerreform: Um die „zwar nicht erschöpften, wohl aber einstweilig geschwächten Finanzkräfte des Landes" zu stärken 5 , verzichtete Bunge in realistischer Einschätzung der verhängnisvollen Folgen, die die hohe Belastung der bäuerlichen Bevölkerung mit direkten Steuern gehabt hatte, nicht nur auf eine Zwangseintreibung der hohen Steuerrückstände, sondern bemühte sich auch um den Abbau der direkten Steuern. Noch 1881 wurden die Ablösungszahlungen der Gutsbauern ermäßigt und die Salzsteuer aufgehoben. Gegen erhebliche Widerstände konnte Bunge zwischen 1882 und 1885 auch die schrittweise Aufhebung der Kopfsteuer durchsetzen. Als Ausgleich f ü r die Einnahmeverluste wurden die Getränkesteuer, die Tabak- und die Zuckerakzise erhöht 8 . In finanzieller und psychologischer Hinsicht erwies sich die Steuerreform Bunges als der noch einzig gangbare Weg, um die Steuerkraft der bäuerlichen Bevölkerung noch stärker auszubeuten und dennoch eine einigermaßen regelmäßige Einnahmeentwicklung zu sichern. Zwischen 1881 und 1885 nahm die Steuerquote um 2,4% zu, womit sie allerdings nach der Überzeugung Bunges eine nicht mehr zu überschreitende Grenze erreicht hatte 7 . Im Vergleich zu den indirekten Steuern konnten die Zölle nicht mehr als eine Quelle zur Vermehrung der Staatseinnahmen genutzt werden, nachdem sie mit 15,2% der gesamten Einnahmen des Jahres 1880 ihren bisherigen Höchststand erreicht hatten. Jede weitere Erhöhung der Zölle schloß für eine primär an der Steigerung der Einnahmen interessierte Finanzpolitik das Risiko rückläufiger Importe und damit verminderter Zollerträge ein. Daher bewegte sich die Zollpolitik während der Amtszeit Bunges in ständigem Konflikt zwischen dem Interesse der Finanzwirtschaft und den angesichts der industriellen Depression nur schwer abweisbaren protektionistischen Forderungen der Industrie. Die Zollerhöhungen von 1881, 1882 und 1884 stellten einen Kompromiß zwischen diesen Interessen und den freihändlerischen Interessen der Großgrundbesitzer dar. Während einerseits die Importe auf landwirtschaftliche Maschinen und Geräte zollfrei blieben und die protektionistischen Interessen der Industrie teilweise befriedigt wurden, blieben die Zolleinnahmen ihrem absoluten Betrag nach zwischen 1880 und 1885 nahezu konstant. Ihr Anteil an den gesamten Staatseinnahmen verringerte sich auf 13,6% 8 . 2. die Anleihepolitik: Bis zum Regierungsantritt Alexander III. hatte sich die Staatsschuld in einem solchen Maße vermehrt, daß die laufenden Zins- und Amortisationszahlungen in Verbindung mit den laufenden Verpflichtungen ge14*

211

genüber den Eisenbahngesellschaften die Aufnahme neuer Anleihen zwingend machten. Wenige Monate nach dem Regierungsantritt Alexander III. wies Bleichröder auf die Gefahr dieses Kreislaufes hin. „Die finanzielle Lage Rußlands ist kaum eine günstige", schrieb er im August 1881 und fügte hinzu, „daß wenn nicht dauernd gute Ernten kommen, und wenn nicht Europa die notwendigen Anleihen aufnimmt, das Zarenreich nicht in der Lage wäre, seinen Zinsverpflichtungen nachzukommen". Die Regierung, die erst im Mai die Emission 4%iger Schatzscheine bekanntgegeben habe, werde bereits im Herbst wieder eine „größere Anleihe von 150 bis 200 Mio. Rbl. machen müssen, teils um ihren inneren Verpflichtungen . . . nachzukommen, teils um Vorschüsse f ü r die Eisenbahnen zu gewähren" 9 . Ähnlich beurteilte Bunge bei seinem Amtsantritt die Lage: Da Rußland jedes Jahr borgen müsse, um die Zinsen der alten Anleihen bezahlen zu können, so müsse der Augenblick kommen, „wo es nichts mehr geliehen erhält" 10 . Dieses weder durch eine restriktive Ausgabepolitik noch durch die Steuerreform aufzulösende Dilemma wurde noch durch den Zwang verschärft, auf dem Anleihewege die Geldmittel für eine antizyklische Wirtschaftspolitik aufbringen zu müssen. Denn da die Erfahrungen der Vergangenheit davor immunisierten, vorwiegend über die Geldpolitik den Konjunkturverlauf zu steuern, konnten nur vermehrte Staatsaufträge für die Industrie und die Stimulierung des Eisenbahnbaus eine weitere Verschärfung der industriellen Depression verhindern". Die finanzpolitische Aufgabe Bunges bestand dann darin, gegenüber zu weitgehenden Forderungen von Interessengruppen auf der Notwendigkeit einer restriktiven Anleihepolitik zu bestehen. Kam es in dieser Hinsicht den Bungeschen Intentionen entgegen, daß auf dem inneren Kapitalmarkt nur schwer neue Anleihen untergebracht werden konnten, so brachten auf der anderen Seite die Schwierigkeiten, neue Anleihen auf den europäischen Kapitalmärkten zu piazieren, die Finanzverwaltung in eine ausweglose Lage. Diese Entwicklung zeichnete sich im Oktober 1881 ab, als sie sich zur Emission 5%iger Schatzscheine gezwungen sah, um die ein halbes Jahr zuvor emittierten und auf dem inneren Kapitalmarkt nicht zu realisierenden 4% igen Schatzscheine einlösen zu können. Dabei bestand für die höher verzinslichen Schatzscheine kaum eine Chance, vom inneren Kapitalmarkt aufgenommen zu werden. D a andererseits der Londoner Kapitalmarkt weiterhin von der Rothschildgruppe und der englischen Regierung f ü r russische Anleihen blockiert wurde, konnte die Finanzverwaltung nur noch „auf Paris und ganz besonders Berlin f ü r die Unterbringung der Anleihe" rechnen 12 . Aber Anfang Februar 1882 führte nichts mehr an der Tatsache vorbei, daß dieser Anleiheversuch gescheitert war. Während sich an den europäischen Börsen der Druck auf den Rubelkurs verstärkte und sich herausstellte, „daß in England kein Geld zu bekommen" war und auch deutsche Banken „wenig geneigt" waren, „neue russische Papiere aufzunehmen", machte die französische Rothschildgruppe ihre Bereitschaft zur Plazierung der Anleihe davon abhängig, daß die zaristische Regierung die antisemitischen Ausschreitungen unterband 1 3 . Anfang April hielt Schweinitz es f ü r unumgänglich, daß die zaristische Regierung dem 212

Druck der Rothschildgruppe nachgab; denn selbst Innenminister Ignat'ev, dem Initiator der „vexatorischen" Maßregeln gegen die Juden, könne es nicht gleichgültig sein, „daß er die Geldmächte hierdurch feindlich" stimme, zumal er „die Notwendigkeit einer Anleihe für nicht ferne Z u k u n f t " begriffen habe 14 . Der Druck auf die zaristische Regierung nahm zu, als jetzt auch das Londoner Haus Rothschild erklärte: „Da die Verfolgung der Juden in Rußland fortdauert, so werden wir in keinerlei Geschäfte mit Letzterem eintreten." 15 Der Finanzdruck war so stark, daß Bunge Anfang Mai in einer Sondersitzung des Ministerrates die finanziellen Konsequenzen der Judenverfolgungen zur Sprache brachte und die „Moskauer Zeitung" sich gegen die Judenpogrome wandte. Kurz darauf war nicht nur Ignat'ev als Innenminister entlassen, sondern der Zar war durch die gleichzeitige Ernennung von Giers zum Außenminister bestrebt, die Plazierung der Anleihe doch noch auf dem deutschen Kapitalmarkt zu ermöglichen 16 . Zwar wurde durch diese Kapitulation kein unmittelbarer Durchbruch zugunsten einer neuen Anleihe erzielt. Aber die Solidarität jüdischer Bankhäuser ging nach der Entlassung Ignat'evs nicht mehr so weit, sich dem Boykott der Rothschildgruppe anzuschließen. Während Bleichröder sich dem Boykott anschloß, stieg das jüdische Bankhaus H a n t r o (London) in Verhandlungen über eine Eisenbahnanleihe in H ö h e von 120 Mio. frs ein, und im Oktober 1882 führte der frühere Botschafter in London, Suvalov, Verhandlungen über eine Anleihe in H ö h e von 8 Mio. P f d . St., nachdem er bei Rothschild wiederum wegen der Judenverfolgungen abgewiesen worden war 17 . Um die Verhandlungsposition bei diesen Anleiheverhandlungen zu stärken, bestritt Bunge unter Hinweis auf die Steuerreform und die zu erwartenden Steigerungen der Zolleinnahmen im Budgetanschlag f ü r 1883 demonstrativ, daß eine größere Anleihe dringend erforderlich sei. Der größte Teil der außerordentlichen Ausgaben sollte durch ordentliche Einnahmen aus der Steuerreform und nur ein kleiner Rest durch „Kreditoperationen" gedeckt werden 18 . Aber damit hatte Bunge den Einfluß der Rothschildgruppe auf den europäischen Kapitalmärkten unterschätzt. Noch während der Verhandlungen Suvalovs setzte in der englischen Finanzpresse, vor allem in der „Times", eine Kampagne ein, die mit düsteren Schilderungen der wirtschaftlichen und finanziellen Lage Rußlands eine tiefe Verstimmung an der Londoner und Berliner Börse auslöste 19 . Es half nichts, daß die „Berliner Börsen-Zeitung" die düsteren Schilderungen der russischen Wirtschafts- und Finanzlage als unbegründet zurückwies und darauf insistierte, daß zu einem Mißtrauen in den russischen Staatskredit kein Anlaß bestehe, solange die friedliche Richtung der russischen Außenpolitik andauere. Parallel zu der Pressekampagne begann die Rothschildgruppe, in auffallender Weise russische Papiere in großen Mengen zu verkaufen, mit der Folge eines starken Kursrückgangs bei russischen Wertpapieren an den europäischen Börsen und einem Rückgang der russischen Valuta auf die niedrigsten Kriegskurse. Mehr noch: Die Überschwemmung der europäischen Börsen, vor allem der Londoner und Berliner Börse, führte zu einem starken Rückfluß russischer Wertpapiere nach Rußland, sie drückte die Kurse sämtlicher Bankaktien 2 0 . Der 213

permanente Druck auf den Rubelkurs, eine Einnahmeentwicklung, die hinter den Erwartungen zurückblieb und schließlich die dringlich gewordene Steigerung der Ausgaben für „ p r o d u k t i v e " Zwecke machten allen früheren Beteuerungen Bunges zum Trotz die Aufnahme einer auswärtigen Anleihe unumgänglich. Im September 1883 schätzte seine Regierung die Chancen für die beabsichtigte Anleihe von vornherein so gering ein, daß sie den Termin für die Plazierung im Ausland russischen Bankhäusern überlassen mußte 21 . In Verhandlungen zwischen russischen und ausländischen Bankiers in Petersburg A n f a n g Oktober 1883 konnten nur so ungünstige Konditionen vereinbart werden, daß die Regierung ihre Zustimmung verweigerte 2 2 . D a m i t war ihre Finanzpolitik in einer nahezu ausweglosen Situation. In London erklärte Baron Alfred Rothschild A n f a n g November gegenüber Herbert Bismarck, daß eine neue russische Anleihe „nur in Rußland selbst aufgelegt werden könne: an keinem anderen europäischen Geldmarkt und ebensowenig in Amerika würde es gelingen, eine russische Anleihe zu piazieren". Bei Anleiheverhandlungen würden die Russen sehr schnell feststellen, „ d a ß ihnen nicht mehr als 7 5 % geboten würden und auf so erniedrigende Bedingungen würden sie nicht eingehen", und im übrigen sei es für Rothschild eine „ A n s t a n d s f r a g e " , mit den Russen, die die Juden so schmählich behandelten, Geschäfte zu machen 2 3 . T r o t z dieser ungünstigen Aussichten kam die russische Finanzverwaltung nicht mehr daran vorbei, so schnell wie möglich eine Anleihe aufzunehmen. „ D a die Notwendigkeit einer Anleihe vorliegt und der Versuch, eine solche im Auslande zustande zu bringen, nicht geglückt ist, so hat die hiesige Regierung die Emission einer 6 % i g e n Goldrente im Betrag von 50 Mio. Rbl. G o l d v e r f ü g t " , berichtete Plessen am 2. Dezember 1883 aus Petersburg 2 4 . Bereits einen T a g darauf wurde die Anleihe an der Berliner Börse zur Zeichnung aufgelegt, denn bereits vor Bekanntgabe hatte sich das „Geheime Finanz-Comité" über die Bedingungen der Anleihe mit dem Berliner Bankhaus Mendelssohn verständigt 2 5 . U m von vornherein der erwarteten K a m p a g n e der Rothschildgruppe zu begegnen, wurde der Zweck dieser Anleihe öffentlich auf die Einziehung von 50 Mio. Rubel Kredit und verschiedene Ausgaben für den Eisenbahnbau festgelegt, was natürlich nicht ausschloß, daß sie dann doch zur Deckung des Defizits oder sogar ausschließlich für militärische Zwecke verwandt würde 2 6 . Erwartungsgemäß entspann sich in der internationalen Börsenpresse eine heftige Auseinandersetzung um diese Anleihe. Während der Rubelkurs an der Berliner Börse einen neuen J a h restiefstand erreichte und Bleichröder auf einer Linie mit der englischen Presse durch düstere Berichte über die russische Finanzlage im „Berliner Börsen-Telegraph" (3. Dezember 1883) und im „Berliner T a g e b l a t t " (4. Dezember 1883) die Emission zu blockieren versuchte, animierte die „Berliner Börsen-Zeitung" (4. Dezember 1883) zur Zeichnung: „Eine 6 % i g e Verzinsung in G o l d wird allen Kapitalisten sehr viel mehr wünschenswert erscheinen, als die Verzinsung, wie sie die älteren russischen Anleihen bieten." 2 7 A u f g r u n d der hohen Rendite gelang es dem Bankhaus Mendelssohn mühelos, den Anleiheboykott der Rothschildgruppe und Bleichröders zu durchbrechen. Am 4. Dezember 1883 meldete 214

die „Berliner Börsen-Zeitung", daß nicht nur der Verkauf der 6%igen Goldrente bei steigendem Kurs von 97,7 auf 98,7 ein „ganz außergewöhnlicher" gewesen sei, sondern daß sich mit der allergrößten Leichtigkeit „der zehnfache Betrag des f ü r Berlin reservierten Anteils der Anleihe hätte absetzen lassen" 28 . Trotz dieses Anleiheerfolgs konnte die russische Finanzverwaltung den fortdauernden Anleiheboykott der Rothschildgruppe und Bleichröders nicht ignorieren. Denn der Ertrag der neuen Anleihe reichte bei weitem nicht aus, um auch nur kurzfristig den Finanzbedarf zu befriedigen. 3. Die Währungsreform: Angesichts der begrenzten Möglichkeiten, die ordentlichen Einnahmen kontinuierlich zu steigern, angesichts eines anhaltenden Drucks auf den Rubel und schließlich aufgrund von Schwierigkeiten, Anleihen auf dem europäischen Kapitalmarkt zu piazieren, ging Bunge davon aus, daß es vor allem vom Erfolg einer langfristig konzipierten Währungspolitik abhängen würde, ob die Lage der Finanzwirtschaft durchgreifend verbessert werden könne. „Unter Verzicht auf Augenblickserfolge entwarf Bunge das Programm einer Valutareform auf dem Boden allmählicher finanzpolitischer Gesundung." 2 * Zu Beginn der 80er Jahre war freilich nicht absehbar, wie man dem langfristig verfolgten Ziel, die Metalldeckung des Papierrubels auf Goldbasis herzustellen, auch nur einen Schritt näher kommen konnte. Erstens war die Verringerung der umlaufenden Kreditbilletts um 50 Mio. Rubel jährlich unter den gegebenen Bedingungen zwar ein unerläßlicher und wichtiger Schritt auf dem Wege zur Währungsreform 3 0 , aber die durchweg negative Zahlungsbilanz 31 warf immer wieder die Alternative auf, entweder die Metallzahlungen an die Reichsbarik einzustellen und die Einziehung der Kreditbilletts zu sistieren oder die nötigen Mittel auf den europäischen Kapitalmärkten zu beschaffen. Selbst der erste bescheidene Schritt zur Währungsreform setzte also eine wachsende Abhängigkeit der Finanzwirtschaft von außen voraus. Zweitens sah sich Bunge ständig mit dem Problem konfrontiert, daß seine Bemühungen, möglichst günstige Voraussetzungen für die Einführung der Goldwährung zu schaffen, sowohl mit den agrarischen als auch mit den industriellen Interessen kollidierten: Denn eine zahlungsbilanztechnisch und währungspolitisch erwünschte Stabilisierung des Rubelkurses auf hohem Niveau stand im Widerspruch zu den protektionistischen Interessen der Industrie einerseits und den Exportinteressen der Großgrundbesitzer andererseits. Hinzu kam, daß der Großgrundbesitz aufgrund der hohen hypothekarischen Verschuldung äußerst empfindlich auf eine steigende Zinsbelastung als Folge hoher Wechselkurse reagierte. U m den Preis, daß die Bewältigung der währungspolitischen Aufgaben hinausgezögert wurde, blieb Bunge daher von vornherein keine Wahl, als der internationalen Rubelspekulation tatenlos zuzusehen 32 . Drittens wurde der Versuch, durch eine Währungsreform die Lage der Finanzwirtschaft durchgreifend zu verbessern, durch die hochgradige Abhängigkeit des Staatskredits von den europäischen Kapitalmärkten erschwert. Wenn die Tatsache dieser Abhängigkeit selbst zumindest in naher Z u k u n f t nicht zu ändern war, so wäre eine dem auswärtigen Staatskredit günstige Lage auf den europäischen Kapitalmärkten 215

doch eine Mindestvoraussetzung gewesen, um die Währungsreform in Angriff zu nehmen und somit langfristig die Abhängigkeit der Finanzwirtschaft von außen zu lösen. Statt dessen reduzierte der Anleiheboykott der Rothschildgruppe die Erfolgschancen der währungspolitischen Ziele Bunges von vornherein auf ein Minimum. Die indirekten Auswirkungen des Anleiheboykotts fielen dabei nicht weniger ins Gewicht als die direkten. Denn nicht nur die Möglichkeit, notfalls durch Kreditaufnahme die Einziehung von Kreditbilletts fortzusetzen, wurde in Frage gestellt, sondern der anhaltende Druck auf den Rubelkurs, die Handels- und Zahlungsbilanz und schließlich auf den Staatshaushalt verschärfte den Anleihezwang in einem solchen Maße, daß es nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, wann den politischen Forderungen der Rothschildgruppe auf der ganzen Linie nachgegeben werden mußte. Dank der Rolle deutscher Banken bei der Emission der 6%igen Goldrente von 1883 konnte Bunge immerhin vermeiden, daß die Einziehung der Kreditbilletts sistiert werden mußte. Dennoch waren die Folgen des anhaltenden Drucks auf den auswärtigen Kredit und den Rubelkurs alarmierend. Der Budgetvoranschlag für 1884 ließ keinen Zweifel mehr daran, daß „das Budget nur durch eine neue Anleihe realisiert werden konnte". Alarmierend war vor allem, daß die Zahlungen f ü r das Kreditwesen während der ersten Jahre der Amtszeit Bunges unaufhaltsam stiegen. Im Voranschlag für 1885 lagen sie mit 260 Mio. Rubel bereits über dem Etat des Kriegsministeriums mit 236,04 Mio. Rubel. Zusammen mit den Militärausgaben machten sie damit 57% der Staatsausgaben aus33. D a ß durch den Anleiheboykott der Rothschildgruppe die Bedeutung des englischen Kapitalmarktes f ü r den russischen Staatskredit zugunsten des deutschen Kapitalmarktes abnahm, eröffnete der russischen Finanzverwaltung zunächst noch keinen Ausweg. Der deutsche Kapitalmarkt nahm zwar einen großen Teil der abgestoßenen Staatsanleihen auf, aber das Engagement deutscher Banken zugunsten des russischen Staatskredits reichte bei weitem nicht aus, um den Druck auf den auswärtigen Staatskredit und den Rubelkurs aufzuheben. Im Gegenteil nutzten deutsche Banken die wachsende Bedeutung der Berliner Effektenbörse für den russischen Staatskredit sowie die Tatsache, daß sich die Berliner Devisenbörse seit dem Ende der 7Oer Jahre zum H a u p t m a r k t f ü r den Devisenhandel in Rubeln entwickelte, zu umfangreichen Rubelspekulationen 34 . Die Tatsache, daß die Finanzverwaltung am Jahresende 1883 in eine Sackgasse geraten war, die grundsätzliche Entscheidungen mit weitreichenden innen- und außenpolitischen Konsequenzen über die zukünftige Finanz- und Währungspolitik unvermeidlich machte, mußte zwangsläufig die innenpolitische Diskussion über den von Bunge verfolgten Kurs entfachen. Die Stellung Bunges war dabei schon insofern nicht günstig, als die Finanzverwaltung in den ersten Jahren seiner Amtszeit einen nur unzureichenden Beitrag leisten konnte, um das System der sozialen Reaktion auch in finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht zu stützen. Je länger die industrielle Depression andauerte und sich die wirtschaftliche Lage der Gutsbesitzer unter den Auswirkungen der Agrarkrise verschlechterte 35 , um so mehr mußten die finanz- und wäh216

rungspolitischen Zielvorstellungen Bunges in den Augen der einflußreichsten Gruppen diskreditiert werden. Denn eine restriktive Geld- und Ausgabepolitik erwies sich zunehmend als unvereinbar mit den dringlicher werdenden Forderungen der hochverschuldeten Großgrundbesitzer nach kreditpolitischen Erleichterungen, während auf der anderen Seite die Industrie zunehmend heftiger gegen eine primär an finanz- und währungspolitischen Zielvorstellungen orientierte Finanz- und Wirtschaftspolitik opponierte. D a s Dilemma Bunges war es, daß er zugunsten langfristiger finanz- und währungspolitischer Zielvorstellungen auf kurzfristige Erfolge verzichtete, die seine Position gegenüber dem wachsenden Druck von Interessengruppen gestärkt hätten. Vor allem blieb es ein unverzichtbarer Bestandteil der Bungeschen Konzeption, daß ebenso wie die anderen Etats auch der Militäretat den Zwängen einer restriktiven Ausgabepolitik unterworfen blieb. D i e Diskussion um dieses Problem hatte seit den Forderungen A b a z a s nach K ü r z u n g der Militärausgaben nichts von ihrer A k tualität eingebüßt; sie mußte im Gegenteil verschärft werden, als im Verlaufe des Jahres 1883 durch wechselseitige militärpolitische Maßnahmen die Beziehungen zwischen Rußland und den Zweibundmächten auf einen kritischen Punkt zusteuerten, sich aber gleichzeitig die Finanzverwaltung nicht in der L a g e sah, die finanziellen Mehrforderungen der Militärverwaltung zu befriedigen 36 . Darüber hinaus war der von Bunge verfolgte Ausweg aus der Sackgasse: den Anleiheboykott der Rothschildgruppe zu durchbrechen und die deutschen Banken zu einem verstärkten Engagement zugunsten des russischen Staatskredits zu bewegen, alles andere als populär. Ein E r f o l g in dieser Richtung setzte politische Konzessionen, den Abbau der deutsch-russischen Spannungen, die prinzipielle Bereitschaft zu einer Verständigungspolitik mit den Zweibundmächten und schließlich die Zurückstellung von politischen Bedenken gegen eine zunehmend einseitigere finanzielle Abhängigkeit v o m deutschen K a p i t a l m a r k t voraus. Aber gerade an diesem Problem hatten sich schon am Ende der 1880er J a h r e antideutsche Ressentiments entzündet. Bei einer allgemeinen „Tendenz, für eigene Leiden eine Erklärung und Entschuldigung in feindseligen Absichten des Auslandes zu suchen", stieß der deutsche Geschäftsträger in Petersburg schon damals in der Presse und in der Petersburger Gesellschaft auf die Überzeugung, „ d a ß das Fallen der russischen Werte und des Rubelkurses nicht nur der Spekulation einzelner Berliner Bankhäuser, nein, selbst einer auf die Schwächung Rußlands gerichteten Einwirkung der deutschen Regierung zugeschrieben werden müsse" 3 7 . D a ß Alexander I I I . dennoch die Finanzpolitik Bunges weiterhin unterstützte, machte letztlich nur deutlich, daß es zu ihr keine Alternative gab und daß sie gegenüber Staatsbankrott, wirtschaftlicher Stagnation und drastischer K ü r z u n g des Militäretats immer noch als das geringere Übel angesehen wurde. Grundsätzlich konnte es nur um die Frage gehen, wie weitgehend politische Konzessionen sein mußten, um neue Anleihen auf den europäischen K a p i t a l m ä r k t e n piazieren zu können. U m die Jahreswende 1883/84 zeichnete sich dabei ab, daß die zaristische Regierung erstens durch 217

eine noch stärkere Kontrolle der Finanzwirtschaft den Konzessionszwang zu vermindern suchte, und daß sie zweitens eher noch zu Konzessionen gegenüber der Rothschildgruppe bereit war, als gegenüber den Zweibundmächten das Gesicht zu verlieren und eine einseitige Abhängigkeit vom deutschen Kapitalmarkt in Kauf zu nehmen 38 . 5.1.2

Preußen-Deutschland,

5.1.2.1 Aktionsfelder agrarischer Interessenpolitik politik, Bimetallismus

1879-1884:

Zoll- und

Steuer-

Obgleich führende agrarische Interessenvertreter die Finanz- und Zolltarifreform von 1879 als Erfolg verbuchten 1 , waren sie doch weit davon entfernt, sich mit dem Erreichten zufrieden zu geben. Den Kernpunkt agrarischer Unzufriedenheit und weitergehender Forderungen bildete die Tatsache, daß der Zolltarif von 1879 das Ergebnis eines doppelten Kompromisses w a r : einerseits zwischen den industriellen und agrarischen Interessenorganisationen, die sich auf der zollpolitischen Ebene auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt hatten. In finanzpolitischer Hinsicht war der Tarif von 1879 andererseits nur ein erster Schritt auf dem Wege zu einer „konservativen Steuerreform", durch die drei Ziele gleichzeitig erreicht werden sollten: nämlich die laufenden Einnahmen des Reiches erheblich zu steigern, die Haushalte der Bundesstaaten von den Matrikularbeiträgen zu befreien und schließlich die steuerpolitischen Forderungen der agrarischen Interessengruppen zu erfüllen. Die agrarische Kritik an dem zollpolitischen Kompromißcharakter der „Reform" von 1879 hatte ihre Ursache sowohl in den „Lücken" des neuen Zolltarifs als auch in dem Gefühl, von der Industrie, die einen „höheren Schutz" durchgesetzt hatte, übervorteilt worden zu sein2. Je deutlicher die finanziellen Auswirkungen der Reform von 1879 hervortraten, um so mehr verstärkte sich die agrarische Kritik auch an ihrem finanzpolitischen Kompromißcharakter. Im Februar 1880 f a n d Dürckheim auf dem „Kongress" noch breite Zustimmung mit seiner Feststellung, „daß infolge der Einführung der indirekten Steuern die sonst unausbleibliche Erhöhung der direkten Steuern" abgewehrt worden sei. Ein Jahr darauf hob Mirbach noch lobend den „finanziellen E f f e k t " des Zolltarifs von 1879 hervor, „der möglich gemacht hat, trotz sehr erheblicher Mehraufwendungen f ü r die Armee . . . das vorherige chronische Defizit des Reiches zu beseitigen und an eine Erleichterung von direkten Steuern in den Einzelstaaten heranzugehen" 3 . Zwei Jahre später hatte sich diese Einstellung grundlegend geändert. Denn jetzt setzte sich die Erkenntnis durch, daß die Reichsfinanzreform von 1879 ihre dreifache Zielsetzung und damit auch die in sie gesetzten agrarischen H o f f n u n g e n nicht würde erfüllen können. Während die gegenüber der zweiten H ä l f t e der 70er Jahre vergleichsweise günstige Lage der Reichsfinanzwirtschaft 4 keinen Zweifel zuließ, daß „die erhofften finanziellen Wirkungen des neuen Steuersystems für das Reich entschieden in vorteilhafter Weise zutage getreten" waren 5 , und 218

auch der in Ansätzen erkennbaren K r i t i k an den nicht ganz befriedigenden Resultaten der R e f o r m für die preußischen Staatsfinanzen mit den schnell steigenden „Überweisungen" der Boden entzogen wurde 6 , artikulierte sich eine zunehmend deutlicher hervortretende Kritik bei der Ü b e r p r ü f u n g des dritten Reformanspruchs: nämlich der „Beschaffung von Mitteln zur Verminderung des Druckes der direkten Steuern in den Staaten und in den K o m m u n e n " 7 . Wie der Landtagsabgeordnete Kropatschek schon 1882 vor den versammelten Agrariern der „Vereinigung" beklagte, hatten die „Überweisungen" im größten deutschen Bundesstaat eher „eine Art finanzieller Verwirrungen" als eine „wirklich dauernde Entlastung von direkten Steuern" herbeigeführt 8 . Die K r i t i k an der R e f o r m von 1879 wurde einmal von einer schutzzöllnerischen Grundstimmung genährt, die - bis auf eine Minderheit im D L R während der ersten H ä l f t e der 80er J a h r e sämtliche agrarische Interessenorganisationen beherrschte. Zum andern verbanden sich mit ihr weitergehende Forderungen wie „Reformen auf dem Gebiete des Erbrechts, des Kreditwesens, der direkten Besteuerung und des Münzwesens", deren Erfüllung die „Erhaltung des Grundbesitzes" sichern und ihn gegen Veränderungen auf dem europäischen A g r a r m a r k t widerstandsfähiger machen sollten 9 . In bezug auf die deutsch-russischen Beziehungen k a m den agrarprotektionistischen Ansprüchen an die Zollpolitik sowie den Forderungen nach einer Entlastung von den direkten Steuern und der Reform des Münzwesens eine besondere Bedeutung zu, weil die agrarischen Aktivitäten in dieser Richtung die teils latente, teils offene Furcht vor der russischen Konkurrenz artikulierten und aktivierten. Auf der Versammlung des D L R im J a n u a r 1881 täuschte sich der „Freihändler" Pogge-Roggow, wenn er Anzeichen einer sich verbreitenden Einsicht zu erkennen glaubte, „ d a ß durch Zollpolitik eine Abhilfe der landwirtschaftlichen Beschwerden nicht in dem Maße geschehen werde, wie man gehofft habe". Denn das hätte zumindest die Desillusionierung über den „ K e r n p u n k t der agrarischen Schwierigkeiten" vorausgesetzt, was nach der vorangegangenen heftigen zollpolitischen Agitation k a u m erwartet werden konnte 1 0 . Außerdem waren die Ursachen, die der schutzzöllnerischen Strömung in agrarischen Kreisen zum Durchbruch verholfen hatten und zu andauernden K l a g e n über die „wachsende N o t l a g e " Anlaß gaben, nach wie vor vorhanden. Zudem blieben - trotz der Getreidezölle - Befürchtungen wach, daß sich der Druck der ausländischen Konkurrenz in Z u k u n f t noch verstärken würde. Ebenso wie die preußischen Agrarier wurde selbst ein so prinzipieller Gegner agrarischer Schutzzölle wie der Publizist M a x Wirth von dem Alptraum beherrscht, die A g r a r p r o d u k t e der Vereinigten Staaten würden zukünftig „in solchen Massen und zu so niedrigen Preisen auf den heimischen M a r k t gebracht", daß die deutsche Landwirtschaft weder auf dem Binnenmarkt noch auf den außerdeutschen Märkten konkurrenzfähig sei. D i e Furcht vor der amerikanischen K o n kurrenz bezog sich sowohl auf den amerikanischen Getreideexport, darunter vor allem Weizen, als auch darauf, daß die amerikanische Ausfuhr in animalischen Produkten seit kurzem „ähnliche Dimensionen" wie die Getreideausfuhr 219

angenommen hatte 1 1 . Außer dem amerikanischen hielt auch der russische A g r a r export Konkurrenzängste wach, weil R u ß l a n d inzwischen zum

„bedeutend-

sten Roggenimporteur in Deutschland" aufgestiegen war und deshalb als „gefährlichster K o n k u r r e n t " der deutschen Roggenproduktion angesehen wurde. Dabei schien der russische Getreideexport ebenso wie der amerikanische angesichts der G r ö ß e der noch ungenutzten Getreideanbaugebiete und der im V e r gleich zu Preußen niedrigen Produktionskosten noch lange nicht seinen H ö h e punkt erreicht zu haben 1 2 . D i e Furcht vor den zukünftigen Konkurrenzverhältnissen auf dem europäischen A g r a r m a r k t , die durch das erdrückende Übergewicht der amerikanischen und russischen Agrarproduktion gekennzeichnet sein würde, relativierte im agrarischen Bewußtsein das ohnehin nicht allzu große Vertrauen in die preisbildende Funktion der niedrigen „Finanzzölle" von 1879 1 3 . D a diese nicht imstande zu sein schienen, in Zukunft „große Wertschwankungen . . . auf dem W e l t m a r k t ganz zu paralysieren", lag der Gedanke eines „sehr viel stärkeren Zollschutzes" nahe. W ä h r e n d in der liberalen Presse noch die Diskussion über eine mögliche Aufhebung der Getreidezölle andauerte, fand in den agrarischen Interessenorganisationen bereits der R u f : „höher mit den Getreidezöllen" lebhafte Resonanz. A m J a h r e s a n f a n g 1881 ließ Mirbach in seiner Funktion als Vorsitzender der „Vereinigung" keinen Zweifel an der Entschlossenheit des preußischen Großgrundbesitzes, sich „gegen A m e r i k a und gegen R u ß l a n d . . . durch hohe Zollschranken zu schützen", falls die K o n k u r r e n z dieser Länder „noch gefährlichere und größere Dimensionen" annehmen sollte. Zur gleichen Zeit fand Hammerstein-Loxten auf der Versammlung des D L R lebhafte Zustimmung, als er die „amerikanische Konkurrenz in Brotfrüchten und Fleisch als eine große G e f a h r für den Fortbestand der deutschen Getreideproduktion und Viehzucht beschwor und die Reichsregierung zu entschiedenen M a ß n a h men aufforderte, die „diese verheerenden Einwirkungen abzuwenden geeignet" seien 14 . Zu den „entschiedenen M a ß n a h m e n " gegen die amerikanische und russische K o n k u r r e n z gehörte auch die Forderung nach Einführung des Bimetallismus, wie sie von der neu einsetzenden währungspolitischen Agitation erhoben wurde. Den unmittelbaren Anstoß, agrarische Interessenpolitik auch auf währungspolitischem Gebiete zu verfolgen, gaben die mit der Einführung der G o l d w ä h rung verbundenen

Schwierigkeiten 1 5 .

Unter wissenschaftlicher

Assistenz

der

Professoren Wilhelm Lexis, Albert Schäffle und vor allem O t t o Arendts, einem „Publizisten

von

unverkennbarem

Agitationstalente",

gründete

eine

kleine

Gruppe von Agrariern unter Führung von Mirbach-Sorquitten und K a r d o f f W a b n i t z 1882 in Berlin den „Deutschen Verein für internationale D o p p e l w ä h rung" und bemühte sich erfolgreich, die Diskussion um eine bimetallistische R e f o r m des deutschen Währungssystems in die agrarischen Interessenvertretungen hineinzutragen 1 6 . Aus den währungspolitischen Debatten läßt sich nicht nur die eindeutige R o l l e einer kleinen agrarischen Pressure Group als M o t o r der bimetallistischen Bewegung entnehmen. Indem die bimetallistische Agita-

220

tion die Unfähigkeit der preußischen Landwirtschaft, sich den veränderten Konkurrenzverhältnissen auf dem europäischen Agrarmarkt anzupassen, agitatorisch überspielte, leitete sie kollektive Unzufriedenheit in der landwirtschaftlichen Bevölkerung auf die anhaltende Silberentwertung und vor allem auf den „großen Konkurrenten, den Russen" ab. Nach der Theorie der agrarischen Bimetallisten - nicht nur in Deutschland, sondern z. B. auch in den USA schädigte die Goldwährung die Landwirtschaft insofern, als durch die anhaltende Silberentwertung die Steigerung der Getreideexporte aus den Ländern mit Silberwährung wie Rußland und Indien begünstigt wurde. Nachträglich versuchte der Freiherr von Rothkirch-Schwarzenfeld mit dieser Theorie die Überschwemmung des europäischen Getreidemarktes mit russischem Getreide im Jahre 1878 zu erklären. Bei dem niedrigen Kurse des russischen Papierrubels in diesem Jahre sei es das „glänzendste Geschäft" gewesen, „geringwertige Rubel zu erwerben und dafür russisches Getreide zu kaufen". Im Februar 1883 mobilisierte auch Mirbach auf ähnliche Weise agrarische Konkurrenzängste gegenüber Rußland. Der „niedrige Stand der Papiervaluta unserer Nachbarländer, insbesondere Rußlands", sei für die deutsche Landwirtschaft „ein empfindlicher Nachteil". Sie könne „mit der infolge des Standes der dortigen Valuta so außerordentlich billig produzierenden dortigen Landwirtschaft nicht konkurrieren" und darüber hinaus würden die ohnehin schon „an sich viel zu niedrigen Grenzzölle durch den niedrigen Rubelkurs einfach eliminiert". Im gleichen Sinne wies Knauer-Gröbers auf den „schädlichen Einfluß" hin, den die russische Valuta auf die deutsche Landwirtschaft ausübe. Selbst die Möglichkeit, daß der Übergang zum Bimetallismus geeignet sein könnte, „Rußland und Österreich wieder zu geordneten Finanzverhältnissen" zu verhelfen, brachte noch die ausgeprägte antirussische Komponente der bimetallistischen Agitation zum Vorschein, wenn etwa Otto Arendt positive Auswirkungen einer deutschen Münzreform nur in bezug auf Österreich-Ungarn für wünschenswert hielt. Umgekehrt ließ sich die agrarische Rußlandfeindschaft auch von den Anhängern der Goldwährung mit dem Argument ausbeuten, ob denn Deutschland dazu da sei, „die Geldverhältnisse Rußlands zu ameliorieren", indem es durch den Übergang zur Doppelwährung die Steigerung der russischen Valuta ermöglichte 17 . Die hervorragende Rolle, die Rußland als Konkurrent der preußischen Landwirtschaft in der bimetallistischen Agitation einnahm, hatte ihre reale Grundlage darin, daß der Rubelkurs seit dem russisch-türkischen Krieg einen starken Rückgang aufwies, der sich in den folgenden Jahren fortsetzte 18 . Das bedeutete aber nicht, daß die agrarischen Initiatoren der währungspolitischen Diskussion auf den Bimetallismus als das Allheilmittel gegen die russische Konkurrenz fixiert gewesen wären. Dem stand schon entgegen, daß selbst bei den exponiertesten Verfechtern des Bimetallismus eine unverkennbare Unsicherheit über die Auswirkungen bestand, die eine so einschneidende Korrektur für die Landwirtschaft haben konnte 19 . Nach den Worten eines ihrer Führer hatte sich die bimetallistische Agitation die „Steigerung aller Preise" zum Ziele gesetzt 20 .

221

D a die innenpolitischen Voraussetzungen nach der Zolltarifreform von 1879 ungünstig waren, um dieses Ziel durch wirkliche „Schutzzölle" zu erreichen, kam es den agrarischen Bimetallisten darauf an, durch „agitatorische Bewegungen" das Bewußtsein von der „Notlage" der Landwirtschaft in der Öffentlichkeit wachzuhalten und den Boden für neue Zollerhöhungen vorzubereiten 21 . Schon 1881 ließ Mirbach im Reichstag durchblicken, daß die niedrigen Agrarzölle das eigentliche Objekt der agrarischen Kritik an der Goldwährung waren: „Behalten wir die Goldwährung, dann müssen wir die Getreidezölle vervielfältigen, erhalten wir den Bimetallismus, dann können wir sie entbehren." Ähnlich behandelte Rothkirch-Schwarzenfeld auf der Versammlung des D L R im Februar 1882 die Erhöhung der Getreidezölle als Alternative zur Doppelwährung. Und auf der Versammlung der „Vereinigung" im Februar 1883 erklärte Mirbach schließlich unverblümt, daß es gegen die durch den niedrigen Stand der Valuta begünstigte russische Konkurrenz nur „ein Mittel" gebe, nämlich „eine erhebliche Erhöhung der Zölle, besonders auf Holz, Getreide usw." 22 . Während die bimetallistische Agitation die Bedrohungsgefühle gegenüber der ausländischen und vor allem der russischen Konkurrenz auch in den Jahren des Preisanstiegs und eines zeitweiligen Rückgangs der russischen Agrarexporte wachhielt, war sie doch zu schwach, um der als Alternative zum Bimetallismus ins Auge gefaßten Erhöhung der deutschen Agrarzölle größere Resonanz zu verschaffen. Erst im Zusammenwirken mit den desillusionierenden Erfahrungen hinsichtlich der agrarischen Forderungen an die Steuer- und Finanzpolitik sowie dem 1883 wieder einsetzenden Preisrückgang wurden die Früchte der bimetallistischen Agitation wirksam. Wie schon in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre 2 3 nahm die Verminderung der direkten Steuerquote und die Beseitigung der Kommunalzuschläge zu den direkten Staatssteuern wieder ein großes Gewicht im agrarischen Forderungskatalog ein, und zwar um so mehr, als der Erfüllung agrarischer Forderungen auf steuerpolitischem Gebiete im Hinblick auf den andauernden - durch zoll- und währungspolitische Protektion allein nicht zu beseitigenden - Konkurrenzdruck eine kompensatorische Funktion beigemessen wurde. Doch auch in diesem Punkte befand sich die agrarische Interessenpolitik in einem Dilemma. Denn nachdem die preußischen Agrarier 1879 der Zolltarifreform nicht zuletzt deshalb zugestimmt hatten, weil sie in ihr eine Voraussetzung zur Erfüllung ihrer steuerpolitischen Forderungen sahen, verschlechterten sich nach 1879 zusehends die Bedingungen, die eine großzügige Befriedigung agrarischer Interessen auf steuerpolitischem Gebiete erlaubt hätten. Das entscheidende Hindernis bildete weniger die aktuelle Finanzlage des Reiches bzw. Preußens, als die Bismarcksche Politik der „Verwendungsgesetze", die auf der einen Seite wiederholten, wahltaktisch motivierten Steuererlassen bei den unteren Steuerklassen den Vorzug vor massiven Steuererleichterungen zugunsten der „Besitzenden" gab und andererseits auf die Parteien indirekten Druck auszuüben suchte, um ihre Unterstützung bei der Fortführung der Reichsfinanzreform zu gewinnen 24 . J e deutlicher sich abzeichnete, 222

daß die Bismarcksche Finanzpolitik in dieser doppelten Zielsetzung ihre Absicht verfehlte, um so mehr verdichtete sich die zunächst noch zurückhaltende agrarische Kritik an den finanziellen Resultaten der Reform von 1879. Am Jahresanfang 1882 formulierte Kropatschek die agrarische Kritik an den wahltaktischen Implikationen der „Verschwendungsgesetze": Anstatt die „Überweisungen" f ü r eine „organische Reform der direkten Steuern" zu verwenden, habe man sich mit „ziemlich unorganischen Steuererlassen" begnügt, „die von denjenigen, die sie treffen, verhältnismäßig wenig dankbar anerkannt werden und doch die spätere Reform des direkten Steuersystems nur erschweren" 25 . In dem Maße, in dem sich ein Scheitern der Bismarckschen Versuche, die Reichsfinanzreform fortzuführen, abzeichnete, bildeten die Verwendungsgesetze den Anlaß einer sich verstärkenden agrarischen Kritik an dem auch in den weiterführenden Bismarckschen Finanz- und Steuerreformplänen beibehaltenen Prinzip, die direkten Staatssteuern in Preußen zugunsten der indirekten Reichssteuern abzubauen. Damit drohten sich die agrarischen Interessenvertretungen in prinzipielle Befürworter und Gegner der Bismarckschen Finanz- und Steuerreformpläne aufzuspalten. Während exponierte Vertreter agrarischer Interessenpolitik ungeachtet der desillusionierenden Erfahrungen mit den bisherigen Ergebnissen der Reichsfinanzreform f ü r eine weitere Verfolgung des 1879 eingeschlagenen Weges plädierten, da nur so die agrarische Forderung nach Entlastung von der Doppelbesteuerung Aussicht auf Erfolg hätte, war ein anderer Teil eher geneigt, „den überwiegenden Teil der direkten Steuern zu konservieren, ja sogar dieselben nach oben zu verschärfen". Die Theorie, daß der Grundbesitz steuerlich auch dann entlastet werden könne, wenn die direkten Steuern als „Gerippe" des preußischen Steuersystems erhalten blieben, beruhte nach Ansicht der Befürworter der Bismarckschen Steuerreformpläne auf einer entscheidenden Fehlannahme. „Bei allen direkten Steuern wird der Grundbesitz stets der überbürdete Teil sein", warnte Mirbach, „weil seine Besitz- und Einkommensverhältnisse klar- und offen liegen", während der Grundbesitz an den indirekten Steuern „so wie jeder andere" partizipiere 29 . Die Überzeugungskraft dieser Argumentation reichte freilich nicht aus, um die agrarische Kritik an der Bismarckschen Finanz- und Steuerpolitik zu besänftigen. Denn diese wurde nicht nur durch die Politik der „Verwendungsgesetze", sondern zusätzlich noch von Befürchtungen genährt, daß die finanzpolitischen Reformen auch vor einer intensiveren Besteuerung der landwirtschaftlichen Nebengewerbe nicht halt machen würden. Zunächst war es die „drohende Gefahr einer Steuererhöhung f ü r die Spiritusfabrikation", durch die „die spiritusproduzierende Landwirtschaft in Schrecken gesetzt" wurde 27 . Besonders kompromißlos gegenüber evtl. Versuchen, in der Branntweinbesteuerung dem Reich eine ergiebige Einnahmequelle zu erschließen, zeigten sich kleinere und mittlere Brennereibesitzer, zu deren Sprecher sich der D L R machte 28 . In den Debatten über die Branntweinsteuerreform verliefen die Fronten auf dem „Kongreß" ähnlich wie im DLR. Diest-Daber weigerte sich entschieden, die Erhöhung der Einnahmen aus der Branntweinsteuer „als etwas unbedingt hin223

zunehmendes vorauszusetzen", wo es doch - so Kennemann-Klenka - nur darum gehen könne, „überhaupt eine Erhöhung der Branntweinsteuer von uns abzuwenden". Dagegen traten auch hier Agrarier auf, die sich gegenüber den Bismarckschen Steuerreformplänen kompromißbereit zeigten. So stellte Gontard-Mockau die Branntweinsteuerfrage in den Gesamtzusammenhang der Reichsfinanz- und Steuerreformversuche Bismarcks, der den Ausbau der indirekten Steuern doch „hauptsächlich" zu dem Zweck anstrebe, „die Landwirtschaft zu entlasten". Wenn so schon von daher die Unterstützung der Bismarckschen Reformpläne geboten sei, so müsse erst recht bei der Reform der Branntweinsteuer der Großgrundbesitz vorangehen, denn das Brennereigewerbe werde nun einmal hauptsächlich von Großgrundbesitzern betrieben und „wenn diese nicht vorangehen, so versteifen sich die anderen Stände erst recht gegen neue Belastungen". Gegen die Vertreter einer prinzipiellen Kompromißbereitschaft konnten sich die Gegner einer Reform der bestehenden Branntweinbesteuerung zwar nicht durchsetzen, doch gingen die Meinungsverschiedenheiten nicht so weit, daß darüber die Forderung nach maximaler Vertretung der wirtschaftlichen Interessen des Großgrundbesitzes vergessen worden wären. Bei prinzipieller Ablehnung der Fabriksteuer stimmte der Kongreß schließlich einer Konsumsteuer zu, freilich unter der Voraussetzung, daß als Kompensation d a f ü r dem deutschen Spiritus „der Weltmarkt durch geeignete Maßregeln mehr als bisher gesichert" werden müsse29. Damit machten die Agrarier deutlich, daß in jedem Falle eine einseitig an fiskalischen Interessen orientierte Reform der Branntweinbesteuerung bei ihnen auf entschiedenen Widerstand stoßen würde, während sie gleichzeitig die Unterstützung der Branntweinsteuerreform von dem Ausmaß abhängig machten, indem neben fiskalischen auch agrarische Interessen Berücksichtigung fanden. Wie in den Diskussionen zur Branntweinsteuerreform zeichnete sich auch während der Debatten über eine Reform der Zuckersteuer ab, daß nur eine durch agrarische Interessen auf Kosten der fiskalischen verzerrte Reform der Zuckersteuer die Zustimmung der agrarischen Interessenorganisationen finden würde. Seit Jahresbeginn 1883 hatten die Zuckerfabrikanten mit Mißtrauen die konsequenter vorangetriebenen Versuche der Finanzverwaltung registriert, im Zuge einer Reform der Zuckerbesteuerung den Mißstand zu beseitigen, daß durch das Mißverhältnis zwischen den stetig steigenden Ausfuhrvergütungen und stagnierenden Einnahmen aus der 1841 eingeführten Zuckerrübensteuer dem Reich jährlich Millionen Verluste entstanden. Selbst ein so voreingenommener Gutsbesitzer und Zuckerfabrikant wie Knauer-Gröbers wollte nicht bestreiten, daß bei Gesamteinnahmen des Reiches aus der Zuckerbesteuerung von netto 30 bis 40 Mio. Mark jährlich Mindereinnahmen von ca. 18 Mio. Mark dadurch entstanden, daß bei der Zuckerrübenbesteuerung die Melasse unbesteuert blieb, bei steigendem Zuckergehalt der Zuckerrüben der Anteil des unversteuerten Zuckers, für den auch noch Exportvergütungen gezahlt wurden, aber ständig zunahm. Angesichts dieser so offen zutage liegenden „Unzulänglichkeit" des bestehenden Steuersystems konnten sich die Zuckerfabrikanten kaum 224

noch der Forderung nach einer Reform der Zuckerbesteuerung entziehen. Die Rechtfertigung dafür, daß die nun einmal unvermeidlich gewordene Reform keine Verschlechterung gegenüber dem bestehenden Zustand bringen dürfte, lieferte den Zuckerfabrikanten der um die Mitte des Jahres 1884 einsetzende Rückgang der internationalen Zuckerpreise. D a die Krise so plötzlich über die Zuckerindustrie und die damit verbundene Landwirtschaft hereingebrochen sei, „daß weder die Regierung, noch die Zuckerfabrikanten, noch die Landwirte imstande" gewesen seien, „Vorbereitungen zu treffen", forderten die im N o vember 1884 in Magdeburg versammelten Zuckerfabrikanten in einer Petition an Bismarck generelle Steuerermäßigungen f ü r die Zuckerrübenindustrie. Auf den Versammlungen des D L R und der „Vereinigung" ging Knauer-Gröbers weit über diese Forderung hinaus, als er die Regierung dazu aufforderte, nicht nur die Exportvergütungen beizubehalten, sondern auch „die Rübenzuckersteuer gänzlich aufzuheben" und „die Fabriken steuerfrei arbeiten zu lassen" 30 . Im Vergleich zu der Kompromißbereitschaft, die sich in der Frage einer eventuellen Branntwein- und Zuckersteuerreform andeutete, wurde der agrarische Widerstand gegen die „Verwendungsgesetze" zunehmend kompromißloser. N a c h einer noch relativ zurückhaltenden Kritik an den Vorlagen von 1880 und 1882 bedeutete die Verwendungsvorlage vom März 1883 endgültig das Scheitern des Versuchs, „die preußische Steuerpolitik den Zielen der Reichsfinanzpolitik unterzuordnen" und auf die preußischen Parteien politischen und finanziellen Druck auszuüben. Eine überwiegende Mehrheit im Abgeordnetenhaus lehnte es ab, die direkten Steuern der unteren Einkommensklassen ohne entsprechende Konzessionen an die steuerpolitischen Forderungen der Agrarier zu beseitigen. In der Session 1883/84 verschärfte sich der Konflikt, als die Regierung einen Entwurf vorlegte, der nicht nur den weiteren Abbau der direkten Steuern f ü r die unteren Klassen vorsah, sondern zur Deckung der dadurch bedingten Steuerausfälle endlich ein Finanzreformprogramm f ü r Preußen enthielt, das freilich sofort Interessenkämpfe um die zukünftige Verteilung der Steuerquote auslöste. Die Mehrheit des Abgeordnetenhauses machte jetzt gemeinsame Front gegen den Wegfall der dritten und vierten Stufe der Klassensteuer, während sie sich andererseits in der Diskussion über die Änderung des Einschätzungsverfahrens bei der Grundsteuer, über die Heranziehung der Aktiengesellschaften zur Einkommensteuer und über eine progressive Kapitalverkehrssteuer heillos zerstritt 31 . Die Hartnäckigkeit, mit der agrarische Interessenorganisationen den Anspruch auf eine nachdrückliche Berücksichtigung ihrer Interessen bei der Fortführung der Reichsfinanzreform anmeldeten, stellte die exponiertesten Vertreter agrarischer Interessenpolitik vor ein ernsthaftes Dilemma: Auf der èinen Seite blockierten sie Finanzprojekte, die noch am ehesten dem Reich Aussicht auf erhebliche Mehreinnahmen eröffneten, während auf der anderen Seite die erhebliche Steigerung der Reichseinnahmen doch die Voraussetzung dafür war, daß die agrarischen Forderungen nach Beseitigung der Doppelbesteuerung, nach geringer Belastung bei der Reform der Branntweinsteuer sowie 15

Müller-Link

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nach Erhaltung der Zuckerexportprämie und der Beseitigung der Zuckerrübensteuer erfüllt werden konnte. Dieses Dilemma gab denjenigen Auftrieb, die die „ausgleichende Steuergerechtigkeit" um so nachdrücklicher für das mobile K a pital forderten. In den Debatten über die R e f o r m der Branntweinsteuer f a n d es Diest-Daber unerträglich, daß wieder einmal zuerst an die Erhöhung der Steuerlast der Landwirtschaft gedacht werde, während auf der Börse weiterhin „kolossale K a p i t a l i e n " unversteuert umgesetzt würden. Mit besonderem N a c h druck setzte sich vor allem Perrot für eine prozentuale Börsensteuer ein, weil die Börsenumsätze im Gegensatz zum hochbesteuerten G r u n d und Boden noch unbesteuert seien, und v o m „fiskalischen Gesichtspunkt" aus nicht übersehen werden könne, „ d a ß hier f ü r den Staat eine mehr oder minder bedeutende Einnahmequelle gewonnen werden konnte". Auerswald-Faulen erschien das „ H e r anziehen der Börsenleute zur Steuer" geradezu unvermeidlich, wenn man verhindern wollte, daß die bereits erlassenen unteren Stufen der preußischen Klassensteuer „wieder erhoben werden von den armen Leuten, damit die Herren an der Börse unbesteuert arbeiten können". Wenn auch die Börsensteuer im agrarischen K a m p f um „Steuergerechtigkeit" ein bevorzugtes Agitationsobjekt bildete, so übersah man doch nicht „eine große Menge anderer O b j e k t e " , wie die Quittungssteuer und vor allem das Tabakmonopol 3 2 . Es kann dahingestellt bleiben, wie hoch die Befürworter der Börsensteuer oder des T a b a k m o n o p o l s die Durchführungschancen dieser Steuerprojekte einschätzten. Gerade unter den am ehesten zu einem K o m p r o m i ß zwischen den agrarischen und fiskalischen Interessen geneigten Agrariern zeichnete sich schon frühzeitig die Bereitschaft ab, einen Ausweg aus dem Dilemma durch neue Zollerhöhungen zu suchen. Schon Kropatschek verband auf der Versammlung der „Vereinigung" im Februar 1882 mit seiner Kritik an den Resultaten der Finanzreform von 1879 die selbstverständliche Forderung, daß eine „wirklich agrarische, auf verständiger Basis beruhende R e f o r m des direkten Steuerwesens in Preußen . . . ohne Mehrbelastung der unteren Volksklassen nur durch eine bessere Heranziehung des größeren mobilen K a p i t a l s größere Einnahmen erzielen" könne, k n ü p f t e daran aber gleichzeitig die Überlegung, daß unter den gegenwärtigen Umständen wirkliche Schutzzölle für die Landwirtschaft angebracht seien, wenn schon die Finanzzölle von 1879 nicht den erhofften E f f e k t gehabt hätten. V o m finanziellen Standpunkt aus hielt es Tenge für ausgemacht, daß selbst eine Verdreifachung des Zolls die Importe und damit den finanziellen E r f o l g einer Getreidezollerhöhung nicht beeinträchtigen werde, und Baron v. Gustedt fügte dem noch mit dem Hinweis, daß die Importe aus Rußland nach Königsberg gegenüber früher erheblich gestiegen seien, obwohl Rußland den Zoll zahlen müsse, einen Beweis d a f ü r hinzu, daß auch nach einer drastischen Erhöhung der deutschen Agrarzölle „ d a s Ausland allein den Zoll trägt, uns die Steuern tragen hilft, wir also entlastet werden". Ein J a h r später führte Mirbach aus, daß unter dem Gesichtspunkt der ausgleichenden Steuergerechtigkeit den indirekten Steuern bei weitem der Vorzug zu geben sei, wobei die Zölle noch den besonderen Vorteil hätten, daß sie zum gro226

ßen Teil vom Ausland getragen würden 3 3 . Waren die mehr oder weniger verdeckten Forderungen nach Erhöhung der Getreidezölle bis 1883 noch primär währungs- und finanzpolitisch motiviert, so erhielten sie im Verlaufe der Jahre 1883 und 1884 mit der rückläufigen Getreidepreisentwicklung neuen Auftrieb, wobei sich protektionistische und finanzpolitische Motive vermischten. Mit dem Hinweis auf den „Massenimport des Auslandes" und die niedrigen Getreidepreise beschwor im Februar 1884 Winkler-Mariendorf die Mitglieder der „Vereinigung": „Die Steuerreform-Anträge des Reichskanzlers müssen zum Gesetz erhoben werden. Kapitalrenten-, Börsen-, Luxus-, Tabak-, Schänk- und Biersteuer müssen im Sinne des Fürsten Bismarck eingeführt werden." Denn davon hing nicht^nur die Möglichkeit einer Erhöhung der Agrarzölle ab, sondern ebenso die Möglichkeit, daß bei Durchführung eines derartigen Finanzreformprogramms die Überweisungen der Grundsteuer an die Gemeindeverbände und die Entlastung der Gemeinde von den Schullasten durchgeführt werden könnte 34 . Das anhaltende Sinken der Getreidepreise und die Ergebnisse des Erntejahres 1884/85, die einen weiteren Anstieg der ausländischen Konkurrenz und eine weitere Verschärfung des Preisdrucks wahrscheinlich machten, verstärkten das Krisenbewußtsein und die Konkurrenzängste in einem solchen Maße, daß die Forderung nach sofortiger Erhöhung der Getreidezölle im agrarischen Forderungskatalog die eindeutige Priorität gewann. Auf dem „Kongreß" mobilisierte Mirbach agrarische Konkurrenzängste mit der Feststellung: „Eine Abschwächung der unsere Landwirtschaft so schwer bedrohenden Konkurrenz der ausländischen Produktion ist nicht zu erwarten, vielmehr mit Sicherheit eine erhebliche Steigerung dieser Konkurrenz." Der Rückgang der Getreidepreise, die trotz der Zölle im Erntejahr 1884/85 einen seit 1846 nicht mehr dagewesenen Tiefstand erreichten, die beschworene Gefahr, daß sich die deutsche Landwirtschaft „der wuchtigen Schläge der ausländischen Konkurrenz nicht mehr erwehren" könne und schließlich die Erfahrung, daß „sich leider die N o t der Zeit nunmehr auch des mittleren und südlichen landwirtschaftlichen Deutschlands bemächtigt" hatte, bildeten die Schwerpunkte der Argumentation, mit der Below-Saleske den D L R von der Notwendigkeit solidarischen Verhaltens aller Interessenorganisationen der deutschen Landwirtschaft im Kampf gegen die ausländische Konkurrenz zu überzeugen und auf höhere Schutzzölle festzulegen versuchte. Der Preisrückgang aktivierte natürlich die agrarischen Ressentiments gegen das „mobile Kapital", die „Steuerprägravation", die „zaghafte und nur den eigenen resp. fiskalischen Interessen dienende Eisenbahnpolitik", die „einseitige Begünstigung der Industrie durch Schutzzölle", aber der agitatorische Appell an diese Ressentiments war deutlich darauf abgestellt, um so eindeutiger der Forderung nach Erhöhung der Getreidezölle Gewicht zu verschaffen. Below-Saleske scheute sich nicht „unumwunden zuzugeben, daß kein Mittel so geeignet erscheint, in jetziger Sachlage das landwirtschaftliche Gewerbe vor weiterem Verfall zu schützen, als eine angemessene Erhöhung der Zollsätze auf sämtliche Produkte der Landwirtschaft", zumal alle anderen Mittel gegen den Zollschutz schon deswegen „un15*

227

zulänglich" erschienen, „weil sie nur im L a u f e vieler J a h r e zur Wirksamkeit gelangen" konnten. Knauer-Gröbers erschienen die Zollerhöhungen jetzt von größerer Dringlichkeit als die Zuckersteuerreform, u n d obwohl Mirbach weiterhin in der Remonetisierung des Silbers „das einzige durchschlagende u n d f ü r lange Zeit wirksame Mittel gegen die wirtschaftliche Misere" sah, erschien jetzt die E r h ö h u n g der Getreidezölle auch ihm „von eminenter Wichtigkeit, ja von dringlicher N o t w e n d i g k e i t " . Die Begründung, mit dem die Forderung nach sofortiger E r h ö h u n g der Getreidezölle vertreten wurde, m a c h t deutlich, d a ß der „Rückgang der Preise" den Vorreitern agrarischer Interessenpolitik ein ausgezeichnetes Agitationsmittel zur Durchsetzung einer Z o l l t a r i f r e f o r m in die H a n d gab, die die „Schutzbedürfnisse" gegen die ausländische K o n k u r r e n z befriedigte, darüber hinaus aber auch die Bismarckschen Finanz- u n d Steuerref o r m p l ä n e unter Berücksichtigung agrarischer Interessen aus der Sackgasse herausführen konnte. D e n n „Schutzzölle", f ü h r t e Mirbach auf dem 16. „ K o n greß" aus, w ü r d e n nicht nur „zweifellos mildernd auf die N o t l a g e unserer Produktion einwirken", sie w ü r d e n „in ihrer untrennbaren Eigenschaft als Finanzzölle Einnahmen verschaffen, welche zur Entlastung der ärmeren Volksklassen u n d der besonders schwer belasteten Erwerbsarten zweckmäßige V e r w e n d u n g finden" 3 5 .

5.1.2.2

Die Exportoffensive

der deutschen Industrie

und der russische

Markt

Die E n t w i c k l u n g der I n d u s t r i e k o n j u n k t u r zwischen 1879 u n d 1882 bestätigte die E r w a r t u n g e n , die die deutsche Industrie in die endgültige Abkehr der deutschen Wirtschaftspolitik von der freihändlerischen Ä r a gesetzt hatte. Auf der anderen Seite vollzog sich der Aufschwung zu langsam, als d a ß die I n d u strie sich mit dem Erreichten zufriedengeben u n d gegenüber der weiteren E n t wicklung eine a b w a r t e n d e Stellung hätte einnehmen können. Die Tatsache, d a ß der allmähliche Aufschwung weniger auf einem deutlichen Preisanstieg als auf einem N a c h f r a g e s c h u b basierte, machte das Problem akut, wie nach der kurzen Hausse im F r ü h j a h r 1880 die Entwicklung in einen d a u e r h a f t e n „normalen u n d gesunden Geschäftsgang" übergeleitet werden konnte. Die Lösung des Problems schien in hohem M a ß e d a v o n abhängig zu sein, ob es gelang, das Wachstum der N a c h f r a g e zu stabilisieren. Die bloße Stagnation der in- und ausländischen N a c h f r a g e h ä t t e sofort Ü b e r p r o d u k t i o n u n d - bei dem immer noch niedrigen Preisniveau - den sofortigen R ü c k f a l l in die Krise bedeutet 1 . Vor allem die Steigerung der ausländischen N a c h f r a g e erschien als eine entscheidende Voraussetzung, um den R ü c k f a l l in die Krise zu verhindern. N a c h den Worten von Rentzsch galt das besonders f ü r die stark exportorientierte Eisenindustrie, nachdem sie mit Erfolg die ausländische K o n k u r r e n z v o m Binnenm a r k t zurückgedrängt h a t t e : „Unsere großen Werke bedürfen zur flotten Beschäftigung der A u s f u h r , stockt diese, so ist der inländische M a r k t zu klein, um die P r o d u k t i o n verdauen zu können." 2 228

Die wirtschaftliche Aufschwungsphase zwischen 1879 und 1882 verminderte also keineswegs das Interesse der deutschen Industrie, über den Binnenmarkt hinaus die Absatzchancen auf bereits erschlossenen ausländischen Märkten zu erweitern bzw. neue Absatzmärkte zu gewinnen 3 . Der Zwang, durch steigenden Export einen Rückfall in die Krise zu verhindern, blieb auch nicht ohne Einfluß auf den Horizont, in dem sich die Exporterwartungen der am Rußlandgeschäft beteiligten Branchen der deutschen Industrie bewegten. Unter dem andauernden Zwang, neue Absatzwege zu suchen und zu finden, richteten sich die Exporterwartungen noch stärker als bisher auf den russischen Markt, der der deutschen Produktion näher lag als die ebenfalls ins Auge gefaßten überseeischen Exportgebiete. Auf der Suche nach neuen Absatzmärkten f ü r die deutsche Eisenindustrie ging ζ. B. Mulvany - Aufsichtsratsmitglied der Zeche „Hibernia & Shamrock" in Gelsenkirchen/Herne und des „Westfälischen Draht-Industrie-Vereins" in H a m m - von der Erwartung aus, daß nach den bisherigen Fortschritten auf dem Gebiete des Eisenbahn- und Telegraphenwesens in Europa und Nordamerika diese Bereiche des Verkehrswesens „einen bedeutenden Aufschwung nehmen werden". Vor allem im „östlichen Europa, in Rußland, in der Türkei und in den europäischen Ländern" erkannte Mulvany noch „ein ungeheures Feld zur weiteren notwendigen Ausdehnung des Eisenbahn- und Telegraphennetzes". Die hier liegende Aufgabe der deutschen Industrie zur „Verbreitung der Zivilisation" formulierte Mulvany emphatisch: „Werfen sich die deutschen Eisen- und Stahlindustriellen mit Energie auf den Verkehr mit allen diesen Ländern, so wird dadurch ein ungeheures Absatzgebiet f ü r viele Jahre gewonnen." 4 In der gleichen Richtung bewegten sich die Erwartungen, wie sie die „Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin" aufgrund von Umfragen in der deutschen Industrie in einem Bericht vom Februar 1881 formulierten 5 . N a c h vorherrschender Meinung konnte sich die deutsche Eisenindustrie mit guten Gründen „der H o f f n u n g hingeben, in Rußland noch eine Reihe von Jahren ein Absatzgebiet zu finden". Abgesehen davon, „daß sich in diesem Lande neben der Ausdehnung der Eisenerzeugung auch der Konsum mit jedem Jahre heben" werde, fiel dabei besonders ins Gewicht, daß die rheinischwestfälische und die oberschlesische Eisenindustrie „vermöge der bequemen Bezugswege und der günstigen Beurteilung, welche den deutschen Eisenerzeugnissen auch in Rußland zuteil" wurde, auf dem russischen Markt erhebliche Konkurrenzvorteile gegenüber der englischen Eisenindustrie besaßen, die diese nur durch billigere Notierungen ausgleichen konnte. Selbst eine Verminderung der Absatzchancen als Folge der russischen Bemühungen, möglichst kurzfristig eine eigene Eisenindustrie heranzuzüchten, sei auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Das gelte speziell für den Absatz von Handelseisen und Eisenblechen. Denn noch befände sich „die Mehrzahl der russischen Walzwerke nicht in dem technisch vollendeten Zustande, um bezüglich der äußeren Beschaffenheit ein gleichmäßiges für alle Gewerbe ausreichendes Material zu liefern", während „die russische Handelseisen- und Eisenblech-Erzeugung in quantitativer Beziehung dem Konsum dieses ausgedehnten Reiches" noch weniger genügen könne. 229

In bezug auf die weiteren Exportchancen für deutsche Zinkbleche nach Rußland könnten „ähnliche Verhältnisse" wie bei den Eisenfabrikaten zugrunde gelegt werden. Denn nicht nur müsse die Verwendung von Zinkblechen in Rußland „erst an Bedeutung und Vielseitigkeit gewinnen", sondern die oberschlesische Zinkindustrie verfüge über die besten Voraussetzungen, um die zu erwartende N a c h f r a g e durch steigenden E x p o r t zu decken. Weit weniger optimistisch als bei den Eisenindustriellen waren die an den russischen M a r k t geknüpften Exporterwartungen der deutschen Maschinenbaufabrikanten. Hier herrschte die Meinung vor, „ d a ß hauptsächlich nur in dem Falle, daß die russischen Fabriken den Bedarf nicht decken können, an E x p o r t von Maschinen pp. nach Rußland zu denken" war. Die deutschen Hersteller von Dampfmaschinen, Lokomotiven, Dampfkesseln, Weberei- und Spinnereimaschinen rechneten nicht mehr mit großen Absatzmöglichkeiten, nachdem der russische Maschinenbau einen unverkennbaren Aufschwung genommen hatte und weiterhin die besondere Protektion der zaristischen Regierung genoß. Lediglich für die noch zollfreien landwirtschaftlichen Maschinen und A p p a r a t e sowie für komplizierte Maschinen bestanden noch echte Marktschancen, wobei allerdings der Nachteil nicht zu übersehen war, daß die russischen Maschinenproduzenten „die feineren Maschinen für sich bestellten, um solche dann nachzubauen und den deutschen Fabrikanten und Konstrukteur ganz zu verdrängen". Eher resignierend waren auch die Stellungnahmen, die aus Kreisen der deutschen Textilindustrie über die zukünftigen Aussichten des Rußlandexportes abgegeben wurden. Einigkeit bestand darin, daß die deutsche Textilindustrie nach der Einführung des Goldzolls und aufgrund der unsicheren Valutaverhältnisse einen „besonders schweren S t a n d " habe, was nur durch den „sehr guten Geschäftsgang" verdeckt worden sei, „welcher mehrere J a h r e in Rußland herrschte und der zur Befriedigung des Bedarfs erhöhte Zufuhren aus dem Ausland erforderte". Mit dem 1880 in Rußland einsetzenden R ü c k g a n g der Konjunktur könne kein Zweifel mehr bestehen, daß die deutsche Textilindustrie gegen die durch hohe Zölle geschützte russische Textilindustrie in Zukunft nur mühsam ihren Rußlandexport würde aufrecht erhalten können. Erheblich besser wiederum waren die Exportaussichten für die deutsche Kohleausfuhr nach Rußland. T r o t z Kohlezoll, erhöhter Frachtkosten auf russischen Eisenbahnen und begrenzter Transportmöglichkeiten war doch damit zu rechnen, daß die polnische Industrie auch weiterhin auf die Zufuhr oberschlesischer Kohle angewiesen blieb. Den unterschiedlichen Erwartungen, die die einzelnen Branchen der deutschen Industrie an die weitere Entwicklung des Rußlandexportes knüpften, entsprachen die Reaktionen, mit denen die hauptsächlich am Rußlandexport beteiligten Zweige der deutschen Industrie auf die im J a n u a r 1881 und im Juli 1882 in K r a f t getretenen Erhöhungen des russischen Zolltarifs reagierten. Für große Teile der deutschen Textilindustrie war bereits mit der im J a n u a r 1881 in K r a f t getretenen Erhöhung um 10% der Punkt 230

erreicht, an dem die russische Zollpolitik einen prohibitiven Charakter angenommen hatte und das Ende des Rußlandexportes nur noch eine Frage der Zeit sein konnte". Nach Inkrafttreten der Zollerhöhungen griffen führende Vertreter der Textilindustrie, die sich um Absatzchancen auf einem großen benachbarten Markt endgültig geprellt sahen, sofort und entschieden die bereits vor 1879 erhobene Forderung nach Sanktionen gegen die russischen Zollerhöhungen auf. Mit dieser Forderung profilierte sich vor allem der Berliner Textilindustrielle Lohren: Gegen die „verschärften Schikanen und Plackereien auf den Zollämtern" und die neue Zollerhöhung gebe es nur noch ein Hilfsmittel, nämlich den „Einfuhrzoll gegen Rußland auf 2 bis 3 Mark pro Zentner zu erhöhen" 7 . Die im Frühjahr 1882 sich abzeichnende erneute Zollerhöhung veranlaßte den Präsidenten des Verbandes deutscher Leinen-Industrieller, Delius, dieser Forderung bei Bismarck Nachdruck zu verleihen 8 : D a die russische Regierung schon seit Jahrzehnten den Import deutscher Fabrikate erschwert habe und offensichtlich bestrebt sei, jeden lebhafteren Import zu unterbinden, „dürfte jetzt der Zeitpunkt gekommen sein, die dringendsten Vorstellungen an die russische Regierung zu richten und eventuell . . . Retorsionsmaßregeln in Anwendung zu bringen". Für die russische Landwirtschaft sei „der deutsche Absatz ebenso wichtig wie der russische Markt für die deutschen Industriellen", und wenn die russische Regierung erst sehe, „daß die deutsche Regierung entschlossen (sei), die russischen Prohibitivmaßregeln mit gleichen Anordnungen an der deutschen Grenze zu erwidern", werde sie „einlenken, und sich zu einer wohlwollenden Behandlung der deutschen Fabrikate verstehen". Mit ihrer Forderung nach Retorsionszöllen gegen die russischen Agrarexporte fanden die Textilindustriellen aber keineswegs die vorbehaltlose Unterstützung in den übrigen Branchen der deutschen Industrie. Hier machte sich der Unterschied bemerkbar, daß die Zollsätze nur bei den Produkten des am weitesten entwickelten russischen Industriezweiges eine nahezu prohibitive Höhe erreichten, während sie für die Produkte der deutschen Eisenindustrie durchaus noch Exportchancen offenließen. Selbst die Mehrheit der deutschen Maschinenbaufabrikanten, die sich neben der Textilindustrie durch die protektionistische Politik der zaristischen Regierung am meisten um Exportchancen betrogen sahen, sprach sich gegen Retorsionszölle aus, da diese „eine Schädigung der eigenen Industrie herbeiführen könnten". Vielfach wurde von den Maschinenfabrikanten sogar die Ansicht vertreten, daß die Zollerhöhungen es ermöglichten, die russischen Finanzen in Ordnung zu bringen und „dies weit mehr zur Belebung des wechselseitigen Handels beitragen würde, als eine Zollermäßigung dies tun könnte" 9 . Eine ähnliche Ansicht herrschte bei der deutschen Eisenindustrie vor; auch hier akzeptierte man noch die Absicht der zaristischen Regierung, „dem Reiche eine Einnahmequelle zu schaffen" und „der russischen Eisenindustrie zu ihrer Entwicklung einen wirksamen Schutz angedeihen zu lassen". In bezug auf die gleichzeitig mit den allgemeinen Zollerhöhungen vom Januar 1881 in K r a f t getretene Aufhebung der Berechtigung zur zollfreien 231

Einfuhr von Stabeisen und Eisenblechen gingen die Eisenindustriellen davon aus, daß diese Maßregel „kaum für die nächste Z u k u n f t den Import fremder Eisenfabrikate wesentlich beeinträchtigen dürfte" 1 0 . Eine Ausnahme machten hier lediglich die oberschlesischen Eisenindustriellen, wenn sie die Befürchtung äußerten, daß der Fortfall der Lizenzen für die zollfreie Einfuhr von Roheisen und Fabrikaten sich „sehr zu Ungunsten" des Exportes aus Oberschlesien auswirken würde. Außerdem zeichne sich für die oberschlesische Kupferindustrie die Gefahr ab, durch den „Prohibitivzoll" auf Kupferplatten von dem sehr ausgedehnten Rußlandexport dieses Artikels „geradezu abgeschnitten" zu werden 11 . Die zwischen den einzelnen Branchen und Regionen der deutschen Industrie bestehenden Gegensätze in der Bewertung der russischen Zollpolitik traten hervor, als die „Anbahnung eines Handelsvertrages mit Rußland und die Erleichterung neuer Handelsbeziehungen mit R u ß l a n d " als „wichtigster Gegenstand" auf die Tagesordnung der Ausschuß- und Delegiertensitzungen des C d l am 25./26. September 1881 in Dresden gesetzt wurde. Schon auf der Vorstandssitzung des VDESI, der wenige Tage zuvor die Sitzung des C d l vorbereitete, kam es zu „längeren Debatten". Dabei nahmen vor allem die Vertreter der oberschlesischen Industrie eine kämpferische H a l t u n g ein, die in scharfem Kontrast zu der Zurückhaltung stand, mit der sie auf die fortgesetzten Erhöhungen der österreichischen Importzölle reagierten 12 . Dennoch wollte sich der Vorstand des VDESI nicht auf eine offene Kampfposition gegen die russische Zollpolitik festlegen lassen. Statt dessen einigte er sich auf einen Beschluß, der im wesentlichen auf eine Verständigung mit Rußland über zollpolitische Fragen abzielte: Erstens sollte die Reichsregierung ersucht werden, „mit unserem Nachbarstaate Rußland wegen Abschlusses eines den beiderseitigen Verkehr erleichternden Handels- und Zollvertrages sobald als tunlich in Unterhandlung zu treten". Zweitens sollte die Erwartung ausgesprochen werden, „daß der Reichstag nicht anstehen wird, die Reichsregierung mit denjenigen Vollmachten auszurüsten, welche geeignet sind, diese Verhandlungen zu einem für beide Reiche heilsamen Abschlüsse zu führen", und drittens sollte eine Kommission eingerichtet werden, um „aus dem reichhaltigen und weitschichtigen Material die Grundlinien zusammenzustellen, welche bei dem Entwürfe eines deutsch-russischen Handels- und Zollvertrages als Unterlage benützt werden können" 1 3 . In seiner Sitzung vom 25. September 1881 stimmte der Ausschuß des C d l ebenfalls „nach einer lebhaften Debatte" dem Vorstandsbeschluß des VDESI zu, wobei er freilich keinen Zweifel an seiner Bereitschaft ließ, auch den Weg des Wirtschaftskrieges zu beschreiten, falls die angestrebte Verständigungspolitik zu keinem Ergebnis führen sollte 14 . Als Referent wies der Cdl-Geschäftsführer Beutner auf die „geradezu unerträglichen Schranken hin, welche dem Export deutscher Industrieerzeugnisse nach Rußland entgegenständen". Zu den in den letzten Jahren mehrfach gesteigerten Eingangszöllen kämen noch die „verkehrshindernden Zollplackereien" und „überhaupt die ganze Geschäftspra232

xis der russischen Zollbehörden, welche den Export nach diesem Lande zu einem äußerst schwierigen, in vielen Fällen sogar unmöglichen machten". Andererseits verfüge „Deutschland mehr als jedes andere L a n d " über die Mittel zur Beseitigung dieser „Ubelstände", da es inzwischen „der erste und weitaus bedeutendste Abnehmer des russischen Exportes" sei und diese Rolle in Zukunft noch stärker übernehmen werde. Die große Abhängigkeit des russischen Agrarexportes vom deutschen Markt war für Beutner überhaupt die Basis, auf der in der einen oder anderen Weise der russische Markt für deutsche Industrieprodukte geöffnet werden sollte. Konzessionen der deutschen Industrie wurden von vornherein mit dem Hinweis darauf ausgeschlossen, „daß wir für den Import unserer Industrieprodukte nach Rußland reichen Ersatz bieten und daß dieser Staat in seinem allereigensten Interesse dahin kommen sollte, mit seinem Nachbarn die Alliance und die freundschaftliche Beziehung, die seit mehr als einem Jahrhundert auf politischem Gebiete bestanden haben, auf das volkswirtschaftliche auszudehnen". Die russische Abhängigkeit ließ die Möglichkeit, daß es Bismarck gelingen werde, „eine freundliche Regelung der Sache zu erzielen", ebenso zu wie andere wirksame Maßregeln, etwa die „Belegung der russischen Rohproduktenausfuhr mit hohen Retorsionszöllen". Wenn Beutner von einer „aggressiven Zollpolitik gegen Rußland" noch abriet, dann vor allem deswegen, weil gute Aussicht bestand, daß sich Rußland „in seinem allereigensten Interesse" dem freundschaftlichen „Druck" beugen werde. Unter dem Eindruck der erneuten Erhöhung des russischen Zolltarifs vom Juli 1882 wuchs in der deutschen Eisenindustrie die Bereitschaft, auf die von den Textilindustriellen vertretene harte Linie gegenüber der russischen Zollpolitik einzuschwenken. Diesem Stimmungsumschwung lag die Tatsache zugrunde, daß durch die neuesten Zollerhöhungen der russische Zolltarif auch für verschiedene Hauptexportprodukte der deutschen Eisenindustrie nahezu prohibitive Sätze erreichte. In einem Bericht an den Regierungspräsidenten von Oppeln, v. Zedlitz, schilderte Direktor Kollmann von der Bismarckhütte ausführlich die besonders schädlichen Rückwirkungen, die die neuen Zollerhöhungen auf die oberschlesische Eisenindustrie haben mußten15. Bei den neuen Zollerhöhungen habe sich die zaristische Regierung von dem Grundsatz bestimmen lassen, „dem Rohmaterial (Roheisen, Gußeisen) die Einfuhr möglichst zu gestatten, um dasselbe im Inland zu verarbeiten, dagegen den Produkten aus dem Roheisen durch die höchst denkbaren Zölle den Eingang nach Rußland zu erschweren, resp. unmöglich zu machen". Entsprechend seien die neu in K r a f t getretenen Zollsätze „direkte Prohibitivzölle in bezug auf einen großen Teil der bisherigen deutschen und speziell oberschlesischen Eiseneinfuhr nach Rußland". Insbesondere werde die deutsche Eisenindustrie „in ihrem Hauptexportartikel, dem Walzdraht, auf das empfindlichste geschädigt", sie werde „diesen schweren Schlag nicht vertragen können". Um welche Dimensionen es sich dabei handelte, belegte Kollmann mit eindrucksvollen Zahlen. Von gewalzten Eisensorten, die neuerdings mit 147% ihres Wertes verzollt werden sollten, würden allein aus Oberschlesien jährlich 120 000 Zentner, von der rheinisch-west233

fälischen Industrie sogar mindestens 600 000 Zentner pro Jahr nach Rußland exportiert, d. h. der gesamte deutsche Export von Walzeisen nach Rußland belaufe sich auf ca. 54 Millionen Mark pro Jahr. Während Kollmann vor allem die Auswirkungen der Zollerhöhungen auf die Walzeisenproduktion hervorhob, ging die Gesamtinteressenvertretung der oberschlesischen Eisenindustrie bei der Beschreibung, „in wie hohejn Maße sämtliche wichtigeren Produktionszweige der oberschlesischen Montanindustrie durch die neuerlichen Zollerhöhungen getroffen" würden, noch weit über Kollmann hinaus 16 . Die „Prohibitivzölle" auf Roheisen zielten darauf ab, „den Eingang nach Rußland fast unmöglich zu machen". Der oberschlesischen Zinkindustrie sei es jetzt unmöglich, „den russischen Markt trotz der verschiedensten Versuche und trotz der größten Konzessionen im Preise zu behaupten", und die Verdoppelung des russischen Kohlezolls bedeute für die oberschlesische Kohle „soviel wie eine Ausschließung vom russischen Markt". Obgleich die Zollerhöhungen vom Juli 1882 auch bei den rheinisch-westfälischen Eisenindustriellen einen erheblich nachhaltigeren Eindruck machten, als die Zollerhöhungen des Vorjahres und einflußreiche Vertreter der oberschlesischen Industrie erneut versuchten, Bismarck die Anwendung von Retorsionszöllen schmackhaft zu machen 17 , legten sich die Interessenorganisationen der deutschen Industrie nicht auf die Forderung nach Kampfzöllen fest. Nachhaltig wirkte sich dabei aus, daß die zunächst hochgesteckten Exporterwartungen einer erheblich nüchternen Beurteilung der Absatzchancen f ü r deutsche Industrieprodukte auf dem russischen M a r k t Platz machten. Um die Jahresmitte 1882 wurden die Exporterwartungen der Industriezweige, die sich durch die russische Zollpolitik um Absatzchancen geprellt sahen, durch Prognosen gedämpft, daß infolge einer stark rückläufigen Nachfrage der Rußlandexport aller europäischen Staaten beeinträchtigt werde. So kam die „Revue universelle des Mines" aufgrund einer internationalen Marktanalyse zu dem Ergebnis: „Rußland, das allein größere Bedürfnisse entwickeln könne, sei zu stark verschuldet, als daß es sich in größere Unternehmungen einlassen könnte." 1 8 Sogar die oberschlesischen Industriellen suchten jetzt anläßlich der jüngsten Zollerhöhungen die „Gründe zu erforschen", die die zaristische Regierung dazu veranlaßt hatten 19 . Dabei kamen sie zwar zu dem Ergebnis, daß die neuen Zollerhöhungen „weder ein finanzielles noch ein handelspolitisches" Motiv hätten, sondern lediglich ein „Beneficium für einzelne Produzenten" darstellten, zogen aber daraus die Folgerung, daß auf eine baldige Änderung der russischen Zollpolitik nicht gerechnet werden könne. Solange die russische Zollpolitik von den Interessen einzelner Großproduzenten bestimmt werde, müsse auch die „ H o f f n u n g schwinden, daß wenigstens jene Bestimmungen, durch welche einzelne Montanprodukte Oberschlesiens besonders hart getroffen werden . . . aus dem russischen Zolltarif beseitigt" werden könnten. Eine Kontroverse zwischen dem Industriellen W. Siemens und dem Wirtschaftsjournalisten Grothe auf der Sitzung des „Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes" vom Februar 188320 machte die Differenzen deutlich zwischen 234

den Verfechtern einer konsequenten Kampfzollpolitik und solchen Vertretern der deutschen Industrie, die die jüngsten russischen Zollerhöhungen zum Anlaß nahmen, um zu einer differenzierten und längerfristigen Kalkulation der Absatzchancen auf dem russischen Markt zu kommen. Siemens wurde durch den Charakter „eines Teils unserer Schutzzölle als Kampfzölle" zwar immer noch „angenehm angesprochen", wollte die bestehenden Kampfzölle aber noch nicht erhöhen, da der Kampf doch „nicht ewig" dauern könne und außerdem die deutschen Zollerhöhungen den „Übelstand" nach sich gezogen hätten, „daß unsere Kampfzölle nun auch die anderen zu Rüstungen und neuen K a m p f m i t teln veranlaßt haben" und „die Grenzen der Nachbarländer infolge unserer Zollerhöhungen mit noch höheren Zöllen zugesperrt" seien. Angesichts dieser Erfahrungen sei es zu wünschen, „daß dieser Zollkrieg nicht ein dreißigjähriger wird, sondern schnell entschieden wird, und diese Zölle aller Art, die doch eigentlich immer ein Zeichen geringer Kulturentwicklung sind, recht bald allseitig aufhören". Vom schutzzöllnerischen Standpunkt machte Grothe gegenüber Siemens den „entgegengesetzten Standpunkt" geltend, indem er bestritt, daß es sich bei den „errungenen Zöllen" um „Kampfzölle" handele, die das Ausland „anreizen" könnten. Der Nachweis, daß die russischen Zollerhöhungen keine Reaktion auf den deutschen Zolltarif von 1879 darstellten, veranlaßten Grothe zu einer differenzierten Untersuchung der Motive, von denen die russische Zollpolitik bestimmt wurde. Zunächst sei die Einführung der Goldzölle von 1887 „eine rein finanzielle, gesetzlich sogar gebotene Maßregel" gewesen. Bei den weiteren Zollerhöhungen habe es sich nicht um Kampfzölle, sondern um „Erziehungszölle" gehandelt, „wie sie jedes Land in der ersten Entwicklung seiner Industrie, von der ja auch die Prosperität der Landwirtschaft abhängt, nötig hat". Damit erkannte Grothe im Gegensatz zu den oberschlesischen Industriellen ausdrücklich an, daß Rußland seine Industrie „mit allen Kräften schützen" müsse. Nach seiner Kenntnis der russischen Verhältnisse war es unmöglich, „daß Rußland auf anderem Wege eine blühende Industrie erlangen könne, als durch das Mittel der Erhöhung der Zölle . . ., sollte nicht die ganze russische Industrie durch die ausländische Konkurrenz nicht allein vom Weltmarkt, sondern vielmehr von den eigenen heimischen und seinen asiatischen Märkten vertrieben und wie mit einem Schwämme weggewischt werden". Die Einsicht in die Zwänge, die die russische Zollpolitik auf einen protektionistischen Kurs festlegten, mußte erhebliche Zweifel an der Tauglichkeit eines Versuchs aufkommen lassen, durch Kampfzölle die Ö f f n u n g des russischen Marktes f ü r deutsche Industrieexporte zu erzwingen. Hier dürfte einer der Gründe dafür liegen, daß die mit Kampfzöllen sympathisierenden Textilindustriellen und einzelne Vertreter der Eisenindustrie auf weitere. Vorstöße verzichteten und in den industriellen Interessenorganisationen eine Mehrheit an dem Beschluß des C d l und des VDESI von 1881 festhielt, auf dem Verhandlungswege zollpolitische Konzessionen zu erreichen. Darüber hinaus gab es weitere Gründe dafür, daß sich die führenden Interessenorganisationen der 235

deutschen Eisenindustrie nicht auf eine offene Kampfzollpolitik festlegen wollten. 1. Die Sätze des russischen Zolltarifs hatten bis 1883 trotz mehrfacher Erhöhungen noch keinen Stand erreicht, der den deutschen Industrieexport nach Rußland insgesamt entscheidend beeinträchtigt hätte. Dieser wies nach dem Rückgang des Jahres 1881 im folgenden Jahre vielmehr wieder eine steigende Tendenz auf, und ungeachtet des Rückschlages im Jahre 1883 trug der Rußlandexport dazu bei, daß auch in der zweiten Abschwungsphase der Industriekonjunktur das „Exportventil" noch funktionierte 2 1 . Die Risiken einer konsequenten Kampfzollpolitik standen also in keinem Verhältnis zu den noch immer großen Absatzchancen, die der russische Markt dem deutschen Industrieexport offenließ. 2. Solange der wirtschaftliche Aufschwung andauerte und die Agrarpreise eine steigende Tendenz zeigten, waren die Vorbehalte der Industriellen gegen höhere Agrarzölle, die die Produktionskosten verteuerten, viel zu groß, als daß sie gegen die vage Aussicht, mit Kampfzöllen zollpolitische Konzessionen bei der zaristischen Regierung durchsetzen zu können, wirklichen Schutzzöllen für die Landwirtschaft ihr Plazet gegeben hätten. Im Gegenteil erhöhte die Gewißheit, daß mit der „neuen Wirtschaftspolitik" der zollpolitische Rahmen für eine günstige Entwicklung der „nationalen Produktion" abgesteckt worden war, die Bereitschaft, den neuen Tarif auf eine „ehrliche Probe" zu stellen und notfalls sowohl gegen freihändlerische als auch gegen agrarische Revisionsforderungen „für die Erhaltung der durch die neue Handelspolitik erlangten Positionen energisch" einzutreten 22 . Am Jahresende 1882 sprach sich Rentzsch entschieden gegen die von der Regierung beantragten Zollerhöhungen aus, da „das notwendige Bedürfnis" der Industrie zur Zeit darin bestehe, auf einer „festen wirtschaftlichen Grundlage" arbeiten zu können. „Solange noch Jahr f ü r Jahr, sei es nach der einen oder anderen Richtung, am Zolltarif gerüttelt" werde, könne „Vertrauen nicht entstehen". Auch die oberschlesische Industrie, die am billigen Bezug russischen Holzes interessiert war, sprach sich entschieden gegen eine eventuelle Erhöhung der Holzzölle aus23. 3. In der Periode einer sich nur zögernd belebenden industriellen Konjunktur gewährte die „neue Wirtschaftspolitik" der deutschen Industrie durch Staatsaufträge und günstige Transporttarife nicht nur Kompensation f ü r verminderte Absatzchancen auf dem russischen Markt, sondern sie trug dazu bei, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie auch auf dem russischen Markt zu verbessern 24 . Die Reaktion der rheinisch-westfälischen und der oberschlesischen Eisenindustrie auf die russischen Zollerhöhungen vom Juli 1882 machte noch einmal schlagartig deutlich, daß die deutsche Industrie nicht den wirtschaftlichen Kampf, sondern Kompensationen für verminderte Absatzchancen auf dem russischen Markt suchte. Für die rheinisch-westfälischen Industriellen waren die erneuten Zollerhöhungen ein Anlaß, sich noch stärker als bisher für eine Verbesserung des Submissionswesens, eine weitere Reduzierung der Fracht236

tarife auf den preußischen Staatsbahnen, eine vermehrte Verwendung von Produkten der deutschen Industrie beim Schiffsbau und die Ernennung von handelspolitischen Attaches bei den Botschaften einzusetzen 25 . In ähnlicher Weise reagierten die oberschlesischen Industriellen, als sie vom Regierungspräsidium Oppeln zu einer Äußerung über „die Einwirkung der erhöhten russischen Zölle auf die oberschlesische Montanindustrie" aufgefordert wurden. Während sie an der vom C d l 1881 eingenommenen Position festhielten, daß die deutsche Regierung eine vertragliche Regelung der deutsch-russischen Handelsbeziehungen herbeiführen solle, machten sie die „Einführung erleichterter Transportbedingungen auf den inländischen Eisenbahnen und Wasserstraßen" als das „beste sowie auch das einzige w a h r h a f t wirksame Mittel" geltend, das „den teilweisen oder gänzlichen Entgang des russischen Absatzes f ü r die Montanindustrie Oberschlesiens zu paralysieren" imstande sei. Das Gewicht dieser Forderung wurde noch dadurch erhöht, daß eine zur gleichen Zeit erfolgte Erhöhung der österreichischen Einfuhrzölle „eine Erleichterung des Absatzes nach der einzig freien Seite . . . zur zwingendsten Notwendigkeit" mache 26 . Die Bereitschaft, die Interessen des deutschen Industrieexportes nach Rußland mit Kampfzöllen durchzusetzen, nahm erst wieder zu, als das Ende des Eisenbahnbooms in den USA eine neue Abschwungsphase der industriellen Konjunktur einleitete, und der deutsche Industrieexport durch die neuen russischen Zollerhöhungen von 1884 mit Ausnahme der Rohprodukte einen schweren Schlag erlitt, der durch Förderungsmaßnahmen im Rahmen der neuen Wirtschaftspolitik nicht mehr kompensiert werden konnte 27 . Vor allem in der oberschlesischen Industrie, wo die Auswirkungen des konjunkturellen Abschwungs besonders deutlich zutage traten, reagierte man jetzt zunehmend empfindlicher auf die russische Zollpolitik. „Die vielfach gehegte H o f f n u n g , daß die politische Freundschaft, welche das Deutsche Reich mit den beiden großen Nachbarstaaten pflegt, auch zu einer größeren Annäherung auf dem handelspolitischen Gebiete führen werde", habe sich „bisher leider nicht bestätigt, und fast jedes Jahr bringt neue Erschwerungen des internationalen Marktes", stellte der Bericht der Handelskammer Oppeln über das Jahr 1883 fest. Über das Jahr 1884 fiel das Urteil bereits wesentlich ungünstiger aus. Zu den Klagen über den „allgemeinen Niedergang der Industrie" und einer wachsenden Besorgnis in den Geschäftskreisen, „daß Oberschlesien schweren Zeiten entgegengeht", kam die schmerzliche Erfahrung, daß infolge der russischen und österreichischen Zollerhöhungen die Maschinenbauindustrie ihre nächsten Auslandsmärkte bis auf einen geringen Teil eingebüßt hatte. Die jenseits der Grenze angelegten Zweigwerke hatten zwar einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung, aber in Kreisen der oberschlesischen Industrie wurde im Verlaufe des Jahres 1885 endgültig die H o f f n u n g aufgegeben, daß die „politische Freundschaft zwischen den benachbarten Kaiserreichen auch zu einer größeren Annäherung auf wirtschaftlichem Gebiet führen würde" 2 8 . Ein Stimmungsumschwung gegenüber der russischen Zollpolitik zeichnete sich auch in anderen Regionen der deutschen Eisenindustrie ab. Auf der Generalversammlung des 237

VDESI im Januar 1885 in Berlin2® bestand Einigkeit darüber, daß sich die in das Jahr 1884 gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt hatten. Zwar konnte man wie in den Vorjahren - wieder darauf verweisen, daß ohne die Importzölle die Lage auf dem inländischen Markt „noch schlechter" gewesen wäre; aber dieses Argument büßte seine Wirkung ein angesichts der Tatsache, daß es 1884 der Eisenindustrie „nur mit größter Mühe möglich war, ihren Export nahezu in derselben Weise wie 1883 . . . aufrechtzuerhalten". Damit stellte sich wieder die Alternative zwischen der Sicherung des inneren Marktes und der Steigerung des Exportes, wenn auch nicht in einer mit den Auseinandersetzungen um die Zolltarif reform von 1879 vergleichbaren Schärfe. Die allgemeinen Erwartungen richteten sich zunächst auf solche „Hilfsmittel", die geeignet schienen, sowohl die allgemeine Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie zu steigern als auch ihre Absatzchancen und -gebiete im In- und Ausland zu erweitern. In der ersten Beziehung wurde die Forderung nach weiteren Reformen auf dem Gebiete des Eisenbahntarifwesens, die der Eisenindustrie den billigen Bezug von Rohstoffen und Halbfabrikaten ermöglichten, mit einer „besonderen Aufmerksamkeit" verfolgt. In der zweiten Hinsicht schienen die Aussichten günstig. Die Verhandlungen mit deutschen Werften und Reedereien über die bevorzugte Verwendung von Eisen- und Stahlmaterial zum Schiffsbau nahmen einen erfolgversprechenden Verlauf, und die in Aussicht stehende Subvention der Dampferlinien nach Ostasien, Australien und Afrika - seit 1885 - lieferte nicht nur einen „Beweis von der fortdauernden Fürsorge der Hohen Reichsregierung f ü r das Gedeihen von Handel und Industrie" im allgemeinen, sondern sie versprach „wohltätigste Erfolge für die Ausbreitung des deutschen Exportes nach den Ländern des Fernen Ostens" und ließ einen „sehr wirksamen Einfluß auf den Schiffsbau wie auf die inländische Eisenindustrie" erwarten. Zu diesen günstigen Aussichten trat die Zufriedenheit über den Abschluß des Handelsvertrages mit Griechenland, der mit dem zollfreien Export von Eisenbahnschienen und -material, Brücken, Stahl, Blech usw. in wichtigen Punkten die Wünsche der deutschen Eisenindustrie erfüllte. In scharfem Kontrast zu „derartig erfreulichen Aussichten f ü r steigenden Export" standen aber die „trüben Erfahrungen", die die deutsche Eisenindustrie mit Rußland und den wiederholten Erhöhungen des russischen Zolltarifs hatte machen müssen, zumal sich keine Anzeichen dafür erkennen ließen, daß die zaristische Regierung zu einer Änderung ihrer Zollpolitik bereit war. Vor diesem Hintergrund gewann die Überzeugung an Boden, „daß der russischen Prohibitions-Politik nur mit Kampfzöllen auf russische Ausfuhrartikel wirksam entgegengetreten werden könne". Diese Stimmungslage reichte zwar nicht aus, um sämtliche Vorbehalte gegen die sich zur gleichen Zeit verstärkenden agrarprotektionistischen Tendenzen, die ebenfalls aus dem Antagonismus zu Rußland herrührten, zu beseitigen; aber in Verbindung mit neuen Vorstößen industrieller Schutzzöllner, denen jetzt die Zollsätze des Tarifs von 1879 nicht mehr ausreichten, bereitete sie doch den Boden vor f ü r eine einschneidende agrar- und industrieprotektionistische Revision des deutschen Zolltarifs 30 . 238

Die präventive Sicherung des europäischen Status quo gegen den Zweifrontenkrieg 5.2.1 Deutsche Rüstungs- und Bündnispolitik

vom Zweibund bis zum

Dreibund

In der Rolle des erfolgreichen Verteidigers des europäischen Status quo machte Bismarck am Ende der 70er Jahre die diplomatische Schlappe wett, die er dank der russischen Intervention während der Krieg-in-Sicht-Krise hatte hinnehmen müssen1. Im Hinblick auf das der deutschen Außenpolitik seit der Reichsgründung gestellte Kardinalproblem: zu verhindern, daß im Falle eines offenen europäischen Konfliktes das Deutsche Reich in einen Zweifrontenkrieg verwickelt würde, waren die Erfolge Bismarckscher Diplomatie jedoch von zweifelhaftem Wert. Die Schädigung der russischen Interessen durch die deutsche Wirtschaftspolitik und schließlich das Einschwenken der deutschen Außenpolitik auf einen antirussischen Kurs wurden selbst von der traditionell preußenfreundlichen Elite des zaristischen Systems als so gravierende Verstöße gegen die „monarchische Solidarität" empfunden, daß kaum noch Zweifel daran bestehen konnte, wo im Falle eines europäischen Konfliktes die Fronten verlaufen würden. Kaum weniger wirksam als die Zunahme antideutscher Ressentiments in Rußland war der innenpolitische Effekt, den die Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus in Deutschland hatte. Eine Mischung aus antirussischen Ressentiments, Ängsten vor dem russischen „Koloß", ökonomischen Interessen und strategischen Überlegungen sicherten einer antirussischen Außen- und Wirtschaftspolitik den nötigen inneren Rückhalt, bei den Industriellen, Agrariern und Militärs ebenso wie bei den deutschen Fürsten und den politischen Parteien von rechts bis links 2 . Das hohe Konfliktniveau, auf dem sich bei wachsender innerer Kriegsbereitschaft auf beiden Seiten die deutsch-russischen Beziehungen zwischen 1878 und 1881 bewegten, und schließlich die Option zugunsten Österreich-Ungarns schränkten den Handlungsspielraum der deutschen Außenpolitik weiter ein. Das gemeinsame „europäische Interesse" der Drei-Kaiser-Mächte, das der deutschen Frankreichpolitik nach dem Krieg einen relativ großen Spielraum gesichert hatte, war zur Fiktion geworden, an der nach Ansicht Bismarcks nur noch aus Zweckmäßigkeitsgründen solche Staaten festzuhalten bereit waren, „welche andere brauchen und solche finden, die an die Phrase glauben" 3 . Ob der Verlust an außenpolitischem Handlungsspielraum durch diplomatische Diversionsstrategien kompensiert werden konnte4, muß schon deshalb bezweifelt werden, weil mit dem erreichten Grad der Polarisierung zwischen den Drei-Kaiser-Mächten die Weichen für eine weitere Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus, und zwar primär auf der militärpolitischen Ebene gestellt waren. Angesichts der militärischen Kräfteverhältnisse in Europa am Ende der 70er Jahre war der Zweibund noch geeignet, seine Abschreckungsfunktion zu erfüllen, ohne daß die etwa von Hohenlohe kurzfristig kalkulierte Möglichkeit eines russisch-französischen Gegenbündnisses befürchtet werden mußte 5 . Aber ob der Zweibund auch „ein Bollwerk des Friedens für lange Jahre hinaus" sein würde®, war doch nicht zuletzt von der 239

weiteren Entwicklung der militärischen Kräfteverhältnisse in Europa abhängig. Die Bildung eines russisch-französischen Gegenbündnisses war politisch riskant und militärisch zwecklos, bevor nicht Rußland und Frankreich die Verteilung der militärischen K r ä f t e in Europa so weit zu ihren Gunsten verändert hatten, daß ihr gemeinsamer Eintritt in einen Krieg gegen die Zweibundmächte auch tatsächlich eine gegenseitige militärische Entlastung zur Folge hatte. Die deutsche Rußlandpolitik in der zweiten H ä l f t e der 70er Jahre hatte nicht verhindern können, daß sich die politischen und ökonomischen Antagonismen auf der militärpolitischen Ebene eines deutsch-russischen Rüstungswettlaufs fortpflanzten. Seit dem Ende der 70er Jahre war die russische Militärpolitik nicht weniger als die strategischen Planungen des preußischen Generalstabes an der Möglichkeit eines deutsch-russischen Krieges in nicht allzuferner Z u k u n f t orientiert 7 . Aus der Perspektive der preußischen Militärführung war das noch nicht unmittelbar bedrohlich. Auf der einen Seite waren die organisatorischen Reformen, die der deutschen Armee eine gesteigerte Kriegsbereitschaft sichern sollten, inzwischen durchgeführt worden, und trotz der militärischen Schwäche Österreich-Ungarns stellte die militärische K r a f t der Zweibundmächte ein in Europa bisher nicht gekanntes Abschreckungspotential dar 8 . Auf der anderen Seite war die Reorganisation der französischen Armee noch nicht abgeschlossen. Der russisch-türkische Krieg hatte schwerwiegende Mängel des russischen Militärwesens offengelegt und darüber hinaus war Rußland sowenig auf einen Krieg mit Deutschland vorbereitet, daß Moltke in seinen Planungen für den Zweifrontenkrieg wie selbstverständlich davon ausging, daß die überlegene Offensivkraft der deutschen Armeen zuerst nach Osten eingesetzt werden müsse, um dort schnelle militärische Entscheidungen zu erzwingen 9 . Dennoch reagierte die militärische und politische Führung des Deutschen Reiches geradezu neuralgisch auf die Anstrengungen, die Rußland zur Stärkung seiner militärischen Stellung an der preußischen Grenze unternahm. Das besondere Mißtrauen richtete sich auf die Möglichkeit, daß das militärisch und finanziell geschwächte Rußland zwar keine unmittelbare Gefahr für den europäischen Status quo darstellte, daß sich aber hinter den demonstrativen Bekundungen von Friedens- und Verständigungsbereitschaft die langfristige Konzeption einer antideutschen Politik verbarg, die auf Zeitgewinn setzte, „bis das militärische Reformprogramm durchgeführt und Frankreich fertig" war. Das erklärt den resignativen Unterton, der in der Bereitschaft Bismarcks mitschwang, das russische Angebot zur Erneuerung des Drei-Kaiser-Bündnisses „im Interesse des Friedens immerhin mitzunehmen, vor allem in der Erwägung, daß nur Gott vorhersieht, ob Frankreich jemals im russischen Sinne fertig wird" 1 9 . Zugleich wird aber auch die Hartnäckigkeit verständlich, mit der Bismarck die Ernsthaftigkeit der russischen Bemühungen um eine Verständigung mit den Zweibundmächten mit der Bereitschaft des Zaren identifizierte, die Maßnahmen zu unterbinden, die auf eine unmittelbare Verstärkung der militärischen Position f ü r den Fall eines Krieges mit Deutschland abzielten. Zu diesen Maßnahmen rechnete Moltke „vorzugsweise" die Stationierung der Trup240

pen in den westlichen Gouvernements und den Ausbau des Eisenbahnnetzes, da hiermit die wichtigsten Entscheidungen über die Aufstellung der russischen Streitmacht für einen Krieg nach Westen gefällt würden 11 . Gerade die Truppenaufstellungen und die Eisenbahnpolitik ließen aber einen antideutschen Kurs der russischen Militärpolitik erkennen. Konnten die nach dem Türkenfeldzug vorgenommenen Truppenkonzentrationen an der Grenze zu Preußen noch als Versuch gewertet werden, auf die laufenden diplomatischen Verhandlungen Einfluß zu nehmen 12 , so blieb nach Abschluß des Zweibundes die beunruhigende Tatsache bestehen, „daß die russische Regierung bei ihren friedlichen Versicherungen . . . in diesen Aufstellungen noch immer keine Änderung" hatte eintreten lassen, zumal sie damit alle „Besorgnisse vor ihren kriegerischen Tendenzen doch leichter und gründlicher beseitigen" konnte, als durch die „freundschaftlichsten Beteuerungen und Beschönigungen". In der bloßen Tatsache, daß nahezu die H ä l f t e der russischen Armee in den westlichen Gouvernements stationiert blieb, erkannte Moltke „für Rußland eine Versuchung, f ü r uns im Frieden eine Drohung, im Krieg eine Gefahr" 1 3 . Die Anfänge einer an der Möglichkeit eines Krieges mit den Zweibundmächten orientierten russischen Militärpolitik waren für Bismarck so alarmierend, daß er durch direkten und indirekten Druck den Zaren zu veranlassen suchte, durch Zurücknahme der vorgeschobenen Truppenkontingente „ein wirkliches P f a n d freundlicher Gesinnung Rußlands" zu geben. Aber damit unterschätzte Bismarck, wie tief bei Alexander II. die Enttäuschung über die deutsche Politik war. Nicht nur, daß die Pressekampagne, die dem „friedliebenden Teil des russischen Volkes" die „unruhige Bedrohlichkeit der russischen Regierung" als die eigentliche Ursache der deutsch-russischen Spannungen vor Augen führen sollte, die antideutsche Haltung des russischen Generalstabes noch weiter verstärkte. Die diplomatische Intervention beim Zaren wurde von diesem als Einmischung in seine Souveränitätsrechte empfunden und verstärkte die Abneigung, sich auf die deutschen Forderungen einzulassen. Die Stationierung der Truppen an der preußischen Grenze blieb nicht nur bestehen, sondern Kriegsminister Miljutin konnte trotz der prekären Finanzlage den Ausbau der Verteidigungsstellungen nach Westen durch den Bau von Festungsanlagen und Eisenbahnlinien fortsetzen 14 . An der Widersprüchlichkeit einer russischen Politik, die ungeachtet aller Friedensbeteuerungen ihre militärischen Planungen an der Eventualität eines Krieges mit den Zweibundmächten orientierte, änderte auch der Tod Alexander II. nichts 15 . Die unverändert antideutsche Spitze der russischen Militärpolitik verursachte permanente Spannungen. N u r drei Monate nach dem Abschluß des Drei-Kaiser-Bündnisses stellte Schweinitz fest, wie sehr sich Bismarck mit dem Problem des Zweifrontenkrieges beschäftigte 16 . Für die politische und militärische Führung des Reiches gewann dieses Problem in den folgenden zwei Jahren eine zunehmend dringlichere Aktualität. Parallel zu den internen Diskussionen der Militärs, die sich im Frühjahr 1882 in ihren „täglichen Besprechungen" mit der „Möglichkeit eines Krieges mit Rußland" befaßten, suchte Bismarck Gespräche mit der militärischen Führung, in denen „sehr viel von 16

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Rußland und einem möglichen Kriege die Rede war", während Moltke dem Kaiser „wegen eines etwaigen Krieges nach beiden Seiten" Vorträge hielt. Nach einem auf Initiative Bismarcks zustande gekommenen Gespräch notierte Waldersee am Jahresende 1882: „Er sprach . . . meist von unserem Verhältnis zu Rußland und eröffnete mir so weitgehende Perspektiven, daß ich sie nicht niederzuschreiben wage." Den unmittelbaren Anlaß zu diesen Diskussionen gaben immer wieder die militärpolitischen Maßnahmen Rußlands, bei denen nicht genau auszumachen war, ob sie in defensiver oder offensiver Absicht durchgeführt wurden. Am Jahresende 1882 artikulierte Waldersee ein in Militärkreisen verbreitetes Unbehagen: „Unser Verhältnis zu Rußland ist äußerlich leidlich, eigentlich aber doch sehr unbehaglich. Sie rüsten fortwährend, bereiten den Krieg vor." Verstärkt wurde die Unruhe in der militärischen Führung durch umlaufende Gerüchte, wonach regelmäßige Kontakte zwischen der russischen und französischen Militärführung gepflegt wurden 17 . Die Tatsache, daß sich die zaristische Regierung weder durch äußeren Druck noch durch innere und finanzielle Schwierigkeiten davon abbringen ließ, in der Militärpolitik aus den Erfahrungen mit der deutschen Politik unbeirrt die Konsequenz zu ziehen, brachte die militärische und politische Führung des deutschen Reiches in Zugzwang. Hier dürfte der H a u p t g r u n d f ü r die Alarmstimmung liegen, die die russischen Truppenverschiebungen in Berlin auslösten. Jetzt trat das Dilemma einer deutschen Rußlandpolitik zutage, die auf der politischen und ökonomischen Ebene die Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus in Kauf genommen und vorangetrieben hatte, nun aber mit politischen Mitteln nicht verhindern konnte, daß er sich auf der militärpolitischen Ebene fortpflanzte. Der Zweibund hatte zur Entstehung dieses Dilemmas nicht nur beigetragen, sondern er verschärfte es noch, als Österreich-Ungarn - der deutschen Rückendeckung im Falle eines russischen Angriffs gewiß - im Zuge von Sparmaßnahmen eine Reduzierung des Friedenspräsenzstandes um 20 000 Mann vornahm. Nachträglich konnte der Zweibund damit jetzt auch in militärischer Hinsicht zur „partie inégale" werden 18 . Als Reaktion auf dieses militärpolitische Dilemma verfolgte Bismarck nach Abschluß des Zweibundes ein „neues Programm f ü r Deutschlands Außenpolitik", dessen Schwerpunkte sich mit den Forderungen der militärischen Führung nach präventiven Sicherungen gegen den Zweifrontenkrieg deckten. 1. Die Steigerung der allgemeinen Kriegsbereitschaft f ü r den Zweifrontenkrieg. Das System des „bewaffneten Friedens", dessen Spitze sich bisher primär gegen Frankreich gerichtet hatte, wurde jetzt auch zur Grundlage der deutschen Rußlandpolitik. Bismarck teilte nicht nur uneingeschränkt die Uberzeugung Moltkes, daß Deutschland jetzt gewiß alle Ursache habe, „auf eine K r ä f tigung seines Heerwesens Bedacht zu nehmen, nachdem sämtliche Nachbarn in dieser Richtung fortschreiten", sondern zeigte sich entschlossen, die daraus abgeleiteten Forderungen Moltkes kompromißlos gegenüber allen Widerständen durchzusetzen 19 . Die Novelle zum Reichsmilitärgesetz vom 6. Mai 1880, die neben der Einführung einer allgemeinen Übungspflicht für die Ersatzreserve 242

erster Klasse die Friedenspräsenzstärke für den Zeitraum vom 1. April 1881 bis zum 31. März 1888 auf 427 274 Mann festlegte (zweites Septennat) - gegenüber bisher 401 659 - , bot im Sinne Moltkes eine vorläufig ausreichende Möglichkeit zur Steigerung der allgemeinen Kriegsbereitschaft und hatte darüber hinaus den Vorteil, daß die deutsche Militärpolitik in der Phase eines sich beschleunigenden Rüstungswettlaufs den innenpolitischen Auseinandersetzungen entzogen wurde 20 . Dennoch hatte die Erweiterung der militärischen Basis f ü r den Zweifrontenkrieg schon insofern unmittelbare innenpolitische Konsequenzen, als sie Bemühungen um die Herstellung der inneren Kriegsbereitschaft auch gegen Rußland einschloß. Die Reden Bismarcks und Moltkes während der Auseinandersetzungen um das zweite Septennat ließen deutlich die Konturen einer Verteidigungsideologie erkennen, die mit massiven Appellen an die „äußere" Gefahr Widerstände gegen den Ausbau des preußisch-deutschen Militärstaates durch Mobilisierung antifranzösischer und jetzt auch antirussischer Ressentiments systematisch zu überspielen suchte. Es ließ auch an Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig, wenn Bismarck im Juni 1882 vor dem Reichstag erklärte, seine ganze auswärtige Politik, die seit 1871 eine „übermächtige Koalition" gegen das Deutsche Reich verhindert habe, wäre ohne die deutsche Militärorganisation, ohne den Respekt, den sie einflößte, und ohne die Abneigung des Auslandes, mit den gutgeschulten und gutgeführten Truppen anzubinden, längst gescheitert 21 . 2. Im Gegenzug zu den militärischen Maßnahmen, mit denen Rußland seine Defensivstellung zur preußischen Grenze hin ausbaute, wurde das Prinzip einer nachholenden Steigerung der deutschen Kriegsbereitschaft für den Zweifrontenkrieg zum festen Bestandteil der deutschen Militärpolitik. Trotz der überlegenen Offensivkräfte der Zweibundarmeen übte die militärische Führung seit 1879 in dieser Richtung unablässig Druck aus: Im April 1880 drängte Moltke angesichts der russischen Truppenkonzentrationen auf die Verstärkung der preußischen Garnisonen an der Ostgrenze. Im Mai/Juni 1881 und erneut im Frühjahr 1882 forderte der Generalstab den Ausbau der Ostbahnen, und kurz nachdem Waldersee im Januar 1882 den Posten des Generalquartiermeisters angetreten hatte, hielt er „sehr gründliche Änderungen" in der Mobilmachung, die dem „Aufmarsch an der Ostgrenze besondere Aufmerksamkeit" beimaßen, f ü r „dringend nötig". Zehn Monate später erschien es ihm unerträglich, daß sich die deutsche Militärpolitik gegenüber den militärischen Maßnahmen Rußlands immer noch „höchst schüchtern" verhielt 22 . Prinzipiell stand Bismarck den Forderungen der Militärs keineswegs ablehnend gegenüber. Er befürwortete Maßnahmen zur Steigerung der deutschen Offensiv- und Defensivkraft nach Osten, die ohne großes Aufsehen durchgeführt werden konnten. Weitergehende Forderungen, wie etwa den Ausbau der Ostbahnen, lehnte er zunächst nur deshalb ab, weil erstens aufgrund der dafür erforderlichen zusätzlichen Finanzmittel die deutsche Militärpolitik gegenüber Rußland in die öffentliche Diskussion gezogen worden wäre, und weil er zweitens die Konsequenzen eines militärisch und politisch nur schwer unter Kontrolle zu haltenden deutsch-russi16-

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sehen Rüstungswettlaufs voraussah. Bis zum Jahresende 1882 jedenfalls suchte er durch Verzicht auf militärische Maßnahmen, die von Rußland als militärische Provokation empfunden werden konnten, zu vermeiden, daß sich „auf beiden Seiten der Grenze Gewicht an Gewicht" hing 23 . 3. Ergänzend zur Steigerung der allgemeinen Kriegsbereitschaft für den Zweifrontenkrieg sowie dem noch verdeckten Ausbau der militärischen Position nach Osten arbeitete die Bismarcksche Diplomatie daran, die Zweibundmächte für den Kriegsfall militärisch zu entlasten. Der Dreibund war in dieser Hinsicht ein nicht zu unterschätzender Erfolg. Denn während auf der einen Seite ein Teil der militärischen K r ä f t e Frankreichs durch Italien gebunden wurden, schuf er die Voraussetzung dafür, daß Österreich-Ungarn im Sinne des preußischen Generalstabes seine Offensivkraft ganz gegen Rußland einsetzen konnte 24 . Auf das Ziel, die militärpolitische Ausgangslage der Zweibundmächte für den Krieg gegen Frankreich und Rußland zu verbessern, war auch die Bismarcksche Balkanpolitik fixiert. Ein gegen Rußland gerichteter „Cordon militaire", dessen Bestandteile neben Österreich-Ungarn vor allem Rumänien und die Türkei bildeten, hatte den militärpolitischen Vorteil, daß im Falle eines deutsch-russischen Krieges ein großer Teil der russischen Streitkräfte auf dem Balkan gebunden waren. Insgesamt war die Bismarcksche Diplomatie also noch durchaus in der Lage, den allgemeinen Rüstungszwang in Grenzen zu halten und zu vermeiden, daß durch die deutsche Militärpolitik der deutschrussische Rüstungswettlauf beschleunigt wurde. Allen Versuchen zum Trotz, die antideutsche Spitze der russischen Militärpolitik abzubiegen und die Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus auf der militärpolitischen Ebene in Grenzen zu halten, traten im Verlaufe des Jahres 1883 bereits die militärischen und politischen Implikationen einer deutschen Militär- und Außenpolitik zutage, die immer ausschließlicher in militär- und bündnispolitischen Präventivstrategien und militärischen Abschreckungseffekten „Sicherungen" gegen den Zweifrontenkrieg suchte. Der deutsch-russische Rüstungswettlauf steigerte sich auf beiden Seiten zu einer Rüstungspsychose, in deren Sog auf Seiten der deutschen Militärführung das Problem eines Präventivkrieges gegen Rußland unmittelbar Aktualität gewann. Die Alarmstimmung, die bereits 1882 die Bildung von vierten Bataillonen in der russischen Armee bei der deutschen Militärführung ausgelöst hatte, nahm zu, als im Verlaufe des Jahres 1883 die Truppen an der deutschen und österreichischen Grenze nach und nach verstärkt wurden und die russische Militärführung sich bemühte, vor allem durch Maßnahmen auf dem Gebiete des Eisenbahnwesens die allgemeine Kriegsbereitschaft zu erhöhen 25 . Während auf deutscher Seite die militärische Führung daher verstärkt auf „Schutzmaßnahmen" an der östlichen Grenze drängte, setzte sich auf russischer Seite die Uberzeugung durch, daß es der deutschen Militärund Außenpolitik keineswegs nur um „Schutzmaßnahmen" gegen einen russischen Angriff gehe. Die beschleunigten russischen Rüstungsanstrengungen des Jahres 1883 machten deutlich, daß derartige Befürchtungen nicht nur von der militärischen Führung geteilt wurden. Der Chef des Generalstabes, Obrucev, 244

schien geradezu „von der fixen Idee besessen, daß Deutschland über kurz oder lang Rußland mit Krieg überziehen" werde und schlug aus diesem Grunde Maßregeln vor, die bei preußischen Militärs den Eindruck erweckten, „daß die russische Armee sich zu einem nahe bevorstehenden Krieg fertig macht". Die russische Presse und die Petersburger Gesellschaft reagierten ähnlich wie die militärische Führung. Die Bismarcksche Pressekampagne gegen die russischen Truppenaufstellungen an der Grenze zu Preußen wurde allgemein als Bestätigung für deutsche Kriegsabsichten interpretiert, und in St. Petersburg glaubte man im Herbst 1883 „allgemein an einen bevorstehenden europäischen Krieg". Überall in Petersburg könne man jetzt hören, daß Deutschland den Krieg wolle, und es erschien von vornherein als „ganz erfolglos, mit vernünftigen Gründen diese unsinnige Ansicht zu bekämpfen" 26 . Unter dem Eindruck derartiger Berichte zeigten sich in der deutschen Militärführung Anzeichen einer Panikstimmung. Waldersee, der sich in dieser Zeit „ziemlich viel" mit Politik beschäftigte, sah sich gerade dadurch in seiner Überzeugung bestärkt, „daß die Russen den Krieg vorbereiteten". „Die russischen Rüstungen werden immer klarer; wenn wir sie ruhig mit ansehen, so gehen uns die Vorteile, die wir bisher hatten, verloren", notierte er im Oktober 188327. Die Überzeugung Waldersees, „daß wir zum Krieg treiben", setzte sich allmählich in Berlin durch: „Der Kaiser beginnt auch unruhig zu werden", notierte Waldersee schon Ende September28. Beunruhigt stellte auch Bismarck im Dezember fest, daß die Russen „viel mehr Eisenbahnen" bauten, „als sie für den Handel und Verkehr" brauchten, und daß die Garnisonen in den Städten und Festungen der westlichen Gouvernements inzwischen auf Kriegsfuß gebracht worden waren 29 . Zwar bestritt er noch im September die unmittelbare Gefahr eines russischen Angriffs. Derartige Vermutungen hätten sich in der Vergangenheit immer wieder als falsch erwiesen30. Dennoch teilte er die Befürchtungen der Militärs, daß ein untätiges Abwarten die militärische Ausgangslage des Deutschen Reiches in einem nicht mehr vertretbaren Maße verschlechtere. Hatte er sich bisher noch gegen Forderungen der Militärs gewandt, die Kriegsbereitschaft nach Osten durch auffällige Maßnahmen zu steigern, so setzte er jetzt „rein defensiven Vorkehrungen" keinen Widerstand mehr entgegen. Um den Preis einer Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus auf der militärpolitischen Ebene stimmte er dem Ausbau der Ostbahnen und der Festungen in den östlichen Provinzen ebenso zu wie der Forderung, Garnisonsverstärkungen „auf schwachen Punkten" der preußischen Grenze vorzunehmen31. 5.2.2 Sozialkonservative

Innenpolitik und ökonomische nach außen

Stabilisierungspolitik

Die Frage nach der Wechselwirkung zwischen dem Sieg der innenpolitischen „Reaktion" in Deutschland und kurz darauf in Rußland einerseits und der Entwicklung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen andererseits zielt 245

auf ein seit dem Ende der 70er Jahre offenkundiges Dilemma deutscher Rußlandpolitik: Muß te der deutsch-russische Antagonismus, nachdem er ein hohes Konfliktniveau erreicht hatte, neben dem deutsch-französischen Gegensatz als unauflösbare Konstante der europäischen Politik hingenommen werden, oder gab es noch Möglichkeiten, ihn abzubauen bzw. seine Eskalation zu verhindern? Von der Antwort auf diese Frage hing es ab, ob Rußland endgültig zu den potentiellen Gegnern des Reichs in einem Zweifrontenkrieg gerechnet werden mußte, und - wenn das der Fall war - die deutsche Politik in einem internationalen Rüstungswettlauf, dessen Tempo vielleicht von Frankreich und Rußland vorgegeben würde, letztlich auf militärische Prophylaxe gegen den Zweifrontenkrieg verwiesen war. Die Erfahrungen der 70er Jahre hatten gezeigt, daß dieses Dilemma im Rahmen diplomatischer Integrations- und Diversionsstrategien nicht bewältigt werden konnte, da es Ausdruck sozialökonomischer Krisenentwicklungen war, für deren Bewältigung den politischen H e r r schaftssystemen der östlichen Monarchien nur mehr oder weniger begrenzte Anpassungskapazitäten zur Verfügung standen. Unter innenpolitischem Druck war das mühsam ausbalancierte Gleichgewicht zwischen den außenpolitischen Interessen der Drei-Kaiser-Mächte und ihrer gemeinsamen Frontstellung gegen die „internationale Revolution" zusammengebrochen. Mehr noch: Die Weigerung der militärisch-feudalen Eliten, auf dem Wege einer politischen Liberalisierung - in Rußland durch eine „Konstitution", in Preußen-Deutschland durch eine Parlamentarisierung - die innenpolitischen Spannungen zu entschärfen, legte die deutsche und zugleich russische Innenpolitik auf eine sozialkonservative und politisch reaktionäre Linie fest, die eine Verschärfung der zwischenstaatlichen Antagonismen unvermeidlich machte. Die Entwicklung in dieser Richtung schien unaufhaltsam. Schon das Bismarcksche Kalkül ging nicht auf, daß die zaristische Regierung in der deutschen Politik nur eine vorübergehende „Unbequemlichkeit" erblicken werde, in ihren Bemühungen, „die Revolution in Schach zu halten", schließlich aber zu der Einsicht kommen müsse, wie nützlich ihr die deutsche Politik gewesen sei und auch in Z u k u n f t sein könne. Der außenpolitisch frustrierte Zarismus zeigte aber keineswegs die erwartete Dankbarkeit, und die „panslawistische Partei" erlitt nicht den erhofften „échec" 1 . Statt dessen wurde die Animosität gegen das Deutsche Reich unter Alexander III. zum unverzichtbaren Integrations- und Stabilisierungsfaktor der innenpolitischen und sozialen Reaktion. U n d während sich der „amtliche Verkehr beider Regierungen" trotz Drei-Kaiser-Bündnis nur „in glatten Formen" bewegte, suchte die Autokratie in einer gegen Deutschland gerichteten Militärpolitik ihr militärisches und außenpolitisches Prestige wiederzugewinnen 2 . Darüber hinaus stützte sich auf beiden Seiten eine reaktionäre Innenpolitik auf soziale Gruppen, deren wirtschaftliche Interessen auf längere Sicht nur um den Preis einer weiteren Eskalation des deutsch-russischen Wirtschaftsantagonismus befriedigt werden konnte 3 . Im Auswärtigen Amt, wo wie überall in Berlin „die Verhältnisse in Rußland . . . mit fieberhafter Spannung verfolgt" wurden, war man bei grundsätzlicher 246

Anerkennung der „gebotenen Prophylaxis" gegen die Gefahr eines Zweifrontenkrieges nicht nur auf die russischen Rüstungen an der preußischen Grenze und die Äußerungen antideutscher Tendenzen in der russischen Innen- und Außenpolitik fixiert 4 . Dagegen ging die Bismarcksche Rußlandpolitik in dem Maße, in dem die politischen Sicherungen gegen den Zweifrontenkrieg versagten, dazu über, durch eine kalkulierte Kombination militärischer Abschrekkung, ökonomischer Erpressung und diplomatischer Intrige die militärische Schwäche Rußlands, seine ökonomischen Schwierigkeiten und Abhängigkeiten sowie seine außenpolitische Isolierung auszubeuten. In der Perspektive von Schweinitz war das die Basis, auf der die Bismarcksche Rußlandpolitik der 80er Jahre agierte und die sie bei aller Virtuosität in der Ausführung nicht verlassen konnte, ohne von den Militärs vor die Alternative des Präventivkrieges nach zwei Fronten gestellt zu werden: „Stark genug, um uns nicht ohne zwingende Notwendigkeit zum Kriege treiben zu lassen, die gleiche Stärke aber bei der russischen Regierung vermissend, sind wir genötigt, ihr auf diplomatischem, ökonomischem und militärischem Gebiete eine Aggression . . . aussichtslos zu machen." 5 Auf handelspolitischem Gebiet fand diese Konzeption ihren Niederschlag in der Entschlossenheit, an der mit der Zolltarifreform von 1879 eingeschlagenen Richtung der deutschen Handelspolitik auf jeden Fall festzuhalten. Das außenpolitische Interesse, Rußland wirtschaftlich zu schwächen, deckte sich hier mit dem innenpolitischen, den sozialkonservativen und finanziellen Effekt der Reform nicht zu schwächen®. Im Dezember 1879 zeigte sich Bismarck entschlossen, gegen die russischen Wirtschaftsinteressen eine Erhöhung der Agrarzölle durchzusetzen, wofür wiederum die Schädigung des deutschen Industrieexportes den Vorwand liefern sollte. „Im Hinblick auf die Eventualität von Kampfzöllen" forderte er „eine Zusammenstellung des Geldwertes der gesamten russischen Einfuhr und Durchfuhr bei uns an Getreide, Mehl, Saaten, Holz, Hanf, Talk und sonstigen Hauptartikeln." Im Februar 1880 brachte die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" einen Aufsatz über die Bedrohung der deutschen Eisenindustrie durch die zu erwartenden russischen Zollerhöhungen, und im Verlaufe des Jahres wiederholte Bismarck immer wieder die Drohung mit Kampfzöllen gegen Rußland 7 . Diese wirtschaftlichen Kampfansagen gegen Rußland hörten seit Jahresende 1880 trotz weiterer russischer Zollerhöhungen auf. Hinweise auf die allgemeine Zolltariferhöhung von 1881 vor allem von Seiten der Textilindustrie waren für Bismarck kein Anlaß, „Schritte zu unternehmen" 8 . An der ablehnenden Haltung gegenüber den Forderungen der deutschen Industrie, ihre russischen Exportinteressen bei der zaristischen Regierung wirksamer zu vertreten, änderte sich auch nichts, als der VDESI und der Cdl im Herbst 1881 ihr nachdrückliches Interesse an einer Regelung der deutsch-russischen Handelsbeziehungen bekundeten und bald darauf unter dem Eindruck neuer russischer Zollerhöhungen auf Eisenfabrikate neben der Textilindustrie auch von der Eisenindustrie mit größerem Nachdruck als bisher Schritte gegen 247

die russische Zollpolitik gefordert wurden 9 . Auf die Eingabe des Präsidenten des „Verbandes Deutscher Leinenindustrieller", Delius, reagierte Bismarck mit der eindeutigen Anweisung, daß „zur Zeit von besonderen Schritten in dieser Angelegenheit abgesehen werden" solle, und schließlich versuchte er mehrfach, die anhaltenden Agitationen der Industriellen gegen die russische Zollpolitik zu unterbinden 10 . Diese ablehnende Haltung war keineswegs durch eine plötzliche Rücksichtnahme auf die russischen Wirtschaftsinteressen bestimmt, sondern durch konkrete innenpolitische Schwierigkeiten gegen eine konsequente Kampfzollpolitik sowie eine sehr nüchterne Einschätzung der damit verbundenen Vor- und Nachteile. 1. Im Mai 1881 akzeptierte Österreich-Ungarn einen Handelsvertrag, der ohne tarifliche Bindung die Meistbegünstigung vorsah und sich bis auf geringfügige Erleichterungen im Grenzverkehr nur wenig vom Provisorium vom Dezember 1878 unterschied. Damit schwand das Interesse, durch Kampfzölle Österreich-Ungarn die „Konzession einer Ausnahmestellung" anzubieten 11 . 2. Nachdem das Problem, den wirtschaftlichen Interessenausgleich zwischen den Zweibundmächten auf Kosten Rußlands herstellen zu müssen, seine Aktualität verloren hatte, blieb die grundsätzliche Frage nach den Aussichten, die zaristische Regierung überhaupt zu zollpolitischen Konzessionen zwingen zu können. Angesichts der strategischen Funktion der Zölle für die russische Finanz- und Wirtschaftspolitik wurden diese Aussichten von vornherein gering eingeschätzt12. 3. Die im Reichsschatzamt angestellten Überlegungen über die wirtschaftlichen Folgen von „Repressalien" gegen Rußland führten zu dem Ergebnis, daß sie sich in der gegenwärtigen Situation als Bumerang erweisen und die deutschen Wirtschaftsinteressen stärker als die russischen schädigen könnten 13 . 4. Für die Anwendung der wirksamsten Repressalien, nämlich der Erhöhung der deutschen Agrarzölle, fehlten noch die innenpolitischen Voraussetzungen. Zwar war das agrarische Schutzbedürfnis durch die Zolltarifreform von 1879 noch keineswegs befriedigt worden, und auch Bismarck war, wie der Reichstagsabgeordnete Sonnemann im Frühjahr 1881 vermutete, durchaus bereit, „allen Anträgen zur Herbeiführung von Zollerhöhungen, die an ihn gelangen würden, seine Aufmerksamkeit zu schenken". Aber in dem aus den Wahlen von 1881 hervorgegangenen Reichstag mit seiner „negativen Majorität" aus Zentrum, Fortschritt, Sozialdemokraten, Polen, Elsaß-Lothringern scheiterten zwischen 1882 und 1884 wiederholte Vorstöße zugunsten höherer Agrarzölle 14 . Andererseits war die Grundlage der „Solidarität" agrarischer und industrieller Interessenpolitik bei weitem zu schwach, um wiederum die agrarisch-industrielle Interessenphalanx gegen den Reichstag zu mobilisieren. Sicherlich bestand in den industriellen Interessenorganisationen weiterhin ein aktuelles Interesse an der Öffnung des russischen Marktes. Aber bis auf entschlossene Kampfzölle aus der Textilindustrie war doch die Mehrheit der Eisenindustriel248

len nicht bereit, ihren russischen Exportinteressen das Opfer höherer Agrarzölle zu bringen 15 . 5. Während die Getreidepreisentwicklung auf dem europäischen Agrarmarkt und die Entwicklung der russischen Getreideeinfuhr in den ersten Jahren nach der Zolltarifreform von 1879 keinen unmittelbaren Anlaß bot, um agrarische Konkurrenzängste zu steigern, stellte gerade die Tatsache, daß die Steigerung der russischen Getreideeinfuhren sich nicht in dem Maße der 70er Jahre fortsetzte, nicht nur den Kampfwert höherer Agrarzölle in Frage, sondern machte höhere Agrarzölle auch in finanzieller Hinsicht zu einem fragwürdigen Experiment". 6. Auch ohne generelle Erhöhung der deutschen Agrarzölle war die Lage der russischen Landwirtschaft in der ersten Hälfte der 1880er Jahre so prekär, daß das außenpolitische Ziel eines wirtschaftlich geschwächten Rußland gesichert war 17 . Obwohl die Summe dieser Schwierigkeiten und Überlegungen, die gegen eine konsequente Kampfzollpolitik sprachen, noch ein Hindernis bildete, um das Prinzip der präventiven Sicherung gegen den Zweifrontenkrieg konsequent auf die Ebene der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen zu übertragen, stand der Bismarckschen Rußlandpolitik in der Abhängigkeit der russischen Finanzwirtschaft von den europäischen Kapitalmärkten ein nicht weniger wirksames Sanktionsinstrument zur Verfügung. Die Möglichkeit, durch finanziellen Druck die russische Militärpolitik unmittelbar zu beeinflussen, war noch nie so günstig wie nach dem russisch-türkischen Kriege 18 . Nachdem wegen der russisch-englischen Rivalität schon in den letzten Regierungsjahren Alexander II. der englische Kapitalmarkt für russische Staatsanleihen blockiert worden war, hatte sich aufgrund der kritischen Entwicklung der Finanzwirtschaft einerseits und der Blockierung neuer Staatsanleihen durch die Rothschildgruppe andererseits die finanzielle Abhängigkeit vom deutschen Kapitalmarkt soweit gesteigert, daß die Bismarcksche Rußlandpolitik, die die deutsch-russischen Beziehungen „politisch" nicht aus der Baisse brachte, geradezu animiert wurde, sich auch „finanziell" in die Baisse zu begeben19. Der Versuch, der zaristischen Regierung den Ausweg aus der finanziellen Zwangssituation zu blockieren, orientierte sich an drei kurzfristigen Zielvorstellungen, die in ihrer Gesamtheit auf lange Sicht von der Möglichkeit ausgingen, daß das Tempo des internationalen Rüstungswettlaufs verlangsamt und der militärischen Alternative des Präventivkrieges gegen die potentiellen Gegner die Spitze genommen werden konnte: Erstens lag die Vorstellung zugrunde, daß die zaristische Regierung durch finanzielle Schwierigkeiten davon abgehalten werden könne, den europäischen Status quo in Frage zu stellen; zweitens, daß sie durch finanziellen Druck zur Zurücknahme militärischer Maßnahmen gezwungen werden könne, die von den preußischen Militärs als besonders bedrohlich empfunden wurden, weil sie die den Planungen für den Zweifrontenkrieg zugrunde liegende Überlegenheit der Zweibundmächte bei der Mobilisierung zumindest verringerte; drittens, 249

daß die weitere Verschärfung der Finanzlage die zaristische Regierung doch noch dazu zwingen könne, den Militäretat drastisch zu kürzen 2 0 . Vor dem Hintergrund einer weiteren Verschlechterung der russischen Finanzlage und der Blockierung neuer Staatsanleihen durch Rothschild und Bleichröder konnte Bismarck in den Jahren 1880/81 gelassen das Ergebnis der Diskussionen um Kürzungen des Militäretats abwarten. Als sich freilich um die Jahreswende 1881/82 die L a g e der Finanzwirtschaft nach dem erneuten Scheitern von Anleiheversuchen und dem anhaltenden Druck auf den Rubelkurs einem kritischen Punkt näherte, ohne daß Alexander I I I . die Bereitschaft erkennen ließ, aus dem Abschluß des Drei-Kaiser-Bündnisses militärische Konsequenzen zu ziehen und entsprechend den deutschen Forderungen den Rückzug vorgeschobener Truppen anzuordnen, verschärfte Bismarck den Finanzdruck, indem er in unauffälliger Weise im Besitz der „Seehandlung", des staatlichen preußischen Bankinstituts, befindliche russische Wertpapiere abstoßen ließ. Zur Bewältigung des Problems, „daß etwaige Verkäufe von Russen nur mit äußerster Vorsicht von dem Institute behandelt werden" durften, wollte man „nicht die ganze Operation scheitern lassen", erwies sich die Unterstützung Bleichröders als sehr nützlich. Denn aus Solidarität mit Rothschild und den russischen J u d e n erklärte sich Bleichröder bereit, seine „bescheidenen Fachkenntnisse zur Disposition" zu stellen. Bis A n f a n g Juli 1882 hatte Bleichröder „ f ü r Rechnung des Reichseisenbahnbaufonds" unauffällig 110 000 P f u n d russisch-englischer Anleihen verkauft 2 1 . Indirekt trug diese Aktion dazu bei, daß die Rothschildgruppe mit der Entlassung des Innenministers Ignat'ev einen Teilerfolg erzielen konnte und der Zar sich gezwungen sah, durch demonstrative Bekundungen seiner Friedensliebe einer Verstimmung des deutschen Kapitalmarktes vorzubeugen. Die Ernennung Bunges zum Finanzminister und von Giers zum Außenminister verfehlten sicherlich nicht ihre Wirkung. Aber gerade deswegen lösten die Bekundungen russischer Friedensliebe bei Bismarck zwiespältige Gefühle aus. War er schon weit davon entfernt, in der Ernennung von Giers einen Ausdruck deutschfreundlicher Gesinnung zu sehen, so wurde er geradezu alarmiert durch die Aussicht, daß es der zaristischen Regierung ausgerechnet mit H i l f e des deutschen Kapitalmarktes gelingen könne, ihre Anleihe- und Finanzklemme zu überwinden und mit deutschem K a p i t a l Rüstungsausgaben zu finanzieren. Im M a i 1882 ließ Bismarck keinen Zweifel daran, daß ihm eine Besserung der russischen Finanzlage grundsätzlich unerwünscht sei. Als Schweinitz Zweifel daran äußerte, daß auf dem von Bunge eingeschlagenen Weg das Budgetgleichgewicht wieder hergestellt werden könne, kommentierte Bismarck: „ U n d wenn es erreicht, so wird Rußlands H a l t u n g den Frieden bedrohen. Gute russische Finanzen sind der K r i e g . " 2 2 N u n bestand zwar nicht die Aussicht, daß sich die L a g e der russischen Finanzwirtschaft schon kurzfristig durchgreifend bessern konnte. Gegenüber dem Frühjahr hatte sich die Situation bis zum Jahresende 1882 vor allem insofern geändert, als in der militärischen Führung die Unruhe über die russischen Truppenkonzentrationen zugenommen hatte und die zaristische Regierung erfolgversprechende Verhandlungen führte, um

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den Anleiheboykott zu durchbrechen 23 . Wie Bismarck war sie sich darüber klar, daß in dieser Lage viel von der H a l t u n g des deutschen Kapitalmarktes und deutscher Bankhäuser abhing. Deshalb beteuerte Giers während seines Besuches in Varzin Ende November 1882, wie „friedensbedürftig" Rußland sei, „um seine Finanzen zu heben". Die „panslawistische" Presse überbot sich dabei, ihre antideutsche Vergangenheit zu leugnen. Während der „Golos" f ü r gute Beziehungen mit Deutschland plädierte, ging Katkov in der „Moskauer Zeitung" noch weit darüber hinaus, indem er Gortschakow und der „frankophilen" Presse die Schuld an den außenpolitischen Mißerfolgen zuschob und in bezug auf die deutsch-russischen Beziehungen prognostizierte, „daß keine böswilligen Parteien das Band lockern werden, welches zwei Mächte verknüpft, deren wirkliche Interessen sich überall begrenzen, ohne sich irgendwie zu kreuzen" 24 . Diesen Friedensbeteuerungen zum Trotz hielt Bismarck es mit Waldersee: „Wahrscheinlich hat man eine Anleihe vor; wir dürfen aber nicht vertrauensselig werden." Beide verständigten sich über eine „Preßkampagne", um wie Waldersee sich ausdrückte - „den Russen zu zeigen, daß wir finanziell ihnen doch große Schwierigkeiten bereiten können". Nach einigem Zögern gab schließlich auch Wilhelm I. seine Zustimmung, allerdings unter der Bedingung, „daß die offiziösen Zeitungen herausbleiben" 25 . Der Erfolg der Kampagne, die mit einem „rein militärischen Artikel" in der „Kölnischen Zeitung" (15. Dezember 1882) begann und von einer Kampagne der Rothschildgruppe in der englischen Finanzpresse begleitet wurde, war durchschlagend. Der Artikel der „Kölnischen Zeitung" hat „ungeheures Aufsehen gemacht; an der Börse soll heute Panik gewesen sein", notierte Waldersee noch am selben Tage. U n d am 20. Dezember 1882: „Unsere Zeitungskampagne ist von ungeheurem Effekt gewesen. An den Börsen der Welt große Aufregung und starkes Sinken aller russischen Werte." 26 Mit dem drastischen Kurssturz der russischen Werte war freilich noch nicht darüber entschieden, ob die Kampagne den von den Militärs und Bismarck erhofften Zweck erreichte und das Vertrauen in den russischen Staatskredit so stark erschüttert wurde, daß die zaristische Regierung gezwungen wurde, ihre militärischen Maßnahmen an der Grenze zu Preußen zurückzunehmen und den Militäretat zu kürzen. Noch am 2. Dezember 1882 hatte die „Berliner BörsenZeitung" den russischen Staatskredit gegen die Angriffe der „Times" mit dem Argument verteidigt, daß zwar zugegebenermaßen die russische Finanzlage nicht gerade rosig, dennoch das Vertrauen in den russischen Staatskredit nicht zu erschüttern sei, solange die friedliche Richtung der russischen Außenpolitik andauere. „Erst wenn man dieser mißtraut, wird man auch dem russischen Kredit mißtrauen", und dann würden die russischen Werte „wahrscheinlich rasch und plötzlich herabgehen." 27 Mit dem Sturz der russischen Werte ging zwar die Prognose der „Berliner Börsen-Zeitung" äußerlich in Erfüllung, aber ob er die Folge eines grundsätzlich erschütterten Vertrauens in die Friedlichkeit der russischen Außenpolitik war, blieb fraglich. Während Waldersee noch über die durchschlagende Wirkung der Kampagne jubelte und Schweinitz in 251

der „Bewegung auf dem G e l d m a r k t " ein „ S y m p t o m " dafür zu sehen glaubte, „daß die bisherige russische Politik, die Rüstungen und Aufstellungen in ganz E u r o p a das Gefühl wachhalten, daß man auf einen plötzlichen Friedensbruch von Seiten Rußlands gefaßt sein muß, sobald finanzielle und politische C h a n cen den E r f o l g eines Krieges zu versprechen scheinen", löste der Sturz der russischen Werte bei Bismarck eher zwiespältige Gefühle aus: „Die Börse hat sich's übrigens sehr zu Herzen genommen", meinte er fünf T a g e nach dem Aufsatz in der „Kölnischen Zeitung" gegenüber Busch, „ich glaube aber, wenn die Kurse fallen, so ist's mehr Besorgnis vor F r a n k r e i c h . " 2 8 D e r Versuch, die Spitze einer psychologischen Kriegführung, die sich seit der Reichsgründung einseitig gegen Frankreich gerichtet hatte, plötzlich gegen R u ß l a n d umzukehren, drohte sich als Bumerang zu erweisen, da er sofort die Furcht v o r einem neuen deutsch-französischen Krieg aktivierte, wobei Deutschland sehr schnell wieder - wie 1 8 7 5 - in die R o l l e des vermutlichen Angreifers gedrängt werden konnte. N a c h mehr als einem J a h r z e h n t deutscher Politik, zu deren außenund innenpolitischen Standardrepertoire die Propagierung der deutsch-russischen

Freundschaft

einerseits

und

die

psychologische

Kriegführung

gegen

Frankreich andererseits gehört hatte, w a r die internationale Ö f f e n t l i c h k e i t gegenüber der Möglichkeit eines neuen deutsch-französischen Krieges erheblich stärker als gegenüber der Möglichkeit russischer Kriegsabsichten gegen die führende Militärmacht in Europa sensibilisiert worden. H i e r dürfte nicht nur die Ursache für das gesteigerte Unbehagen liegen, mit dem Wilhelm I. auf das E r gebnis der K a m p a g n e reagierte 2 9 . Bismarck blies sie sofort ab, indem er sich wie schon 1875 - wieder einmal von seinem „Presselaborate" distanzierte und nur vier T a g e später in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" den A u f satz abdrucken ließ, in dem K a t k o v vor Beginn der K a m p a g n e die Existenz grundsätzlicher Gegensätze zwischen Deutschland und R u ß l a n d bestritten hatte 3 0 . Mit der abrupten Kehrtwendung ließ sich z w a r der Eindruck erwecken, als ob die K a m p a g n e ein E r f o l g gewesen sei, zumal die „panslawistische" Presse weiterhin unablässig die russische Friedensliebe beteuerte 3 1 . I m H i n b l i c k auf die intendierten Ziele w a r die K a m p a g n e jedoch ein eindeutiger Mißerfolg. E r stens war das Vertrauen in die friedliche Richtung der russischen Außenpolitik keineswegs angeschlagen, geschweige denn gründlich erschüttert worden. W ä h rend zweitens im Gegenteil durch die unablässigen und systematisch gesteuerten Friedensbeteuerungen der russischen Diplomatie und der russischen Presse das Vertrauen in die friedliebende russische Außenpolitik erhalten blieb, wurden die Rüstungsmaßnahmen an der preußischen Grenze beschleunigt fortgesetzt. I m April 1883 formulierte Waldersee sein Unbehagen über diese E n t wicklung: „ O b w o h l es in der Welt recht friedlich aussieht, beschäftigt mich doch R u ß l a n d sehr; es rüstet ganz konsequent, wenn auch nicht gerade so, daß an einen nahen Krieg zu glauben ist." 3 2 Drittens gab es nicht die geringsten Anzeichen dafür, daß die zaristische Regierung bereit war, durch eine R e d u zierung der Rüstungsausgaben günstigere Voraussetzungen für neue Anleiheverhandlungen zu schaffen. Z w a r war die Finanzlage weiterhin kritisch. D o c h

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bestritt Bunge demonstrativ die Notwendigkeit einer neuen Anleihe, während im Budget für 1883 der Etat des Kriegs- und Marineministeriums prompt eine höhere Steigerungsrate als im Vorjahr aufwies 33 . Vorläufig war jedenfalls damit die Möglichkeit verstellt, finanziellen Druck auf die zaristische Regierung auszuüben. Obwohl Bismarck mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen konnte, daß „für weitere russische Rüstung ausländisches Geld erforderlich" sei34, war doch die Aussicht, daß die zaristische Regierung zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt zu neuen Anleiheversuchen gezwungen würde und der Druck dann wieder verstärkt werden konnte, viel zu vage. Weder die Entwicklung auf dem europäischen Kapitalmarkt, noch die Entwicklung des Verhältnisses zwischen der Rothschildgruppe und der zaristischen Regierung, noch der Ausgang der Getreideernte waren einigermaßen genau im voraus zu bestimmen. Das hatte die Konsequenz, daß Bismarck nicht nur die diplomatischen Bemühungen um militärische Sicherungen gegen den Zweifrontenkrieg verstärkte, sondern jetzt auch dem Drängen der preußischen Militärs nachzugehen bereit war, die russischen Rüstungen mit offenen militärischen Gegenmaßnahmen zu beantworten. Die schnelle Eskalation des deutsch-russischen Rüstungswettlaufs, die am Jahresende ihren Höhepunkt erreichte, schien damit unaufhaltsam 35 . Darüber hinaus provozierte die zunehmend eindeutiger hervortretende antirussische Spitze der deutschen Militärpolitik und das durch die Pressekampagne gegen den russischen Kredit geschärfte Bewußtsein, von einem potentiellen Kriegsgegner wirtschaftlich und finanziell abhängig zu sein, eine russische Gegenreaktion, die außer beschleunigten Rüstungen die Bemühungen einschloß, die bestehenden politischen Bindungen und ökonomischen Abhängigkeiten zu lösen 3 '. Die Gefahr, daß sich die militärischen „Schutzmaßnahmen" auf beiden Seiten wechselseitig bis zu dem Punkt hochschaukelten, an dem es nur noch des Funkens bedurfte, um das Pulverfaß hochgehen zu lassen, wurde dadurch vergrößert, daß es innerhalb der zaristischen Regierung schon im Mai 1883 zu intensiven Diskussionen über die Zweckmäßigkeit einer Verlängerung des Drei-Kaiser-Bündnisses kam 3 7 . Dabei neigte sich die Waage zugunsten der Vorstellungen des Berliner Botschafters Saburov, der eine Verlängerung des Vertrages in der bestehenden Form ablehnte und eine Modifikation zugunsten Rußlands forderte 38 . Aber während in den folgenden Monaten die Rüstungsmaßnahmen auf beiden Seiten einem kritischen Punkt zusteuerten, zeichnete sich doch schon seit September 1883 ab, daß die zaristische Regierung nicht nur wieder auf die politische Linie des Drei-Kaiser-Bündnisses zurückschwenkte, sondern sogar dem militärischen Druck von Seiten Deutschlands endlich nachgab. Den Hauptgrund bildete die Tatsache, daß die russische Finanzverwaltung angesichts der zugespitzten Finanzlage, des anhaltenden Drucks auf den Rubelkurs und des Anleiheboykotts durch die Rothschildgruppe darauf angewiesen war, auf dem deutschen Kapitalmarkt eine neue Anleihe zu placieren 39 . In realistischer Einschätzung der Aussichtslosigkeit, eine neue Anleihe auf dem englischen oder französischen Markt unterzubringen, drängte das „Geheime Finanz-Comité" 253

den Zaren, die Polemik in der Presse gegen die Zweibundmächte zu unterbinden 40 . Offensichtlich konnte Alexander III. von der Unausweichlichkeit einer neuen Anleihe auf dem deutschen Kapitalmarkt überzeugt werden, denn er entsprach nicht nur dem Drängen des Finanz-Comités, sondern ließ in Erinnerung an die Wirkung des „rein militärischen Artikels" in der „Kölnischen Zeitung" durch eine Sonderkommission Dolgorukis Wilhelm I. versichern, daß er „niemals an eine feindliche Absicht gegen Preußen-Deutschland dächte", und die Giersche Außenpolitik dem strikten Befehl unterliege, jeden Anlaß zu vermeiden, der zum Kriege mit Deutschland führen könne. Scheinbar hielt der Zar es zu diesem Zeitpunkt noch für möglich, auch ohne Zugeständnisse, sei es in der Frage der russischen Truppenkonzentration, sei es hinsichtlich der Verlängerung des Drei-Kaiser-Bündnisses, eine ähnliche Kampagne wie im Vorjahr verhindern zu können. Denn Dolgoruki zeigte nicht die geringste Konzessionsbereitschaft. Während Wilhelm I. ihn darauf hinwies, daß „die in einem so enormen Maßstab noch immer fortgesetzte Vermehrung der russischen Streitk r ä f t e " an der preußischen und österreichischen Grenze im Widerspruch zu der „friedlichen Gesinnung" des Zaren stehen und die „Beängstigungen in Europa" fortdauern müßten, „solange die stete Vermehrung dieser Truppenmassen dauere", hielt Dolgoruki dem nur entgegen, „daß diese Akkumulierung der russischen Streitkräfte doch schon auf seit lange bestehendem Projekte basierte und nur jetzt bei der Vermehrung der Armee zur Ausführung hätte kommen müssen". Aber damit wollte sich Wilhelm I. nicht zufriedengeben. Während er gegen Eisenbahn- und Festungsbauten keine Einwendungen machte, bestand er darauf, „die Truppen an der Grenze zu vermindern" 4 1 . Auch in dem Gespräch, das Waldersee am 24. September 1883 mit Dolgoruki über „das seit einigen Jahren zwischen Rußland und Deutschland bestehende Mißtrauen" führte, rechneten sich beide Seiten hauptsächlich ihre gegenseitigen militärischen Maßnahmen vor. Erst als Waldersee unter Hinweis auf Informationen über die Verlegung einer weiteren, der 21. russischen Infanteriedivision aus dem fernsten Osten an die preußische Grenze massiv damit drohte, „daß dies eine Maßregel sein würde, die wir . . . nicht ruhig mit ansehen könnten", deutete Dolgoruki mit der Frage, ob die im „Militär-Wochenblatt" bekanntgemachten Verschiebungen an die preußische Ostgrenze als abgeschlossen angesehen werden könnten, falls die Verschiebung der 21. Infanteriedivision nicht stattfinde, die Möglichkeit eines Kompromisses in der Militärfrage an. Allerdings bestand Waldersee darauf, daß die im „Militär-Wochenblatt" noch nicht bekanntgegebene Verlegung „von noch etwas Kavallerie" bereits angeordnet sei. Sowohl die Reaktion Wilhelm I. als auch die drohende Sprache Waldersees machten Dolgoruki unmißverständlich klar, daß ohne deutliche Zugeständnisse auf ein Wohlwollen der deutschen Regierung für eine neue Anleihe nicht zu rechnen war. Nach Waldersee kam es nicht darauf an, daß der Zar seinem Wunsch nach Frieden „bloß in Worten Ausdruck" gebe, sondern durch „energisches Auftreten Rußland zeige, daß er der H e r r sei, und sich der Elemente entledige, die ihn gegen seinen Willen zum Krieg drängten" 4 2 . 254

Die Rückkehr Dolgorukis aus Berlin leitete die schrittweise Kapitulation des Zaren vor den deutschen Forderungen ein; denn nicht nur Bleichröder lehnte weiterhin konsequent die Beteiligung an einer neuen Anleihe ab, sondern auch andere Berliner Bankhäuser wollten sich nicht an einer neuen Anleihe beteiligen, weil - wie Bismarck konstatierte - „niemand den russischen Zuständen Vertrauen schenkte" 43 . Wegen der Lage auf dem europäischen Kapitalmarkt, die einem totalen Anleiheboykott für russische Anleihen gleichkam, lehnte Alexander I I I . den Vorschlag Obrucevs ab, die 21. Infanteriedivision an die Westgrenze zu verlegen, und im November 1883 gewann Waldersee bei einem Besuch des russischen Kriegsministers Vannovskij in Berlin, bei dem dieser die „friedlichsten Versicherungen" abgab und weitere Truppenverschiebungen leugnete, die Überzeugung, „daß sie die beabsichtigten Dislokationen aufgegeben haben, weil sie merkten, daß sowohl Österreich als wir uns nichts mehr bieten lassen wollten" 44 . Am 13. November 1883 kam Giers nach Berlin, worauf Waldersee sofort vermutete: „Vermutlich will er durch friedliche Versicherungen den Kurs des Rubels heben. Noch immer ist es Rußland nicht gelungen, eine Anleihe zustande zu bringen." Kurz darauf notierte er: „Die Russen sind augenscheinlich bemüht, ihre Friedensliebe möglichst glaubwürdig zu machen, schon um die Kurse etwas in die H ö h e zu bringen." 45 Zu seinen Verhandlungen in Varzin (14. November) brachte Giers die Zustimmung des Zaren zu Verhandlungen über die Verlängerung des Drei-Kaiser-Bündnisses mit, wobei Bismarck den Eindruck hatte, „daß Politik und Finanzen die Befestigung des Vertrauens der Kabinette und Börsen zur Dauer des Friedens und namentlich zur Festigkeit der deutsch-russischen Freundschaft f ü r Rußland wünschenswert" machten 4 ". Damit hatte Giers eine wichtige Voraussetzung zur Durchbrechung des Boykotts russischer Anleihen geschaffen. Kurz nachdem Wilhelm I. am 28. November 1883 bei einem Empfang des Präsidiums des Abgeordnetenhauses seine Freude über die „überraschend günstigen Beziehungen zu Rußland" bekundete, wagte das Bankhaus Mendelssohn am 4. Dezember 1883, die 6% ige Goldrente an die Berliner Börse zu bringen. Dabei konnte die „Berliner Börsen-Zeitung" angesichts des großen Zeichnungserfolges darauf hinweisen, daß „die in den letzten Tagen mit so großer Wärme und von so hoher Stelle her gegebenen Zusicherungen in bezug auf die friedliche Lage der russischen Politik das Terrain für diese Finanzoperation ganz außerordentlich günstig vorbereitet" haben 47 . Wenn Bismarck auch angesichts der Bereitschaft des Zaren zur Fortsetzung des Drei-Kaiser-Bündnisses darauf verzichtete, den jüngsten russischen Anleiheversuch durch eine massive Pressekampagne zu verhindern, so war er auf der anderen Seite doch wiederum weit davon entfernt, sich den Trumpf, den ihm die finanzielle Zwangslage der zaristischen Regierung zuspielte, frühzeitig aus der H a n d nehmen zu lassen. Dagegen sprach schon seine Neigung, die „friedliche Richtung" der russischen Politik, die sich in der Mission von Giers offenbar durchgesetzt hatte, „wesentlich als die Wirkung eines finanziellen Bedürfnisses anzusehen" 48 . Darüber hinaus machte er im Hinblick auf die Versuche 255

Bleichröders, doch noch einen Erfolg der neuesten Anleihe zu verhindern, unmißverständlich klar, worauf es ihm am Jahresende 1883 besonders ankam. Während Bleichröder mit allgemeinen Hinweisen auf die schlechte Finanzlage Rußland den Verkauf der Anleihe zu erschweren suchte, ließ Bismarck Bleichröder darauf hinweisen, daß er „eine wichtige Seite der F r a g e " nicht berührt habe: „Der H a u p t g r u n d für die schlechte finanzielle L a g e Rußlands sei nämlich der U m s t a n d , daß die früheren Anleihen nicht für nutzbringende Zwecke, sondern ausschließlich für militärische Zwecke verwendet worden seien. Die russische Armee, wenigstens die an der Westgrenze dislocierte, sei auf dem halben Kriegsfuß; dies und das unverhältnismäßig große Armeebudget fräßen viel Geld . . . die ganze Zukunft Rußlands und seiner Finanzen sei infolgedessen ungewiß." 4 9 Aber schon bald darauf zeichnete sich ab, daß der Z a r unter dem finanziellen Druck auch diese Vorbehalte Bismarcks gegen eine neue russische Anleihe auf dem deutschen K a p i t a l m a r k t auszuräumen bereit war. Im J a n u a r 1884 konnte Herbert v. Bismarck zu Verhandlungen über die Verlängerung des Drei-Kaiser-Bündnisses nach Petersburg reisen, wobei von russischer Seite auf die Abänderungsvorschläge Saburows völlig verzichtet und nur die alte Forderung Alexanders I I I . nach Geheimhaltung des unpopulären Bündnisses aufrecht erhalten wurde. Aber d a f ü r wurde Herbert v. Bismarck durch eine ganze Reihe demonstrativer „Freundschaftsbeweise" entschädigt: A n f a n g Februar erhielt er Hinweise, „ d a ß mit der Zurückziehung der Truppen von unserer Grenze noch in diesem J a h r e begonnen werden" solle, was zeige, „wie die Berechtigung unseres H a u p t g r a v a m e n s hier anerkannt und in der Gesellschaft verstanden" werde. D a s Kriegsbudget für 1884 wies gegenüber dem Vorjahr eine erheblich geringere Steigerungsrate auf, die russische Presse hielt sich auf strikte Anweisung des Zaren von Ausfällen gegen die Zweibundmächte zurück, General Waldersee konnte nach Petersburg reisen, um die Frage der militärischen Verhältnisse an der preußisch-russischen Grenze zu regeln, im Februar 1884 reiste eine russische Abordnung aus Anlaß des 70. Gedenktages der Schlacht von Bar-sur-Aube, in welcher Wilhelm I. an der Spitze eines russischen Regimentes gegen N a p o l e o n g e k ä m p f t hatte, nach Berlin und der russische Botschafter in Berlin, dessen Ablösung Bismarck für ein „beiderseitiges Bedürfnis" erklärt hatte, wurde im M ä r z 1884 durch Orlov abgelöst 5 0 . In dem Maße, in dem der Zar vor den deutschen Forderungen kapitulierte, wurde er dadurch entschädigt, daß Bismarck „politisch und finanziell" in die „ H a u s s e " für Rußland ging 5 1 . In einer Situation, in der nach herrschender Meinung in Petersburg „die innere Politik und deren H a n d h a b u n g weit wichtiger" war „als das Spiel mit Kombinationen des Auswärtigen" 5 2 , bestand für Bismarck kein Zweifel daran, daß vorwiegend ein deutsches Entgegenkommen bei der Bewältigung der finanziellen Schwierigkeiten von Alexander I I I . als K o m p e n sation für seine Kapitulation akzeptiert wurde. Bereits im J a n u a r 1884 zeigte Bismarck in dieser Hinsicht Entgegenkommen. Kritischen Berichten über das russische Budget für 1884 trat er im J a n u a r in der offiziösen Presse (Kölnische Zeitung) mit dem Hinweis entgegen, „ d a ß die 256

Mehrforderungen f ü r das Armee- und Marinebudget jetzt geringer geworden" seien53. Den deutlichsten Beweis dafür, wie sehr die russische Finanzpolitik auf das Wohlverhalten der deutschen Regierung gegenüber russischen Anleiheversuchen angewiesen war, lieferte Bismarck selber durch seine Reaktion auf einen neuen russischen Anleiheversuch. Anfang April 1884 kursierten im Anschluß an eine Sitzung des Ministerkomitees, in welcher der Bau von 4 000 Werst neuer Eisenbahnen in staatlicher Regie beschlossen wurde, Gerüchte über Anleiheverhandlungen mit der Rothschildgruppe 54 . Aber da offenbar die Rothschilds die Übernahme einer Anleihe ohne Konzession in der Judenfrage weiterhin ablehnten, nutzte Bismarck die Chance, um dem Zaren die finanziellen Vorteile seiner Konzessionsbereitschaft auf politischem und militärischem Gebiete zu demonstrieren. Auf Drängen Bismarcks nahm Bleichröder mit dem russischen Finanzministerium Verhandlungen zur Übernahme einer Anleihe auf, am 15. April 1884 wertete die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" den neuen russischen Anleiheversuch als Beitrag zur Konsolidierung der inneren Verhältnisse des Zarenreiches, und am gleichen Tage wurde offiziell die Beteiligung der „Preußischen Seehandlung" an der Anleiheoperation in Aussicht gestellt 55 . Das Eintreten der deutschen Regierung zugunsten des russischen Staatskredits wirkte sich unmittelbar dahin aus, daß nicht nur der Ultimo-Kurs des Rubels an der Berliner Börse von 197 1/4 im Januar auf 211-208 1/2 im April anstieg und die neue Anleihe mehrfach überzeichnet wurde, sondern in unmittelbarer Reaktion auf die Beteiligung der „Seehandlung" an der Berliner Börse eine solche Nachfrage nach russischen Wertpapieren einsetzte, „daß infolge des Andrangs des Publikums eine Stockung in der Bewegung in jenen Teilen des Börsensaales, wo die Umsätze mit russischen Fonds stattfanden, eintrat" 5 6 . Die russischen Reaktionen auf Bismarcks Eintreten zugunsten des russischen Staatskredits waren zwiespältig 57 . Russische Börsenkreise zeigten sich über die Beteiligung Berliner Banken „hocherfreut", zumal „der gute N a m e der Seehandlung" nicht fehlte. Allgemein ging die Vermutung dahin, daß Bismarck die Beteiligung der Seehandlung gewünscht habe, „um den deutschen Kapitalisten Vertrauen einzuflößen und um der Sache eine politische Färbung zu geben". Dagegen fand die Anleiheoperation in der russischen Presse eine „im allgemeinen nicht günstige Besprechung", was an der Petersburger Börse auf den Einfluß Katkovs zurückgeführt wurde. Die „Novosti" kritisierte, „daß die deutsche Bankiersfreundschaft den Russen mit 6% ziemlich teuer zu stehen komme und daß Bunge das Reuternsche Finanzsystem zu übernehmen scheine, d. h. Anleihe auf Anleihe folgen" lasse. Die Petersburger „Vedomosti" Schloß sich mit der Kritik an, „daß man fortan alljährlich 8 Mio. Rubel mehr zur Deckung der Zinsen und Amortisation in das Budget würde aufnehmen müssen". Von dieser Kritik stach scharf die positive Bewertung der Anleiheoperation durch die „Novoe Vremja", „die gelesendste der in Petersburg erscheinenden Zeitungen", ab. D a ß die „Seehandlung" sich an der Anleihe beteiligte, hatte für die „Novoe Vremja" eine weitreichende finanzielle Bedeutung, nämlich die „Wiederherstellung des Vertrauens zum Kredit Rußlands" bzw. die Gewin17

Müller-Link

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nung „solider Finanzgruppen", die bereit waren, „die Geldoperationen Rußlands in nicht wucherischer Weise zu unterstützen". Die Auswirkungen auf die gesamte russische Finanzlage konnten nach ihrer Ansicht kaum hoch genug veranschlagt werden: denn jetzt hatte endlich „eine Wendung zum Besseren stattgefunden, und zwar nach einer schweren dreijährigen Periode, welche wir durchlebt haben unter den täglichen Schlägen, die unserer Valuta, unseren Finanzen und überhaupt dem Kredite Rußlands versetzt wurden". Aufgrund dieser überwältigenden finanziellen Vorteile bewertete die „Novoe Vremja" die Beteiligung der „Seehandlung" in politischer Hinsicht als einen Beweis dafür, „daß die freundschaftlichen Beziehungen, welche sich in der letzten Zeit zwischen Petersburg und Berlin befestigt haben, ihren Einfluß nicht auf die politischen Fragen allein erstreckt haben, sondern daß sie sogar auf die Finanzoperationen übergegangen sind". Die positive Bewertung der deutschen H a l tung gegenüber der neuesten Anleihe durch die „Novoe Vremja" deckte sich offenbar mit der Meinung des Zaren und der einflußreichen Mitglieder der Regierung. Denn in der Umgebung des Zaren reagierte man teils mit „Achselzukken", teils „mit großer Schärfe" auf die Pressekampagne Katkovs, die als eine Schädigung des russischen Kredits empfunden wurde 58 . Nachdem der Boykott russischer Anleihen in einer kritischen Phase der russischen Finanzwirtschaft einmal durchbrochen worden war, wollte Alexander III. die finanziellen Früchte seiner politischen Konzessionsbereitschaft nicht gefährden lassen. Denn auch nach der erfolgreichen Plazierung der neuen Anleihe behielt das Bismarcksche Angebot, durch Wohlverhalten gegenüber dem russischen Staatskredit „einen Freund und Alliierten zu stärken", angesichts der Größe der zu bewältigenden wirtschaftlichen und finanziellen Probleme seine ungebrochene Attraktivität 5 9 . Vor dem Hintergrund eines sich befestigenden Vertrauens in den russischen Staatskredit, einer russischen Auslandsschuld, die sich zu 4/5 in deutschen H ä n d e n befand, neuen Anleiheverhandlungen mit einer deutschen Bankengruppe unter Führung des Direktors der Berliner Disconto-Gesellschaft (Hansemann) und schließlich einer wirtschaftlichen Lage, die nach Ansicht von Schweinitz „das Vertrauen unserer Kapitalisten nicht rechtfertigte", fand sich Alexander III. schließlich im September 1884 zum Drei-Kaiser-Treffen von Skiernewice, von dem Bismarckvertrauten Bucher verächtlich als „Schaustellung des guten Einvernehmens der drei Kaiser von Europa" apostrophiert, bereit 60 . Immerhin machte sich das Treffen f ü r den Zaren bezahlt, denn dadurch wurde „das Vertrauen in die Friedfertigkeit und Stabilität der russischen Regierung im Auslande, namentlich in Deutschland, mehr bestärkt als in Rußland selbst", mit der Folge, daß seit Anfang Oktober die Kurse der russischen Fonds stiegen und sich die Valuta um 2 bis 3°/o besserte 81 . Auch Katkov blieb in dieser Lage nichts anderes übrig, als offen für die Herstellung besserer Beziehungen zu Deutschland einzutreten 62 .

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5.2.3 Die Sicherung

der finanziellen

Kriegsbereitschaft

Dadurch, daß Bismarck 1884 demonstrativ den deutschen Kapitalmarkt für neue russische Anleihen öffnete und der zaristischen Regierung aus einer finanziellen Zwangslage half, wurde zunächst dem militärpolitischen Konfrontationskurs, auf dem sich die deutsch-russischen Beziehungen zwischen 1878 und 1883 bewegt hatten, die gefährlichste Spitze genommen. Für die deutsche Rußlandpolitik war das freilich noch kein Anlaß, von dem Präventivprinzip abzuweichen, dessen konsequente Anwendung auf die Außen-, Militär- und Finanzpolitik die letzte Garantie gegen den Ausbruch des Zweifrontenkrieges blieb. Die innenpolitischen Folgeprobleme einer den Anforderungen des internationalen Rüstungswettlaufs unterworfenen Finanzwirtschaft wurden einerseits durch die Reichsfinanzreform von 1879 und andererseits durch die akuten Schwierigkeiten, in denen sich die russische Finanzwirtschaft seit dem Kriege gegen die Türkei befand, nur kurzfristig entschärft. Wie weit diese Problematik die deutsche Innen- und Außenpolitik auch in der ersten Hälfte der 80er Jahre bestimmte, war u. a. davon abhängig, in welchem Maße der finanzielle Spielraum durch die Reform von 1879 tatsächlich vergrößert worden war und wie sich die Lage der russischen Finanzwirtschaft entwickelte, bzw. wann die zaristische Regierung wieder über die Mittel für steigende Rüstungsausgaben verfügen würde. Reichte der finanzielle Rahmen zur Finanzierung laufender Mehranforderungen der Militärverwaltung nicht aus, konnte nicht nur der militärische Abschreckungseffekt als wesentlicher Bestandteil deutscher Außenpolitik abgeschwächt werden, sondern sich auch die Öffnung des deutschen Kapitalmarktes für russische Staatsanleihen auf längere Sicht als Fehler erweisen. Gemessen an der Einnahmeentwicklung bei den Zöllen und Verkehrssteuern war das Ziel einer „steuervermehrenden Finanzreform" erreicht worden 1 . Hinsichtlich der auf die Finanzverwaltung zukommenden Forderungen war jedoch der 1879 abgesteckte finanzpolitische Rahmen zu eng. Schon zu Beginn der 80er Jahre ging der preußische Finanzminister Hobrecht davon aus, daß mindestens 245 Millionen Mark erforderlich gewesen wären, um die finanzpolitische Zielsetzung der Reform von 1879 zu erreichen 2 . Schwierigkeiten bereiteten der Finanz Verwaltung vor allem zwei Probleme: 1. Die von Jahr zu Jahr höheren und kaum zurückzuweisenden Forderungen der Militärverwaltung. So stellte sich bei den Etatberatungen für 1881/82 heraus, daß der in den Verhandlungen um die endgültige Form der Franckensteinschen Klausel noch durchgesetzte „Diskont an das Kriegsministerium" in Höhe von 21 Millionen Mark gerade ausreichte, um den laufenden Mehrbedarf von ca. 1 7 - 2 0 Millionen Mark für die mit dem zweiten Septennat gekoppelte Erhöhung der Friedenspräsenzstärke zu decken, ganz zu schweigen von den mit 26 Millionen veranschlagten „einmaligen" Kosten der Heeresvermehrung 3 . 2. Trotz des Anstiegs der Reichsausgaben und der „Überweisungen" 4 konkurrierten bei der Aufstellung des Reichshaushalts die Mehrforderungen der Militärverwaltung regelmäßig mit den Ansprüchen der Bundesstaaten nach hö17'

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heren Überweisungen bzw. niedrigeren Matrikularumlagen 5 . Der Konflikt zwischen dem Reich und den Bundesstaaten wurde noch dadurch verschärft, daß sich wie die anderen Bundesstaaten auch Preußen einer durchgreifenden Steuerreform entzog. Die bloße Tatsache, daß die Überweisungen des Reiches höhere Steigerungsraten als die Matrikularbeiträge aufwiesen, reichte - zusammen mit dem zeitweiligen Rückgang des Defizits im preußischen Staatshaushalt - aus, um den unmittelbaren Druck einer Reform des direkten Steuersystems zu verringern 8 . Angesichts der ständigen Mehrforderungen der Militärverwaltung und der Bundesstaaten an den Reichshaushalt setzte die Reichsfinanzverwaltung die seit 1875 verfolgte Praxis fort, den wachsenden Mehrbedarf über Anleihen zu finanzieren 7 . Sie verminderte damit kurzfristig den Finanzdruck, bewältigte aber nicht das Problem, daß die Reichsfinanzreform von 1879 ein weiterzuentwickelndes Provisorium blieb. Diese Einsicht bildete die Grundlage der Bismarckschen Finanzpolitik der 80er Jahre. Sie macht die Hartnäckigkeit verständlich, mit der Bismarck die Reichsfinanzreform gegen vielfältige Widerstände fortzuführen suchte. Das zeigte sich erstens in der Kompromißlosigkeit, mit der er gegen die finanzpolitischen Bedenken der preußischen Finanzminister Hobrecht und Bitter auf der Durchführung der „Verwendungsgesetze" bestand 8 . Uber ihren wahltaktischen Zweck hinaus sollten diese eine Vorschußleistung auf eine konsequent fortzuführende Reichsfinanzreform sein. Sie sollten Druck auf die Parteien ausüben, f ü r die Fortführung einer „konservativen Steuerreform", d. h. den Abbau direkter Steuern zugunsten der „bequemeren" Formen indirekter Besteuerung und die Steigerung der Reichseinnahmen aus den indirekten Steuern zu votieren 9 . So ging die Verwendungsvorlage vom Dezember 1880 davon aus, daß der Reichstag 110 Millionen Mark neuer Steuern bewilligte, wovon 65 Millionen an Preußen fallen sollten. Die Verwendungsvorlage vom März 1882 hätte zu ihrer Durchführung Mehreinnahmen des Reiches von mindestes 123,6 Millionen, nach Ansicht Benningsens sogar von 188 Millionen erfordert 1 0 . Zweitens blieb Bismarck keine Wahl, als an großen Finanzprojekten wie dem Tabakmonopol ungeachtet sich verschlechternder Realisierungschancen festzuhalten und kleinere Steuerprojekte, die die Finanzlage des Reiches wenigstens kurzfristig hätten verbessern können, selbst dann noch vor dem Reichstag zu vertreten, nachdem sie bereits mehrfach gescheitert waren. Schon der Konflikt um das im Februar 1881 im Reichstag eingebrachte „Steuerbudget" 11 machte das Ausmaß deutlich, indem auch nach 1879 die durch die Rüstungsfinanzierung verschärften finanz- und steuerpolitischen Probleme die innenpolitischen Auseinandersetzungen bestimmten. Zeitweise schien es so, daß sich die Bismarcksche Strategie, den Reichstag durch massiven Druck seinen finanzpolitischen Plänen gefügig zu machen, aufgehen würde. Denn bei der Verteidigung des neuen „Steuerbudgets" lieferten die „Verwendungsgesetze" der Regierung die Argumente, um die Bemühungen um eine Vermehrung der 260

Reichseinnahmen primär als Anliegen staatlicher Fürsorge zugunsten des „kleinen Mannes" erscheinen zu lassen und die militärpolitischen Aspekte der innenpolitischen Diskussion zu entziehen. Prinzipielle Gegner unkontrollierter und steigender Rüstungsausgaben sahen sich von vornherein in die Defensive gedrängt, da sie ständig dem Vorwurf ausgesetzt waren, mit ihrem Widerstand gegen eine Vermehrung der Reichseinnahmen sozialpolitische Reformen zu blockieren. Für sie kam es daher hauptsächlich darauf an, den sozialpolitischen Anstrich der Bismarckschen Reformpläne zu beseitigen. Während sich die Fortschrittspartei im Abgeordnetenhaus dabei überbot, die wahltaktisch wirksamsten Teile der „Verwendungsgesetze" noch zu „verbessern", bekämpfte Richter auf dem „ersten Kriegsschauplatz" im Reichstag die Regierungsvorlagen erfolgreich mit dem Argument, daß der Steuerzahler schon durch die Reform von 1879 mit Mehrausgaben von 92 Millionen Mark belastet worden sei, von denen im Etat für 1881/82 allein 33 Millionen auf Mehrausgaben der Militärund Marineverwaltung entfielen 12 . Der Konflikt zwischen der Reichstagsmehrheit und der Regierung spitzte sich zu, als Bismarck seit Anfang 1881 zielstrebig das Tabakmonopol zu verwirklichen suchte und die „Kaiserliche Botschaft" vom November 1881 seine Einführung zum vordringlichsten Ziel der Reichsfinanzpolitik erklärte 1 '. Besonders heftig umkämpft wurde das Tabakmonopol nicht zuletzt deshalb, weil es vermutlich für die nahe Zukunft das Problem der Rüstungsfinanzierung zur Zufriedenheit der Militärverwaltung hätte lösen können 14 . Daß Bismarck ungeachtet des für die konservativen Parteien niederschmetternden Wahlergebnisses vom Oktober 1881 sich wiederum auf ein neues „Verwendungsgesetz" berief und das Monopol als Voraussetzung für eine preußische Steuerreform in sozialpolitischer Absicht propagierte, mußte den prinzipiellen Widerstand gegen die Ziele und Wege der Bismarckschen Reichsfinanzreformversuche provozieren. Benningsen kritisierte zum Beispiel, daß der Erlaß von drei bis vier Monatsraten bei der Klassensteuer und den unteren Stufen der Einkommensteuer nur eine „schablonenmäßige" Erleichterung biete, von der niemand sagen könne, „daß das eine große Reformmaßregel" sei15. Auf den neuralgischen Punkt der Monopolvorlage machten die „Historisch-Politischen Blätter" mit der Beobachtung aufmerksam, daß Bismarck bei der Verteidigung der Monopolvorlage in den Reichstagsreden vom 12./14. Juni 1882 „im natürlichen Zusammenhang mit seinen Steuerprojekten" auf die äußere Lage zu sprechen gekommen sei und dabei zwar die Probleme der Rüstungsfinanzierung umgangen habe, ohne verheimlichen zu können, wie sehr ihn diese beschäftigten. Entsprechend empfindlich habe er die Opposition gegen das Tabakmonopol und die Forderung nach Einsparungen im Reichshaushalt als direkten Angriff auf das Militärbudget registriert 19 . Das Scheitern der Monopolvorlage wurde unausweichlich, weil sie neben dem politisch motivierten Widerstand den Widerstand ökonomischer Interessen mobilisierte17. Damit hatte das Bismarcksche Programm zur Fortführung der Reichsfinanzreform von 1879 einen „tödlichen Stoß" erhalten, wenn es auch erst einige 261

Jahre später endgültig zu Grabe getragen werden sollte 18 . Das Problem der Finanzierung steigender Rüstungsausgaben blieb nicht nur ungelöst, seit 1883 gewann die „Reichsfinanznot" eine ähnliche Aktualität wie vor der Reform von 1879: 1. Die Einnahmen aus den Zöllen und Verbrauchssteuern nahmen 1883 und 1884 nur geringfügig zu, während sich die Einnahmen aus den Verbrauchssteuern seit 1882 rückläufig entwickelten 19 . 2. Die „unerfreuliche Form der neuen finanziellen Verkettung von Reich und Bundesstaaten", wie sie 1879 festgelegt worden war, trat wieder in Erscheinung. In den Etats für 1883/84 und 1884/85 spiegelte sich ein verschärfter Konflikt zwischen dem finanziellen Mehrbedarf des Reiches und dem Interesse der Bundesstaaten an einer dauernden Entlastung von den Martikularbeiträgen. Gegenüber 1882/83 stiegen die Uberweisungen an die Bundesstaaten zwar 1883/84 und 1884/85 weiter an, aber nur um den Preis sinkender Matrikularbeiträge 20 . 3. Die Reichsausgaben waren 1883/84 erstmalig wieder rückläufig. 1884/85 stagnierten sie auf der Höhe des Vorjahres. Nach den Überschüssen der Vorjahre schloß der Reichshaushalt 1883/84 wieder mit einem Defizit in Höhe von 1,9 Millionen Mark, das sich im folgenden Jahr auf 5,7 Millionen erhöhte 21 . Daß die Finanzlage sich nicht schlechter darstellte, war nur darauf zurückzuführen, daß die Finanzverwaltung Anleihen in einem Umfang aufnahm, „der mit den Grundsätzen gesunder Finanzpolitik ganz unvereinbar war" 2 2 . 4. Für das Etatjahr 1883/84 wies auch der preußische Staatshaushalt erstmalig wieder ein Defizit auf. Wie im Reich konnte auch in Preußen die Verschlechterung der Finanzlage nur durch wachsende Verschuldung einigermaßen verdeckt werden 23 . Außerdem trugen die vor Abschluß der drei großen Eisenbahnverstaatlichungsoperationen von 1879, 1881/82 und 1883 schon recht erheblichen Überschüsse der preußischen Eisenbahnverwaltungen dazu bei, daß das Defizit im preußischen Staatshaushalt noch in Grenzen gehalten werden konnte 24 . 5. Der sich im preußischen Abgeordnetenhaus formierende Widerstand gegen die Politik der „Verwendungsgesetze" signalisierte unmißverständlich, wie wenig selbst die konservativen Parteien noch bereit waren, sich zugunsten des Bismarckschen Reichsfinanzreformprogramms zu engagieren 25 . Wie schon in der zweiten Hälfte der 70er Jahre waren nur zwei Wege erkennbar, auf denen die Reichsfinanzreformpolitik aus der Sackgasse herausgeführt werden konnte: Entweder kam es zum offenen Konflikt zwischen Regierung und Reichstag oder es gelang, gegen die „negative" Reichstagsmehrheit wirtschaftliche Gruppen zu mobilisieren, die - sofern ihre Interessen gewahrt wurden - auch einer weiteren Steigerung der Ausgaben für Rüstungszwecke nicht prinzipiell ablehnend gegenüberstanden. Aus der Bismarckschen Perspektive gab es gute Gründe, den offenen Konflikt mit dem Reichstag zu vermeiden, u. a. wegen der geringen Chance, die Opposition gegen die Reichsfinanzreform in einer konservativen Wahlentscheidung zu beseitigen. Übrig blieb der 262

zweite Weg, allerdings um den Preis, daß das Bismarcksche Reichsfinanzreformprogramm völlig auf der Strecke blieb, ohne daß ein Alternativprogramm mit größeren Realisierungschancen in Sicht gewesen wäre. Die ehrgeizigsten und finanziell ergiebigsten Finanzprojekte wie das Tabakmonopol und das Reichseisenbahnprojekt mußten endgültig aufgegeben werden, ebenso wie das Bismarcksche Ideal, „durch die unangemessene Vermehrung der indirekten Steuern die ganzen direkten Steuern entbehrlich zu machen" 26 . Als unergiebig bzw. nicht durchsetzbar erwies sich sehr schnell auch der Versuch, die Fortführung der Reichsfinanzreform auf solche Projekte zu stützen, die - wie die Reform der Zucker- und Branntweinsteuer - bisher „kein Glied des Bismarckschen Finanzprogramms" gewesen waren 27 . Der Anlauf zur Reform der Zukkersteuer, die Bismarck wegen ihrer möglichen „Rückwirkung auf die Landwirtschaft" 1880 noch dilatorisch behandelt hatte 28 , machte das Dilemma deutlich, fiskalische Ziele gegen agrarische Interessen zu verfolgen. Trotz der offenkundigen Einseitigkeit, mit der die Zuckersteuergesetzgebung bisher die vorwiegend in Preußen konzentrierte Zuckerindustrie begünstigt hatte, mußte der Versuch, den Zucker als eine Einnahmequelle für das Reich zu erschließen, als gescheitert angesehen werden, bevor die Zuckersteuerreform richtig in Gang gekommen war 2 '. Die Unmöglichkeit, die Reichsfinanzreform auf dem 1879 beschrittenen Wege fortzuführen, zwang Bismarck, gegenüber den aktuellen finanzpolitischen Problemen vorübergehend eine abwartende Haltung einzunehmen 30 . U n d als sich nach den Reichstagswahlen vom August 1884 die Gelegenheit bot, griff er schließlich auf eine Politik der kaum noch verhüllten „Zoll- und Steuerliebesgaben" zugunsten agrarischer industrieller Interessen zurück, um nicht den Bankrott seiner Reichsfinanzreformpolitik erklären zu müssen 31 . Den Kern dieser parlamentarisch von der „Freien Wirtschaftlichen Vereinigung" initiierten und getragenen Politik 32 bildete die Reform des Zolltarifs von 1879. Auf agrarischer Seite war das Interesse an einer erneuten Zolltarifreform angesichts der aktuellen Entwicklung auf dem Agrarmarkt hinreichend stark durch protektionistische Tendenzen gegen die Getreideimporte aus Rußland motiviert 33 , um auch Vorbehalte gegen evtl. Änderungswünsche der Industrie am Zolltarif zu überwinden 34 . Andererseits hatte der VDESI Mitte Januar 1885 „mit Rücksicht auf die von kompetenter Seite behauptete Notlage der Landwirtschaft und die längst erkannte Solidarität der Interessen" gegen die von der „Freien Wirtschaftlichen Vereinigung" im Reichstag angestrebte Erhöhung einzelner Zollsätze f ü r Produkte der Eisen- und Stahlindustrie ebensowenig einzuwenden wie gegen eine „mäßige Erhöhung der Getreidezölle" 35 . Während die gegen Rußland gerichteten agrarprotektionistischen Tendenzen auf agrarischer Seite erheblich dazu beitrugen, um sich auf die Solidarität von Industrie und Landwirtschaft zu besinnen, wirkten auf Seiten der Industrie neben Tendenzen zugunsten eines erweiterten zollpolitischen Industrieprotektionismus auch die wachsende Bereitschaft, die industriellen Exportinteressen auf dem russischen M a r k t notfalls mit Kampfzöllen durchzusetzen, in der gleichen Richtung 38 . 263

D a ß die erneute Zolltarifreform einseitig „agrarische" Züge annahm, hatte zudem finanzielle Gründe. Denn erstens war die Bildung einer auf agrarprotektionistische Forderungen fixierten parlamentarischen Majorität f ü r Bismarck eine willkommene Chance, ähnlich wie 1879 das Scheitern seiner finanzpolitischen Reformpläne durch höhere Einnahmen aus der Verzollung des wichtigsten Massenimportnahrungsmittels wettzumachen 3 7 . Der Auftrieb agrarprotektionistischer Tendenzen, die Entwicklung 3er Einnahmen aus den Getreidezöllen seit 187938, die Getreideimportentwicklung der letzten Jahre und schließlich die durch gute Ernteaussichten des Auslandes gestützte Vermutung, daß sich die auffallende Steigerung des Getreideimportüberschusses im Jahre 1884 auch im folgenden Jahre fortsetzte 39 , bildeten in der finanzpolitischen Sackgasse geradezu eine Herausforderung, die Finanzquelle der Getreidezölle noch intensiver als bisher auszubeuten. Zweitens signalisierte die Zolltarifreform vom Mai 1885 gegenüber der vom Juli 1879 insofern einen erheblich gesteigerten Einfluß agrarischer Tendenzen auf die Reichsfinanzwirtschaft, als sie die Unmöglichkeit deutlich machte, die Reichsfinanzreform ohne erhebliche Konzessionen an die steuerpolitischen Forderungen des preußischen Großgrundbesitzes voranzutreiben. Zwar erwarteten die preußischen Agrarier von der Erhöhung der Getreidezölle „ein beachtenswertes finanzielles Ergebnis für das Reich", aber ebenso „selbstverständlich" war diese Erwartung mit der Entschlossenheit verbunden, jetzt endlich die seit 1879 immer wieder verzögerte Befriedigung ihrer steuerpolitischen Forderungen durchzusetzen. Weder die finanziellen Mehrbedürfnisse des Reiches, noch das Defizit im preußischen Staatshaushalt oder gar die Erkenntnis, daß die steuerpolitischen Privilegien des preußischen Großgrundbesitzes wie etwa die Exportvergütungen für Rübenzucker dem Reich erhebliche Einnahmeverluste einbrachten, bildeten f ü r die nach den bisherigen Erfahrungen ungeduldig gewordenen agrarischen Pressure-groups einen Anlaß, ihre Forderungen nach Entlastung von den direkten Steuern weiterhin „auf nicht absehbare Zeit zurückzustellen" 40 . Bei der neuen Zolltarifreform setzten sich dann auch tatsächlich die agrarischen Interessen sowohl in protektionistischer als auch in steuerpolitischer H i n sicht voll durch. Denn mit der an die Zolltarif novelle vom Mai 1885 gekoppelten „Lex Huene", die den preußischen Staat zur Überweisung der erwarteten Mehrerträge aus den Getreide- und Viehzöllen an die Kommunalverbände verpflichtete, setzten die agrarischen Vertreter eine Zwangsverpflichtung durch,' zusätzliche Finanzmittel des Reiches unmittelbar zur steuerlichen Entla* stung des Großgrundbesitzes zu verwenden 41 . Auf die „Lex Huene" folgte im Juli 1885 mit einem Gesetz, das dem preußischen Staatshaushalt die ersten 600 Mark Lehrerpension auferlegte, eine weitere steuerpolitische „Liebesgabe" an die preußischen Agrarier 42 , nachdem bereits im Mai das Zuckersteuergesetz vom Juli 1883 bis August 1866 verlängert und damit die höhere Besteuerung bzw. die Senkung der Exportbonifikation ausgesetzt worden war 43 . Schließlich brachte die Reform der Börsensteuer (Gesetz vom 29. Mai 1885) zwar auch den „fiskalisch wichtigen Fortschritt", daß der Fixstempel in eine prozentuale 264

Umsatzsteuer umgewandelt wurde, sie entsprach aber zugleich einer alten Forderung der preußischen Agrarier nach einer höheren Besteuerung des „mobilen Kapitals" 4 4 . Bei dem Versuch, die Zolltarifreform von 1885 speziell im Kontext der deutsch-russischen Beziehungen zusammenfassend zu bewerten, rücken drei Aspekte in den Vordergrund, die eine zentrale Entscheidung der deutschen Innenpolitik des Jahres 1885 als nur schwer vereinbar mit den Zielen der deutschen Rußlandpolitik erscheinen läßt: 1. Zwar entsprach die Zolltarifnovelle vom Mai 1885 in finanzieller H i n sicht zunächst den Erwartungen. Aber die 1885 zu verzeichnende Steigerung der Einnahmen aus den Getreidezöllen war zu einem großen Teil auf die mit den Zolltariferhöhungen verbundene lebhafte Getreidespekulation zurückzuführen 4 5 . Dagegen wurde der Versuch, die laufenden Einnahmen des Reiches zu vermehren, durch den überwältigenden Einfluß agrarischer Tendenzen so verzerrt, daß auch zukünftig die ordentlichen Einnahmen nicht ausreichten, um die laufenden finanziellen Mehrforderungen der Militärverwaltung bzw. die Ausgaben des preußischen Staatshaushalts über die ordentlichen Einnahmen zu finanzieren. 2. Die angeblich nur „mäßige Erhöhung" der Getreide- und Viehzölle der Roggen- und Weizenzoll wurde immerhin verdreifacht, der Zoll auf H a f e r und Gerste verdoppelt - Schloß das Risiko ein, daß sich die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen verschärften und diese Entwicklung auch auf die politischen Beziehungen übergriff. Angesichts der schwierigen russischen Finanzlage und der Stockungen im Getreideexport verstieß die Erhöhung der deutschen Agrarzölle gegen die russischen Finanzinteressen, sie tangierte unmittelbar die Exportinteressen der russischen Großgrundbesitzer und sie diente den industriellen Schutzzöllnern als Vorwand, um ihrerseits Kampfzölle gegen den deutschen Industrieexport durchzusetzen. Die Tatsache, daß die russischen Eisenindustriellen unter dem Eindruck der neuesten deutschen Zollerhöhungen einen „Kampfzoll" auf landwirtschaftliche Maschinen und Geräte ohne nennenswerten Widerstand der Großgrundbesitzer durchsetzten 48 , ließ sofort die kritische Grenze erkennen, die ohne die Gefahr eines deutsch-russischen Wirtschaftskrieges nicht so leicht überschritten werden konnte. 3. Unter dem Gesichtspunkt, daß trotz der Zolltarif reform von 1885 für die Reichsfinanzverwaltung das Problem, die Finanzmittel f ü r steigende Rüstungsausgaben aufzubringen, eine ungebrochene Aktualität besaß, erschien die U n terstützung russischer Anleiheversuche auf dem deutschen Kapitalmarkt als noch problematischer. Schon im Frühjahr 1884, als die Bismarckschen Bemühungen um die Fortführung der Reichsfinanzreform in der Sackgasse steckengeblieben waren, hatte Herbert Bismarck warnend darauf hingewiesen, daß Rußland ohne neue Anleihen „vermutlich den Bau strategischer Bahnen, von Festungen etc. einschränken" müsse, während die erfolgreiche Plazierung einer neuen Anleihe auf dem deutschen Kapitalmarkt mit großer Wahrscheinlichkeit „doch nur f ü r Armeezwecke und Panzerschiffe ausgegeben werden würde" 4 7 . 265

D i e hier aufgezeigten Aspekte der Zolltarifreform v o m M a i 1885 charakterisieren in wesentlichen Punkten die Widersprüchlichkeit einer deutschen Rußlandpolitik, die auf der einen Seite bereit war, der zaristischen Regierung aus einer akuten kritischen Finanzlage herauszuhelfen, auf der anderen Seite aber aus innen- und finanzpolitischen Zwängen vor einer massiven provokatorischen Schädigung der russischen Finanz- und Wirtschaftsinteressen nicht zurückschreckte 4 9 . Erst recht muß die deutsche Rußlandpolitik auf der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Ebene als nur schwer vereinbar erscheinen mit dem zentralen Postulat einer „konservativen" Außenpolitik, die eine erneute Eskalation der deutsch-russischen Antagonismen auf der wirtschaftlichen und politischen Ebene verhindern und zum Zarenreich „gute und intime Beziehungen erhalten" wollte 4 9 . Obgleich gewichtige Imponderabilien, mit denen die deutsche Rußlandpolitik in Anbetracht der inneren L a g e des Zarenreiches rechnen mußte, die Konzeptualisierung einer Außenpolitik mit dem Ziel einer langfristigen Stabilisierung der deutsch-russischen Beziehungen von vornherein zumindest erschwerten oder gar unmöglich machten, so lassen sich andererseits die Widersprüche der deutschen Rußlandpolitik im Rahmen eines auf kurzfristige Stabilisierungserfolge berechneten Konzeptes interpretieren, das vor allem „die Bedingungen konservieren" wollte, „die alle russischen Politiker nötigte, die Friedenspolitik ihres Kaisers als die jetzt einzig mögliche zu akzeptieren" 5 0 . In diesem Zusammenhang ist vor allem auf drei Voraussetzungen hinzuweisen, mit denen die deutsche Rußlandpolitik kalkulieren konnte: D a z u rechnete erstens, daß die zaristische Politik, durch die inneren Schwierigkeiten einerseits und das militärische, wirtschaftliche und politische Übergewicht des Deutschen Reiches andererseits, weitgehend gelähmt und auf das Wohlwollen der deutschen Politik angewiesen war. In dieser Perspektive kommentierte die französische Nachrichtenagentur „Agance H a v a s " sicherlich zu Recht die spektakuläre Wiederbelebung der deutsch-russischen Freundschaft im Verlaufe der J a h r e 1884 und 1885 als Folge des massiven politischen und wirtschaftlichen Drucks, den das Deutsche Reich auf das ζ. Z. geschwächte zaristische Rußland ausüben könne 5 1 . Wie sich die zaristische Politik aus dieser Abhängigkeit hätte befreien und eine andere Politik als die der Anlehnung an die Zweibundmächte hätte verfolgen können, war 1885 nicht absehbar. Durch diese Tatsache wurde der relativ große Spielraum bestimmt, innerhalb dessen die deutsche Rußlandpolitik gegen die russischen Finanz- und Wirtschaftsinteressen verstoßen konnte, ohne damit die Erfolge ihrer politischen Stabilisierungspolitik unmittelbar zu gefährden. Zweitens war die Abhängigkeit der zaristischen Regierung v o m Wohlverhalten der deutschen Politik auf der finanzpolitischen Ebene besonders eklatant. D a ß Bismarck angesichts der kritischen L a g e der russischen Finanzwirtschaft und ihrer einseitigen Abhängigkeit v o m deutschen K a p i t a l m a r k t die Fäden in der H a n d hielt, Rußland in den Staatsbankrott zu treiben, war 1885 für Schweinitz ausgemachte Tatsache; denn die russischen Börsenplätze waren „von der Berliner Börse abhängig", was in Petersburg zwar „ungern gesehen" wurde, „bei der großen K a p i t a l k r a f t des deutschen H a u p t p l a t z e s und 266

dem Umstände, daß die russischen Anleihen überwiegend in Deutschland untergebracht" waren, aber 1885 noch nicht zu ändern schien 52 . Vor diesem H i n tergrund wird die Gelassenheit verständlich, mit der Bismarck auf die Warnung seines Sohnes reagierte, die zaristische Regierung könne mit deutscher Kapitalhilfe ihre gegen Rußland gerichteten Rüstungen fortsetzen. Denn abgesehen davon, daß nach Bismarckschem Kalkül Mangel an ausländischem Geld auch nichts daran ändern könne, „daß die Russen f ü r Eisenbahnen und Krieg gerade das Geld ausgeben werden, was dazu notwendig ist" 53 , konnte die deutsche Finanzverwaltung ohne Schwierigkeiten jederzeit auch größere Anleihen auf dem deutschen Kapitalmarkt für Rüstungszwecke kontrahieren. Gerade in den Jahren 1884 und 1885 war die Lage auf dem deutschen Kapitalmarkt f ü r den Staatskredit so günstig, daß nicht nur das Reich mühelos neue Anleihen zur Deckung „außerordentlicher Bedürfnisse" unterbrachte, sondern auch im Mai 1885 die ersten großen Konversionsoperationen der preußischen Staatsschuld mit großem Erfolg abgeschlossen werden konnte 54 . Die Wahrscheinlichkeit, daß sich die zaristische Regierung auf einen offenen Rüstungswettlauf mit dem Deutschen Reich einlassen würde, war daher insgesamt schon aus finanziellen Gründen äußerst gering. Drittens waren mit dem Scheitern der Bismarckschen Finanzreformpläne die Bemühungen, steigende Rüstungsausgaben durch ordentliche Einnahmen zu finanzieren, zwar vorläufig gescheitert. Aber dadurch, daß durch die Zolltarifreform von 1885 die wirtschaftlichen und finanziellen Interessen agrarischer und industrieller Interessengruppen auf Kosten des Fiskus befriedigt wurden, hatte sich Bismarck eine parlamentarische Mehrheit gewonnen, die grundsätzlich und ohne konstitutionelle Bedingungen die Notwendigkeit der Beschaffung weiterer Mittel für Reich und Staat anerkannte und die Verpflichtung übernommen hatte, „beim Eintreten jener Bedürfnisse die Staatsregierung in ihren diesbezüglichen steuerpolitischen Maßnahmen zu unterstützen" 5 5 . Insgesamt waren die einzelnen Elemente der deutschen Rußlandpolitik ungeachtet ihrer Widersprüchlichkeit insofern funktional, als sie einer mit kurzfristigen Stabilisierungserfolgen kalkulierenden deutschen Rußlandpolitik dienten und sie darüber hinaus einer präventiven deutschen Politik den gewünschten Zeitgewinn verschafften, um für den Fall einer neuen Verschärfung der deutsch-russischen Beziehungen insgeheim die Weichen zu stellen.

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6. Der Höhepunkt des außen- und wirtschaftspolitischen Antagonismus zwischen Deutschland und Rußland

6.1 Wirtschaftskrise und Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus

6.1.1 Die russische Wirtschafts- und Finanzpolitik im Spannungsfeld zwischen sozialer Reaktion und Staatsbankrott: Von Bunge zu Vysnegradskij Der Versuch der deutschen Außenpolitik, durch militärische Abschreckung, präventive Bündnispolitik und Ausnutzung der Abhängigkeit der russischen Finanzwirtschaft vom deutschen Kapitalmarkt den deutsch-russischen Antagonismus auf einem erhöhten Konfliktniveau zu stabilisieren, mußte schon bald, nachdem diese Politik im Jahre 1884 auf der politischen Ebene Erfolge aufweisen konnte, als gescheitert angesehen werden 1 . In den Jahren 1885 und 1887 war die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen wieder durch eine schier unaufhaltsame Eskalation der zwischenstaatlichen Antagonismen auf allen Ebenen gekennzeichnet. Die treibenden Kräfte dieser Entwicklung gingen nicht nur von der neu aufgebrochenen Krise auf dem Balkan, sondern auch von der international wirksamen Verschärfung der industriellen Depression und Agrarkrise aus. In ihren unmittelbaren Rückwirkungen auf Rußland ließ die Wechselwirkung zwischen der bereits jahrelang andauernden industriellen Wachstumsstörung und einer sich unaufhaltsam verschärfenden Agrarkrise seit 1885 in einer bisher nicht erreichten Schärfe die ganze ökonomische, soziale und politische Problematik des Versuchs hervortreten, im Gehäuse der ungeschmälerten Autokratie einen Ausweg aus der ökonomischen Rückständigkeit und der außenpolitischen Handlungsunfähigkeit zu finden. Die seit dem Beginn der 1880er Jahre andauernde industrielle Depression setzte sich 1885 fort und erreichte im Verlaufe des Jahres 1886 ihren Tiefpunkt 2 . Abgesehen von den sich häufenden Bankrotten war diese Entwicklung vor allem deshalb besonders alarmierend, weil es am Jahresanfang 1885 zum ersten Mal auch in der Moskauer Industrie zu großen Streiks kam. Wie bisher in der Petersburger Industrie wurden diese Streiks natürlich militärisch unterdrückt; aber angesichts der prekären Lage der Industriearbeiter hielt es sogar die Regierung für notwendig, durch Eingriff in die Fabrikverhältnisse den extremsten Formen der Ausbeutung einen Riegel vorzuschieben 3 . Unter Berücksichtigung der immer noch wesentlich geringeren Bedeutung des Industriesektors gegenüber dem Agrarsektor fiel für die allgemeine Ver268

schlechterung der wirtschaftlichen Lage vor allem ins Gewicht, daß der Tiefpunkt der industriellen Depression mit einem Rückgang der Getreidepreise und einem starken Rückgang der Getreideausfuhr zusammenfiel 4 . Ein Korrespondentenbericht aus Petersburg schilderte im Mai 1886 die Auswirkungen von Preisrückgang und Absatzstockung: „Aus dem Kreise unserer Landwirte ertönen unausgesetzt Klagen über den niedrigen Stand des Preises der landwirtschaftlichen Produkte, welche stellenweise sogar unter den durchschnittlichen Satz der Produktionskosten sinken und über die Unmöglichkeit, einen lohnenden Absatz f ü r ihre Produkte zu finden." Ein halbes Jahr später berichtete Schweinitz über die „große Aufregung" unter den Gutsbesitzern und Bauern sowie über die wiederholten Klagen dieser Gruppen: „Wir sitzen auf dem Korn und haben nichts zu leben." 5 In diesen Jahren eines starken Preisdrucks und eines stagnierenden Handels mit Agrarprodukten mußten die Symptome der strukturellen Agrarkrise natürlich verschärft hervortreten. Unübersehbar zeigten sich die verheerenden Auswirkungen der Tatsache, daß sich die Landwirtschaft „immer noch in jenem peinlichen und unangenehmen Übergangsstadium" befand, das f ü r die große Masse der schnell wachsenden bäuerlichen Bevölkerung gleichbedeutend war mit steuerlicher Überbelastung, zu kleinen und unrentablen Landanteilen und zunehmend auch mit Hungersnot". Diese Problematik war nicht neu und sie wurde auch weiterhin bewußt in Kauf genommen, um die Autokratie nicht den Risiken einschneidender Reformen auszusetzen 7 . Um so bedrohlicher f ü r das System der innenpolitischen und sozialen Reaktion war dagegen, daß die Verschuldung der adeligen und stark exportorientierten Grundbesitzer unter dem anhaltenden Preisrückgang und dem stockenden Getreidehandel eine nicht mehr tragbare H ö h e erreicht hatte. Es war nicht die prekäre Lage der bäuerlichen Bevölkerung, sondern der verschuldete Adel, der die „allgemeine Aufmerksamkeit" auf sich zog. In vielen Fällen hatten adelige Gutsbesitzer durch Beanspruchung des Kredits der Aktien-Agrarbanken die statutenmäßige Beleihungsgrenze von 2/3 oder 3/4 des Gutswertes bei Zins- und Amortisationsverpflichtungen von 7 bis 8% erheblich überzogen. Die Kursverluste der von den Agrar-Kreditbanken herausgegebenen Pfandbriefe machten die Lage vieler adeliger Gutsbesitzer noch prekärer, wobei die Lage der Schuldner der „Gesellschaft f ü r gegenseitigen Bodenkredit" infolge des niedrigen Kursstandes der Pfandbriefe dieser Gesellschaft „am kläglichsten" war 8 . Die Verteilung des Grundbesitzes bewies zwar die noch unbestrittene Präponderanz des Adels unter den Grundbesitzern 9 . Aber Berichte, daß „die Lage der verschuldeten Grundbesitzer eine immer schlimmere wurde und jährlich eine beträchtliche Anzahl adeliger Güter unter den Hammer kam", belegten zur Genüge, daß den Bemühungen um die „Wiederbelebung des Adels" zum Trotz der Adel „sein Ubergewicht in wirtschaftlicher und damit auch in sozialer Beziehung" einzubüßen drohte 10 . Die wirtschaftliche Lage des Adels wurde zudem noch dadurch verschärft, daß zu Beginn des Sommers 1885 auf den großen Zuckermärkten von Kiew und Warschau ein Sturz der Zuckerpreise einsetzte und die269

se Entwicklung die Existenz vor allem solcher Grundbesitzer gefährdete, die in der H o f f n u n g auf ein Andauern des seit 1881 hohen Standes der Zuckerpreise Zuckerrübenfabriken erbaut bzw. ausgebaut und mechanisiert hatten 1 1 . D i e Berichte über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung des Jahres 1886 machen deutlich, wie deprimierend die Verschärfung der wirtschaftlichen Probleme wirkte. War die allgemeine wirtschaftliche L a g e Ende Mai 1886 durch „Leblosigkeit der Handelsbewegung" und durch einen „ R ü c k g a n g in den Gewerben und in der L a n d w i r t s c h a f t " gekennzeichnet, so kamen in den folgenden Monaten unverkennbare Symptome einer psychischen Depression hinzu. „ I m allgemeinen schwebt die Krise nach wie vor als erdrückendes und beängstigendes Gespenst über unseren wirtschaftlichen und sozialen Zuständen", berichtete ein Korrespondent im Oktober über die Stimmung in Petersburg 1 2 . H a t t e n schon in der Vergangenheit Mißernten und Einbrüche der Wirtschaftskonjunktur den A u f t a k t .für eine rapide Verschlechterung der Finanzwirtschaft gebildet 1 3 , so schlug auch jetzt wieder die Wirtschaftskrise unmittelbar auf die L a g e der Finanzwirtschaft durch. Es war das Dilemma der Finanzpolitik Bunges, daß sie zwar die Finanzwirtschaft von der abschüssigen Bahn gebracht hatte, auf die sie seit dem letzten Krieg gegen die Türkei geraten war, daß aber die Realisierung seines langfristig konzipierten finanz- und währungspolitischen Reformprogramms von der ökonomischen Krise unterlaufen wurde, noch bevor es richtig in G a n g gekommen war 1 4 . Die Beratung des Etats für 1885 stand bereits ganz unter dem Einfluß der sich verschlechternden allgemeinen Wirtschaftslage. Während der ehemalige Finanzminister A b a z a im Verlaufe der Budgetberatungen im Reichsrat sich keine Mühe gab, den „Ernst der ökonomischen L a g e " zu verharmlosen, beurteilte Bunge die L a g e z w a r zurückhaltender, ohne den „gegenwärtigen N o t s t a n d der Industrie und L a n d w i r t s c h a f t " in Abrede stellen zu können. Die auffällige Parallelität zwischen dem Rückgang der Getreidepreise und dem seit August 1884 zu verzeichnenden Zurückbleiben der Einnahmen aus den indirekten Steuern hinter dem Voranschlag war ein zu „eklatanter Beweis für die weitreichende und verderbliche Wirkung zu niedriger Getreidepreise: weil die Getreidepreise fielen, verarmte der L a n d w i r t und verlor an K a u f k r a f t , die Industriellen konnten infolgedessen ihre Erzeugnisse nicht im bisherigen U m f a n g absetzen, und der H a n d e l stagnierte. K u r z : alle Welt mußte sich einschränken und die indirekten Steuern warfen infolgedessen geringere Erträge a b . " 1 5 Angesichts dieser L a g e war die Warnung Bunges, daß für das Finanzjahr 1885 ein „naturgemäßes Wachstum der Staatseinkünfte" nicht zu erwarten sei, bereits übertrieben optimistisch. Denn sie ging noch von der Voraussetzung aus, daß sich die L a g e der Landwirtschaft im Verlaufe des Jahres 1885 nicht erheblich besserte, aber auch nicht entscheidend verschlechterte. Immerhin erschien Bunge die Aussicht auf eine rückläufige oder zumindest stagnierende Einnahmeentwicklung als bedrohlich, stellte sie doch seine Bemühungen um eine Sanierung der Finanzwirtschaft ebenso in Frage wie die Durchführung seiner währungspolitischen Reformziele. U m diese nicht zu gefährden, blieb ihm jetzt keine andere Wahl, als 270

ungeachtet der sich verschlechternden wirtschaftlichen Gesamtlage die Wirtschafts- und Finanzpolitik noch konsequenter als bisher finanzpolitischen Zielvorstellungen unterzuordnen, wobei er nicht umhin konnte, gegen ein Grundprinzip seiner eigenen Steuerreform zu verstoßen. Im Budget f ü r 1885 war von einem weiteren Abbau der direkten Steuern nicht mehr die Rede, was nichts anderes bedeutete, als daß die in den vorangegangenen Jahren eingeleitete Reform der Kopfsteuer mit dem Ziel ihrer Beseitigung auf unbestimmte Zeit vertagt werden sollte. Die Sistierung der Kopfsteuerreform erfolgte unter ausschließlich fiskalischen Gründen, „obwohl über die wirtschaftliche Schädlichkeit der fraglichen in so eminentem Sinne irrationalen Abgabe alle Welt einig" war „und es im Interesse der notleidenden Bauern durchaus angezeigt wäre, mit der Beseitigung derselben nicht auf halbem Wege stehenzubleiben". Die einzige Konzession Bunges an die große Masse der bäuerlichen Bevölkerung bestand darin, daß den Bauern in denjenigen Gouvernements, „wo dieselben wirkliche N o t litten, nur durch weniger scharfe Steuereintreibung unter die Arme gegriffen werden" sollte. Auf der anderen Seite lagen die vorgesehenen Erhöhungen bei den indirekten Steuern wieder ganz auf der Linie des Bungeschen Steuerreformprogramms. So basierte die veranschlagte Einnahmeentwicklung f ü r 1885 auf einer Reihe von Zollerhöhungen, auf einer höheren Besteuerung von Aktien-, Handels- und Industrieunternehmungen, auf einer Erhöhung der Branntweinsteuer sowie der Tabak- und Zuckerakzise und schließlich auf der Einführung einer Couponsteuer 1 '. Abgesehen davon, ob es durch die vorgesehenen Steuererhöhungen noch gelingen konnte, die finanzpolitischen Auswirkungen der allgemeinen Wirtschaftskrise auf den Finanzhaushalt zu neutralisieren, wies das Budget für 1885 schon im ordentlichen Etat ein Defizit auf. Dieses markierte die äußerste Grenze, bis zu der Bunge die Priorität seiner finanz- und währungspolitischen Zielvorstellungen am Jahresanfang 1885 noch glaubte behaupten zu können. Denn der Ausgabeetat spiegelte zwar die Entschlossenheit wider, die restriktive Ausgabepolitik der Vorjahre konsequent fortzusetzen, sah aber zugleich eine Steigerung der größten Ausgabeposten: dem Militärbudget und den Ausgaben f ü r die Staatsschuld vor. Allein auf diese beiden Posten entfielen 57% der gesamten Staatsausgaben. O b freilich Bunge noch eine echte Chance hatte, seine finanzpolitischen Ziele zu erreichen, war schon am Jahresanfang 1885 fraglich. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Wirtschaftslage zog Schweinitz aus dem Etat das Fazit, daß eine wirkliche Besserung der Finanzlage nur noch durch eine Reduzierung der öffentlichen Schuld und der Militärausgaben möglich war; denn nur dadurch eröffne sich die Chance, die unumgängliche Reform der Kopfsteuer durchzuführen und die Mittel bereitzustellen, um die wirtschaftlichen Hilfsquellen des Landes zu erschließen 17 . Finanzpolitische Bedenken wurden auch in der Presse frühzeitig gegen die geplante Couponsteuer geltend gemacht, da diese einen Druck auf den Staatskredit ausüben werde, zumal England aufgrund der sich zuspitzenden Lage in Afghanistan ohnehin bemüht 271

sei, „Rußland durch Herabdriickung der russischen Werte und Untergrabung seiner Kredite auf den europäischen Geldmärkten zu schädigen" 18 . Wichtiger als derartige Bedenken war freilich f ü r das Schicksal des finanzund währungspolitischen Reformprogramms Bunges die Gefahr, daß es in den Sog einer sozialkonservativen Interessenpolitik geriet, die ohne Rücksicht auf finanzpolitische Bedenken den wirtschaftlichen Forderungen der „staatserhaltenden" K r ä f t e von Großgrundbesitz und Industrie entgegenkam. Angesichts der heftigen Opposition einflußreicher Vertreter dieser Gruppe war es von Anfang an mehr als fraglich, ob der Zar den Bungeschen Finanzplänen noch die nötige Rückendeckung zu geben bereit war. Das Scheitern Bunges zeichnete sich schon ab, als sich während der Beratungen des Budgets im Reichsrat eine Mehrheit f ü r die Forderung Ignat'evs fand, mit Rücksicht auf den bäuerlichen Widerstand gegen den wachsenden Steuerdruck die Kopfsteuer endgültig abzuschaffen 19 . Als die entschiedensten und gefährlichsten Gegenspieler Bunges profilierten sich die Hofleute in der Umgebung des Zaren, denen Bunge zu „penibel" war, „wo es sich um die Unterstützung verschuldeter Grandseigneurs handelte", auf der anderen Seite die von Katkov propagandistisch und - mit wirkungsvoller Unterstützung Pobedonoscevs - auch persönlich beim Zaren vertretenen Industriellen, denen Bunge „noch nicht schutzzöllnerisch genug" war 20 . Im Reichsrat drängten die Vertreter des Großgrundbesitzes auf staatliche Unterstützung, die weit über den von Bunge abgesteckten finanzpolitischen Rahmen hinausging. Allgemein erkannten sie zwar den „Ernst der ökonomischen Lage" und die „Notwendigkeit, alle Supplementarkredite zu vermeiden", an, forderten aber gleichzeitig die Gründung eines staatlichen Kreditinstitutes, das dem hochverschuldeten Großgrundbesitz neue Kredite zu günstigen Konditionen zur Verfügung stellen sollte. Gegen dieses „an Allerhöchster Stelle begünstigte Projekt" war der Widerstand Bunges zwecklos, obgleich selbst Schweinitz „ein schwieriges Problem" darin erkannte, „daß der Staat, der seinen Gläubigern 5 1/2 bis 6% Zinsen zahlte, Geld zu 5% ausleihen soll, und zwar nur an eine bestimmte Klasse von Staatsbürgern, die Adeligen". Das im Juni 1885 bestätigte Statut der „Adelsagrarbank" brachte in unmißverständlicher Deutlichkeit die Absicht zum Ausdruck, den wirtschaftlichen Verfall des heruntergewirtschafteten Großgrundbesitzes zu verhindern und ihn als soziale Stütze der Autokratie zu erhalten. Bereits während der ersten zwei Jahre ihres Bestehens wurden von der Adelsagrarbank Darlehen in H ö h e von 140 Mio. Rubel vergeben 21 . Unter lebhafter Anteilnahme des Zaren wurde bald nach ihrer Gründung das Finanzministerium mit der Reform der privaten Agrarbanken - vor allem der „Gesellschaft f ü r gegenseitigen Bodenkredit" - beauftragt, um auch hier den verschuldeten Gutsbesitzern unter die Arme zu greifen 22 . Noch massiver fiel die Subventionierung der Zuckerfabrikanten aus. Im Juli 1885 wurde f ü r 2 Mio. Pud Zucker die Gewährung einer Exportprämie in H ö h e von 1 Rbl./Pud beschlossen, wobei für sämtlichen exportierten Zucker die Akzise zurückerstattet werden sollte 23 . 272

Auch gegenüber den protektionistischen Forderungen der Industriezentren des inneren Rußland mußte Bunge Konzessionen machen. Die im Budget vorgesehenen Zollerhöhungen trugen vorwiegend finanzpolitischen Forderungen Rechnung, während nach den Intentionen Bunges das Schwergewicht der Maßnahmen zugunsten der Industrie bei Staatsaufträgen für Rüstungsgüter, dem Bau von Hafenanlagen und dem Ausbau des Eisenbahnnetzes liegen sollte 24 . Abgesehen davon, daß die hierfür veranschlagten Mittel nach Vorstellung der industriellen Interessenvertreter und der militärischen Führung viel zu niedrig veranschlagt worden waren 25 , waren die Industriellen erst recht nicht bereit, ihre zollpolitischen Forderungen den Interessen der Finanzwirtschaft zu opfern. Im Mai 1885 führte für Bunge kein Weg mehr daran vorbei, der Forderung der Industrie nach Zöllen auf landwirtschaftliche Maschinen und Zollerhöhungen bei Eisenfabrikaten nachzugeben sowie eine allgemeine Zolltariferhöhung um 20% vorzubereiten, von der eine Vermehrung der Staatseinnahmen nicht mehr zu erwarten war 28 . Die Gefahr, daß der durch das Budget f ü r 1885 gesetzte finanzpolitische Rahmen durch die Befriedigung der agrarischen und industriellen Interessen gesprengt wurde, konnte auch dadurch nicht erfolgreich vermindert werden, daß f ü r die Kronbauern die Kopfsteuer nur in Loskaufzahlungen umgewandelt und im Zuge einer Reform des Schankgewerbes die Branntweinsteuer erneut erhöht wurde. Denn die Grenze der steuerlichen Belastbarkeit war 1885 erreicht und Versuche, eine Verschlechterung der Lage der russischen Finanzwirtschaft auf dem Rücken der Bauern auszutragen, konnten nur noch in besonders günstigen Erntejahren und bei konsequenter Zwangseintreibung der Steuern und Abgaben Aussicht auf Erfolg haben 27 . H i n z u kam, daß sich im Verlaufe des Jahres 1885 wieder in zunehmender Schärfe die nachteiligen Auswirkungen der Papierwährung und die Abhängigkeit der russischen Finanzwirtschaft von den europäischen Kapitalmärkten bemerkbar machten, nachdem sich im Vorjahr noch unter der politischen Einwirkung Bismarcks das Vertrauen in den russischen Staatskredit gefestigt hatte. Es war schon ein bedenkliches Symptom, daß im Januar 1885, als gerade die Subskription einer 4% igen garantierten Eisenbahnanleihe ausgeschrieben wurde, die internationalen Börsen ungünstig auf den Budgetanschlag f ü r 1885 reagierten, „offenbar weil derselbe sowohl das Defizit im ordentlichen Budget als auch die bedrängte Lage der Landwirtschaft und Industrie ziemlich offen" darlegte 28 . Der Druck nahm zu, als auf Betreiben der englischen Rothschildgruppe und der englischen Regierung große Mengen russischer Staatspapiere vom englischen Markt abgestoßen wurden. Der deutsche Kapitalmarkt nahm zwar größere Mengen auf, und deutsche Banken waren weiterhin bereit, sich an der Emission von Eisenbahnpapieren zu beteiligen 29 . Aber f ü r die Emission von neuen Staatsanleihen war auch die Lage auf dem deutschen Kapitalmarkt nicht günstig. Symptomatisch war die Entwicklung des Rubelkurses an der Berliner Börse. Nachdem der Monatsdurchschnittskurs in Berlin noch im Verlaufe des Vorjahres eine Steigerung um ca. 7% aufgewiesen hatte, fiel er schon 18

Müller-Link

273

zwischen Januar und März wieder von 215 auf 210 Mark/100 Rubel, und zwischen April und August bewegte er sich zwischen 201 und 207 Mark/100 Rubel. Im September ging er auf 201 im Monatsdurchschnitt zurück und hielt sich auf dieser H ö h e bis Dezember, und gleichzeitig setzte außerdem an den internationalen Börsen bei russischen Wertpapieren ein auffallender Kursrückgang ein30. Infolge einer rückläufigen Einnahmeentwicklung, des andauernden Rückgangs des Rubelkurses, der zusätzlich Zahlungen für das Kreditwesen notwendig machte, Schloß das Butget f ü r 1885 mit einem Defizit von 16,6 Mio. Rubel ab 31 . Der Budgetanschlag für 1886 zeichnete ein „trübes Bild der finanziellen Situation", da die Entwicklung des vergangenen Jahres „keine H o f f n u n g auf eine Besserung der ökonomischen und finanziellen Lage im künftigen Jahre aufkommen" ließ. In Erwartung einer nur geringfügigen Steigerung der Einnahmen und einem starken Anstieg der Ausgaben f ü r das Kreditwesen, Eisenbahn- und Hafenbauten, die Adelsagrarbank, die Zuckerexportprämien usw. wies der ordentliche Etat ein Defizit von ca. 25 Mio. Rubel und der außerordentliche Etat ein ungedecktes Defizit von ca. 20 Mio. Rubel aus32. Mit diesem Budget war die innenpolitische Stellung Bunges bereits so geschwächt, daß „die Gerüchte vom bevorstehenden Rücktritt des H e r r n Bunge viel Glauben" fanden. Sie wurde noch schwächer, als die Finanzwirtschaft während der ersten Jahreshälfte 1886 scheinbar unaufhaltsam dem Staatsbankrott zusteuerte. Während die Montanindustriellen gegen den Widerstand Bunges weitere Zollerhöhungen durchsetzten, die Großgrundbesitzer auf weitere Subventionen drängten, das Kriegs- und Marineministerium höhere Forderungen anmeldete und die Vergabe von Staatsaufträgen an die Industrie nicht unter Kontrolle gehalten werden konnte, gingen die Einnahmen ständig zurück. Schon nach der ersten Jahreshälte 1886 ergab sich ein Defizit von 53 Mio. Rubel 33 . Hinzu kam, daß sich der Rubelkurs an den internationalen Devisenbörsen zwischen Januar und April 1886 zwar auf dem Stand von Dezember 1885 stabilisierte, aber angesichts der sich unaufhaltsam verschlechternden Finanzlage und einem stagnierenden Getreideexport mußte mit einem weiteren Kursrückgang, stetig steigenden Zahlungen für das Kreditsystem und einer Verschlechterung der Zahlungsbilanz gerechnet werden 34 . N u r die erneute Inanspruchnahme des Staatskredits schien den Staatsbankrott noch aufhalten zu können. Schon der Budgetanschlag für 1886 sah die Aufnahme einer Anleihe auf dem inländischen Kapitalmarkt in H ö h e von 45 Mio. Rubel Kredit zur Finanzierung der Ausgaben für den Eisenbahnbau vor. Da infolge des seit Dezember 1885 anhaltenden Rückgangs des Zinsfußes und eines Uberflusses freier Kapitalien am Jahresbeginn 1886 eine Haussebewegung an der Petersburger Börse einsetzte, konnte im April eine „4%ige innere Anleihe" von nominal 100 Mio. Rubel Kredit ohne Schwierigkeiten emittiert werden. Im Mai gelang die Emission einer „5%igen Eisenbahnrente" in H ö h e von 100 Mio. Kredit 35 . 274

Darüber hinaus unternahm Bunge den Versuch einer „großen

Konvertie-

rungsoperation" der auswärtigen Staatsschuld, um einmal die Zins- und A m o r tisationszahlungen zu verringern und zum anderen den Beweis für die Sicherheit des auswärtigen Staatskredits zu erbringen 8 ". D i e Aussicht für eine K o n versionsoperation

schien insofern nicht ungünstig zu sein, als infolge eines

rückläufigen Zinsfußes und einer flüssigen Geldlage auf den europäischen K a pitalmärkten

mit der Konversion preußischer Konsols 1 8 8 5

auch auf

dem

deutschen K a p i t a l m a r k t eine Konversionswelle eingesetzt hatte und die R e n d i te konvertierter Staatspapiere immer noch über dem deutschen und europäischen Durchschnitt lag 37 . Tatsächlich mußte der Versuch einer „großen K o n vertierungsoperation" im Mai 1 8 8 6 jedoch als gescheitert angesehen werden, da die Berliner Diskonto-Gesellschaft

den Versuch nicht ohne Beteiligung

der

Rothschildgruppe und Bleichröders wagte, die jedoch die Verhandlungen zunächst hinauszögerten und schließlich an übertriebenen

Garantieforderungen

scheitern ließen 38 . Als Bunge dennoch versuchte, die Konvertierungsoperation über einen längeren Zeitraum zu strecken und dabei ausschließlich auf deutsche Bankhäuser -

unter Einschluß Bleichröders -

im Mai 1 8 8 6 erfolgversprechende Prioritäts-Obligationen

zurückgriff, fanden

zunächst

Verhandlungen über die Konversion

mehrerer russischer Eisenbahngesellschaften

und

der der

Orient-Anleihe von 1877 statt. I m letzten Moment freilich zog Bleichröder seine Beteiligung an der Konversion der Orient-Anleihe zurück und ließ damit auch die „kleine Konvertierungsoperation" platzen 3 9 . Der B o y k o t t der Bungeschen Konversionspläne machte die Lage der russischen Finanzwirtschaft noch prekärer. N i c h t nur die Verringerung der Zins- und Amortisationsverpflichtungen wurde verhindert, sondern die Nachrichten über die Bungeschen K o n versionspläne hatten auch zur Folge, daß vor allem vom holländischen M a r k t russische Staatspapiere in größeren Mengen abgestoßen und vom

deutschen

K a p i t a l m a r k t nur zum Teil noch aufgenommen wurden 4 0 . M i t der im O k t o b e r einsetzenden Baisse an der Berliner Börse und einer Verknappung des Geldmarktes schwanden die Aussichten, die Konversion doch noch

durchführen

oder neue Staatsanleihen auf dem deutschen K a p i t a l m a r k t piazieren zu können, noch weiter 4 1 . Solange die Rothschildgruppe mit ihren internationalen Verbindungen russische Anleihe- und Konversionsversuche blockierte, wurde die Entwicklung der russischen Finanzwirtschaft damit zunehmend von der Bereitschaft deutscher Bankhäuser abhängig, sich stärker als bisher und auch notfalls gegen den W i derstand

der

Rothschildgruppe

und Bleichröders

zugunsten

des

russischen

Staatskredits zu engagieren, wobei freilich wiederum das D i l e m m a zutage trat, daß die deutschen Bankhäuser aus einer starken Verhandlungsposition heraus ihre Interessen geltend machen konnten. Diese Problematik verlor auch nichts dadurch von ihrer Schärfe, daß seit dem F r ü h j a h r 1886 französische B a n k h ä u ser die Zwangslage der russischen Finanzverwaltung nutzten, um in das Geschäft mit russischen Staatsanleihen einzusteigen. Einen V o r s t o ß in dieser R i c h tung unternahm schon im F r ü h j a h r 1 8 8 6 der Pariser Bankier Hoskier, und im 18»

275

Sommer fragte der „Credit Lyonnais" beim Direktor der Petersburger Diskonto-Bank, Sack, an, ob sich nicht „par dessus de la tête des Allemands Geschäfte machen ließen, von denen Franzosen und Russen Vorteile haben w ü r d e n " ; denn schließlich sei es doch „bedauerlich, daß Rußland von Deutschland finanziell so abhängig" wäre. Zur gleichen Zeit wurden in die französische Presse, vor allem in die „Nouvelle Revue", Artikel lanciert, um das Publikum zu einem Engagement in russischen Staatspapieren zu bewegen. Wenn dabei auch sehr schnell deutlich wurde, wie wenig aufnahmebereit der französische Kapitalmarkt noch für russische Staatspapiere war, so erklärte sich doch gegen J a h resende 1886 eine Pariser Bankengruppe unter Führung Hoskiers bereit, zukünftig einen Teil der auswärtigen Anleihen zu übernehmen, und der russische Bankier Raffalovitsch ermunterte das Finanzministerium, sich nicht mehr auf Verhandlungen mit deutschen Bankhäusern zu beschränken und das französische Angebot anzunehmen 42 . Bunge lehnte das jedoch ab. Ausschlaggebend daf ü r waren weniger die ungünstigen Anleihekonditionen der französischen Banken, sondern Zweifel, ob russische Staatsanleihen gegen den Widerstand der Rothschildgruppe überhaupt vom französischen Kapitalmarkt aufgenommen würden. H i n z u kam die Entschlossenheit Bunges, mit Rücksicht auf die kritische Lage der Finanzwirtschaft die Zusammenarbeit mit deutschen Bankhäusern und das Vertrauen des deutschen Kapitalmarktes auf keinen Fall aufs Spiel zu setzen 43 . "Die Chance freilich, mit Hilfe des deutschen Kapitalmarktes eine weitere Verschlechterung der Finanzlage verhindern zu können, hatte Bunge am Jahresende 1886 vergeben. Wenn auch seine Stellung beim Zaren durch den andauernden Druck der industriellen Schutzzöllner und durch den sich verschärfenden „Zuckerstreit" erheblich unterminiert worden war 44 , so gab doch der unaufhaltsame Mißerfolg seiner Finanz- und Währungspolitik den Ausschlag für die Entlassung. Noch vor Abschluß des Budgets für 1886 signalisierte der starke Rückgang des Rubelkurses an der Berliner Börse während der letzten Monate des Jahres 1886 - zwischen August und Dezember sank der monatliche Durchschnittskurs in Berlin von 198 auf 190 Mark/100 Rubel - eine „derart bedrängte" Lage der Finanzwirtschaft, daß nicht nur der Rücktritt Bunges unvermeidlich schien, sondern in Petersburger Handels- und Finanzkreisen bereits die Möglichkeit eines „offenen Staatsbankrotts" diskutiert wurde 45 .

6.1.2 Preußisch-deutscher AgrarProtektionismus agrarische Rußlandfeindschaft

und

Seit der Erhöhung der deutschen Agrarzölle im Jahre 1885 wurde die agrarische Interessenpolitik mehr denn je von dem Bewußtsein einer „von Jahr zu J a h r " wachsenden „Notlage" bestimmt. Zwar verbreitete sich allmählich auch in den übrigen landwirtschaftlichen Gebieten des Reiches eine Krisenstimmung, so daß Lerchenfeld-Köfering in seinem Bericht über die „Lage der Landwirt276

s c h a f t " auf der Versammlung des D L R im Februar 1887 den Rahmen der Verhandlungen zu sprengen glaubte, „wollte man alle Klagen . . . formulieren". Aber selbst nach dem bereitwilligen Zugeständnis nichtpreußischer Agrarier zeigte sich die „ N o t l a g e " am stärksten in den östlichen Provinzen Preußens, also in jenen Gebieten, die „keinen Binnenkonsum und keine sehr dichte Bevölkerung" hatten und in denen der Grundbesitz „über die H ä l f t e seines Wertes" verschuldet war 1 . Angesichts der sich seit Mitte der 80er J a h r e abzeichnenden Tendenz rückläufiger Pacht- und Güterpreise setzte sich bei den preußischen Agrariern endgültig die Einsicht durch, es nicht mehr wie in früheren J a h r zehnten „mit einer schnell vorübergehenden K r i s i s " zu tun zu haben, sondern mit einem „dauernden R ü c k g a n g der landwirtschaftlichen Rentabilität" 2 . D i e vielfältigen Klagen und Beschwörungen einer „ N o t l a g e " bildeten die Spitze eines agrarischen Krisenbewußtseins, dessen Intensität die bisherigen Konkurrenzängste und Befürchtungen weit übertraf. Irritiert reagierten die Agrarier insbesondere darauf, daß im Unterschied zu den „Finanzzöllen" von 1879 sich der „ E f f e k t der Preissteigerung" als Folge der „Schutzzölle" von 1885 absolut nicht einstellen wollte, obwohl der Getreideexport aus den führenden Getreideexportstaaten - Rußland, U S A , Österreich-Ungarn - nicht die hohen Steigerungsraten aufwies, mit denen ein verstärkter Preisdruck und der neue Tiefstand der Getreidepreise im J a h r e 1886 hätte erklärt werden können. Im Gegenteil: Der R ü c k g a n g der Getreideeinfuhr 1885 wurde als ein „hoch erfreuliches S y m p t o m " registriert und A n f a n g M ä r z 1886 rechnete der Rittergutsbesitzer v. Sydow-Dobberphul auf dem Kongreß vor, daß seit Beginn der 80er J a h r e die Getreidezufuhr auf dem europäischen M a r k t gerade mit dem wachsenden Mehrbedarf Schritt gehalten habe, man vielleicht sogar „sehr gut eine Verringerung der Konkurrenz hätte nachweisen können". A m J a h r e s a n f a n g 1886 schien noch die Möglichkeit zu bestehen, daß die Verdreifachung der Getreidezölle doch noch die Preisentwicklung beeinflussen würde. Aber ein J a h r später war dieser „eigentliche Z w e c k " immer noch nicht erreicht, und die „ H o f f n u n g e n , die der L a n d w i r t an den Getreidezoll k n ü p f t e " , wurden endgültig zerstört 3 . Auch in finanzieller Hinsicht wurden die agrarischen Erwartungen an die Zolltarifreform von 1885 nicht erfüllt. Z w a r hatte der preußische Finanzminister Scholz im Abgeordnetenhaus die Aussicht eröffnet, daß als E f f e k t der „ L e x H u e n e " im J a h r e 1886 6 bis 7 Mio. und 1887 sogar 18 bis 20 Mio. M a r k zur Verteilung kommen konnten, woraufhin sich Erffa-Wernburg sofort ausrechnete, daß damit in seinem Kreise die ganze Kreisanlage bestritten werden konnte. Aber die an sich „erfreuliche Erscheinung", endlich für verminderte Einnahmen in „direkter Weise" bei den Ausgaben entlastet zu werden, befriedigte bei weitem nicht „ d a s alte Petitum der Landwirtschaft, daß die Doppelbesteuerung von G r u n d und Gebäuden in Wegfall komme oder zum besten der Kreise diesen überwiesen werde". Denn abgesehen davon, daß die hohen Getreidezölle als „ F i n a n z z ö l l e " vorwiegend der Reichskasse die „erwünschte Einnahme" gebracht hatten, zeichnete sich eine weitere Erhöhung der Matrikular277

beitrage ab, von denen „ein sehr bedeutender Teil wieder auf die schon überlasteten Schultern des deutschen Landwirts gelegt" würde 4 . Angesichts der T a t s a che, daß die staatliche Wirtschafts- und Finanzpolitik trotz Förderung der agrarischen Interessen nur bedingt der „ N o t l a g e " entgegenwirken konnte, wurde vereinzelt die Forderung laut, die Landwirtschaft müsse zur „Selbsthilfe" greifen und sich den veränderten Konkurrenzbedingungen

auf dem europä-

ischen A g r a r m a r k t anpassen. Unterstützt von Schorlemer-Alst, einer der „einflußreichsten

Persönlichkeiten

in

den

landwirtschaftlichen

Kreisen

West-

deutschlands", w a r f E r f f a - W e r n b u r g auf dem „ K o n g r e ß " im Februar 1 8 8 6 den versammelten Agrariern vor, daß sie „im allgemeinen zu gut gelebt" hätten und forderte sie zur „Sparsamkeit im eigenen H a u s e " , größerer Vorsicht beim K a u f von Maschinen und Düngemitteln, Verbesserung der intensiven B e w i r t schaftung und zu Produktionseinschränkungen auf 5 . D i e Realisierungschancen derartiger Vorschläge waren freilich gerade in den östlichen Provinzen denkbar gering. D e r Gedanke, den Lebensstil zu ändern, stieß dort auf empörte A b lehnung. Ebenso entschieden wurde das „Remedium der Produktionsbeschränk u n g " zurückgewiesen. S t a t t dessen blieben die Agrarier der östlichen P r o v i n zen auf die Wiederherstellung eines hohen Preisniveaus fixiert, das allein noch geeignet schien, der preußischen Landwirtschaft

den schmerzhaften

Anpas-

sungsprozeß an veränderte Bedingungen zu ersparen. D i e Wiedergewinnung eines hohen Preisniveaus als die Alternative zu

Produktionseinschränkungen,

Konsumverzicht und Statusverlust wurde, je unaufhaltsamer sich der Preisrückgang fortsetzte, zum agrarischen T r a u m a 6 . D a s Problem w a r nur, wie ein hohes Preisniveau wenigstens auf dem B i n nenmarkt hergestellt werden konnte, nachdem selbst die drastische Zollerhöhung von 1 8 8 5 keine Wirkung gezeigt hatte. Die „ K o n k u r r e n z t h e o r i e " , der bisher die preisbildende Wirkung von Getreidezöllen begründet

mit

worden

war, hatte an Erklärungskraft eingebüßt und ließ sich nur noch mit Vermutungen aufrechterhalten, daß gegenüber den überseeischen Zufuhren „die Wirkung des Zolls durch das rapide Heruntergehen der Schiffsfrachten in letzter Zeit völlig paralysiert w o r d e n " sei, während R u ß l a n d seinen Getreideexport

bei

sinkenden Preisen nur durch die erhebliche Herabsetzung seiner Eisenbahnfrachttarife

habe aufrechterhalten

können 7 . D i e allgemeine

Verunsicherung

verhalf der jetzt von jedem zollpolitischen Interesse losgelösten

bimetallisti-

schen Agitation in agrarischen Kreisen zum entscheidenden Durchbruch. H a t t e O . Arendt noch während der Reichstagsdebatten über den Z o l l t a r i f von 1 8 8 5 ohne große Resonanz die „Vereinigung" davon zu überzeugen versucht, daß die Währungsfrage nicht mehr „das Aschenbrödel unter den wirtschaftlichen F r a g e n " sein dürfte, so mußte ein J a h r später S y d o w - D o b b e r p h u l -

keines-

wegs einer der agrarischen Vorreiter der bimetallistischen Bewegung stellen, „daß die Währungsfrage 3 / 4 des ganzen landwirtschaftlichen ses"

einnehme 8 . Gegenüber

den auf steigende Getreidepreise

fest-

Interes-

fixierten

und

durch die Wirkungslosigkeit der Getreidezölle verunsicherten Agrariern traten die agrarischen Bimetallisten mit der Behauptung auf, daß durch zoll- und 278

steuerpolitische „ P a l l i a t i v e " die „ N o t l a g e " der Landwirtschaft nicht geändert werden könne, aber „alle jetzt gewiß berechtigten Klagen über wirtschaftliche N o t würden verstummen oder doch erheblich abgeschwächt werden, wenn durch die Wiederausprägung des Silbers ein höheres Preisniveau für die L a n d wirtschaft erreicht und für die Z u k u n f t gesichert w ä r e " . Agitatorisch wirksam argumentierte Sydow-Dobberphul auf dem „ K o n g r e ß " im Februar 1886 gegen die „Konkurrenztheorie", daß der Preisrückgang sich unbeeinflußt von den Zollerhöhungen und der Einfuhrentwicklung fortgesetzt habe und erklärte dann unverblümt, er „begrüße das Sinken der Preise mit großer Freude", denn das sei das einzige Mittel, um den bimetallistischen Forderungen zum E r f o l g zu verhelfen. Aus diesem Grunde wandte sich S y d o w auch entschieden gegen weitere Zollerhöhungen, die immer nur ein „Palliativmittel" sein könnten, während die Doppelwährung das Übel an der Wurzel packe 9 . Für die agrarischen Bimetallisten war es ein großer Erfolg, daß der „ K o n g r e ß " nur ein J a h r nach der Getreidezollerhöhung von 1885 „ f a s t einstimmig" eine Resolution annahm, die den Übergang zur „vertragsmäßigen internationalen D o p p e l w ä h r u n g " als das „bedeutsamste und wirksamste Mittel zur Beseitigung der wirtschaftlichen N o t " forderte 1 0 . D i e Intensität und die Wirksamkeit der bimetallistischen Agitation waren deutliche Symptome einer agrarischen Interessenpolitik, die zunehmend eindeutiger und direkter ihre Impulse aus der Gegnerschaft zur agrarischen Elite des östlichen N a c h b a r n Rußland bezog. Einmal brachte der agrarische Bimetallismus indirekt die Ohnmacht zum Ausdruck, dem vor allem in den östlichen Provinzen Preußens erdrückenden Einfluß des russischen Getreideexportes auf das inländische Preisniveau durch Zölle wirksam begegnen zu können 1 1 . Z u m anderen besaß die bimetallistische Agitation selbst eine direkte antirussische Komponente: denn das in mehrfacher Hinsicht durch seine instabile Papierwährung benachteiligte Rußland bezog aus dem 1886 erneut einsetzenden starken R ü c k g a n g des Rubelkurses Exportvorteile, die es ihm auch in den Jahren des starken Preisrückgangs auf dem europäischen Getreidemarkt erlaubten, seine führende Stellung in der deutschen Getreideeinfuhr zu behaupten 1 2 . Diese Tatsache ging als sehr reale Erfahrung in die bimetallistische Agitation ein, während die Vorstellung, daß der indische Getreideexport infolge der ebenfalls instabilen Währung nahezu unbegrenzte Dimensionen annehmen würde, in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Bedeutung der indischen Getreidekonkurrenz auf dem europäischen M a r k t stand 1 3 . Exponierte Agrarier aus den östlichen Provinzen Preußens, w o man die russische Konkurrenz „ a m besten" spürte und wo in den landwirtschaftlichen Vereinen mit der russischen Valuta einseitig auf Kosten der allgemeinen Klarheit der währungspolitischen Diskussion „etwas zu viel gearbeitet" wurde, machten immer wieder deutlich, wie sehr sie sich durch die Währungsverhältnisse gegenüber ihren russischen Konkurrenten übervorteilt fühlten. D a ß auch von seiten der russischen Großgrundbesitzer Klagen laut wurden, schien z w a r insofern „ g a n z natürlich", als der „Preisdruck des Weltmarktes" auch dort nicht ohne Einfluß bleiben konnte. Aber 279

neidisch rechnete Mirbach dem „ K o n g r e ß " im Februar 1886 vor, daß der „russische L a n d m a n n " bedingt durch ein stabiles Preisniveau auf dem inneren M a r k t bei starken Schwankungen des Wechselkurses mit stabilen und niedrigen Kosten produzieren und gleichzeitig den Preisdruck des Weltmarktes durch den gewinnbringenden E x p o r t nach Deutschland ausgleichen könne. Diese T a t sache ließ sich angeblich anhand vieler Beispiele und Erfahrungsberichte aus den der russischen Grenze benachbarten Provinzen belegen 14 . Im Februar 1887 nutzte Mirbach den erneuten Rückgang der russischen Valuta, um ganz massiv agrarische Ängste gegen die russische Konkurrenz zu mobilisieren. Es sei „eine Schraube ohne E n d e " , rief er den Agrariern zu, wenn der russische Getreideexporteur „beim Sinken der russischen Valuta zu einem verhältnismäßig niedrigen Preis" Getreide kaufe, es dann „mit Vorteil auf den Weltmarkt" bringe, dort die Preise „ d r ü c k t " und sich während eines erneuten Rückganges des R u belkurses „dann wieder genau dasselbe" vollziehe 1 5 . Gerade im Hinblick auf die Vorteile eines rückläufigen Rubelkurses für den russischen Getreideexport befanden sich jedoch die agrarischen Bimetallisten in einem Dilemma. Einerseits zielte die Forderung nach Einführung der Doppelwährung darauf ab, daß die gegenwärtige Situation, in der die russischen Großgrundbesitzer von sinkenden Rubelkursen angeblich auf Kosten ihrer preußischen Kollegen profitierten, geradezu umgekehrt wurde 1 6 . Andererseits aktivierte die Aussicht neue Konkurrenzängste, daß gerade die mit deutscher H i l f e bewirkte Steigerang des Rubelkurses zur Festigung des russischen Staatskredits beitragen könnte, worauf neues ausländisches K a p i t a l in den russischen Eisenbahnbau fließen und noch bessere Verbindungen zwischen dem deutschen M a r k t und den Zentren der russischen Getreideproduktion hergestellt würden. Angesichts der überragenden Bedeutung des deutschen Kapitalmarktes für den russischen Staatskredit mündete die bimetallistische Agitation daher konsequent in die Forderung ein, dem russischen Getreideexport die Unterstützung des deutschen K a p i t a l s zu entziehen. Wenn das „mobile K a p i t a l " schon „immer und überwiegend international" war, dann sollte wenigstens nicht deutsches K a p i t a l der russischen Konkurrenz durch den Bau von Eisenbahnen nutzbar gemacht werden 1 7 . N u n gaben sich auch die Exponenten des agrarischen Bimetallismus keinen Illusionen darüber hin, daß ihre währungspolitischen Forderungen kurzfristig nicht durchgesetzt werden konnten und eine direkte Einwirkung auf den russischen Staatskredit nicht möglich war. Die steil ansteigende Resonanzkurve, die die bimetallistischen Forderungen in den agrarischen Organisationen verzeichnete, schloß daher nicht aus, daß schließlich doch wieder die Zölle als das einzige Mittel, das Preisniveau kurzfristig zu beeinflussen, in den Vordergrund agrarischer Interessenpolitik rückten. A u f g r u n d der bisherigen Erfahrungen mit den zu „niedrigen" Agrarzöllen fielen die neuen zollpolitischen Forderungen entsprechend radikal aus. Hier liegt das Signifikante der Beschlüsse, die die „Pommersche ö k o n o m i s c h e Gesellschaft" in ihrer Sitzung v o m 27. Oktober 1885 faßte. Gefordert wurde angesichts des „fortschreitenden Niedergangs der 280

deutschen Landwirtschaft" und der „notorischen Wirkungslosigkeit der sogenannten landwirtschaftlichen Zölle" ihre „zeitweise Erhöhung", insbesondere eine „Verdoppelung der Getreidezölle, Viehzölle usw. auf drei Jahre durch ein Notgesetz" sowie der „schleunige Übergang zur internationalen Doppelwährung" 18 . Die hier noch nicht explizit angesprochene Problematik, in welcher Rangfolge derart radikale zoll- und währungspolitische Forderungen durchgesetzt werden sollten, beherrschte wenige Monate später die Diskussion auf dem „Kongreß" und der „Vereinigung". Eine konsequent bimetallistische Position, die ihre eigene Begründung ernst nahm, mußte nicht nur weitere Zollerhöhungen als wirkungslos zurückweisen, sondern auch die Berechtigung der bestehenden Zölle anzweifeln. Sydow-Dobberphul zog diese Konsequenz, indem er sich zum „Gegner jeder Erhöhung der landwirtschaftlichen Zölle" erklärte und darüber hinaus zu bedenken gab, „daß wir früher keine Getreidezölle und doch ganz gute Getreidepreise hatten, bei denen noch etwas zu verdienen war" 19 . Obwohl die Forderung nach Einführung der Doppelwährung prinzipiell breite Zustimmung fand, zeigte sich jedoch ein starker Widerstand gegen die von Sydow-Dobberphul vertretene Haltung, auf zollpolitische „Palliative" zu verzichten, um damit der bimetallistischen Agitation um so größeren Nachdruck zu verschaffen. Bis auf einzelne exzentrische Bimetallisten hielt es die Mehrheit mit Diest-Daber, daß man „doch auch partielle Hilfe" brauchen könne, wenn sich das Grundübel kurzfristig nicht beseitigen ließ. Man wollte nicht die „allgemeine Seligkeit" durch die Doppelwährung abwarten, denn in der Notlage der Landwirtschaft kämen einfach „zu viele Punkte" zusammen20. Daß diese „partielle Hilfe" nur in Getreidezöllen mit prohibitivem Charakter bestehen konnte, stand von vornherein fest. So stellte sich für Mirbach die Frage, „wie sich die Preisbildung bei uns gestalten würde für die Landwirtschaft, wenn Deutschland mit einer chinesischen Mauer umgeben wäre, so daß nichts Fremdes herein könnte". Im Sinn der „Pommerschen ökonomischen Gesellschaft" forderte Seehagel eine „Ermächtigung" für die Regierung, die es erlaubte, je nach Situation Zollerhöhungen zu verordnen, „ähnlich wie bei der Viehsperre, damit die Regierung nicht erst das Parlament dazu braucht" 21 . Bis zum Frühjahr 1887 gewannen derart radikale Forderungen auf dem „Kongreß" und der „Vereinigung" die Oberhand. Denn in einer Situation, in der es nach Kanitz-Podangen nur noch darum gehen konnte, „wie der Niedergang der Landwirtschaft aufzuhalten war", wuchs die Bereitschaft, entschlossen „nach jedem Strohhalm" zu greifen. Anfang März 1887 ließen führende Agrarier auf dem „Kongreß" keinen Zweifel mehr daran aufkommen, in welcher „Tonart" zukünftige agrarische Interessenpolitik betrieben werden sollte. Diest-Daber hielt die Zeit für gekommen, endlich „die Glacehandschuhe auszuziehen. Frege-Abtnaundorf drohte, daß „das Gefühl rege gemacht" und auch im Reichstag „energisch" aufgetreten würde 22 . Diese im Frühjahr 1887 sich abzeichnende Radikalisierung agrarischer Interessenpolitik brachte die Entschlossenheit des preußischen Großgrundbesitzes zum Ausdruck, schon kurzfristig drastische Zollerhöhungen auch gegen starke innenpolitische Widerstände 281

durchzusetzen. N a c h Ansicht von Diest-Daber konnte man jetzt nicht mehr bei Diskussionen über die Zweckmäßigkeit von Zollerhöhungen stehenbleiben, sondern mußte mit der Verdoppelung des Getreidezolls „vorwärts marschieren". In gleichem Sinne wollte Kanitz-Podangen die Tatsache, daß der Rückgang der Getreidepreise nicht von einem entsprechenden Anstieg der Getreideeinfuhren begleitet wurde, nur noch als einen „nebensächlichen Umstand" gelten lassen, der „mit der Wirksamkeit oder Wirkungslosigkeit der Schutzzölle in keinem direkten Zusammenhang" stand. In der gegenwärtigen Lage sei der Getreidezoll „ein sicheres Mittel zur Hebung der Getreidepreise", wenn er „nur in richtiger H ö h e veranlagt" würde 23 . Das energische Drängen nach sofortigen Zollerhöhungen stand sicher im Zusammenhang mit der Entwicklung der Getreidepreise, die um die Jahreswende 1886/87 einen neuen Tiefstand erreicht hatten. Aber die im „Kongreß" und der „Vereinigung" erhobenen radikalen Forderungen waren keineswegs repräsentativ f ü r die Stimmung in allen landwirtschaftlichen Gebieten des Reiches. Zwar bestand im D L R kein prinzipieller Widerstand gegen eine Erhöhung der Getreidezölle, aber im Frühjahr 1887 wollte sich die Mehrheit nur zögernd auf drastische Zollerhöhungen festlegen lassen24. In den Forderungen nach zollpolitischen Notmaßnahmen spiegelten sich denn auch in erster Linie die auf die russische Konkurrenz bezogenen Existenzängste des Großgrundbesitzes in den östlichen Provinzen Preußens wider. Wenn sich Kanitz-Podangen entschieden f ü r eine Verdoppelung der Getreidezölle einsetzte, dann sprach er für die „Landwirte in den östlichen Provinzen", die der „russischen Einfuhr unmittelbar ausgesetzt" waren und das „täglich an den Preisnotierungen der Königsberger und Danziger Getreidebörse wahrnehmen" konnten. Dort wurde das russische unverzollte Getreide „ziemlich genau um 3 Mark unter dem Preise des einheimischen Getreides gehandelt", weshalb sich bei einer Erhöhung der Getreidezölle um diesen Betrag auch in den östlichen Provinzen entsprechende Auswirkungen auf die Preise zeigen müßten. Darüber hinaus hielt Kanitz „energische Zollmaßregeln" auch gegen den russischen Viehexport für dringlich, da die Vieheinfuhr „namentlich aus Rußland und Österreich-Ungarn neuerdings in der Zunahme begriffen" sei25. Die agrarische Interessenpolitik geriet vollends ins antirussische Fahrwasser, als sich im Frühjahr 1887 vor dem H i n tergrund einer weiter rückläufigen Preisentwicklung ein ähnlich starker Anstieg der russischen Getreideausfuhr wie im Frühjahr 1878 nach der Beendigung des russisch-türkischen Krieges abzeichnete. Angesichts der schon bis Mai importierten „Unsummen russischen Getreides", die eine miserable Preisentwicklung erwarten ließen, war f ü r die preußischen Agrarier endgültig die Toleranzschwelle erreicht, bis zu der sie den Druck des russischen Getreideexportes auf das Preisniveau hinzunehmen bereit waren. Jetzt organisierten sie eine Schwemme von Petitionen an den Reichstag, in denen die sofortige „Erhöhung resp. Ergänzung der Eingangszölle auf sämtliche Produkte der Land- und Forstwirtschaft" gefordert wurde 2 ".

282

6.1.3 Russischer Industrieprotektionismus: das Dilemma des deutschen Industrieexportes Nachdem wegen der protektionistischen russischen Zollpolitik der deutsche Industriexeport ins Zarenreich während der ersten H ä l f t e der 80er Jahre stetig zurückgegangen war, wurde das Verhältnis der deutschen Industrie zum russichen M a r k t während der zweiten H ä l f t e der 80er Jahre von der Erfahrung bestimmt, daß protektionistische Tendenzen einen zunehmend stärkeren und scheinbar unaufhaltsamen Einfluß auf die russische Zollpolitik gewannen. Jede noch so geringe Zollerhöhung wurde jetzt als empfindlicher Schlag gegen den deutschen Industrieexport empfunden. Die Leitung des Gußstahlwerkes Lohmann & Soeding in Witten a. d. Ruhr, das in der Vergangenheit Eisenfabrikate „in großen Quantitäten" nach Rußland exportiert hatte, brachte vermutlich die in der rheinisch-westfälischen Eisenindustrie verbreitete Stimmung zum Ausdruck, als sie im Mai 1885 darüber klagte, die neuen Zollerhöhungen kämen einem „Einfuhrverbote" gleich, da schon angesichts der vorangegangenen Zollerhöhungen der Rußlandexport nur mühsam habe aufrechterhalten werden können. Im Rückblick auf das Jahr 1885 stellte auch der VDESI fest, daß durch die erneut erhöhten Eisenzölle die „noch vor einigen Jahren ansehnliche Ausfuhr" der deutschen Eisenindustrie nach Rußland „in sehr ernster Weise gefährdet" worden sei. Wenige Monate darauf befürchtete der VDESI noch eine „Verschlimmerung", da es offenbar die Absicht der russischen Regierung sei, „innerhalb einer kurzen Reihe von Jahren die Einfuhr von Eisenartikeln aus dem Auslande mehr und mehr zu vermindern . . . und schließlich die Einfuhr ganz zu prohibieren" 1 . Die Reaktionen auf diese Entwicklung waren zwiespältig. Auf der einen Seite hielt man es für dringend notwendig, „Schritte zur Verhinderung der gänzlichen Abschließung des russischen Marktes für deutsche Eisen-, Stahl- und Messingwaren zu tun". Dem stand aber die deprimierende Erfahrung gegenüber, daß alle Bemühungen in dieser Richtung bisher erfolglos geblieben waren und sich nicht mehr habe erreichen lassen, als daß „der eine oder andere Zollsatz etwas niedriger bemessen, oder der Einführungstermin f ü r die Zollerhöhung des einen oder anderen Artikels um wenige Monate hinausgeschoben wurde" 2 . Dieses Dilemma schlug sich auch in den Diskussionen über den geeigneten Weg nieder, die völlige Abschließung des russischen Marktes zu verhindern. Als Befürworter eines harten Kurses, mit dem die Ö f f n u n g des russischen Marktes erzwungen werden sollte, profilierten sich die Handelskammern Bochum und Dortmund. In einer Eingabe an Bismarck forderten beide „Repressalien" gegen die russischen Zollerhöhungen 3 . Innerhalb der industriellen Interessenorganisationen konnten sich die Befürworter eines harten Kurses jedoch nicht durchsetzen. Gegen den Widerstand der Handelskammern Bochum und Dortmund organisierte die Handelskammer Iserlohn eine Konferenz in Hagen (15. Oktober 1885). Statt „Repressalien" forderten die dort vertretenen H a n delskammern den Abschluß eines deutsch-russischen Handelsvertrages, die Er283

mäßigung derjenigen Zollsätze, die eine Konkurrenz auf dem russischen M a r k t unmöglich machten, eine genauere Spezifikation der Warengruppen des russischen Zolltarifs und schließlich die Errichtung eines von der Reichsregierung zu errichtenden Büros in St. Petersburg, „durch dessen Vermittlung die Beschwerden deutscher Kaufleute gegen die Maßregeln der russischen Zollbehörden erledigt und . . . Informationen über Zollfragen eingeholt werden" sollten 4 . Auch innerhalb des V D E S I blieben die Handelskammern Bochum und D o r t mund mit ihren Bedenken gegen die „blödsinnige Forderung eines Vertragsabschlusses" isoliert. Im Sinne der Beschlüsse der Hagener Konferenz hielt die Generalversammlung des V D E S I im J a n u a r 1886 den Abschluß eines deutschrussischen Handelsvertrages für „dringend wünschenswert". U m diesem Ziel näher zu kommen, war der V D E S I grundsätzlich konzessionsbereit. Nicht die Zurücknahme der bereits bestehenden hohen Zölle des russischen T a r i f s war sein Hauptziel, sondern die Verhinderung der „fortgesetzten, sich öfter wiederholenden allmählichen Zollerhöhungen", die „Industrie und H a n d e l aus den Besorgnissen nicht herauskommen" ließen und „jede auch nur auf einige Monate vorausberechnete Kalkulation unmöglich" machten 5 . Selbst in der oberschlesichen Industrie, in deren Geschichte die J a h r e 1884 bis 1886 als „Beginn verschärfter Zollmaßnahmen an der russischen G r e n z e " eingingen, überwog noch die H o f f n u n g , die weitere Schädigung der Exportinteressen durch einen H a n delsvertrag verhindern zu können. D a r a n änderte auch die Tatsache nichts, daß hier die Differentialzölle bei Kohle und Roheisen, die einseitig die englischen Importe auf Kosten der oberschlesischen begünstigten, als besonders diskriminierend empfunden wurden. So sah die Handelskammer Oppeln in dem erhöhten Differentialzoll auf Kohle eine Mehrbelastung des schlesischen K o h leexportes um 33 1 / 3 % „zugunsten der über die H ä f e n des baltischen Meeres eingehenden Steinkohle englischer Provenienz", sie hielt aber 1886 einen deutsch-russischen Handelsvertrag für „dringend notwendig" 8 . Die Gründe d a f ü r , daß die industriellen Interessenorganisationen trotz anhaltender russischer Zollerhöhungen und einer rückläufigen Entwicklung des Rußlandexportes „Repressalien" ablehnten und statt dessen auf eine vertragliche Regelung der deutsch-russischen Handelsbeziehungen drängten, waren vielschichtig. Erstens leistete der russische Finanzminister Bunge bis zum Jahresende 1886 den extremen schutzzöllnerischen Forderungen der russischen Industriellen noch erfolgreich Widerstand. Z w a r hörte der deutsche Industrieexport nach Rußland bei einzelnen Artikeln ganz auf oder er schrumpfte auf einen unbedeutenden Rest zusammen, aber insgesamt machte er doch noch einen beträchtlichen Teil des gesamten deutschen Industrieexportes aus, wobei speziell die Rußlandausfuhr der oberschlesischen Montanindustrie einen erheblichen Teil der Gesamtproduktion dieses Industriegebietes absorbierte 7 . Zweitens wollten einflußreiche Vertreter der deutschen Industrie sich nicht auf eine K a m p f z o l l p o l i t i k mit ihren nicht überschaubaren Risiken eines deutsch-russischen Zollkrieges festlegen. N a c h der Erhöhung der deutschen Ge284

treidezölle von 1885 hatte die russische Regierung nicht die geringste Konzessionsbereitschaft gezeigt. Erschien demnach schon eine offene Kampfzollpolitik als ein untaugliches Mittel, um die Interessen des deutschen Industrieexportes nach Rußland zu sichern, so waren die Industriellen nicht ohne weiteres bereit, den preußischen Agrariern höhere Agrarzölle zu konzedieren. Nachdem man 1885 „seitens der Industrie willig und bewußt so hohe Getreidezölle bewilligt" hatte, mußte es jetzt nach Ansicht des Saarindustriellen Stumm „genug sein". Im gleichen Sinne bekräftigte der VDESI im Januar 1886 seine Entschlossenheit, die „ehrliche Probe über die Wirksamkeit der neuen Zollpolitik wenigstens eine Reihe von Jahren durchgeführt zu sehen", womit er indirekt einer Erhöhung der Agrarzölle schon in naher Z u k u n f t eine Absage erteilte. Auch auf dem deutschen Handelstag wurden im März 1886 Forderungen nach einer Revision des Zolltarifs strikt verworfen 8 . Drittens wuchs unter dem Druck der sich 1886 verschärfenden Depression nicht zwangsläufig auch die Bereitschaft der Industrie, sich wie 1879 und 1885 über eine protektionistische Revision des Zolltarifs zu verständigen. Zwar wurden auch jetzt wieder Stimmen laut, durch höhere Schutzzölle „dem Eindringen fremder Waren entgegenzuwirken". Aber der Schwerpunkt industrieller Interessenpolitik lag in dem Bestreben, einerseits durch Produktions- und Preiskartelle ein hohes Preisniveau auf dem Binnenmarkt zu erhalten, andererseits der Überproduktion verbesserte Absatzchanzen auf den auswärtigen Märkten zu verschaffen. Die Forderung nach Abschluß eines deutsch-russischen Handelsvertrages und der Widerstand gegen Erhöhung der Getreidezölle fügte sich demnach in den Zusammenhang einer industriellen Politik, die großen Wert darauf legte, durch eine Senkung der Produktionskosten, niedrige Eisenbahnfrachttarife und handelsvertragliche Sicherungen einer Verschlechterung der Konkurrenzbedingungen auf den europäischen Märkten vorzubeugen 9 . Vereinzelt wurden sogar Stimmen laut, die die Getreidezölle speziell mit dem Interesse der deutschen Industrie an der Erhaltung des russischen Marktes für unvereinbar hielten und eine Senkung der Getreidezölle forderten 1 0 . Erst als im Verlaufe der ersten Jahreshälfte 1887 die H o f f n u n g e n auf einen deutsch-russischen Handelsvertrag zerstört wurden, der neue Finanzminister Vysnegradskij den protektionistischen Kurs der russischen Zollpolitik konsequent verschärfte und schließlich auch für die oberschlesische Industrie der russische M a r k t verloren zu gehen drohte, setzte sich in den industriellen Interessenorganisationen die Überzeugung durch, daß nur durch eine Kampfzollpolitik der Verlust des russischen Marktes im letzten Moment noch verhindert werden könne 11 .

285

6.1.4 Sozialökonomische

Krisenstrategie 1885 bis 1886

und

Außenpolitik

Die in den ersten Jahren nach der Reichsgründung noch glaubhaft verfochtene Bismarcksche These, Deutschland und Rußland hätten keine entgegengesetzten Interessen, ließ sich - trotz Wiederbelebung der Dreikaiserpolitik zur Kennzeichnung der deutsch-russischen Beziehungen während der Jahre 1885 und 1886 nicht mehr aufrecht erhalten. Soweit die deutsch-russischen Interessengegensätze innenpolitische und wirtschaftliche Ursachen hatten, waren sie durch diplomatische Integrationsstrategien schon deshalb nicht dauerhaft zu überspielen, weil die militärischen, die sozialen und die wirtschaftlichen Grundlagen der in den vergangenen Jahren zutage getretenen gegenseitigen Animosität fortbestanden und sich darüber hinaus in beiden Ländern das System der inneren Reaktion auf Gruppen mit wirtschaftlichen Forderungen stützte, deren Befriedigung die Eskalation des deutsch-russischen Wirtschaftsantagonismus bis zum offenen Wirtschaftskrieg zur Folge haben konnte 1 . Eine derartige Entwicklung berührte die deutsche Rußlandpolitik in ihrem Kern, nachdem Bismarck das vitale Interesse, eine weitere Eskalation der zwischenstaatlichen Antagonismen zu verhindern, noch 1884 dadurch demonstriert hatte, daß er politisch und finanziell für Rußland „in die Hausse" gegangen war 2 . Die Frage nach den Chancen, die ökonomischen Gegensätze so zu begrenzen, daß ihr Übergreifen auf die mühsam stabilisierten politischen Beziehungen verhindert werden konnte, t r i f f t also ein zentrales Problem der deutschen Rußlandpolitik seit der Mitte der 80er Jahre. Angesichts der Kräfte, die auf eine Verschärfung der ökonomischen Gegensätze drängten sowie der Labilität der politischen Beziehungen 3 war die Bewältigung dieses Problems abhängig von den innen- und außenpolitischen Spielräumen, über die die deutsche Rußlandpolitik noch verfügte. In diesem Zusammenhang zählten zu den wichtigsten Voraussetzungen der deutschen Rußlandpolitik die innenpolitischen und finanziellen Restriktionen, denen die russische Außenpolitik auch weiterhin unterworfen war. Während sich ungeachtet der äußerlich noch erfolgreichen innenpolitischen Reaktion die sozialökonomischen Spannungen verschärften, sich der Zersetzungsprozeß der Autokratie und ihrer Institutionen fortsetzte, exponierte Vertreter der innenpolitischen Reaktion dem Versuch, primär durch Repression die „reine Autokratie" zu erhalten, nur noch kurzfristige Erfolgschancen einräumten und sich in Kreisen der europäischen Diplomatie die Überzeugung verbreitete, daß Rußland unvermeidlich der inneren Revolution entgegengehe 4 , bestand zwar eine potentielle Bereitschaft, den wachsenden Prestigeschwund der Autokratie durch eine erfolgreiche Risikopolitik zu kompensieren. Aber nicht minder groß war die Furcht vor außenpolitischen Verwicklungen und ihren innenpolitischen Rückwirkungen. Die relativ risikolose Expansionspolitik in Asien dämpfte die Unzufriedenheit in der Armee und verschaffte den dringend benötigten Presti286

gegewinn, während zugleich die Erfahrungen des letzten Türkenkrieges und seiner innenpolitischen Rückwirkungen die russische Balkanpolitik lähmten 5 . Unübersehbar waren auch die finanziellen Zwänge, denen die russische A u ßenpolitik unterworfen war. D i e anläßlich der Verlängerung des Dreikaiserbündnisses gezeigte Nachgiebigkeit hatte bewiesen, daß die Abhängigkeit der Finanzwirtschaft v o m deutschen K a p i t a l m a r k t ausschlaggebend sein konnte, um die russische Außenpolitik selbst in einer akuten Spannungssituation und gegen innenpolitische Widerstände am Ausbruch aus der Dreikaiserpolitik zu hindern. D i e Argumente von Staatssekretär Jomini im Außenministerium, daß die langfristig konzipierte Finanz- und Währungspolitik Bunges frühestens 1887 erste Erfolge aufweisen könne und die Dreikaiserpolitik die Voraussetzung sei, um die Sanierung der Finanzen nicht zu gefährden, gewannen angesichts der sich weiter verschlechternden L a g e der Finanzwirtschaft und der stetig wachsenden Abhängigkeit vom deutschen K a p i t a l m a r k t eine zunehmend größere Aktualität 6 . Entsprechend konnte die deutsche Rußlandpolitik davon ausgehen, daß die finanzielle Kette zumindest stark genug war, um den Einfluß antideutscher Tendenzen auf die russische Außenpolitik zu begrenzen. Dieser politische Vorteil konnte nicht einmal durch den A l p t r a u m aufgewogen werden, daß das Dreikaiserbündnis der zaristischen Regierung an der außenpolitischen Front die nötige Ruhe verschaffte, um ungestört und mit deutschem K a p i t a l die militärische Ausgangslage für den Fall eines Krieges mit den Zweibundmächten zu verbessern. Denn während die deutsche Militärpolitik unauffällig die „Sicherheitsmaßregeln" an der Ostgrenze vorantrieb und die Reichsfinanzverwaltung durch die Zolltarifreform von 1885 und mehr noch durch Schuldenaufnahme die von der militärischen Führung geforderte präventive Steigerung der Kriegsbereitschaft für den Zweifrontenkrieg auch finanziell sicherstellen konnte, waren die der russischen Militärpolitik gesetzten finanziellen Grenzen zu offenkundig, als daß sich Bismarck im Frühjahr 1885 durch Berichte über militärische Maßnahmen an der preußischen Grenze und die Erhöhung des Militärbudgets hätte beunruhigen lassen 7 . Die Einsicht in die innenpolitischen und finanziellen Restriktionen, denen die russische Außenpolitik unterworfen war, machte zumindest für die nahe Z u k u n f t eine schroff antideutsche Wendung der russischen Außenpolitik unwahrscheinlich, vorausgesetzt freilich, daß die deutsche Rußlandpolitik vorsichtig lavierte und Provokationen vermied, die die Empfindlichkeit des außenpolitisch gelähmten und finanziell abhängigen Zarismus über das innenpolitisch gerade noch tolerierbare M a ß hinaus strapaziert hätten 8 . D a m i t unvereinbar war aber eine deutsche Innenpolitik, die massiv gegen die russischen Wirtschafts- und Finanzinteressen verstieß 9 . Auch die Bedenken, die Schweinitz im Frühjahr 1885 gegen die geplante Ausweisung polnischer J u d e n und Katholiken aus den östlichen Provinzen Preußens anmeldete, machten die labile Grundlage deutlich, auf der die Bismarcksche Rußlandpolitik inzwischen operierte 10 . Allerdings schienen die außenpolitischen Risiken einer deutschen Innenpolitik, die die russische Empfindlichkeit provozierte, noch kalkulierbar zu 287

sein. Die Erinnerung an die Tradition preußisch-russischer Gemeinsamkeit in der Unterdrückung ihrer polnischer Minderheiten und die Abwehrhaltung gegenüber der drohenden Revolution waren im Bismarckschen Kalkül stark genug, um die Gefahr unerwünschter außenpolitischer Nebenwirkungen der preußischen Polenpolitik zu vermindern 11 . Weiterhin lag dem Verstoß gegen die Exportinteressen der russischen Großgrundbesitzer das Kalkül zugrunde, daß die wirtschaftlichen Antagonismen auf der neu gewonnenen Grundlage des zollpolitischen Status quo eingegrenzt werden konnten. Denn das Interesse der russischen Großgrundbesitzer und der Finanzverwaltung, sich den deutschen Markt als Absatzgebiet für die Agrarexporte zu erhalten bzw. eine Verstimmung des deutschen Kapitalmarktes in der ohnehin schwierigen Lage des Staatskredits zu vermeiden, war überwältigend groß, während auf der anderen Seite die zollpolitischen Forderungen der preußischen Agrarier weitgehend befriedigt worden waren und die deutsche Industrie auf eine handelsvertragliche Vereinbarung zur Sicherung ihres immer noch bedeutenden Rußlandexportes drängte 12 . Unter diesen Voraussetzungen bemühte sich die Bismarcksche Rußlandpolitik bis zum Jahresende 1885 alles zu vermeiden, was den russischen Industriellen einen zusätzlichen agitatorischen Vorwand für ihre schutzzöllnerischen Ambitionen liefern konnte. Während Bismarck nach anfänglichen Beschwichtigungsversuchen schließlich doch Kampfzölle androhte, als die österreichischen Industriellen die deutsche Getreidezollerhöhung auszubeuten versuchten, verzichtete er darauf, diese Drohung auch an die russische Adresse zu richten 13 . Solange die Prioritäten einer sozialkonservativen Innen- und Wirtschaftspolitik die erneute Erhöhung der deutschen Getreidezölle bzw. die aktive Vertretung der Interessen des deutschen Industrieexportes nicht zwingend machten, verzichtete die deutsche Rußlandpolitik darauf, durch die Androhung von Sanktionen die russische Empfindlichkeit noch weiter zu provozieren. Dieses außenpolitische Interesse bestand fort, als sich am Jahresende 1885 die Möglichkeit einer weiteren Schädigung des deutschen Industrieexportes durch die russische Zollpolitik abzeichnete, durch die neue Balkankrise und die in ihrem Verlauf sich abzeichnende Verminderung des russischen Einflusses auf dem Balkan die Frage nach den Vorteilen der Dreikaiserpolitik für die zaristische Regierung neue Aktualität gewann und schließlich die preußischen Agrarier auf eine Erhöhung der Agrarzölle drängten 14 . Die sich damit abzeichnende Verschiebung der Voraussetzungen, unter denen sich außenpolitische Rücksichten auf Rußland mit den innenpolitischen Prioritäten hatten vereinbaren lassen, stellte die deutsche Rußlandpolitik jetzt vor ein echtes Dilemma. Prinzipiell war für Bismarck jede Maßnahme gegen den russischen Agrarexport „unsympathisch", ob sie als Schutzzoll für die Landwirtschaft oder als Instrument zur Öffnung des russischen Marktes für den deutschen Industrieexport motiviert wurde; denn die Warnung des deutschen Botschafters, eine weitere Erhöhung der deutschen Getreidezölle werde „die Großgrundbesitzer, welche dem 288

Kaiser nahestehen, erbittern und ihn gegen uns verstimmen", ließ sich nicht ohne weiteres beiseite schieben 15 . Dennoch bestand im Frühjahr 1886 aus mehreren Gründen noch kein Zwang, die Bemühungen um eine Stabilisierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen als zwecklos aufzugeben. 1. Der innenpolitische Druck war noch nicht stark genug, um gegen außenpolitische Bedenken die Rücksichtnahme auf die russischen Wirtschafts- und Finanzinteressen ganz aufzugeben. Der anhaltende Rückgang der Getreidepreise machte es zwar zunehmend schwerer, den Forderungen der agrarischen Interessenorganisationen nach weitergehenden Maßnahmen gegen den russischen Getreideexport zu widerstehen 16 , und der Zwang, wiederum den zollpolitischen Hebel zu betätigen, wurde um so stärker, als die währungspolitische Alternative zu hohen Agrarzöllen in großen Teilen der deutschen Industrie auf heftigen Widerstand stieß und auch Bismarck gar nicht daran dachte, „sich den Bimetallisten zu überliefern" 17 . Dennoch lehnten Regierungsvertreter agrarische Forderungen nach höheren Getreidezöllen mit dem Hinweis auf die innenpolitischen Widerstände kategorisch ab 18 . 2. Wenn auch seit der Zolltarifreform von 1885 „die Bedürfnisse des Reiches bedeutend" gestiegen waren und Finanzminister Scholz davon überzeugt war, „daß der Zolltarif noch eine Kuh sei, die sehr viel mehr noch gemolken werden könne" 1 9 , so sprachen doch finanzielle Gründe gegen eine Erhöhung der Getreidezölle zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Die im Verlaufe des Jahres 1886 sich abzeichnende Verminderung der Getreideeinfuhren mochte vom protektionistischen Standpunkt noch als Erfolg gewertet werden, da andernfalls der Rückgang der Getreidepreise noch stärker gewesen wäre 20 . Vom finanziellen Standpunkt dagegen stellte diese Entwicklung ein bedrohliches Symptom dar. 1886 stiegen die Einnahmen aus den Getreidezöllen gegenüber dem Vorjahr nur noch geringfügig an 21 . Solange diese Tendenz in der Getreideimportentwicklung andauerte, hätte eine erneute Getreidezollerhöhung eine prohibitive Wirkung haben können, die letztlich die finanziellen Ergebnisse der Zolltarifreform von 1879 zunichte gemacht hätte. Hier lag eine 1886 noch unüberwindbare Barriere f ü r die zollpolitischen Forderungen der Agrarier 22 . Von daher läßt sich die Energie erklären, mit der Bismarck im Frühjahr 1886 auf die Einführung des Branntweinmonopols drängte. Mit erwarteten Mehreinnahmen von mehr als 300 Mio. Mark hätte das Branntweinmonopol nicht nur mit einem Schlage die Probleme der Reichsfinanzwirtschaft für die nahe Z u k u n f t auch ohne erneute Erhöhung der Getreidezölle gelöst, sondern auch die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die steuerpolitischen Forderungen des preußischen Großgrundbesitzes befriedigt werden konnten. Ein führender agrarischer Interessenvertreter wie Diest-Daber erkannte schon richtig: N u r „wenn bald nirgend etwas mehr zu holen ist, dann werden wohl die Getreidezölle herankommen" 2 3 . 3. Da sich die wirtschaftliche Lage Rußlands erheblich verschlechterte und die Bemühungen Bunges um eine durchgreifende Besserung der Finanzlage zu 19

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scheitern drohten, blieb nicht nur die russische Militärpolitik starken finanziellen Restriktionen unterworfen, sondern mit den finanziellen Schwierigkeiten wuchs die finanzielle Abhängigkeit der russischen Finanzwirtschaft vom deutschen Kapitalmarkt und damit für die deutsche Rußlandpolitik die Möglichkeit, indirekten Druck auf die russische Zollpolitik auszuüben 24 . 4. Der Ausbruch eines Aufstandes in Ostrumelien und der daran anschließende serbisch-bulgarische Krieg bedeuteten für die deutsche Rußlandpolitik, die ein prinzipielles Interesse daran haben mußte, daß die russisch-österreichische Rivalität auf dem Balkan nicht auf die deutsch-russischen Beziehungen abgeleitet wurde, zweifellos einen Rückschlag. Andererseits wurden die Bemühungen um eine Abgrenzung des russischen und österreichischen Einflußgebietes auf dem Balkan zwar erschwert, aber solange einer aktiven russischen Balkanpolitik eindeutige militärische, finanzielle und innenpolitische Grenzen gesetzt waren und die drohende Verminderung des russischen Einflusses auf dem Balkan gerade bei den Stützen der innenpolitischen Reaktion allgemeine Frustration auslöste, wuchsen f ü r die deutsche Diplomatie die Chancen, dem Zaren eindrucksvoll die Vorteile einer Verständigungspolitik mit dem Deutschen Reich zu demonstrieren 25 . 5. Im Frühjahr 1886 war noch nicht entschieden, ob sich die zentralrussischen Industriellen mit ihren zollpolitischen Forderungen durchsetzen würden. Daher blieb der deutschen Rußlandpolitik noch die Wahl, entweder aus der Reserve herauszutreten, um die drohende Schädigung des deutschen Industrieexportes zu verhindern oder das Resultat der Auseinandersetzungen innerhalb der zaristischen Regierung abzuwarten. Dabei sprachen politische Bedenken dagegen, sich zugunsten des deutschen Industrieexportes zu engagieren. Denn einmal stand für Schweinitz fest, daß die zaristische Regierung weder durch diplomatische Intervention noch durch Repressalien zu zollpolitischen Konzessionen veranlaßt werden konnte 26 . Zum anderen war die Gefahr nicht zu übersehen, daß die bloße Androhung von Repressalien und überhaupt jede Einmischung von deutscher Seite empfindliche Gegenreaktionen auslösen und den innenpolitischen Entscheidungsprozeß in einer unerwünschten Richtung beeinflussen konnten. Zusammenfassend bleibt also zu konstatieren: Sowohl im Hinblick auf die politische Zweckmäßigkeit als auch von den Voraussetzungen einer sozialkonservativen deutschen Innenpolitik und den finanziellen Zwängen deutscher Rüstungspolitik her war es im Frühjahr 1886 noch eine Frage der Opportunität, ob die deutsche Rußlandpolitik überhaupt ihre bisher reservierte Haltung gegenüber Forderungen nach einer aktiven Wahrnehmung der Interessen des deutschen Industrieexportes nach Rußland aufgeben sollte. Angesichts der Abneigung, mit der Bismarck bisher auf die öffentliche Agitation der deutschen Industrie gegen die russische Zollpolitik reagiert hatte, war es bemerkenswert, daß er im Frühjahr 1886 bereit war, die Bahnen der stillen Diplomatie zu verlassen und durch indirekten Druck weitere russische Zollerhöhungen zu verhindern. Daß die deutsche Rußlandpolitik im Frühjahr 1886 ihre Zurückhaltung 290

gegenüber den Forderungen nach einer aktiven Wahrnehmung der Interessen des deutschen Industrieexportes nach Rußland aufgab, läßt sich auf den persönlichen Einfluß oberschlesischer Industriemagnaten zurückzuführen, die ihre wirtschaftlichen Interessen durch die Agitation der russischen Industriellen für höhere Kohle- und Eisenzölle unmittelbar bedroht sahen und von starken Zweifeln beherrscht wurden, ob die zaristische Regierung ohne Druck dazu gebracht werden könnte, den Exportinteressen der oberschlesischen Industrie die Entwicklungschancen der wichtigsten Zentren der russischen Montanindustrie zu opfern. Andererseits stand für die oberschlesische Industrie zu viel auf dem Spiel, als daß sie sich mit der Abschnürung vom russischen Markt hätte abfinden können 27 . Die größere Nachgiebigkeit Bismarcks gegenüber dem Drängen der oberschlesischen Industrie, den Druck auf Rußland zu verstärken, Schloß freilich noch nicht die Bereitschaft ein, auch den offenen Bruch mit einer Rußlandpolitik zu vollziehen, die sich in der Vergangenheit an der Vermittlung von politischer Kooperation und ökonomischem Antagonismus orientiert hatte. Das Engagement zugunsten des deutschen Industrieexportes hatte immer noch eine deutliche Grenze, solange einerseits die Risiken einer unbegrenzten Eskalation der deutsch-russischen Gegensätze auf der wirtschaftlichen Ebene nicht durch finanzielle und politische Vorteile einer sozialkonservativen Wirtschaftspolitik aufgewogen wurden und andererseits die Möglichkeit eines deutsch-russischen Interessenausgleichs auf dem Verhandlungswege, der von der Mehrheit der deutschen Industrie und auch von den oberschlesischen Industriellen als Nahziel angestrebt wurde, nicht ausgeschlossen werden konnte 28 . Entsprechend griff Bismarck den Vorschlag, den Druck auf den russischen Staatskredit zu verstärken, nicht auf, zumal Bleichröder das unauffällig besorgte. Statt dessen beschränkte er sich darauf, in der deutschen Presse eine Agitation gegen die geplanten russischen Zollerhöhungen zu entfachen und in der offiziösen Presse die Möglichkeit von Kampfzöllen anzudrohen. Ebenso wie das Angebot, als Gegenleistung für den Verzicht auf die Erhöhung der Eisen- und Kohlezölle die russischen Balkaninteressen stärker zu unterstützen, blieben auch die Drohungen mit Kampfmaßnahmen von der Absicht bestimmt, provokative Effekte zu vermeiden und zu einem Ausgleich der handelspolitischen Interessen zu kommen 29 . Im Bewußtsein, finanziell und wirtschaftlich am längeren Hebel zu sitzen und unter Ausnutzung der immer offenkundiger hervortretenden Mißerfolge der russischen Balkanpolitik der zaristischen Regierung wirtschaftliche Zugeständnisse mit außenpolitischen Kompensationen schmackhaft machen zu können, versprach diese Politik Erfolgschancen. Obwohl die Reaktion der russischen Regierung zunächst den Erwartungen entsprach, zeichnete sich sehr schnell ab, daß das Bismarcksche Kalkül, durch vorsichtig dosierten indirekten Druck und diplomatisches Entgegenkommen partielle zollpolitische Zugeständnisse zu erlangen, nicht aufging. Das Dilemma einer an der Eingrenzung der ökonomischen und politischen Gegensätze interessierten deutschen Rußlandpolitik, dessen Konturen sich in der zweiten Jahreshälfte 1886 scharf abzeichnete, 19*

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kann einmal erfaßt werden im Hinblick auf die Funktion, die einer prohibitiven russischen Zollpolitik in der Phase eines gefährdeten industriewirtschaftlichen Wachstums zufallen mußte; zweitens läßt sich nicht die Frage nach dem Wert der ökonomischen und politischen Kompensationen umgehen, die die deutsche Politik für den Verzicht auf eine prohibitive russische Zollpolitik anbieten konnte; drittes handelt es sich um die Voraussetzungen und Erfolgschancen einer nationalistischen Agitation, der es letztlich darum ging, die russische Wirtschafts-, Finanz- und Außenpolitik von einer einseitigen Abhängigkeit zu befreien. Auf dem Tiefpunkt der industriellen Depression im Jahre 1886 beschränkten sich die Forderungen der zentralrussischen Industriellen nicht darauf, durch protektionistische Zollsätze auf Fabrikate der Textil- und Eisenindustrie Konkurrenzvorteile der ausländischen Industrie auf dem Binnenmarkt a b z u g l e i chen. Die Auseinandersetzungen um höhere Zölle auf Roheisen und Kohle wurden vielmehr von der drohenden Verschiebung der inneren Konkurrenzbedingungen zugunsten der expandierenden polnischen Industrie sowie von der Möglichkeit bestimmt, daß der Verzicht auf höhere Roheisen- und Kohlezölle die Entwicklung der alten Zentren der Montanindustrie des inneren Rußland und des Montangebietes von „Neu-Rußland" blockierte. Diese Aussicht sicherte den schutzzöllnerischen Forderungen der Industriellen des „inneren Rußland" von vornherein eine große Wirkung, zumal angesichts der geringen Nachfrage und der Zwangslage der Finanzwirtschaft die drohende Stagnation der wichtigsten Industriezentren durch Staatsaufträge nicht abgewendet werden konnte 80 . Die Erfolgschancen des Versuchs, ohne Sanktionen eine empfindliche Schädigung des deutschen Industrieexportes nach Rußland zu verhindern, hingen entscheidend davon ab, ob sich die zaristische Regierung im Bewußtsein ihrer finanziellen Abhängigkeit vom deutschen Kapitalmarkt, mit Rücksicht auf die Exportinteressen des Großgrundbesitzes und schließlich in der Erwartung, auf dem Balkan die Unterstützung der deutschen Politik zu finden, zu einer vorläufigen Anerkennung des zollpolitischen Status quo - mit oder ohne H a n delsvertrag - bereitfinden würde. Dieses Nahziel deutscher Rußlandpolitik rückte während der zweiten Jahreshälfte 1886 scheinbar in greifbare Nähe. In den sich zäh dahinziehenden Auseinandersetzungen zwischen den Befürwortern und Gegnern eines wirtschaftlichen Interessenausgleichs mit dem Reich zeichnete sich jedoch ein Sieg der industriellen Schutzzöllner ab, je deutlicher wurde, daß die deutsche Politik der agrarischen Elite keine überzeugenden wirtschaftlichen und politischen Vorteile bieten konnte. Angesichts des anhaltenden Rückgangs der Getreidepreise und eines stagnierenden Getreideexportes wäre nur die Senkung der deutschen Getreidezölle ein „volles Äquivalent" gewesen, um die Großgrundbesitzer für einen wirtschaftlichen Interessenausgleich zu gewinnen. Aber während die Bürokratie in dieser Frage Konzessionsbereitschaft zeigte, lehnte Bismarck es kategorisch ab, die deutschen Getreidezölle zu binden oder gar zu senken 31 . Die Drohung mit einer Erhöhung der deutschen 292

Agrarzölle mußte die Großgrundbesitzer erst recht davon überzeugen, wie wenig sie von einer Politik des Interessenausgleichs erwarten konnten. Durch die Drohung mit Agrarzöllen arbeitete die Bismarcksche Politik den industriellen Schutzzöllnern geradezu in die H ä n d e . In dieser Beziehung waren die Mißerfolge der Bungeschen Finanz- und Wirtschaftspolitik, die gerade im Verlaufe des Jahres 1886 scharf zutage traten, nicht weniger wirksam. Angesichts der schlechten Wirtschafts- und Finanzlage und eines unaufhaltsamen Rückgangs des Rubelkurses konnten die Agitationen der industriellen Schutzzöllner mühelos nationalistische Ressentiments gegen eine Wirtschafts- und Finanzpolitik mobilisieren, die nicht nur tiefer in die Krise, sondern in eine zunehmend größere Abhängigkeit v o m Deutschen Reich geführt hatte. Für die von dieser Erfahrung genährten nationalistischen Ressentiments zeigten auch die Großgrundbesitzer eine große Anfälligkeit und die von der nationalen Presse propagierte Forderung nach Lösung von der wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeit drückte die allgemein verbreitete Bereitschaft aus, den Bruch mit der Bungeschen Finanz- und Wirtschaftspolitik zu vollziehen.

6 . 2 D i e K r i s e d e r deutschen A u ß e n p o l i t i k a l s H e g e m o n i a l k r i s e Die endgültige Entscheidung über die zollpolitischen Forderungen der Industriellen des inneren Rußland war am Jahresende 1886 noch nicht gefallen 1 . J e länger aber die sich zäh dahinziehenden internen Auseinandersetzungen andauerten und sich zusehends auf die grundsätzliche Frage nach der zukünftigen russischen Zollpolitik gegenüber dem Deutschen Reich zuspitzten, um so geringer wurde die Aussicht, daß die zaristische Regierung sich im Interesse des deutschen Industrieexportes zumindest vorübergehend auf zollpolitische K o n zessionen festlegen ließ. D a m i t zeichnete sich ein Scheitern der Bemühungen der deutschen Rußlandpolitik ab, die Eskalation der ökonomischen Gegensätze durch einen Interessenausgleich auf einer tragfähigen Basis zu verhindern. Scheinbar unaufhaltsam steuerte die deutsche Rußlandpolitik während der zweiten Jahreshälfte 1886 dem Punkt zu, an dem aus der fortgesetzten Schädigung des deutschen Industrieexportes die Konsequenz gezogen werden mußte, daß die ökonomischen Gegensätze sich unversöhnlich gegenüberstanden. Während der letzten Monate des Jahres 1886 setzte sich diese Erkenntnis auf beiden Seiten durch. D i e Aussicht, daß eine Seite im letzten Moment noch kapitulierte, war ebenso gering wie die Chance, daß sich die ökonomischen Gegensätze auf einem erhöhten Konfliktniveau vielleicht doch noch stabilisierten: einerseits wegen der auf russischer Seite postulierten Notwendigkeit prohibitiver Schutzzölle für die Industrie, andererseits aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeit, daß die deutsche Zollpolitik im Falle eines erneuten Anstiegs der Getreideeinfuhren aus Rußland gegenüber einem wachsenden agrarischen Druck auf eine finanziell ergiebige Erhöhung der Getreidezölle verzichten würde. 293

Die außenpolitische Dimension dieser Entwicklung bildete die Tatsache, daß die Unversöhnlichkeit der ökonomischen Interessen die Quelle einer akuten Animosität zwischen den ökonomischen und politischen Eliten Deutschlands und Rußlands bildete und das Maß an Gemeinsamkeit in der europäischen Politik nicht ausreichte, um die ökonomischen Gegensätze zu überbrücken. Mehr noch: Im Unterschied zu 1876/77, als die Kriegsentscheidung Alexanders I I . die deutsche Rußlandpolitik aus einem ähnlichen Dilemma befreit hatte 2 , zeichnete sich seit dem Jahresende 1885 deutlich ab, daß die Entscheidung über die zukünftige russische Wirtschaftspolitik die grundsätzliche Klärung der deutsch-russischen Beziehungen auch auf der politischen Ebene verlangte, womit zugleich die Wahrscheinlichkeit wuchs, daß sie sich im Ausbruch der russischen Politik aus dem Dreikaiserverhältnis 3 und durch den Übergang zum offenen Wirtschaftskrieg vollziehen würde. Die in diesem Zusammenhang wichtigsten Entwicklungsstränge müssen in der Wechselwirkung zwischen der inneren Krise der französischen Republik und in der akuten Krisenlage der zaristischen Autokratie gesehen werden. Während in den Jahren der nahezu unbestrittenen Vorherrschaft der republikanischen Parteien seit den Oktoberwahlen 1877 die antideutschen Ressentiments des französischen Nationalismus durch den Kolonialenthusiasmus weitgehend absorbiert wurden, setzte sich seit dem Sturz Ferrys im Frühjahr 1885 eine starke reaktionäre Strömung durch, die ihre Wirkung aus der Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Entwicklung unter der Vorherrschaft der republikanischen Parteien, aus der Agitation gegen die Mißerfolge in der Kolonialpolitik und schließlich aus Ressentiments gegen die Hegemonie des Deutschen Reiches in der europäischen Politik bezog. Die „patriotische Protestbewegung" des „Boulangismus", die seit dem Jahresende 1885 einen wachsenden Einfluß auf die französische Innenpolitik gewann, brachte diese Strömung am radikalsten zum Ausdruck 4 . Die innenpolitische Entwicklung in Frankreich war für die europäische Gesamtlage in den Jahren 1885 und 1886 von unmittelbarer Bedeutung. Zwar war die französische Außenpolitik noch weit davon entfernt, die „ganze Staatsräson der Revanche" unterzuordnen. Nach dem Sturz des „Prussien" Ferry bildete die Revancheidee auch für das Kabinett Freycinet kein „selbstwertiges Ziel", sondern einen „Agitationsfaktor, welcher nach Umständen auf- und abgewiegelt" wurde. Aber die republikanischen Parteien waren seit den Oktoberwahlen 1885 mehr denn je darauf angewiesen und auch entschlossen, sich dieses Agitationsfaktors zu bedienen, um „bei den Fleischtöpfen bleiben" zu können 5 . Die bewußte Tolerierung und Ausbeutung antideutscher Ressentiments für innenpolitische Zwecke konnte nicht verhindern, daß die Gefahr einer orleanistischen Restauration für die französische Innenpolitik eine ähnliche Aktualität wie in den ersten Jahren nach dem deutsch-französischen Krieg erhielt. Mit dem Versuch, dieser zunächst gefährlichsten Spielart einer antirepublikanischen Reaktion die Spitze zu nehmen, handelten sich die republikanischen Parteien freilich in der Gestalt Boulangers ungewollt einen Kriegsminister ein, der sich auf ihre Kosten als Symbolfigur

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des neuerwachten Nationalismus und der Revanche profilieren konnte. Während Boulanger im „Ministerium der Sammlung" unter Freycinet zunächst als „Farceur" galt, d. h. als „kein Mann, mit dem man zu rechnen habe, als ein Streber, der persönliche Zwecke verfolgte", konnte er seine innenpolitische Stellung so weit festigen, daß eine Kabinettsbildung seit der Jahresmitte 1886 ohne ihn f ü r die republikanischen Parteien kaum noch möglich war. Mehr noch: Die Gefahr einer Militärdiktatur Boulangers, der über einen starken Rückhalt in der Armee verfügte, stellte f ü r die republikanische Vorherrschaft eine zunehmend größere Gefahr dar als eine orleanistische Restauration 8 . Angesichts der Erfahrungen der ersten Jahre nach dem deutsch-französischen Kriege war die Wiederbelebung der antideutschen Komponente des f r a n zösischen Nationalismus und ihre Ausbeutung f ü r parteipolitische Zwecke den republikanischen Kabinetten Anlaß genug, diplomatische Vorkehrungen gegen die zu erwartenden deutschen Reaktionen zu treffen. Mit dem Sturz des Kabinetts Ferry starb eine französische Außenpolitik, die sich als Äquivalent f ü r die deutsche Unterstützung der französischen Kolonialpolitik unter die deutsche Hegemonie gebeugt hatte. Zunächst als Außenminister im Kabinett Brisson (April 1885 bis Januar 1886) und dann als Ministerpräsident und Außenminister (Januar bis Dezember 1886) nutzte Freycinet jede sich bietende Gelegenheit, um gemeinsam mit dem russischen Botschafter in Paris, Mohrenheim, die diplomatische Annäherung an Rußland voranzutreiben. Äußerlich endeten diese Versuche zunächst mit einem Fiasko, als der Zar scheinbar aus Verärgerung über die Abberufung des französischen Botschafters Appert im Februar 1886 seinerseits Mohrenheim für mehr als ein halbes Jahr von seinem Pariser Posten abberief, der Entsendung des neuen französischen Botschafters Billot die Zustimmung verweigerte und sich wiederholt in der „heftigsten, beleidigendsten Weise" über die französische „Republik" aussprach. Die Abwehrhaltung gegen die der Autokratie drohenden Gefahren schien die Abneigung des Zaren gegen die französische Republik noch zu verstärken 7 . Daher bestand f ü r die deutsche Politik kein Anlaß zur Nervosität, als sich seit dem Frühjahr 1886 Gerüchte verdichteten, daß die innenpolitische Entwicklung in Frankreich eine „Tendenz zum Kriege" erkennen lasse und es im Sommer zu einem deutschfranzösischen Kriege kommen könne. In Berlin reagierte man gelassen auf Berichte des Pariser Militârattachés Villaume, daß nicht nur in militärischen Kreisen eine starke Neigung zum Revanchekrieg herrsche, sondern eine allgemein zunehmende Bereitschaft zu erkennen sei, in einem Krieg gegen Deutschland „eine Verbesserung der kommerziellen und industriellen Verhältnisse, einen Ausweg aus den sozialistischen Wirren und aus den auf die Dauer unhaltbaren inneren politischen Zuständen" zu suchen. Die Möglichkeit eines nahe bevorstehenden deutsch-französischen Krieges war f ü r Villaume vor allem deshalb alarmierend, weil Frankreich ungeachtet der „augenblicklichen Ruhepause auf dem Gebiet größerer reformatorischer Veränderungen" des Militärwesens durch den Rückzug von Truppen aus den Kolonien „von Mitte d. J. ab in bezug auf die Bereitschaft zu einem kontinentalen Kriege so günstig gestellt sein" 295

werde „wie nie zuvor" 8 . Anders war die Reaktion in Berlin, als Villaume im Herbst erneut mit der Meldung Alarm schlug, daß die französische Armee „sich immer mehr auf die Eventualität eines Krieges" vorbereite 9 . Es war aber immer noch nicht die „Eventualität eines bald zu führenden Krieges mit Frankreich", die in Berlin Unruhe auslöste. Denn an der qualitativen und technischen Überlegenheit der preußisch-deutschen Armeen, an ihrer überlegenen Offensivkraft bestand kein Zweifel 10 . Das Bewußtsein der eigenen militärischen Überlegenheit war so ungebrochen, daß der König von Sachsen mit seiner Ansicht, man könne sich das „unverschämte provozierende Revanchegeschrei auf die Dauer nicht länger gefallen lassen" und müsse „notwendig die Franzosen noch einmal zusammenhauen", auf keine militärischen Bedenken stieß 11 . Sieht man zunächst von der Frage ab, ob die europäische Gesamtlage einen deutsch-französischen Krieg ohne die Beteiligung einer anderen Macht überhaupt zugelassen hätte, dann wuchs in militärischen Kreisen die Neigung zum Präventivkrieg, als Boulanger im Herbst 1886 erhebliche finanzielle Forderungen f ü r den Ausbau der Festungen anmeldete und auf die Durchführung militärischer Reformen drängte, die nach einer ein- bis zweijährigen Periode verminderter Kriegsbereitschaft die Voraussetzungen, auf denen die deutsche Offensivkraft beruhte, in entscheidenden Punkten - schnellere Mobilmachung, größere Feuerkraft - verändert hätten 12 . Die preußische Militärführung sah sich damit vor die Alternative gestellt, entweder die militärisch noch günstige Situation für den Krieg nach Westen auszunutzen und das „Übergewicht nach dorthin endgültig festzustellen" oder, wenn sie sich mit einer „Verschiebung des Gleichgewichts" nicht abfinden wollte, mit dem sich erneut beschleunigenden französischen Rüstungstempo „gleichen Schritt zu halten" 1 3 . Zugunsten eines Präventivkrieges fiel dabei neben den zu erwartenden innenpolitischen Auseinandersetzungen über die Finanzierung schnell steigender Rüstungsausgaben vor allem ins Gewicht, daß die deutsche Militärpolitik auch unter der Geltungsdauer des zweiten Septennats von der Überzeugung des überlegenen „inneren Wertes" der preußischen Armee über jede andere europäische bestimmt worden war, eine Forcierung des Rüstungswettlaufs die Bedeutung dieses Faktors relativierte und unmittelbare Konsequenzen f ü r die innere Struktur der Armee haben mußte. Nicht zuletzt aus diesem Grunde hatte Bismarck als Gegner einer „forcierten" Rüstungspolitik noch im Frühjahr 1886 eine vorzeitige Erhöhung der Friedenspräsenzstärke abgelehnt 14 . Für die deutsche Innen- und Außenpolitik gewann die militärische Problematik des deutsch-französischen Antagonismus damit eine ähnliche Aktualität wie in den 70er Jahren. Dieses Mal bedurfte es allerdings nicht erst einer erneuten Krieg-in-Sicht-Krise, um die Illusion zu zerstören, daß das militärische Dilemma durch einen Präventivkrieg nach Westen gelöst werden könne. Schon im Mai 1885 witterte Bismarck in der Aufforderung der „Times", vermittelnd in den russisch-englischen Konflikt in Asien einzugreifen, den Versuch, „Mißtrauen gegen Deutschland zu wecken, und eine Verbindung Englands mit R u ß land und Frankreich anzubahnen". Dem deutschen Geschäftsträger in St. Pe296

tersburg erschien es gerade im Hinblick auf die Erfahrungen der „Krieg-inSicht-Krise" von „symptomatischer Bedeutung" zu sein, daß entgegen den Erwartungen und H o f f n u n g e n der deutschen Politik, die mit dem Ausbruch eines englisch-russischen Krieges in Asien spätestens zum Jahresende 1885 gerechnet hatte, „sowohl England wie Rußland kein Verlangen trugen, sich gegenseitig zu schwächen, damit Deutschland als Tertium gaudens den Vorteil davon habe" 15 . Die Sensibilität, mit der die deutsche Diplomatie die geringsten Symptome antideutscher Tendenzen in der russischen Außenpolitik registrierte, war Ausdruck des Bewußtseins, daß sich die offizielle russische Diplomatie zwar weiter auf der Linie der Drei-Kaiser-Politik bewegte und die Abneigung des Zaren und der einflußreichsten Exponenten der innenpolitischen Reaktion gegen die französische Republik eine „starke Barriere" bildete, die Russen und Franzosen voneinander trennte 16 , die außenpolitische Isolierung Frankreichs in der europäischen Politik damit aber nicht hinreichend gesichert war. Denn die russische Politik gegenüber den Zweibundmächten war durch eine finanzielle und innenpolitische Zwangslage bedingt, die unter der Decke der Verständigungsbereitschaft das Gefühl wachhielt, von der stärksten Militärmacht in Europa finanziell abhängig und in der außenpolitischen Handlungsfähigkeit gelähmt zu sein. Angesichts dieser permanenten Frustration bedurfte es nur einer geringen Provokation, um die unterdrückten Vorbehalte gegen die hegemoniale Rolle des Deutschen Reiches in der europäischen Politik hervorbrechen zu lassen. Die Gefahr einer antideutschen Wendung der russischen Außenpolitik blieb relativ begrenzt, solange sich die französische Politik der deutschen Hegemonie fügte, der außenpolitisch gelähmte Zarismus den Verzicht auf äußeren Prestigegewinn durch Repression nach innen kompensieren konnte und die Unterordnung unter die deutsche Hegemonie finanzielle Vorteile versprach. Aber gerade die Tatsache, daß die zaristische Regierung die Vorteile auszubeuten suchte, die ihr das Festhalten an der Drei-Kaiser-Politik noch bieten konnte, bildete auf deutscher Seite die Grundlage eines starken Mißtrauens gegenüber den langfristigen Absichten und Zielen der russischen Außenpolitik. Das Mißtrauen gründete sich vor allem auf die unverändert antideutsche Spitze der russischen Militärpolitik und auf den Verdacht, daß die zaristische Politik offenbar auf Zeitgewinn setzte, um nach Abschluß umfangreicher Militärreformen ihre Abhängigkeit von der deutschen Politik lösen zu können 17 . Trotz der erneut ausgebrochenen Balkankrise und des wiedererwachten f r a n zösischen Nationalismus bot die europäische Gesamtlage im Frühjahr 1886 keinen unmittelbaren Anlaß für Befürchtungen, daß das Reich sogleich in einen Zweifrontenkrieg verwickelt werden könnte. Inzwischen hatte jedoch die russische Militärreform ein Stadium erreicht, in dem die Problematik einer als unzureichend empfundenen militärischen Ausgangslage im Zweifrontenkrieg f ü r die militärische Führung eine zunehmend dringlichere Aktualität gewann. Die bloße Tatsache, daß der Ausbau der Defensivstellungen nach Westen inzwischen erhebliche Fortschritte gemacht hatte und Teile des umfangreichen Mili297

tärreformprogramms bereits verwirklicht worden waren, löste bei Waldersee Assoziationen an „Kriegsvorbereitungen" aus 19 . Auffällig war in diesem Zusammenhang auch die Abneigung, sich trotz der Anerkennung Bulgariens als russisches Einflußgebiet durch die deutsche Politik militärisch zu engagieren. „Bei den Russen ist das Gefühl vorhanden, daß wir sie dort künstlich engagieren wollen, und sie haben von ihrem Standpunkt aus wohl auch nicht ganz unrecht, etwas mißtrauisch zu sein", notierte Waldersee Ende Januar 18861®. Befürchtungen preußischer Militärs, daß sich angesichts der innenpolitischen Entwicklung in Frankreich einerseits und einer konsequent an der Steigerung der Kriegsbereitschaft nach Westen orientierten russischen Militärpolitik andererseits die militärischen Kräfteverhältnisse in Europa noch vor Ablauf des zweiten Septennats zu Ungunsten des Deutschen Reiches verschieben könnten, reichten im Frühjahr 1886 noch nicht aus, um Bismarck von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß sich die deutsche Militärpolitik gegenüber dieser Entwicklung nicht länger abwartend verhalten könne 20 . Im Bismarckschen Kalkül rechtfertigten weder die politische Gesamtlage noch die bestehende Verteilung der militärischen Kräfteverhältnisse in Europa eine derart einschneidende militärische Präventivmaßnahme wie die Steigerung der Friedenspräsenzstärke bereits zwei Jahre vor Ablauf des zweiten Septennats. Dagegen sprachen vor allem politische Gründe: Erstens die Möglichkeit, daß eine demonstrative Steigerung der deutschen Kriegsbereitschaft für den Zweifrontenkrieg den Auftakt für ein beschleunigtes Tempo im internationalen Rüstungswettlauf geben könnte. Solange die verdeckte deutsch-russische Rivalität auf der militärischen Ebene noch nicht in einen offenen Rüstungswettlauf umgeschlagen war, mußte die Überlegung vor allem im Hinblick auf die Haltung Rußlands im Falle eines deutsch-französischen Krieges besonderes Gewicht haben 21 . Zweitens hätten provokative militärische Maßnahmen den antideutschen Tendenzen in der zaristischen Regierung nur Auftrieb gegeben, während andererseits die russische Militärpolitik weiterhin starken finanziellen Restriktionen unterworfen blieb, die gerade jetzt durch indirekten Druck noch nachhaltig verstärkt werden können. Daher waren auch Gerüchte über beschleunigte russische Rüstungen für Schweinitz kein Anlaß zur Beunruhigung, da Rußland „finanziell" nicht rüstete, sondern sich gerade auf eine „große Konversionsoperation" einließ. Daß man fortfuhr, „die Westgrenze zu verstärken, indem man Befestigungen, Bahnen und Straßen baute", hatte demgegenüber „für den gegenwärtigen Augenblick keine Bedeutung" 22 . Drittens konnte nicht ausgeschlossen werden, daß die zaristische Regierung unter einem wachsenden inneren Druck ihr Mißtrauen gegenüber der deutschen Politik überwand und in einer militärischen Aktion auf dem Balkan einen Ausweg aus den inneren Schwierigkeiten suchen würde. Die Parallelen zur Situation am Vorabend des russisch-türkischen Krieges von 1877/78 waren unverkennbar, und nicht zuletzt diese Tatsache war geeignet, die Empfindlichkeit 298

preußischer Militärs über die wachsende militärische Präsenz Rußlands an der östlichen Grenze des Reiches zu besänftigen 23 . Dieses Mal ging allerdings das Kalkül, durch Diversionspolitik und indirekten finanziellen Druck die Verschiebung der militärischen Kräfteverhältnisse in Europa zugunsten der potentiellen Gegner des Reiches im Zweifrontenkrieg zumindest hinauszögern zu können, nicht auf. Während infolge der schlechten wirtschaftlichen Lage die allgemeine Unzufriedenheit zunahm und sich die Krise der Finanzwirtschaft verschärfte, zeigten der Zar und Innenminister Tolstoj zwar keine Neigung, die ausgiebige Beschäftigung der Öffentlichkeit und der Presse mit der Entwicklung auf dem Balkan zu unterdrücken 2 4 . Aber die Bereitschaft, nationalistische Ressentiments zu tolerieren, fand noch eine deutliche Grenze in der Entschlossenheit, der allgemeinen Unzufriedenheit ein Ventil zu geben, ohne sich dadurch in außenpolitischen Zugzwang bringen zu lassen25. Je länger aber der Zar der Versuchung widerstand, durch eine militärische Aktion auf dem Balkan der allgemeinen Unzufriedenheit zu begegnen, um so deutlicher trat der offiziös tolerierte Nationalismus in Widerspruch zur offiziellen Außenpolitik, die nach wie vor in der Drei-Kaiser-Politik eine Möglichkeit sah, auf diplomatischem Wege eine Verminderung des russischen Einflusses auf dem Balkan zu verhindern. Denn der innenpolitische Repressionsapparat wurde auch dann nicht eingesetzt, als die zunächst hauptsächlich durch Österreich provozierten Ressentiments eines frustrierten expansionistischen N a tionalismus sich zunehmend stärker gegen Deutschland richteten und schließlich in k a u m noch verhüllte Sympathien für Frankreich umschlugen 28 . Die Sympathien f ü r Frankreich nahmen in St. Petersburg vor allem bei den „höheren Ständen" seit dem Frühjahr 1886 spürbar zu. Schweinitz fiel nach seiner Rückkehr aus Berlin im Mai „die veränderte Sprache auf, welche von den russischen Zeitungen und von einigen Personen in bezug auf Frankreich geführt wurde". Einflußreiche Diplomaten, Politiker und Militärs, die sich bisher f ü r ein Engagement auf dem Balkan eingesetzt hatten, propagierten jetzt die „Vorteile einer französischen Allianz". Und daß der Führer der französischen Patriotenliga, Deroulède, im Sommer 1886 ungehindert eine in Rußland überall mit Sympathie aufgenommene Agitationsreise unternehmen und gleichzeitig der russische Militârattaché in Paris eine „fraternisierende" Rede an die f r a n zösische Armee halten konnte, erweckte bei Bismarck bereits den Eindruck, als ob Deutschland und Rußland in einem „feindlichen Verhältnis" zueinander ständen 27 . Die Sympathiekundgebungen des russischen Nationalismus f ü r Frankreich und ihre Tolerierung durch die zaristische Regierung ließ zunächst noch den Schluß zu, daß die einflußreichsten Vertreter der innenpolitischen Reaktion nationalistische Tendenzen zu tolerieren bereit waren, auch wenn sie im Widerspruch zur offiziellen Außenpolitik standen, die außenpolitische Absicht jedoch nicht darüber hinaus ging, einen indirekten Druck auf die deutsche Diplomatie f ü r eine nachdrücklichere Unterstützung der russischen Balkaninteressen auszuüben. Denn gerade in Kreisen der agrarischen Elite und beim Zaren war das Interesse an der Behauptung und Erweiterung des russischen Ein299

flusses auf dem Balkan ungebrochen, während andererseits ihre Vorbehalte gegen die französische Republik stark waren 28 . Entsprechend übte die deutsche Diplomatie einen Druck auf Österreich-Ungarn aus, sich den russischen Interessen in Bulgarien nicht in den Weg zu stellen und unterstützte es, als der Zar im Juli 1886 durch die Aufkündigung des Freihafenstatus von Batum „dem verletzten Nationalgefühl eine kleine Befriedigung" gewährte 29 . Dennoch verstärkte sich der Eindruck, daß mit obrigkeitlicher Duldung jenseits der offiziellen Diplomatie Schritt für Schritt das Terrain für eine grundsätzliche Umorientierung der russischen Außenpolitik vorbereitet wurde. In Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung und wachsenden Sympathien für Frankreich in der Armee, in der St. Petersburger Gesellschaft und in Kreisen der Diplomatie vollzog die „panslawistische" Moskauer Presse, die sich seit dem Ausbruch der Bulgarienkrise für ein aktives Engagement auf dem Balkan eingesetzt hatte, eine Schwenkung, indem sie das Drei-Kaiser-Bündnis attackierte und sich für eine russisch-französische Annäherung einsetzte 30 . In dieser Wendung schlug sich freilich nicht nur die Frustration eines durch die offizielle russische Politik blockierten expansionistischen Nationalismus nieder. Denn zu dem Zeitpunkt, an dem sich die finanzielle Abhängigkeit von Deutschland wieder empfindlich bemerkbar machte und die Finanzverwaltung unter deutschem Druck vor Maßnahmen gegen den deutschen Industrieexport zurückschreckte 31 , setzte sich die Moskauer Presse und ihr leitender Redakteur Katkov an die Spitze einer agitatorischen Bewegung, die die bisher noch weitgehend verdrängten antideutschen Ressentiments des russischen Nationalismus mobilisierte. D a ß Katkov dabei einen zunehmend größeren innenpolitischen Einfluß gewann, der weit über den eines Interessenvertreters der zentralrussischen Industrie und ihrer schutzzöllnerischen Ambitionen hinausging, kann als Indiz für die Leichtigkeit gelten, mit der das Deutsche Reich von einer offiziell geduldeten Agitation in die Rolle des eigentlichen und gefährlichsten Gegners Rußlands gedrängt werden konnte. Auch wenn man unterstellt, daß der Zar und die Großgrundbesitzer für nationalistische Ressentiments keineswegs unempfänglich waren, so bildete doch ihre Furcht, der Einfluß antideutscher Tendenzen auf die offizielle Außenpolitik und ein massiver Verstoß gegen die deutschen Wirtschaftsinteressen könne gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt erhebliche außenpolitische, wirtschaftliche und finanzielle Risiken nach sich ziehen, eine starke Barriere gegen eine antideutsche Wendung der russischen Außen- und Wirtschaftspolitik. Genau auf diese Vorbehalte war die Agitation Katkovs berechnet, wenn er die Vorteile einer konsequent „nationalen" Wirtschaftspolitik propagierte, gegen die finanzielle Bevormundung durch Deutschland agitierte und schließlich auf die Vorteile einer Außenpolitik der „freien H a n d " hinwies, die - ohne sich in eine offene Frontstellung gegenüber den Zweibundmächten zu begeben - sich in finanzieller und politischer Hinsicht das antideutsche Gewicht Frankreichs zunutze machte 32 . H ä t t e sich die deutsche Politik nicht zum Garanten der territorialen Integrität Österreich-Ungarns aufgeworfen, dann hätte der Zar vermutlich die Chan300

ce f ü r eine Diversion nach außen mit kalkulierbaren militärischen und politischen Risiken wahrgenommen 33 . So aber stand er vor der Alternative, sich in ein riskantes militärisches Abenteuer auf dem Balkan zu stürzen oder auf die Gefahr hin, die Autokratie einer unaufhaltsamen Auszehrung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen auszusetzen, sich der deutschen Hegemonie in der europäischen Politik zu fügen. Angesichts dieser Alternative zeigte Alexander III. eine wachsende Anfälligkeit f ü r die Vorstellungen Katkovs. Wenn die russische Außenpolitik auch noch offiziell am Dreikaiserbündnis festhielt und der Zar aus der Abneigung gegen die französische Republik keinen Hehl machte, so widersprach das keineswegs dagegen. Die Entschlossenheit, sich durch die Entwicklung in Bulgarien nicht in einen Krieg auf dem Balkan hineinziehen zu lassen, galt erst recht in bezug auf Frankreich. Die offizielle Distanz zur f r a n zösischen Republik war ein wirksames Mittel, um auf deutscher Seite kein Mißtrauen zu erwecken und - solange das militärische Übergewicht Deutschlands fortbestand bzw. die französischen und russischen Militärreformen nicht abgeschlossen waren - französische Hoffnungen auf eine russische Allianz und damit die Gefahr eines Kriegsausbruchs im Westen zu dämpfen 3 4 . Das Schloß nicht aus, daß der Zar den Ambitionen Katkovs, in wirtschaftlicher, finanzieller und politischer Hinsicht positive Voraussetzungen für eine Umorientierung der russischen Außenpolitik zu schaffen, nachgab oder sie zumindest tolerierte: Im Frühjahr 1886 wurde der als Interessenvertreter der zentralrussischen Industrie bekannte Vysnegradskij mit Unterstützung Katkovs „überraschend" zum Mitglied des Reichsrates ernannt 3 5 . Seit dem Sommer kursierten in diplomatischen Kreisen Gerüchte über Kontakte zwischen dem Chef des russischen Generalstabes, Obrucev, und der französischen Militärführung sowie über „finanzielle Anbandelungen" russischer Bankiers in Frankreich. H i n z u kamen Meldungen über russisch-französische Verständigungsversuche in bezug auf die Entwicklung im Vorderen Orient. Im Oktober stimmte der Zar mit auffallender Schnelligkeit der Entsendung des neuen Botschafters nach St. Petersburg und der Rückkehr Mohrenheims auf seinen Pariser Posten zu, und schließlich konnte im Herbst 1886 kaum noch ein Zweifel darüber bestehen, daß Finanzminister Bunge und Außenminister Giers, die in den vergangenen Jahren die wichtigsten Exponenten der Verständigungspolitik gegenüber dem Deutschen Reich gewesen waren, über keinen nennenswerten innenpolitischen Rückhalt mehr verfügten, während die „Hintertreppe", d. h. Innenminister Tolstoj, der Oberprokurator des Synod, Pobedonoscev, und vor allem Katkov und seine „nationale" Presse auch in außenpolitischen Fragen den entscheidenden Einfluß auf den Zaren ausübten 38 . Selbst wenn man davon ausgeht, daß die russische Außenpolitik schon aus Rücksicht auf die möglichen außenpolitischen, wirtschaftlichen und finanziellen Konsequenzen keinen offen antideutschen Kurs einschlagen konnte, so machten doch die heimlichen russisch-französischen Kontakte und die Schärfe der Auseinandersetzungen über die grundsätzliche Richtung der russischen Wirtschafts- und Außenpolitik die labile Basis deutlich, von der aus die Bis301

marcksche Rußlandpolitik im Herbst 1886 operierte. In einer Atmosphäre gegenseitigen Mißtrauens schien es nur noch eine Frage des günstigen Zeitpunktes zu sein, wann der Zar auch offiziell die Abkehr von der Verständigungspolitik mit dem Deutschen Reich zu vollziehen bereit war 3 7 . D a ß der Zar die Massenausweisungen von Juden und Polen aus den preußischen Ostprovinzen „sehr übel" nahm und davon auch trotz intensiver Bemühungen der deutschen Diplomatie nicht mehr abgebracht werden konnte, war symptomatisch dafür, daß die Tradition preußisch-russischer „ F r e u n d s c h a f t " durch gegenseitiges Mißtrauen abgelöst worden war 3 8 . Wie Bleichröder nach einem Besuch in Varzin berichtete, hatte Bismarck jetzt „kein Vertrauen mehr zu der Dauerhaftigkeit unserer Beziehungen zu Rußland" 3 9 . Auf die leisesten Anzeichen einer russisch-französischen Annäherung reagierte er geradezu allergisch. So kommentierte er ζ. B. die Nachricht, daß der Zar nach dem Fiasko der russischen Bulgarienpolitik die französische Diplomatie mit der Vertretung in S o f i a beauftragte und damit der deutschen Diplomatie eine unangenehme A u f g a b e ersparte: „aber ein signum temporis ist es doch." 4 0 Als aber durch die umfangreichen Militärreformprojekte Boulangers nicht nur die militärische Überlegenheit, sondern auch die hegemoniale Rolle des Deutschen Reiches in der europäischen Politik in Frage gestellt wurde, konnte über die russische H a l t u n g kaum ein Zweifel bestehen. Die inoffiziellen russisch-französischen K o n t a k t e ließen sich als eine versteckte Warnung an die deutsche Adresse interpretieren, die französischen Militärreformpläne nicht als V o r w a n d für eine neue Krieg-in-Sicht-Krise zu benutzen. Wie immer die deutsche Politik auf die Versuche Frankreichs, die militärischen Kräfteverhältnisse in Westeuropa zu verschieben, reagieren würde: Sie mußte fortab damit rechnen, daß das russische Interesse an einer Stärkung des antideutschen Gewichtes Frankreichs in der europäischen Politik größer war als die Vorbehalte gegen die französische Republik. Unter dieser Voraussetzung ließ sich ein Präventivkrieg „nicht so leicht machen", wenn er auch nach Meinung Herbert von Bismarcks „ g a n z schön" gewesen wäre, um noch im letzten Moment die französischen Militärreformen zu verhindern 4 1 . D a s Dilemma der deutschen Außenpolitik war offenkundig: Sie schien weder fähig zu sein, die drohende Verschiebung der militärischen Kräfteverhältnisse mit diplomatischen Mitteln aufzuhalten, noch hatte sie die Gefahr bannen können, daß der nächste deutsch-französische Krieg der Zweifrontenkrieg sein würde, den selbst präventivkriegsfreudige Militärs angesichts der als unzureichend empfundenen Kriegsbereitschaft im Fall eines Krieges mit Rußland nicht riskieren wollten 4 2 .

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6.3 Die Bismarcksche Alternative: Innenpolitische Reaktion und Außenpolitik der Sanktionen

6.3.1 Der Ausbau des deutschen

Militärstaates

Die Tatsache, daß die deutsche Politik die zunehmende Bedrohung ihrer Hegemonie durch die beiden Flügelmächte Rußland und Frankreich nicht hatte verhindern können, und die Aussicht, ihren außenpolitischen Handlungsspielraum schließlich ganz zu verlieren, falls Rußland und Frankreich ihre Militärreformen ungestört fortsetzten, ließen Bismarck im Herbst 1886 keine Wahl mehr, als dem Drängen der militärischen Führung nach einer drastischen Steigerung der deutschen Kriegsbereitschaft für den Zweifrontenkrieg nachzugeben. Unabweislich waren die militärischen Forderungen, um so mehr, als sich jetzt herausstellte, daß Österreich-Ungarn, dem in der ersten Phase eines Zweifrontenkrieges eine offensive Rolle auf dem östlichen Kriegsschauplatz zugedacht war, die Stärkung seines Militärpotentials „mit sträflichem Leichtsinn vernachlässigt" hatte1. Um eine noch weitere Verschiebung der militärischen Kräfteverhältnisse zu Ungunsten der Zweibundmächte zu verhindern, erkannte Bismarck jetzt die „Notwendigkeit" an, „die Organisation und Stärke des deutschen Heeres der veränderten Situation anzupassen und Abhilfemaßnahmen sobald als möglich eintreten zu lassen"2. Bereits am 25. November 1886 - mehr als ein Jahr vor Ablauf des zweiten Septennats - wurde im Reichstag eine Militärvorlage eingebracht, die eine Erhöhung der Friedenspräsenzstärke um ca. 42 000 Mann - das zweite Septennat hatte sich noch mit einer Steigerung um 26 000 Mann begnügt - vorsah3. Die zu erwartenden innenpolitischen Widerstände und die finanziellen Konsequenzen einer derart drastischen Steigerung der deutschen Militärmacht änderten nichts an der Entschlossenheit Bismarcks, die Vorlage notfalls durch eine innenpolitische „Operation" durchzusetzen. Als die Reichstagsmehrheit keineswegs unerwartet die Vorlage nach der ersten Lesung am 4. Dezember ablehnte, steuerte er gegen den Reichstag einen offenen Kollisionskurs4. Die Auflösung des Reichstages am 14. Januar 1887, das Ergebnis der durch eine systematische Verschärfung der deutschfranzösischen Spannungen massiv zugunsten des Wahlkartells aus Nationalliberalen und den konservativen Parteien beeinflußten Neuwahlen5 und schließlich die reibungslose Verabschiedung des dritten Septennats durch den neuen Reichstag waren persönliche Erfolge Bismarckscher Politik, die nach anfänglicher Skepsis auch den Beifall der Militärs fanden6. Fraglich blieb aber, ob dieser innenpolitische Erfolg auch geeignet war, die deutsche Hegemonie in der europäischen Politik zu sichern oder ob er nicht erst recht den potentiellen Gegnern des Reiches „Anlaß zu neuen Rüstungen" geben und die Herausbildung einer europäischen Konstellation beschleunigen würde, in der sich die anderen europäischen Staaten in der Abwehr aggressiver Tendenzen des mitteleuropäischen Militärblocks zusammenfanden7. Zunächst 303

freilich schien diese Gefahr nicht akut zu werden. Die französische und die russische Diplomatie reagierten vor allem auf die Rede, mit der Moltke am 3. Dezember die Militärvorlage verteidigte, mit „Friedensmelodien". Der Z a r strömte von „freundschaftlichen Versicherungen" über, und selbst die europäischen Börsen sahen „die Verhältnisse in der Welt sehr friedlich an" 8 . Mehr noch: In Frankreich, wo ohnehin eine „notorische" Furcht herrschte, von Deutschland überfallen zu werden, machte die Militärvorlage einen so nachhaltigen Eindruck, daß die Militärreformprojekte Boulangers, von denen eine weitere Verschärfung der deutsch-französischen Spannungen befürchtet wurde, auf wachsenden Widerstand stießen 9 . Auf der anderen Seite provozierte die Militärvorlage zwar in der „nationalen Presse" Rußlands („Moskovskie Vedomosti", „ N o v o e V r e m j a " , „ N o v o s t i " ) eine empfindliche Reaktion und der deutsche Militärbevollmächtigte versuchte vergeblich, die Verstimmung in der St. Petersburger Gesellschaft über die Reden Moltkes mit dem Hinweis zu überspielen, daß doch „die Spitze der Militärvorlage allein gegen Frankreich" gerichtet und die Erwähnung Rußlands „nur nebensächlich geschehen" sei. Aber einen weit stärkeren Eindruck machte die provokative Rede des österreichischen Außenministers K à l n o k y vom 13. November 1886, in der drohend österreichische Gegenmaßnahmen für den Fall angedroht wurden, daß Rußland die Regierung Bulgariens übernehmen oder das L a n d besetzen werde 1 0 . D i e antideutschen Ressentiments des russischen Nationalismus wurden noch v o m H a ß gegen Österreich-Ungarn überlagert, und Mitte Dezember erschien sogar ein amtliches Kommunique, das die Presse und die Öffentlichkeit zur Mäßigung gegenüber Deutschland aufrief 1 1 . Die erste Reaktion der offiziellen französischen und russischen Diplomatie auf den Ausbau des deutschen Militärstaates wurde offenbar von der gemeinsamen Absicht bestimmt, alles zu vermeiden, was die Durchsetzungschancen der Militärvorlage im Reichstag hätte erleichtern können. D a m i t erregten sie freilich erst recht das deutsche Mißtrauen, zumal während der Auseinandersetzungen über die Militärvorlage prompt neue Gerüchte über russisch-französische Kontakte, ja sogar Allianzabsichten auftauchten. D i e Entschiedenheit, mit der Giers als offizieller Leiter der russischen Außenpolitik diese Gerüchte dementierte, wirkten geradezu wie eine Bestätigung dafür, daß die „beiden Verschwörer - Frankreich und Rußland - ein gleich schlechtes Gewissen" hatten und „hinter dem Rücken von Giers in Paris gegen Deutschland konspirierten" 1 2 . Angesichts des am Jahresende 1886 noch embryonalen Zustandes, in dem sich die französisch-russische Annäherung befand, bildeten die von der französischen Diplomatie geschickt ventilierten Gerüchte über Allianzprojekte nur den A u f t a k t für eine diplomatische Offensive mit dem Ziel, die für Frankreich als „noch ziemlich unsicher" empfundene L a g e in der europäischen Politik zu klären und in Petersburg die Möglichkeiten für eine russisch-französische Annäherung zu sondieren 1 3 . Die Erfolgschancen der französischen Diplomatie wuchsen dabei in dem Maße, in dem Bismarck systematisch die Verschärfung der deutsch-französischen Spannungen provozierte, um die Aufstok304

kung des deutschen Militärpotentials gegen innere Widerstände durchzusetzen. In diesem „kritischen Moment" waren nach dem Eindruck des preußischen Militârattachés Villaume die Sympathien der St. Petersburger Gesellschaft von Anfang an „entschieden auf Seiten Frankreichs", während „Deutschland allein" für die gespannten Beziehungen mit Frankreich verantwortlich gemacht wurde. Es blieb völlig wirkungslos, wenn Villaume sein „möglichstes" tat, um bei jeder sich bietenden Gelegenheit „die Russen über die wahre Sachlage in Frankreich aufzuklären". Man wollte sich nicht davon überzeugen lassen, daß Frankreich den Krieg wolle und die deutschen „Sicherheitsmaßregeln" wurden „falsch ausgelegt und übertrieben". Daß der neue französische Botschafter alles tat, um „die Russen in diesen Anschauungen zu bestärken", verstand sich von selber14. Die Bismarckschen Septennatsreden vom 11./12. und 13. Januar 1887, die an der Fiktion der unveränderten deutsch-russischen Freundschaft festhielten, verstärkten das allgemeine Mißtrauen und die Animosität. „Der Deutschenhaß in der Presse und im Publikum ist womöglich noch heftiger" als vorher, stellte Schweinitz nach den Septennatsreden des Kanzlers fest1®. In Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung bemühten sich einflußreiche Gruppen, den Zaren zu beeinflussen. „Von vielen Seiten stürmt man auf den Kaiser ein" und sucht ihn zu überzeugen, „daß Österreich gegen Rußland rüste und daß Deutschland den Krieg mit Frankreich erzwingen wolle", berichtete Schweinitz im Februar. Der nachhaltigste Druck auf den Zaren ging von der militärischen Führungsspitze aus, bei der die „Aufregung" über die Bedrohung Frankreichs eine besonders „intensive" war. Selbst bisher deutschfreundliche Generale drückten Schweinitz gegenüber ihr unbehagliches Gefühl darüber aus, daß Rußland schon in naher Zukunft in einen „großen Krieg" verwickelt werden könne. Prompt fühlte sich Kriegsminister Vannovski gezwungen, „Anträge zu stellen und seine Verantwortung als Kriegsminister zu wahren" 1 ". Von Paris aus bearbeitete der russische Botschafter Mohrenheim den Zaren, indem er die Gefahr eines deutsch-französischen Krieges beschwor, nachträglich die Zweckmäßigkeit der Neutralität Rußlands in den Jahren 1866 und 1870/71 bestritt und vor einer Wiederholung dieses Fehlers warnte. Dabei war sich Mohrenheim ziemlich sicher, daß derartige Depeschen „einen tiefen Eindruck auf das Gemüt des Zaren" machten 17 . Darauf deutet auch die Reaktion einflußreicher Vertreter des Großgrundbesitzes auf die provokative deutsche Frankreichpolitik hin. Nach Ansicht eines mit Schweinitz befreundeten Gutsbesitzers hatte Rußland in der Vergangenheit schon zu „viele Demütigungen durch die Überlegenheit der deutschen Staatsleitung erlitten" und jetzt müsse Deutschland dafür zahlen, was es 1866 und 1871 mit russischer Duldung gewonnen habe. Als geradezu schockierend empfand Schweinitz, wie Fürst Mescerskij, ein „an Allerhöchster Stelle" gut angesehener Vertreter des stockkonservativen Großgrundbesitzes, auf die Bismarckschen Septennatsreden reagierte. Hatte Mescerskij noch die preußischen Siege über Österreich und Frankreich wohlwollend begrüßt, so erklärte er jetzt in dem von ihm redigierten „Grazdanin" mit einer „Dreistigkeit, welche selbst die Sprache der ,Novoe Vremja* und der ,Novosti' 20

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hinter sich ließ", daß er nicht im geringsten an die deutsche „Friedensliebe" glaube, „wo in Deutschland alle Werkstätten und Fabriken Tag und N a c h t f ü r die Ausrüstung des Heeres arbeiteten, und wo jedem deutschen Soldaten ins Ohr geflüstert werde, daß er sich zum K a m p f e gegen Rußland vorzubereiten habe". Im übrigen seien die Berechnungen Bismarcks doch sehr einfach: „Rüste dich selbst, suche Rußland aber durch gute Worte einzuwiegen und von Rüstungen abzuhalten." 1 8 D a ß die von Bismarck erzeugte Kriegspsychose ein probates Mittel darstellte, um den Zaren von def Notwendigkeit einer russisch-französischen Annäherung zu überzeugen, machte sich auch Katkov zunutze. In Petersburg richtete er sich eine Kanzlei ein, deren Aufgabe u. a. in der Sammlung von Auszügen aus deutschen Zeitungen bestand, „um die dem Kaiser Alexander und Rußland feindlichen Artikel Seiner Majestät vorlegen und mit Betrachtungen begleiten zu können". Nachhaltigen Eindruck auf den Zaren machte Katkov mit seinen Memoranden, in denen er eine neue Konzeption russischer Außenpolitik entwickelte, die sehr schnell populär wurde. In der Argumentation eines befreundeten Gutsbesitzers glaubte Schweinitz diese außenpolitische Konzeption bereits wiederzuerkennen: „Vermeidung der vom hochseligen Kaiser begangenen Fehler, Annäherung an Frankreich, um Deutschland in Schach zu halten und bestimmter Wille, die Meerengen in Besitz zu nehmen; aber erst in drei oder vier Jahren." 1 9 Je länger die deutsch-französischen Spannungen andauerten, um so deutlicher trat die Bereitschaft des Zaren hervor, auf Drängen seiner Umgebung die Vorbehalte gegen eine russisch-französische Annäherung zurückzustellen. In richtiger Einschätzung der in St. Petersburg herrschenden Stimmung nutzte die französische Diplomatie unter Außenminister Flourens die Chance, um zielstrebig und in enger Zusammenarbeit mit dem russischen Botschafter in Paris Mohrenheim die russisch-französische Annäherung voranzutreiben. Diplomatisch geschickt lieferte Flourens im Januar dem Zaren einen Beweis „wahrer Freundschaft", indem er eine bulgarische Delegation demonstrativ auf die N o t wendigkeit hinwies, sich mit dem Zaren zu verständigen 20 . Auf dem so vorbereiteten Terrain unternahm Flourens Ende Januar den entscheidenden Vorstoß, als er sich unter Hinweis auf die von Deutschland ausgehende Bedrohung bei Mohrenheim über die russische Haltung für den Fall erkundigte, daß Deutschland gegen die von Boulanger angeordneten Barackenbauten und sonstigen militärischen Maßnahmen Einwände erheben sollte 21 . Die prompte Reaktion des Zaren auf die französische Anfrage ließ keinen Zweifel daran, daß er Frankreich zur Durchführung der beabsichtigten Militärreformen politische Rückendeckung zu geben bereit war. Durch den Berliner Botschafter Suvalov ließ er erklären, daß Frankreich „als ein unabhängiges Land das Recht habe, innerhalb seines Gebietes zu tun, was ihm beliebe und daß Deutschland unter den obwaltenden Umständen keinen Grund habe, mit der französischen Regierung Händel zu suchen" 22 . Die russische Diplomatie ging sogar noch weiter. Zwar riet Giers dem französischen Botschafter noch Anfang Februar, „die Legenden 306

von 1875 nicht wieder aufzufrischen", aber am 19. Februar erschien im „ N o r d " , dem offiziellen O r g a n des Außenministeriums, ein Artikel, der den russischen Anspruch anmeldete, bei der Schlichtung der deutsch-französischen Spannungen die Schiedsrichterrolle zu übernehmen. D a s Signal wurde in Berlin verstanden, auch wenn Giers seine persönliche Beteiligung an diesem Artikel bestritt 2 3 . Angesichts der nicht mehr mißzuverstehenden Rückendeckung durch die offizielle russische Diplomatie nutzten Flourens und Mohrenheim die Gunst der Stunden für einen neuen diplomatischen Vorstoß mit dem Ziel, die Möglichkeiten eines russisch-französischen Verteidigungsbündnisses zu sondieren. N o c h bevor Ende Februar 1887 der Sonderbotschafter G r a f de Vogüe seine Reise nach St. Petersburg antrat, um dort persönlich das Projekt einer russisch-französischen Verteidigungsallianz zu sondieren, ließ Giers zwar durchblicken, daß diese Reise zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwecklos sei. Dennoch wußte der Z a r „die guten Absichten der französischen Regierung sehr wohl zu würdigen" und bekräftigte seine Absicht, auch weiterhin mit Frankreich Beziehungen „enger Freundschaft" zu unterhalten 2 4 . Wenn damit auch der französische Allianzvorstoß zurückgewiesen war, so konnte die französische Diplomatie mit der Gewißheit, daß der prinzipielle Widerstand des Zaren gegen ein Bündnis mit der französischen Republik gebrochen war, doch einen bemerkenswerten E r f o l g verzeichnen. Obwohl die offizielle russische Diplomatie weiterhin eine demonstrative Parteinahme zugunsten Frankreichs vermied, bekam die politische und militärische Führung des Reiches indirekt die Erfolge der französischen Diplomatie zu spüren. A n f a n g Februar 1887 häuften sich in Berlin Berichte über „russische Versuche, sich den Franzosen zu nähern", und selbst Schweinitz zweifelt jetzt nicht mehr am „Bestehen russischer Annäherungsversuche und Intrigen in P a r i s " . Für Waldersee waren „feste Vereinbarungen Boulangers mit hochgestellten Russen wie Obrucev und „ K o n s o r t e n " bereits eine ausgemachte Tatsache 2 5 . Aus deutscher Perspektive nicht minder alarmierend war die Beobachtung, daß die Franzosen in der Gewißheit, „ R u ß l a n d hinter sich zu haben", sich gegenüber den deutschen Drohungen „auf Abwehr und auch auf Gegenmaßregeln" einrichteten. Z w a r wurde die französische Militärpolitik weiterhin von Furchtgefühlen und defensiven Absichten bestimmt, aber der anhaltende deutsche Druck und die Gewißheit, daß Rußland den französischen Großmachtanspruch deckte, waren für Boulanger geradezu ideale Voraussetzungen, um seine Militärreformprojekte in beschleunigtem T e m p o voranzutreiben 2 6 . D a m i t drohte Bismarck der Gefangene seiner eigenen Politik zu werden. Denn die französische Entschlossenheit, dem deutschen Druck nicht nachzugeben, sondern ihn mit verstärkten Rüstungsanstrengungen zu beantworten, provozierte die Möglichkeit, „ d a ß der Krieg voraussichtlich zum Ausbruch kommen würde durch gegenseitiges Wettrüsten" 2 7 . Diesen Kreislauf durch den Verzicht auf weitere Provokationen zu durchbrechen, war der Bismarckschen Politik schon weitgehend entzogen und hing dagegen eher - wie Waldersee richtig erkannte - von der Bereitschaft der Franzosen ab, „ o b sie sich Boulangers entledigen oder nicht" 2 8 . Während 20·

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Bismarck die Ungewißheit über die Folgen seiner Politik inzwischen „sehr zugreifen" anfing, stellte sich Waldersee im Februar bereits darauf ein, Boulanger mit russischer Unterstützung „weiter wirtschaften" konnte „trotz aller Bemühungen des Kanzlers" der Kriegsausbruch schon im April vermeidlich sei29.

andaß und un-

6.3.2 Restriktive Bedingungen einer Transformation der europäischen Konstellation: Die russische Außenpolitik zwischen Dreikaiserbündnis und Riickversicherungsvertrag unter dem Primat der Innenpolitik Um die drastische Steigerung des deutschen Militärpotentials gegen innenpolitische Widerstände durchzusetzen, hatte Bismarck eine europäische Spannungssituation provoziert, die von einer geschickt operierenden französischen Diplomatie genutzt werden konnte, um den Prozeß der russisch-französischen Annäherung ein gutes Stück voranzutreiben. Angesichts der weiter andauernden deutsch-französischen Spannungen, offenbar nicht mehr zu überbrückender Gegensätze und eines gegenseitigen Mißtrauens zwischen den Dreikaisermächten, eines von antideutschen Ressentiments beherrschten innenpolitischen Klimas in Rußland und einer mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten und innenpolitischen Spannungen zunehmenden Bereitschaft, in der Wirtschafts- und Außenpolitik den Bruch mit den Traditionen preußisch-russischer Freundschaft zu vollziehen, waren für Frankreich die Aussichten, mit Hilfe Rußlands seine Isolierung in der europäischen Politik endlich zu durchbrechen, seit 1875 noch nie so günstig wie in der ersten Jahreshälfte 1887. Seit dem Jahresende 1886 verloren die Befürworter einer Außen- und Wirtschaftspolitik des Ausgleichs mit dem Deutschen Reich nicht nur zusehends an Einfluß, sondern sie wurden auch zu den bevorzugten Opfern eines von nationalistischen Ressentiments beherrschten innenpolitischen Klimas, in dem sich die Frustration einer jahrelang nur widerwillig ertragenen Abhängigkeit von einem militärisch, wirtschaftlich und politisch überlegenen Nachbarn und die „aufs höchste" gestiegene „Unzufriedenheit aller Klassen" Luft machte 1 . Es war symptomatisch für das deutschfeindliche Klima, daß Minister und selbst Mitglieder des Zarenhofes öffentlich als Agenten der deutschen Interessen und als Verräter diffamiert werden konnten, während sich die innenpolitische Stellung der Gegner einer deutsch-russischen Verständigungspolitik festigte. So stempelte ζ. B. eine am Zarenhofe kursierende Broschüre Peter Suvalov zu einem Verräter, dessen Name „jedem Russen die Schamröte ins Gesicht" treiben müsse, und der ebenfalls als deutschfreundlich bekannte Fürst Dolgoruki wurde beschuldigt, „kein russischer Patriot zu sein, als Soldat seine Pflicht nicht getan zu haben, die russische Volksseele zu verachten und von Berlin Geld zu erhalten". Dagegen verstummten im Dezember 1886 die Gerüchte über eine mögliche Ablösung des „antideutschen" Kriegsministers Vannovskij 2 . Die aus308

gesprochene Animosität des russischen Nationalismus gegenüber dem Deutschen Reich bestimmte freilich nicht nur das Klima in der Öffentlichkeit, sondern sie beherrschte auch die Stimmung der agrarisch-industriellen Führungsgruppen und setzte sich sogar auf dem Lande durch. Unübersehbar war die „große Aufregung" unter den Gutsbesitzern und den Bauern, die ihr Getreide nicht verkaufen konnten und die Schuld für die Stockungen im Getreideexport auf die deutschen Getreidezölle schoben. Auf diesem Boden fand die Agitation günstige Resonanz, mit der die industriellen Schutzzöllner seit der Jahresmitte 1886 die agrarischen Vorbehalte gegen eine „nationale" Wirtschaftspolitik selbst auf die Gefahr eines deutsch-russischen Wirtschaftskrieges hin abzubauen versuchten. Schweinitz glaubte bereits Anzeichen dafür zu erkennen, „daß diese Kornzollfrage, welche den Hofadel ebenso wie das Landvolk berührte, zum Anfeinden Deutschlands benutzt wurde", und auch Bülow vermutete, daß „die Leiter der panslawistisch-revolutionären Bewegung . . . mit ihren antideutschen Tendenzen . . . nunmehr an die Verführung des Muschiks gehen" wollten 3 . Angesichts der auffallenden Parallelität zwischen der sich verschärfenden wirtschaftlichen und innenpolitischen Krisenlage einerseits und dem Aufstieg eines ungezügelten russischen Nationalismus, der die liberalen Kritiker der Autokratie, große Teile der Armee und die agrarisch-industriellen Stützen der innenpolitischen Reaktion in der gemeinsamen Gegnerschaft zum Deutschen Reich ideologisch einte, erschien es nur als eine Frage der Zeit, wannn sich die antideutschen Tendenzen auch in der Außen- und Wirtschaftspolitik durchsetzen würden. Selbst wenn man die Entschlossenheit des Zaren unterstellt, notfalls durch verstärkte Repression seine Entscheidungsfreiheit nach innen und außen zu verteidigen, so deutete doch seit dem Jahresende 1886 vieles darauf hin, daß der Zar nicht minder als die nationalistische Öffentlichkeit für antideutsche Ressentiments anfällig war, ja sogar nicht mehr umhin konnte, der allgemeinen Deutschfeindlichkeit schrittweise Konzessionen zu machen. 1. Seit November/Dezember 1886 zeigte Alexander I I I . ähnlich antideutsche Reaktionen wie die nationalistische Öffentlichkeit. Für eine monarchische „Gefühlspolitik" war er nach dem Eindruck von Schweinitz nicht mehr zugänglich. Er machte für alle innen- und außenpolitischen Mißerfolge die „Diabolik" seiner Feinde verantwortlich, und zog sich von seinen Ministern, Beratern und seiner engsten Umgebung zurück. Selbst deutschfreundlich gesinnte Großfürstinnen klagten darüber, „leider nicht so für die gute Aufrechterhaltung der guten Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland wirken" zu können und gaben ζ. B. dem deutschen Militärattache unmißverständlich zu verstehen, daß er „unter jetzigen Verhältnissen nur schwer in Beziehungen zum Kaiser treten könne". Die psychischen Barrieren, die seinen Vorgänger noch gegen eine antideutsche Politik immunisiert hatten, schienen bei Alexander I I I . inzwischen abgebaut zu sein4. 2. Auch wenn Alexander aus Gründen der „äußeren Politik" noch davor zurückscheute, den Bruch mit dem Deutschen Reich zu vollziehen, so sah er sich doch mit der Tatsache konfrontiert, daß „scheinbarer Deutschenhaß" inzwi-

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sehen „notwendig für seine Popularität und Sicherheit im Innern" war. Mochte auch die Fürstin Kocubej in Berlin mit ihrer Ansicht Beifall finden, „ d a ß die Unzufriedenheit der russischen Gesellschaft und selbst die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht viel zu bedeuten haben würden, wenn nur der Kaiser endlich den Journalen und Demagogen den M u n d stopfen wollte", so dachte Alexander I I I . jedenfalls nicht daran, die antideutschen Ausfälle des russischen Nationalismus zu unterdrücken, sei es aus Furcht, sei es, weil er glaubte, der allgemeinen Unzufriedenheit ein Ventil geben zu müssen, damit sie sich nicht gegen die Autokratie richtete 5 . Durch das „dilatorische Verhalten" gegenüber dem erstarkenden Nationalismus wurde freilich sehr schnell der Punkt erreicht, an dem der Zar es nicht mehr wagen konnte, sich den antideutschen Tendenzen des russischen Nationalismus entgegenzustellen. N a c h Ansicht von Schweinitz hatte der Z a r schon Ende Februar in dieser Beziehung die innenpolitische Kontrolle verloren®. Auch bei einer weniger skeptischen Beurteilung waren sich dennoch alle Beobachter darüber einig, daß zumindest im Falle eines europäischen Konfliktes der Zar sich schon jetzt nicht lange dem innenpolitischen Druck würde entziehen können. Aus den in der Öffentlichkeit und in Regierungskreisen intensiv geführten Diskussionen über die Möglichkeit eines deutsch-französischen Krieges zog der deutsche Militârattaché im Februar 1887 das Fazit, daß „auf eine uns wohlwollende H a l t u n g Rußlands für die ganze Dauer eines deutsch-französischen Krieges nicht mehr mit der gleichen Sicherheit wie f r ü h e r " gerechnet werden könne. N a c h dem Eindruck des deutschen Geschäftsträgers war „die Stimmung eine so verbitterte und aufgeregte, daß . . . die Russen mobil machen dürften, sobald wir mit den Franzosen handgemein werden". D i e Vermutungen Villaumes und Bülows gingen dahin, daß sich der Zar vermutlich in der ersten Phase des Krieges zurückzuhalten versuche, im Falle eines deutschen Sieges dem Drängen der „ K r i e g s p a r t e i " aber kaum lange widerstehen könne, während im Falle einer deutschen Niederlage die russischen Armeen vermutlich „con amore und in vollem Vertrauen auf E r f o l g über Österreich herfallen" würden 7 . 3. Sowohl das Verhalten des Zaren als auch die D o m i n a n z deutschfeindlicher Tendenzen in der Innenpolitik lassen Zweifel daran aufkommen, ob der innenpolitische Entscheidungsprozeß durch die deutsche Rußlandpolitik noch positiv beeinflußt werden konnte. Für die Fortführung der Dreikaiserpolitik fehlten am Jahresende 1886 nach Ansicht von Schweinitz alle Voraussetzungen 8 . Angesichts der deutschfeindlichen Stimmung war es geradezu naiv, wenn Giers noch im J a n u a r 1887 als Gegenleistung für die rückhaltlose Anerkennung des russischen Einflusses in Bulgarien durch die Zweibundmächte die Zustimmung des Zaren für eine Verlängerung des Dreikaiserbündnisses zu erreichen hoffte 9 . Von A n f a n g an zweifelhaft waren freilich auch die Erfolgschancen des Versuchs, die russische Außenpolitik noch nach Ablauf des Dreikaiserbündnisses an Deutschland zu binden, indem dem Zaren neben den großen Risiken einer auch nur verdeckten Frontstellung gegen die stärkste Militärmacht in Europa die Vorteile einer Verständigungspolitik im Geiste monarchischer 310

Solidarität vor Augen geführt wurden 10 . Vor dem Hintergrund akuter deutschfranzösischer Spannungen, den innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Steigerung der deutschen Kriegsbereitschaft für den Zweifrontenkrieg und österreichischen Truppenverschiebungen reagierte der Zar auf die Bismarckschen Drohungen und Lockungen nicht weniger empfindlich als seine Umgebung und die „nationale" Öffentlichkeit mit gesteigertem Mißtrauen 11 . Vor dem Hintergrund der von Mißtrauen und Animosität gekennzeichneten Stimmung in Petersburg war es keineswegs überraschend, daß sich im W.ettlauf der französischen und der deutschen Diplomatie um die Gunst des Zaren die Waage zugunsten Frankreichs neigte. Nicht weniger mißtrauisch als der Zar hatte Bismarck schon zwei Tage vor dem Artikel im „Nord" vermutet, daß mit einem Erfolg der Suvalovschen Mission nicht mehr gerechnet werden könne, und zwei Wochen darauf hatte er das Gefühl, „durch das bald zwei Monate andauernde Schweigen" des Zaren eine diplomatische Schlappe erlitten zu haben 12 . Ungeachtet einer in der Öffentlichkeit, bei den einflußreichsten Gruppen der Autokratie sowie in Regierungs- und Armeekreisen verbreiteten Bereitschaft, im Zusammenspiel mit Frankreich eine Neuorientierung der russischen Außenpolitik vorzunehmen, kam die russisch-französische Annäherung über das im Februar 1887 erreichte Stadium formell nicht hinaus. Im Gegenteil: Im Mai 1887 schwenkte Alexander III. völlig unerwartet und im letzten Moment doch noch auf das Projekt eines deutsch-russischen Separatabkommens ein. Diese Entwicklung kann damit erklärt werden, daß bei aller Bereitschaft für eine Neubestimmung der russischen Politik gegenüber dem Deutschen Reich diese mit Rücksicht auf die militärischen Kräfteverhältnisse in Europa, die kritische Lage der Autokratie und die wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vorgenommen werden konnte, ohne die Autokratie unkalkulierbaren Risiken auszusetzen. 1. Die Verteilung der militärischen Kräfteverhältnisse in Europa sprach noch so eindeutig zugunsten der Zweibundmächte, daß weder Frankreich noch Rußland ein Interesse daran haben konnten, durch eine gemeinsame antideutsche Politik das Reich zu einem Präventivkrieg zu provozieren. Die militärische Führung Frankreichs brauchte mindestens zwei weitere Jahre, um die geplanten umfangreichen Militärreformen durchführen zu können. Auf der anderen Seite waren auch die Militärreformen, mit denen sich die russische Militärführung auf die Eventualität eines Krieges mit den Zweibundmächten vorbereitete, noch nicht abgeschlossen. Zwar waren die Festungen in den westlichen Gouvernements dank eines neuen Bausystems bereits „verteidigungsfähig", und inzwischen hatte Rußland auch seine Armee „vollständig reorganisiert" und „für seine numerisch überlegenen Streitkräfte durch Vermehrung des fechtenden Standes und systematischen Ausbau der Eisenbahnen gleichzeitig erhöhte Kriegsbereitschaft und erleichterten Aufmarsch geschaffen". Aber für eine offensive Kriegführung waren die bisherigen Ergebnisse der Militärreformen völlig unzureichend, und wichtige Teile der Reformen wie die Ausrüstung mit modernen Repetiergewehren waren nicht einmal in Angriff genommen wor311

den 13 . Hinzu kam, daß in der Armee der Respekt vor der deutschen Militärmacht viel zu groß war, um bei dem Gedanken an einen Krieg gegen Deutschland Begeisterung aufkommen zu lassen. Aus diesem Grunde gehörte die militärische Führungsspitze zu den entschiedensten Befürwortern einer russischfranzösischen Annäherung, hielt es aber zugleich für wünschenswert, „wenn es erst in zwei bis drei Jahren an den Vogesen losging, da Rußland erst dann mit seinen Kriegsvorbereitungen fertig" sein würde 14 . 2. Durch seine unbedingte „Friedensliebe" trug der Zar der prekären innenpolitischen, wirtschaftlichen und finanziellen Lage Rechnung. D a ß die deutschfranzösischen Spannungen zum Krieg führten, hätte zwar den Zaren zunächst zum „Herrn der Situation" gemacht. Aber gerade unter den ultrakonservativen Stützen der Autokratie war die Zahl derjenigen „einsichtsvollen patriotischen Russen" besonders groß, die „mit Rücksicht auf die kritische innere Lage Rußlands als Folge kriegerischer Verwicklungen teils den finanziellen Bankrott des Landes, teils die Herrschaft der revolutionären Elemente fürchteten". Das erste Attentat auf Alexander III. vom 13. März 1887 hatte derartige Bedenken noch verstärkt, rief es doch sofort die Erinnerung an die innenpolitischen Rückwirkungen des russisch-türkischen Krieges von 1877/78 hervor 15 . Waldersee erkannte das Dilemma, in dem der Zar steckte. Auf der einen Seite wurde er durch die hart am Kriege mit Frankreich operierende deutsche Politik gedrängt, sich mit Paris zu solidarisieren, auf der anderen Seite durfte die Solidarisierung nicht so weit gehen, daß den Franzosen in der H o f f n u n g auf russische Rückendeckung der Kopf verdreht wurde und Boulanger als Vollstrecker der Revancheidee die republikanische Vorherrschaft beseitigte 19 . D a mit trat die paradoxe Situation ein, daß Bismarck, der Zar und das Ministerium Goblet ein gemeinsames Interesse an der Entfernung Boulangers hatten. Solange es die republikanischen Parteien nicht wagten, sich offen gegen Boulanger zu stellen, lavierte die zaristische Diplomatie zwischen der Absicht, Frankreich „moralische Unterstützung" gegen deutsche Provokationen zu gewähren, und dem Verzicht auf Gesten, die dem Boulangismus hätten Auftrieb geben können. Von daher ist die Widersprüchlichkeit der russischen Frankreichpolitik während der ersten Jahreshälfte 1887 zu verstehen: Offizielle Distanz gegenüber französischen Annäherungsversuchen, gleichzeitig aber Fortsetzung und Intensivierung informeller Kontakte und eine auffallende Taubheit, die der Zar und Giers gegenüber den Gerüchten über eine inoffizielle russisch-französische Annäherung an den Tag legten 17 . 3. Die Entschlossenheit des Zaren, sich nicht durch Frankreich in einen europäischen Krieg hineinziehen zu lassen, hatte f ü r die Bismarcksche Politik den Vorteil, daß trotz akuter deutsch-französischer Spannungen die Gefahr eines Zweifrontenkrieges kurzfristig gebannt wurde, die russisch-französische Annäherung auf der offiziellen Ebene blockiert war und schließlich der deutschen Frankreichpolitik noch ein Spielraum blieb, um durch fortgesetzte Provokationen den republikanischen Parteien die Risiken einer antideutschen Politik zu demonstrieren. O f f e n blieb allerdings, ob die deutsche Diplomatie auch auf 312

längere Sicht imstande war, den einmal in Gang gekommenen Prozeß der russisch-französischen Annäherung aufzuhalten. Der bevorstehende Ablauftermin des Dreikaiserbündnisses im Juni 1887 konnte in dieser Hinsicht endgültig Klarheit bringen. Die Aussichten, Rußland auch weiterhin diplomatisch zu binden, verschlechterten sich freilich seit dem Jahresende 1886 in einem solchen Maße, daß die deutsche Diplomatie vor die Wahl gestellt wurde, entweder weitere Bemühungen, die russisch-französische Annäherung zu verhindern, als aussichtslos anzusehen oder ohne Rücksichten auf russische Empfindlichkeiten ihre diplomatischen Ziele durch unverhüllte Drohungen und wirtschaftliche Sanktionen doch noch zu erreichen. Auf der diplomatischen Ebene wollte Bismarck diesen Obergang nur zögernd vollziehen, solange nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Erst als Ende Februar kaum noch Aussicht bestand, daß der Zar für ein deutsch-russisches Separatabkommen gewonnen werden konnte, zeigte sich Bismarck entschlossen, „die Russen etwas schlecht zu behandeln, zu England ostensibel hinzuneigen und sie mit Quadrupelallianz zu bedrohen" 18 . Sein Zögern, die deutsche Diplomatie auf einen offenen antirussischen Kurs festzulegen, stand in auffallendem Kontrast zu der Entschlossenheit, mit der er schon am Jahresende 1886 die abrupte Wendung von einer Politik des wirtschaftlichen Interessenausgleichs zu einer Politik der finanziellen Sanktionen vollzogen hatte. Ende Dezember 1886 gab er Anweisung, „in der Presse im allgemeinen darauf hinzuwirken, daß die russischen Finanzen flau gemacht würden" 19 . Die damit eingeleitete Kampagne gegen den russischen Staatskredit war nach Bismarckschem Kalkül die letzte Möglichkeit, den Entscheidungsprozeß über die zukünftige russische Außenpolitik zu beeinflussen und die mit dem Ablauftermin des Dreikaiserbündnisses unaufhaltsam näherrückende Gefahr einer Neuorientierung der russischen Außenpolitik zu vermindern. Zugunsten des Versuchs, durch massiven finanziellen Druck die russische Außenpolitik in die gewünschte Richtung zu zwingen, sprachen schon die Erfahrungen von 1883/84, als sich der Zar ebenfalls dem finanziellen Druck gebeugt und nach anfänglichem Zögern doch noch zur Verlängerung des Dreikaiserbündnisses bereit erklärt hatte 20 . Wie 1883 wurde der Kampf um die zukünftige Richtung der russischen Außenpolitik wieder hauptsächlich auf der finanziellen Ebene geführt, dieses Mal freilich mit größerer Verbissenheit und verhärteteren Fronten. Angesichts der prekären Lage der russischen Finanzwirtschaft waren zwar die Aussichten, den Zaren durch finanziellen Druck den Zielen der deutschen Politik gefügig zu machen, größer als 1883. Dem stand aber diesmal auf russischer Seite die Entschlossenheit gegenüber, sich nicht kampflos dem deutschen Druck zu beugen. In dieser Beziehung war die Ernennung Vysnegradskijs zum Nachfolger Bunges ein unmißverständliches Signal. Denn der als „energisch" bekannte Vysnegradskij galt als entschiedener Befürworter einer Finanz- und Wirtschaftspolitik, die vom „streng nationalen Standpunkt" aus „die möglichste Beschränkung des ausländischen Einflusses auf die russischen Finanzen und das wirtschaftliche Leben Rußlands" zum nationalen Dogma erhob. Die „ge313

mäßigten" Mitglieder der Finanzverwaltung, Außenminister Giers und der bisherige Finanzminister Bunge, warnten vergeblich davor, daß eine konsequent „nationale" Wirtschafts- und Finanzpolitik Rußland finanziell leicht ruinieren könne. Aber daraus die Notwendigkeit eines um so engeren Anschlusses an Deutschland abzuleiten, war nach den bisherigen Erfahrungen nicht überzeugend, und daß dadurch viel geändert würde, glaubte man selbst in diesen Kreisen nicht. Um so größer waren die Erwartungen, die die Industriellen, die Großgrundbesitzer, der Zar und die nationale Öffentlichkeit auf Vysnegradskij setzten. In Petersburg wurde es geradezu „Mode", seine Fähigkeiten „über alles Maß zu preisen", und selbst Schweinitz erlag - anders als Bülow - der Faszination, die Vysnegradskij als Symbolfigur einer radikalen Wende in der russischen Finanz- und Wirtschaftspolitik ausübte 21 . Wenn auch im Hinblick auf die zu bewältigenden finanz- und wirtschaftspolitischen Probleme nicht damit zu rechnen war, daß Vysnegradskij schon kurzfristig einschneidende Erfolge aufweisen konnte, so hatte doch die deutsche Rußlandpolitik ein vitales Interesse daran, daß Vysnegradskij seine finanz- und wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen nicht verwirklichen konnte. Denn erstens galt er als Befürworter einer entschieden protektionistischen Zollpolitik, der es darum ging, vornehmlich durch Maßnahmen gegen den deutschen Industrieexport und die Beseitigung der Konkurrenzvorteile der polnischen Industrie eine Verschiebung der Konkurrenzbedingungen auf dem Binnenmarkt zu Ungunsten der Industriezentren des inneren Rußland zu verhindern 22 . Zweitens war mit seiner Ernennung auch eine wichtige Vorentscheidung über die zukünftige russische Außenpolitik gefallen. Denn ein erfolgreicher Versuch, die russische Finanzwirtschaft aus ihrer kritischen Lage und - mit Hilfe Frankreichs - aus ihrer einseitigen Abhängigkeit vom deutschen Kapitalmarkt zu befreien, war eine entscheidende Voraussetzung, um sich dem deutschen Druck ohne die Gefahr eines Staatsbankrotts zu entziehen und der russischen Außenpolitik nach Jahren der Lähmung ihre Handlungsfreiheit in der europäischen Politik wiederzugeben. Jeder Schritt, den Vysnegradskij seinen finanz- und wirtschaftspolitischen Zielen näher kam, war geeignet, den Handlungsspielraum der russischen Außenpolitik zu erweitern. Daß Giers die „Ministerkrise" vom Dezember 1886 noch einmal überstand, der Zar sich weigerte, dem Drängen der militärischen Führung nach einer Steigerung der Militärausgaben nachzugeben und gegenüber der Suvalovschen Mission eine abwartende Haltung einnahm, deutete auf die Absicht hin, die Entscheidung über die zukünftige Richtung der russischen Außenpolitik gegenüber dem Deutschen Reich so lange hinauszuzögern, bis Vysnegradskij die russische Finanzwirtschaft zumindest aus der akuten Krise herausgeführt hatte«. Bei seinem Amtsantritt stand Vysnegradskij allerdings vor einem scheinbar unauflösbaren Dilemma. Auf der einen Seite war die Finanzverwaltung starkem Druck auf den Staatskredit und den Rubelkurs ausgesetzt; das erschwerte von vornherein eine Besserung der finanziellen Lage und verhinderte sie vielleicht sogar. Auf der anderen Seite bildeten die Verminderung des Haushalts314

defizits und die Besserung der Zahlungsbilanz die entscheidenden Voraussetzungen, um sich dem Druck auf den Staatskredit und den Rubelkurs entziehen zu können. Konsequent konzentrierte sich daher die Finanz- und Wirtschaftspolitik Vysnegradskijs auf zwei Schwerpunkte, die noch am ehesten dieses Dilemma auflösen konnten: Erstens auf die Steigerung der ordentlichen Einnahmen durch die weitere Verschärfung des Steuerdrucks auf die große Masse der bäuerlichen Bevölkerung bis an die Grenze der Zahlungsfähigkeit; zweitens auf die drastische Beschränkung der Importe bei gleichzeitiger Steigerung der Agrarexporte. Da diese Politik unter „normalen" Bedingungen frühestens in einem Jahr erste Erfolge zeigen konnte und außerdem vom Ausfall der kommenden Getreideernte abhängig war, wollte sich Vysnegradskij mit der Einführung des Tabakmonopols behelfen, wobei er vor Enteignungen nicht zurückschreckte, und zugleich den Export der noch vorhandenen Getreidevorräte forcieren, ohne Rücksicht darauf, daß bei steigenden Getreidepreisen sehr schnell Verknappungserscheinungen auf dem Inlandmarkt zutage treten mußten 24 . Das änderte freilich nichts daran, daß die bescheidensten finanzpolitischen Erfolge schon im Ansatz durch den anhaltenden Druck auf den Staatskredit und vor allem auf den Rubelkurs zunichte gemacht zu werden drohten. Denn gerade jetzt machte sich die starke Abhängigkeit der russischen Finanzwirtschaft vom deutschen Kapitalmarkt empfindlich bemerkbar. Allein in den ersten Monaten des Jahres 1887 mußte die russische Reichsbank bis 250 Mio. Rubel russischer Wertpapiere aufnehmen, die vor allem vom deutschen Kapitalmarkt abgestoßen wurden. Gleichzeitig sank der Rubelkurs im Durchschnitt des ersten Q u a r tals 1887 auf 182,45, nachdem er sich im Jahresdurchschnitt 1886 noch auf 197,10 Mark/100 Rubel belaufen hatte 25 . Für diese Entwicklung waren sowohl die andauernden deutsch-französischen Spannungen als auch die Baisse-Spekulation der Berliner Banken verantwortlich. Zweifellos wurde sie aber durch die Kampagne der deutschen Presse noch verschärft. Auf die „National-Zeitung" (15. Januar 1887) machte der Budgetanschlag f ü r 1887 von vornherein einen „ungünstigen Eindruck", die „Berliner Politischen Nachrichten" (10. Februar 1887) berichteten über die Beunruhigung unter den deutschen Besitzern russischer Wertpapiere, die durch die russischen Zahlungsbilanzschwierigkeiten und Gerüchte über einen Staatsbankrott stutzig geworden seien, und die „ N o r d deutsche Allgemeine Zeitung" (16. Februar 1887) beunruhigte durch die Wiedergabe von Berichten über Pläne zur völligen Abschließung des russischen Marktes. Der anhaltende Druck auf den russischen Staatskredit und der fortdauernde Rückgang des Rubelkurses reichten aber noch nicht aus, um den Zaren den Forderungen der deutschen Politik gefügiger zu machen. „Daß der Rubel 180 statt 320 wert ist, macht ihm nichts", stellte Schweinitz Anfang Februar 1887 überrascht fest. Offenbar trug zu der Gelassenheit des Zaren der Einfluß Katkovs bei, der in der Presse seine Ansicht propagierte, „der Rubel müsse noch viel tiefer sinken, damit die Moskauer Industrie wieder prosperiere" 2 '. Auch Vysnegradskij war nicht bereit, sich dem finanziellen Druck zu beugen und wie sein Vorgänger Bunge den Zaren zu drängen, sich gegenüber den For315

derungen der deutschen Diplomatie entgegenkommender zu zeigen. Zwar hatte Vysnegradskij keine Illusionen darüber, daß der Rückgang des Rubelkurses zum Stillstand gebracht und der Druck auf den Staatskredit beseitigt werden mußte. Aber anders als Bunge glaubte er, dieses Ziel mit Hilfe des französischen Kapitalmarktes erreichen zu können. Während er weiterhin gute Beziehungen zu Berliner Bankhäusern pflegte und die beabsichtigten Zollerhöhungen zunächst zurückstellte, um der Agitation in der deutschen Presse keinen neuen Vorwand zu geben, suchte er nach Möglichkeiten, den französischen Kapitalmarkt für russische Staatsanleihen zu gewinnen. Dabei konnte er auf die U n terstützung des russischen Bankiers Raffalovitsch und des Pariser Korrespondenten der „Moskovskie Vedomosti", Élie de Cyon, zurückgreifen, die sich beide darum bemühten, in französischen Finanzkreisen und in der Presse das Interesse an russischen Staatsanleihen zu mobilisieren 27 . Bei seinen Bemühungen, den französischen Kapitalmarkt für den russischen Staatskredit zu öffnen, erhielt Vysnegradskij die wirksamste Unterstützung durch die provokative deutsche Frankreichpolitik. Sogar das Pariser Bankhaus Rothschild ließ angesichts der akuten deutsch-französischen Spannungen Anzeichen der Bereitschaft erkennen, sich nicht weiter am Boykott russischer Anleiheversuche durch die englische Rothschildgruppe und Bleichröder zu beteiligen. Ende Februar konnte Cyon bereits mehrere Finanzprojekte zur Verlagerung des Hauptmarktes f ü r russische Staatsanleihen von Berlin nach Paris vorlegen und sich dabei auf Gespräche mit französischen Bankiers berufen, die ihm den Eindruck vermittelt hatten, daß angesichts der deutsch-französischen Spannungen keine französische Bank - auch nicht das Bankhaus Rothschild - die Stützung des russischen Staatskredits verweigern würde 28 . Trotz gewisser Bedenken erklärte sich Vysnegradskij auf Drängen Cyons bereit, dem Bankhaus Rothschild die Beteiligung an der Konversion der Pfandbriefe der „Gesellschaft f ü r gegenseitigen Bodenkredit" vorzuschlagen. Dieses Angebot war nicht nur ein Test auf die Bereitschaft des französischen Kapitalmarktes zur Stützung des russischen Staatskredits, sondern es war auch ein politisch genau kalkulierter Schachzug Vysnegradskijs und Katk.ovs. Denn während K a t kov den Zaren davon zu überzeugen suchte, daß nur mit französischer Hilfe die einseitige finanzielle Abhängigkeit vom deutschen Kapitalmarkt gelöst und nur so Rußland seine außenpolitische Handlungsfreiheit wiedergewinnen könne, ging Vysnegradskij davon aus, daß der Zar im Interesse der Großgrundbesitzer besonders großen Wert auf die Sanierung der „Gesellschaft f ü r gegenseitigen Bodenkredit" legte und durch eine erfolgreiche Konversionsoperation der Pfandbriefe dieser Gesellschaft mit Hilfe des französischen Kapitalmarktes weitere Vorbehalte des Zaren gegen eine russisch-französische Annäherung abgebaut werden konnten 2 9 . Es ist wahrscheinlich, daß Bismarck die abwartende H a l t u n g des Zaren gegenüber dem diplomatischen Vorstoß Suvalovs für ein deutsch-russisches Separatabkommen im Zusammenhang der gemeinsamen Bemühungen Vysnegradskijs und Katkovs interpretierte, sich mit H i l f e Frankreichs dem deutschen 316

Druck zu entziehen. Während er Ende Februar zu der Überzeugung kam, daß kaum noch mit einem Erfolg der diplomatischen Mission Suvalovs gerechnet werden konnte, erhielt Schweinitz „ganz unglaubliche Ankündigungen von Zoll- und Pressekrieg"30. Auffallend war, daß sich die deutsche Presse - offenbar auf Anweisung Bismarcks - darauf konzentrierte, dem Zaren die verheerenden finanziellen und wirtschaftlichen Folgen der finanz- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen Katkovs vor Augen zu führen. Die „NationalZeitung" (15. Februar 1887) ζ. B. warnte, daß in Berlin „das Streben der Panslawisten-Partei und namentlich ihres Oberführers Katkov nach Verstärkung ihres öffentlichen Einflusses" mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werde und es nicht unbekannt geblieben sei, daß Katkov „hochgradig protektionistischen Grundsätzen" huldige, die russischen Zinszahlungen in Gold bekämpfe und „am liebsten den russischen Rubelkurs auf das denkbar niedrigste Niveau herabdrücken möchte". Im März führten die „Berliner Politischen Nachrichten" (8. und 10. März 1887) die Risiken der von Katkov propagierten Politik vor Augen: Die Entwertung des Rubels werde mehr und mehr in hohen Preisen für die russische Bevölkerung spürbar, und selbst die panslawistischen Zeitungen klagten über das fortwährende Sinken der russischen Valuta. Das „außerordentliche Fallen des Kreditrubels" müsse „in erster Linie auf die Kriegsbefürchtungen zurückgeführt werden", die die „hetzende Haltung der russischen Presse" auslöse31. Offenbar konnte Giers mit derartigen Argumenten den Zaren beeindrucken. Denn erstmalig ließ dieser die Bereitschaft erkennen, den Giersschen Warnungen vor den Folgen einer Einmischung Katkovs in die russische Außenpolitik zu folgen. Damit war zwar noch keine grundsätzliche Konzessionsbereitschaft gegenüber der deutschen Politik verbunden. Denn dominierend dürfte das Interesse Alexanders III. gewesen sein, den Anschein einer Umorientierung der offiziellen russischen Politik zu vermeiden, um ein weiteres Absinken des Rubels zu verhindern und die Bemühungen Vysnegradskijs um eine Lösung der wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeit von Deutschland nicht noch weiter zu erschweren. Während Giers, die Brüder Suvalov, der Großfürst Vladimir und der Kabinettschef Lamzdorf ohne sichtbaren Erfolg den Zaren von den Vorteilen einer Politik des wirtschaftlichen und politischen Interessenausgleichs mit dem Deutschen Reich zu überzeugen suchten, setzt Vysnegradskij im Reichsrat Mitte April zum Nachteil des deutschen Industrieexportes und der polnischen Industrie drastische Zollerhöhungen auf Eisen, Kohle und Rohbaumwolle mit differentieller Benachteiligung der Importe über die westliche Landesgrenze durch 32 . Etwa zur gleichen Zeit gingen in Berlin Informationen ein, daß Vysnegradskij mit Unterstützung des Außen- und Innenministeriums eine Kampagne in der französischen Presse vorbereitete, um dem weiteren Kursverlust des Rubels an der Berliner Börse durch eine von Paris ausgehende Haussebewegung entgegenzuarbeiten, wobei die französische Regierung diese Bemühungen „vom Gesichtspunkt der russisch-französischen Beziehungen" mit wohlwollender Aufmerksamkeit verfolgte 33 . 317

Diese Entwicklung mußte für Bismarck ein Alarmsignal sein; denn es war leicht abzusehen, daß ihm die einzig noch verbliebene Möglichkeit, wirksamen Druck auf den Zaren auszuüben, genommen werden konnte. Entsprechend heftig reagierte er mit wirtschaftlichen Drohungen und einer deutlichen Verschärfung des politischen und finanziellen Drucks. In der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" (21. April 1887) setzte er Äußerungen K a t k o v s , daß der sinkende Rubelkurs nur die Entwicklung der eigenen Industrie fördere und dem russischen Getreide die Konkurrenz auf dem deutschen M a r k t erleichtere, die unverhüllte Drohung einer weiteren Erhöhung der deutschen Getreidezölle entgegen. Einen T a g vorher (20. April 1887) hatte er durch die willkürliche Verhaftung des französischen Polizeikommissars Schnäbele nicht nur der französischen und russischen Regierung ihre außenpolitische Handlungsunfähigkeit demonstriert, sondern verstärkte damit auch den Druck auf die europäischen E f fekten- und Devisenbörsen. Er machte damit die russisch-französischen Bemühungen um eine Besserung des Rubelkurses zunichte. Im April erreichte der Dreimonatskurs des Rubels in Berlin mit 179 M a r k / 1 0 0 Rubel einen absoluten Tiefstand 3 4 . Ironisch kommentierte die „ N a t i o n a l - Z e i t u n g " (30. April 1887), daß „der russischen Regierung bei allen ihren Bewegungen in finanzieller und politischer Richtung am meisten der R ü c k g a n g der Valuta unbequem" sei. Dieser aber sei „in der Hauptsache das Produkt von gewichtigen ungesunden wirtschaftlichen und politischen Faktoren, deren Heilung angestrebt werden sollte und könnte, was freilich eine Änderung des gesamten politischen und wirtschaftlichen Systems erforderte". Sowohl die französische Regierung als auch der Z a r ließen jetzt endlich Bereitschaft erkennen, sich dem deutschen Druck zu beugen. In Pariser Regierungskreisen dachte man jetzt an eine Regierungsumbildung, der vor allem Boulanger zum O p f e r fallen sollte. Auf der anderen Seite erklärte der Zar endlich seine grundsätzliche Bereitschaft, einem deutsch-russischen Abkommen zuzustimmen 3 5 . Wie 1884 honorierte Bismarck auch dieses Mal die Konzessionsbereitschaft des Zaren, indem die „ S c h n ä b e l e - A f f ä r e " abrupt beendet und vor allem der Druck auf die russische Finanzwirtschaft gelockert wurde. O b wohl - wie der deutsche Konsul in St. Petersburg überrascht feststellte - „in der allgemeinen politischen L a g e eine Änderung nicht erfolgt" war, zeigte die russische Valuta „nach monatelanger andauernder fallender T e n d e n z " seit Anf a n g Mai „ein auffallendes Verhalten". Von 179 im April stieg der Dreimonatskurs in Berlin im M a i auf 184 M a r k / 1 0 0 Rubel. Der Anstoß für diese Entwicklung ging von der Berliner Wertpapierbörse aus, da - offenbar auf D r ä n gen Bismarcks - Bleichröder und einige kleinere Berliner Bankhäuser A n f a n g M a i in die Verhandlungen des Bankhauses Rothschild mit Vysnegradskij über die Konversion der Pfandbriefe der „Gesellschaft für gegenseitigen Bodenkred i t " einstiegen und die Baissespekulation an der Berliner Börse beendeten 36 . Ende Mai löste die Nachricht von der Konversionsabsprache zwischen Rothschild und dem russischen Finanzministerium an den europäischen Börsen eine H a u s s e aus, und am 2. J u n i konnte C y o n im „ G o u l o i s " bereits die Emission ei318

ner russischen Anleihe auf dem französischen K a p i t a l m a r k t in Aussicht stellen 37 . Diese Tatsache k o n n t e nicht über die weiterhin überragende Bedeutung des deutschen K a p i t a l m a r k t e s f ü r den russischen Staatskredit hinwegtäuschen. Außerdem w a r von der A u f n a h m e neuer Anleihen auf dem europäischen K a p i t a l m a r k t bis zu einer durchgreifenden Besserung der russischen Wirtschafts- u n d Finanzlage noch ein weiter Weg. Aber die jetzt nicht mehr unbegründete Aussicht, mit H i l f e des französischen K a p i t a l m a r k t e s sich der einseitigen A b h ä n gigkeit v o m deutschen K a p i t a l m a r k t entziehen zu können, w a r f ü r den Zaren G r u n d genug, um nicht nur antideutsche Tendenzen einer strikt nationalen Wirtschaftspolitik zu tolerieren, sondern das unter dem D r u c k der SchnäbeleA f f ä r e gezeigte Entgegenkommen in der Frage eines deutsch-russischen Separatabkommens wieder zu relativieren: A m 24. Mai erschien sein Ukas, der die E r w e r b u n g von Grundbesitz in den westlichen Gouvernements erschwerte und der sich vornehmlich gegen deutsche Kolonisten und große Besitzungen oberschlesischer Industriemagnaten in Polen richtete 38 . U n d die russische Diplomatie machte jetzt ihrerseits die Zustimmung zu einem deutsch-russischen Bündnis von deutschen Zugeständnissen abhängig 3 9 . Die russische Diplomatie ließ sich jetzt weder durch Drohungen wie der Mitteilung des Zweibundes einschüchtern, noch ließ sie sich durch die Aussicht konzessionsbereit stimmen, d a ß eine allgemeine Beruhigung der politischen Situation u n d eine A b n a h m e der deutsch-russischen Spannungen weitere Konversions- u n d Anleiheoperationen günstig beeinflussen könnten 4 0 . Erst fünf Tage vor Ablauf des Dreikaiserbündnisses, als Bismarck schon davon ausging, daß die deutsch-russischen Beziehungen „ins Freie fallen", gab der Z a r angesichts der Bismarckschen Drohung, die „freundschaftlichen Beziehungen zu anderen Mächten, der P f o r t e nicht ausgeschlossen, fester und enger" zu gestalten, seine H i n h a l t e t a k t i k auf u n d stimmte dem sogenannten „Rückversicherungsvertrag" ohne zusätzliche Bedingungen

6.3.3 Politik der ökonomischen

Sanktionen

Der „Rückversicherungsvertrag" bildete weder eine „verzweifelte" noch eine „geniale" Aushilfe 1 . „Verzweifelt" t r i f f t schon deshalb nicht, weil trotz der von Mißtrauen u n d Animosität gekennzeichneten deutsch-russischen Beziehungen f ü r die russische Außenpolitik aus Rücksicht auf die kritische Lage der Autokratie, die finanzielle Abhängigkeit v o m deutschen K a p i t a l m a r k t und die Verteilung der militärischen Kräfteverhältnisse die Bindung an Frankreich keine Alternative war 2 . Auch „genial" w a r der „Rückversicherungsvertrag" keineswegs, u n d z w a r aus mehreren G r ü n d e n . 1. Weil dem nur durch D r u c k zustande gekommenen und ängstlich geheim gehaltenen Vertrag der innenpolitische R ü c k h a l t fehlte, bot er selbst f ü r den Fall keine Sicherheit gegen den Zweifrontenkrieg, d a ß der Angriff von f r a n z ö 319

sischer Seite ausging. Zwar sicherte das neue „vertragsmäßige Verhältnis" immerhin die russische Neutralität im Falle eines französischen Angriffs zu. Aber angesichts des von starken antideutschen Ressentiments beherrschten innenpolitischen Klimas war es schon bei Vertragsschluß fraglich, „ob der Kaiser von Rußland gegenüber der künstlich aufgeregten Meinung imstande" war, „den Vertrag zu halten". Sein Wert reduzierte sich daher f ü r Schweinitz darauf, „daß eine geheime, den Zaren einigermaßen bindende Abmachung" immer noch „besser sei als gar keine", was zudem noch die H o f f n u n g voraussetzte, daß sich die deutsch-russischen Spannungen nicht noch weiter verschärften 3 . 2. Der „Rückversicherungsvertrag" bot „keine absolute Garantie gegen einen russischen Angriff" auf die Zweibundmächte. Akut war diese Problematik im Hinblick auf die Möglichkeit, daß sich die kritische Lage der Autokratie weiter verschärfte und der Zar schließlich - vor die Alternative zwischen „Krieg und Revolution" gestellt - die Flucht in einen populären Krieg gegen Österreich-Ungarn antrat. Angesichts der großen militärischen und politischen Risiken eines Balkanfeldzuges wurde diese Gefahr durch das Zusatzabkommen kaum nennenswert vermindert 4 . 3. Für den Zaren hatte das Abkommen mit Deutschland unverkennbare Vorteile. Denn während es auf der einen Seite die Wahrscheinlichkeit eines deutschen Angriffs auf Frankreich, durch den Rußland zu einem unerwünschten Zeitpunkt in einen europäischen Krieg hineingezogen wurde, verminderte, konnte der „Rückversicherungsvertrag" die deutsch-russischen Beziehungen nicht positiv beeinflussen oder den Prozeß der russisch-französischen Annäherung aufhalten 5 . 4. Der „Rückversicherungsvertrag" Schloß nicht den Zustand eines „bewaffneten Friedens" in Europa aus, in dem alle europäischen Großmächte ihre Rüstungsanstrengungen beschleunigt vorantrieben und in dem sich Frankreich und Rußland unterstützten. Der Ausbau des deutschen Militärpotentials im Rahmen des dritten Septennats, mit dem sich die deutsche Militärpolitik endgültig auf die Möglichkeit eines Zweifrontenkrieges umstellte, setzte f ü r die europäische Militärpolitik insofern neue Maßstäbe, als Rußland und Frankreich zur technischen und organisatorischen Zusammenarbeit geradezu gezwungen wurden, falls sie mit der Entwicklung des deutschen Militärpotentials Schritt halten wollten. Das galt insbesondere für die russische Militärpolitik, die angesichts der schnellen Entwicklung der Militärtechnik und starker finanzieller Restriktionen den Mangel an technischem Know-how und an finanziellen Ressourcen f ü r eine forcierte Rüstungspolitik nur mit französischer H i l f e überwinden konnte". Frankreich gab seinerseits zwar mit der Entlassung Boulangers dem deutschen Druck äußerlich nach, es führte aber die Militärreformen konsequent fort. Dabei konnte die französische Regierung das gemeinsame russisch-französische Interesse voraussetzen, „daß sich die deutsche Macht nicht noch weiter entwickelte". Die Forderung, beide Länder müßten sich „gegenseitig durch friedliche Mittel unterstützen", ergab sich daraus f ü r den Präsidenten Grevy schon im Mai 1887 von selber 7 . 320

5. Der Abbau der deutsch-französischen Spannungen leistete in den Augen der zaristischen Regierung einen willkommenen Beitrag zur Ruhe an der außenpolitischen Front, die sie benötigte, um ihre Bemühungen zur Überwindung der wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten fortsetzen zu können. Ein Erfolg dieser Bemühungen war die Voraussetzung dafür, um erstens in der Phase eines beschleunigten internationalen Rüstungswettlaufs auch finanziell mit dem Rüstungstempo der Zweibundmächte Schritt halten zu können und sich zweitens zu einem für günstig gehaltenen Zeitpunkt aus der politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeit vom deutschen Reich befreien zu können. Die Chancen, daß dieses Kalkül aufging, waren trotz der nicht zu unterschätzenden Schwierigkeiten durchaus nicht ungünstig. Immerhin hatten die Verhandlungen Vysnegradskijs mit dem französischen Bankhaus Rothschild und Bleichröder über die Konversion der Pfandbriefe der „Gesellschaft für gegenseitigen Bodenkredit" sowie über neue russische Staatsanleihen die Aussicht eröffnet, daß es schon bald möglich sein würde, die noch am Jahresende 1886 scheinbar unüberwindliche Anleihe- und Konversionsblockade zu durchbrechen und mit Hilfe des deutschen und französischen Kapitalmarktes die Sanierung der russischen Finanzwirtschaft voranzutreiben. Tatsächlich sollten die Verhandlungen mit Rothschild nur den Auftakt für eine ganze Serie von Konversionsoperationen bilden, mit denen Vysnegradskij die Zins- und Amortisationszahlungen für die auswärtige Staatsschuld erheblich reduzieren wollte 8 . Außerdem war um die Jahresmitte 1887 erkennbar, daß der entschlossene Kampf um eine günstige Handelsbilanz bald deutliche Erfolge zeigen würde. Als Folge des verschärften Industrieprotektionismus ging die Einfuhr während der ersten Jahreshälfte gegenüber demselben Zeitraum des Vorjahres bereits um 13,6% zurück, während die Ausfuhr um 3 9 , 4 % anstieg. Die Ernteaussichten ließen erwarten, daß sich diese Entwicklung auch in der zweiten Jahreshälfte fortsetzen würde 9 . Die Aussichten, daß sich als Folge hoher Handelsbilanzüberschüsse und umfangreicher Konversionsoperationen der Rubelkurs wieder stabilisieren und die Zahlungsbilanz entscheidend verbessern würde, waren um die Jahresmitte 1887 insgesamt so günstig, daß Vysnegradskij im Juni 1887 die Zustimmung des Finanykomitees und des Zaren für ein Währungsreformprogramm erhielt, durch das die Metalldeckung des Rubels schrittweise hergestellt und die Finanzwirtschaft aus ihrer starken Abhängigkeit vom deutschen Kapitalmarkt befreit werden sollte 10 . Geht man also davon aus, daß 1. der „Rückversicherungsvertrag" keine „politische" Sicherung gegen den Zweifrontenkrieg bzw. die russisch-französische Annäherung darstellte, 2. angesichts des hohen Konfliktniveaus, auf dem sich die deutsch-russischen Beziehungen bewegten, nicht absehbar war, wie dem wachsenden Einfluß antideutscher Tendenzen auf die russische Innen-, Wirtschafts-, Militär- und Außenpolitik auf diplomatischen Kanälen noch begegnet werden konnte, 3. die innenpolitische Stellung Vysnegradskijs stark genug war, um die Sa21

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nierung der Finanzwirtschaft durch den rücksichtslosen Verstoß gegen die Exportinteressen der deutschen Industrie und die Steigerung der Getreideausfuhr zum Schaden der preußischen Landwirtschaft voranzutreiben und 4. jeder Schritt, mit dem Vysnegradskij seinen finanz- und wirtschaftspolitischen Zielen näher kam, die Voraussetzungen f ü r eine Außenpolitik der „freien H a n d " verbesserte, dann konnte die deutsche Rußlandpolitik gegenüber der weiteren Entwicklung keine abwartende Haltung einnehmen, ohne - trotz „Rückversicherungsvertrag" - ihren Bankrott einzugestehen. Andererseits schien die Aussicht, die deutsche Diplomatie durch finanziellen und wirtschaftlichen Druck vor dem Eingeständnis ihres Bankrotts zu bewahren, noch nie so günstig wie gerade jetzt, wo sich f ü r die russische Regierung die finanzielle und wirtschaftliche Abhängigkeit besonders empfindlich bemerkbar machte. Denn daran konnte kein Zweifel bestehen, daß die Erfolgschancen der Finanzund Wirtschaftspolitik Vysnegradskijs in hohem Maße von der wohlwollenden Haltung des deutschen Kapitalmarktes sowie von der Möglichkeit, den steigenden Getreideexport auf dem deutschen Binnenmarkt abzusetzen, bestimmt wurden. Aus dieser Einsicht resultierte die Selbstverständlichkeit, mit der Bismarck bisherige Bedenken, finanzielle und wirtschaftliche Sanktionsmöglichkeiten ganz auszuschöpfen, fallen ließ und nur noch notdürftig verdeckt eine Woche nach Abschluß des „Rückversicherungsvertrages" die sporadischen Angriffe in der offiziösen Presse gegen den russischen Staatskredit in einen „planmäßigen" Kampf überleitete 11 , womit zugleich die Entschlossenheit verbunden war, ihn auch auf der zollpolitischen Ebene zu verschärfen. „Daß wir gegen Rußland wirtschaftliche Retorsion üben, ist sehr mein Wunsch", schrieb H e r bert Bismarck Mitte Juni. „Papa wollte nur einstweilen nichts davon hören, solange die Verhandlungen über den geheimen Vertrag schweben." Einen Monat später ging der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, Berchem, davon aus, daß es „wohl noch anderer Schritte" bedürfe, „als des Sturzes der russischen Wertpapiere und des Rubelkurses", um die russische Regierung von dem Irrtum zu überzeugen, „daß Deutschland nicht anders könne, als der hilfreiche Nachbar, der Abnehmer der Landesprodukte und stets zahlungswillige Gläubiger zu sein" 12 . Gerade in der Entschlossenheit, notfalls das wirtschaftliche Verhältnis mit Rußland zu „liquidieren", zeigte sich die Problematik des Versuchs, im letzten Moment die antideutsche Wendung der russischen Politik, die durch die deutsche Diplomatie nicht mehr aufgehalten werden konnte, durch massive finanzielle und wirtschaftliche Sanktionen zu verhindern. Weil man in Berlin den Bankrott der deutschen Rußlandpolitik nicht eingestehen wollte und gesteigerten Wert darauf legte, „in guten politischen Beziehungen zu Rußland zu stehen", versuchte man, die bisher wenigstens notdürftig durch das Dreikaiserbündnis gewährleistete „Parität und Gegenseitigkeit" durch finanzielle und wirtschaftliche Sanktionen zu erzwingen 13 . Sicherlich konnte nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß die zaristische Regierung im Bewußtsein ihrer kritischen Lage und ihrer finanziellen und wirtschaftlichen Abhängigkeit 322

die Verständigung mit Deutschland suchen würde, noch bevor der wirtschaftliche und finanzielle Druck noch weiter zunahm 14 . Im Auswärtigen Amt in Berlin riskierte man aber auch, daß Petersburg nicht die erwartete Konzessionsbereitschaft zeigte, statt dessen die Animosität gegen das Deutsche Reich verstärkt wurde und die russische Politik erst recht in das antideutsche Fahrwasser geriet. Für diesen Fall reduzierte sich die deutsche Rußlandpolitik auf das „grundsätzliche Ziel", einer „feindlichen Regierung", die sich gerade anschickte, die Anleihe- und Konversionsblockade zu durchbrechen, „die Mittel zu entziehen, mit denen sie ihre gegen uns gerichteten Rüstungen förderte" 1 5 . Das Dilemma einer Außenpolitik, die durch die konsequente Ausbeutung der finanziellen und wirtschaftlichen Abhängigkeit eines potentiellen Kriegsgegners dessen politische „Freundschaft" zu erzwingen suchte, wurde noch dadurch verschärft, daß es nach dem „Rückversicherungsvertrag" zu einer Politik der finanziellen und wirtschaftlichen Sanktionen auch von den innenpolitischen Voraussetzungen her keine Alternative gab. Denn die Mißerfolge der Bismarckschen Rußlandpolitik schlugen sich in einer wachsenden Kritik einflußreicher Gruppen nieder. In dieser Hinsicht fiel vor allem das Unbehagen preußischer Militärs an der sich scheinbar unaufhaltsam schließenden „Zwickmühle" ins Gewicht. Angesichts des militärischen Alptraums, daß Rußland und Frankreich durch Zeitgewinn „sich bessere Chancen auf dem rein militärischen Gebiet" schaffen konnten, war eine Politik der wirtschaftlichen, finanziellen und innenpolitischen Destabilisierung gegenüber dem finanziell und wirtschaftlich noch einseitig abhängigen Rußland kurzfristig die Alternative zu dem von führenden preußischen Militärs favorisierten Präventivkrieg und langfristig der Versuch, im internationalen Rüstungswettlauf die Verschiebung der militärischen Kräfteverhältnisse zu Ungunsten des Reiches so lange wie möglich hinauszuzögern 16 . „Einflußreiche Kreise" der oberschlesischen Industrie, aber auch die bisher noch verhandlungsbereiten Teile der rheinisch-westfälischen Industrie drängten auf finanzielle und zollpolitische Kampfmaßnahmen, nachdem die massive Schädigung des deutschen Industrieexportes durch Verhandlungen und Drohungen nicht hatte verhindert werden können 17 . Finanzielle und zollpolitische Sanktionen gegen Rußland wurden aus innenpolitischen Gründen geradezu zwingend, weil sich die preußischen Agrarier angesichts der während der ersten Jahreshälfte 1887 schon importierten „Unsummen russischen Getreides" nicht länger mit der Aussicht auf steuerpolitische „Liebesgaben" zufriedengeben wollten, sondern auf eine schnelle Erhöhung der deutschen Getreidezölle und auf Maßnahmen gegen den russischen Staatskredit drängten 1 8 . H a t t e sich die Regierung bisher gegenüber den Forderungen nach höheren Agrarzöllen reserviert verhalten, so gab sie diese Zurückhaltung jetzt aus zwei Gründen auf. Erstens lag ein Kampf gegen den russischen Kredit zwar im agrarischen Interesse, aber die Gefahr war offenkundig, daß infolge des damit verbundenen Rückgangs des Rubelkurses der Anstieg der Getreideeinfuhren aus Rußland noch begünstigt würde. Die Erhöhung der deutschen Getreidezölle war also aus agrarischer Perspektive die notwendige Ergänzung zum Kampf gegen 21*

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den russischen Staatskredit, schien sie doch noch am ehesten geeignet, unerwünschte Nebenwirkungen zu neutralisieren. Zweitens konnten nach den „Kartellwahlen" höhere Getreidezölle im Reichstag wesentlich leichter als vorher durchgesetzt werden, ohne daß dadurch die Interessen der Reichsfinanzwirtschaft geschädigt worden wären. Während die sich zäh dahinziehenden Reichstagsverhandlungen über die Branntwein- und Zuckersteuerreform im Frühjahr 1887 die Schwierigkeit deutlich gemacht hatten, die agrarischen Interessen mit den Forderungen der Reichsfinanzwirtschaft in Einklang zu bringen, bot die drastische Erhöhung der Getreidezufuhren den Vorteil, daß die Konkurrenzängste der preußischen Agrarier besänftigt würden und die Regierung aufgrund der zu erwartenden Mehreinnahmen aus den Zollerhöhungen den Agrariern zusätzlich einen großzügigen Kompromiß bei der Reform der Branntwein- und Zuckersteuer anbieten konnte 19 . In der ersten Phase des systematischen Kampfes gegen die „russische Geldwirtschaft", der auf Betreiben Bismarcks Ende Juni 1887 durch eine Pressekampagne in der offiziösen Presse und anderen Zeitungen eröffnet wurde, bestätigte sich, daß die deutsche Politik noch mühelos unmittelbar wirksamen finanziellen Druck auf die russische Regierung ausüben konnte. Obwohl Bismarck die Beteiligung der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" an der K a m pagne noch ablehnte, um den Eindruck zu vermeiden, daß politischer Druck ausgeübt werden sollte 20 , schlugen sich die düsteren Schilderungen der finanziellen und wirtschaftlichen Lage Rußlands in der Presse unmittelbar an der Berliner Effekten- und Devisenbörse nieder. Die Kurse russischer Staatspapiere verzeichneten im Juli einen Rückgang um 4 - 5 % . Der Druck auf die Effektenbörse wirkte wiederum auf die Devisenbörse zurück. Der Dreimonatskurs, der an der Berliner Rubelbörse von 179 im April auf 184 im Mai gestiegen war, ging im Juli wieder auf den Stand vom April zurück. Bis Ende Juli wurden außerdem russische Wertpapiere im Werte von ca. 100 Mio. Rubel vom deutschen Kapitalmarkt abgestoßen. Insofern schien die offiziöse Pressekampagne also ein Erfolg zu werden. „Aus der Sprache, die Bleichröder, Schwabach und Suvalov führen, geht die Ersprießlichkeit unserer Pressekampagne hervor", stellte auch Berchem Mitte Juli fest 21 . Dennoch zeigte sich schon bald, daß man im Auswärtigen Amt die Eigengesetzlichkeit des Kapitalmarktes und vor allem die Rolle der Berliner Banken unterschätzt hatte. In St. Petersburger Börsenkreisen war die Reaktion auf die deutsche Pressekampagne zunächst gelassen, weil die Menge der nach Rußland zurückfließenden Wertpapiere angesichts der Heftigkeit der Kampagne als relativ gering angesehen wurde und vor allem, weil sich die Berliner Finanzpresse und die führenden Berliner Bankhäuser - allen voran Bleichröder - gegen die offiziöse Presse zugunsten des russischen Staatskredits engagierten. Die Reaktion der „National-Zeitung" - des Hauptorgans der Berliner Hautefinance - und des unter dem Einfluß Bleichröders stehenden „Börsen-Courier" und der „Berliner Börsen-Zeitung" bestätigten die Vermutungen Petersburger Börsenkreise, daß die führenden Berliner Bankhäuser nur vorübergehend auf Baisse speku324

Herten und die abgestoßenen Wertpapiere in ihre Portefeuilles übernahmen. Tatsächlich schalteten Berliner Bankhäuser schon Anfang August, als „die offiziösen Trompeten nicht mehr so laut" schmetterten, auf Hausse-Spekulation um 22 . In den folgenden Monaten sah sich das Auswärtige Amt vor das Problem gestellt, „daß jeder Warnung, welche durch die offiziöse Presse gegen den Ankauf russischer Wertpapiere erging, in der ,Börsen-Zeitung', ganz besonders im ,Börsen-Courier' und - wenn auch seltener und weniger aggressiv - in der ,National-Zeitung' eine Gegenäußerung auf dem Fuße folgte" 23 . Die Gegenkampagne einflußreicher Berliner Börsenzeitungen war so wirksam, daß die offiziöse Pressekampagne sich festzulaufen drohte. Von einer durchgreifenden Beeinträchtigung des Vertrauens in den russischen Staatskredit konnte jedenfalls keine Rede sein. Symptomatisch war, daß der Rubelkurs an der Berliner Devisenbörse im August und September wieder anstieg und sich im Oktober auf dem Septemberstand hielt 24 . Außerdem blieb zwar Mitte September zu konstatieren, daß die Warnungen der offiziösen Presse nicht ganz unbeachtet geblieben waren und der deutsche Markt „einige Millionen" russischer Wertpapiere abgestoßen hatte, die zum Teil von der russischen Reichsbank aufgenommen werden mußten. Aber erstens konnte kein Zweifel daran bestehen, daß der deutsche Besitz an russischen Wertpapieren immer noch „ein übermäßiger" war, und zweitens die internationale Spekulation ca. 150 Millionen russischer Werte aus den Verkäufen des deutschen Publikums aufgenommen hatte, wobei die „Höhe der deutschen Devise in Paris" deutlich zeigte, wo der Schwerpunkt der Spekulation lag. Da die angespannte Lage auf dem französischen Kapitalmarkt während der zweiten Jahreshälfte 1887 für die Aufnahme der vom deutschen Kapitalmarkt abgestoßenen russischen Staatspapiere nicht günstig war, wartete die französische Spekulation auf eine Hausse bei russischen Wertpapieren, „um Deutschland damit wieder zu beglücken" 25 . Tatsächlich zeichnete sich seit Anfang September wieder eine allmähliche Kurserholung bei russischen Wertpapieren ab. Anfang Oktober führte die internationale Spekulation, aber auch Bleichröder und andere führende Berliner Bankhäuser umfangreiche Verkäufe russischer Wertpapiere an der Berliner Börse durch. Diese Operationen wurden im Zusammenhang mit dem Geldbedarf Petersburger Bankhäuser durchgeführt, die aufgrund des starken Geldmangels auf dem Petersburger M a r k t die auf Metall lautenden Staatspapiere ihrer Portefeuilles über Berliner Bankhäuser verkauften, gleichzeitig jedoch in Erwartung steigender Kurse starke Hausse-Engagements per ultimo Oktober-November eingingen. Das konnte nach den Vermutungen des deutschen Konsuls in St. Petersburg leicht bedeuten, daß die Berliner Börse, anstatt russische Wertpapiere abzustoßen, wieder anfing, neue aufzunehmen 2 6 . Als wirkungslos erwies sich die offiziöse Pressekampagne auch insofern, als mit Hilfe Berliner Bankhäuser weitere Konversionsoperationen durchgeführt werden konnten. Im Juli wurde die Konversion einer weiteren Bodenkreditbank, des „Gegenseitigen-Boden-Kredit-Vereins", erfolgreich abgeschlossen und im gleichen Monat durch die Diskonto-Gesellschaft und die Berliner Handéls-Gesellschaft die Konversion der Kursk325

Kiew-Obligationen eingeleitet. Bald darauf erklärte sich Bleichröder zur Durchführung weiterer Konversionsoperationen bereit, und schon im September meldete die „Berliner Börsen-Zeitung", daß die konvertierten 4%igen Obligationen der Koslow-Woronesch-Rostow-Bahn und der Orel-Griasi-Bahn an der Berliner Börse „lebhaft" gehandelt wurden 27 . D a ß durch die offiziöse Pressekampagne das Vertrauen in den russischen Staatskredit nicht erschüttert werden konnte, schloß natürlich nicht aus, daß ihre indirekten Rückwirkungen nachhaltig die russische Finanzwirtschaft belasteten. In dieser Hinsicht fiel vor allem ins Gewicht, daß durch den immer noch niedrigen Stand des Rubelkurses eine spürbare Verringerung der Ausgaben f ü r das Kreditsystem verhindert und sich die günstige Entwicklung der Handelsbilanz nicht auch in gleichem Ausmaß in der Zahlungsbilanz niederschlagen konnte. Ohne die offiziöse Pressekampagne hätten außerdem wahrscheinlich weitere Konversionsoperationen durchgeführt und damit der Haushalt weiter entlastet werden können 28 . U m so entschlossener arbeitete Vysnegradskij auf das Ziel hin, „das Defizit aus dem Haushalt um jeden Preis zu beseitigen", und zwar einmal durch weitere Steuererhöhungen vor allem bei der Branntweinsteuer und durch eine sparsame Ausgabepolitik. Unter der Voraussetzung, daß auch 1888 wieder ein gutes Erntejahr wurde und eine Anleihe aufgenommen werden konnte, Schloß der deutsche Konsul in St. Petersburg, Lamezan, Anfang Oktober 1887 die Möglichkeit nicht mehr aus, daß Vysnegradskij schon für 1888 ein Budget ohne Defizit würde vorlegen können 28 . Die Aufnahme einer inneren Anleihe kam angesichts der angespannten Lage auf dem einheimischen Geldmarkt nicht in Frage. Als sich Ende Juli 1887 abzeichnete, daß die Mittel der Reichsbank nicht ausreichten, um die vom deutschen Kapitalmarkt abgestoßenen Wertpapiere zu übernehmen, behalf sich Vysnegradskij zunächst damit, daß er einer weiteren Verengung des Geldmarktes vorbeugte und die jährliche Einziehung von Kreditbillets durch die Reichsbank aussetzte. Darüber hinaus Schloß er sich der Praxis der Petersburger Banken an, indem er die Reichsbank anwies, durch Realisierung der in ihrem Besitz befindlichen Bestände 5%iger Goldrente vor allem auf dem Pariser Markt neue Mittel zur Aufnahme der vom deutschen Kapitalmarkt abgestoßenen Wertpapiere zu erlangen 30 . Da auch die von der Reichsbank angebotenen Staatspapiere nicht vom französischen Markt, sondern von der Spekulation aufgenommen wurden und von dieser schon im Oktober-November wieder auf den Markt gebracht würden, blieb der Anleihezwang dennoch unvermindert stark. Obwohl Vysnegradskij die Voraussetzungen für eine neue Anleihe auf dem europäischen Kapitalmarkt dadurch zu verbessern suchte, daß er optimistische Berichte über die Lage der Finanzwirtschaft veröffentlichte und demonstrativ die Mittel für laufende Zins- und Amortisationszahlungen in H ö h e von 20 Mio. Rubel bereits vier Wochen vor Fälligkeitstermin anweisen ließ 31 , scheiterten mehrere Anleiheversuche. Vergeblich waren Anleiheversuche auf dem englischen und holländischen Kapitalmarkt. Auf dem französischen Kapitalmarkt war nicht nur die Lage für eine größere Anleihe ungünstig, sondern 326

das Bankhaus Rothschild nutzte die Zwangslage Vysnegradskijs, um die Beteiligung von Stützungsaktionen zugunsten des russischen Staatskredits von der milderen Handhabung der Judengesetze abhängig zu machen. Ohne die Beteiligung des Bankhauses Rothschild waren die kleineren französischen Banken angesichts der ungünstigen Kapitalmarktlage gezwungen, die ursprünglich für August vorgesehene Emission einer russischen Anleihe auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, obwohl sich die republikanische Presse zugunsten des russischen Staatskredits engagierte. D a die Berliner Banken es erst recht nicht wagten, zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine größere russische Anleihe auf den deutschen Kapitalmarkt zu bringen, war der europäische Kapitalmarkt wie 1886 für Anleihen praktisch blockiert 32 . Die Tatsache, daß trotz dieser Schwierigkeiten die offiziöse deutsche Pressekampagne insgesamt nicht die erwartete durchschlagende Wirkung gehabt hatte, stellte die deutsche Rußlandpolitik vor die Alternative, entweder die Kampagne abzubrechen oder den Finanzkrieg zu verschärfen bzw. ihn zum totalen Wirtschaftskrieg zu erweitern. Eine lebhafte Diskussion löste im Auswärtigen Amt die Stellungnahme des Präsidenten der Reichsbank, Dechend, über die Resultate der Kampagne und die daraus zu ziehenden Schlüsse aus. Allen Gerüchten über die kritische Finanzlage Rußlands zum Trotz konnte nach der Überzeugung Dechends nicht bestritten werden, daß die zaristische Regierung „bis jetzt alle Verpflichtungen rücksichtlich der Schuldpapiere und der von ihr direkt garantierten, in Gold zahlbaren Eisenbahn-Prioritätsobligationen glücklich erfüllt" hatte. Hier lag für Dechend der entscheidende Grund, „warum diese Papiere von unseren Kapitalisten vorzugsweise gern genommen werden und warum alle bisherigen Bemühungen, sie davon abzuhalten, erfolglos geblieben" waren. Nicht einmal die laufenden bzw. zukünftigen Konvertierungen russischer Eisenbahnobligationen konnten nach der dezidierten Ansicht Dechends durch die Pressekampagne blockiert oder gar verhindert werden. Die Fortführung des Kampfes gegen den russischen Kredit sei nur unter der Voraussetzung sinnvoll, „daß die russische Regierung ihren vertragsmäßigen Verpflichtungen nicht nachkommen sollte", und in diesem Falle sei es für die Reichsbank selbstverständlich, „aus eigener Initiative sämtliche russische Papiere vom Lombard der Bank auszuschließen", da sie nur unter der Voraussetzung pünktlicher Zinszahlung zum Lombard zugelassen worden seien. D a aber die russische Regierung genau wußte, daß ihr Kredit dann „vernichtet" sein würde und sich entsprechend vor jedem Schritt hütete, der als Vertragsbruch ausgelegt werden könne, sei es weder sinnvoll, „gegen die russischen Papiere vorzugehen wie bisher", noch schien es erfolgversprechend, „die Maßregeln noch zu verschärfen. Die würden in der Hauptsache nichts ändern und nur böses Blut machen." 3 3 Eine andere Einschätzung der Lage vertrat der Vizepräsident der Reichsbank, Koch. Da das deutsche Publikum immerhin Anzeichen erkennen lasse, sich des Besitzes an russischen Wertpapieren zu entledigen, sei eine „fortgesetzte, tunlichst durch Zahlen unterstützte Zeitungspolemik von halboffiziösem Charakter" ein „gutes Mittel, dem Publikum den Ankauf russischer Papie-

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re zu verleiden und dasselbe ohne zu große Verluste zur allmählichen Abstoßung des bisherigen Vorrats zu bewegen", zumal wenn die Besorgnis vor politischen Verwicklungen wachgehalten würde. Als ergänzende Maßnahmen zur Zeitungskampagne schlug Koch außerdem vor: Die Einstellung der Konversion inländischer Papiere durch die preußische Regierung, weil dadurch die Konversion russischer Papiere erschwert würde, die als „rein finanzieller A k t " zu begründende Verordnung, daß bei Steuerkrediten, Eisenbahnfrachtkautionen und Heiratskautionen von Offizieren russische Papiere nicht mehr als Sicherheit akzeptiert würden, schließlich eine Warnung an die Vormundschaftsgerichte, die in Vormundschaftsmassen befindlichen russischen Papiere zu verkaufen. Vor der Ausschließung russischer Wertpapiere vom Lombard der Reichsbank warnte Koch aber, da dies „als ein Akt direkter Feindseligkeit" aufgefaßt werden müsse34. Eine im Auswärtigen Amt verfaßte Denkschrift über die weitere Art des Vorgehens gegen den russischen Kredit ging in ihren Empfehlungen noch weit über die Vorschläge Kochs hinaus: Fortführung der Pressekampagne, da diese bisher zumindest neue Konversionsoperationen verhindert habe. Entsprechend dem Vorschlag Kochs, die Amtsgerichte anzuweisen, die russischen Wertpapiere aus Mündelanlagen zu verkaufen. Ausschluß der russischen Papiere vom Lombard der Reichsbank und schließlich die Erhöhung der deutschen Getreidezölle, wodurch die Goldquelle des russischen Exports „bis zur H ä l f t e versiegen" könne 35 . Der Vorschlag Dechends hatte von vornherein keine Chance, realisiert zu werden, und zwar weniger, weil Herbert Bismarck unter Berufung auf „den Ausspruch erheblicher Finanziers" und das Gutachten Kochs weit davon entfernt war, die Wirkungslosigkeit der bisherigen Kampagne einzugestehen. Entscheidend war, daß die Beendigung des Finanzkrieges der Bismarckschen Rußlandpolitik das letzte Druckmittel aus der H a n d genommen hätte. Deshalb verwarf Herbert Bismarck entschieden das Votum Dechends, „da jeder Stillstand in der Pressekampagne jetzt und in Z u k u n f t jeden ähnlichen Versuch unmöglich machen, ja vielleicht auch das einzige (friedliche) Mittel, mit dem wir Wirkung auf russische Kreise erzielen können, uns aus der H a n d nehmen würde" 36 . Das Problem war freilich, daß auch Herbert Bismarck nicht bestreiten konnte, wie wenig der Erfolg der Kampagne den Erwartungen entsprochen hatte. Angesichts einer „Börsenströmung, die auf russische Hausse gerichtet" war, gab er bereitwillig zu, daß der erfolgreiche Abschluß der laufenden Konversionsoperationen bei steigenden Kursen die ganze Nutzlosigkeit der bisherigen Kampagne erweisen müsse. N u r gewann Herbert Bismarck im Unterschied zu Dechend dieser Entwicklung einen positiven Aspekt zur Fortführung der Kampagne ab. Denn wenn es nicht die Absicht war, „die russischen Werte jäh zu werfen und so den deutschen Besitzern große Verluste zu bereiten", sondern es nur darauf ankam, „das deutsche Publikum zu jeder Neuaufnahme apathisch zu stimmen und allmählich zu einem Abstoß seines Besitzes zu führen", dann bot eine vorübergehende Steigerung der russischen Wertpapiere ihren Besitzern die Chance, ohne größere Verluste größere Mengen abzustoßen. Ent328

sprechend formulierte Herbert Bismarck Ende September die weitere Zielsetzung der Kampagne gegen den russischen Staatskredit: „bei steigenden Kursen die Verkaufsstimmung zu erhalten und gleichzeitig jede neue Operation zu diskreditieren." 3 7 Solange keine neue Konversions- und Anleiheoperation in Aussicht war, blieb demnach als Nahziel des Kampfes gegen den russischen Staatskredit, die Besitzer russischer Wertpapiere bei steigenden Kursen zum Verkauf anzuregen, indem vor dem Hintergrund der zu erwartenden Hausse an der Berliner Börse die Pressekampagne fortgeführt wurde und die preußischen Behörden indirekt aufgefordert wurden, gleichfalls die in ihrem Besitz befindlichen russischen Wertpapiere zu verkaufen. Entsprechend dem Votum Kochs ergingen die bezüglichen Anweisungen Anfang Oktober 1887, während Bismarck den Vorschlag eines Lombardverbotes noch nicht aufgriff 3 8 . Die Warnungen Dechends und Kochs dürften dabei ebenso eine Rolle gespielt haben wie die Tatsache, daß eine derart einschneidende Maßnahme mit dem verfolgten Nahziel nicht vereinbar war. Auf dieser Stufe konnte der Kampf gegen den russischen Staatskredit aber nicht lange stehenbleiben; denn bereits während der Monate Oktober und N o vember geriet Bismarck unter Zugzwang, der ihn vor die Alternative stellte, den Kampf ganz abzubrechen oder ihn mit den zusätzlichen Mitteln zu führen. Das wurde akut, als sich im Oktober hartnäckig Gerüchte über eine bevorstehende Serie von Konversionsoperationen unter Beteiligung deutscher und f r a n zösischer Bankhäuser hielten und außerdem Meldungen über den bevorstehenden Abschluß russisch-französischer Anleiheverhandlungen eingingen, in denen die Möglichkeit nicht ausgeschlossen wurde, daß die zaristische Regierung sich durch Konzessionen in der Judenfrage die Unterstützung des Hauses Rothschild sichern würde 39 . Eine russische Anleihe in Frankreich und eine Serie erfolgreicher Konversionsoperationen hätte zwar nicht die einseitige Abhängigkeit der russischen Finanzwirtschaft vom deutschen Kapitalmarkt aufgehoben. Aber sie hätten Vysnegradskij zur Verwirklichung seiner finanz- und wirtschaftspolitischen Ziele den dringend benötigten Zeitgewinn verschafft und darüber hinaus eine entscheidende Prämisse des bisherigen Kampfes gegen den russischen Staatskredit: nämlich die Blockade des französischen Kapitalmarktes f ü r russische Staatsanleihen, aufgelöst. Um diese Entwicklung zu verhindern, blieb Bismarck keine Wahl, als den Kampf gegen den russischen Kredit zu verschärfen, ohne freilich schon zum äußersten Mittel, dem Lombardverbot, zu greifen. N u r zögernd ließ er sich von seinem Sohn dazu drängen, Gerüchte über ein Lombardverbot ausländischer Papiere in die offiziöse Presse zu lancieren, um der f ü r Anleihe- und Konversionsoperationen günstigen Haussestimmung entgegenzuwirken 40 . Das Lombardverbot selbst wurde erst konkret ins Auge gefaßt, als sich der Zar nach langem Zögern schließlich doch von Vysnegradskij und den in der Haussespekulation engagierten Petersburger Finanzkreisen dazu drängen ließ, auf der Rückreise von Dänemark in Berlin Zwischenstation zu machen. Im Auswärtigen Amt machte man sich keine Illusionen darüber, daß der Zar hauptsächlich kam, weil er wegen seiner „elenden Fi329

nanzen nicht mehr aus noch ein" wußte und durch seinen Besuch f ü r die bevorstehenden Anleihe- und Konversionsoperationen ein günstiges Börsenklima schaffen wollte 41 . Vor allem Herbert Bismarck war entschlossen, diesen Versuch zunichte zu machen und „dem Zaren durch Keulenschläge seinen Vorteil beizubringen". Mangels Alternative fiel es ihm nicht schwer, seinen Vater dafür zu gewinnen, und acht Tage vor dem Zarenbesuch in Berlin erfolgte die Anweisung an die Reichsbank, „Russen als zu unsicher nicht mehr zu lombardieren" 42 . Nachdem inzwischen auch die Voraussetzungen f ü r eine weitere Erhöhung der deutschen Getreidezölle geschaffen worden waren, erhielt der Zar einen Monat später auch auf der zollpolitischen Ebene den nächsten „Keulenschlag" 43 . D a ß die deutsche Rußlandpolitik mit dem Lombardverbot und der erneuten Erhöhung der Getreidezölle zum offenen Wirtschaftskrieg übergegangen war, kam einem Bankrott der Bismarckschen Diplomatie gleich. Denn jetzt machte sie die Möglichkeit, positiven Einfluß auf die russische Politik auszuüben, bewußt davon abhängig, ob und wie lange Rußland den wirtschaftlichen Druck aushalten konnte. Schon im Frühjahr 1888 zeichnete sich ab, daß der verschärfte Wirtschaftskrieg zumindest in einer Hinsicht sein Ziel nicht erreichen würde, nämlich durch die drastische Erhöhung der deutschen Getreidezölle die Bemühungen Vysnegradskijs um eine durchgreifende Besserung der H a n delsbilanz zunichte zu machen. Als Resultat des verschärften Industrieprotektionismus einerseits und eines durch das überdurchschnittlich gute Ernteergebnis des Jahres 1887 begünstigten Anstiegs des Getreideexportes andererseits Schloß die Handelsbilanz f ü r 1887 gegenüber dem Vorjahr mit einem f ü n f f a chen Uberschuß ab: 1886 = 45, 1887 = 224 Mio. Rubel. Nicht weniger wichtig war die Annahme, daß dieses Ergebnis kein einmaliger Glücksfall bleiben würde. Schon im Frühjahr 1888 setzte bei steigenden Getreidepreisen auf dem europäischen M a r k t ein beschleunigter Anstieg der russischen Getreideausfuhr ein, da die Getreideernte des Vorjahres jetzt in den Handel gebracht wurde 44 . In krassem Gegensatz zu der trotz erhöhter deutscher Getreidezölle günstigen Entwicklung der Handelsbilanz drohten die Auswirkungen der verschärften Pressekampagne und vor allem des Lombardverbotes zunächst verheerende Ausmaße anzunehmen. H a t t e die Ende Juni systematisch eingeleitete Pressekampagne keine durchschlagende Wirkung gehabt, so waren sich jetzt die „Reichsbank" und die „Seehandlung" darin einig, daß das Lombardverbot „neben den durch die Presse verbreiteten Warnungen und beunruhigenden politischen Nachrichten auf den Rückgang des Kurses der russischen Effekten von wesentlichem Einflüsse gewesen" sei. Zwar sei der Kursrückgang während des Zarenbesuches vorübergehend zum Stillstand gekommen, habe sich dann aber bis Ende Februar 1888 stetig fortgesetzt. Darüber hinaus ging die Reichsbank dieses Mal davon aus, daß offensichtlich „die Vorliebe des deutschen Publikums für russische Papiere gänzlich geschwunden" sei, während die „Seehandlung" das Vertrauen in den russischen Staatskredit „wesentlich beeinträchtigt" sah. Tatsächlich wurden vor allem russische Staatsanleihen, bei de330

nen die Kursverluste größer als bei den Eisenbahnprioritäten waren, bis Anf a n g M ä r z 1888 in größeren Mengen vom deutschen K a p i t a l m a r k t abgestoßen 45 . Anders als im J u n i - J u l i standen die Berliner Banken der vom Publikum ausgehenden Panikstimmung so machtlos gegenüber, daß sie erst gar nicht den Versuch unternahmen, durch größere Stützungskäufe am „ R ü s s e n m a r k t " zu intervenieren. Unmittelbare Konsequenzen hatte das vor allem für die St. Petersburger Banken, da ihre noch im September eingegangenen Hausse-Engagements durch die Baisse zerstört wurden. Die besonders hohen Spekulationsverluste der „Russischen Bank für auswärtigen H a n d e l " und der Bankrott des Bankhauses Fehleisen führten im O k t o b e r / N o v e m b e r 1887 in St. Petersburg zum „Börsenkrach". H i n z u k a m die angespannte L a g e auf dem Geldmarkt in St. Petersburg, so daß die Banken nicht in der L a g e waren, einen nennenswerten Teil der vom deutschen K a p i t a l m a r k t abgestoßenen Papiere zu übernehmen. Auch die Mittel der Reichsbank reichten nicht aus, um in größerem Ausmaße kursstützende K ä u f e durchzuführen. Obgleich Vysnegradskij ihr zu diesem besonderen Zweck zusätzliche Mittel anwies, zeigten die Barbestände der Reichsbank seit Februar 1888 einen so starken Rückgang, daß der Zeitpunkt absehbar war, zu dem sie den Ankauf russischer Staatspapiere einstellen mußte 46 . Der D r u c k auf den Staatskredit traf die Finanzverwaltung um so empfindlicher, als sich jetzt das Bismarcksche K a l k ü l bestätigte, daß andere europäische K a p i t a l m ä r k t e nicht disponiert waren, anstelle des deutschen Marktes die Stützungsfunktion des russischen Staatskredits zu übernehmen. Z w a r reagierte die „Niederländische N a t i o n a l b a n k " demonstrativ auf das Lombardverbot der Reichsbank, indem sie ihrerseits russische Wertpapiere zum L o m b a r d zuließ. Aber weder der holländische, noch der englische oder der französische K a p i t a l markt waren zunächst zur Aufnahme der von Berlin abgestoßenen Papiere bereit. Es gelang der russischen Finanzverwaltung zunächst auch nicht, auf dem Wege einer größeren Anleihe ausreichende Mittel für wirksame Stützungsaktionen zu beschaffen. A m Jahresanfang 1888 bemühte sie sich auf dem englischen, belgischen und holländischen M a r k t vergeblich, eine Anleihe zwischen 250 und 600 Mio. Rubel zu kontrahieren 4 7 . Ein französisches Bankenkonsortium (Banque des Paris et des Pays-Bas, Comtoir d'Escompte, Credit Lyonais, Société Générale) zeigte sich z w a r grundsätzlich zur Übernahme einer Anleihe bereit, wagte aber angesichts der noch ungünstigen L a g e auf dem französischen K a p i t a l m a r k t keine Emission ohne das Bankhaus Rothschild, das eine Beteiligung an einer größeren Anleihe strikt ablehnte. Die von der französischen Bankengruppe ins Auge gefaßte Möglichkeit, die Anleihe auf dem französischen und englischen K a p i t a l m a r k t unterzubringen, wurde v o m englischen Zweig der Rothschilds und der englischen Regierung blockiert 4 8 . Es versteht sich von selbst, daß die gescheiterten Anleiheversuche von der offiziösen deutschen Presse weidlich ausgeschlachtet wurden 4 9 . Der D r u c k auf den russischen Staatskredit wirkte wiederum unmittelbar auf die Devisenbörsen zurück. Gerade jetzt bestätigte sich eindrucksvoll, wie stark 331

der Rubelkurs von den Effektenbörsen bestimmt wurde. Denn ungeachtet einer sich günstig entwickelnden Handelsbilanz setzte im November an der Berliner und der St. Petersburger Devisenbörse ein erneuter Rückgang des Rubelkurses ein, und während der ersten Monate 1888 nahm die Valuta-Baisse „ganz unerhörte Proportionen" an. Der Dreimonatskurs in Berlin, der im Juli-Oktober 1887 noch einen geringfügigen Anstieg von 179 auf 181 verzeichnet hatte, sackte im Januar 1888 auf 175 und im Februar auf 167 Mark/100 Rubel ab. Pläne Vysnegradskijs, durch Einführung der „fakultativen Goldwährung" im inneren Zahlungsverkehr dem Druck auf den Rubelkurs zu begegnen, lösten sofort Spekulationen über eine bevorstehende Abwertung aus, was wiederum den Druck auf den Rubelkurs verstärkte 50 . Gerade der indirekte Druck, den die Kampagne gegen den russischen Staatskredit auf den Rubelkurs ausübte, traf die Finanzverwaltung besonders empfindlich. Denn der anhaltende Rückgang des Rubelkurses machte positive Rückwirkungen einer sich günstig entwickelnden Handelsbilanz zunichte, er trieb die laufenden Zahlungen f ü r das „Kreditwesen" auch ohne die Aufnahme neuer Anleihen in die Höhe, verminderte den Exporterlös und die Einnahmen aus den Zöllen und machte jede Budgetplanung von vornherein illusorisch. Im Frühjahr 1888 näherte sich die Finanz Verwaltung dennoch nur scheinbar dem Punkt, an dem sie entweder den Staatsbankrott erklären oder um jeden Preis die Beendigung der Bismarckschen Kampagne erreichen mußte 51 . Denn inzwischen zeigten sich erste Erfolge des Versuchs, auch ohne Konzessionen den finanziellen Würgegriff zu lockern. Diese Absicht verrieten zunächst die in Berlin mißtrauisch beobachteten „Budgetspiegelfechtereien". Auf dem Höhepunkt des ökonomischen Konflikts legte Vysnegradskij trotz der unsicheren Kalkulationsgrundlage ein Budget für 1888 vor, das außer drastischen Kürzungen im außerordentlichen Etat (um 14,2 Mio. Rubel gegenüber dem Vorjahr), Mehreinnahmen von 58,5 Mio. und Mehrausgaben von nur 20,9 Mio. Rubel, im ordentlichen Etat zum ersten Mal seit vielen Jahren einen Einnahmeüberschuß in H ö h e von 6 Mio. Rubel auswies. Verstärkt wurde die Wirkung dieses günstigen Budgets durch die erklärte Absicht, das verbleibende Defizit im außerordentlichen Etat auf keinen Fall durch Kredit- und Anleiheoperationen, sondern durch Rücklagen aus der inneren Anleihe vom April 1887 zu decken. Kurz darauf verstärkte Vysnegradskij den Eindruck einer günstigen Haushaltsentwicklung, indem er für 1887 einen vorläufigen Rechnungsabschluß vorlegte, der gegenüber dem Budget für 1886 eine Steigerung der tatsächlichen Einnahmen um ca. 74 Mio. Rubel, d. h. ca. 10% aufwies und statt des im Voranschlag berechneten Defizits im ordentlichen Haushalt von ca. 36 Mio. Rubel nur mit einem Defizit von 6 Mio. Rubel abschloß 52 . Wenn auch Vysnegradskij nicht darüber hinwegtäuschen konnte, daß den Bemühungen um eine wirklich durchgreifende Sanierung der russischen Finanzwirtschaft schon wegen des „bedenklichen Zustandes" der Landwirtschaft - symptomatisch war der Rückgang der Einnahmen aus den direkten Steuern um 15% - deutliche Grenzen gesetzt waren 53 , so waren doch andererseits seine Bemühungen durch 332

eine restriktive Ausgabenpolitik, eine rigorose Steuereintreibung und die konsequente Ausnutzung der noch verbliebenen Spielräume zur Steigerung der Einnahmen aus den indirekten Steuern das Budgetgleichgewicht wieder herzustellen, erfolgversprechend genug, um die pessimistischen Prognosen in der offiziösen deutschen Presse als unglaubwürdig erscheinen zu lassen. In dieser Hinsicht kam Vysnegradskij vor allem zugute, daß nicht nur 1887 ein gutes Erntejahr gewesen war und im Frühjahr 1888 die Ernteaussichten wiederum günstig schienen, sondern daß als Folge sowohl der jüngsten Zollerhöhungen und der guten Ernteergebnisse als auch der internationalen Konjunkturbelebung deutliche Anzeichen eines industriellen Aufschwungs erkennbar waren. Insofern gab es gute Chancen, daß das Budget für 1888 tatsächlich auch realisiert werden konnte 54 . Die erste positive Rückwirkung dieser optimistischen Einschätzung zeigte sich im März, als der Rückgang des Rubelkurses zum Stillstand kam. Seitdem verloren das Lombardverbot und die Kampagne der offiziösen deutschen Presse sehr schnell ihren bestimmenden Einfluß auf die Rubelkursentwicklung an den Devisenbörsen. Als im April ein erneuter Anstieg der russischen Getreideausfuhr einsetzte, konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, daß nicht mehr die Effektenbörsen, sondern die günstige Handelsbilanzentwicklung und die Aussichten auf eine baldige Besserung in der allgemeinen Lage der Finanzwirtschaft die Entwicklung an der Berliner Rubelbörse bestimmt würde. Nach einem noch zögernden Anstieg im April erreichte der Rubelkurs im Juni bereits fast den Jahreshöchststand von 1887, im August überstieg er den Höchststand von 1886 und im September den von 1885s5. Diese erfolgversprechenden Bemühungen Vysnegradskijs um die Beseitigung des Defizits im Staatshaushalt und um die Besserung der Zahlungsbilanz sowie die Erwartung eines industriellen Aufschwungs und einer guten Ernte begünstigten wiederum den Versuch, die „der Börse nahestehende Presse, namentlich in Paris und London, für russische Werte zu erwärmen", um von dort aus eine internationale Haussebewegung einzuleiten. Ein Erfolg zeichnete sich schon Anfang März ab. Denn während vom deutschen Kapitalmarkt noch russische Wertpapiere abgestoßen wurden, setzte ein „sehr umfangreicher Arbitrageverkehr nach Paris" ein, dessen Wirkung in dem Abfluß russischer Staatspapiere an die Pariser Börse bei steigenden Kursen zutage trat 5 '. Von Paris aus griff die Haussebewegung in russischen Staatspapieren Mitte März 1888 auf die Berliner Börse über, zumal die Deutsche Bank, die Diskonto-Gesellschaft und Bleichröder umfangreiche Spekulationskäufe vornahmen. Begleitet von einer Kampagne in der Berliner Börsenpresse, die im Gegensatz zur offiziösen Presse die weitere Entwicklung der russischen Finanzwirtschaft günstig bewertete, trugen vor allem die Aufkäufe Bleichröders dazu bei, daß auch in Berlin die Baissestimmung bei russischen Wertpapieren überwunden wurde 57 . Im Auswärtigen Amt reagierte man schon am Jahresanfang überempfindlich auf die geringsten Anzeichen, die darauf hindeuteten, daß sich Vysnegradskij erfolgreich dem deutschen Druck würde entziehen können. Im Januar reichten Gerüchte über die russischen Anleiheversuche auf den europäischen Kapital333

märkten aus, um in Berlin die Frage eines „weiteren Vorgehens gegen russische Werte" als dringlich erscheinen zu lassen. Dabei stellte sich jedoch heraus, daß die Möglichkeiten, durch eine Verschärfung des Finanzkrieges „das Zustandekommen neuer russischer Anleihen im Ausland" zu verhindern oder zu erschweren, äußerst begrenzt waren. Die Fortführung allein der Pressekampagne wurde von vornherein als unzureichend angesehen. Nachdem das Lombardverbot offenbar seine Wirkung einzubüßen begann, kam zwar zur Unterstützung der Pressekampagne noch in Betracht, die Zulassung russischer Wertpapiere an der Berliner Börse einzuschränken. Aber das hätte einen Eingriff in die gesetzlich abgesicherte Autonomie der Börse vorausgesetzt, der sich kaum in die Praxis umsetzen ließ 58 . Ende April führte daher nichts mehr an der Einsicht vorbei, daß die Finanzkampagne gescheitert war. Finanzminister Scholz konnte nur noch „mit Sorge" registrieren, daß „in den letzten Wochen die russischen Werte fortdauernd gestiegen" seien und vielleicht schon bald „die Versuche der russischen Regierung zur Kontrahierung einer größeren Anleihe endlich von Erfolg begleitet" sein würden. D a ß die Wirkung des Lombardverbotes nachließ, konnte er ebensowenig bestreiten wie die Tatsache, daß es „an wirksamen Mitteln zur Niederhaltung der russischen Effekten" fehlte. Man konnte vielleicht noch die in Geschäftsverbindung mit der Seehandlung stehenden Berliner Banken unter Androhung von Sanktionen darauf hinweisen, „daß aus finanziellen und politischen Gründen das Steigen der russischen Werte verhindert werden müsse", aber die Anwendung solchen Drucks erschien Scholz als äußerst fragwürdig, zumal auch die Reichsbank ganz offensichtlich die Fortführung der Kampagne gegen den russischen Staatskredit f ü r zwecklos hielt 58 . Außer dem Bewußtsein, Rußland finanziell geschwächt und neue Konversionsund Anleiheoperationen eine Zeitlang blockiert zu haben, blieb nur noch die H o f f n u n g übrig, daß das deutsche Publikum infolge offiziöser Warnungen den Verkauf russischer Staatspapiere fortsetzen würde, die Berliner Banken vor der Durchführung größerer Anleihe- und Konversionsoperationen zurückschrecken und sich vor allem die erneut auftauchenden Gerüchte über Anleiheverhandlungen der russischen Regierung mit der Rothschildgruppe bzw. Bleichröder auch dieses Mal wieder als Luftblase erweisen würden 60 . Bis zum Sommer 1888 entsprach die tatsächliche Entwicklung auf dem europäischen Kapitalmarkt diesen Erwartungen. Berliner Banken waren zwar bereit, die vom Publikum bei steigenden Kursen abgestoßenen russischen Staatspapiere in ihre Portefeuilles zu übernehmen und im Auftrage des russischen Finanzministeriums Stützungskäufe an der Rubelbörse durchzuführen, schreckten aber aus Furcht vor einer erneuten Verschärfung der offiziösen Kampagne vor weiteren Konversions- und Anleiheoperationen zurück. Auf der anderen Seite wagten die französischen Banken es angesichts der unsicheren Lage auf dem französischen Kapitalmarkt noch nicht, ohne das Bankhaus Rothschild eine russische Anleihe zu übernehmen 61 . Die Situation änderte sich aber sehr schnell, als die günstigen Ernteergebnisse bekannt wurden, die bisherige Einnahmeentwicklung einen günstigen Budgetabschluß f ü r 1888 erwarten ließ und im Au334

gust der neue deutsche Kaiser nach St. Petersburg reiste. Während Vysnegradskij die scheinbar günstige Entwicklung zur Durchführung einer größeren Konversionsoperation nutzen wollte, setzte ein regelrechter Wettlauf zwischen französischen und deutschen Banken um dieses Geschäft ein. Schon im Juli-August leiteten deutsche und französische Banken an der Berliner und Pariser Effektenbörse eine Haussebewegung ein, um das Terrain für eine größere Operation vorzubereiten 62 . Die Verhandlungen französischer und deutscher Bankhäuser in Petersburg über eine größere Anleiheoperation machten das Interesse aller Beteiligten deutlich, die Risiken auf eine möglichst große Zahl europäischer Banken zu verteilen. Denn da sich das Bankhaus Rothschild zurückhielt, legten die französischen Banken Wert auf eine deutsche Beteiligung, die deutschen Banken hatten ein Interesse daran, die Anleiheoperation gegen das Risiko einer erneuten offiziösen Gegenkampagne abzusichern, während Vysnegradskij es f ü r möglich hielt, die Anleihe auch ohne die Rothschildgruppe auf den europäischen Kapitalmarkt zu piazieren 63 . Bevor führende Berliner Banken in Petersburg feste Abmachungen trafen, versuchten sie sich der wohlwollenden Haltung Bismarcks zu versichern. Mit dem Argument, daß es aus politischen Gründen vorteilhaft sei, durch eine Vergrößerung des französischen Besitzes an russischen Wertpapieren Frankreich für eine friedliche russische Außenpolitik zu interessieren und die „Last der Gläubigerschaft zwischen Deutschland und Frankreich etwas zu teilen", stieß Hansemann von der Diskonto-Gesellschaft noch im September im Auswärtigen Amt auf reservierte Zurückhaltung 6 4 . Um sich aber in Petersburg nicht von französischen Banken aus dem Geschäft mit russischen Anleihen verdrängen zu lassen, beteiligten sich dennoch Berliner Banken an einem internationalen Bankenkonsortium, das unter Führung der „Banque de Paris et Pays-Bas" die Konversion der 5%igen Anleihe von 1877 übernahm. Noch im November 1888 wurde die Konversionsoperation mit der Emission der 4% igen Goldanleihe eingeleitet und am 10. Dezember abgeschlossen 65 . Obgleich diese erste große Konversionsoperation wie eine Bestätigung des Vertrauens in den russischen Staatskredit wirken mußte, falls sie erfolgreich abgeschlossen werden konnte, verzichtete Bismarck darauf, sie durch eine Verschärfung der offiziösen Pressekampagne zu stören. Das bedeutete freilich nicht, daß er sein Ziel, die zaristische Regierung ihre große Abhängigkeit vom deutschen Kapitalmarkt spüren zu lassen, aufgegeben hätte. Vielmehr rechnete er damit, daß auch ohne die Verschärfung der Pressekampagne infolge der Konversionsoperationen „ein bedeutender Abfluß von russischen Werten nach dem Auslande stattfinden werde, indem die Herabsetzung des Zinsfußes die wegen der H ö h e desselben im deutschen Publikum vorhanden gewesene Vorliebe für russische Anlagen vermindern und gleichzeitig das Steigen der russischen Valuta den Verkauf der russischen Papiere erleichtern werde" 66 . Bei diesen Überlegungen ging Bismarck außerdem davon aus, daß der französische Kapitalmarkt nicht disponiert war, eine niedrigverzinsliche Anleihe in einer Größenordnung von 500 Mio. frs nominal zu übernehmen, zumal sich das Bankhaus 335

Rothschild an dieser Konversionsoperation nicht beteiligte. Unter der Voraussetzung, daß die deutschen Besitzer russischer Wertpapiere die Annahme der 4% igen Anleihe verweigerten, hätte sich die Konversionsoperation leicht als ein Fehlschlag erweisen können. In einer Hinsicht ging das Bismarcksche Kalkül tatsächlich auf, denn der deutsche Kapitalmarkt nahm die 4%ige Anleihe nicht in dem von der russischen Finanzverwaltung und den Berliner Banken erwarteten Maße auf. Insgesamt wurden nur 46% des umlaufenden Nominalbetrages der 5%igen Anleihe von 1877 zur Konversion angemeldet, d . h . mehr als die H ä l f t e mußte gegen Barzahlung zurückgenommen werden. Allein das deutsche Publikum stieß Obligationen der Anleihe von 1877 in H ö h e von ca. 100 Mio. Mark ab. Im Gegensatz dazu zeigte sich, daß Bismarck die Lage auf dem französischen Kapitalmarkt falsch eingeschätzt hatte, denn die neue 4 % ige Anleihe wurde hier gleich mehrfach überzeichnet". Die H a l t u n g des französischen Kapitalmarktes war für Vysnegradskij Grund genug, um gleich eine ganze Serie weiterer Konversionsoperationen vorzubereiten. Spektakuläre Veröffentlichungen über die günstige Entwicklung der russischen Finanzwirtschaft während des Jahres 1888 sollten d a f ü r ein günstiges Klima schaffen. In der europäischen Finanzwelt wurde es als Sensation empfunden, daß die Handelsbilanz f ü r 1888 mit einem Rekordüberschuß von 393 Mio. Rubel (1886 = 45, 1887 = 224) abschloß und der Budgetabschluß f ü r 1888 trotz einer über den Voranschlag hinausgehenden Steigerung der ordentlichen Ausgaben einen Überschuß von 0,5 Mio. Rubel aufwies. Auch der Budgetanschlag für 1889 zielte nicht zuletzt darauf ab, ein günstiges Klima f ü r neue Konversionsoperationen zu schaffen. Trotz einer Ausgabensteigerung im ordentlichen Etat wies er einen Überschuß von 4,4 Mio. Rubel aus, während die Deckung der Ausgaben im außerordentlichen Etat ohne die Aufnahme einer neuen Anleihe in Aussicht gestellt wurde 68 . In den Kommentaren von Schweinitz und Lamezan spiegelt sich der Eindruck wider, den diese „Budgetspiegelfechtereien" Vysnegradskijs machten. Die günstige Finanzentwicklung seit dem Amtsantritt Vysnegradskijs sei nicht nur durch den außerordentlichen „Glücksfall" von zwei aufeinanderfolgenden guten Ernten, sondern durch die unbestreitbare „Geschicklichkeit" möglich geworden, mit der Vysnegradskij die „berechenbaren Chancen" zur Verwirklichung seiner finanzpolitischen Ziele genutzt habe 69 . Angesichts der unbestreitbaren Erfolge der Finanzpolitik Vysnegradskijs schien der Erfolg neuer Konversionsoperationen gesichert, obwohl der französische Kapitalmarkt im Frühjahr erneut durch eine Bankenkrise und den Kupferkrach verunsichert wurde und die kleineren Berliner Bankhäuser (Berliner Handels-Gesellschaft, Warschauer und Mendelssohn) nach den Erfahrungen mit der ersten großen Konversionsoperation ihre Mitarbeit bei weiteren Operationen verweigerten. Denn an den neuen Konversionsoperationen beteiligten sich Bleichröder, die Diskonto-Gesellschaft und das Bankhaus Rothschild, weil sie das Geschäft nicht anderen Banken überlassen wollten 70 . Die Beteiligung Bleichröders und vor allem des französischen Bankhauses Rothschild kam f ü r Bismarck überraschend. H a t t e er noch im September 1888 336

Gerüchte über Anleiheverhandlungen Rothschilds in Petersburg als bloße Spekulation zurückgewiesen, so reagierte er im Februar 1889 auf die Nachricht von der Beteiligung Rothschilds an der neuen Konversionsoperation mit der Feststellung: „Der hat nie einen Pfennig für Rußland gezeichnet! Das ist sehr bemerkenswert und bedenklich." 71 Im Februar 1889 schien der Erfolg der bevorstehenden Konversionsoperation bereits soweit gesichert zu sein, daß das „Berliner Tageblatt" sich der „peinlichen Wahrnehmung" nicht entziehen konnte, in dem Bismarckschen Krieg gegen die russischen Finanzen sei Vysnegradskij als Sieger hervorgegangen. Da die Ö f f n u n g des französischen Kapitalmarktes f ü r den russischen Staatskredit nicht zu verhindern war, konnte Bismarck nur noch die bevorstehenden Konversionsoperationen abwarten und im übrigen hoffen, „daß die Deutschen Gelegenheit finden, sich zu guten Preisen ihrer russischen Papiere zu entäußern" 7 2 . Tatsächlich wurde aber die im März eingeleitete Konversion der 5% igen Anleihen von 1870, 1872, 1873 und 1884 für die russische Finanzverwaltung ein durchschlagender Erfolg. Bei steigendem Kurs konnte noch im selben Monat die Emission der ersten Serie der zu diesem Zweck aufgenommenen 4% igen Eisenbahnobligationen von nominal 700 Mio. frs abgeschlossen werden. Ermutigt durch dieses „außerordentlich günstige Ergebnis" wagte Vysnegradskij bereits im Mai die Emission der zweiten Serie in H ö h e von nominal ca. 1,2 Mrd. frs. Auch diese Operation wurde im Mai erfolgreich abgeschlossen 73 . Als Folge der drei großen Konversionsoperationen zwischen Dezember 1888 und Mai 1889 hatte sich nicht nur die russische Staatsschuld um ca. 300 Mio. frs vermehrt, sondern der größte Teil der neu emittierten 4% igen Anleihen von ca. 2,3 Mrd. frs war vom französischen Kapitalmarkt aufgenommen worden 74 . Die sich damit abzeichnende „Verlegung des Schwerpunktes der russischen Finanzen von Deutschland nach Frankreich" war für die russische Finanzverwaltung mit dem Vorteil einer jährlichen Budgetersparnis von ca. 15 Mio. frs (3,75 Mio. Rubel) verbunden 75 . H a t t e Bismarck schon die erfolgreiche Konversion des größten Teils der 5% igen russischen Staatsschuld nicht verhindern können, so zeichnete sich nach dem erfolgreichen Abschluß der großen Konversionsoperation seit Anfang Juni 1889 ab, daß die Pariser Spekulation große Mengen der spekulativ übernommenen Papiere, die auf dem gesättigten französischen M a r k t nicht untergebracht werden konnten, an die Berliner Börse abzugeben suchte 76 . Damit bot sich Bismarck noch einmal die Chance, die russische Finanzwirtschaft empfindlich zu schädigen, indem er das Zurückströmen der russischen Papiere nach Deutschland „so weit wie möglich" verhinderte. Rechtzeitig genug, um das deutsche Publikum zu ermuntern, aus Anlaß der bevorstehenden neuen Konversionsoperation seinen Besitz an russischen Wertpapieren abzustoßen und Konversionsserien 5%iger Eisenbahnprioritäten zuvorzukommen, ließ Bismarck am 12./13. Juni 1889 in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung", in der „Kölnischen Zeitung" und in der „Wiener Presse" eine heftige Kampagne gegen den russischen Kredit inszenieren, die in den folgenden Tagen von 22

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anderen Blättern aufgenommen und wochenlang fortgesetzt wurde 77 . Die Erfolgschancen waren dieses Mal nicht ungünstig, weil die neuen 4%igen Anleihen eine geringere Attraktivität für das deutsche Publikum besaßen und außerdem schlechte Ernteaussichten eine ungünstige Entwicklung der russischen Finanzwirtschaft im Jahre 1890 erwarten ließen 78 . Dennoch löste die heftige Kampagne nur vorübergehend einen Kursrückgang bei russischen Papieren an der Berliner und der Pariser Börse aus, der schon bald von einer Haussebewegung abgelöst wurde. Anstelle von italienischen Staatspapieren, die in größeren Mengen abgestoßen wurden, nahm der französische Kapitalmarkt bei steigenden Kursen während der zweiten Jahreshälfte 1889 erneut russische Staatspapiere auf. In seinem Budgetbericht für 1890 konnte Vysnegradskij auf die „erfolgreich durchgeführten Konversionen und Operationen" hinweisen, die dem russischen Staatskredit „die reichen Quellen des französischen Marktes erschlossen" und zum Anstieg der russischen Wertpapiere über den Paristand geführt hatten 79 .

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7. Die Transformation der internationalen Konstellation zwischen Hegemonialkrise und russisch-französischer Annäherung 7.1 Politische und militärische Konsequenzen der Politik der ökonomischen Sanktionen Sowohl starker innenpolitischer Druck als auch die Aussicht, nur noch durch massive finanzielle und ökonomische Sanktionen Einfluß auf die ins antideutsche Fahrwasser treibende russische Politik ausüben zu können, hatten Bismarck dazu veranlaßt, unmittelbar nach Abschluß des „Rückversicherungsvertrages" den systematischen Finanz- und Wirtschaftskrieg zu eröffnen und ihn Schritt für Schritt zu verschärfen. Die Tatsache, daß Rußland dennoch finanziell nicht „kleinzukriegen" war und sich die russische Finanz- und Wirtschaftslage im Vergleich zu der prekären Situation beim Amtsantritt Vysnegradskijs drei Jahre später als geradezu glänzend darstellte, konnte daher nicht ohne einschneidende Rückwirkungen auf die Voraussetzungen und Ziele der deutschen Rußlandpolitik bleiben. Diese Problematik läßt sich wiederum nicht losgelöst von der Frage behandeln, welche innen- und außenpolitischen Konsequenzen die russische Regierung aus der Erfahrung zog, daß sie systematisch bis an den Rand des Staatsbankrotts getrieben werden sollte und sich dieser Gefahr nur in einem zäh dahinziehenden Finanz- und Wirtschaftskrieg entziehen konnte. Es liegt nahe, unter diesem doppelten Aspekt einmal die Auseinandersetzungen innerhalb der militärischen und politischen Führung des Reiches um die Strategien und Ziele der zukünftigen deutschen Rußlandpolitik zu verfolgen, zum anderen die Spielräume zu bestimmen, innerhalb derer die russische Außenpolitik von außen beeinflußt werden konnte, sei es von deutscher, sei es von französischer Seite. Im Anschluß an die zentralen Prämissen des Bismarckschen Finanz- und Wirtschaftskrieges soll dabei zwei Fragen nachgegangen werden: War die Politik der ökonomischen Sanktionen ein tauglicher Versuch, 1. die Gefahr eines Zweifrontenkrieges kurz- oder langfristig zu verhindern oder gar die hegemoniale Rolle des Deutschen Reiches in der europäischen Politik zu sichern, 2. die Umorientierung der russischen Außenpolitik in Richtung auf eine russisch-französische Allianz zu verhindern. Der Bismarcksche Finanz- und Wirtschaftskrieg war darauf angelegt, die ohnehin kritische Finanz- und Wirtschaftslage Rußlands zu verschärfen und die agrarisch-industriellen Stützen der Autokratie zu zwingen, entweder die 22»

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Verständigung mit dem Deutschen Reich zu suchen oder in dem durch das Zusatzabkommen des Rückversicherungsvertrages abgesteckten Rahmen Diversionspolitik nach außen zu betreiben. In beiden Fällen wäre die Gefahr, daß das Reich schon in naher Zukunft in einen europäischen Krieg verwickelt wurde bzw. seine hegemoniale Rolle in der europäischen Politik einbüßte, erheblich vermindert worden. Die russischen Reaktionen entsprachen aber keineswegs diesen Erwartungen, sondern sie ließen es als geradezu unvermeidlich erscheinen, daß die Politik der ökonomischen Sanktionen die Entwicklung auf einen großen europäischen Krieg hin beschleunigte. Nachdem schon die Ende Juni 1887 einsetzende Kampagne der offiziösen deutschen Presse den antideutschen Ressentiments des russischen Nationalismus neuen Auftrieb gegeben hatte, sprachen auf dem Höhepunkt des deutschen Finanz- und Wirtschaftskrieges alle Berichte aus St. Petersburg übereinstimmend von dem „Haß, der die weitesten Kreise in Rußland gegen Deutschland" erfaßt hatte. Anstelle Österreichs sei das Deutsche Reich endgültig zum „Hauptobjekt aller gärenden bösen Instinkte und Absichten" geworden. Sogar in den bisher immer auf Ausgleich mit dem Deutschen Reich bedachten St. Petersburger Finanzkreisen, wo das Lombardverbot zunächst „weniger aufreizend als abschreckend und niederschlagend" gewirkt hatte, schlug die Stimmung bald scharf um 1 . Der Zar selber half sich in seiner „großen Ruhe" zwar über den „beleidigenden Zwischenfall mit einem russischen Schimpfwort hinweg", und während der Unterredung mit Bismarck, in der ihm an „vérités désagréables" auch „nichts geschenkt" wurde, ließ er sich nicht aus der Fassung bringen, aber die persönliche Kränkung wirkte tief. Der exponiert deutschfreundliche Giers zeigte sich von der Art, in der der Zar in Berlin behandelt wurde, tief betroffen: „Wir alle . . . hier in Rußland waren durch das Vorgehen des Reichskanzlers tief verletzt, die Saat der Zwietracht war gesät." 2 Seit der systematischen Eröffnung des Finanzkrieges stieg zwar die Wahrscheinlichkeit, daß der Zar unter dem wachsenden innenpolitischen Druck zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele auch vor einem militärischen Engagement nicht mehr zurückschrecken würde, aber bis zum Herbst deutete nichts darauf hin, daß eine der Zweibundmächte zum russischen Angriffsobjekt würde. Das änderte sich schlagartig, als auf dem Höhepunkt des deutschen Finanzkrieges nicht nur die allgemeine Verbitterung über die deutsche Politik wuchs, sondern jetzt auch „plötzliche Rüstungen" einsetzten. Hatte sich nach dem Urteil Moltkes die russische Militärpolitik bisher auf solche Maßnahmen beschränkt, „wie sie von einer fürsorglichen Heeresverwaltung zur Sicherheit des Landes und zu einer für alle Fälle gebotenen Bereitschaft" durchgeführt werden mußten, so erschienen ihm Ende November aufgrund der „in den letzten Wochen bekanntgewordenen Vorgänge" sowohl die bisherigen als auch die neuen Maßnahmen „in einem anderen Lichte". „Vom militärischen Standpunkt aus" gab es für Moltke „keinen Zweifel, daß Rußland unmittelbar zum Kriege rüstete und durch eine allmählich fortschreitende bzw. ruckweise Mobilmachung den Aufmarsch seiner Armee" vorbereitete. Diese Einschätzung stützte 340

sich auf Informationen des Militârattachés Yorck v. Wartenburg, daß die russische Militärpolitik in das „Stadium der planmäßigen Kriegsvorbereitung" eingetreten sei. Nachdem die Armee reorganisiert und der Kriegsschauplatz fortifikatorisch eingerichtet worden sei, lasse man nun die „reorganisierte Armee auf diesem vorbereiteten Kriegsschauplatz aufmarschieren" 8 . Die Frage war nur, gegen wen sich diese Maßnahmen richteten. Anders als 1876/77 deutete nichts darauf hin, daß sie im Zusammenhang planmäßiger Vorbereitungen eines Balkanfeldzuges standen. „Im Rahmen der augenblicklichen Gesamtlage" war es andererseits auch unwahrscheinlich, daß ein Krieg gegen Deutschland vorbereitet wurde. Gemeinsam mit Waldersee und Yorck kam Moltke daher zu der Überzeugung, daß die russische Militärführung mit Zustimmung des Zaren Vorbereitungen für einen Krieg gegen Österreich-Ungarn im Frühjahr 1888 traf, und zwar in der Erwartung, „daß Deutschland ihn vielleicht zulassen", würde. Die russischen Absichten wurden dahingehend interpretiert, ÖsterreichUngarn zum Angriff zu provozieren, um sich der deutschen Neutralität zu versichern und falls diese Rechnung nicht aufging, das militärisch schwache Österreich „mit Überlegenheit anzufallen", gleichzeitig jedoch durch starke Truppenaufstellungen am rechten Weichselufer die deutsche Politik vor die Wahl zu stellen, sich einer Intervention zugunsten Österreichs zu enthalten oder unter militärisch ungünstigen Ausgangsbedingungen den Zweifrontenkrieg zu riskieren 4 . Diese Überlegungen konnten sich auf konkrete Anzeichen stützen. In Armeekreisen, wo eine große Furcht vor der deutschen Militärmacht herrschte, war ein Krieg gegen das militärisch schwache Österreich populär 5 . Das Verhalten des Zaren und der Diplomatie deutete darauf hin, daß auch „das offizielle Rußland, um seinen selbstverschuldeten inneren und äußeren Schwierigkeiten zu entgehen . . . Händel mit Österreich suchte oder wenigstens Österreich einschüchtern" wollte. Auffällig war, daß der Zar schon während seines Berlinbesuches behauptet hatte, gegen Deutschland angeblich „nichts, gegen Österreich aber so viel zu haben", was nach Meinung Waldersees nur als Appell verstanden werden konnte, einem russisch-österreichischen Krieg zuzusehen 8 . N a c h der Rückkehr des Zaren ließen „Zeitungsangriffe gegen Österreich" in den von der Regierung unmittelbar beeinflußten Presseorganen die Absicht erkennen, die innere Kriegsbereitschaft f ü r den Krieg gegen Österreich zu fördern, während die offizielle russische Diplomatie darauf hinarbeitete, „den Krieg gegen Österreich auf ein Terrain zu verlegen, wo dasselbe ohne deutsche Unterstützung fechten mußte" 7 . Die durch den Bismarckschen Finanzkrieg provozierte Gefahr eines russischösterreichischen Krieges schon im Frühjahr 1888 brachte die deutsche Militärpolitik, die ihre Bündnisverpflichtungen ernst nahm, in Zugzwang, und zwar unabhängig davon, von welcher Seite der Angriff ausgehen würde. In jedem Fall stand die Existenz des militärisch den russischen Armeen nicht gewachsenen Österreich-Ungarn auf dem Spiel. Aus militärischer Perspektive war es konsequent, wenn der preußische Generalstab darauf drängte, durch einen noch im Winter 1887/88 zu führenden Präventivkrieg der Zweibundmächte 341

gegen Rußland die militärische Initiative an sich zu reißen, ehe der Aufmarsch der russischen Armeen abgeschlossen worden war. Die Energie, mit der die militärische Führung auf den Präventivkrieg drängte, machte zudem deutlich, wie wenig der Bismarckscheri Diplomatie noch zugetraut wurde, den Krieg zu verhindern 8 . Tatsächlich konnte Bismarck den Präventivkriegsbefürwortern letztlich nur die Überzeugung entgegensetzen, daß Österreich bei entsprechendem deutschen Druck sich nicht provozieren lassen würde, während andererseits der Zar sich über die deutsch-österreichischen Beistandverpflichtungen keine Illusion machte und deshalb vor einem Angriff auf Österreich zurückschrecken würde 9 . Aber selbst dieses Argument war nicht überzeugend in einer Situation, in der Alexander III. unter wachsendem finanziellen und wirtschaftlichen Druck ständig der Versuchung ausgesetzt war, auch gegen außenpolitische Bedenken in einem populären Krieg einen Ausweg aus den inneren Schwierigkeiten zu suchen. Um die präventivkriegsfreundigen Militärs zu besänftigen, mußte Bismarck die Sicherungen verstärken, damit der russische Angriff auf Österreich überhaupt unterblieb. Kurzfristig gab es dabei zum Präventivkrieg keine Alternative, als den Finanz- und Wirtschaftskrieg durch eine Politik der massiven militärischen Abschreckung zu verschärfen und zu erweitern: Die offiziöse deutsche Presse kündigte drohend an, daß ein neu entwikkeltes Infanteriegewehr dem Deutschen Reich „für eine Reihe von Jahren vor allen übrigen Völkern eine ungeheure Überlegenheit sichern" werde 10 . Nachdem der Reichstag erst im Frühjahr mit dem dritten Septennat einer drastischen Steigerung des deutschen Militärpotentials zugestimmt hatte, wurde ihm am 9. Dezember des Wehrpflichtänderungsgesetz vorgelegt, das - so die Begründung - den Zweck verfolgte, „die Zahl der Streiter unserer Kriegsmacht beträchtlich zu vermehren" 11 . Am 3. Februar erregte die gleichzeitige Veröffentlichung des deutsch-österreichischen Zweibundes in Berlin, Wien und Budapest großes Aufsehen. Drei Tage später hielt Bismarck zur Verteidigung der neuen Wehrvorlage eine zweistündige Reichstagsrede, nach der in Berlin eine Stimmung herrschte, „als sei der Krieg erklärt" 1 2 . Am 8. Februar nahm der Reichstag „unbesehen" die neue Vorlage an und stimmte darüber hinaus am 10. Februar einer Anleihe zur Finanzierung der dadurch verursachten Mehrausgaben in H ö h e von ca. 300 Mio. Mark zu 13 . In St. Petersburg zeigten die Einschüchterungsversuche die erhoffte Wirkung. „Wenn wir hier die Bestgehaßten sind, so sind wir Gott sei Dank auch die Bestgefürchteten", meldete Bülow. Die „kolossale Rede" vom 6. Februar 1888, in der Bismarck die Entschlossenheit der politischen und militärischen Führung zum Ausdruck brachte, sich durch die Drohung mit dem Zweifrontenkrieg nicht einschüchtern zu lassen, habe die Furcht vor der deutschen Militärmacht „noch bedeutend erhöht" und die militärischen Kreise seien „kleinlauter" geworden. Der Zar reagierte auf die deutschen Drohungen mit Friedensbeteuerungen und zeigte sich entschlossen, die „Aktionspartei" in die Schranken zu verweisen 14 . Nicht minder durchschlagend waren die finanziellen Auswirkungen. H a t t e der Zarenbesuch in Berlin zunächst die Wirkung des 342

Lombardverbotes zum Teil neutralisiert, so übten jetzt die politischen Spannungen und die Gerüchte über einen österreichisch-russischen Krieg erneut einen starken Druck auf den russischen Staatskredit aus. Zwischen Dezember 1887 und März 1888 erreichten der Rubelkurs und die Kurse russischer Wertpapiere an der Berliner Börse den niedrigsten Stand 15 . In diesen Monaten sprach alles für die Richtigkeit der in der Berliner Finanzpresse vertretenen These, daß es Deutschland finanziell in der H a n d habe, „jede etwa vorhandene kriegerische Neigung im Keime zu ersticken" und der Zar ohne „selbstmörderische Absicht" keinen Krieg gegen die Zweibundmächte wagen könne 16 . Während die finanziellen Auswirkungen des deutschen Drucks verheerende Ausmaße anzunehmen drohten, schien darüber hinaus sogar der „psychologische Augenblick" in greifbarer N ä h e gerückt zu sein, an dem sich „die Russen zwischen Ab- und Aufrüstung zu entscheiden" hatten, wobei Anzeichen darauf hindeuteten, daß die Furcht des Finanzministers vor dem finanziellen Bankrott den Ausschlag geben würde. Ende Januar führte Bülow einen „Hauptanteil an den russischen Friedensversicherungen" auf den Einfluß Vysnegradskijs zurück, „der endlich ein größeres Anlehen . . . zustande bringen möchte". Nachdem während der ersten Monate des Jahres 1888 alle Anleiheversuche auf dem europäischen Kapitalmarkt gescheitert waren, schien sich der Zeitpunkt zu nähern, an dem auch der Militäretat von den Bemühungen, den Staatsbankrott zu verhindern, nicht mehr ausgeschlossen werden konnte. Der Zar wies einen Teil der Forderungen des Kriegsministeriums „zur Sicherung des Landes" wie die Verlegung von Truppen an die westliche Grenze mit dem Hinweis auf die hohen Kosten zurück. Kurz darauf stieß die militärische Führung mit ihren Forderungen nach höheren Rüstungsausgaben auf den entschiedenen Widerstand Vysnegradskijs, der - unterstützt von Giers - den Zaren davon überzeugen konnte, daß der Beseitigung des Defizits im Staatshaushalt die absolute Priorität auch vor militärischen Forderungen eingeräumt werden mußte 17 . An diese Berichte über die Auseinandersetzungen zwischen dem Kriegs- und Finanzminister knüpfte Bismarck die H o f f n u n g , daß - wie 1883/84 - der Zar schließlich „durch teilweises Zurückziehen der Truppen die politische Spannung" und den „für Rußland finanziell und wirtschaftlich unerträglichen" Zustand beenden würde 18 . Abgesehen davon, daß Bismarck die von den preußischen Militärs geforderte Eskalation des Finanz- und Wirtschaftskrieges nicht so weit hätte vorantreiben können, um den Rückzug der vorgeschobenen russischen Truppen zu erzwingen, zielte die Bismarcksche Politik seit dem Frühjahr 1888 darauf ab, dem Zaren die Entscheidung ohne Gesichtsverlust zu erleichtern und Drohgesten, die der russischen Militärführung als Vorwand für weitere Truppenkonzentrationen hätten dienen können, zu vermeiden 19 . Solange Vysnegradskij keine durchgreifenden finanzpolitischen Erfolge aufweisen konnte und die russische Militärpolitik starken finanziellen Restriktionen unterworfen blieb, hielt sich die Kritik preußischer Militärs an den unbefriedigenden Resultaten des Finanzkrieges in Grenzen, obgleich die „latente 343

russische Mobilmachung gegen Deutschland-Österreich" fortgesetzt wurde und im preußischen Generalstab nicht ausgeschlossen wurde, daß die russischen Kriegsabsichten auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wurden 20 . Ins Kreuzfeuer militärischer Kritik geriet die Bismarcksche Rußlandpolitik jedoch in dem Maße, in dem Vysnegradskij den finanziellen Würgegriff lockern konnte. Das war der Fall, als am Jahresende 1888 mit Hilfe des französischen Kapitalmarktes die erste große Konversionsanleihe durchgeführt wurde, das Budget für 1888 mit aufsehenerregenden finanzpolitischen Erfolgen abschloß und der Budgetanschlag für 1889 prompt wieder eine größere Konzessionsbereitschaft gegenüber den Forderungen der militärischen Führung erkennen ließ. Mißtrauisch registrierte schon Schweinitz, daß Vysnegradskij dem Wunsch des Zaren nach einem „guten Budget" die Ausgaben für „produktive Anlagen" opferte, während der Militäretat „bemerkenswerte Mehrausgaben" für eine „erhebliche Verstärkung der Grenzbewachung" enthielt 21 . Daß der Versuch, Rußland „finanziell in Schach zu halten", gescheitert war, konnte nicht mehr zweifelhaft sein, als sich Rothschild und Bleichröder an den großen Konversionsoperationen vom Frühjahr 1889 beteiligten. Alarmierend war die Beteiligung Rothschilds an den großen Konversionsoperationen nicht zuletzt deswegen, weil sich jetzt die Aussicht eröffnete, daß Rußland zur Finanzierung eines beschleunigten Rüstungstempos nicht nur auf den deutschen, sondern auch auf den französischen Kapitalmarkt zurückgreifen konnte. Daran änderte auch die Versicherung Rothschilds nichts, er habe seine Beteiligung an den Anleiheoperationen an die Bedingung geknüpft, daß ihr Ertrag ausschließlich für Konversionszwecke benutzt würde. Denn „wenn man das Geld erst hat, kommt es darauf an, was man nachher damit machen will", stellte Bismarck mißtrauisch fest 22 . Obwohl Wilhelm I I . neue russische Anleiheversuche durch eine „energische Preßkampagne" unterbinden wollte, setzte sich Bismarck mit seiner Ansicht durch, nur „unter der H a n d " Stimmung gegen den russischen Staatskredit zu machen. Abgesehen davon, daß auch direkter Druck „die Berliner Bankiers nicht daran hindern" konnte, „den Russen ihr Geld zu geben", entsprach es reiner realistischen Einschätzung der Lage auf dem europäischen Kapitalmarkt, wenn Bismarck sich darauf beschränken wollte, den Rückfluß der von der Pariser Spekulation aufgenommenen russischen Papiere auf den deutschen Kapitalmarkt zu verhindern und gleichzeitig das deutsche Publikum ermunterte, die Konversionsoperationen zum Verkauf russischer Staatspapiere zu benutzen. Nachdem sich der französische Kapitalmarkt für russische Anleihen geöffnet hatte und sich infolge der Schwerpunktverlagerung des Marktes für russische Wertpapiere von Berlin nach Paris durchschlagender politischer Druck nicht mehr ausüben ließ, konnte so noch am ehesten verhindert werden, daß neben dem französischen auch der deutsche Kapitalmarkt einen nennenswerten Beitrag zur Stützung des russischen Staatskredits leistete 23 . An dieser mit Bleichröder abgestimmten Strategie entzündete sich die dilettantische Kritik preußischen Militärs, als im Mai 1889 der Militärattache in St. 344

Petersburg über ein fünfjähriges Rüstungsprogramm berichtete, in dessen Verlauf zwischen 1889 und 1893 bei jährlich steigenden Rüstungsausgaben die schon zu Beginn der 80er J a h r e eingeleitete Militärreform abgeschlossen werden sollte 24 . Durch dieses Rüstungsprogramm wurde die russische Außenpolitik für J a h r e auf einen friedlichen K u r s festgelegt, setzte es doch voraus, daß Vysnegradskij seine bisher erfolgreichen Bemühungen um die Sanierung der Finanzwirtschaft fortsetzen, die laufenden großen Konversionsoperationen in einem günstigen politischen K l i m a abschließen und das internationale Vertrauen in den russischen Staatskredit für neue Anleiheoperationen weiter festigen konnte 2 5 . Diese Gewißheit war für präventivkriegsfreudige preußische Militärs freilich keineswegs beruhigend. N a c h Ansicht Yorcks konnte es nicht zweifelh a f t sein, daß die russische Politik ihre „Friedensmaske" ablegen würde, nachdem die Militärreformen durchgeführt worden waren und Vysnegradskij auch „ f ü r den sonstigen nervus rerum der Kriegführung gesorgt" haben würde. Waldersee rechnete aus, daß im Rahmen des fünfjährigen Rüstungsfinanzierungsprogramms die jährliche Neurekrutierundsquote um 30 000 Mann erhöht werden könne und diese Ziffer ziemlich genau ausreichte, um bis 1893 in aller Stille die Garnisonen in den westlichen Gouvernements auf volle Kriegsstärke zu bringen 2 8 . Angesichts derart düsterer Aussichten, die auch v o m Kriegsminister Verdy geteilt wurden, zeigte Wilhelm II. eine nicht minder große A n f ä l ligkeit gegenüber den Präventivkriegsplänen 2 7 . Anders als am Jahresende 1887 löste dennoch die russische Militärpolitik dieses Mal keine heftige Präventivkriegsdiskussion aus, und zwar weniger weil die Bismarcksche Position in dieser Frage hinlänglich bekannt war, sondern weil angesichts der äußerlich entspannten politischen Gesamtlage ein Präventivkrieg gegen Rußland das Reich von vornherein vor der internationalen Öffentlichkeit zum Aggressor abgestempelt und international isoliert hätte 2 8 . U m so heftiger entzündete sich die Diskussion an der Frage, wie die Durchführung des russischen Aufrüstungsprogramms noch behindert werden konnte. Unter Hinweis darauf, daß Rußland mit Unterstützung Berliner Banken schon große Konversionsoperationen hatte durchführen können, die russische Finanzlage sich mit „deutscher H i l f e " gebessert habe und mit jeder weiteren Konversionsoperation „der Termin für die Beendigung der Rüstungen ein erheblich kürzerer" werden müsse, konnte Waldersee Wilhelm II. mühelos davon überzeugen, daß weitere Konversionsoperationen gestört werden müßten, sei es durch eine scharfe Pressekampagne, sei es durch Anweisungen an den Berliner Börsenvorstand, weitere Konversionsoperationen an der Berliner Börse abzulehnen. Prompt erging die Answeisung an Bismarck, „wie im vorigen J a h r e eine energische K a m p a g n e gegen die russischen Werte eröffnen zu lassen". Z w a r sei es inzwischen „egal geworden", daß „die Russen sich rüsten und mobilmachen"; aber er könne nicht zulassen, „ d a ß deutsches Geld in russische H ä n d e fließt, um uns um so sicherer zu überfallen und zu vernichten" 2 9 . Auch dieses Mal konnte sich Bismarck gegen die Militärs durchsetzen. Z w a r verfolgte Wilhelm I I . mißtrauisch die Börsenentwicklung und den Verlauf der Konversionsoperationen, aber er f a n d sich schließlich da345

mit ab, daß entsprechend dem Bismarckschen Kalkül im Zuge der Konversion der Eisenbahnprioritäten fortgesetzt große Mengen russischer Wertpapiere vom deutschen Kapitalmarkt abgestoßen wurden 30 . D a sich eine Sättigung des f r a n zösischen Kapitalmarktes mit russischen Wertpapieren abzeichnete, konnte Bismarck auch als Erfolg für sich verbuchen, daß die russische Außen- und Militärpolitik auch zukünftig starken finanziellen Restriktionen unterworfen blieb, nachdem der russische Staatskredit sich nicht mehr auf den deutschen Kapitalmarkt stützen konnte 31 . Tatsächlich verfolgten die wiederholten Friedensbeteuerungen des Zaren und der russischen Diplomatie den Zweck, das Vertrauen vor allem des französischen Kapitalmarktes in den russischen Staatskredit zu stärken 32 . D a ß sich die russische Finanzlage im Verlaufe des Jahres 1889 weiter besserte, war nicht zuletzt ein Erfolg dieser Außenpolitik. Im November 1889 begründete der bekannte französische Nationalökonom Leroy-Beaulieu im „Journal des Débats" sein Vertrauen in den russischen Staatskredit mit der russischen Außenpolitik, die sich von keiner Macht von ihren friedlichen Absichten abbringen lasse. Zu Recht konnte auch Vysnegradskij in seinem Budgetbericht f ü r 1890 zur Begründung der günstigen Finanzlage auf die „Festigkeit und Kaltblütigkeit" verweisen, mit welcher der Zar an der „ehrlichen und friedlichen Politik" festgehalten habe 33 . Die demonstrative Betonung der friedlichen Ziele der russischen Außenpolitik hinderte aber die Militärführung nicht, wieder in größerem Umfange die Verstärkung der Truppen in den westlichen Gouvernements aufzunehmen, worauf die preußische Militärführung ihrerseits mit einer Vermehrung der Artillerie, der Vervollkommnung des strategischen Eisenbahnnetzes in den östlichen Provinzen und Truppenverschiebungen reagierte 34 . Aus der Sicht der preußischen Militärs wurden Truppenverschiebungen und der Ausbau des Eisenbahnnetzes unzureichend, je größer die Wahrscheinlichkeit wurde, daß Rußland sein langfristiges Militärreformprogramm auch tatsächlich würde durchsetzen können. „In Rußland gestatten es die dem Kriegsminister gewährten Geldmittel, jeden Augenblick die Schlagfertigkeit der Armee zu erhöhen", stellte Kriegsminister v. Verdy im Herbst 1889 fest, um damit die Forderung zu begründen, daß mit dem im Frühjahr 1887 bewilligten Septennat „im Interesse der weiteren Entwicklung der Armee-Organisation" gebrochen werden müsse. Anfang März 1890 wiederholte er seine Forderung mit dem Hinweis darauf, daß dem russischen Kriegsminister f ü r den Zeitraum 1889 bis 1893 „außer einem besonderen Kredit von 25 bis 60 Millionen ein Budget von rund 1 060 Millionen Rubel (3 114 450 000 Mark) zu freier unkontrollierter Verfügung" bewilligt worden sei35. H a t t e es sich bisher bei den Heeresvermehrungen im Rahmen der drei Septennate darum gehandelt, „durch verhältnismäßig kleinere Maßnahmen das Gleichgewicht zu erhalten", so zielten die neuen Forderungen der Militärverwaltung darauf ab, die „Heeresorganisation wesentlich zu erweitern" und „die W e h r k r a f t des Reiches auf das äußerste zulässige Maß zu steigern", um mit der planmäßigen Verstärkung der russischen W e h r k r a f t Schritt zu halten 38 . 346

Unterstellt man die Bereitschaft des Zaren und der agrarisch-industriellen Elite, in einer populären Diversion nach außen einen Ausweg aus der sich kritisch zuspitzenden inneren Lage zu suchen, dann bot die Politik massiver ökonomischer Sanktionen und militärischer Abschreckung noch die Möglichkeit, einer potentiellen, f ü r die Existenz des Reiches bedrohlichen Gefährdung des europäischen Status quo zu begegnen. Denn die russische Außen- und Militärpolitik mußte sich konsequent finanzpolitischen Prioritäten unterordnen, um den finanziellen Würgegriff, der für die Autokratie unmittelbar gefährlicher werden konnte als die innere Unzufriedenheit, zu lockern. Andererseits hatte die deutsche Rußlandpolitik in der Rolle des Verteidigers des europäischen Status quo mit wachsendem Einsatz gespielt, ohne verhindern zu können, daß sich die deutsch-russischen Gegensätze in einer zunehmenden Polarisierung auf der militärpolitischen Ebene, in Kriegsvorbereitungen und in einem forcierten Rüstungstempo fortsetzen. Das Dilemma der Bismarckschen Rußlandpolitik spitzte sich damit auf die Frage zu, was sie der Alternative preußischer Militärs: Präventivkrieg oder erneute Forcierung des deutschen Rüstungstempos, noch entgegensetzen konnte, um kurzfristig den Zweifrontenkrieg und langfristig die Verschiebung der militärischen Kräfteverhältnisse zugunsten Frankreichs und Rußlands zu verhindern. Der Versuch, durch eine präventive Bündnispolitik „Schutzdeiche" zu unterhalten, erwies sich angesichts der Tatsache als unzureichend, daß Österreich-Ungarn und Italien schon aufgrund ihrer instabilen inneren Verfassung Bundesgenossen von zweifelhaftem Wert waren. Diese Probleme wurden noch dadurch verschärft, daß beide nur zögernd in der Lage und bereit waren, ihren Bündnisverpflichtungen in militärischer und finanzieller Hinsicht nachzukommen; die Ö f f n u n g des deutschen Kapitalmarktes f ü r österreichische und italienische Rüstungsanleihen konnte sie nicht lösen 37 . Auf der anderen Seite wurde der „Rückversicherungsvertrag" weder zur „Brücke", mit deren Hilfe die zwischen Deutschland und Rußland aufgerissenen Gräben noch einmal hätten überwunden werden können, noch ließ sich der Zar dazu verleiten, die Bemühungen um eine gesteigerte militärische Präsenz in Mitteleuropa durch eine Aktivierung der Balkanpolitik zu vernachlässigen. In derartigen Erwartungen artikulierte sich eher Bismarckscher Zweckoptimismus, mit dem die wachsende Kritik an der Außenpolitik aufgefangen werden sollte, als die tatsächliche Überzeugung, die deutsch-russischen Beziehungen durch einen Geheimvertrag beeinflussen zu können, der der russischen Außenpolitik in Friedenszeiten keine Bindungen auferlegte und dessen Bekanntwerden der Zar mit Rücksicht auf das vom Deutschenhaß beherrschte innenpolitische Klima ängstlich zu vermeiden suchte 38 . Trotz des Rückversicherungsvertrags ging der Zar nicht in die „orientalische Sackgasse" und ließ sich auch nicht davon abhalten, eine Außenpolitik der „freien H a n d " zu verfolgen. Die antideutschen Tendenzen dieser Politik, die sich unmittelbar nach Abschluß des Rückversicherungsvertrages in vielfältigen und offiziös geduldeten Sympathiekundgebungen f ü r Frankreich in der Öffentlichkeit, aber auch in demonstrativen Bemühungen der offiziellen Diplomatie um eine russisch-französische Verständi347

gung zeigten 39 , wurden zunächst noch in Grenzen gehalten, allerdings nicht durch monarchische Vorbehalte gegen die französische Republik 4 0 , sondern durch die Abneigung des Zaren und der militärischen Führung, sich in der schwierigen wirtschaftlichen und finanziellen Lage durch Frankreich in einen Krieg gegen die stärkste Militärmacht hineinziehen zu lassen. Demonstrative Bekundungen des „Nord", der „Moskovskie Vedomosti" und des „Grazdanin", R u ß l a n d wolle sich mit den „agitatorischen Elementen der französischen Republik auf nichts einlassen", bedeuteten keine prinzipielle Absage an die französische Republik. Schweinitz Schloß im Gegenteil daraus, „daß die Allianzbestrebungen gerade hierdurch praktischer Ausführbarkeit nähergerückt" würden, da die russische Politik der republikanischen Regierung H i l f e geben wolle, um „unbequeme H i t z k ö p f e " abzuweisen, ihr aber sofort „gern die H a n d reichen" werde, „sobald sie stark und stabil" sei 41 . Die Politik Grévys, der energisch die aktionistischen Elemente des französischen Nationalismus unterdrückte, und es gleichzeitig durch demonstrative Bekundungen der französischen Friedensliebe vermied, den preußischen Militärs V o r w ä n d e für Drohungen, zusätzliche R ü stungen oder gar eine militärische Intervention zu liefern, entsprach genau den russischen Vorstellungen, denn auch sie setzte auf Zeitgewinn, um ungestört die Militärreformen abschließen und die finanziellen Voraussetzungen d a f ü r schaffen zu können 42 . Dieses unausgesprochene Einverständnis in der langfristigen Perspektive französischer und russischer Politik blieb Bismarck nicht verborgen 4 3 . Die Politik der finanziellen Sanktionen und der militärischen Abschreckung berührte daher einen Punkt, an dem die russisch-französische Annäherung langfristig noch am empfindlichsten gestört werden konnte. Auf dem Höhepunkt des Finanz- und Wirtschaftskrieges schien dieses Kalkül aufzugehen. Die russische Regierung bemühte sich um die Jahreswende 1887/88 in Paris vergeblich, für den Fall eines Kriegsausbruchs mit Österreich-Ungarn eine „bindende Zusicherund" über die H a l t u n g Frankreichs zu erlangen. Z w a r hatte die dabei ventilierte „Idee einer russisch-französischen A l l i a n z " für die französische Regierung „etwas Verführerisches". Aber das Mißtrauen und die Furcht, in einen Krieg mit Deutschland verwickelt und dabei von R u ß l a n d allein gelassen zu werden, erwiesen sich als stärker 4 4 . In der kritischen Situation um die Jahresw e n d e 1887/88 trug diese ablehnende H a l t u n g der französischen Regierung erheblich dazu bei, daß der russische Versuch, die deutsche Politik mit der f r a n zösisch-russichen A l l i a n z einzuschüchtern und für die russischen Kriegsabsichten gegen Österreich gefügig zu machen, scheiterte. Gleichzeitig riskierte die französische Regierung, daß die hoffnungsvolle Entwicklung in Richtung auf eine russisch-französische Annäherung unterbrochen wurde. Denn die russische Regierung w a r nicht nur über die französische H a l t u n g verstimmt, sondern sie schien jetzt gezwungen zu sein, die Annäherung an Deutschland zu suchen. Darauf deutete die Sprache einflußreicher St. Petersburger Zeitungen hin. W ä h r e n d ζ. B. die „Novosti" und der „Grazdanin" noch ohnmächtig mit Krieg und Einstellung der Zahlungen für die auswärtige Staatsschuld drohten, 348

falls der Rubelkurs nicht bald wieder den Stand von 200 erreichte, forderte die bisher exponiert deutschfeindliche „Novoe Vremja" unverblümt den Verzicht auf die Außenpolitik der „freien H a n d " , um der Gefahr der „ökonomischen Aushungerung" und der „wirtschaftlichen Katastrophe" zu entgehen 45 . Dieses Mal war es freilich der Zar, der es entschieden ablehnte, dem deutschen Druck noch einmal wie 1884 nachzugeben und auf die Politik der freien H a n d zu verzichten. Die persönliche Verbitterung über die deutsche Politik dürfte Alexander III. in dieser kompromißlosen Haltung bestärkt haben. Schweinitz zeigte sich geradezu überrascht von der Offenheit, mit der er jetzt die früher geheimgehaltenen und offiziös immer abgeleugneten Kontakte mit Frankreich zugab und sich als Garant der territorialen Integrität Frankreichs ausgab, als ob der Rückversicherungsvertrag gar nicht bestehe. Auch der deutsche Botschafter in Paris, Münster, kam zu der Überzeugung, daß die franzosenfreundliche „Strömung" am Zarenhofe stark war und die kurzfristige Verstimmung über die französische Politik von der allgemeinen Animosität gegen Deutschland überlagert wurde 4 ". Die französische Regierung ihrerseits revanchierte sich, indem sie aktiv die Bemühungen Vysnegradskijs unterstützte, den finanziellen Würgegriff zu lockern. Im Frühjahr 1888 engagierte sich die von der Regierung beeinflußte republikanische Presse zugunsten der russischen Staatskredite und trug so zu der bald einsetzenden Haussebewegung bei russischen Wertpapieren bei. Die mit Hilfe französischer Banken durchgeführte erste große Konversionsoperation wurde von der französischen Regierung wohlwollend gefördert. Vermutlich trug ihre Initiative dazu bei, daß sich das Bankhaus Rothschild an den folgenden Konversionsoperationen beteiligte 47 . Schon die Tatsache, daß Vysnegradskij sich mit französischer H i l f e der finanziellen Erpressung widersetzen konnte, brachte Frankreich einen großen Sympathiegewinn ein, wurde dadurch doch dem russischen Nationalgefühl eine demütigende Kapitulation erspart. Das russische Selbstgefühl und die Sympathiekundgebungen des Zaren für die französische Diplomatie nahmen in dem Maße zu, in dem sich die Lage der Finanzwirtschaft besserte, während gleichzeitig das Verhältnis der Vertreter der deutschen Diplomatie zum Zarenhof und zur Petersburger Gesellschaft zunehmend frostiger wurde 48 . Nicht minder wichtig als die durchgreifende Verbesserung der emotionalen Grundlagen der französisch-russischen Beziehungen war für die französische Regierung die Chance, indirekt die antideutschen Tendenzen der russischen Außenpolitik wirksam fördern zu können. Bei aller Entschlossenheit, sich dem deutschen Druck nicht zu beugen, hätte die russische Regierung an der Politik der freien H a n d nur schwer festhalten können, wenn ihr Frankreich nicht geholfen hätte, dafür die militärischen und finanziellen Voraussetzungen zu schaffen und Deutschland in Schach zu halten 49 . Die schrittweise Hinwendung der russischen Außenpolitik von einer Politik der freien H a n d bis zur formellen Bindung an Frankreich erhält in dieser Perspektive den Anschein der Zwangsläufigkeit. Nachdem der deutsch-russische Finanz- und Wirtschaftskrieg einmal in voller Schärfe entbrannt war, ohne 349

daß die russische Regierung kurzfristig zur Kapitulation gezwungen werden konnte, entwickelte er eine von Bismarck nicht mehr kontrollierbare Dynamik. Seit der Jahresmitte 1888 verfügte die deutsche Politik weder über die Mittel, den Finanzkrieg wirksam zu verschärfen, noch war sie imstande, die einmal in Gang gekommene Verlagerung des Marktes für russische Staatspapiere nach Frankreich aufzuhalten. Um zu verhindern, daß Rußland die finanzielle und damit auch politische Abhängigkeit von Deutschland gegen die Abhängigkeit von Frankreich tauschte, hätte Bismarck spätestens im Frühjahr 1888 nach Ansicht des belgischen Gesandten in Berlin eine Kehrtwendung vollziehen und sich zugunsten des russischen Staatskredits engagieren müssen. Mit der ersten großen Konversionsanleihe vom Dezember 1888 war auch diese Möglichkeit verbaut 50 . Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß Bismarck die Gefahr erkannte, daß Rußland durch den Abfluß seiner Staatspapiere nach Frankreich in eine einseitige finanzielle und damit auch politische Abhängigkeit von Frankreich geriet. Dem stand freilich die Schwierigkeit gegenüber, daß der Finanzkrieg, selbst bevor er außer Kontrolle zu geraten drohte, nicht eingestellt oder umgekehrt werden konnte. Denn eine Politik, in der sich massive ökonomische Sanktionen und eine nicht minder massive militärische Abschreckung wechselseitig bedingten, konnte den außer Kontrolle geratenden Finanzkrieg nicht einstellen, ohne zugleich das Scheitern des Versuchs, die Verschlechterung der militärischen Ausgangslage im Zweifrontenkrieg zumindest verzögert zu haben, einzugestehen. Angesichts der irreversibel auf Deutschland als dem Hauptgegner fixierten russischen Militärpolitik mußte der Finanzkrieg entgegen den ursprünglichen Bismarckschen Intentionen mit veränderter Zielrichtung fortgesetzt werden, um die Besserung der russischen Finanzlage im Rahmen der noch verbliebenen Möglichkeiten zu erschweren. Erreicht werden konnte dieses Ziel nur noch um den Preis einer einseitigen finanziellen Abhängigkeit Rußlands von Frankreich. Schon mit Rücksicht auf das wachsende Mißtrauen preußischer Militärs gab es dazu keine Alternative, es sei denn der Präventivkrieg. In diesem Zusammenhang fiel vor allem ins Gewicht, daß Frankreich und Rußland, durch Informationen über die Präventivkriegspläne des preußischen Generalstabes und den Regierungsantritt Wilhelms II. alarmiert, sich im „gemeinsamen Geist der Feindschaft seitens ihres mächtigen Nachbarn" zusammenfanden 5 1 . Die Möglichkeit, noch vor der Beendigung des Militärreformprogramms einem Angriff durch die stärkste Militärmacht in Europa ausgesetzt zu sein, übte auf die russische Regierung einen permanenten Zwang aus, ihre Rüstungsanstrengungen zu beschleunigen und sich für den Fall eines Krieges der Haltung Frankreichs zu vergewissern. Die französische Regierung nahm die hier liegende Chance, den Prozeß der russisch-französischen Annäherung weiter voranzutreiben, entschlossen wahr. Unter Freycinet, der im März 1888 das Kriegsministerium übernahm, arbeitete die französische Militärpolitik zielstrebig darauf hin, „Frankreich durch Hebung seiner Wehrmacht für Rußland bündnisfähig zu machen" 52 . Auf der anderen Seite mußte die französische Militärpolitik, die damit deutsche Reaktionen provozierte, ein vi-

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tales Interesse daran haben, daß Rußland mit einem forcierten Rüstungstempo Schritt halten konnte. Der Intervention zugunsten des russischen Staatskredits k a m daher im Rahmen einer französischen Außenpolitik, die ihre Isolierung in der europäischen Politik zu durchbrechen suchte, eine ebenso große Bedeutung zu wie der Bereitschaft, der russischen Militärführung die neuesten Entwicklungen französischer Waffentechnik und Rüstungsproduktion zur Verfügung zu stellen. Denn während der russische Generalstab durch den B a u von Festungen und Eisenbahnen sowie durch die systematische Verstärkung der Truppen in den westlichen Gouvernements die überlegene O f f e n s i v k r a f t der deutschen Armeen beschneiden konnte, machte sich die Rückständigkeit in der Rüstungsproduktion und in der Waffentechnik um so empfindlicher bemerkbar. Durch die Lieferung von 500 000 Lebelgewehren 1888 konnte Frankreich diese Lücke etwas verkleinern, noch bevor die „brennende F r a g e " , welcher Gewehrtyp das alte Berdangewehr ablösen sollte, entscheidungsreif war. A m Jahresende 1889 fiel die Entscheidung endgültig zugunsten des Lebelgewehres. Aber auch dann blieb die russische Militärführung jahrelang auf die französische H i l f e angewiesen, d a die russische Eigenproduktion nur langsam in G a n g k a m und ein großer Teil der A u f t r ä g e nach Frankreich vergeben werden mußte. In den laufenden Kontakten zwischen der russischen und französischen Militärführung spielte die Gewehrfrage vermutlich eine entscheidende Rolle 5 3 . Man kann die Bedeutung der russisch-französischen Zusammenarbeit kaum hoch genug veranschlagen, machte sie doch deutlich, wie weit sich das gegenseitige Vertrauen entwickelt hatte, während die deutsch-russischen Beziehungen durch militärische Spionageaffären noch frostiger wurden 5 4 . Obwohl sich die russisch-französischen Beziehungen im Verlaufe des Jahres 1889 soweit verbesserten, daß ein russisch-französisches Gegenbündnis geradezu in der L u f t zu liegen schien, wurde diese Frage öffentlich noch nicht akut. D a s beiderseitige Interesse beschränkte sich darauf, die deutsche Präventivkriegslust zu dämpfen sowie durch forcierte Rüstungsanstrengungen und die weitere Konsolidierung des russischen Staatskredits die Voraussetzungen zur Wiedergewinnung des außenpolitischen Handlungsspielraums zu schaffen. Diese stillschweigend vorausgesetzte Gemeinsamkeit der russischen und französischen Außenpolitik erklärt nicht nur den Widerspruch zwischen der von beiden Seiten betonten friedlichen Außenpolitik und beschleunigten Rüstungsanstrengungen, sondern auch die hochgradige Nervosität der preußischen Militärführung, die sich in ihren aktionistischen Bestrebungen durch die russische und französische Außenpolitik wie gelähmt fühlte und dabei zusehen mußte, wie sich unter der Decke einer äußerlich friedlichen L a g e in E u r o p a der internationale Rüstungswettlauf beschleunigte. Wenn Bismarcks Schwiegersohn, der Vortragende R a t im Auswärtigen A m t R a n t z a u , im M a i 1891 es als einen „seit J a h r e n " bestehenden Zustand bezeichnete, daß „mit den zunehmenden Rüstungen im Osten und Westen das Selbstvertrauen" ständig wachse, während es zugleich „mit Rücksicht auf die europäische Gesamtkonstellation vom politischen Standpunkt ausgeschlossen" sei, durch einen Präventivkrieg den Spieß umzu351

drehen, dann kennzeichnete er treffend die Stimmung, die innerhalb der preußischen Militärführung herrschte, nachdem im Winter 1887/88 die angeblich günstige Chance für einen Präventivkrieg vertan wurde 55 . Eine Diplomatie, die ungeachtet des weit vorgerückten Stadiums der deutsch-russischen Polarisierung einerseits und der russisch-französischen Annäherung andererseits den Schein aufrecht zu erhalten suchte, als ob die deutsch-russischen Beziehungen noch durch den Appell an die Tradition preußisch-russischer Freundschaft und den Geist monarchischer Solidarität nachhaltig beeinflußt werden konnten, erschien nicht nur als eine Farce, sondern sie war auch geeignet, den Alpdruck der preußischen Militärführung zu verschärfen. Denn die Präventivkriegsfreudigkeit wurde gedämpft und darüber hinaus die Bemühungen der Militärverwaltung, die deutsche Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer drastischen Steigerung des deutschen Militärpotentials zu überzeugen, erschwert. Waren bisher etappenweise und kalkulierte Verschärfungen der internationalen Spannungen in den Händen Bismarcks Instrumente einer Politik, die ihre außenund innenpolitischen Ziele durch Einschüchterung der Gegner zu erreichen suchte, so trat jetzt, nachdem diese Politik ihre letzten Sanktionsmittel vergeblich eingesetzt hatte, die paradoxe Situation ein, daß die neuen Heeresvorlagen, die umfangmäßig die bisherigen Septennatsvorlagen weit übertrafen, in einer äußerlich friedlichen Lage der europäischen Politik durchgesetzt werden mußten56. Zwar wäre es Bismarck nicht schwer gefallen, nach dem Muster der Kartellwahlen von 188/ eine außenpolitische Spannungssituation zu erzeugen, aber das Risiko war zu groß, daß damit Rußland endgültig in die französischen Arme getrieben oder der Zweifrontenkrieg ausgelöst wurde. Hatte Bismarck bisher die Aushöhlung der militärischen Basis des preußisch-deutschen Militärstaates verhindert und die notwendigen Erweiterungen zur Sicherung der deutschen Hegemonie in Europa gegen innenpolitische Widerstände immer wieder erfolgreich durchgesetzt, so war er durch seine Weigerung, das Scheitern seiner Außenpolitik offen einzugestehen, für die Militärverwaltung entbehrlich geworden. Hier liegt auch eine wesentliche Ursache für die Leichtigkeit, mit der Wilhelm II. von der Berechtigung der militärischen Kritik an der Bismarckschen Rußlandpolitik überzeugt werden konnte. Die Weichen der deutschen Außenpolitik waren durch den Dreibund einerseits und das weit vorgerückte Stadium der russisch-französischen Annäherung andererseits eindeutig gestelllt. Dieses Bewußtsein hatte sich inzwischen so allgemein durchgesetzt, daß nur noch eine Außenpolitik den nötigen Rückhalt fand, die sich im Bewußtsein der bereits vollzogenen „Einkreisung" im Osten und Westen im wesentlichen darauf reduzierte, sich mit den zukünftigen Kriegsgegnern in einen unbegrenzten Rüstungswettlauf einzulassen und sich „in deutscher Treue" an Österreich-Ungarn zu binden 57 . Unter dieser Voraussetzung kann die Selbstverständlichkeit nicht überraschen, mit der die Erben Bismarckscher Außenpolitik den Rückversicherungsvertrag, die angebliche „Brücke" zu Rußland, abbrechen konnten, ohne daß sich dadurch an der Stellung des Reiches in der europäischen Politik etwas geändert hätte. Die Nichterneuerung des Vertrages 352

wurde als Befreiung empfunden, als eine erwünschte diplomatische Klärung einer faktisch bestehenden Situation, in der Rußland aus dem Vertrag einseitig Vorteile zu ziehen suchte. Das russische Interesse an der Verlängerung des Vertrages bestand darin, durch eine vertragliche Bindung zumindest die Wahrscheinlichkeit eines deutschen Angriffs auf Frankreich zu vermindern und damit Zeit zu gewinnen, um die Sanierung der Finanzwirtschaft und das Rüstungsprogramm vollenden zu können. Auffallend war der geringe Wert, den der Zar dem Zusatzabkommen beimaß, und in der Perspektive preußischer Militärs war es sicher kein Zufall, daß er sich über die Absichten der deutschen Politik zu vergewissern suchte, bevor er 1890 die letzte Etappe zur Vollendung des Militärreformprogramms einleitete 58 . Die Weigerung der deutschen Politik, den Rückversicherungsvertrag zu verlängern, lief dem russischen Interesse an einer Sicherung des Status quo in Westeuropa entgegen und hat so dazu beigetragen, daß der Zar sich schließlich dazu bereit fand, diese Sicherung in einem formellen Bündnis mit Frankreich zu suchen.

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8. Schlußbemerkungen Eine der Implikationen der vorliegenden Arbeit bildete die Überzeugung, daß es notwendig und möglich sei, sich systematischer als bisher in der Literatur geschehen der empirischen Grundlagen zu vergewissern, die generalisierende Aussagen über das Verhältnis von Politik und Ökonomie bzw. zur Frage des Primates von Innen- und Außenpolitik in den deutsch-russischen Beziehungen der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts zulassen. Angesichts der Tatsache, daß die wirtschaftliche Dimension der deutsch-russischen Beziehungen, insbesondere aber die sozialökonomischen und innenpolitischen Voraussetzungen und die treibenden K r ä f t e der russischen Außenpolitik in der deutschen Geschichtsschreibung bisher sträflich unterbelichtet geblieben sind, erwies sich die Analyse der innenpolitischen und sozialökonomischen Entwicklung Rußlands in den Jahrzehnten nach dem Krimkrieg als ebenso unerläßlich wie die systematische Darstellung der strukturellen Veränderungen, durch die die deutschrussischen Wirtschaftsbeziehungen seit der Jahrhundertmitte auf eine völlig neue Grundlage gestellt wurden. Der dabei vorgenommene Rückgriff auf die Kategorien der „ökonomischen Rückständigkeit" und der „partiellen Modernisierung" entsprach den speziellen Intentionen dieser Arbeit, die politischen und wirtschaftlichen Faktoren sowie ihr wechselseitiges Verhältnis für die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen auf der zwischenstaatlichen Ebene herauszuarbeiten. Denn mit Hilfe dieser Kategorien konnte erstens die ökonomische und innenpolitische Dimension der „machtpolitischen" Disparität erfaßt werden, die für die deutsch-russischen Beziehungen nach der Gründung des Deutschen Reiches konstitutiv war. Zweitens schienen sie geeignet, die Wirksamkeit gewichtiger Elemente traditierter politischer und sozialer Strukturen in der Periode eines beschleunigten und permanenten sozialökonomischen Wandels als eine K r a f t hervortreten zu lassen, die die Entscheidungen der deutschen und mehr noch der russischen Außenpolitik determinierte. Drittens sollte der Vorstellung entgegengetreten werden, als ob innerhalb des hier behandelten Zeitraumes die russische oder die deutsche Außenpolitik jemals einen eindeutigen Primat im Sinne einer von innenpolitischen und wirtschaftlichen Bezügen losgelösten oder gar gegen die Interessen der herrschenden Klassen gerichteten außenpolitischen Handelns der Staatsgewalt behauptet hätte. Die hier vertretene Position ließ sich schon anhand der preußischen und russischen Außenpolitik der 60er bzw. zu Beginn der 70er Jahre exemplifizieren, obwohl die imponierende Konsequenz und Zielsicherheit, die die preußische Politik bei der Revolutionierung der europäischen Machtverhältnisse entwikkelte, den gegenteiligen Eindruck erwecken könnte. D a ß die preußische Au354

ßenpolitik in der Phase der Hegemonialkriege keineswegs einem von zwischenstaatlicher Rivalität angetriebenen originär machtpolitischen Dämon folgte, sondern militärische Expansion konsequent als Mittel innenpolitischer Konfliktregelung einsetzte, ist eine inzwischen vielfach akzeptierte Ansicht. Andererseits dominierte während dieser Jahre in der russischen Außenpolitik das Interesse an einer Konsolidierung des innenpolitischen Status quo, ohne daß es mangels erfolgversprechender Mechanismen der innenpolitischen Konfliktregelung einer Risikopolitik nach außen zwingend bedurft hätte oder diese auch nur als wünschbar erschienen wäre. Im Gegenteil : Die russische Außenpolitik ließ sich auch in den Jahren nach der Reichsgründung aus innenpolitischen Gründen nicht aus der nach dem Krimkrieg eingeschlagenen Bahn herausdrängen. Denn der temporär akzeptierte Verzicht auf außenpolitische Handlungsfreiheit war angesichts des noch ungebrochenen Glaubens an die Notwendigkeit und die Erfolgschancen liberaler Reformen auch nach den revolutionären Machtverschiebungen in Mitteleuropa durchaus vereinbar mit einer Politik, die den geeigneten Weg zur Festigung der Autokratie und zur Wiedergewinnung der europäischen Großmachtrolle Rußlands auf längere Sicht in der Fortführung des inneren Reformprozesses erblickte, dessen Erfolgschancen durch außenpolitische Experimente nicht gefährdet werden durften. Hier und weniger in den diplomatischen Schachzügen Bismarckscher Außenpolitik - lag die entscheidende Voraussetzung dafür, daß es Preußen mit einer Armee von überlegener Schlagkraft nicht nur mühelos gelang, Österreich-Ungarn als Gegner der preußischen Hegemonialbestrebungen auszuschalten, sondern auch durch den Sieg über Frankreich eine neue Ordnung in Europa zu etablieren, die die russischen Hoffnungen, schon bald wieder eine Großmachtrolle spielen zu können, zunichte machte. Fünfzehn Jahre nach dem Krimkrieg war Rußland immer noch ein „Koloß auf tönernen Füßen", von dessen innerer Schwäche und außenpolitischer Handlungsunfähigkeit sich die militärische und ökonomische Potenz der neuen Militärmacht in Mitteleuropa scharf abhob. Nachdem sich schon in der starken Zunahme antipreußischer Ressentiments seit der Durchführung „liberaler" Reformen in Rußland die wachsende Furcht vor einem zukünftigen militärisch, ökonomisch und politisch überlegenen Rivalen artikulierte, war die Wahrscheinlichkeit groß, daß die 1870/71 vorläufig festgeschriebene extrem ungleiche Verteilung militärischer und ökonomischer Entwicklungspotentiale, die dem traditionellen Rollenverständnis der militärisch-feudalen Elite in Rußland strikt entgegenlief, zur Quelle permanenter Spannungen zwischen ehemals „befreundeten" Mächten würde. Diese Problematik gewann nur deshalb noch keine unmittelbare Aktualität, weil es sowohl f ü r die deutsche als auch für die russische Außenpolitik ein existentielles Interesse gab, konfliktvermeidende Strategien zu verfolgen. Die von beiden Seiten favorisierte Politik des „kooperativen Antagonismus" hatte ihre reale Grundlage in dem gemeinsamen Bestreben der traditionalen Eliten, eine europäische Gesamtlage aufrecht zu erhalten, die die Möglichkeit einer durch wirtschaftlichen Fortschritt geförderten Stabilisierungspolitik bot. Während der ersten J a h -

re nach der Reichsgründung war es daher für die deutsche und russische Außenpolitik relativ problemlos, unter dem gemeinsamen Deckmantel „monarchischer Solidarität" durchaus antagonistische Interessen zu verfolgen. Auf der wirtschaftlichen Ebene wurde die Möglichkeit eines Interessenausgleichs gestützt durch eine auf beiden Seiten geteilte Überzeugung vom Nutzen einer Politik des wirtschaftlichen Liberalismus, die auf der Woge einer andauernden internationalen Industrie- und Agrarkonjunktur den innenpolitischen Imperativ der Systemstabilisierung und der sozialen Integration erfüllte. Der Boom der „Gründerjahre" ließ auf deutscher Seite die Erwartung realistisch erscheinen, die ökonomische Basis des preußisch-deutschen Staates als Voraussetzung für seine weitere Konsolidierung im Innern und im Rahmen des europäischen Machtgefüges zu erweitern, während in Rußland trotz aller Rückschläge die bisherigen Erfolge der Bemühungen um ein gesamtwirtschaftliches Wachstum die Möglichkeit nicht ausschlossen, durch die Fortführung der „liberalen" Reformpolitik die im Vergleich zu den westeuropäischen Staaten immer noch eklatante ökonomische Rückständigkeit noch am ehesten überwinden zu können. Auf der außenpolitischen Ebene war die Erhaltung des europäischen Status quo f ü r die politische Führung des Deutschen Reiches eine Bedingung, um die Hegemonialstellung des neuen Reiches zu zementieren, während sie auf russischer Seite primär die Furcht vor einer weiteren Verschiebung der europäischen Mächteverhältnisse zu Ungunsten russischer Interessen widerspiegelte. Der Versuch, die äußere Konsolidierung der europäischen Gesamtlage zu Beginn der 70er Jahre aus dem innenpolitischen und ökonomisch begründeten Interesse der konservativen Eliten Rußlands und Deutschlands abzuleiten, die 1870/71 begründete Neuverteilung der europäischen Machtverhältnisse nicht in Frage zu stellen, brachte es mit sich, daß die in der zweiten H ä l f t e der 70er Jahre sich verschärfenden Konflikte zwischen beiden Staaten primär auf Veränderungen in den innenpolitischen und ökonomischen Antrieben der russischen und der deutschen Außenpolitik zurückgeführt wurden. Tatsächlich gewann im Zuge der Arbeit die These zunehmend an Plausibilität, daß die Krieg-in-Sicht-Krise von 1875, der Ausbruch des russisch-türkischen Krieges von 1877/78, die zunehmende deutsch-russische „Entfremdung" und schließlich die mit dem deutsch-österreichischen Zweibund von 1879 vollzogene antirussische Wendung der deutschen Außenpolitik einschneidende Veränderungen in den innenpolitischen, militärischen und ökonomischen Voraussetzungen signalisierten, auf die sich die relative Stabilität der europäischen Ordnung nach 1870/71 gegründet hatte. Auf der militärischen Ebene zeichnete sich seit 1873/74 dank der unerwarteten Schnelligkeit, mit der das republikanische Frankreich die innenpolitischen und finanziellen Voraussetzungen zur Durchführung eines umfassenden Militärreformprogramms schaffen konnte, die Möglichkeit ab, daß schon in nicht allzu ferner Z u k u n f t sich die militärischen Kräfteverhältnisse zugunsten des potentiellen Gegners des Deutschen Reiches entscheidend veränderten. Darüber hinaus war es nicht schwer, in dieser Entwicklung die Bedingung dafür zu se356

hen, daß Frankreich seine nicht zuletzt durch militärische Schwäche bedingte Isolierung in der europäischen Politik durchbrach. Die Reaktion der politischen und militärischen Führung des Reiches auf diese seit 1874/75 konkret antizipierte zweifache „Bedrohung" bildete ein zentrales Element für die qualitative Veränderung des strukturellen Konfliktniveaus sowie der Mechanismen der Konfliktaustragung, die sich während der zweiten Hälfte der 70er Jahre in den zwischenstaatlichen Beziehungen der europäischen Staaten, aber auch in sämtlichen Bereichen ihrer inneren Politik durchsetzte. Symptomatisch war die von der Führung des Deutschen Reiches in der Krieg-in-Sicht-Krise inaugurierte Politik kaum noch verhüllter Drohungen mit dem Zweck, unter Ausnutzung der noch vorhandenen Disparität der Machtverteilung in Europa den als gefährlich erkannten Entwicklungstendenzen entgegenzutreten. Der Mißerfolg des 1875 unternommenen Versuchs, durch massive Drohung das Tempo der französischen Wiederaufrüstung zu hemmen, hinderte die politische Führung des Reiches nicht daran, ähnliche Versuche zu wiederholen und das Prinzip der militärischen Abschreckung zum festen Bestandteil der deutschen Außenpolitik zu machen. Solange damit nicht auch die Bereitschaft verbunden war, selbst angesichts einer unsicheren außenpolitischen Konstellation den Schritt von der Drohung zum Präventivkrieg zu vollziehen, blieb die Wirksamkeit dieser Politik u. a. von der Entschlossenheit abhängig, das Präventivprinzip konsequent auf die rüstungspolitische Ebene mit weitreichenden innenpolitischen und finanziellen Konsequenzen zu übertragen. Nicht nur die Steigerung des deutschen Militärpotentials gewann damit seit 1875 für die deutsche Innenpolitik eine unmittelbare Aktualität, sondern nach den bisher nur halbherzig vorangetriebenen Bemühungen um eine Reichsfinanzreform führte jetzt kein Weg mehr daran vorbei, die Frage einer „steuervermehrenden Reichsfinanzreform" definitiv zur Entscheidung zu bringen. Es gehörte zu den Intentionen dieser Arbeit, die strategische Bedeutung dieses zentralen, vielfach unterbelichteten Aspektes für den innenpolitischen Umschwung von 1879 hervorzukehren und auf den Zusammenhang zwischen den Anforderungen einer forcierten Rüstungspolitik im Rahmen eines internationalen Rüstungswettlaufs, Reichsfinanzreform, handelspolitischer Reaktion und Neuorientierung der deutschen Außenpolitik hinzuweisen. Während somit die Verschärfung des Kampfes um die militärische Hegemonie eine neue Phase der deutsch-französischen Beziehungen einleitete, bildete im Hinblick auf die deutsch-russischen Beziehungen das Ende der industriellen und agrarischen Hochkonjunktur einen ähnlich markanten Einschnitt. Wenn sich auch seit 1874/75 die Anzeichen mehrten, die auf eine militärpolitische Rivalität auch zwischen Deutschland und Rußland hindeuteten, können doch die Auswirkungen des konjunkturellen Einbruchs als Ursache für die sich schnell verschärfenden deutsch-russischen Spannungen kaum hoch genug eingeschätzt werden. Denn die Intensität und die Dauer dieser internationalen Wachstumsstörung löste nicht nur die Basis für die von beiden Seiten verfolgte Politik des Interessenausgleichs auf, sondern mit ihr trat schlagartig die für das deutsch357

russische Verhältnis während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristische Diskrepanz ungleicher ökonomischer Machtverteilung und Entwicklungschancen in Erscheinung. Daher konnte auch nicht die Kompromißlosigkeit überraschen, mit der die russische Wirtschafts- und Finanzpolitik schon auf die ersten Symptome der Wachstumsstörung reagierte, um den ohnehin mühsam genug in Gang gekommenen Wachstumsprozeß zu stützen. Während die deutsche Wirtschaftspolitik erst 1879 den entscheidenden Schritt zur Abkehr von der „liberalen Ä r a " vollzog, schwenkte die russische Regierung schon 1875 auf einen entschieden protektionistischen Kurs ein. Zwei Jahre später sah sie schließlich in der mit vielen Risiken behafteten militärischen Expansion auf dem Balkan ein letztes Mittel, um durch eine Kriegskonjunktur den Gefahren wirtschaftlicher Stagnation zu begegnen. Die starke Zunahme der innenpolitischen Spannungen in Deutschland und in Rußland im Verlauf der zweiten Hälfte der 70er Jahre war ein unverkennbares Indiz, daß sich in beiden Staaten auch die innenpolitische Gesamtlage, die die gemeinsame Abneigung der herrschenden Klassen gegen eine weitere Veränderung des europäischen Status quo begründet und die Regelung konfligierender politischer und wirtschaftlicher Interessen als wünschbar hatte erscheinen lassen, innerhalb kurzer Zeit einschneidend veränderte. Die nach Jahren relativer Stabilität sich schnell zuspitzende Krisenlage des preußisch-deutschen Konstitutionalismus und der zaristischen Autokratie ließ sich einerseits nur mit der Intensität und Dauer erklären, mit der die internationale Wirtschaftskrise sämtliche Bereiche des politischen und sozialen Lebens beider Staaten erfaßte. In den konkreten Auswirkungen der Krise und den Reaktionen der politischen Eliten wurde freilich andererseits deutlich, wie sehr die industrielle und agrarische Hochkonjunktur der 60er Jahre die Tatsache verdeckt hatte, daß neben der ökonomischen und militärischen Macht sowie den wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten a,uch die Chancen zur Aufrechterhaltung der politischen Ordnung ungleich verteilt waren. Obgleich sich die politische Führung des Deutschen Reiches in der Periode einer ökonomischen Wachstumsstörung auch noch überraschend der Herausforderung eines deutsch-französischen Rüstungswettlaufs mit unabsehbaren politischen, finanziellen und sozialen Konsequenzen konfrontiert sah, konnte sie durch die „zweite Reichsgründung" dieser Herausforderung wirksam begegnen, ohne daß die politischen Stabilitätsbedingungen einer in der Vergangenheit erfolgreichen „partiellen Modernisierung" jemals ernsthaft in Frage gestellt worden wären. Die deutsche Politik wies damit in der Reaktion auf eine sozialökonomische und innenpolitische Krisenlage eine ungleich größere Flexibilität als die russische auf. Es wäre übertrieben, hierin ausschließlich oder auch nur primär ein Resultat Bismarckschen Krisenmanagements zu sehen. Denn im Unterschied zum Deutschen Reich reduzierte in Rußland das Ende der industriellen und agrarischen Hochkonjunktur die ökonomischen Entwicklungschancen eines unterentwickelten Landes so drastisch, daß sich die Regierung bei ihren Bemühungen um eine dauerhafte Festigung der Autokratie mittels erfolgreicher wirtschaftlicher Reformpolitik noch 358

hinter den Ausgangspunkt nach dem Krimkrieg zurückgeworfen sah. Das erklärt, warum die zaristische Regierung nicht nur kompromißlos die radikale Wendung zum konsequenten wirtschaftlichen Protektionismus vollzog, sondern in der militärischen Expansion den letzten Ausweg sah, um die Phase ökonomischer Stagnation und die aus ihr resultierenden Gefahren f ü r die Autokratie zu überwinden. Eine zentrale Bedeutung kam dabei der Frage zu, mit welchem Erfolg die deutsche und die russische Regierung innen- und wirtschaftspolitisches Krisenmanagement betreiben konnten bzw. welche unterschiedlichen Spielräume der Konfliktregelung im Rahmen einer unter dem Primat der Innenpolitik betriebenen Außen- und Außenwirtschaftspolitik bestanden, um zu einer der Lage nach dem deutsch-französischen Krieg vergleichbaren Stabilität der europäischen Ordnung zurückzufinden. Unter diesem Aspekt können die wichtigsten Resultate der Krisenperiode der zweiten H ä l f t e der 70er Jahre zusammengefaßt werden: 1. Die militärische Expansion Rußlands auf dem Balkan erwies sich als ein f ü r die Institutionen der Autokratie hochgradig gefährliches Experiment. Sie stürzte die Autokratie in eine offene Dauerkrise, deren H ö h e p u n k t drei Jahre nach Kriegsende mit der Ermordung des „Reformators" erreicht wurde. 2. Die innenpolitische Krise der Autokratie war zu einem erheblichen Teil die Folge der sich mit der Kriegswirtschaft unaufhaltsam verschärfenden Finanzkrise. H i n z u kam, daß durch die Mißernte von 1879/80, die das Ende der industriellen Konjunktur signalisierte, die Gefahr ökonomischer Stagnation mit unübersehbaren Konsequenzen erneut eine unmittelbare Aktualität gewann. 3. Militärisch geschwächt, finanziell erschöpft, durch eine Finanz- und Wirtschaftskrise erschüttert und von einer unaufhaltsam scheinenden Auszehrung ihrer Institutionen bedroht, ging die Autokratie auch außenpolitisch handlungsunfähig aus dem Krieg gegen die Türkei hervor. Der Zeitpunkt, an dem Rußland seine europäische Großmachtrolle wieder würde übernehmen können, war in eine unbestimmte Z u k u n f t hinausgeschoben. 4. Im Vergleich zu Rußland erwies sich die politische Führung des Deutschen Reiches bei der Bewältigung der sozialökonomischen und innenpolitischen Krisenlage als äußerst erfolgreich. Sie hatte nicht nur die sozialen Grundlagen des preußisch-deutschen Konstitutionalismus ungeschmälert erhalten, sondern sich durch die Reichsfinanzreform der rüstungspolitischen Herausforderung erfolgreich gestellt. 5. Bedingt durch die akute Krise der russischen Finanzwirtschaft, die sich in einem permanenten Zwang zur Vermehrung der Staatsschuld niederschlug, sowie durch die mit den Orientanleihen eingeleitete Verlagerung des H a u p t marktes für russische Staatsanleihen von England nach Deutschland, geriet die russische Finanzwirtschaft in eine zunehmend einseitigere Abhängigkeit vom deutschen Kapitalmarkt. Nachdem schon England versucht hatte, seinen politischen Interessen durch Druck auf den russischen Staatskredit massiven Nachdruck zu verleihen, zeichnete sich damit für die deutsche Rußlandpolitik erst359

mais die Möglichkeit ab, durch direkten oder indirekten Druck auf den russischen Staatskredit ihre politischen Zielvorstellungen zu verfolgen. 6. Die politische Führung des Deutschen Reiches hatte zur Abwehr einer sozialökonomischen Krisenlage und in präventiver Vorsicht gegen eine von Frankreich sich abzeichnende Bedrohung der deutschen Hegemonie die Außenund Außenwirtschaftspolitik rigoros dem Primat der Innenpolitik untergeordnet, damit aber zugleich in dem Maße, in dem sie erfolgreich operierte, zu einer Verschärfung der Krise der zaristischen Autokratie beigetragen. Abgesehen davon, daß die H o f f n u n g der traditionalen Elite Rußlands, bei ihren militärischen Expansionsplänen mit der deutschen Dankbarkeit rechnen zu können, unerfüllt blieb, setzten sich die Verstimmungen über die deutsche Wirtschaftspolitik, die rücksichtslos gegen die russischen Interessen einem „nationalen Egoismus" folgte, in nationalistische, primär auf das Deutsche Reich als dem ökonomisch, militärisch und politisch überlegenen Gegner fixierte Ressentiments um. Der Aufstieg des russischen Nationalismus mit einer ausgeprägten antideutschen Komponente zu einer das innenpolitische K l i m a Rußlands beherrschenden Ideologie drückte unmißverständlich die bei allen Gruppen vorhandene Bereitschaft aus, die deutsche Hegemonie in der europäischen Politik nicht länger hinzunehmen. Die Konsequenzen zeigten sich vor allem in der russischen Militärpolitik, die nach dem Krieg gegen die Türkei sich unmißverständlich auf die Eventualität eines Krieges gegen das Deutsche Reich einzustellen begann, aber auch in der Propagierung einer „nationalen" Wirtschaftspolitik mit antideutscher Spitze. Die These, daß der Versuch der traditionalen Elite Rußlands, der Bedrohung ihrer politischen und sozialökonomischen Privilegierung durch eine von vornherein riskante militärische Expansion zu entkommen, die ökonomischen, innenpolitischen und militärischen Voraussetzungen für eine weitere Verschiebung der machtpolitischen Disparitäten in der europäischen Politik zugunsten des Deutschen Reiches schuf und damit den K r ä f t e n einen entscheidenden Auftrieb gab, die die russische Politik auf einen antideutschen K u r s drängten, verweist zugleich auf die Bedingungen, unter denen die deutsche Außenpolitik am Ende der 70er J a h r e eine - wie sich in den 80er Jahren zeigen sollte - irreversible Schwenkung auf einen antirussischen K u r s vollzog. Die Bestätigung der deutschen Hegemonie in der europäischen Politik war so eindeutig, daß die deutsche Westpolitik ihre seit der Reichsgründung verfolgten Strategien unbeirrt fortsetzen konnte. Vielleicht liegt hier der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, warum die politische und militärische Führung des Deutschen Reiches das russische Engagement auf dem Balkan nicht nutzte, um doch noch zu dem vielfach befürchteten „démembrement" Frankreichs zu schreiten. D i e französische Politik zog es vor, sich auf absehbare Zeit der deutschen Hegemonie zu fügen. Dagegen vollzog die deutsche Ostpolitik mit dem deutsch-österreichischen Zweibund von 1879 eine formelle Neuorientierung. Diese Wendung war keine Reaktion, die auf eine geschwächte Stellung des Deutschen Reiches in der europäischen Politik hindeutete. Sie brachte auch nicht die Furcht vor einer un360

mittelbaren militärischen Bedrohung von Osten zum Ausdruck; denn einen Angriff des geschwächten und von einer inneren Krise tief erschütterten Rußland brauchte die stärkste Militärmacht in E u r o p a nicht zu fürchten. D a ß Bismarck dennoch auf den schnellen Abschluß einer formellen Defensivallianz mit Österreich-Ungarn drängte, beruhte auf einer realistischen Einschätzung der K r ä f t e , die die russische Außenpolitik längerfristig bestimmen würden. N a c h den Erfahrungen während der zweiten H ä l f t e der 70er J a h r e sprach vieles für die Annahme, daß letztlich die deutsch-russischen Gegensätze auf allen Ebenen längerfristig unüberbrückbar waren und sich wahrscheinlich weiter verschärfen würden. D a m i t verbunden war ein äußerstes Mißtrauen in die wirklichen Absichten der russischen Außenpolitik, die sich in der gegenwärtigen Schwäche z w a r noch der deutschen Hegemonie fügen mochte, insgeheim aber ihre langfristig antideutschen Tendenzen unbeirrt verfolgte. Bekanntlich schätzte Bismarck die Möglichkeit, daß die russische Wirtschaftspolitik von ihrem antideutschen K u r s abgebracht werden könnte, ohnehin gering ein, und er machte auch kein Hehl daraus, daß ihm die in der Person des Kriegsministers Miljutin personifizierten antideutschen Tendenzen der russischen Militärpolitik schlaflose N ä c h t e bereiteten. Außerdem ließ die zaristische Regierung gerade jene Entschlossenheit in der Verteidigung der Autokratie vermissen, der es bedurft hätte, um zu einer relativen Stabilität der europäischen Ordnung auf der Grundlage monarchischer Solidarität zurückzufinden. Statt dessen stellte die offenkundige Unfähigkeit der traditionalen Elite Rußlands, die Balance zwischen Innen- und Außenorientierung aufrechtzuerhalten, eine permanente Gefährdung des europäischen Status quo dar. Ähnlich wie die deutsche Westpolitik sah sich die deutsche Ostpolitik vor das Dilemma gestellt, daß der Präventivkrieg trotz der überlegenen O f f e n s i v k r a f t der deutschen Armeen und des militärischen Schwächezustandes Rußlands keine Möglichkeit bot, einer als bedrohlich empfundenen Entwicklung zuvorzukommen. Denn noch weniger als im Westen gab es in einem Krieg mit Rußland ein positives Ziel. In dieser Perspektive mußte es als unabweisliches Gebot der Stunde erscheinen, wenn die deutsche Rußlandpolitik auf allen Ebenen der zwischenstaatlichen Beziehungen, d. h. nicht nur der diplomatischen, sondern vor allem auch der militär-, der wirtschafts- und der finanzpolitischen Ebene konsequent das Präventivprinzip zur Grundlage ihrer kurz- und längerfristigen Entscheidungen machte, um der potentiellen Gefährdung der deutschen Hegemonie in der europäischen Politik oder gar dem Versuch einer gewaltsamen Veränderung des europäischen Status quo zuvorzukommen. Entscheidende

Voraussetzung

für die von Bismarck gegen heftige innenpolitische Widerstände systematisch - nicht zuletzt durch eine provokative Wirtschaftspolitik gegenüber Rußland -

durchgesetzte Neuorientierung der deutschen Rußlandpolitik war einmal

die Uberzeugung, wie gegenüber Frankreich auch Ostpolitik von einer Position der Stärke aus betreiben zu können; zum anderen die Zielvorstellung, daß nur noch durch massiven wirtschaftlichen, finanziellen und diplomatischen Druck 361

die zaristische Politik dazu gebracht werden könne, sich außenpolitisch abstinent zu verhalten und nolens volens der deutschen Hegemonie zu fügen. Diese Konzeption läßt sich zum Teil aus der Erfahrung ableiten, daß sich die russische Regierung angesichts der kritischen inneren Lage nach dem Krimkrieg zwanzig Jahre lang auf eine passive Rolle in der europäischen Politik beschränkt hatte. Was lag näher als die Annahme, daß sich das nach dem Krieg gegen die Türkei geschwächte Rußland wiederum seinen inneren Problemen zuwenden werde? Die Logik, der die deutsche Rußlandpolitik seit dem Ende der 70er Jahre folgte, kann freilich eher durch die kontrafaktische Frage verdeutlicht werden, ob es angesichts der konkreten innenpolitischen und ökonomischen Veränderungen in den Voraussetzungen und Antriebskräften russischer Außenpolitik noch eine Alternative zu ihr gab. Die Analyse der innenpolitischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der deutschen und der russischen Außenpolitik während der ersten H ä l f t e der 80er Jahre zwingt dazu, diese Frage zu verneinen. 1. Die Gefahr eines russisch-französischen Gegenbündnisses zum deutschösterreichischen Zweibund von 1879 konnte 1879/80 noch nicht akut werden. Angesichts der unüberwindlich scheinenden englisch/österreichisch-russischen Gegensätze, aufgrund der Tatsache, daß sich Frankreich auf absehbare Zeit der deutschen Hegemonie zu fügen bereit schien und nicht zuletzt dank der kritischen Lage der zaristischen Autokratie schien die außenpolitische Isolierung Rußlands nach dem Krieg gegen die Türkei perfekt zu sein. 2. Die extremen machtpolitischen Disparitäten, die das deutsch-russische Verhältnis kennzeichneten, boten einer deutschen Rußlandpolitik, die, statt primär einen Interessenausgleich anzustreben, konsequent auf die ernüchternde Wirkung massiver Abschreckungseffekte setzte, gute Erfolgschancen, die Stabilität der europäischen Ordnung zu erzwingen. Der Ausbau des preußisch-deutschen Militärstaates und die erfolgreiche Sicherung seiner finanziellen Grundlagen zu einem Zeitpunkt, an dem die zaristische Regierung aufgrund finanzieller Schwierigkeiten den Abbau der Friedenspräsenzstärke konkret ins Auge faßte, war ebenso wirksam wie der etappenweise Ausbau des „cordon militaire" gegen eine Expansion Rußlands auf dem Balkan durch Zweibund, Dreibund und die Bindung Rumäniens an die Mittelmächte. Tatsächlich gewann die europäische Ordnung zumindest äußerlich den Schein von Stabilität in dem Moment zurück, in dem f ü r Alexander II. an der deutschen Entschlossenheit, einen russischen Angriff auf Österreich-Ungarn nicht zuzulassen, kein Zweifel mehr bestehen konnte, und sein Nachfolger Alexander III. durch sein Einschwenken auf die Linie der Dreikaiserpolitik einerseits und eine konsequent betriebene repressive Stabilisierungspolitik im Innern andererseits der Tatsache Rechnung trug, daß die deutsche Außenpolitik auch in Zukunft jeden erneuten Versuch, durch eine riskante Außenpolitik innenpolitisches Krisenmanagement zu betreiben, zu einem für die Autokratie äußerst gefährlichen Experiment machen würde. 362

3. Nachdem die deutsch-russischen Beziehungen ein hohes Konfliktniveau erreicht hatten, war nicht absehbar, wie sich auf der Grundlage eines Interessenausgleichs der deutsch-russische Antagonismus mindern ließ. Das gilt insbesondere f ü r die Beziehungen auf der wirtschaftlichen Ebene, nachdem beide Staaten auf die Linie einer „nationalen" Wirtschaftspolitik eingeschwenkt waren, die sie unter dem Primat sozialkonservativer Innenpolitik nicht verlassen konnten. Für Deutschland hätte eine wirtschaftspolitische Umkehr die innenpolitischen Stabilisierungserfolge der „zweiten Reichsgründung" in Frage gestellt und die finanzielle Basis geschwächt, auf die sich die Bemühungen um den Ausbau der deutschen Militärmacht nach der Reichsfinanz- und Zolltarifreform von 1879 stützen konnte. Für die russische Wirtschaftspolitik hätte der Verzicht auf protektionistische Grundsätze bedeutet, die letzte noch verbliebene Chance einer zügigen Industrialisierung den Exportinteressen einer übermächtigen deutschen Industrie zu opfern. Auf der militärpolitischen Ebene konnte kein Zweifel daran bestehen, daß die russische Militärpolitik sich langfristig irreversibel auf die Möglichkeit eines Krieges mit dem Deutschen Reich eingestellt hatte, wobei es wesentlich eine Frage der Ressourcen war, mit welcher Intensität sich die militärische Rivalität zuspitzen würde. 4. Die antirussische Wendung der deutschen Außenpolitik Schloß die Möglichkeit nicht aus, über einen kurzfristigen Stabilisierungserfolg hinaus längerfristig der Gefahr, daß die russische Politik aus den Bahnen der Dreikaiserpolitik wieder ausbrach und die deutsche Hegemonie in Frage stellte, begegnen zu können. Erstens bestand f ü r die russische Regierung, auch wenn sie die deutsche Hegemonie in der europäischen Politik anerkannte, die Chance, durch eine erfolgreiche Expansionspolitik in Asien innenpolitische Stabilisierungspolitik zu betreiben. Daher - und nicht nur, um die russisch-englische Rivalität zu schüren - fand die russische Asienpolitik die wohlwollende Unterstützung Bismarcks. Zweitens schien angesichts der Anzeichen eines industriellen A u f schwungs und eines Anstiegs der europäischen Getreidepreise von 1879 bis 1881 die Erwartung nicht unberechtigt, daß sich auf längere Sicht die Chancen zugunsten eines deutsch-russischen Interessenausgleichs auf der wirtschaftlichen Ebene wieder verbesserten. In diese Richtung verwies auch die Weigerung des russischen Finanzministers Bunge, den extremsten protektionistischen Forderungen der russischen Industriellen entgegenzukommen. Damit erklärt sich auch die Hartnäckigkeit des Widerstandes, den Bismarck während der ersten H ä l f t e der 80er Jahre solchen weitergehenden Forderungen agrarischer und industrieller pressure-groups entgegensetzte, die sich aus dem speziellen Interessengegensatz zu Rußland herleiteten. Prinzipiell nicht ausgeschlossen schien auch die Aussicht, daß das Tempo eines sich in vagen Konturen abzeichnenden deutsch-russischen Rüstungswettlaufs unter Kontrolle gebracht werden und der russischen Militärpolitik ihre einseitig antideutsche Spitze genommen werden könnte. Den Beweis dafür lieferte die Entwicklung der Jahre 1883-85, als unter Ausnutzung der wachsenden finanziellen Abhängigkeit der russischen Finanzwirtschaft vom deutschen Kapitalmarkt durch massiven politischen Druck 363

auf den Staatskredit sich der Zar nicht nur bereitfand, einzelne an die preußische Grenze vorgeschobene Truppenkontingente zurückzunehmen, sondern offenbar auch von den finanziellen und innenpolitischen Vorteilen überzeugt werden konnte, die eine Politik der wirtschaftlichen und außenpolitischen Verständigung mit dem Deutschen Reich mit sich bringen konnte. Die Bereitschaft Alexanders III., das Dreikaiserbündnis zu verlängern und das Engagement Bismarcks zugunsten des russischen Staatskredits im Jahre 1884/85 deuteten jedenfalls auf das Interesse beider Seiten hin, zu einem langfristigen Ausgleich zu gelangen. D a ß in der zweiten H ä l f t e der 80er Jahre nicht nur die vorangegangenen Stabilisierungserfolge der deutschen Rußlandpolitik wieder zunichte gemacht wurden, sondern sich auch alle Bemühungen, die europäische Ordnung zu stabilisieren, als letztlich vergeblich erwiesen, ließ sich wiederum nicht primär auf unüberbrückbare außenpolitische Divergenzen zwischen den europäischen Staaten zurückführen. Das gilt insbesondere für die scheinbar „rein außenpolitischen" Gegensätze zwischen Rußland und Österreich-Ungarn auf dem Balkan und das Scheitern der „Dreikaiserpolitik". Der starke Anstieg des Konfliktniveaus, der die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten im Verlaufe der zweiten H ä l f t e der 80er Jahre kennzeichnete, war - wie gezeigt werden sollte - statt dessen durch deutlich lokalisierbare innenpolitische und ökonomische Faktoren determiniert: Erstens durch die Fortdauer der internationalen industriellen Depressionen und Agrarkrisen, die - mit graduell unterschiedlichen Auswirkungen in den einzelnen Staaten - 1886 ihren Tiefpunkt erreichten; zweitens durch die Intensität, mit der die ökonomische Wachstumsstörung die politischen und sozialen Grundlagen des preußisch-deutschen Militärstaates und der zaristischen Autokratie gefährdete; drittens durch die akute Krise der französischen Republik und der durch sie erzwungenen Neuorientierung der französischen Außenpolitik; viertens durch die Probleme eines internationalen Rüstungswettlaufs, dessen schon in der Anfangsphase nur mühsam kontrollierbare Dynamik die beteiligten Staaten permanent dem Zwang unterwarf, innenpolitische Widerstände gegen die zunächst noch langsam aber stetig steigenden Rüstungsausgaben zu überwinden; fünftens durch den von der russischen und deutschen Regierung vollzogenen Übergang zu einer Wirtschaftspolitik des rigorosen „nationalen Egoismus", die allein noch geeignet schien, die dem innenpolitischen Status quo aus der sich ständig verschärfenden sozialökonomischen Krisenlage erwachsenden Gefahren abzuwehren. Anhand dieser Kriterien ließen sich in der Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen der späten Bismarckzeit drei Phasen unterscheiden: 1. In den Jahren 1885/86 setzten sich sowohl in Rußland als auch in Deutschland die Tendenzen zugunsten einer rigorosen Politik des „nationalen Egoismus" teilweise durch, und zwar vor allem auf der Ebene der Wirtschaftspolitik. Die unter dem Primat einer sozialkonservativen Innenpolitik unabweisbare Erhöhung der deutschen Getreidezölle von 1885 hatte f ü r die deutsch-russischen Beziehungen eine strategische Bedeutung insofern, als mit 364

ihr die kritische Schwelle für eine potentiell unbegrenzte Eskalation des deutsch-russischen Wirtschaftsantagonismus überschritten wurde. Die Erhöhung der deutschen Agrarzölle von 1885 lieferte den industriellen Schutzzöllnern in Rußland den entscheidenden Vorwand, um weitgehende protektionistische Forderungen durchzusetzen. Dennoch schien die Möglichkeit, den deutsch-russischen Wirtschaftsantagonismus einzugrenzen und insbesondere ein Übergreifen auf die politische Ebene zu verhindern, prinzipiell noch nicht ausgeschlossen zu sein. Die Abhängigkeit des russischen Agrarexportes vom deutschen Markt, vor allem aber die finanzielle Abhängigkeit des russischen Staatskredits vom deutschen Kapitalmarkt, die im Falle eines offenen Bruchs mit dem Deutschen Reich gerade angesichts der kritischen Finanzlage des Jahres 1886 leicht zu einer Katastrophe f ü r die russische Finanzwirtschaft hätte führen können, erwiesen sich für diejenigen Kräfte, die auf eine antideutsche Wendung der russischen Außen- und Wirtschaftspolitik drängten, noch als unüberwindliche Hindernisse. Konsequent setzte hier auch die Bismarcksche Stabilisierungspolitik an, indem sie durch indirekten Druck auf den russischen Staatskredit einerseits und durch diplomatische Verhandlungsbereitschaft andererseits die innenpolitische Stellung der Befürworter einer Verständigungspolitik mit dem Deutschen Reich zu stärken suchte. Diese Politik entsprach nicht nur dem außenpolitischen Interesse, eine unbegrenzte Eskalation des deutsch-russischen Antagonismus zu verhindern, sondern sie deckte sich auch mit den Bestrebungen der deutschen Industrie, ihre langfristigen Exportinteressen auf dem russischen Markt endlich vertraglich abzusichern. 2. Die Entwicklung der Jahre 1887/88 zeichnete sich dadurch aus, daß jetzt die Kräfte, die die russische Politik auf einen antideutschen Kurs drängten, die Oberhand gewannen und die deutsche Politik gezwungen war, diese Entwicklung mit allen Mitteln zu verhindern. Die deutsche Rußlandpolitik schritt damit auf dem in der zweiten H ä l f t e der 70er Jahre eingeschlagenen Weg, das Präventivprinzip zur Grundlage ihrer Entscheidungen zu machen, konsequent fort, wobei sie jetzt aber auch nicht mehr vor der Anwendung ökonomischer Sanktionen, massiver militärischer Abschreckung und einer Verstärkung des politischen Drucks zurückschreckte. Die Zielvorstellung war jetzt nicht mehr, durch indirekten finanziellen und politischen Druck die traditionalen Eliten Rußlands von einer riskanten Außenpolitik abzuhalten und indirekt die innenpolitische und sozialkonservative Stabilisierung der Autokratie zu fördern, sondern durch kaum noch verhüllte ökonomische Sanktionen und finanziellen Druck das politische System Rußlands zu destabilisieren, um es f ü r außenpolitische Aktionen oder gar f ü r den Versuch einer gewaltsamen Veränderung des europäischen Status quo handlungsunfähig zu machen. In den zähen Auseinandersetzungen um den „Rückversicherungsvertrag" gelang es dieser Politik zwar, eine offen antideutsche Wendung der russischen Außenpolitik zu verhindern, ihr wesentlichstes Ziel konnte sie dennoch nicht erreichen. Durch die krisenhafte Zuspitzung der inneren Lage der Autokratie wurde die Politik des politischen und ökonomischen Interessenausgleichs mit dem Deutschen Reich 365

hoffnungslos diskreditiert. Statt einer Stabilisierung der sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen der Autokratie hatte die Verständigungspolitik nur scheinbar unaufhaltsam tiefer in die Krise und darüber hinaus in eine wachsende finanzielle und wirtschaftliche Abhängigkeit geführt. Der massive deutsche Druck konnte in dieser Lage nur nationalistische Abwehrreaktionen mobilisieren und die Entschlossenheit fördern, sich durch einen radikalen Richtungswechsel aus der politischen und ökonomischen Abhängigkeit vom Deutschen Reich zu befreien. Die Erfolgschancen dieses gegen massiven deutschen Druck unternommenen Versuchs wuchsen in dem Maße, in dem die französische Außenpolitik unter starken innenpolitischen Zwängen systematisch die Annäherung an Rußland voranzutreiben suchte. Denn jetzt konnte sich die russische Politik nicht nur das antideutsche Gewicht Frankreichs in der europäischen Politik zunutze machen, sondern auf das Gewicht Frankreichs als führender Finanzmacht in Europa zurückgreifen, ohne deren Unterstützung jeder Versuch, sich aus der einseitigen finanziellen Abhängigkeit vom Deutschen Reich zu befreien und durch eine prohibitive Zollpolitik die Gefahr einer industriellen Stagnation zu bannen, schon im Ansatz hätte scheitern müssen. Auch der „Zufall" von zwei aufeinanderfolgenden außerordentlich günstigen Ernteergebnissen ausgerechnet auf dem Höhepunkt des deutsch-russischen Wirtschaftskrieges kann in diesem Zusammenhang kaum hoch genug veranschlagt werden. Die wichtigste außenpolitische Dimension des französisch-russischen Zusammenspiels mußte schließlich darin gesehen werden, daß es nur mit Hilfe Frankreichs als Kapitalmacht nicht nur der russischen Regierung gelingen konnte, sich aus der einseitigen Abhängigkeit von Deutschland zu befreien, sondern das russisch-französische Zusammenspiel auf der militär-, der rüstungs- und der finanzpolitischen Ebene die seit 1870/71 ernsthafteste Bedrohung der deutschen Hegemonie in Europa bedeutete. 3. Die Bismarcksche Weigerung, entsprechend den Forderungen der militärischen Führung der akuten Gefährdung der deutschen Hegemonie durch den Präventivkrieg zu begegnen, ließ - nachdem die Politik der ökonomischen Sanktionen und der militärischen Abschreckung die französisch-russische Annäherung nur beschleunigt hatte - , noch die Möglichkeit offen, gegen eine verbreitete antirussische Stimmung in der politischen und militärischen Führung einen radikalen Kurswechsel der deutschen Rußlandpolitik von der offenen ökonomischen und politischen Konfrontation zu einer Politik intensiver Bemühungen um einen Abbau der deutsch-russischen Spannungen zu vollziehen, noch bevor die russisch-französische Annäherung auch zu einem formellen Bündnis geführt hatte. Die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen in der Ära Caprivi zeigt, daß diese abrupte Wendung nicht mehr imstande war, den Prozeß der russisch-französischen Annäherung aufzuhalten. Eine nicht minder große Bedeutung kommt der Frage zu, welche Rolle das Scheitern der Bismarckschen Rußlandpolitik für die innenpolitischen Auseinandersetzungen in der politischen und militärischen Führungsspitze des Reiches, die schließlich zum Sturz Bismarcks führten, spielte. Allen Tendenzen in der Literatur zum 366

Trotz, außenpolitische Einflüsse auf den innenpolitischen Entscheidungsprozeß der Jahre 1889/90 zu leugnen, muß zumindest darauf hingewiesen werden, daß die Bismarcksche Rußlandpolitik die zum Zeitpunkt der Reichsgründung noch nicht unmittelbar akute Gefahr einer russisch-französischen Annäherung nicht hatte bannen können, ja sie vielleicht sogar erst provoziert hatte, daß zweitens sich das Deutsche Reich am Ende der Bismarckzeit mit der Problematik eines unbegrenzten internationalen Rüstungswettlaufs konfrontiert sah und daß drittens schließlich der außenpolitische Mißerfolg die innenpolitische Stellung Bismarcks, die seit 1866 auf seinen außenpolitischen Erfolgen beruhte, entscheidend schwächen mußte.

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9. Anhang

9.1 Anmerkungen 1 Zur allgemeinen Diskussion vgl. K. W. Deutsch, Analyse internationaler Beziehungen. Konzeption u. Probleme der Friedensforschung, F r a n k f u r t 1968; E. Krippendorff (Hg.), Probleme der internationalen Beziehungen, F r a n k f u r t 1972; D. Senghaas, Friedensforschung u. Gesellschaftskritik, F r a n k f u r t 1973; A.-D. Calamaros, Internationale Beziehungen. Theorien - Kritik - Perspektiven, Stuttgart 1974; K. J. Gantzel u. a., Konflikt - Eskalation - Krise. Sozialwissenschaftliche Studien zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Düsseldorf 1972. 2 E. Daudet, Histoire diplomatique de l'alliance franco-russe 1873-1893, Paris 1894 2 ; G. H a n o t o u x , Geschichte des zeitgenössischen Frankreich 1871-1900, 3 Bde., Berlin 1903-1909; P. Albin, La paix armée. L'Allemagne et la France en Europe 1885-1894, Paris 1913; G. Michon, L'Alliance franco-russe 1891-1917, Paris 1927; Zur französischen Quellenlage vgl. P. Jakobs, Das Werden des französisch-russischen Zweibundes 1890-1894, Wiesbaden 1968, S. 3 - 6 ; R. Girault, Emprunts russes et investissements français en Russie 1887-94, Paris 1973; R. Poidevin, Finances et Relations Internationales 1887-1914, Paris 1970. 3 Vgl. dazu Β. M. Tupolew, Zur Erforschung der russisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen zwischen 1871 und 1900 in der sowjetischen Historiographie, i n : VSWG, Bd. 61, 1974, S. 212-23. 4 Hierzu vor allem S. K u m p f , Zu den zollpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und R u ß l a n d in der letzten Periode der Bismarckschen Ära, in: Jb. UdSSR, Bd. 8, 1964, S. 143-77; dies., Bismarcks D r a h t nach Rußland, Berlin 1968. 5 F. Fischer, Ideologie der Rußlandfeindschaft, in: ders., Krieg der Illusionen, Düsseldorf 1962 2 ; F. T. Epstein, Der Komplex „Die russische G e f a h r " und sein E i n f l u ß auf die deutsch-russischen Beziehungen im 19. Jahrhundert, in: I. Geiss u. B. J. Wendt (Hg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973, S. 143-59. Als Belege f ü r die noch starke Tradition einer einseitig diplomatiegeschichtlich orientierten und auf die Person Bismarcks fixierten Fachhistorie vgl. L. Gall (Hg.), Das Bismarckproblem in der Geschichtsschreibung nach 1945, Köln 1971; H . H a l l m a n n (Hg.), Zur Geschichte und Problematik des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages von 1887, D a r m s t a d t 1968; A. Hillgruber, Bismarcks Außenpolitik, Freiburg 1972. Als Beispiel f ü r die Verdrängung der ökonomischen Aspekte durch die Osteuropa-Forschung der B R D vgl. R. Wittram, Bismarcks Rußlandpolitik nach der Reichsgründung, in: H Z , Bd. 186, 1958, S. 261-84 u. die personalistische Arbeit von P. Jakobs. Über den Zusammenhang zwischen der Abwehrhaltung gegenüber der These von der deutschen Kriegsschuld und einer bis in die Quellenauswahl völlig einseitigen diplomatiegeschichtlichen Geschichtsschreibung vgl. die Zustimmung, mit der deutsche Historiker „Die große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914" als Beitrag zur Kriegsschuldfrage begrüßten: H . Goldschmidt, in: WA, Bd. 19, 1922, 525-27; vgl. auch B. Schwertfeger, Der Fehlspruch von Versailles, Berlin 1921. 6 Zur Diskussion über das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft vgl. H . - U . Wehler (Hg.), Geschichte und Soziologie, Köln 1972; ders. (Hg.), Geschichte und Ökonomie, Köln 1973; P. Ch. Ludz (Hg.), Soziologie und Sozialgeschichte 1973; spe-

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Anmerkungen

zu Seite 12-13

ziell zur Bismarckzeit und den deutsch-russischen Beziehungen H.-TJ. Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, Köln 1969; ders., Krisenherde des Kaiserreiches 1871-1918, Göttingen 1970; ders., Das deutsche Kaisen. « HPB1. 9, 1882, S. 391-394. 17 Gerloff, S. 189-190; Poschinger, Tabakmonopol, S. 224. 18 Gerloff, S. 191; Poschinger, Tabakmonopol, S. 224-225; Das Scheitern des „Verwendungsgesetzes" v. März 1883 machte das Scheitern der Versuche, „die preußische Steuerpolitik den Zielen der Reichsfinanzpolitik unterzuordnen", endgültig sichtbar; vgl. Kap. 5.1.2.1. 18 Zolleinnahmen: 1883 = 187,27 Mio., 1884 = 190,8 Mio. Mark; Verkehrssteuern: 1883 = 21,1 Mio., 1884 = 21,6 Mio. Mark; Verbrauchssteuern: 1880-1884 = 122, 89; 171,7; 157,3; 143,6; 144,8 Mio. Mark; Caasen, Ani. II. 20 Gerloff, S. 522. 21 Ebd., S. 233. 22 Ebd., S. 184. Reichsschuld 1879-85 jeweils zum 31. 3. in Mio. Mark: 138,86; 218,05; 267,78; 318,23; 373,12; 410, ebd., S. 521. 23 Gerloff, S. 524; C. Sattler, Die Schulden des preußischen Staates von 1870-91, in: Far 9, 1892/1, S. 145-148. 24 Ausführlich zu den finanziellen Aspekten der Verstaatlichungsoperationen ebd., S. 121-135; Wagner, Lehr- u. Handbuch der politischen Ökonomie IV/1, Leipzig 18833, S. 708-11; Cohn, S. 534; Dückers, Die finanziellen Ergebnisse der Staatseisenbahnverwaltung, in: Far 2, 1881/1, S. 63-91. 25 Vgl. Kap. 5.1.2.1. 2 « Gerloff, S. 192. 27 Ebd. 28 Protokoll des Staatsministeriums v. 28. 8. 80, Stürmer, S. 168. Seit Jahresanfang 1883 bemühte sich die preußische Finanzverwaltung intensiv um die Reform der Zukkersteuer, w o f ü r es nur einen Anlaß gab, „die Mindereinnahmen des Reiches aus der Besteuerung des Zuckers" zu erhöhen; VSWR, Bericht 1885, S. 40; vgl. auch Knauer-Gröbers, ebd., S. 32. 29 Das Zuckersteuergesetz v. Juli 1883 wirkte geradezu komisch, wenn es eine Senkung der Exportvergütungssätze um ganze 80 Pf/100 kg vorsah. Mit der im Frühjahr

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Anmerkungen

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263-266

1884 einsetzenden „Zuckerkrise" auf dem europäischen Markt war für die Zuckerfabrikanten jede fiskalisch motivierte Zuckersteuerreform erst recht illusorisch; R. v. Kaufmann, Die Zuckerindustrie in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für die Staaten Europas, Berlin 1878, S. 93-103; O. v. Aufseß, Die Zölle und Steuern sowie die vertragsmäßigen auswärtigen Handelsbeziehungen des Deutschen Reiches, ADLR, 1886, S. 92-100; zum Stand der Zuckerrübenfabrikation vgl. StJbDR 7, 1886, S. 54, 210. 30 Wessel, S. 517. 31 Gerloff, S. 191. 32 Die „Freie Wirtschaftliche Vereinigung" war eine Gruppierung, „die sich aus Mitgliedern der verschiedensten politischen Parteien zusammensetzte, in wirtschaftlichen Fragen aber auf dem Boden der Steuerreform stand"; Wessel, S. 517-518. 33 Wessel, S. 518, betont das protektionistische Motiv; vgl. auch Kap. 5.1.2.1. 34 Vgl. dazu die Anfrage der agrarischen Mitglieder der „Vereinigung" v. Dezember 1884, „ob die Eisenindustrie irgendwelche Wünsche auf Zollerhöhungen habe"; Vorstandssitzung der nordwestl. Gruppe des VDESI v. 29. 12. 1884, Punkt 2 der Tagesordnung: „Die Verhältnisse der wirtschaftlichen, besonders der zollpolitischen Gesetzgebung nach der Partei- und Gruppenbildung im neuen Reichstag", StE, 5. 2. 1885, S. 117. 35 Vorstandssitzung nordwestl. Gruppe VDESI v. 17. 1. 1885, ebd., S. 199; vgl. auch StE v. 5. 12. 1885, S. 744-745. 38 Vgl. Kap. 5.1.2.2. 37 Diesen Aspekt betont zu Recht Schneider, S. 247-248. 38 1880-1882 hatten sich die Einnahmen aus den Getreidezöllen von 14,7 auf 19,3 Mio. Mark und ihr Anteil an den gesamten Zolleinnahmen von 8,8 auf 9,5% erhöht. Aufgrund der stagnierenden Getreideimporte war die Entwicklung zwar 1883 rückläufig (19,2 Mio. Mark bzw. 9,2%). Aber 1884 stiegen die Einnahmen aus den Getreidezöllen auf 24,2 Mio. Mark, d. h. 19,9% der gesamten Zolleinnahmen; ebd., S. 253. 39 Vgl. Kap. 2.2.1. Man rechnete mit einer allmählichen Steigerung der Getreideeinfuhr trotz der Zollerhöhungen, zumindest aber mit einer konstanten Einfuhr; Wessel, S. 520. 40 Ebd., S. 40, 518; vgl. auch Kap. 5.1.2.1. 41 Dazu ausführlich Wessel, S. 519-524; Schneider, S. 253-256. 42 * Cohn, Finanzwissenschaft, S. 614. 43 Vgl. dazu die Feststellung Wagners, daß gerade bei der Zuckersteuer der „Widerstreit der volkswirtschaftlichen . . . mit den fiskalischen Interessen scharf und charakteristisch hervortrat", Lehr- und Handbuch der politischen Ökonomie, IV/III/1, Leipzig 1910 a , S. 306. 44 Ebd., S. 320-322; Aufseß, Zölle und Steuern, ADLR, 1886, S. 167-176; vgl. Kap. 5.1.2.1. 45 Die Getreidespekulation wurde bei den finanzpolitischen und protektionistischen Überlegungen unterschätzt; Wessel, S. 520; vgl. Kap. 2.2.1. 46 Schulze-Gävernitz (Studien, S. 251) sah hierin einen Wendepunkt in der russischen Zollpolitik; denn erstmalig „stand der Retorsionszweck gegen Deutschland im Vordergrund". 47 H . Bismarck: Rantzau, 4. 3. 84, Bußmann, S. 218. 48 Provozierend erklärte Bismarck anläßlich der Debatten über die Zolltarifänderung öffentlich: „Warum soll der Finanzminister des Deutschen Reiches nicht die Zölle annehmen, die das Ausland wie Amerika und Rußland ihm zu zahlen bereit ist." Für die „Freunde in Ungarn, Rußland und Amerika" hatte er nur ein Bedauern übrig, „daß wir ihr Korn besteuern mit einem Zoll, den sie werden tragen müssen, wenn sie nicht auf den Import verzichten wollen"; RT-Rede v. 4. 2. u. 12. 5. 85; zit. nach Po-

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schinger, Volkswirt, III, S. 33-34, 47. Auffallend ist auch die Rücksichtslosigkeit, mit der selbst Schweinitz in der Agrarzollfrage die deutschen Eigeninteressen verteidigte; Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 85, PA Rußland 71, B.d. 4. 49 H . Bismarck: Rantzau, 4. 3. 84, Bußmann, S. 218. 50 Ebd., S. 218-219. 51 „Rußland fand sich durch den deutschen Koloß . . . gewissermaßen gelähmt, in jeder der inneren und äußeren Fragen war die russische Regierung gezwungen, sich zu fragen, ob der oftmals mürrische Nachbar nicht in seinen Interessen getroffen werde, ob er nicht Schwierigkeiten machen würde"; zit. nach Robolsky, Rußland und der Dreibund, S. 26. 52 Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 85, PA Rußland 71, Bd. 4-5. Vgl. auch die Äußerung Kálnokys: die russische Friedenspolitik setzte „keine sehr tiefgehenden Freundschaftsgefühle voraus, habe aber doch den Vorzug, daß, da das Bedürfnis Rußlands für Hebung seiner Finanzen noch nicht so bald befriedigt sein werde, die jetzige Politik Aussicht auf längere Dauer habe"; zit. nach Windelband, S. 434. Auch Bismarck war skeptisch, ob die russische Friedensliebe länger als die „Geldklemme" dauerte; Februar 1884, ebd., S. 449. 53 H . Bismarck: Rantzau, 4. 3. 84, Marg. 3, Bußmann, S. 220. 54 Sattler, Die Schulden des Deutschen Reiches, ders., Die Schulden des preußischen Staates, S. 135-138; G. Schanz, Die Konvertierung preußischer Staatsschulden, in: Far, 2, 1885/2, S. 497-515. 55 Wessel, S. 519. Damit waren wichtige Weichen für das „Kartell" von 1887 gestellt.

6.1.1. 1

Vgl. Kap. 5.2. Vgl. Kap. 2.2.2. 3 Tugan-Baranovski, S. 471; Pokrowski, S. 204-205. 4 Vgl. Kap. 2.2.1. 5 Th. Buck, Volkswirtschaftliche Korrespondenz, St. Petersburg, Mai 1886, in: VVPK 23, 1886/3, S. 86-87; Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 1887, GStA, III. Hauptabteilung Nr. 1056. 6 Buck, S. 89. 7 Vgl. dazu Kap. 2.1 u. 5.1.1. 8 Th. Buck, Volkswirtschaftliche Korrespondenz, St. Petersburg, Oktober 1886, in: VVPK 23, 1886/4, S. 196-197; Golowin, S. 156-158. 9 1886 verteilte sich der private Grundbesitz im europäischen Rußland (mit Ausschluß Polens): Adel = 79%, Kaufleute und Gewerbetreibende = 11%, Bauern = 6%, Kleinbürger = 2%, Geistlichkeit und übrige Gruppen = 2 % ; Buck, in: VVPK 23, 1886/4, S. 195. 10 Ebd., S. 199; vgl. Kap. 5.1.1. 11 Der Zuckerpreis, der auf dem Markt in Kiew im März noch 7,3 Rbl/Pud betragen hatte und im Verlaufe des Jahres 1883 in Petersburg sogar einen Höchststand von 9,5 Rbl erreicht hatte, sank auf den Zuckermärkten von Kiew und Warschau im Sommer 1885 unter 4 Rbl, ebd., S. 201-204. 12 Buck, in: VVPK 23, 1886/3, S. 80; ders., ebd., 23, 1886/4, S. 189. 13 Vgl. Kap. 2.1.1 u. 5.1. 14 Vgl. Kap. 5.1.1.2. 15 Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 1885, PA Rußland 71, Bd. 4. 2

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Anmerkungen

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271-274

" Schweinitz: Bismarck, 14. 1. u. 20. 1. 1885, ebd.; Buck, in: V V P K 23, 1885/3, S. 81. 17 Obwohl das Defizit im Vorjahr bereits 23,4 Mio. Rbl erreicht hatte, setzte Bunge es jetzt nur mit 7,76 Mio. Rubel an. Bei Einnahmen in Höhe von 776,55 Mio. sah das Budget für 1885 Ausgaben für das Militärwesen von 236,04 und für die Staatsschuld von 260,48 Mio. Rbl. vor; Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 1885, PA Rußland 71, Bd. 4. 18 Schweinitz: Bismarck, 29. 4. 1885, ebd. Im Frühjahr 1885 kam es infolge der russisch-englischen Spannungen zu einer Deroute russischer Wertpapiere an den europäischen Börsen; Bülow, Denkw. IV, S. 580-581. In der finanziellen Zwangslage wurde im Mai 1885 dennoch eine 5%ige Kapitalrentensteuer eingeführt; Salings Börsen-Handbuch 1890-91, S. 138. 19 Schweinitz: Bismarck, 25. 5. 1885, ebd. 20 Bülow: Bismarck, ebd., 29. 4. 1885. 21 Auf Kredithilfe zugunsten des Großgrundbesitzes drängten vor allem Großfürst Vladimir und der ehemalige Finanzminister Abaza. Nach den Statuten sollte die Adelsagrarbank „den zum erblichen Adelsstand gehörigen Gutsbesitzern lang terminierte Vorschüsse auf ihren ländlichen Grundbesitz" gewähren. Die Beleihungsgrenze wurde auf 60% des Gutswertes festgesetzt, konnte aber auf 75% ausgedehnt werden, falls der Kredit zum Rückkauf eines verpfändeten Gutes gebraucht wurde; Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 1885, 25. 5. 1885, ebd.; Buck, in: VVPK 23, 1886/4, S. 195-198; Lyashenko, S. 467. 22 Buck, in: V V P K 23, 1885/4, S. 197. 23 Ebd., S. 201-202. 24 U. a. sollte der Bau der Linie Ssamara-Ufa-Slatursk die südöstlichen Schwarzerdegebiete dem Zentralmarkt zugänglicher machen und durch die Novorossiskische Bahn die nordkaukaische Region an das Eisenbahnnetz angeschlossen werden; Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 1885, PA Rußland 71, Bd. 4. 25 Im außerordentlichen Etat wurde nur die niedrige Summe von 27 Mio. Rubel angesetzt, ebd. Das war möglich, weil die Finanzierung der Eisenbahnbauten weiter den privaten Gesellschaften überlassen wurde. 2e Schweinitz: Bismarck, 25. 5. 1885, ebd.; vgl. auch Kap. 2.2.3. 27 Ebd. Die Kronsbauern wurden zu Loskaufzahlungen verpflichtet und sollten nach 49 Jahren Eigentümer ihrer Landanteile werden. 28 Schweinitz: Bismarck, 14. 1. u. 20. 2. 1885, ebd. Es handelte sich um die 4%ige Anleihe in Höhe von 20,5 Mio. Rubel Metall für die Novorossiskische Bahn. 29 An der Emission von Eisenbahnpapieren waren hauptsächlich die Berliner Diskonto-Gesellschaft und das Berliner Bankhaus Mendelssohn beteiligt. 1885 stieg auch die Berliner Handels-Gesellschaft in das Geschäft mit russischen Eisenbahnpapieren ein (Beteiligung an der Aktien-Emission der Donez-Steinkohlen-Eisenbahngesellschaft); R. E. Lüke, Die Berliner Handels-Gesellschaft in einem Jahrhundert deutscher Wirtschaft, 1856-1956, Berlin 1956, S. 78. 30 Kursentwicklung nach VVPK 26, 1889/2, S. 74. Der Jahresdurchschnittskurs ging von 1884 = 206,04 auf 1885 = 203,84 zurück; Conrad, S. 494. Zur Börsenentwicklung seit September Mohl: Bismarck, 22. 9. 1885, PA Rußland 71, Bd. 4. 31 Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 1886, ebd.; V V P K 23, 1886/3, S. 80-81. 32 Ebd. 33 Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 1886, PA Rußland, Bd. 4. Gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres gingen die Einnahmen in der ersten Jahreshälfte 1886 von 325 auf 308 Mio. Rubel zurück; Lamezan: Bismarck, 2. 10. 1887, GStA, Rep. 109, 4108, Pag. 64. Zur Zollentwicklung vgl. Kap. 2.2.3.

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Anmerkungen

zu Seite 274—276

84 VVPK 26, 1889/2, S. 74. 35 Buck, in: VVPK 23, 1886/3, S. 80, 87-89; ebd., 25, 1888/1, S. 189-192; Schweinitz: AA, 1. 6. 1886, PA Rußland 71, Bd. 4; Salings Börsenhandbuch 1890/91, S. 155. 86 Schweinitz: Bismarck, 9. 3. 1886; Bülow: Bismarck, 29. 4. 1886, ebd. Nach den ursprünglichen Plänen sollten im Zuge dieser Operation ca. 90 Mio. Pfund Sterling von 5 auf 4% konvertiert und damit die jährlichen Zinszahlungen um 8 Mio. Rubel reduziert werden. 37 Die Konvertierungsoperationen preußischer Staatsanleihen von 1885 begnügten sich noch mit einer Senkung des Zinssatzes von 4,5 auf 4%. Aufgrund der flüssigen Lage auf dem Geldmarkt setzte sich dann während der ersten Jahreshälfte 1886 die Konversion in 31/2%ige Papiere allgemein durch, während die Konversion russischer Staatspapiere bei 4% stehenbleiben sollte; vgl. dazu H. Stuebel, Staat und Banken im preußischen Anleihewesen von 1871-1913, Berlin 1935, S. 40-43; M. Ströll, Über die neueste Konversionsära in Deutschland, in: JNS, N. F. 13, 1886, S. 422-432; F. Krahl, Geldwert und Preisbewegung im Deutschen Reiche 1871-1884, Jena 1887, S. 22 ff.: Der deutsche Ökonomist, 4, 1886, Nr. 185 v. 10. 7. 1886. 38 Schweinitz: Bismarck, 9. 3. 1886, 21. 5. 1886; Bülow: Bismarck, 29. 4. 1886, PA Rußland 71, Bd. 4. 39 Im Mai 1886 verhandelte der russische Bankier Raffalowitsch im Finanzministerium mit Hansemann (Berliner Diskonto-Gesellschaft), Fürstenberg (Berliner Handels-Gesellschaft), Oppenheimer (Robert Warschauer & Co.), Schwabach (Bleichröder), Politische Korrespondenz v. 24. 5. 1886; Schweinitz: Bismarck, 21. 5. u. 28. 5. 1886, ebd. 40 Schweinitz: AA, 1. 6. 1886, ebd.; Göhring: Bismarck, 25. 11. 1886, GStA, Rep. 109, S. 41-48. 41 Der deutsche Ökonomist, 5. 1887, Nr. 211 v. 8. 1. 1887. Die auf „allen Märkten" herrschende Baisse erschwerte nach Ansicht Sacks, des Direktors der DiskontoBank in St. Petersburg, „jedes Anleihegeschäft"; Bülow: Bismarck, 24. 12. 1886, PA Rußland 71, Bd. 4. 42 G. Michon, L'Alliance Franco-Russe, Paris 1927, S. 3-5; Cyon, L'Entente, S. 238. 43 Ende 1886 befand sich Vysnegradskij in geheimer Mission in Berlin, wo er intensive Verhandlungen mit Hansemann und anderen Berliner Banken über zukünftige Finanzoperationen führte; Cyon, S. 237, A 1. Vor allem der russische Bankier Sack beurteilte die Anleihechancen auf dem französischen Kapitalmarkt skeptisch, da „der französische Rentier seit dem Bontoux-Krach zu mißtrauisch gegen fremde Papiere wäre" und russische Werte in Frankreich „nie gangbar gewesen" seien; Bülow: Bismarck, 24. 12. 1886, PA Rußland 71, Bd. 4. 44 Nachdem sich Alexander III. im Sommer 1886 zunächst in Übereinstimmung mit Bunge für eine Beschränkung der Zuckerproduktion entschieden hatte, verweigerte er auf direkte Einwirkung Katkovs einen entsprechenden Beschluß des Ministerkomitees die Zustimmung. Die Folge war nicht nur ein erneuter Sturz des Zuckerpreises, der viele der 200 adeligen Besitzer von Zuckerfabriken um den Gewinn einer ganzen Jahresproduktion brachte, sondern ein großer Prestigeverlust für Bunge und eine deutliche Stärkung der Machtstellung Katkovs; vgl. zum Zuckerstreit ausführlich Schweinitz: Bismarck, 2. 11. 1886, GStA, Rep. 330, III. Hauptabteilung, Nr. 1055; VVPK 23, 1886/4, S. 202-204. 45 VVPK 26, 1889/2, S. 74; Mohl: Bismarck, 23. 12. 1886, PA Rußland 71, Bd. 4. Symptomatisch für den Eindruck, den das Sinken des Rubelkurses machte, waren die andauernden Klagen der „vornehmen Welt", daß Reisen ins Ausland und Kauf ausländischer Produkte unmöglich würden; Bülow: Bismarck, 24. 12. 1886, ebd.

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Anmerkungen

zu Seite 277-282

6.1.2. 1

Erffa-Wernburg, CDL, 1886, S. 54; Mirbach, VSWR, 1886, S. 1; Kanitz-Podangen, CDL, 1887, S. 20; Lerchenfeld, ADLR, 1887, S. 196. 2 Frege-Abtnaundorf, ADLR, 1887, S. 202; ähnlich Erffa-Wernburg, CDL, 1886, S. 54-55; Mirbach, CDL, S. 90-100; vgl. auch Kap. 2.2.1. 3 Mirbach, VSWR, 1886, S. 83; Sydow-Dobberphul, CDL, 1886, S. 3, 9; JagowRühstädt, ebd., S. 59; Erffa-Wernburg, ebd., S. 59; Kanitz-Podangen, CDL, 1887, S. 24; Lerchenfeld-Köfering, ADLR, 1887, S. 196. 4 Erffa-Wernburg, CDL, 1886, S. 59-60; Kanitz-Podangen, CDL, 1887, S. 24; Frege-Abtnaundorf, ADLR, 1887, S. 204. 5 Erffa-Wernburg, CDL, 1886, S. 55-56. « Vgl. z.B. Diest-Daber, CDL, 1886, S. 90; Kanitz-Podangen, CDL, 1887, S. 23; Mirbach, ebd., S. 100; vgl. auch die Diskussion zu dem bezeichnenden Tagesordnungspunkt: „Muß die Landwirtschaft bei den jetzigen Preisen ihrer Produkte die Erzeugung derselben einschränken", ebd., S. 20-90. 7 Kanitz-Podangen, CDL, 1887, S. 24-25; Lerchenfeld-Köfering, ADLR, 1887, S. 196. 8 Arendt, VSWR, 1885, S. 6; Sydow-Dobberphul, CDL, 1886, S. 58: „Ruf 5/6"; vgl. auch Arendt, ebd., S. 19. 9 Mirbach, CDL, 1887, S. 105; Sydow-Dobberphul, CDL, 1886, S. 15-17. 10 Ebd., S. 17, 52. 11 Vgl. etwa die Feststellung Kanitz-Podangen: Mit einem Anteil von 3/5 der deutschen Roggeneinfuhr und der Hälfte der Weizeneinfuhr sei Rußland der größte Konkurrent für die preußische Laedwirtschaft, CDL, 1887, S. 24-25; vgl. Kap. 2.2.1. 12 Vgl. dazu Kap. 6.1.1. Kanitz-Podangen unterstellte, das russische Finanzministerium wolle im Interesse der Agrarier den Rubelkurs „so niedrig halten wie möglich, um den Export zu fördern", CDL, 1886, S. 16. 13 Zur Überschätzung Indiens in der bimetallischen Agitation vgl. ebd., S. 7-8; Geh. Regierungsrat Schraut, ebd., S. 35. 14 Sydow-Dobberphul, CDL, 1886, S. 16, 38-41; Mirbach, VSWR, 1886, S. 84-92. 15 Mirbach, CDL, 1887, S. 113. 16 Mirbach, ebd., S. 104: Beim Anstieg des Rubelkurses als Folge der deutschen Doppelwährung um 25% würde entsprechend der russische Produzent einen Preisrückgang von 25% hinnehmen müssen. 17 Mirbach, CDL, 1887, S. 116. 18 Zit. nach Deutscher Handelstag (Hg.), Der deutsche Handelstag 1861-1911, Berlin 1913, II, S. 436-437. 19 Sydow-Dobberphul, CDL, 1886, S. 4, 11. 20 Diest-Daber, CDL, 1886, S. 44; Erffa-Wernburg, ebd., S. 58. 21 Mirbach, VSWR, 1886, S. 83; Seehagel, CDL, 1886, S. 97. Bedenken äußerte noch Jagow-Rühstädt, da die Zölle doch gerade erst erhöht worden seien; ebd., S. 59. 22 Kanitz-Podangen, CDL, 1887, S. 24; Diest-Daber u. Frege, ebd., S. 66-67. 23 Diest-Daber, CDL, 1887, S. 68-69; Kanitz-Podangen, ebd., S. 25-26. 24 Vgl. etwa die Versuche Lerchenfeld-Köfering, ADR, 1887, S. 201. 25 Kanitz-Podangen, CDL, 1887, S. 27, 32. 26 Kardorff, S. 197; RT 7:1:1, S. 777-779; vgl. auch Kap. 2.2.1.

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Anmerkungen

zu Seite 283-286 6.1.3.

1

Lohmann & Soeding: H K Bochum, 5. 8. 1885, R W A Dortmund, Κ 2, IHK Bochum, Bd. 1; Gen.-Vers. VDESI in Berlin v. 23. 1. 1886, Vorstandssitzung VDESI v. 8. 5. 1886, BA R 13 1/162. Zum Hintergrund vgl. Kap. 2.2.1 u. 2.2.3. 2 Lohmann & Soeding: H K Bochum, 4. 8. 1885, R W A Dortmund, Κ 2, I H K Bochum; Gen.-Vers. VDESI v. 23. 1. 1886, BA R 13 1/162. 3 Bernhardi (HK Dortmund): Baare, 22. 10. 1885, RWWA Dortmund, Κ 2 , I H K Bochum, Bd. 1. 4 Lohmann: Soeding, 4. 8. 1885; Baare: H K Iserlohn, 5. 8. 1885 u. 10. 11. 1885; Bernhardi: Baare, 28. 10. 1885, ebd. Auf der „Hagener Konferenz waren folgende Handelskammern vertreten: Altena, Barmen, Düsseldorf, Köln, Lüdenscheid, Hagen, Mühlheim, Siegen, Solingen, Kreis Lennep. 5 Gen.-Vers. VDESI v. 23. 1. 1886, BA R 13 1/162. 6 J. R. v. Renauld, Die oberschlesische Eisenindustrie und ihre Absatzbedingungen, Stuttgart 1900, S. 227; Bericht der Handelskammer Oppeln über 1886, S. 5, 8. 7 Vgl. dazu Kap. 2.2.3 u. 6.1.1. 8 Stumm auf der Delegiertenversammlung des C d l v. 5. 10. 1885 in Köln, VMB-Cdl, Nr. 31, Berlin 1885, S. 78; Gen.-Vers. VDESI v. 23. 1. 1886, BA R 13 1/162; Deutscher Handelstag, II, S. 437-439; zur Haltung des „Langnamverein" vgl. Winschuh, S. 63. 9 Gen.-Vers. VDESI v. 1. 2. 1887, BA R 13 1/163, S. 7, 17. Die Hoffnung, durch vermehrte Exportanstrengungen den russischen Markt erhalten zu können, waren ungebrochen; vgl. Vorstandssitzung VDESI v. 8. 5. 1886, BA R 13, 1/162. Verringerung der Produktionskosten bedeutete 1886 vielfach Lohnsenkungen und wachsende Unzufriedenheit unter den Arbeitern, die man durch niedrige Getreidepreise zu dämpfen hoffte. So wollte etwa Stumm gegenüber den Arbeitern „den Satz verfechten, daß nun . . . die Gewährung von billigem Getreide und Brot für sie ein Nutzen und kein Nachteil" sei; VMB-Cdl, Nr. 31, S. 78. Vgl. auch die Argumentation des Textilindustriellen Schlechtendahl, für den das „Mittel der immerwährenden Zollerhöhungen" doch „seine Grenze" hatte, weil er die „Konsumptionsfähigkeit" der Arbeiter nicht noch weiter einschränken wollte; VSWR, 1887, S. 74-79. 10 Vgl. etwa die „Posener Zeitung" v. 21. 11. 1886. 11 Vgl. Kap. 6.1.4 u. 6.3.3.

6.1.4 1

Vgl. Kap. 6.1.2 u. 6.1.3. Vgl. Kap. 5.2.2. 3 Pobedonoscev, einer der einflußreichsten Ratgeber des Zaren, drückte eine verbreitete Empfindung aus, als er mit den Worten: „Die schönen Tage von Skiernewice sind jetzt vorüber", nur zwei Monate nach dem Kaisertreffen vom September 1884 ein Gespräch mit dem deutschen Botschafter beendete; denn - so Pobedonoscev - er könne sich „des Gefühls nicht erwehren, daß Rußland irgend etwas zu billig verkauft habe"; Schweinitz, Denkw. II, S. 290. Symptomatisch war auch, daß der Zar gegenüber Giers, dem Exponenten der Verständigungspolitik, jede anerkennende Äußerung vermied; ebd., S. 292. 4 Bülow vermutete schon im Oktober 1884, „daß Pobedonoscev Rußland der Revolution in die Arme treibt" (Bülow: H . Bismarck, 17. 10. 1884, Bußmann, S. 267). H. Bismarck teilte diese Ansicht (an Bülow, 1. 11. 1884, ebd., S. 268). Im Verlaufe des 2

29

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449

Anmerkungen

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286-289

Jahres 1885 häuften sich die Anzeichen, die auf eine Verschärfnung der sozialen Spannungen hindeuteten: Unzufriedenheit in der Armee, wachsende Gleichgültigkeit und Apathie der Bauern, erneutes Aufflackern des „Nihilismus" und liberaler Ideologien in der St. Petersburger Gesellschaft, allgemeine Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage (Bülow: H . Bismarck, 18. 2. 1885, ebd., S. 272-274). Innenminister Tolstoj ging im Frühjahr 1885 davon aus, daß „liberale" Reformen nach den Vorstellungen des früheren Innenministers Melikov auf die Dauer unvermeidlich seien; Bülow, Denkw. IV, S. 572-574. 5 Die erfolgreiche Expansion in Asien brachte für die Autokratie einen großen Prestigegewinn (Bülow: H . Bismarck, 27. 5. 1885, Bußmann, S. 279-280). Zugleich war Alexander III. entschlossen, diesen nicht durch einen Krieg gegen England aufs Spiel zu setzen (Bülow, Denkw. IV, S. 579-580; Schweinitz, Denkw. II, S. 303). Daß die russische Balkanpolitik weiterhin aus innenpolitischen Gründen nicht aktiviert wurde, war unübersehbar (H. Bismarck: Rantzau, 9. 8. 1885, Bußmann, S. 292). 6 S. Goriainow, S. 326-327. 7 Bismarck akzeptierte damals noch, daß Rußland gegenüber den Vorkehrungen, zu denen Deutschland durch die russische Aufstellung genötigt worden sei, „seinerseits irgendwie reagiere"; Windelband, S. 617-618. 8 Vgl. die Bemerkung Bülows: eine Revolution in Rußland dürfte „sogar wahrscheinlicher sein als ein russischer Angriff auf die Zentralmächte", unter der Voraussetzung allerdings, daß wir „auch fernerhin eine geschickte und vorsichtige Politik machen" (Denkw. IV, S. 584). Vgl. auch Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 1885: „Die russischen Börsenplätze sind aber völlig abhängig von der Berliner Börse, ein Verhältnis, das hier nur ungern gesehen, aber bei der größeren Kapitalkraft des deutschen H a u p t platzes und dem Umstände, daß die russischen Anleihen überwiegend in Deutschland untergebracht sind, nicht abgeschüttelt werden kann"; PA Rußland 71, Bd. 4. 8 Vgl. Kap. 5.2.3. 10 Schweinitz, Briefw., S. 212. Wenn Schweinitz die Massenausweisungen als Beweis „einer schonungslosen Ausnutzung der eigenen Überlegenheit gegenüber dem Schwächeren" interpretierte, drückte er vermutlich die am Zarenhofe verbreitete Stimmung aus; Denkw. II, S. 307. 11 Die Bismarcksche Diplomatie arbeitete systematisch daran, die Abwehrhaltung gegen die Revolution und die Tradition preußisch-russischer Polenpolitik zu verstärken. Die zu Jahresanfang 1885 einsetzende Phase einer verschärften Russifizierungspolitik in Polen lieferte d a f ü r einen willkommenen Vorwand; Bülow: H . Bismarck, 18. 2. 1885, Bußmann, S. 272-274. 12 Vgl. Kap. 6.1. 13 Bismarck: Reuß, 6. 3. 1885, betr. die Beschlüsse der österreichisch-ungarischen Zollkonferenz, Poschinger, Volkswirt III, S. 80-81; Schneider, S. 249. 14 Vgl. dazu Kap. 2.2.2, 6.1.2 u. 6.1.3. 15 Potjomkin, S. 105 (Äußerung v. Mai 1885); Schweinitz, Denkw. II, S. 317. 16 So das Eingeständnis Bismarcks im Mai 1886; Potjomkin, S. 105. 17 Kardorff, S. 185 (Notiz v. 11. 3. 1886). Vgl. auch die Ausführungen des Regierungsrates Schraut vom RSchA auf dem „Kongreß" im Februar 1886: „Bevor eine verantwortliche Regierung Schritte auf einem so schwierigen Terrain" unternehme, müsse sie nicht nur „die sichere Uberzeugung gewonnen haben, daß die Währungsverhältnisse in der Tat der springende Punkt für den . . . niederen Stand der Warenpreise", sondern auch die „unbedingte Gewißheit", durch eine Währungsreform nicht den Goldbesitz von etwa l ' / j Milliarden zu verlieren; CDL, 17, 1886, S. 34-35. Zur Einstellung Bismarcks vgl. auch Poschinger, Parlamentarier, S. 286, A 1. In den Auseinandersetzungen über die Währungsfrage innerhalb der Industrie vgl. Delegiertenver450

Anmerkungen

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289-291

Sammlung des C d l in K ö l n v. 5.-6. 10. 1885, V M B - C d l , N r . 31, Berlin 1885, S. 3 - 1 0 0 ; StE, D e z . 1885, S. 6 9 7 - 7 4 0 . 18 So e r k l ä r t e e t w a L a n d w i r t s c h a f t s m i n i s t e r Lucius im A p r i l 1886, „ d a ß z u r Zeit die königliche Staatsregierung nicht glaubt, eine E r h ö h u n g der bestehenden Getreideu n d Viehzölle anregen zu sollen", u n d Finanzminister Scholz sekundierte, d a ß noch eine „längere Z e i t " verstreichen müsse, ehe der G e d a n k e einer erneuten Z o l l e r h ö h u n g im Volke die nötige „ A n e r k e n n u n g " g e f u n d e n h a b e ; A G H 16:1:3, 1 7 9 4 - 9 8 ; Lucius, 12. 4. 1886, ebd., 1 8 2 4 - 2 9 ; Scholz, 13. 4. 1886. 19 Ebd. 20 ' V g l . K a p . 6.1.3. 21 1884 = 24,2 Mio. M a r k ; 1885 = 30,5; 1886 = 31,4: In P r o z e n t der gesamten Zolle i n n a h m e n : 1884 = 1 0 , 9 % ; 1885 = 12,6% u n d 1886 = 1 2 , 7 % ; Schneider, S. 253. D e m gegenüber w a r e n die f o r t l a u f e n d e n Ausgaben des Reiches im H a u s h a l t s j a h r 1885/86 erheblich gestiegen. Gegenüber 1879/80 wiesen sie 1885/86 eine Steigerung um 130 Mio. M a r k a u f , 1884/85 h a t t e die Steigung noch 112 Mio. M a r k betragen. Die Börsensteuer k o n n t e die Mehrausgabe nicht decken; O . v. Aufseß, die Zölle und die Steuern, A D R , 1886, S. 26. 22 M i r b a c h formulierte die P r o b l e m a t i k einer G e t r e i d e z o l l e r h ö h u n g im F r ü h j a h r 1886: „Wir w e r d e n zu prohibitiven Zöllen niemals übergehen k ö n n e n . " D e n n w ü r d e m a n „Prohibitivzölle e i n f ü h r e n , d a n n w ü r d e n zunächst einmal w e g f a l l e n die Zolleinn a h m e n " ; C D L , 1886, S. 76. Z u r G e t r e i d e i m p o r t e n t w i c k l u n g vgl. K a p . 2.2.1. 23 Poschinger, V o l k s w i r t I I I , S. X I - X I I . Vgl. auch die einzelnen Vorstöße z u r D u r c h s e t z u n g des B r a n n t w e i n m o n o p o l s im F r ü h j a h r 1886; ebd., S. 151-178. Gleichzeitig versuchte die Regierung, die F o r d e r u n g e n der Agrarier v o m zoll- auf das steuerpolitische Gebiet a b z u d r ä n g e n u n d ihnen mit der Aussicht auf Beseitigung der D o p p e l besteuerung das B r a n n t w e i n m o n o p o l s c h m a c k h a f t zu machen. Vgl. e t w a den A p p e l l von Scholz, „der Regierung die U n t e r s t ü t z u n g zu geben f ü r ihr S t e u e r p r o g r a m m " , das „den V o r z u g vor allen a n d e r e n M i t t e l n " haben müsse, weil es dem N o t s t a n d der L a n d w i r t s c h a f t „in großem M a ß e a b z u h e l f e n i m s t a n d e " sei; A G H 16:1:3, 1824-29, Scholz, 13. 4. 1886. I m M ä r z w u r d e im H e r r e n h a u s die A b s c h a f f u n g der G r u n d - u n d Gebäudesteuer diskutiert und ein A n t r a g auf „Überweisung der vollen G r u n d - u n d Gebäudesteuer an die Kreise b z w . die G e m e i n d e n " verabschiedet. Die M e h r a u s g a b e n sollten d u r c h den Ausbau der indirekten Steuern gedeckt w e r d e n ; H H 1886, S. 118 f f . Vgl. K a p . 6.1.1. N a c h den B e f ü r c h t u n g e n v o n Schweinitz h ä t t e ein E r f o l g der K o n versionsoperation Bunges den durch die finanzielle Abhängigkeit bedingten D r u c k auf die russische Politik v e r m i n d e r n k ö n n e n : „ W e n n also die geplante Konversion z u s t a n de k o m m t , so w i r d durch die S t ä r k u n g des russischen K r e d i t s u n d Selbstbewußtseins ihre politische Bedeutung m e h r ins G e w i c h t fallen als die ökonomische Schädigung der deutschen G l ä u b i g e r " ; Schweinitz: Bismarck, 4. 4. 1886, P A R u ß l a n d 71, Bd. 4. V e r mutlich h a t Bleichröder in U b e r e i n s t i m m u n g mit Bismarck die Konversionspläne B u n ges scheitern lassen. Vgl. die N o t i z Bismarcks v. 9. 4. 1886: Bericht Schweinitz v. 4. 4. solle ihm f ü r eine Besprechung mit Bleichröder vorgelegt w e r d e n , ebd. Mit Rücksicht auf die Konversionspläne wies Bunge im F r ü h j a h r 1886 schutzzöllnerische F o r d e r u n gen der Industriellen z u r ü c k ; K u m p f - K o r f e s , D r a h t , S. 54. 25 F ü r die deutsche D i p l o m a t i e lag die C h a n c e f ü r d e m o n s t r a t i v e Gesten vor allem d a r i n , die Verstimmung des Z a r e n über den Fürsten v o n Bulgarien auszubeuten u n d sich gegen eine starke S t r ö m u n g in der Ö f f e n t l i c h k e i t im K a m p f zwischen dem Z a r e n u n d B a t t e n b e r g auf die russische Seite zu stellen. 26 Schweinitz, D e n k w . II, S. 317. 27 A m 16. 4. 1886 spürte Schweinitz im Gespräch mit Berchem über die zu e r w a r tenden russischen Z o l l e r h ö h u n g e n „den E i n f l u ß G u i d o H e n c k e l s " ; D e n k w . II, S. 316. 29*

451

Anmerkungen

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291-296

Drei Tage vorher hatte Berchem das Promemoria über Gegenmaßnahmen fertiggestellt; Kumpf-Korfes, Draht, S. 53-54; Böhme, Die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen unter dem Gesichtspunkt der deutschen Handelspolitik 1878-1894, MS, S. 13-15. Vgl, auch Kap. 2.2.2. 28 Zum Interesse der deutschen Industrie an einem Handelsvertrag mit Rußland vgl. Kap. 6.1.3. Die N A 2 v. 11. 10. 1885 ging noch davon aus, daß der bestehende Zolltarif „allen berechtigten Ansprüchen der industriellen, gewerblichen und landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit entsprechen d ü r f t e " ; BA R 13 1/51. 29 Vgl. dazu Kumpf-Korfes, Draht, S. 53-54; Schweinitz, Denkw. II, S. 316-317; Böhme, S. 14-15. Selbst die „Moskovskie Vedomosti" und die „Novoe Vremja" sahen in der diplomatischen Intervention nur einen deutschen „Protest"; vgl. die Auszüge in der N A Z v. 6. 7. 1886, PA Rußland 71, Bd. 4. 30 Vgl. Kap. 2.2.2 u. 6.1.1. 31 Vgl. dazu ausführlich Kumpf-Korfes, S. 55-58.

6.2. 1

Vgl. dazu Kap. 6.1.4. Vgl. Kap. 4.6. 3 Gerüchte über inoffizielle russisch-französische Kontakte wurden u. a. durch die Reisen von Mitgliedern der Zarenfamilie, die verwandtschaftlichen Bindungen des russischen Generalstabschefs Obrucev und die in der Petersburger Gesellschaft bekundeten „Sympathien" für Frankreich belebt; vgl. etwa Reuß: Bismarck, 12. 5. 1886; G P IV, S. 91-92. 4 A. Rosenberg, Frankreich nach der Kommune und der Diktaturversuch Boulangers, in: ders., Demokratie u. Sozialismus, Frankfurt 1962, S. 204-222; H . Lagardelle, Die politischen Parteien in Frankreich von 1871-1902, in: Z f P 5, 1912, S. 508-513; Albin, S. 25-30; Cyon, L'Entente, S. 139. 5 Bericht Villaume v. 28. 2. 1886, GP VI, S. 127-131; Schweinitz: Bismarck, 9. 11. 1886, ebd., S. 101; Loe: Waldersee, 7. 11. 1886, Briefw. Waldersee I, S. 35; vgl. auch Bismarck: Albedyll, 12. 3. 1886, G W 60, S. 332: „Die republikanischen Parteien haben in Frankreich abgewirtschaftet. Die einzige Möglichkeit für die jeweiligen Machthaber, sich am Ruder zu erhalten, ist, die chauvinistische Idee anzuschlagen und lebendig zu erhalten." « Ebd.; Hohenlohe, Denkw. II, S. 400; Reuß: Bismarck, 12. 5. 1886, G P VI, S. 91; Bülow: H . Bismarck, Bußmann, S. 365. 7 Schweinitz witterte um die Jahreswende 1885/86 ein russisch-französisches Zusammenspiel, als sich beide Länder nicht an der „maritimen Pression" gegen Griechenland beteiligen wollten; Denkw. II, S. 313-315; Äußerungen des Zaren vom Februar und Juni 1886 über Republik vgl. Münster: H. Bismarck, 5. 11. 1886, G P VI, S. 96-97; vgl. auch Urteil Lobanows, Reuß: Bismarck, 12. 5. 1886, ebd., S. 91; Bülow sprach vom „Ekel und H a ß , welchen Alexander III. gegen die République française empfindet"; Bülow: H . Bismarck, 9. 6. 1886, Bußmann, S. 365; vgl. auch Gerüchte über französische „Propositionen", die von der zaristischen Regierung zurückgewiesen wurden; Reuß: Bismarck, 12. 5. 1886, GP VI, S. 91-92. Zur französischen Außenpolitik unter Freycinet vgl. Albin, S. 31-39, L'alliance franco-russe, S. 2; J. Hansen, Enthüllungen, S. 21-26. 2

8 Bericht Villaume ν. 29. 4. 1886, G P VI, S. 133; Berchem: Reuß, 8. 5. 1886, ebd., S. 134; Wedel: Bismarck, 23. 5. 1886, ebd., S. 135-136. » Bericht Villaume v. 3. 10. 1886, G P VI, S. 138-143. Hier ausführlich militäri-

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Anmerkungen 2u Seite 296-298 sehe Einzelheiten. Loe erkannte die Berichte Villaumes als „gut basiert" an; L o e : W a l dersee, Briefw. Waldersee, I, S. 35. 1 0 Der deutsche Vorsprung bezog sich vor allem auf die schnellere Mobilisierung, den überlegenen „inneren W e r t " der preußischen Armee - vor allem auf das bessere Offizierskorps, die Ausrüstung mit dem modernen Magazingewehr, die neuen Sprengbomben und Mörserbatterien „von ganz heilloser Wirkung", denen die französischen Forts wahrscheinlich nicht lange widerstehen würden; Bismarck: Albedyll, 13. 3. 1886, G W 6 c, S. 3 3 2 ; H . Bismarck: Rantzau, 31. 10. 1886, Bußmann, S. 4 0 0 - 4 0 1 ; R a n t zau: H . Bismarck, 2. 11. 1886, ebd., S. 4 0 1 ; Waldersee: Bismarck, 16. 11. 1886, G P V I , S. 1 5 2 - 1 5 4 ; Gollenberg, S. 29. Die Behauptung, die französische Armee sei stärker als die deutsche, war darauf berechnet, Österreich zum Stillhalten zu bewegen; G P V I , S. 1 5 5 - 1 5 6 . 1 1 H . Bismarck: Rantzau, ebd., S. 4 0 0 ; G o l t z : Waldersee, 23. 9. 1886; Briefw. W a l dersee, I, S. 2 9 ; Moltke: Waldersee, 3. 11. 1886, ebd., S. 34. 1 2 Zu den Einzelheiten der Militärreformprojekte Boulangers vgl. Waldersee: Bismarck, 16. 11. 1886, G P V I , S. 1 5 2 - 1 5 4 ; H . Bismarck: Rantzau, 31. 10. 1886, Bußmann, S. 4 0 0 - 4 0 1 . 1 3 G o l t z : Waldersee, 23. 9. 1886, Briefw. Waldersee, I, S. 2 9 ; L o e : Waldersee, 7. 11. 1886, 3. 12. 1886, ebd., I, S. 35, 5 7 ; Notiz Rantzau v. 8. 10. 1886, G P V I , S. 143. 1 4 Im Rahmen des 2. Septennats hatte man sich bisher „im wesentlichen mit einer inneren Kräftigung der Armee unter Beibehaltung ihres organisatorischen Rahmens begnügt". Voraussetzung war der ungebrochene Glaube an die kriegsentscheidende Bedeutung des „inneren Wertes" der Armee; Reichsarchiv, I, S. 1 3 - 1 5 ; vgl. auch W a l dersee, 15. 3. 1886: „Noch vor 14 Tagen hat er (Bismarck) die dringend nötige Vermehrung des Eisenbahnregimentes abgelehnt"; Denkw. I, S. 281. 1 5 Bismarck: Wilhelm I., 27. 5. 1885, G P I V , S. 124; Bülow, Denkw. I V , S. 5 7 9 - 5 8 0 . Zur Kriegserwartung vgl. R a n t z a u : H . Bismarck, 6. 8. 1885, Bußmann, S. 2 9 0 - 2 9 1 , Anm. 3 ; allgemein Jerussalimski, S. 2 7 - 1 4 . 1 6 Bülow: H . Bismarck, 9. 6. 1886, Bußmann, S. 365. 1 7 Zum Militärreformprogramm des Kriegsministers Wannowski vgl.: Die Entwicklung der russischen Armee unter Kaiser Alexander I I I . , in: J b A M 78, S. 3 3 7 - 3 4 3 ; Y o r c k : Waldersee, 20. 11. 1887, Briefw., S. 153. Vgl. auch die Feststellung der V I . Reichstagskommission im Bericht v. Januar 1887: Die russische Armee sei „seit 1878, namentlich aber seit 1881, wesentlichen, auf eine höhere Kriegsbereitschaft hinzielenden Veränderungen unterworfen worden"; A D R 1887, S. 137. 1 8 Waldersee, Denkw. I, S. 277. Waldersee stützte sich auf den Bericht, den Prinz Wilhelm im Februar von einer Reise nach Polen mitbrachte; Briefw., S. 8 - 9 . 1 9 Denkw. I, S. 273, Notiz vom 31. 1. 1886; vgl. auch Notiz v. 6. 3. 1886, ebd., S. 2 7 7 ; ähnlich schon Y o r c k : Waldersee, 27. 11. 1885, Briefw., S. 137. 2 0 Im Februar 1886 lehnte Bismarck eine vom Generalstab unterstützte Forderung des Kriegsministeriums nach Erhöhung der Präsenzstärke um 1 500 Mann ab, da ihm „die Angelegenheit nicht bedeutsam genug erschien"; Reichsarchiv, Der Weltkrieg, I, S. 15. 2 1 Im Rahmen des 2. Septennats bestanden noch Möglichkeiten, auch ohne unerwünschte außen- und innenpolitische Nebenwirkungen die Kriegsbereitschaft für den Zweifrontenkrieg zu steigern. Im Verlaufe des Jahres 1886 erreichte die Zahl der effektiven Neurekrutierungen mit 161 526 Mann gegenüber 142 776 im Vorjahr einen neuen Höchststand; S t J b D R 7, 1886, S. 181. 2 2 Schweinitz, Denkw. II, S. 314. Zum finanziellen Hintergrund vgl. Kap. 6.1.1. Übrigens wurden im Frühjahr 1886 auch die innenpolitischen und finanziellen Grenzen einer forcierten deutschen Rüstungspolitik deutlich. Das zeigen die vergeblichen

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Anmerkungen

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Vorstöße zugunsten des Branntweinmonopols, das dem Reich auf einem Schlage 300 Mio. Mark Mehreinnahmen verschafft hätte; Poschinger, Volkswirt, III, S. X I - X I I , S. 151-178. Zum militärischen Zusammenhang vgl. Waldersee, Denkw. I, S. 271, N o tiz v. 18. 1. 1886; Loe: Waldersee, 14. 11. 1886, Briefw. Waldersee, I, S. 54. 23 Vgl. die auffallenden Vergleiche mit 1876/77: Bülow: H . Bismarck, 12. 12. 1885, Bußmann, S. 354; Waldersee, Denkw. I, S. 276-277, Notiz v. 6. 3. 1886; vgl. auch Notiz v. 4. 1. 1886, ebd., S. 270. 24 Vgl. etwa Nachricht Bülows v. 9. 9. 1886 über die „Direktionslosigkeit der russischen Presse; G P V, S. 61-62. Auch den Vorwurf Suvalovs im Gespräch mit H . Bismarck v. 17. 10. 1886, daß Tolstoj die Presse so „ins Kraut schießen lasse und sich seiner Machtbefugnisse gar nicht bediene"; ebd., S. 67. 25 Vgl. dazu die rückblickende Äußerung des Staatssekretärs im Außenministerium, Jomini, man habe die Presse, „um sie zu verhindern, sich mit inneren Angelegenheiten zu befassen, dazu ermutigt, sich vielmehr als wünschenswert ist, mit der auswärtigen Politik zu befassen"; Portales: Bismarck, 13. 7. 1888, G P VI, S. 320. Im April/Mai 1886 setzte sich Alexander III. scheinbar an die Spitze der nationalistischen Strömung, als er mit einer Reise ans Schwarze Meer „im ganzen Lande eine hohe patriotische Bewegung" auslöste; Schweinitz, Denkw. II, S. 322. Zur Abneigung des Zaren gegen einen Krieg und seiner Entschlossenheit, sich in seiner außenpolitischen Handlungsfähigkeit nicht einschränken zu lassen, vgl. H . Bismarck: Rantzau, 9. 8. 1885, Bußmann, S. 292; Bülow: H . Bismarck, 12. 12. 1885, ebd., S. 354; Bülow: H . Bismarck, 1. 4. 1886, ebd., S. 359. 26 Der Übergang war fließend. Am Jahresende 1885 war „die Meinung sehr bestimmt eine gegen Österreich feindselige", wobei die Presse gleichzeitig hervortreten ließ, „daß sie damit auch indirekt gegen Deutschland" a u f t r a t ; Yorck: Waldersee, 27. 11. 1885, Briefw., S. 137; vgl. auch Bülow: Bismarck, 4. 12. 1885, Bußmann, S. 349-352. Andererseits Schloß die Agitation für eine russisch-französische Annäherung nicht aus, daß die Stimmung weiterhin von einem expansionistischen Panslawismus beherrscht wurde, vgl. Holstein, Lebensbekenntnis, S. 138; Bericht Bülow v. 9. 9. 1886, G P V, S. 61-62; H . Köhler, Revancheidee, S. 37. 27 Reuß: Bismarck, 12. 5. 1886, G P VI, S. 92; Schweinitz, Denkw. II, S. 321-322. Aufzeichnung Rottenburg v. 22. 7. 1886, G P VI, S. 92. Zu den Befürwortern einer französischen Allianz gehörten z. B. Saburov, Abaza und Obrucev. Charakteristisch f ü r Umorientierung war Ignatiev; vgl. Bülow: H . Bismarck, 9. 6. 1886, Bußmann, S. 365. 28 So sah es Bülow, ebd.; vgl. auch Reuß: Bismarck, 12. 5. 1886, G P VI, S. 62: es sei ausgeschlossen, daß die Sympathiekundgebungen f ü r Frankreich „irgendwelchen Einfluß auf die kaiserlich-russische Regierung haben" könnten. Zu den langfristigen Zielen der russischen Balkanpolitik vgl. Notiz Schweinitz v. 14. 11. 1886; „es ist nicht unbekannt, daß der Kaiser als unverrückbares Ziel den Besitz der Meerengen im Auge h a t " ; Denkw. II, S. 326. So auch H . Bismarck: Bülow, 5. 9. 1886: Es sei „letztes Ziel" des Zaren, „den Verschluß der Dardanellen durch russische Garnisonen zu erreichen"; Bußmann, S. 372. 29 Schweinitz, Denkw. II, S. 323. 30 Die Führung hatte natürlich die „Moskauer Zeitung" Katkovs. Symptomatisch für die Wendung war auch, daß der „Rus'", der sich panslawistisch engagiert hatte, Ende 1885 unterdrückt wurde, sein Nachfolger „Russkie Delo" aber im Mai/Juni 1886 Sympathien für Frankreich erkennen ließ; H . Bismarck: Bülow, 8. 6. 1886, Bußmann, S. 365. 31 Vgl. Kap. 6.1.4. 32 Die „Moskovskie Vedomosti" veröffentlichte im Mai mit eindeutiger Zielrich454

Anmerkungen zu Seite 300-302 tung „nach oben" mehrere Briefe ihres Pariser Korrespondenten E. de Cyon, in denen die Zweckmäßigkeit einer russisch-französischen Annäherung finanziell begründet wurde; vgl. Michon, S. 3 - 4 ; Cyon, L'Entente, S. 1 4 1 - 1 4 2 . Zum K a m p f Katkovs für eine russisch-französische Annäherung vgl. Kumpf-Korfes, S. 89, 9 2 - 9 4 . 3 3 H . Bismarck diskutierte diese Möglichkeit mit seinem V a t e r ; vgl. Niederschrift H . Bismarck v. 8. 10. 1886; O . Bismarck: H . Bismarck, 10. 10. 1886, Bußmann, S. 392-394. 3 4 Der russische Botschafter in Wien, Lobanov, hatte schon im Mai die Notwendigkeit einer Fortsetzung der Dreikaiserpolitik damit begründet, auf Frankreich kalmierend zu wirken; R e u ß : Bismarck, 12. 5. 1886, G P V I , S. 92. Zu der Angst, in einen Krieg mit der stärksten Militärmacht hineingezogen zu werden, vgl. Bülow: H . Bismarck, 4. 12. 1885: „Glücklicherweise ist der Respekt vor Deutschland sehr groß und wird es bleiben, solange wir ihren großen Vater und die Armee haben"; Bußmann, S. 350. Aus dieser Furcht resultierte allerdings dann auch das Interesse an einer militärischen Stärkung Frankreichs; vgl. Bülow: H . Bismarck, 9. 6. 1886, ebd., S. 3 6 5 ; J . Hansen, Enthüllungen, S. X I .

Bülow: Bismarck, 29. 4. 1886, P A Rußland 71, Bd. 4. Münster: Bismarck, 1. 10. 1886, G P V I , S. 9 3 - 9 4 ; Münster: H . Bismarck, 7. 10. 1886, ebd., S. 95. Bericht Bülow v. 15. 11. 1886, G P V , S. 9 4 - 9 6 ; Schweinitz, Briefw., S. 2 2 4 - 2 2 5 ; ders., Denkw. I I , S. 3 2 6 - 3 2 8 . 3 7 Y o r c k : Waldersee, 2. 3. 1886, Briefw., S. 1 3 9 - 1 4 0 ; L o e : Waldersee, 9. 6. 1886, Briefw., S. 2 5 ; Schweinitz, Briefw., S. 2 1 2 ; ders., Denkw. I I , S. 2 9 5 - 2 9 7 ; H . Bismarck: Bülow, 6. 10. 1886, Bußmann, S. 3 8 9 - 3 9 0 . Das Mißtrauen Bismarcks, daß unter der Decke der offiziellen Diplomatie der Zar antideutsche Politik betrieb, zeigt die Notiz Schweinitz v. 17. 10. 1886: „Schlag auf Schlag kamen Erlasse von Bismarck . . . ob es wahr sei . . . daß der Kaiser Alexander . . . Annäherungsversuche, ja sogar A l lianzvorschläge in Paris gemacht h a b e " ; Denkw. I I , S. 324. Immerhin ließ er sich von Schweinitz überzeugen, daß „absolut nichts vorgefallen" sei, Notiz H . Bismarck v. 26. 10. 1886, Marg. N r . 2, G P V I , S. 9 5 - 9 6 . Es erscheint fraglich, ob Schweinitz überhaupt noch informiert war, was wirklich gespielt wurde. Die Ernennung des neuen französischen Botschafters erfuhr er erst vom Auswärtigen Amt, was er als „hart" empfand; Denkw. II, S. 3 2 5 ; vgl. auch die Vermutung L o e : Waldersee, 14. 11. 1886 (Briefw. Waldersee, S. 5 4 ) : „daß die Russen, speziell der Zar hinter dem Rücken von Giers in Paris gegen Deutschland konspirierte." Waldersee war noch unsicher, ob Giers ein „Betrüger" war oder ob der Zar hinter seinem Rücken in Paris verhandelte; Denkw. I, S. 303, Notiz v. 16. 12. 1886. 3 8 Zum Hintergrund vgl. M. Broszat, Zweihundert J a h r e deutscher Polenpolitik, Frankfurt 1972, S. 1 4 2 - 1 5 2 ; J . Mai, die preußisch-deutsche Polenpolitik 1 8 8 5 - 8 7 , Berlin 1962; H . Neubach, Die Ausweisungen von Polen und Juden aus Preußen 1885/86, Wiesbaden 1967; Wehler, Kaiserreich, S. 1 1 4 - 1 1 8 . 3 9 Bußmann, S. 401. 4 0 Anm. 1 zu H . Bismarck: Bruder, 24. 11. 1886, ebd., S. 407. 4 1 H . Bismarck: Rantzau, 31. 10. 1886, ebd., S. 4 0 0 ; vgl. auch R a n t z a u : H . Bismarck, 2. 11. 1886, ebd., S. 401. Auch Bismarck schloß die Möglichkeit eines Krieges mit Frankreich im Frühjahr 1887 nicht aus; Bismarck: Schellendorf, G W 6 c, S. 3 4 9 - 3 5 0 , was ausschloß, daß er „den Krieg gegen Rußland à tout prix zu vermeiden" suchte; L o e : Waldersee, 14. 11. 1886, Briefw. Waldersee, S. 54. 4 2 So etwa Goltz, der Krieg gegen Frankreich führen wollte, um später gegen R u ß land freie H a n d zu haben; G o l t z : Waldersee, 23. 9. 1886, Briefw. Waldersee, S. 29. Vgl. auch Moltke: Waldersee, 3. 11. 1886, ebd., S. 3 4 : „Nicht so auskömmlich wie gegen Frankreich sei die Front gegen Rußland begünstigt." Preußischen Militärs erschien 35 36

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Anmerkungen

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die deutsche Außenpolitik am Jahresende 1886 wie gelähmt. Vgl. z.B. Roggenbach: Stosch, 9. 12. 1886; J. Heyderhoff (Hg.), Im Ring der Gegner Bismarcks, Leipzig 1943, S. 240-250: „daß wir zur Zeit gar keine Politik haben", wo gerade jetzt „nur eine kühne und aktive Politik aus der Zwickmühle zwischen Frankreich und Rußland" herausführen könne. 6.3.1. 1 Busch, Tagebuchblätter, III, S. 214; Waldersee, Denkw. I, S. 302; Goltz: Waldersee, 26. 11. 1886, Waldersee, S. 56. 2 So die Begründung des Gesetzentwurfs vom November 1886, betr. die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres. Der Ausbau des deutschen Militärpotentials Schloß auch Maßnahmen in den östlichen Provinzen, d. h. auch die Verschärfung der verdeckten militärischen Rivalität zwischen Deutschland und Rußland ein; Bismarck: Schellendorf, Oktober 1886, GW 6 c, S. 344; ADR, 1887, S. 125. Vgl. auch Reichsarchiv, Der Weltkrieg, I, S. 15-16. 3 Gesetzentwurf ADR, 1887, S. 123-128. 4 Loe: Waldersee, 7. 11. 1886, Briefw. I, S. 36. Am 9. 1. 1887 - also zwei Tage vor der zweiten Lesung der Militärvorlage - schwor Bismarck das preußische Staatsministerium auf den Konflikt mit dem Reichstag ein, falls kein „annehmbarer" Beschluß zustande käme; Collenberg, S. 31-32. In der VI. Kommission des Reichstages versuchte die Militärverwaltung, den Gesetzentwurf in 10 Sitzungen regelrecht durchzupeitschen; vgl. Bericht der Kommission vom 7. 1. 1887; ADR, 1887, S. 129-142. 5 Vgl. dazu die Notiz Waldersees v. 22. 1. 1887: „Um den Wahlkampf zu fördern, muß die politische Lage etwas zu Hilfe genommen werden"; Denkw. I, S. 310. Ähnlich begründete Bismarck Schikanen an der französischen Grenze wie scharfe Paßkontrollen, das Jagdverbot für Franzosen in Elsaß-Lothringen und das spektakuläre Pferdeausfuhrverbot v. 25. 1. 1887: diese Maßnahmen würden „parlamentarisch nützlich wirken" und für die „bevorstehenden Neuwahlen die Situation richtig und für die Wähler verständlich kennzeichnen"; Bismarck: Bronsart, 22. 12. 1886, PA Deutschland 121, Nr. 12. 6 Vgl. etwa das begeisterte Urteil Waldersees: „Bismarck" habe „wieder einmal ein Meisterstück geleistet", Denkw. I, S. 320. 7 In den Kommissionsberatungen setzte sich die Militärverwaltung über derartige Bedenken mit der „rein militärischen Begründung" hinweg, „daß die Stärke und die Entwicklungsverhältnisse der Armeen Deutschlands einerseits und Rußlands, namentlich aber Frankreichs andererseits mit Notwendigkeit dahin führen müsse, daß man in Deutschland . . . zur Sicherstellung höherer Kriegsstärke schreite"; ADR, 1887, S. 130-131. 8 Waldersee, Denkw. I, S. 306-307, Notiz v. 2./10./11. 12. 1886; Schweinitz, Briefw., S. 229. 8 Ebd., S. 303, Münster: Bismarck, 21. 12. 1886, GP VI, S. 157-159. 10 Bericht Villaume v. 25. 12. 1886, PA Rußland 98, Bd. 1; Schweinitz: Bismarck, 23. 11. 1886, GP V, S. 84; H . Bismarck: Rantzau, 17. 11. 1886, Bußmann, S. 405-406. 11 Bericht Schweinitz v. 17. 12. 1886, GP V, S. 94-96, Kumpf-Korfes, S. 90. 12 Bülow: Bismarck, 23. 12. 1886, 24. 12. 1886, GP VI, S. 104-108; Loe: Waldersee, 14. 11. 1886, Briefw., S. 54; Roggenbach: Stosch, 9. 12. 1886, Heyderhoff, S. 251-252. 13 Hansen, Enthüllungen, S. 26. 14 Bericht Villaume v. 9. 2. 1887, PA Rußland 98, Bd. 1.

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Briefw., S. 231, Notiz v. 17. 1. 1887; Text der Reden, in: ADR, 1887, S. 143-182. 16 Schweinitz: Bismarck, 16. 2. 1887, GStA, III. Hauptabteilung, N r . 1056. 17 Hansen, Enthüllungen, S. 36. 18 Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 1887, GStA, III. Hauptabteilung, N r . 1056; Kumpf-Korfes, S. 98. 19 Schweinitz: Bismarck, 16. 2./20. 1. 1887, GStA, III. Hauptabteilung, N r . 1056; Kumpf-Korfes, S. 90-91, 99; Cyon, L'Entente, S. 94-97. 20 Dem französischen Botschafter gegenüber sprach Alexander III. öffentlich seine Zufriedenheit darüber aus; Hansen, Enthüllungen, S. 27-29. 21 Ebd., S. 30-31. 22 Ebd., S. 31-32. Der Zar stand hier unter dem Einfluß Katkovs, der die Militärreformen Boulangers verteidigte; Cyon, L'Entente, S. 214-25. 23 Albin, S. 253; Cyon, S. 239-240; Schweinitz: Bismarck, 24. 2. 1887, GStA, III. Hauptabteilung, N r . 1056; Kumpf-Korfes, S. 99. 24 Hansen, S. 37-39; Michon, L'Alliance, S. 5-6. 25 Schweinitz, Denkw. II, S. 333-334; Waldersee, Denkw. I, S. 318, Notiz y. 1. 3. 1887. 26 Waldersee: Yorck, 25. 2. 1887, Briefw., S. 142; Waldersee, Denkw. I, S. 310, Notiz v. 22. 1. 1887; Albin, S. 40-42. 27 Waldersee, Denkw. I, S. 318, N o t i z ν. 26. 2. 1887; vgl. auch Notiz ν. 16. 2. 1887; ebd., S. 316-317. 28 Ebd., S. 311, Notiz ν. 27. 1. 1887. 29 Ebd., S. 314, Notiz ν. 10. 2. 1887; vgl. auch Waldersee: Yorck, 25. 2. 1887: „Ich bin nicht im Zweifel, daß wir flott auf den Krieg zugehen; daß der Kanzler politische Situationen herbeiführen kann, die die Sachlage ändern, glaube ich jetzt nicht mehr"; Briefw., S. 132; vgl. auch Loe: Waldersee, 3. 12. 1886: Die Situation scheine nicht in der Frage zu gipfeln, „ob der Kanzler den Krieg will oder nicht", denn die Zeit sei vorbei, „da der Kanzler die Figuren auf dem europäischen Schachbrette aufstellte und das Spiel dirigierte"; Briefw. Waldersee, S. 56-57. 6.3.2. 1

Schweinitz, Briefw., S. 240; Bülow: H . Bismarck, 16. 2. 1887; Bußmann, S. 425-426. Zum Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Zunahme allgemeiner Unzufriedenheit vgl. Kap. 6.1.1. 2 Bericht Villaume v. 25. 12. 1886, PA Rußland 98, Bd. 1; Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 1887; GStA, III. Hauptabteilung, N r . 1056. 3 Ebd.; Bülow: H . Bismarck, 20. 1. 1887, Bußmann, S. 420; Schweinitz, Briefw., S. 225-226; vgl. auch Rechenberg: Waldersee, 11. 2. 1887: „Die Sympathien (tatkräftige), die wir noch in Rußland haben, sind eben gleich Null; alle schieben uns alles in die Schuhe. Welchen Fehler man auch begangen hat . . . wir sind mittelbar oder unmittelbar schuld d a r a n " ; Waldersee, Denkw. I, S. 61. 4 Schweinitz: Bismarck, 9. 11. 1886, G P VI, S. 99-101; Bericht Villaume v. 25. 12. 1886, PA Rußland 98, Bd. 1. 5 Schweinitz: Bismarck, 19. 3. 1887, G P V, S. 221; Bülow: H . Bismarck, 20. 1. 1887, Bußmann, S. 421; H . Bismarck: Bülow, 31. 1. 1887, ebd., S. 423; Bülow: H . Bismarck, 16. 2. 1887, S. 425-426; Schweinitz, Briefw., S. 232, Notiz v. 4. 2. 1887. • Ebd., S. 237; vgl. auch H . Bismarck: Bülow, 31. 1. 1887, Bußmann, S. 423. 7 Bülow: H . Bismarck, 16. 2. 1887, ebd., S. 426-428; Bericht Villaume v. 28. 2. u. 7. 3. 1887, P A Rußland 98, Bd. 1. 457

Anmerkungen 8

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Bericht Schweinitz v. 16. 11. u. 17. 12. 1886, G P V, S. 73-75, 94-96. Schon im Juni 1886 hatte Schweinitz die Verlängerung des Dreikaiserbündnisses f ü r unwahrscheinlich gehalten; Briefw., S. 220. 9 Bülow: Bismarck, 30. 12. 1886, GP V, S. 211-212; Reuß: Bismarck, 7. 1. 1887, ebd., S. 215-216; vgl. dazu Marg. Bismarcks: „Der Kaiser (Alexander) hat wenig Lust zu erneuern"; ebd., S. 216. D a ß der Zar mit Bulgarien nicht mehr gelockt werden konnte, war auch die Meinung der Brüder Suvalov und des Großfürsten Vladimir; vgl. Notiz H . Bismarcks über Gespräch mit den Brüdern Suvalov v. 6. 1. 1887; ebd., S. 162. 10 Vgl. etwa in diesem Sinne Bülow: H . Bismarck, 20. 11. 1886: „Solange Rußland nicht gerade von Wahnwitzigen regiert wird, müssen wir den Russen als diejenigen erscheinen, mit denen für sie im Kampf am wenigsten zu holen, mit denen in gütlicher Verständigung am meisten zu holen ist"; Bußmann, S. 406-407. 11 Die Steigerung des deutschen Militärpotentials und die provokative deutsche Frankreichpolitik enthielten die unmißverständliche Drohung, daß Rußland „im Westen nichts zu gewinnen" habe und den Schwerpunkt seiner Außenpolitik nach Asien und in südöstlicher Richtung verlagern solle. Dieser Verzicht auf eine europäische Großmachtpolitik, d. h. faktisch die Anerkennung der deutschen Hegemonie, sollte dem Zaren dadurch schmackhaft gemacht werden, daß die deutsche Politik den „lebhaften Wunsch" des Zaren, „den Verschluß der Meerengen für sich zu gewinnen", als „verständlich und berechtigt" anerkannte. Unter diesem doppelten Aspekt müssen die zähen Auseinandersetzungen über den sog. Rückversicherungsvertrag gesehen werden. Das Gespräch H . Bismarcks mit dem Großfürsten Vladimir vom 22. 11. 1886 läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig; G P V, S. 79-80. Weil die Diversionspolitik auf einer nur notdürftig verhüllten Drohung beruhte, war der Zar auch für die Warnungen vor einem Engagement auf dem Balkan so zugänglich. Solange die deutschfranzösischen Spannungen andauerten, konnte der Zar nach Ansicht von Schweinitz nicht für ein deutsch-russisches Separatabkommen gewonnen werden; vgl. Bülow: Bismarck, 16. 2. 1887, Bußmann, S. 429. Dahinter stand die Befürchtung, „daß Deutschland, sobald es sich Rußlands versichert hätte, zum Remembrement' Frankreichs schreiten werde"; Schweinitz: Bismarck, 21. 2. 1887, G P V, S. 219; Schweinitz, Briefw., S. 237; Bericht Villaume v. 7. 3. 1887, PA Rußland 98, Bd. 1. 12 Einen Tag vor der Reichstagsrede Bismarcks v. 11. 1. 1887 hatte sich Bismarck mit den Brüdern Suvalov über ein deutsch-russisches Abkommen verständigt und am 20. 1. 1887 hatte Peter Suvalov darüber eine Unterredung mit dem Zaren; Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 1887, GStA, III. Hauptabteilung, N r . 1056. Zur Bismarckschen Reaktion auf das Mißlingen der Mission Suvalovs vgl. Bismarck: Schweinitz, 28. 2. 1887, G P V, S. 218-220. Auch H . Bismarck zeigte sich „geradezu degoutiert von diesem Lügensystem"; H . Bismarck: Bülow, 25. 2. 1887, Bußmann, S. 430. 30 Begründung zum Gesetzentwurf v. November 1886, betr. die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres, ADR, 1887, S. 124; Bericht Villaume v. 7. 3. 1887, PA Rußland 98, Bd. 1. Während die deutsche Armee längst das Repetiergewehr eingeführt hatte, war die russische Armee noch mit dem Berdangewehr ausgerüstet, das sich während des russisch-türkischen Krieges selbst dem Winchesterkarabiner als unterlegen gezeigt hatte; Cyon, L'Entente, S. 187, A 1. 14 Bülow: H . Bismarck, 16. 2. 1887, Bußmann, S. 426. 15 Schweinitz, Briefw., S. 237; Bericht Villaume v. 23. 2. 1887, PA Rußland 98, Bd. 1; Schweinitz: Bismarck, 16. 2. 1887; GStA, III. Hauptabteilung, N r . 1056. Zur Reaktion auf das Attentat vgl. Rechenberg: H . Bismarck, 24. 3. 1887, ebd.; Schweinitz, Briefw., S. 239-240. 16 Waldersee, Denkw. I, S. 317.

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Anmerkungen

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312-317

17

Hansen, Enthüllungen, S. 41; Potjomkin, S. 114-15; Schweinitz, Denkw. II, S. 334. 18 So H . Bismarck: Bülow, 25. 2. 1887, Bußmann, S. 430. Vgl. auch Schweinitz am 25. 2. 1887, die deutsche Politik habe „das Steuer schon etwas herumgelegt"; Briefw., S. 233. 19 Notiz Rantzaus v. 30. 12. 1886 zum Bericht Mohls v. 23. 12. 1886, PA Rußland 71, Bd. 4. Diese Aktion erfolgte mit Unterstützung Bleichröders, dem der Bericht Mohls mitgeteilt wurde. 20 Vgl. dazu Kap. 5.2.2. Siehe auch den charakteristischen Vergleich H . Bismarcks zwischen der Lage am Jahresende 1886 und 1883; G P V, S. 78. 21 Bericht Villaume v. 25. 12. 1886, PA Rußland 98, Bd. 1; Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 1887, GStA, III. Hauptabteilung, N r . 1056. Zur Einschätzung Vysnegradskijs als Symbol für eine „streng nationale" Wirtschafts- und Finanzpolitik vgl. die positive Bewertung durch die Warschauer Zeitung „Dniewnik Warszawski", zit. nach N A Z v. 16. 2. 1887, PA Rußland 71, Bd. 5. 22 Vgl. dazu Kap. 2.2.2. Unmittelbar nach der Ernennung Vysnegradskijs war es in Petersburg kein Geheimnis mehr, daß drastische Zollerhöhungen auf Roheisen, Eisen, Stahl und Kohle vorbereitet wurden. D a ß das „Weichselgebiet" für die zukünftige Wirtschaftspolitik „ein besonders ergiebiges Arbeitsfeld" sein würde, stand dabei ebenfalls fest; Schweinitz: Bismarck, GStA, III. Hauptabteilung, N r . 1056; Kumpf, Auseinandersetzungen, S. 166-167; N A Z v. 16. 2. 1887, PA Rußland 71, Bd. 5. 23 Die Stellung von Giers war seit der „Ministerkrise" ständig gefährdet, wobei als Nachfolger Paul Suvalovs der frühere Innenminister Ignat'ev im Gespräch w a r ; Bericht Villaume v. 25. 11. 1886, PA Rußland 98, Bd. 1; Schweinitz, Briefw., S. 225; Reuß: Bismarck, 14. 4. 1887, (GStA, III. Hauptabteilung) behauptete, Ignat'ev und Saburov intrigierten gegen Giers und Katkov sei ihr Werkzeug. Daß der Zar den finanziellen Mehrforderungen der militärischen Führung Widerstand entgegensetzte, Schloß natürlich nicht aus, daß die militärischen Vorbereitungen für den Fall eines Krieges gegen Deutschland beschleunigt wurden und das Offizierskorps von den letzten Resten deutsch-freundlicher Offiziere gesäubert wurde; Rechenberg: Waldersee, 1. 1. 1887, Briefw- Waldersee, S. 60; Schweinitz: Bismarck, 16. 2. 1887, GStA, III. Hauptabteilung, N r . 1056; Bericht Villaume v. 7. 3. 1887, PA Rußland 98, Bd. 1. 24 Schweinitz: Bismarck, 20. 1. 1887, GStA, III. Hauptabteilung, N r . 1056. 25 Lamezan : Bismarck, 19. 5. 1887, PA Rußland 71, N r . 1; Russische Werte, Bd. 1 - 2 ; Conrad, Getreidezölle, S. 494. Den stärksten Rückgang zeigte der Rubelkurs im Februar. Von 188 im Januar ging der Dreimonatskurs in Berlin auf 182 im Februar und 181 Mark/100 Rubel zurück; VVPK 26, 1889/2, S. 741. 28 Schweinitz, Briefw., S. 232; Bülow: Bismarck, 24. 12. 1886, PA Rußland 71, Bd. 4. 27 Cyon, L'Entente, S. 228; Kumpf-Korfes, Draht, S. 94; Girault, S. 142. Raffalowitsch war Mitarbeiter des „Journal des Débats"; Bülow: Bismarck, 24. 12. 1886, PA Rußland 71, Bd. 4, während Cyon in der „Nouvelle Revue" agitierte. 28 Cyon, L'Entente, S. 237-240; Michon, S. 7 - 8 ; Kumpf-Korfes, Draht, S. 94. 29 Cyon, L'Entente, S. 228-238. Zur Bedeutung der „Gesellschaft für gegenseitigen Bodenkredit" vgl. Kap. 6.1.1. 30 Schweinitz, Denkw. II, S. 335; ders., Briefw., S. 235. 31 Die auf die Person Katkovs zugespitzte Pressekampagne setzte also nicht erst im Mai ein. Bismarck hielt es nur für „opportun", die offiziöse Presse herauszuhalten, weil das „zu durchsichtig sein" würde; H . Bismarck: Bülow, 25. 2. 1887, Bußmann, S. 430. 32 Kumpf-Korfes, Draht, S. 100-101; Rechenberg: Bismarck, 16. 4. 1887, Bülow:

459

Anmerkungen

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317-320

Bismarck, 14. 4. 1887, P A Rußland 71, Bd. 5; Bülow: Bismarck, 24. 4. 1887, 25. 4. 1887, G P V, S. 222-225. 33 Münster: Bismarck, 6. 4. 1887; Bericht des österreichischen Botschafters in Paris, Hoyos, v. 14. 4. 1887, PA Rußland 71, Bd. 5; Schweinitz: Bismarck, 22. 4. 1887, GStA, III. Hauptabteilung, N r . 1056. 34 VVPK 26, 1889/2, S. 74. Zu den finanziellen Auswirkungen der „Schnäbele-Affäre" vgl. Lamezan: Bismarck, 23. 4. 1887, GStA, Rep. 109, N r . 4100, pag. 204. 35 Hansen, Enthüllungen, S. 43-44; Bülow: Bismarck, 25. 4. 1887, G P V, S. 223-225; Schweinitz: Bismarck, 30. 4. u. 4. 5. 1887; ebd., S. 225-229. 36 Cyon, L'Entente, S. 297-301. Vgl. vor allem Gespräch Cyons mit Bleichröder v. 13. 5. 1887, ebd., S. 301-304; Münster: Bismarck, 8. 6. 1887, PA Rußland 71, Bd. 5; Lamezan: Bismarck, 19. 7. 1887, PA Rußland 71, N r . 1, Werte, Bd. 1 - 2 . 37 Münster: Bismarck, 6. 8. 1877, PA Rußland 71, Bd. 5; Artikel „Goulois", ebd. 39 Vgl. dazu Kap. 2.2.2. Schweinitz sah darin eine - wenn auch verspätete - Reaktion auf die Massenaustreibungen aus Preußen und Posen von 1885; Denkw. II, S. 345. 39 Schweinitz: Bismarck, 6. 6. 1887, GP V, S. 241-242; Bismarck: Schweinitz, 12. 6. u. 13. 6. 1887, ebd. S. 242-244, 279-281. 40 Davon suchte Bleichröder - vermutlich im Auftrag Bismarcks - Cyon zu überzeugen; Cyon, L'Entente, S. 302-304. 41 Bismarck: Schweinitz, 13. 6. 1887, G P V, S. 250-252, 281-282.

6.3.3. 1

K. E. Born u. W. Hertel (Bearb.), Bismarck-Bibliographie, Köln 1966, S. 243. Vgl. etwa den Kommentar H . Bismarcks zu der Möglichkeit, daß die Russen den Vertrag verweigerten: „Sie werden sich dann ganz isoliert fühlen, sehr ängstlich werden und ihrerseits billiger spielen"; H . Bismarck: Bruder, 13. 6. 1887, Bußmann, S. 456. 3 Bismarck: Schweinitz, 13. 6. 1887, G P V, S. 251; Schweinitz: Bismarck, 19. 3. 1887, ebd., S. 221; vgl. auch Marg. Bismarck, N r . 2; vgl. auch Bismarck: Bruder, 19. 6. 1887, Bußmann, S. 458: Der Vertrag „hält uns im Ernstfall die Russen wohl doch 6 - 8 Wochen länger vom Hals als ohne dem. Das ist doch etwas wert". Der von Bismarck unterstellte „ H a u p t e f f e k t " des Vertrages, nämlich die Zusicherung, „daß Rußland bei einem französischen Angriff neutral bleibt", war damit in Frage gestellt; H . Oncken, Das deutsche Reich und die Vorgeschichte des Weltkrieges, I, Leipzig 1933, S. 326. Dieser Aspekt wurde gegen die allgemeine Überschätzung des Rückversicherungsvertrages erstmalig öffentlich geltend gemacht von L. Raschdau, Der deutschrussische Rückversicherungsvertrag, in: „Die Grenzboten", 77, 1918, S. 31-32; vgl. auch ders., Unter Bismarck und Caprivi, Berlin 1939, S. 115-125, 142-148. 2

4

Bülow: H . Bismarck, 5. 5. 1887, Bußmann, S. 458; H . Bismarck: Schweinitz, 10. 6. 1887, G P VI, S. 112. Eine äußere Diversion gegen Österreich-Ungarn enthielt demgegenüber - die deutsche Neutralität vorausgesetzt - kalkulierbare militärische Risiken. 5 Deshalb betont Raschdau (S. 32), „daß die Vorteile überwiegend auf der anderen Seite zu suchen waren". Der Vertrag konnte die russisch-französische Annäherung auch ein formelles Defensivbündnis - nicht verhindern. Der Zar dürfte mit der Feststellung recht gehabt haben, daß der Vertrag „eine Art Garantie" für Bismarck war, daß kein schriftliches russisch-französisches Abkommen bestand; Oncken, S. 326; vgl. auch Aufzeichnung Berchem v. 25. 3. 1890, G P VII, S. 4-10.

460

Anmerkungen

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320-323

6

Das zeigt sich ζ. B. daran, daß die russische Militärführung die Umrüstung von dem alten Berdangewehr mit dem in Eigenproduktion nur mühsam herzustellenden Repetiergewehr nicht in Angriff nehmen konnte, weil die Ausrüstung angesichts der schnellen Entwicklung kleinkalibriger Gewehre in Deutschland und Frankreich bereits wieder unzureichend gewesen wäre. Vgl. dazu die „Germania" v. 6. 11. 1887, in: HPB1 102, 1888, S. 309-310; vgl. dazu Schweinitz: Caprivi, 28. 3. 1880, G P VII, S. 13: Der Rückversicherungsvertrag habe „ein für Rußland sehr günstiges Verhältnis geschaffen, durch welches es instand gesetzt wurde, seine Rüstungen und seinen Aufmarsch im Westen und Südwesten zu fördern, ohne sich der Gefahr auszusetzen, durch eine aktive Politik Österreichs gestört zu werden". 7 Albin, S. 40-42; Hansen, S. 46-47; Michon, S. 9. 8 Lamezan: Bismarck, 20. 7. 1887, GStA, Rep. 109, N r . 4108. 9 „Russischer Finanzanzeiger" v. 13. 8. 1887; ebd., Rep. 109, N r . 4109, pag. 75-76. Der starke Rückgang der Einfuhr hatte seine Ursache auch darin, daß in Erwartung der bevorstehenden Zollerhöhungen die Einfuhr in den letzten Monaten des Jahres 1886 noch einen starken Aufschwung nahm. Der stärkste Anstieg der Ausfuhr fiel in die Monate Februar, April und Mai, vgl. dazu Kap. 2.2.2. 10 Schulze-Gävernitz, Studien, S. 476-477; Golowin, S. 19. Voraussetzung für die Währungsreform war die Ansammlung eines Goldvorrates und die Stabilisierung des Rubelkurses auf einer mittleren Höhe von 216 Mark/100 Rubel. Gerade dieses Programm setzte aber eine günstige Entwicklung der Zahlungsbilanz und das Ende des politischen Drucks auf die europäische Effekten- und Devisenbörsen voraus. Wahrscheinlich hat Alexander III. nicht zuletzt aus diesem Grunde dem Rückversicherungsvertrag zugestimmt. 11 Raschdau, Unter Bismarck und Caprivi, Berlin 1939, S. 18. Eingehend dazu Wehler, Bismarcks Imperialismus und späte Rußlandpolitik, S. 244-247. 12 H . Bismarck: Bruder, 13. 6. 1887, Bußmann, S. 456; Berchem: Schweinitz, 14. 7. 1887, G P V, S. 332. 13 Ebd.; aus diesem Grunde auch der k r a m p f h a f t e Versuch Bismarcks, seine Beteiligung an der Finanzkampagne zu bestreiten. 14 Die Stimmung im Auswärtigen Amt in Berlin war von der Überzeugung beherrscht, wirtschaftlich am längeren Hebel zu sitzen; vgl. etwa Raschdau, S. 18; Berchem: Schweinitz, 14. 7. 1887 (GP V, S. 332): „Die Abrechnung" werde „sicher ergeben, daß wir mehr geben als empfangen, und wir können von der Erkenntnis dieser Tatsache allein eine Umkehr in der russischen Vorstellungsweise uns versprechen." Vgl. auch Marg. Berchem zu Bericht Schweinitz v. 17. 7. 1887 (PA Rußland 71), N r . 1, Bd. 2 - 3 ) : Es käme darauf an, welche von beiden Seiten den Druck „länger aushalten" könne. 15 Raschdau, Unter Bismarck und Caprivi, S. 18; ders., Rückversicherungsvertrag, S. 31; Berchem: Schweinitz, 14. 7. 1887, G P V, S. 332. Für Henckel von Donnersmarck lag die „Wechselwirkung" der Konversion der Bodenkredit-Pfandbriefe und dem Versuch, zur Finanzierung eines Krieges gegen Rußland „dem russischen Kreditbedürfnis deutsches Kapital zuzutreiben" auf der „flachen H a n d " ; H . v. Donnersmarck: Bismarck, 13. 6. 1887, PA Rußland 71, N r . 1, Bd. 1-2. Mit Rücksicht auf die innenpolitischen Auseinandersetzungen im Falle neuer Militärvorlagen hatte Bismarck auch ein weiteres innenpolitisches Interesse, die Militärkosten niedrig zu halten; vgl. etwa Notiz H . Bismarck, Juni 1887, G P VI, S. 195. 16 Waldersee, Denkw. I, S. 318. Die Kritik in militärischen Kreisen seit Jahresende 1886 läßt sich vielfältig belegen. 17 Notiz Rantzau v. 17. 7. 1887, G P V, S. 333. Der Hinweis auf „einflußreiche Kreise" war nicht nur taktisch bedingt, sondern Ausdruck des Drucks, dem Bismarck 461

Anmerkungen

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323-328

vor allem von selten oberschlesischer Industrieller ausgesetzt w a r ; vgl. dazu Belege bei Wehler, S. 244-245. 18 Kardorff, S. 197. Zum Hintergrund vgl. Kap. 6.1.2. 19 Kardorff, S. 196-201; ADR, 1887, S. 30-84. Zu dem aus agrarischer Sicht fatalen Zusammenhang zwischen sinkenden Getreidepreisen, Steigerung der russischen Getreideausfuhr, sinkendem Rubelkurs und der Kampagne gegen den russischen Kredit vgl. Berliner Börsen-Courler v. 21. 10. 27. 20 Die Kampagne wurde durch einen Artikel in der „Kölnischen Zeitung" über die „Russische Geldwirtschaft" am 29. 7. 1887 eröffnet und von der „Post", dem „Berliner Tageblatt", den „Berliner Politischen Nachrichten" und der „Kreuzzeitung" fortgeführt; vgl. dazu die Pressesammlung PA Rußland 71, N r . 1, Bd. 1. Die Veröffentlichung eines eigenhändig von Herbert Bismarck verfaßten Artikels für die „ N A Z " lehnte Bismarck Anfang Juli 1887 noch ab; H . Bismarck: Vater, 5. 7. 1887, ebd. Zu den Bemühungen, den politischen Charakter der Kampagne zu verschleiern, vgl. Berchem: Schweinitz, 14. 7. 1887, ebd. 21 Promemoria Lamezan v. 25. 9. 1887, GStA, Rep. 109, N r . 4108, Vol. 1; V V P K 26, 1889/2, S. 74; E. Struck, Der internationale Geldmarkt im Jahre 1887, in: Sch. Jb., N . F. 12, 1888/3, S. 170, 177; Schweinitz: Berchem, 17. 7. 1887, Marg. Berchem, PA Rußland 71, Bd. 1. 22 National-Zeitung v. 29. 7. 1887, Marg. Berchem; Börsen-Courier v. 30. 7. 1887; Börsen-Zeitung v. 30. 7. u. 1. 8. 1887. 23 Scholz: Bismarck, 11. 5. 1888, PA Deutschland 142, N r . 1, Bd. 2; Raschdau, Unter Bismarck und Caprivi, S. 18, vgl. z.B. Börsen-Courier v. 23. 8. 1887; BörsenZeitung v. 23. 9. 1887 (Abendausgabe); Börsen-Courier v. 21. 10. 1887. Vgl. auch den Artikel der „Post" v. 17. 7. 1887: „Haute Finance versus Kapital." 24 Dreimonatskurs in Berlin: Juli = 179, August = 180, September und Oktober 181; VVPK 26, 1889/2, S. 74; Struck, S. 177. 25 Notiz Raschdau über Äußerung H . Bismarck v. 30. 9. 1887, Deutschland 142, N r . 1, Bd. 1; Frankfurter Journal v. 22. 9. 1887; Berliner Börsen-Courier v. 9. 7. 1887. 26 Lamezan: Bismarck, 15. 10. 1887, inkl. Privattelegramm v. 10. 10. 1887; GStA, Rep. 109, N r . 4108; Berliner Politische Nachrichten v. 10. 10. 1887. Die sich seit September verschärfende Knappheit auf dem St. Petersburger Geldmarkt stand im Zusammenhang mit dem Aufschwung im Getreidehandel. Symptomatisch war, daß der Diskontsatz, der sich März bis September zwischen 4 und 5% gehalten hatte, bis Mitte Oktober auf 572% und bis Ende Oktober auf 5 3 /4% anstieg; Struck, S. 173. 27 Lamezan: Bismarck, 2. 10. 1887; GStA, Rep. 109, N r . 4108, Bd. 1; Berliner Börsen-Zeitung v. 23. 9. 1887; Der Deutsche Ökonomist, 24. 12. 1887. 28 Notiz Raschdau v. 30. 9. 1887, PA Deutschland 142, N r . 1, Bd. 1. 29 St. Petersburger Börsen-Zeitung v. 1. 1. 1887; Lamezan: Bismarck, 2. 10. 1887; GStA, Rep. 109, N r . 4108, Bd. 1; V. Wittschewsky, Budget- und Steuerverhältnisse Rußlands, in: J N S 27, 1904, S. 593. 30 Promemoria Lamezan v. 29. 7. 1887, ebd. 31 Lamezan: Bismarck, 11. 9. 1887, 2. 10. 1887, ebd. 32 Promemoria Lamezan v. 29. 7. 1887, ebd.; Schweinitz: Bismarck, 17. 7. 1887; Leyden: Bismarck, 22. 7. 1887; National-Zeitung v. 25. 7. 1887; Reuß: Bismarck, 4. 8. 1887; H a t z f e l d : Bismarck, 12. 11. 1887; Saurma (Haag): Bismarck, 12. 11. 1887, PA Rußland 71, Bd. 5-6; Michon, S. 8-9. 33 Gutachten des Präsidenten des Reichsbankdirektoriums v. 29. 9. 1887, P A Deutschland 142, N r . 1, Bd. 1. 34 Bericht Koch: AA v. 1. 10. 1887, ebd.

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Anmerkungen

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328-332

35

Gutachten v. 1. 10. 1887 des Geh. Leg.-Rates Gillet (?), ebd. Notiz Raschdau v. 30. 9. 1887, ebd. 37 Notiz H . Bismarck v. 26. 9. 1887 zur Vorlage beim Vater; Notiz Raschdau v. 30. 9. 1887; Gutachten Koch v. 1. 10. 1887, ebd. 38 Rottenburg: H . Bismarck, 4. 10. 1887: enthielt die Anweisung, „daß russische Papiere in Zukunft nicht als Kaution bei Behörden angenommen werden" durften; PA Deutschland 142, N r . 1, Bd. 1. Vgl. auch H . Bismarck: Vater, 11. 10. 1887, GP V, S. 333-334. Der Übergang zum Lombardverbot war nicht nahtlos, sondern muß erklärt werden; Wehler, S. 246. 39 Frankfurter Journal v. 22. 9. 1887; Lamezan: Bismarck, 18. 10. 1887; St. Petersburger Börsen-Zeitung v. 7. 11. 1887; GStA, Rep. 109, N r . 4108, Bd. 1; Berliner Börsen-Zeitung v. 2. 11. 1887; Berliner Zeitung v. 3. 11. 1887; Sack: Holstein, 1. 11. 1887; PA Deutschland 142, N r . 1, Bd. 1. 40 G P V, S. 333-335; Wehler, S. 246, 253. 41 H . Bismarck: Rantzau, 21. 10. 1887, Bußmann, S. 477; Wilh. Bismarck: Holstein, 10. 11. 1887, Holstein, III, S. 205-206. Zum Drängen St. Petersburger Börsenkreise vgl. Bülow: Bismarck, 1. 11. 1887, S. 313-314. 42 H . Bismarck: Bruder, 11. 11. 1887, Bußmann, S. 479. 43 Am 27. 12. 1887 stimmte der Reichstag der Erhöhung der Getreidezölle rückwirkend ab 26. 11. 1887 mit den Stimmen der Nationalliberalen, die das Kartell nicht gefährden wollten, zu. 44 Golowin, S. 18-19; Th. Buck, Volkswirtschaftlicher Korrespondenz aus St. Petersburg, April 1888, in: VVPK 25, 1888/1, S. 198-199; Struck, Der internationale Geldmarkt im Jahre 1888, in: Sch. Jb., N. F. 13, 1889/3, S. 232. 45 Bericht der Reichsbank v. 2. 5. 1888; Bericht des Seehandlungspräsidenten v. 4. 5. 1888; Scholz: Bismarck, 11. 5. 1888, PA Deutschland 142, Nr. 1, Bd. 1. Zur Kursentwicklung bei russischen Werten vgl. die Zahlen bei Struck, Geldmarkt 1887, S. 170-171; ders., Geldmarkt 1888, S. 230-231. 48 Bericht der Seehandlung v. 4. 5. 1888, PA Deutschland 142, N r . 1, Bd. 1; VVPK 25, 1888/1, S. 189-192; ebd., 26, 1889/2, S. 82-83; Struck, Geldmarkt 1888, S. 208-209; Artikel des „Kievlianin" v. 29. 2. 1888, GStA, Rep. 109, N r . 4108, pag. 183; Girault, S. 152-153. Die Seehandlung verschärfte systematisch die Bankenkrise in St. Petersburg, indem sie die Papiere aus älteren Engagements zurückgab; Der Deutsche Ökonomist, 31. 12. 1887, zweite Beilage. 47 Metternich (Gesandtschaft in Brüssel): Bismarck, 9. 2. 1888; Saurma (Haag): Bismarck, 23. 2. 1888; H a t z f e l d : Bismarck, 2. 3. 1888; PA Rußland 1, Bd. 6 - 7 ; Bericht der Seehandlung v. 4. 5. 1888, PA Deutschland 142, N r . 1, Bd. 1. 48 A A : Bismarck, 12. 2. 1888; Metternich: Bismarck, 2. 2. 1888; H a t z f e l d : Bismarck, 2. 3. 1888, PA Rußland 71, S. 6 - 7 ; Anton: Bismarck, 8. 2. 1888; Lamezan: Bismarck, 31. 1. 1888; GStA, Rep. 109, N r . 4108; Kumpf-Korfes, Draht, S. 161, Anm. 162; Girault, S. 150-152. 49 Vgl. z . B . „Kölnische Zeitung" v. 15. 2. 1888; „Straßburger Post" v. 16. 2. 1888; „Wiener Presse" v. 16. 2. 1888. In diesem Zusammenhang muß auch die Bemerkung Bismarcks v. 31. 1. 1888 gegenüber dem französischen Botschafter Herbette gesehen werden, daß er gegen eine russische Anleihe in Frankreich nichts einzuwenden habe; Girault, S. 154. Auch der belgische Gesandte in St. Petersburg ging davon aus, daß Bismarck nicht an das Zustandekommen einer russischen Anleihe in Frankreich glaube; B. Schwertfeger, Der Fehlspruch von Versailles, Berlin 1921, S. 31. 50 National-Zeitung v. 20. 2. 1888, 22. 2. 1888; „Kievlianin" v. 29. 2. 1899; VVPK 26, 1889, S. 4; Struck, Geldmarkt 1888, S. 229-230. 34

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Das w a r die Ansicht Kálnokys laut R e u ß : Bismarck, 2. 3. 1888, P A R u ß l a n d 1, Bd. 6-7. 52 Holstein, III, S. 229-231; Promemoria Lamezan v. 20. 1. 1888, Lamezan: Bismarck, 16. 4. 1888; GStA, Rep. 109, N r . 4108; V V P K 26, 1889/2, S. 70. Wittschewsky, Budget- und Steuerverhältnisse Rußlands, S. 599-600. 53 Lamezan: Bismarck, 16. 4. 1888; GStA, Rep. 109. 54 Vgl. dazu ausführlich Th. Buck, Volkswirtschaftliche Korrespondenz aus St. Petersburg, April 1888, in: V V P K 25, 1888/1, S. 187-209. 55 V V P K 26, 1889/2, S. 74-75; Struck, Geldmarkt 1888, S. 229-231. D a ß die Handelsbilanz zunehmend Einfluß auf die Kursentwicklung bekam, schließt natürlich nicht aus, daß auch die Wertpapierbörse und die politische Lage Einfluß ausübten. 56 Bericht der Seehandlung v. 4. 5. 1888, P A Deutschland 142, N r . 1, Bd. 1; Schwertfeger, S. 32-33. Nach Struck (Geldmarkt 1887, S. 171) lagen die Kurse f ü r russische Wertpapiere an der Londoner Börse schon im Dezember über denen in Berlin, d. h. die vom deutschen Publikum abgestoßenen Wertpapiere wurden zum Teil vom englischen Markt aufgenommen. 57 Bericht der Seehandlung v. 4. 5. 1888; Scholz: H . Bismarck, 11. 5. 1888, P A Deutschland 142, N r . 1, Bd. 1; Struck, Geldmarkt 1888, S. 211-214. 58 N o t i z Kayser v. 3. 2. 1888; Vorlage (o. D . ) : betr. die Cotierung von Wertpapieren an den Börsen; N o t i z Kayser v. 14. 4. 1888, betr. Kursnotierungen von Wertpapieren, P A R u ß l a n d 71, N r . 1, Bd. 3 - 4 ; K u m p f - K o r f e s , D r a h t , S. 164. 59 N o t i z Kayser v. 27. 4. 1888; H . Bismarck: Scholz, 7. 5. 1888, P A Deutschland 142, N r . 1, Bd. 1. eo Scholz: H . Bismarck, 11. 5. 1888, Marg. Bismarck zu neuen Gerüchten über eine russische Anleihe bei Rothschild: „Seit J a h r und Tag, aber ohne Ergebnis", ebd. Vgl. auch A u f f o r d e r u n g der „Post" v. 24. 5. 1888: Die Berliner Börsenblätter sollten lieber schweigen, als f ü r die russischen Papiere eine Lanze zu brechen. 61 N o t i z Berchem v. 21. u. 22. 9. 1888 über Gespräch mit Sack und Hansemann, P A R u ß l a n d 71, Bd. 7 - 8 ; Schweinitz, D e n k w . II, S. 19; Girault, S. 161. 62 Ebd., S. 158-159, „Der Deutsche Ökonomist", 29. 12. 1888; Struck, Geldmarkt 1888, S. 214. An der Berliner Börse stiegen z . B . 5%ige gemischte Russen von 93,4 Mitte Juni auf 97,4 Mitte September; ebd., S. 212. 63 Girault, S. 159-163; K u m p f - K o r f e s , D r a h t , S. 163-164. 64 Vgl. N o t i z Berchem über Gespräch mit H a n s e m a n n v. 22. 9. 1888, P A R u ß l a n d 71, Bd. 7 - 8 . 85 Girault, S. 163-167; K u m p f - K o r f e s , S. 164. «» Ebd., S. 165; Bismarck: Scholz, 15. 6. 1889, P A R u ß l a n d 71, N r . 1, Bd. 3 - 4 . 67 Der französische K a p i t a l m a r k t stand zu dieser Zeit unter dem Eindruck des P a namakanalkrachs und auch die deutsche Pressekampagne w a r hier nicht ohne Eindruck geblieben; Lamezan: Bismarck, 14. 6. 1889, P A R u ß l a n d 71, N r . 1, Bd. 4 - 5 ; Girault, S. 91-92, 157-159, 166-167. 68 Golowin, S. 19; V V P K 26, 1889/2, S. 69-74; Schweinitz: Bismarck, 27. 2. 1889; Promemoria Lamezan v. 18. 1. 1889; Lamezan: Bismarck, 27. 3. 1889, P A R u ß land 71, Bd. 7 - 8 . 69 Ebd. 70 Lamezan: Bismarck, 14. 6. 1889, P A R u ß l a n d 71, N r . 1, Bd. 4 - 5 ; N o t i z Raschdau v. 12. 6. 1889; ebd., Bd. 3 - 4 ; Girault, S. 172-176; Struck, Geldmarkt 1889, S. 135-140. 71 Alvensleben (Brüssel): Bismarck, 20. 9. 1888; Münster: Bismarck, 28. 2. 1889, Marg. Bismarck, P A Rußland 71, Bd. 7-8. 72 „Berliner Tageblatt" v. 23. 2. 1889, Marg. Bismarck: kommentiert zustimmend,

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Anmerkungen

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daß Frankreich sich der russischen Finanzen annehme, ebd. In diesem Sinne auch die Reaktion der „Post" v. 27. 2. 1889; Berliner Politische Nachrichten v. 2. 3. 1889. Diese Haltung war offenbar mit Bleichröder abgestimmt; vgl. Berliner Börsen-Courier v. 25. 3. 1889. 73 Lamezan: Bismarck, 14. 6. 1889, PA Rußland 71, N r . 1, Bd. 4-5; Berliner Börsen-Courier v. 26. 4. 1889, 7. 5. 1889; Girault, S. 171-176. 74 Lamezan: Bismarck, 14. 6. 1889, PA Rußland 71, N r . 1, Bd. 3 - 4 ; Bismarck: Scholz, 15. 6. 1889, daß sich nach Angaben aus Bankierskreisen „der Besitz von russischen Papieren in deutschen Händen erheblich vermindert" habe; ebd. Vgl. auch die Aufstellung der Reichsbank v. 15. 6. 1889 über den Bestand an russischen Fonds, der sich als Folge der drei großen Konversionsoperationen um ca. 5,8 Mio. Mark vermindert hatte; ebd. 75 Berliner Börsen-Courier v. 9. 8. 1889; Lamezan: Bismarck, 14. 6. 1889, PA Rußland 7, Nr. 1, Bd. 4-5. 76 Ebd. Lamezan schätzte, daß die Pariser Spekulation ca. 650 Mio. frs. spekulativ übernommen hatte; Notiz Berchem v. 16. 6. 1889; Berliner Börsen-Zeitung v. 15. 6. 1889; ebd., S. 3-4; Struck, Geldmarkt 1889, S. 168-170. 77 Marg. Bismarck zu Artikel der Berliner Börsen-Zeitung v. 15. 6. 1889; Notiz v. 17. 6. 1889, ebd.; Zeitungsausschnitte zur Kampagne sämtlich PA Rußland 71, Nr. 1, Bd. 4-5. Aufforderung, anstatt der konvertierten Anleihe Barzahlung anzunehmen, vor allem in: N A Z v. 5. 7. 1889, Post v. 5. 7. 1889, Berliner Politische Nachrichten v. 3. 7. 1889. 78 Diese empfindliche Stelle sah Lamezan: Bismarck, 14. 6. 1889, PA Rußland 71, Nr. 1, Bd. 3-4; Berchem: Bismarck, 12. 7. 1889; ebd., Bd. 4-5. 79 Berliner Börsen-Courier u. Vossische Zeitung v. 13. 6. 1889; National-Zeitung v. 14. 6. 1889; Berliner Börsen-Courier v. 20. 7. u. 22. 7. 1889; Berliner Börsen-Zeitung v. 1. 8. 1889; Girault, S. 177; Struck, Geldmarkt 1889, S. 169; J. Viner, International Finance and Balance of Power Diplomacy, 1880-1914, in: ders., International Economics, New York 1951, S. 59-60; Schweinitz: Bismarck, 11. 1. 1890, PA Rußland 71, Bd. 9-10. Charakteristisch für die Festigung des Vertrauens in den russischen Staatskredit war der Anstieg der 4°/oigen 1880er Goldanleihe in Berlin v. 86,90 am 2. 1. 1889 auf 93,20 am 31. 12. 1889; Struck, S. 169. Zur Kursentwicklung an der St. Petersburger Börse vgl. ebd.

7.1 1

W. Frauendienst (Hg.), Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, I, Göttingen 1956, S. 124; Bülow: H . Bismarck, 20. 11. 1887, Bußmann, S. 484; Notiz Kayser v. 24. 11. 1887, PA Deutschland 142, Nr. 1, Bd 1. Zur Reaktion der russischen Presse vgl. „St. Petersburger Zeitung" v. 15. 1.. 1887; „St. Petersburger Herold" v. 14. 11. 1887; Zitate aus „Novosti" u. „Grazdanin" laut „Post" v. 7. 3. 1887; H . Bismarck: Bruder, 24. 11. 1887, Bußmann, S. 484. 2 H . Bismarck: Bruder, 11. 11. 1887, ebd., S. 482; Ibbeken, S. 127-131. Vgl. auch die Ansicht Vysnegradskijs, das Lombardverbot sei eine „äußerst empfindliche und gehässige Maßregel" gewesen, die, weil „sie unmittelbar vor der Ankunft des Zaren in Berlin erfolgte, zu einer Brutalität wurde, welche die russische Gesellschaft aufs äußerste indignierte und den Kaiser insultierte"; Schweinitz, Denkw. II, S. 358. 3 Ebd.; Denkschrift Moltkes von Ende November 1887: „Die Entwicklung der Wehrkraft Rußlands seit 1887 unter besonderer Berücksichtigung seiner Rüstungen im 30

Müller-Link

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Anmerkungen

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laufenden Jahre 1887"; Schmerfeld, Aufmarschpläne, S. 141-142; Yorck: Waldersee, 20. 11. 1887, Briefw., S. 153. 4 Moltke, Denkschrift v. November, S. 143-144; Waldersee: Yorck, 25. 11. 1887, Briefw. S. 154-155; Promemoria Yorck v. 7. 12. 1887, Deutschland Nr. 121, GeheimNr. 12 a, Bd. 1. 5 Bülow: AA, 17. 11. 1887, GP VI, S. 6; Bülow: Bismarck, 25. 1. 1888, Bußmann, S. 500. « Bülow: H. Bismarck, 18. 11. 1887, GP VI, S. 9; Reuß: Bismarck, 6. 12. 1887, ebd., S. 19; Waldersee: Yorck, 25. 11. 1887, Briefw., S. 154. Vgl. auch den Eindruck von Schweinitz, „daß der Kaiser Alexander sich in die Unvermeidbarkeit eines Krieges mit Österreich hineingefunden habe"; Schweinitz: Bismarck, 27. 1. 1888, GP VI, S. 49. 7 Bülow: H. Bismarck, 25. 1. 1888, Bußmann, S. 500. Ober das auffällige Verhalten der russischen Diplomatie, die offenbar einen „Prätext" für den Krieg gegen Österreich suchte, vgl. auch die Äußerungen des „sonst so zahmen" Giers; Reuß: Bismarck, 1. 12. 1887, GP VI, S. 14; Bülow: Bismarck, 1. 12. 1887, 17. 12. 1887, ebd., S. 17-18, 31. 8 Denkschrift Moltkes v. November, s. o. Bismarcksche Reaktion, ebd., S. 145-149. Moltke konnte etwas dadurch beruhigt werden, daß Bismarck ihm den Rückversicherungsvertrag zeigte. 9 Demonstrative Truppenverstärkungen an der preußischen Grenze lehnte Bismarck ab, weil dadurch die deutsch-russische Polarisierung nur gefördert worden wäre; vgl. Bronsart: Bismarck, 17. 12. 1887; Notiz Rantzau v. 18. 12. 1887, PA Deutschland Nr. 121, Geheim-Nr. 12 a, Bd. 1. 10 Zit. nach „Germania" v. 6. 11. 1887, HPB1 102, 1888/2, S. 309-310. Vgl. auch H. Bismarck: Bruder, 9. 12. 1887, Bußmann, S. 488: die Franzosen seien mit ihrem neuen Gewehr „übel daran", weil das Pulver für das kleine Kaliber nicht tauge, während die deutsche Armee über das erprobte Gewehr von Duttenhofer verfüge. Die russische Armee mit dem alten Berdangewehr war demgegenüber hoffnungslos unterlegen. 11 Zit. nach ARD, 1888, S. 303. Text des Gesetzes mit Ausführungsbestimmungen ebd., S. 286-302. Die Ausdehnung der Wehrpflicht bedeutete eine Erhöhung der Kriegsstärke um ca. 600 000-700 000 Mann; Reichsarchiv, Der Weltkrieg, S. 18-20. 12 H. Bismarck: Bruder, 6. 2. 1888, Bußmann, S. 505. Text der Rede v. 6. 2. 1888, in: GW 13, S. 326-347. 13 Gesetz, betr. die Aufnahme einer Anleihe für Zwecke der Verwaltung des Reichsheeres v. 20. 2. 1888; ADR, 1888, S. 302-303. 14 Bülow: H. Bismarck, 25. 1. 1888, 12. 2. 1888, Bußmann, S. 503, 507-508. Die große Wirkung, die die Steigerung der deutschen Kriegsbereitschaft und die neue Anleihe in Petersburg machten, betont auch Schweinitz, Denkw. II, S. 360-361; vgl. auch Schweinitz: Bismarck, 27. 1. 1888, GP VI, S. 46. 15 Vgl. dazu Kap. 6.3.3. Daß die Wirkung des Lombardverbots seit Dezember 1887 durch die politischen Spannungen erheblich verstärkt wurde, betont Struck, Der internationale Geldmarkt im Jahre 1887, in: Sch. Jb., N. F. 12, 1888/3, S. 177-178; B. Schwertfeger, Der Fehlspruch von Versailles, Berlin 1921, S. 30. 16 Berliner Börsen-Courier v. 21. 1. 1888, ähnlich die Berliner „Montagsrevue". 17 Holstein: H. Bismarck, 28. 12. 1887; Bülow: H. Bismarck, 25. 1. 1888, Bußmann, S. 503; Schweinitz: Bismarck, 27. 1. 1888, GP VI, S. 49; Schweinitz: Bismarck, 31. 5. 1888, PA Rußland 99, Bd. 1; Waldersee: Yorck, 31. 5. 1888, Briefw., S. 164. 18 Yorck: Waldersee, 25. 5. 1888; Waldersee: Yorck, 31. 5. 1888; ebd., S. 160, 163. Die Hoffnungen Bismarcks stützten sich auf den o.g. Bericht Schweinitz v. 31. 5. 1888. Bleichröder erwartete noch im Juni 1888 „etwas Exotisches" wie die Zurückziehung von Truppen; Hohenlohe, Denkw. II, S. 441.

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Anmerkungen

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Die Forderung Waldersees, „den Russen den Kredit noch weiterhin gründlich zu verderben" und sie durch weitere Zollerhöhungen „auch materiell zu schädigen", ließ sich angesichts der Lage auf dem Kapitalmarkt und der innenpolitischen Widerstände gegen neue Zollerhöhungen nicht ohne weiteres erfüllen; vgl. Kap. 6.3.3. Der Besuch Wilhelm II. in Petersburg im Juli 1888 hätte außerdem die Wirkung einer verschärften Pressekampagne neutralisiert; Kumpf-Korfes, Draht, S. 164, entgeht dieser Zusammenhang. 20 Bülow: H . Bismarck, 1. 4. 1888, Bußmann, S. 512; Yorck: Waldersee, 20. 3./25. 5. 1888, Briefw., S. 159-161; Rechenberg: Bismarck, 6. 7. 1888, PA Rußland 99, Bd. 1. 21 Schweinitz: Bismarck, 27. 2. 1889, PA Rußland 71, Bd. 7 - 8 ; Promemoria Lamezan v. 18. 1. 1889; Lamezan: Bismarck, 27. 3. 1889, ebd. Zum finanziellen Hintergrund vgl. Kap. 6.3.3. 22 Münster: Bismarck, 28. 2. 1889, Marg. Bismarck, ebd. 23 Bismarck: Wilhelm II., 11. 11. 1888, A. Sch., Korrespondenz, Bd. 130; Rückblick Wilhelm II.: Bismarck, 12. 6. 1889; Rottenburg: H . Bismarck, 21. 11. 1888, A. Sch., Korrespondenz, Bd. 99; Zu den Maßnahmen „unter der H a n d " gehörte, daß Bismarck beim Reichsbankpräsidenten Dechend auf eine Erhöhung des Diskonts drängte; ebd. u. Rottenburg: H . Bismarck, 25. 11. 1888, ebd.; vgl. auch Kap. 6.3.3. 24 Yorck: Waldersee, 24. 5./31. 5. 1889, Briefw., S. 169-171; Waldersee: Bismarck, 5. 6. 1889, Briefw., S. 295-296. 25 Yorck meldete, „Vysnegradskij habe sich, ehe er zu den Konversionen geschritten sei, seitens des Kaisers versichern lassen, daß die russische Politik auf die nächsten Jahre hinaus eine friedliche sein werde, da er, wenn andere Absichten vorlägen, auch seine Maßregeln anders danach bemessen würde". In Verbindung mit dem langfristigen Militärreformprogramm zog selbst Yorck daraus die Konsequenz, daß „Deutschland auf fünf Friedensjahre noch rechnen" könne; Yorck: Waldersee, 24. 5. 1889, Briefw., 5. 169. 23 Ebd., S. 169-170; Waldersee: Bismarck, 5. 6. 1889, Briefw., S. 295-296. 27 Vgl. dazu die Marg. Wilhelm II. zu Waldersee: Bismarck, ebd., S. 296. 28 Vgl. zu dieser Diskussion ausführlich Bismarck: Kronprinz Wilhelm, 9. 5. 1889; Replik Wilhelm: Bismarck, 10. 5. 1888, G P VI, S. 304-309. 29 Waldersee: Wilhelm II., 10. 6. 1889, Briefw., S. 295; Wilhelm II.: Bismarck, 12. 6. 1889, A. Sch., Korrespondenz Β 130; ausführlich dazu Kumpf-Korfes, Draht, S. 165-168, die allerdings den aktuellen Anlaß des russischen Rüstungsprogramms unterschlägt; Ibbeken, S. 119-120. 80 Wilhelm II. ließ sich laufend über die Entwicklung des Rusbelkurses und des Kurses der russischen Wertpapiere informieren; Kiderlen: AA, 6. 7. 1889, Notiz Kiderlein v. 6. 7. 1889; Berchem: Kiderlen, 6. 7. 1889, 8. 7./9. 7./12. 7. 1889, PA Rußland 71, N r . 1, Bd. 4-5, vgl. Kap. 6.3.3. 31 Mit diesem Argument versuchte Bismarck schon im Juni 1889 den Kaiser davon zu überzeugen, daß die Konversionsoperationen nicht gestört werden durften, als er Abschrift des Berichtes Lamezan v. 14. 6. 1889 vorlegen ließ, ebd. 32 D a ß sich die russische Außenpolitik 1889 betont friedlich gab, um die Finanzoperationen Vysnegradskijs zu fördern, stand für viele Beobachter fest; vgl. z . B . Yorck: Waldersee, 24. 5. 1889, Briefw., S. 169; Rottenburg: Berchem, 29. 8. 1889; Reuß: Bismarck, 10. 9. 1889, PA Rußland 99, Bd. 1. 33 Th. Buck, Volkswirtschaftliche Korrespondenz aus St. Petersburg, April 1890; W P K 27, 1890/2, S. 201; Schweinitz: Bismarck, 11. 1. 1890, PA Rußland 71, Bd. 9-10. 34 Waldersee: Yorck, 21. 10. 1889, Briefw., S. 174-175. In der Frage der von Bis30·

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marck nachdrücklich geforderten Verstärkung der Artillerie, die sich „in kürzester Zeit bewerkstelligen" ließ, gab es Differenzen mit Kriegsminister Bronsart; Rottenburg: H . Bismarck, 24. 11. 1888, 12. 12. 1888, A. Sch., Korrespondenz Β 99. 35 Verdy: Bismarck, 31. 8. 1889, 8. 3. 1890; Reichsarchiv, Der Weltkrieg 1914 bis 1918, Anlagen zum 1. Bd., Berlin 1930, S. 33, 39. 36 Denkschrift, betr. die weitere Entwicklung der deutschen Wehrkraft von 1891; ebd., S. 46. 37 Bismarck: Reuß, 3. 5. 1888, G P VI, S. 302-303; Bismarck: Kronprinz Wilhelm, 9. 5. 1888, ebd., S. 305; Waldersee: Yorck, 13. 8. 1890, Briefw., S. 185; Ibbeken, S. I l l ; B. Nolde, L'Alliance Franco-Russe, Paris 1936, S. 513. 38 Deshalb war auch die Befürchtung, der Zar könne den Vertrag diplomatisch gegen Deutschland ausspielen (Berchem, Aufzeichnung v. 25. 3. 1890, G P C H , S. 5), nach Meinung von Schweinitz unbegründet; Aufzeichnung Caprivi v. 28. 3. 1890, ebd., S. 11. Der Bismarcksche Vorwurf, es sei „unvernünftig und ruchlos, die Brücke, die uns eine Annäherung an Rußland gestattet, aus persönlicher Verstimmung abzubrechen" (zit. nach O. Becker, Das russisch-französische Bündnis, Berlin 1925, S. 18), unterstellte eine Möglichkeit, die - falls sie überhaupt jedesmal bestand - durch die Politik der Sanktionen selbst blockiert wurde. Die Bismarcksche These, Rußland werde spätestens 1890 in die „orientalische Sackgasse" gehen, konterte Wilhelm II. zu Recht, daß Rußland „leider die Sackgasse gemerkt" habe und „verzweifelt wenig Lust" zeige hineinzugehen; Bismarck: Reuß, 3. 5. 1888, Marg. Wilhelm II., G P VI, S. 303; Bismarck: Wilhelm II., 19. 8. 1888, ebd., S. 341-43. 39 Ibbeken, S. 124-125; Schwertfeger, S. 28-29; Aufzeichnung H . Bismarck v. 8. 6. 1887, G P VI, S. 196. Auch Giers im September: „Die Beziehungen Rußlands zu Frankreich seien jetzt sehr gute, die Franzosen wären Rußland in allem zu Willen"; Bülow: Bismarck, 28. 9. 1887, ebd., S. 116. 40 Diese, vor allem von Giers wiederholte Behauptung, war nur ein Vorwand, um das deutsche Mißtrauen einzuschläfern; vgl. etwa Münster: Bismarck, 13. 1. 1888: „Von russischer Seite wird, um die Allianzgelüste zu verdecken, stets hervorgehoben, es werde und könne der Kaiser Alexander mit der demokratischen Republik sich niemals verständigen"; ebd., S. 121; ähnlich Schweinitz: Bismarck, 2. 9. 1887, ebd., S. 114. 41 Schweinitz: Bismarck, 2. 9. 1887, G P VI, S. 114. 42 Vgl. H . Bismarck über Gespräch mit Herbette v. 8. 6. 1887, G P VI, S. 193-196; Münster: Bismarck, 16. 6. 1887, ebd., S. 196-198; Aufzeichnung H . Bismarck v. 5. 7. 1887, ebd., S. 198-200; Münster: Bismarck, 17. 7. 1887, ebd., S. 203-205; Plessen: Bismarck, 5. 11. 1887, ebd., S. 205-206. 43 Vgl. dazu Marg. Bismarck zu Bericht Plessen v. 5. 11. 1888 (GP VI, S. 206): Frankreich brauche für sein Militärreformprogramm zwei Jahre, Rußland dagegen vier. 44 Münster: Bismarck, 13. 1. 1888, G P VI, S. 120-122. 45 Auszug aus „Grazdanin" und „Novosti" in „Post" v. 7. 3. 1888, die eine derart „aufgeregte" Sprache ironisch abtat. „Novoe Vremja" zit. in „National-Zeitung" v. 22. 2. 1888. Die Gefahr der Isolierung wurde von der französischen Regierung durchaus gesehen; vgl. Münster: Bismarck, 13. 1. 1888, G P VI, S. 120-121. 46 Schweinitz: Bismarck, 27. 1. 1888, G P VI, S. 46-50; Münster: Bismarck, 13. 1. 1888, ebd., S. 122. 47 Zur Stimmung in der von der Regierung beeinflußten Presse im Frühjahr 1888 vgl. Schwertfeger, S. 32-33; vgl. auch Ibbeken, S. 117-136. 48 Vgl. dazu die Bemerkung bei Schwertfeger, S. 31 : Wirtschaftliche Gründe hätten die russische Politik dazu geführt, „Frankreich, dem zukünftigen Geldgeber", in „Per-

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Anmerkungen

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sönlichkeitsfragen ein Entgegenkommen zu zeigen, zu dem es früher nicht zu haben gewesen wäre". 2um Anstieg des russischen Selbstbewußtseins parallel zur Besserung der Finanzlage vgl. E. Gagliardi, Bismarcks Entlassung, Tübingen 1941, II, S. 36, A 361 g. Während französische Diplomaten mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt wurden, wurde der Militärbevollmächtigte Villaume während des ganzen Jahres 1889 nicht einmal am Zarenhofe empfangen. Giers hatte Mühe, den über Deutschland verbitterten Zaren dazu zu bringen, sich an die Mindestanforderungen diplomatischer Konventionen zu halten; vgl. dazu die vielen Beispiele bei Gagliardi, S. 24 ff. 49 Vgl. zu diesem Aspekt Ibbeken, S. 122, der die These Cyons aufgreift, Frankreich wollte Rußland bei der „ökonomischen Befreiung helfen", nachdem es sich politisch emanzipiert hatte. 50 Schwertfeger, S. 42-43. 51 Ebd., S. 36; Wilhelm II. galt in St. Petersburg als „Vertreter des schärfsten Militarismus"; ebd., S. 38. Vor allem der Zar wurde ständig vom Alptraum eines deutschen Angriffs beherrscht, nachdem für ihn durch den Tod Wilhelm I. die wichtigste Garantie dagegen weggefallen war; vgl. zu deutschen Präventivkriegsabsichten aus russischer Perspektive die zahlreichen Belege bei Gagliardi, S. 15 ff. Auch in Frankreich befürchtete man, daß Wilhelm II. „leichter zum Schwerte greifen" könne; Schoen: Bismarck, 17. 6. 1888, GP VI, S. 218. 52 Schwertfeger, S. 34. Im Juli 1889 setzte Freycinet große Militärvorlagen in den Kammern durch. 53 Das russische Interesse für das neue französische Lebelgewehr bekundete Großfürst Wladimir gegenüber Freycinet im November 1888; B. Nolde, L'Alliance FrancoRusse, Paris 1936, S. 498-499. Zum Problem der Neuausrüstung der russischen Armee mit modernen Gewehren, das die Diskussion in den Generalstäben Europas seit Herbst 1888 beherrschte, vgl. Pourtalés: Bismarck, 17. 10. 1889, PA Rußland 99, Bd. 1; Schweinitz: Bismarck, 11. 12. 1889, ebd., Bd. 2; Hohenlohe, Denkw. II, Notiz v. 15. 12. 1889; Waldersee: Yorck, 21. 10. 1889, Briefw., S. 185; Yorck: Waldersee, 26. 10. 1889, 6. 3. 1890, ebd., S. 176, 178. Zur Planung und zum Stand für den Krieg gegen Deutschland vgl. P. Jakobs, Das Werden des russisch-französischen Zweibundes, Wiesbaden 1968, S. 34-38; J. Joesten, Die Eisenbahnen und die Kriegführung. Eine politisch-militärische Studie, Hamburg 1890, S. 17-30. Die Entwicklung der russischen Armee unter Kaiser Alexander III., in: JbAM 78, S. 337-344. Die Friedensdislokation des russischen Heeres mit Bezug auf seine Kriegsbereitschaft, in: JbAM 74, 1890, S. 236-245. 54 Zur deutschen Militärspionage in Rußland die Korrespondenz Yorck und Waldersee, Briefw., passim. Im Vergleich zu dem „unfreundlichen Stand der deutsch-russischen Beziehungen" machte die Tatsache, daß Frankreich, „das damit der immer freundschaftlicher sich nähernden Macht das Geheimnis seiner neuen Waffe auslieferte", in Berlin einen „besonders ungünstigen Eindruck"; Raschdau, Unter Bismarck, S. 144. 55 Aufzeichnung Rantzau v. 10. 5. 1891, GP VII, S. 296-297. Militärattaches Villaume (Petersburg), Huene (Paris), Deines (Wien), Müller (Bukarest) empfanden die äußerlich friedliche Lage als unbehaglich, wo doch aller Grund bestand, „die russischfranzösische Verständigung und die damit zusammenhängenden Rüstungen aufmerksam zu verfolgen"; Raschdau, S. 121. 56 Vgl. etwa die Denkschrift, betr. die weitere Entwicklung der deutschen Wehrkraft v. Oktober 1891, die angesichts der äußerlich friedlichen Lage die Schwierigkeit hervorhebt, die „Unterstützung der Nation" für die Projekte zur „Entwicklung der deutschen Wehrkraft" zu gewinnen; Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Anlagen zum 1. Bd., S. 46-50.

469

Anmerkungen 57

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352-353

So schon Wilhelm II. in der Thronrede zur Eröffnung des Reichstages am 25. 6. 1888, zit. in G P VI, S. 317. Dahinter stand natürlich die Furcht, den Bundesgenossen zu verlieren und dann ganz isoliert zu sein. Allein diese Tatsache wirft ein bezeichnendes Licht auf die Resultate der Bismarckschen Außenpolitik. 58 Vgl. etwa Yorck: Waldersee, 26. 10. 1889, 3. 11. 1889, Briefw., S. 176-178.

470

9.2 Abkürzungsverzeichnis

AA ADLR ADR AEW AGH AHR an. ASEER ASS AwHZ BA BHI BM BR Cdl CDL CEHE CNDL DHT DLR DR EDCC EHR Far Fs GB GE GP GStA GV GW Har HK HPB1 HSW HSt HZ IHK JbAM JbBB JbGMOD JbGVR JbGO JbKGS JNS

Auswärtiges Amt, Berlin Archiv des Deutschen Landwirtschaftsrates Annalen des Deutschen Reiches Archiv f ü r Eisenbahnwesen Stenographische Berichte über die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses American Historical Review anonymer Verfasser The American Slavic and East European Review Archiv f ü r Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Auswärtiger H a n d e l des Deutschen Zollgebietes Bundesarchiv, Koblenz Berichte über H a n d e l und Industrie Berliner Monatshefte f ü r internationale A u f k l ä r u n g Bundesrat Centraiverband deutscher Industrieller Congreß Deutscher Landwirte Cambridge Economic History of Europe Congreß Nord-Deutscher Landwirte Deutscher Handelstag Deutscher Landwirtschaftsrat Deutsche Rundschau Economic Development and Cultural Change Economic History Review Finanzarchiv Festschrift Die Grenzboten O . v. Bismarck: Gedanken und Erinnerungen Die Große Politik der Europäischen Kabinette Geheimes Staatsarchiv, Berlin General-Versammlung O. v. Bismarck, Gesammelte Werke, Friedrichsruher Ausgabe Handelsarchiv (bis 1880: Preußisches, seither: Deutsches) Handelskammer Historisch-Politische Blätter f ü r das Katholische Deutschland H a n d w ö r t e r b u c h der Sozialwissenschaften H a n d w ö r t e r b u c h der Staatswissenschaften Historische Zeitschrift Industrie und Handelskammer Jahrbücher f ü r die deutsche Armee und Marine Jahrbuch der Berliner Börse Jahrbücher f ü r die Geschichte Mittel- und Ost-Deutschlands Jahrbuch f ü r Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des Deutschen Reiches Jahrbücher f ü r Geschichte Osteuropas Jahrbücher f ü r Kultur und Geschichte des Slaven Jahrbücher f ü r Nationalökonomie und Statistik

471

JbOKR JbUdSSR JbW JEA JEH JMH KMs KZ LÖK Ljb Marg. MEW MStDR Mtt. NAZ NHI NPL NZ PA

PJ

P1V

QJE

Rdl RSchA RBB RGG RR R W A RT Sch.Jb. StA StDR StJbDR StE VDESI VSWG VzK VVPK VSWR VMB-Cdl VwK WA VVS ZfG ZfGS ZfP Zs ZHG

472

Jahrbuch des Ostdeutschen Kulturrates Jahrbuch für Geschichte der U d S S R Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Journal of European Affairs Journal of Economic History Journal of Modern History Allgemeine Konservative Monatsschrift für das christliche Deutschland Kölnische Zeitung Landes-Ökonomie-Kollegium Landwirtschaftliche Jahrbücher Marginalie Marx-Engels-Werke Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reiches Mitteilungen Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nachrichten für Handel und Industrie Neue Politische Literatur National-Zeitung Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn Preußische Jahrbücher Preußens landwirtschaftliche Verwaltung. Bericht des Ministers für Landwirtschaft, Domänen und Forsten Quarterly Journal o f Economics Reichsamt des Innern Reichsschatzamt Russisch-Baltische Blätter. Beiträge zur Kenntnis Rußlands und seiner Grenzmarken Registrande der geographisch-statistischen Abteilung des Großen Generalstabes Russische Revue Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Dortmund Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages Schmollers Jahrbuch Staatsarchiv Statistik des Deutschen Reiches Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich Stahl und Eisen Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Vierteljahreshefte zur Konjunkturforschung Vierteljahresschrift für Volkswirtschaft, Politik und Kulturgeschichte Vereinigung der Steuer- und .Wirtschaftsreformer Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Centraiverbandes Deutscher Industrieller Volkswirtschaftliche Korrespondenz Weltwirtschaftliches Archiv Volkswirtschaftliche Vierteljahresschrift Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift für Politik Zeitschrift Zeitschrift für Handel und Gewerbe

9.3 Quellenverzeichnis (Ungedruckte Quellen)

1. Bundesarchiv

(BA)

Koblenz

R 2 1688/Bd. 1: deutsch-russische Handelsbeziehungen (Dezember 1880-Juli 1892) R 13/1: Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller Nr. 12 Nr. 14 Nr. 51

C. Klein, Geschichte des VDESI 1874-1934, (MS) östliche Gruppe wirtschaftspolitische Betätigung des C d l , z . T . in Verbindung mit dem VDESI, Bd. 2, H. 1, 1884-1911 Vorstandssitzungen Berichte und Mitteilungen über die Hauptvorstandssitzungen und Hauptversammlungen, Bd. 1, H. 2, 1882-1892 Berichte und Publikationen an die Vorstandsmitglieder 1878-1883 Publikationen an die Mitglieder Zollwesen und Handelsverträge 1875-1891 Acta, betr. den neuen autonomen Zolltarif

Nr. 81 Nr. 162 Nr. 170 Nr. 171-173 Nr. 338-342 Nr. 343-344 2. Rheinisch-Westfälisches

Wirtschaftsarchiv

(RWWA)

Dortmund

Κ 2, IHK Bochum, Bd. 1, Nr. 446, 646, 877, 1150. 3. Rheinisch-Westfälisches

Wirtschaftsarchiv

(RWWA)

Köln

Abt. 1, Nr. 24b, Fasz. 32: HK zu Köln, betr. H V mit Rußland. Abt. 1, Nr. 24d, Fasz. 59: Zollangelegenheiten Rußland u. Finnland. 4. Politisches

Archiv

(PA) des Auswärtigen

Amtes,

Bonn

I.A.A.a (Europa Generalia) Nr. 27 Nr. 63 Nr. 86, l a

Auszüge aus den Conseil- und Staatsministerialberatungen, Bd. 2-6, 1874-1885 Vertrauliche Korrespondenz Bismarcks, 1866-1873 Reutersches Telegraphenbüro. Mitteilungen des St. Petersburger Korrespondenten

I.A.A.b. (Deutschland) Nr. 92 Nr. 103 Nr. 121, geh. Nr. 12 Nr. 121, geh. Nr. 12a Nr. 141, Nr. 4, geh. Nr. 142 Nr. 142, Nr. 1, geh.

Veröffentlichung der Schutz- und Trutzbündnisse, Bd. 3-9, 1867-1889 Die finanzielle und wirtschaftliche Reform, Bd. 10, 1885 bis 1905 Maßregeln für die Eventualität eines Krieges, Ausfuhrverbote (Dezember 1886-9. 4. 1887) Militärische Maßregeln in den Ostprovinzen für den Fall eines Krieges mit Rußland, Bd. 1 Paßkontrolle gegen Frankreich, Bd. 1 (19. 1. 1888-28. 5. 1888) Deutsche Finanzen, Bd. 1 (April 1889-31. 1. 1894) Lombardierung ausländischer Papiere bei der Reichsbank, Bd. 1 (26. 9. 1887-März 1889) 473

N r . 142, N r . 2, geh. N r . 142, N r . 3, geh. N r . 142, N r . 4 N r . 153 N r . 177

Niederlegung von Vermögen in inländischen amtlichen Stellen in ausländischen Wertpapieren Bd. 1 (ab 15. 10. 1887) Die U m w a n d l u n g der Reichsbank in eine Reichsanstalt und das deutsche Notenbankwesen (November 1888-Mai 1919) Die Währungsfrage Handelsangelegenheiten (Börsengesetz) ab Mai 1889 Sammlung von deutschen Weißbüchern, Bd. 1 - 3 , 1874-1907

I.A.B.i. (Rußland) N r . 45

Schriftwechsel mit der königlichen Gesandtschaft in Petersburg . . . über die inneren Zustände und Verhältnisse R u ß lands, Bd. 1-2, 1868 Politische Beziehungen Preußens zu Rußland, Bd. 1 - 2 , 1868 bis 1881 Deutsch-russische Beziehungen Politische Beziehungen Frankreichs zu Rußland, Bd. 1 - 3 , 1876-1877 Schriftwechsel mit der Botschaft in St. Petersburg über die inneren Zustände und Verhältnisse Rußlands, Bd. 1 - 9 , 1879 bis 1880 Die russischen Finanzen, Bd. 1-10, 1879-1890 Russische Werte, Bd. 1 - 5 , 1887-1890 sec. Anleihe 1888, Bd. 1 - 2 Eisenbahnen in Rußland, Bd. 1 - 7 Der deutsche Bevollmächtigte in Petersburg, Bd. 1 - 2 , (1886 bis April 1890) Die allgemeine Politik Rußlands, Bd. 1-2, (Juni 1887 bis Dezember 1899)

N r . 46 N r . 50 N r . 57 N r . 61

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

71 71, N r . 1 71, N r . 2 93 98

N r . 99

5. Hauptarchiv

Berlin-Dahlem

(GStA)

I I I . Hauptabteilung, Abt. II, Gesandtschaftsberichte 43 Rußland, N r . 1052-1059 Rep. 109: Seehandlung (Preußische Staatsbank) N r . 4100-4107 N r . 4108-4110 Nr. N r . 5052-5053 N r . 5071 N r . 5108 a N r . 5548 a

Handels- pp. Berichte auswärtiger Konsuln und Botschafter, 1885-1893 Konsular- und Botschaftsberichte über Finanz- pp. Verhältnisse von Rußland, 1886-1893 Beteiligung an der Übernahme von 15 Mio. p f d . stri. Russ. Staatsanleihe, Ser. V I I 1884, Generalia 1884-1888 Subskriptionskorrespondenz zur russischen Staatsanleihe von 1884 Neue Emissionen von Reichs- und Preußischen Staatsanleihen 1886-1892 Die Einrichtungen und der Geschäftsgang der Berliner Börse 1885-1912 Der Lombardverkehr 1885-1908

Rep. 92 N a c h l a ß Scholz, N r . 6 - 8 6. Nachlaß

Bismarck,

Friedrichsruh

— Archiv

Schönhausen

(A.

Sch.)

Korrespondenzen: Β 15 u. 16 (Bleichröder); Β 9 / 1 (Berchem); Β 91 (Raschdau); Β 99 (Rottenburg); Β 100 a (Rottenburg); Β 110.1 (Schweinitz); Β 110.9 (Alfred Rothschild); Β 130 u. 131 (Wilhelm II.); D 2 (H. Bismarck); D 31/11 (H. Bismarck); F (Rantzau).

474

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32

Müller-Link

497

9.5 Maße und Gewichte

1 1 1 1 1 1 1

Berkovez = 10 Pud Pud Werst Desiatine Tschetwert Vedrò (Eimer) amerik. Bushel

= = = = = = =

163,8 kg 16,38 kg 1,067 km 1,092 ha 2,09 hl 12,3 1 35,24 1

Wenn nicht anders angegeben, erfolgt die Datierung f ü r die russische nach dem gregorianischen Kalender.

498

Geschichte

Personenregister Abaza, Α. Α. 196-200, 203, 210, 217, 270 Aksakov, J . S. 200 Albin, P. 11 Alexander I. 51 Alexander II. 41, 45, 57, 59, 111, 115 f., 118, 184, 186-192, 197-200, 241, 249, 294 Alexander III. 191 f., 200-205, 207, 209 bis 212, 217, 246, 250, 254-256, 258, 301 f., 306 f., 309-320, 330, 340-347, 349, 353 Andrássy, J. Graf 125, 178 Appert, frz. Diplomat 295 Arendt, O. 220 f., 278 Baare, L. 136, 141 Below-Saleske, N. v. 160, 227 Bennigsen, R. v. 174, 260 f. Berchem, M. Graf v. 322, 324 Berding, H. 9 Bethusy-Huc, E. G. Graf v. 160 Beutner, W. 144, 232 f. Billot, frz. Politiker 295 Bismarck, H. v. 214, 256, 265, 302, 322, 328-330 Bismarck, O. v. 11, 12, 17, 18, 49 f., 52, 56, 104-106, 108-111, 113-118, 121-126, 128, 130 f., 151 f., 165-169, 171-173, 176-190, 201, 222-225, 227, 231, 233, 240-243, 245, 247 f., 250-253, 255 bis 257, 259-267, 273, 283, 286-293, 296, 298 f., 302 f., 306-308, 311, 313, 316-319, 322, 324, 329, 331, 335-337, 339-340, 342-346, 350 Bitter, K. H. 260 Bleichröder, G. v. 194, 212-215, 250, 255, bis 257, 275, 291, 302, 316, 318, 321, 324-326, 333 f., 336, 344 v. Borries, Agrarier 159 Borsig, A. 92, 140 Boulanger, G. E. 294-296, 302, 304, 306 f., 312, 320 Braun-Gera, nationallib. Abgeordnete 136 Bülow, Β. v. 309 f., 314, 342 f. Bunge, N. Ch. 210-213, 215-217, 250, 32·

253, 257, 268, 270-276, 284, 289, 293, 301, 313-316 Busch, M. 252 Caprivi, L. Graf v. 12 Cyon, E. de 316, 318 Daudet, A. 11 Dechend, H. v. 194, 196, 327-329 Delbrück, R. 135 Delius, H. W. 231, 248 Dérouléde, P. 299 Diest-Daber, Ο. v. 223, 226, 281 f., 289 Dolgoruki, Ν. S. 254 f., 308 Dürckheim, Graf v. 218 Eckardt, J . v. 111 f. Eisner v. Gronow 153 Engels, F. 46 Epstein, K. 12 Erffa-Wernburg, H. Frhr. v. 277 f. Ferry, J. 294 f. Fischer, F. 12 Flourens, E. 306 f. Forckenbeck, M. 174 Franz Joseph, Kaiser von Österreich 189 Frege-Abtnaundorf, A. W. 155, 161 Freycinet, C. de 295, 350 Friedrich Karl, Prinz v. Preußen 50, 113 Friedrich Wilhelm, Kronprinz 182 Geffcken, F. 129 Geyer, D. 9, 40 Giers, Ν. K. 200 f., 207, 213, 250 f., 301, 304, 306 f., 310, 312, 314, 340, 343 Girault, R. 11 Goltz, R. H. 189 Gontard-Mockau, Agrarier 224 Gortschakow, Α. M. 52 f., 116, 184, 199, 251 Greigh, russ. Finanzminister 187, 196 f. Grévy, J. 348 Grothe, H. 234 f.

255, 317,

187, 194,

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Gruson, H . 141 Gusted, Baron v. 226 Hammerstein-Loxten, E. Frhr. v. 220 Haniel, F. 92 f. Hanotoux, G. 11 Hansemann, A. v. 258, 335 Hartmann, Th. 92, 141 Hessel, E. 170 Heyden, Frhr. v. 207 Hobrecht, Α. 259 Hoesch, Industrieller 92, 140 Hofmann, K. 168, 173 f., 186 Holstein, F. v. 186 Hoskier, E. 275 f. Ignat'ev, Ν . P. 199 f., 205, 207, 213, 250, 272 Jomini, A. 287 Kálnoky, G. 201, 304 Kameke, Agrarier 153 Kameke, G. v. 125, 189 Kanitz-Podangen, H . Graf v. 281 f. Kardorff, W. v. 131, 139, 168, 170, 220 Katkov, M. N . 50, 113, 200, 204, 252, 257 f., 272, 300 f., 306, 316-318 Kayserling, Graf 112 Keunemann-Klenka, Agrarier 224 Knauer-Gröbers, preuß. Agrarier 159, 221, 224 f., 228 Koch, Reichsbankvizepräsident 327-329 Kocka, J. 9 Kocabej, Fürstin 310 Kollmann, W. 138, 233 f. Kropatschek, preuß. Landtagsabgeordneter 219, 223, 226 Krupp, A. 92 f. Kumpf-Korfes, S. 17 Lamezan, Frhr. v. 326, 336 Lamzdorf, V. N . 317 Lehmann-Radowitz, Agrarier 162 Lerchenfeld-Köfering, H. v. 276 Leroy-Beaulieu, A. 199, 346 Leuchtenberg, Herzog v. 78 Lexis, W. 220 Lignitz, Militärattache 53, 189, 199 List, F. 145 Lohren, A. 170, 231 Loris-Melikov, M. T. 192, 200 Lueg, K. 134, 137-139 500

Maltzahn-Gültz, H . Frhr. v. 171 Mannesmann, R. 91 Mareks, E. 12 Mescerskij, V. P. 201, 305 Meyer, G. 9 Michon, G. 11 Miljutin, D. A. 39, 47-49, 57, 116, 187, 189, 197 f., 200, 207, 241 Minnigerode, L. K. W. Frhr. v. 173 Mirbach-Sorquitten, J. Graf v. 171, 173, 218, 220-223, 226, 228, 280 f. Mohl, M. 128, 130 Mohrenheim, A. P. Baron v. 295, 301, 305-307 Moltke, Η . v. 57, 108, 110, 112, 114 f., 119 f., 121, 125 f., 128, 189 f., 240 bis 243, 304, 340 f. Münster, G.H. Graf v. 349 Mulvany, W. Th. 229 Niendorf, M. A. 155, 161 Nikolaus I. 20, 22, 40, 49, 51, 76 Obrucev.N. N. 207, 244, 255, 301, 307 Oelschlägel, Agrarier 159 Orlov, N. A. Fürst 256 Perrot, F. F. 163, 170 Peter I. 22, 42 Plessen, H . v. 214 Pobedonoscev, K. P. 201, 203, 272, 301 Poensgen, A. 92 f., 141 Pogge-Roggow, Agrarier 219 Poidevin, R. 11 Poschinger, H . v. 18, 130, 167 Rabenau, Frhr. v. 159 Rachfahl, F. 12 Raffalowitsch, A. F. 192, 194 f., 276, 316 Rantzau, K. Graf 351 Reder-Buchek, Frhr. v. 170 Redern, H . Graf v. 189 Rentzsch, H . H. 228, 236 Rentern, M. K. 23 f., 30, 39, 181 f. Richter, E. 139, 167, 179 f., 261 Richter, K. 139 Roon, A. Graf v. 126 Rothkirch, Frhr. v. Schwarzenfeld 159, 163, 221 f. Rothschild, A. 214 Saburov, P. A. 253, 256 Sack, A. 276 Sassulitsch, V. 183

Schäffle, Α. 130, 220 Scherbening, Bergrat 141 Schöning, Frhr. v. 171 Scholz, A. v. 277, 289, 334 Schorlemer-Alst, B. Frhr. v. 278 Schulenburg-Beetzendorf, O. W. F. Graf v. d. 151 Schwabach, P. 324 Schwartzkopff, L. 92, 140 Schweinitz, H . L. 46, 51, 56, 58, 116, 122 f. 183 f., 186-189, 193, 195, 197 f., 201, 203 f., 206, 212, 241, 247, 250 f., 258, 26β, 269, 271, 287, 290, 298 f., 305 f., 309 f., 314 f., 317, 320, 336, 344, 348 f. Sestakov, russ. General 207 Siemens, W. v. 234 f. Skobelev, M. D . 207 Sonnemann, Reichstagsabgeordneter 248 Steinmann-Bucher, A. 151 Steglitz, Bankier 26 Stolberg-Wernigerode, U. Graf zu 151, 161 Stronsberg, Β. H . 27 Stumm-Halberg, C. F. v. 136, 170, 285 Suvalov, Paul A. 213, 317 Suvalov, Peter A. 117, 183, 306, 308, 311, 316 f., 324 Sybel, H . v. 12 Sydow-Dobberphul, Agrarier 277-279,281 Tenge, Frhr. v. 226 Thielen, Eisenindustrieller 140 f. Thilenius 187

Thiers, A. 114 Thüngen-Roßbach, Κ . E. Frhr. v. 150, 155, 157-159, 162 f., 168 f. Tolstoj, D. A. 201, 204, 299, 301 Treitschke, H . v. 12 Ungern-Sternberg, Frhr. v. 150 f. Vannovskij, P. S. 207, 210, 255, 305, 308 Varnbüler, A. Frhr. v. 168, 170 Verdy, Kriegsminister 345 f. Villaume, Militärattache 295 f., 305, 310 Vladimir, Großfürst 317 Vogüe, Graf de 307 Vysnegradskij, I. A. 268, 285, 301, 313 bis 318, 321 f., 326 f., 329-333, 335 bis 339, 343-346, 349 Wagner, A. 129 Waldersee, A. Graf v. 242 f., 245, 254-256, 298, 307 f., 312, 341, Walnjew, P. A. 187 Wedell-Malchow, F. v. 170 Wehler, H.-U. 9 Wilhelm I. 125 f., 185, 188-190, 254-256 Wilhelm II. 344 f., 350, 352 Wilmans, Stadtgerichtsrat in Berlin Winkler-Mariendorf, Agrarier 227 Wirth, M. 219 Wiss, E. 128

251 f., 345

251 f.,

151

Yorck v. Wartenburg 341, 345 Zedlitz u. Neukirch, O. Frhr. v. 233

501

Sachregister Abhängigkeit, Rußlands - ökonomische und finanzielle 20, 25 f., 29 f., 31, 35, 38-40, 193-196, 198 f., 212-215, 218, 233, 247, 249-255, 258, 266 f., 298, 313 f., 316 f., 319, 321 bis 323, 329, 350 Adel (grundbesitzender) in R u ß l a n d 40 bis 41, 45, 51, 203 f., 269 f. Adelsagrarbank 272 Älteste der K a u f m a n n s c h a f t von Berlin 229 Agrarexport, russischer - Struktur 13, 22, 27, 33 f., 36, 38, 58 bis 75 Agrarkonjunktur, internationale 25, 32 f., 40, 59, 63-65, 67, 68, 71-75, 146 bis 148, 269 Agrarkonkurrenz, preußisch-russische - bis 1875/76 58-63 - 1876 bis 1879 63 f., 66-71 - 1879 bis 1884 68-72 - 1885 bis 1891 73-75 Agrarkrise - in R u ß l a n d 33 f., 36, 192 f., 201-203, 269 - in Preußen-Deutschland 16, 63-68, 72-74, 145-147, 149, 276 f. Agrarpreise s. A g r a r k o n j u n k t u r Agrarproduktion, allgemeine Entwicklung - in R u ß l a n d 21, 23 f., 33, 59 Agrarreformen (-revolution), russische 20 f., 24, 33 f., 36, 40-42, 46, 56 Agrarzölle, preußisch-deutsche 64, 68, 71 bis 75, 220-228, 263-265, 276-282, 285, 288 f., 293 f. Antagonismus, deutsch-russischer - E s k a l a t i o n s s t u f e n 11 f., 15 f., 175, 182-190, 239, 246, 253, 265 f., 268, 286, 293 - finanzieller 12, 217 - i d e o l o g i s c h e r 11-13, 111 f., 123 f., 143, 243 - militärpolitischer 13, 21, 48, 53 f., 107, 116-121, 125, 175, 184-189, 199, 207 f., 240-245, 252-255, 287, 297 f., 304-306, 311 f., 340-347

502

- ökonomischer 11 f., 64, 66, 90, 113, 133, 137-143, 164, 186 f., 287 f., 293 f., 300 - politischer 12, 52 f., 112 f., 115-119, 123-125, 175, 184-187, 189 f., 340 f., 349 Armeereform, russische s. Militärpolitik, -reformen Außenhandel, russischer 22 f., 28 f., 33, 58-75, 88 Ausfuhrvergütungen, französische 136, 139 Ausgleichungsabgaben 136, 139 Autokratie, zaristische 20 f., 45-58, 122 f., 191-209, 226 f. Balkanpolitik, russische 54-58, 110, 120 bis 124, 127, 191-218, 290, 298-301, 306, 341, 347 Baltendeutsche in R u ß l a n d s. Minoritäten Banque de Paris et Pays-Bas 331, 335 Bauernbefreiung in R u ß l a n d s. Leibeigenschaft Bauernvereine 146, 151 Behrens & Söhne, Bankhaus 195 Berliner Handelsgesellschaft 325, 336 Berliner Wertpapier- und Rubelbörse 38 f., 216, 266 f., 318, 324-326, 329, 331, 333 f., 337 f. Bewegung, agrarische s. Interessenpolitik Beziehungen, russisch-französische - finanzielle 11, 196, 275 f., 301, 316 bis 319, 329, 331, 333, 335-338, 344 bis 346, 349 f. - militärpolitische 242, 301, 307, 312, 320, 350 f. - außenpolitische 12, 124, 191 f., 239 f., 295, 299-302, 304-308, 311-313, 317, 320, 339, 347-352 Bimetallismus 220-222, 278-281, 289 Boulangismus 294-296, 307 f., 312 Bourgeoisie, russische 42-45, 51, 204 f., 208 f., Branntweinmonopol 289 Bund der Landwirte 151 Centraiverband deutscher Industrieller 17, 143 f., 171, 232, 235, 237, 247

Comptoir d'Escompte 331 Congreß Deutscher Landwirte 17, 148 bis 151, 153, 157, 159 f., 218, 223, 228, 278-282 Congreß Norddeutscher Landwirte 147 f. Crédit Lyonnais 276, 331 Crédit Mobilier 26 Depression, industrielle s. Industriekonjunkturen Deutsche Bank 333 Deutscher Landwirtschaftsrat 148 f., 151, 153, 158 f., 170, 219 f., 222 f., 225, 227 Deutscher Verein f ü r Doppelwährung 220 Deutsch-Konservative Partei 151 Diskonto-Gesellschaft, Bankhaus 195, 258, 275, 325, 333, 336 Dreikaiserpolitik s. Rußlandpolitik Eisenbahnpolitik, preußische - als Konjunkturpolitik 97 f., 163, 236 bis 238 - als Finanzpolitik 130, 169, 227, 262 - als Militärpolitik 130, 243, 245, 254, 346 Eisenbahnwesen in R u ß l a n d - allgemeine Entwicklung 22, 23, 27, 29, 80 f. - Finanzierungsmodalitäten 25 f., 27 bis 28, 31, 34 - militärische Zwecke 241, 244 f., 287 Expansion, russische - in Asien 54, 110, 114, 286 Exportinteressen am russ. Markt s. Industrieexport Exportquote 91, 95 Exportventil 91, 94 f., 99, 236 Finanzwirtschaft (-politik), russische - allgemeine Entwicklung bis Bunge 22 bis 24, 27 f., 32, 34-39, 192-199 - unter Bunge 210-218, 270-276, 287, 293 - unter Vysnegradskij 313-339, 343 bis 346, 349 Franckensteinsche Klausel 259 Frankreichpolitik, preußisch-deutsche 104, 107-109, 113-119, 296, 303-305, 308, 312, 316, 318 Freie Wirtschaftliche Vereinigung 167, 263 Freundschaft, deutsch-russische - als Ideologie 12, 118, 124, 252, 266, 305, 352

- Grundlagen 12, 49, 52, 54-55, 110 f., 120, 185, 239, 288, 302, 308 f. Friedens- u. Konfliktforschung 11 Geographie, industrielle in R u ß l a n d 21 f., 24-25, 42, 81 Gesellschaft f ü r gegenseitigen Bodenkredit 272, 316, 321, 325 Goldzölle s. Zollpolitik, russische Große Russische Eisenbahngesellschaft 26 f. Hagener Konferenz 283 f. Handelsbilanz - russische 30, 321, 330, 332 f., 336 - preußisch-deutsche 157 Handelskammer - Bochum 283 f. - D o r t m u n d 283 f. - Iserlohn 283 - Oppeln 237, 284 Handelskammerberichte 18 Handels-(-vertragpolitische) Beziehungen - deutsch-österreichische 177-179, 248 - deutsch-russische 13, 15, 19, 75-77, 88 f., 133 f., 176, 179-182, 232 f., 237, 247, 283-285, 291 f. Hegemonialpolitik (-kriege, -krise), preußisch-deutsche 15, 48, 53, 103, 106 bis 109, 164, 293-303, 339-353 Hibernia & Shamrock, Zeche 229 Historiographie zu deutsch-russischen Beziehungen 11-13 Ideologien, nationalistische - antirussische in Deutschland 12 f., 239 - antideutsche in R u ß l a n d (Panslawismus) 12 f., 15, 21, 47-55, 111, 206 bis 209, 246, 293, 299 f., 304 f., 308 bis 311, 340, 349 - antifranzösische in Deutschland 104, 136, 176 f., 252 Imperialismus, deutscher 12 Industrialisierung, allgemeine Voraussetzungen, Charakter, Verlauf in R u ß land 14, 21, 29, 34, 36, 42, 78-79, 81, 85, 87 Industrie, russische s. Industrialisierung Industrieexport (deutscher) nach R u ß l a n d - allgemein 13, 88, 89, 90, 91-102 - Eisen- u. Stahlindustrie (rhein-westf., berg.-märk., sächs.) 91 f., 93, 96, 100 bis 102

503

- Maschinenbau (Berliner, württemb., sächs.) 91 f., 96 - oberschlesische Industrie 93 f., 97 bis 99, 101 f. - Textilindustrie 89, 91, 97, 101 f. - Exportinteressen 133, 135-145, 228 bis 239, 248 f., 283-285, 291 Industriekonjunkturen 16, 25, 29, 32, 34, 36, 79-82, 85 f., 90, 95 f., 97, 99 bis 102, 192, 203, 228, 268 Industrieproduktion, allgemeine Entwicklung in Rußland 21-25, 78-79, 81 bis 83 Innenpolitik, preußisch-deutsche als Krisenmanagement 164-175 Interessenpolitik, agrarisch - in Rußland 40-41, 76 f., 211, 272 bis 274, 292 f. - in Preußen-Deutschland 145-166,169 bis 171, 218-228, 263-265, 267, 276 bis 283 Interessenpolitik - industrieprotektionistische in Preußen-Deutschland 134, 136-145, 165 bis 167, 170 f., 284 f. - industrielle in Rußland 36, 76 f., 79 bis 81, 83-87, 211, 272-274, 292 f. Juden, in Rußland s. Minoritäten Kampfzölle gegen Rußland 231, 233-236, 237 f., 247-249, 263, 283-285, 288 bis 292, 318, 322 f., 328, 330 Kapitalexport, preußisch-deutscher nach Rußland 13, 26, 27, 99 Kapitalmarkt - in Rußland (allgemeine Entwicklung) 22 f., 25, 30, 32, 34, 35 - internationaler (europäischer) 23, 26, 35, 39, 40, 324-337, 344-346 Kartellwahlen 303, 324, 352 Klassengesellschaft - preußisch-deutsche 13 - russische 13, 20, 40-45 Klassenkonflikt, -kämpf 13, 16 - in Rußland 41 f., 43-44, 46 f., 51 f., 55, 81, 205, 268 - in Preußen-Deutschland 146, 148, 150, 152-154, 158 f., 161 f., 166 f., 170, 218 Konflikt - epidemischer 16, 349 f. - strategischer 16 - potentialer 14 f.

504

- theorie 15 Konstitutionalismus, preußisch-deutscher 103-106, 164 Konversionoperation - preußisch-deutscher Staatsanleihen 267, 275, 328 - russ. Staatsanleihen 275, 298, 316, 318 f., 325-329, 333-338, 344-346, 349 Kreditwesen in Rußland s. Kapitalmarkt „Krieg-in-Sicht-Krise" 114-120, 124, 126 bis 128, 239, 296 f., 302 Krieg, russisch-türkischer 21, 37, 182-184 - Kriegsfinanzierung 37-39 - Kriegskonjunktur 37 f., 79 f. Krieg, serbisch-bulgarischer 290 Kriegsbereitschaft, finanzielle, PreußenDeutschlands 259-267, 287 Krimkrieg 15, 19, 21, 23 f., 25, 30, 45, 47 Landes-Ökonomie-Kollegium 145, 148 f. Leibeigenschaft in Rußland 22 f., 24, 40 44, 192 f. Lex Huene 264, 277 Loehmann & Soeding, Gußstahlwerk 283 Lombardverbot 327-330, 333 f., 340-343 Mendelssohn, Bankhaus 195, 214, 255, 336 Militärdespotismus Nikolaus I. 20, 40, 46, 76 Militärpolitik, -reformen - russische 13, 21, 47-49, 55 f., 240 f., 243 f., 297 f., 311 f., 340 f., 345 f., 350-353 - preußisch-deutsche 13, 240, 287, 298 Militärtradition, preußisch-russische 21 Militarismus, preußisch-deutscher 11 f., 128 Minoritäten (-politik) in Rußland 50, 52, 205 f., 212-214 Mißernten in Rußland 32 f., 36, 75, 192 Modernisierung, partielle 14 f., 55 Nationalismus s. Ideologien Niederländische Nationalbank 331 Norddeutsche Bank, Hamburg 195 Obscina 41 Öffentlichkeit, russische s. Presse „ökonomische Gesellschaften" 145 Osteuropa-Forschung 11 Panslawismus s. Ideologien Papierwährung, russische 22, 30 f., 37 Pestsperre s. Vieheinfuhrverbote

Polenpolitik, preußische 287 f., 302 Pommersche ökonomische Gesellschaft 280 f. Präventivkrieg 108, 115, 245, 249, 296, 302, 311, 323, 341 f., 345, 347, 350 bis 352 Presse, russische 46 f., 49-52 Primat, der Außen- oder Innenpolitik 13 Proletariat in Rußland 42, 205 Provinziallandtag, ostpreußischer 159 Quellenlage 11, 17 Radowitz, Mission 117, 122 Reaktion, innenpolitische und soziale in Rußland 191-209, 246, 286 Reformära, Alexander II. 23, 34, 36, 46, 55 Reichsbank, russische 30, 35, 39, 326, 331 Reichseisenbahnprojekt 263 Reichsgründung 13-15 - Gründungsbedingungen 14 f., 53-55, 103-107 Reichsfinanzwirtschaft, -reform 104 f., 108, 127-132, 154-158, 161-163, 166 bis 175, 218 f., 222-226, 259-265, 289 Religionspolitik in Rußland 203 f. Retorsionszölle z. Kampfzölle Revolution, politische in Rußland 286, 312 „Revolution von oben", preußische 103 Roonsche Heeresreform 48 Rothschild, Bankhaus 193, 195, '212-214, 216-218, 249-251, 253, 257, 275 f., 316, 318, 321, 327, 329, 331,333-337, 344, 349 Rubelkurs - allgemeine Entwicklung 31, 35 f., 38 bis 40, 73, 273 f., 276, 315, 325 f., 333, 337, 343 - Stabilisierungsprobleme 30-31, 35, 37, 39 - Einfluß auf Finanzwirtschaft 31 f., 39 Rückständigkeit, sozio-ökonomische, relative - Rußlands 14 f., 19 f., 21-40, 75 f., 82 f. - Preußen-Deutschlands 14 Rückversicherungsvertrag 12, 313, 316, 318-323, 339 f., 347, 349, 352 f. Rüstungsfinanzierung - in Rußland 31-32, 210, 217, 343 bis 346

- in Preußen-Deutschland s. Reichsfinanzwirtschaft Rüstungspolitik, preußisch-deutsche 16, 107, 118, 120, 124 f., 128 f., 239, 242-245, 303-308, 320, 342, 346, 352 Rüstungswettlauf, europäischer 107-109, 113-120, 127 f., 154 f., 240, 243 f., 249, 253, 296, 298, 303, 307, 320 bis 323, 344, 346-348, 350-352 Russische Bank für auswärtigen Handel 321 Rußlandfeindschaft, agrarische 147, 153, 159-163, 170, 172-174, 222,227, 276, 279 f., 282 Rußlandpolitik, preußisch-deutsche - allgemeine Voraussetzungen 15 f., 104, 106 f. - als Integrationspolitik (Dreikaiserpolitik) 109-116, 120, 123, 185, 200 f., 239-241, 246, 253-258, 286-292, 294, 297, 299-302, 308, 310, 313, 319, 322 - antirussische Bündnispolitik 124 f., 185-190, 239, 242, 244, 313, 341 f., 347, 352 - finanzielle Kalmierungspolitik 255 bis 258, 265-267, 286 - Diversionspolitik 126 f., 239, 246, 298-301, 347 - ökon. Sanktionspolitik s. Staatskredit, russ. - Abschreckungspolitik 243, 247, 303 bis 306, 313, 318 f., 342, 347, 352 - unter Primat der Innenpolitik 175 bis 190, 191-209, 286-293 Schnäbele-Affäre 318 f. Seehandlung, preußische 250, 257 f., 330, 333 Sozialstruktur s. Klassengesellschaft Spekulation, internationale 27, 35 f., 38 f., 216, 315, 325 f., 333, 337 Staatsbankrott, russischer 194 f., 276, 312, 332, 339, 343 ' Staatshaushalt, russischer - Struktur 23, 30-32, 34, 36, 38 - Volumen 23 f., 31, 37 Staatskredit (-anleihen, -schuld) russischer 22 f., 30-32, 34 f., 38-40, 193-195, 197, 211-218, 273-276, 346, 349, 351 - Kampagnen gegen russ. Staatskredit (Boykott) 193 f., 213-218, 249-256, 313, 315-318, 321-338, 342-345, 349 f. 505

Steuerreform - in Rußland 31 - in Preußen 154, 156, 219, 222-227, 260 f. Steuerwesen, russisches 34, 36 f. Submissionswesen 236 Tabakmonopol 156-158, 168 f., 226,260 f., 263 Transformation, sozio-ökonomische und politische s. Wandel, sozioökonomischer Verband deutscher Leinen-Industrieller 231, 248 Verein deutscher Eisenhüttenleute 96 Verein Deutscher Eisen- u. Stahlindustrieller 18, 137 f., 165, 263, 283-285 Vereine, landwirtschaftliche 145, 147 bis 149, 151 Vereinigung der Steuer- u. Wirtschaftsreformer 17, 149-162, 170 f., 219 f., 222, 225-227, 232, 235, 238, 281 f. Verein zur Beförderung des Gewerbefleißes 234 Verwendungsgesetze 222 f., 225, 260-262 Vieheinfuhrverbote 68-69, 186 f., 191,281

506

Währungsreform in Rußland 215 f., 270 f., 321, 332 Wandel, sozio-ökonomischer und politischer als Transformationsprozeß - allgemein 14 f. - in Rußland 19 f., 21-40, 40-45 Warschauer, Bankhaus 195, 336 Weltkrieg, Erster 11 f. - Kriegsschuld 12 Westfälischer Draht-Industrie-Verein 229 Wirtschaftspolitik, preußisch-deutsche - „Neue Wirtschaftspolitik" 97-99, 236, 238 - antirussische als Integrationspolitik 165-176 Wirtschaftskrieg, deutsch-russischer 330, 339 f., 349 f. Zahlungsbilanz, russische 30, 34, 37 f. Zollkrieg, deutsch-russischer 284 f., 294, 309, 317, 322 Zollpolitik, russische 36-38, 75-81, 83-87 Zweibund s. Rußlandpolitik Zweifrontenkriege 16, 120 f., 125 f., 239 bis 243, 246 f., 249, 297-299, 302 f., 310-312, 320. 339, 341 f., 350, 352

Bismarck-Briefe Ausgewählt und eingeleitet von Hans Rothfels. 2. Auflage 1970. 456 Seiten, Paperback

Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg geb. Freiin von Varnbiihler. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches. Ausgewählt und herausgegeben von Rudolf Vierhaus. 4. Auflage 1976. 612 Seiten, Leinen. (Deutsche Geschichtsquellen des 19. u. 20. Jahrhunderts 43)

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Von Brest-Litowsk zur deutschen Novemberrevolution Aus den Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen von Alfons Paquet, Wilhelm Groener und Albert Hopmann. März bis November 1918. Mit einem Vorwort von Hans Herzfeld. Herausgegeben von Winfried Baumgart. 1971. 750 Seiten, Leinen. (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 47) VANDENHOECK

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13. Elisabeth Fehrenbach - Traditionelle Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoleon in den Rheinbundstaaten •

2. Wolfgang K r e u z b e r g e r · Studenten und Politik 1918-1933. Der Fall Freiburg im Breisgau

14. Ulrich Kluge - Soldatenräte und Revolution. Studien zur Militärpolitik in Deutschland 1918/19

3. Hans Rosenberg - Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz

15. Reinhard R ü r u p · Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur J u d e n f r a g e ' der bürgerlichen Gesellschaft

4. Rolf Engelsing • Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- u. Unterschichten 5. Hans Medick - Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschieh tsphilosophie und Sozial Wissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith. 6. Die große Krise in Amerika. Vergleichende Studien zur politischen Sozialgeschichte 1929-1939. 7 Beiträge. Hrsg. v. Heinrich August Winkler 7. Helmut Berding - Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807 bis 1813 8. Jürgen Kocka - Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918

16. Hans-Jürgen Puhle · PolitischeAgrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften. Deutschland, USA und Frankreich im 20. Jhdt. 17. Siegfried Mielke · Der Hansa-Bund für Gewerbe, Handel u n d Industrie 1909-1914. Der gescheiterte Versuch einer antifeudalen Sammlungspolitik 18. Thomas Nipperdey · Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte 19. Hans Gerth · Bürgerliche Intelligenz u m 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus 20. Carsten Rüther · Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert

9. Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge. 11 Beiträge. Hrsg. v. Heinrich August Winkler

21. Hans-Peter Ulimann · Der Bund der Industriellen. Organisation, Einfluß und Politik klein- und mittelbetrieblicher Industrieller im Deutschen Kaiserreich 1895-1914

10. Hans-Ulrich Wehler · Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865-1900.

22. Dirk Blasius · Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität. Zur Sozialgeschichte Preußens im Vormärz

11. Sozialgeschichte Heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag. 36 Beiträge. Hrsg. von Hans-Ulrich Wehler

23. Gerhard A. R i t t e r · Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus. Aufsätze zur deutschen Sozial· und Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

12. Wolf gang Köllmann - Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert

24. Horst Müller-Link · Industrialisierung und Außenpolitik. PreußenDeutschland und das Zarenreich 1860-1890

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