Im Dreieck von Demokratie, Öffentlichkeit und Massenmedien [1 ed.] 9783428467655, 9783428067657

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Im Dreieck von Demokratie, Öffentlichkeit und Massenmedien [1 ed.]
 9783428467655, 9783428067657

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PETER KLIER

Im Dreieck von Demokratie, Öffentlichkeit und Massenmedien

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 56

Im Dreieck von Demokratie, Offentlichkeit und Massenmedien

..

Von

Dr. Peter Klier

Duncker & Humblot · Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Klier, Peter:

Im Dreieck von Demokratie, Öffentlichkeit und Massenmedien I von Peter Klier.- Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft; Bd. 56) Zugl.: Berlin (West), Freie Univ., Diss., 1988 ISBN 3-428-06765-7 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Luck + Schulze GmbH, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-06765-7

Vorwort

Im Dreieck von Demokratie, Öffentlichkeit und Massenmedien. Das Dankbare eines solchen Themas liegt neben dem Umstand, daß man kaum einen findet, der dazu keinen Beitrag leisten könnte, also mit ihm fast ausschließlich nur auf Experten trifft, in der Fülle des zur Verfügung stehenden Materials: Allein mit jedem einzelnen dieser Themenbereiche sind ganze Bibliotheken gefüllt, und man kann sicher sein, stets das Neuste, Älteste oder Wichtigste außer acht gelassen zu haben. Unsere Demokratie funktioniert. Mit dieser Feststellung wollen wir auch die traditionelle Gretchenfrage eines solchen Themas gleich gar nicht aufkommen lassen, genauso wenig wie es nicht um die Klärung dessen zu tun ist, was denn eine Demokratie eigentlich sei oder wie sie doch wenigstens sein sollte oder was man denn letztlich genau unter "Öffentlichkeit" zu verstehen habe. Es ist vielmehr der Foucaultsche Blick von außen, der das Herangehen an den Gegenstand '"Demokratie" bestimmt- und seine Verwunderung darüber, warum eine Gesellschaft das ihr so Selbstverständliche auch so selbstverständlich voraussetzen kann. Ihre Selbstbeschreibungen allein können dies nicht erklären, und dies ist auch der Grund, warum von einem '"Dreieck" die Rede ist: was offiziell als natürliche Folge eines linearen Verhältnisses von Demokratie-Öffentlichkeit-Massenmedien beschrieben ist, zeigt sich aus einiger Distanz weit weniger geradlinig, sondern zugleich geschlossener und beziehungsreicher: als Feld, in dem das Selbstverständliche stets wieder von neuem generiert werden muß. Diese Beobachtung wird zusätzlich durch das Fehlen einer allgemeinverbindlichen Demokratie-Dogmatik bestätigt, und daher kann es zunächst (in Teil I) auch nur darum gehen, die herrschende demokratietheoretische Meinung als Orientierungshilfe für das Folgende zu skizzieren. So ist deren Darstellung entsprechend knapp gehalten und ihren groben Umrissen liegt nichts ferner, als es mit filigranen demokratietheoretischen, verfassungs-oder staatsrechtlichen Auseinandersetzungen aufzunehmen. Wenn dazu über die Diskussion von "Legitimität" in das hier zur Verhandlung stehende Thema eingestiegen wird, dann nicht in dem Glauben, daß ihre Relevanz aus dem erwachse, wie sie vor nicht allzu langer Zeit geführt worden ist: Die Problematisierung von Legitimität war unter den gegebenen Umständen ein intellektualistisches Kunstprodukt, das für diejenigen, für die es vorgeblich geschaffen worden war, schon wegen der Art und Weise, in der es diskutiert wurde, niemals aktuell gewesen ist: Denn die Frage der Legiti-

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Vorwort

mität stellt sich im Marxschen Sinne praktisch nur in den Zeiten des Umsturzes, und auch da wird sie weniger gestellt als getan. Oder man betrachtet sie aus einer historischen Perspektive und kommt dann zu dem Schluß, daß die Problemstellung für eine derartige Erörterung heute überhaupt unkontrolliert aus dem Mittelalter übernommen worden ise. Daher kann dort, wo nicht sowieso "unter dem Etikett der Legitimität eigentlich nur noch über die Popularität von Regierungen und über politische Rhetorik verhandelt wird" (PL 154), die Legitimationsproblematik letztlich nur hypothetisch aufgeworfen und behandelt werden - sowohl von ihrem Gegenstand, der konkreten Kantestation eines bestimmten Legitimitätsverhältnisses, als auch von ihrer theoretischen Fragestellung her. Warum wir uns trotzdem damit befassen, fmdet seinen Hauptgrund darin, daß sich die Frage der Legitimitätsruschreibungen wahrscheinlich anders und möglicherweise unkomplizierter löst, als es die wahrhaben wollen, die sie professionell zu beantwort.en pflegen. Denn wenn nicht alle Anzeichen trügen, erschütterte gegenwärtig der Entzug eines regelmäßigen Lebensstandards, wozu auch Supermärkte und ein gesichertes Fernsehprogramm zu zählen sind, die Legitimitätsgewährenden mehr als eine Inkonsistenz staatsrechtlicher oder politologischer Legitimationskonstruktionen. Nichtsdestoweniger ist die nicht zu leugnende Zufriedenheit "mit den bestehenden Verhältnissen" auf "Demokratie" zurechenbar: gemäß herrschender Vorstellungen ist es die Art und Weise der ausgeübten politischen Herrschaft, die für Prosperität oder Niedergang eines Gemeinwesens und die darin bestehende Unterdrückung oder Freiheit, Gerechtigkeit oder Unrecht, verantwortlich zeichnet. Und wenn man Demokratie als Form politischer Herrschaft versteht, dann ist sie auch gemäß ganz konventioneller Betrachtungsweisen auf die Anerkennung derer angewiesen, für die und auf die sie ihre Herrschaft ausübt. Damit diese aber überhaupt erkennen, was sie anerkennen sollen, muß dies für sie irgendwie wahrnehmbar sein: Mit anderen Worten, wir gehen für das weitere davon aus, daß "Demokratie" schon allein aus Legitimationsgründen auch für den homo de plebe und nicht nur für seine Führer identifizierbar sein muß. Wie und wo also ist sie wahrnehmbar, woran erkennt man sie, woher weiß man, was "Demokratie" ist und wie kommt das Wissen von ihr zu Stande? Um diesen Fragen und den darin enthaltenen epistemologischen Implikationen (in Teil II) genauer nachgehen zu können, müssen erst (in Teil I) ihre Voraussetzungen im Hinblick auf den Gegenstand selbst aufgezeigt werden. Zu diesen Voraussetzungen gehört aber auch, auf eine stets dann fast nahezu unausweichlich aufgeworfene Fragestellung einzugehen, wenn das Verhältnis von Demokratie und Massenmedien zur Verhandlung steht: Ob den Medien realitätsgenerative Wirkung zukommt, wie sehr sie als Manipulationsinstru1 So Luhmann in PL 153ff (siehe zur Zitierweise seines Werks die "Bibliographische Vorbemerkung" aufS. 11).

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Vorwort

mente taugen. Mit dieser Grundlage soll dann (in Teil III) darzulegen versucht werden, wie die gegebenen epistemologischen Bedingungen auf die Erfahrbarkeil von Demokratie wirken: Inwieweit sie auf der massenmedialen Produktionsseite das hervorbringen, was auf der Rezeptionsseite letztlich als "Demokratie" wahrnehmbar wird, um schließlich im letzten Abschnitt (Teil IV) die gewonnenen Ergebnisse auf demokratiestrategische Perspektiven hin abzuklären. Aber wie auch immer, lassen Sie sich nicht beirren: "gehen Sie nicht auf Distanz zu unserm Staat, helfen Sie die Demokratie stärken"2! In dem Jahr, das nun zwischen der Fertigstellung des Manuskripts bis zu seiner Drucklegung verstrichen ist, sind zwei Ereignisse eingetreten, die ganz im Sinne des hier Vertretenen- in seinen Zerklüftungen die Stärke des demokratischen Dispositivs erkennen lassen: Der gerade noch als Demokratie-Kämpfer zitierte Jenninger ist Opfer seines eigenen Bemühens geworden und mußte zurücktreten, nicht weil er etwas Undemokratisches gesagt hätte, sondern weil er etwas gesagt hat, was dem demokratischen Diskurs nicht gefällt. Zum anderen widersprechen die Wahlerfolge der Partei der "Republikaner" nur scheinbar den hier im folgenden gemachten Analysen: sind sie doch nur die Stimmen derer, die den herrschenden Diskurs nicht verstehen können, aber dafür seinen Klassencharakter intuitiv viel besser begreifen, als er selbst - was ihn im ersten Moment sehr erschreckt hat. Für dieses Erschrecken aber ist er mit etwas belohnt worden, wovon er vorher nie laut zu träumen gewagt hatte: der Volksgemeinschaft, diesmal der guten, der gegen Rechts.

Schöneberg, im Mai 1989

2

Bundestagspräsident Phillip Jenninger in seiner ;\Teujahrsansprache am 3.1.1988

Inhaltsverzeichnis

§1

Einleitung: "Die" Demokratie muß aus legitimatorischen Gründen wahrnehmbar sein 0

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Teil I Wie man sich ungefähr "die Demokratie" vorstellt und manchmal ihre Realisierung kritisiert §2

Normative Funktionen der Öffentlichkeit

§3

Die Öffentlichkeit als offenes Kommunikationssystem

§4

Die Rolle der Massenmedien

§5

Nichterfüllung der normativen Öffentlichkeits-Vorgaben

§6

Legitimitätsschwierigkeiten und ihre vorläufige Lösung

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Teil II Warum man weiß, was man sich unter "Demokratie" vorzustellen hat §7

Epistemologische Implikationen

§8

Stichwort "Medienrealität"

§9

Einschränkung der Manipulationshypothese

§ 10

Öffentliche Epistemologie

§ 11

Öffentlichkeit als selbstreferentielles und autopoietisches System o

§ 12

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Die Notwendigkeit der Enttautologisierung des Systems der öffentlichen Epistemologie 0

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Enttautologisierung

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"Die Öffentlichkeit" als Shifter

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Inhaltsverzeichnis

Teil III Wie "Demokratie" gemacht wird: Annahmezwänge und Erscheinungsformen § 15

"Die Demokratie" ist kein System ...................... 81

§ 16

Die Bewegung des Shifter und die Reflexivität des Mediums ......... .. ....................... .. .... 90

§ 17

"Demokratie" durch "Öffentlichkeit", oder: "Die Öffentlichkeit" als Demokratie-Indikator ......... .. . .. ... 95

§ 18

Demodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

§ 19

Der eingeschlossene Dritte, oder: Demokratie als Empirie der Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

§ 20

Mimesis des Offiziellen und Popularisierung des Politischen, oder: Demokratie als kulturelle Lebensform . . . . . . . . . . . . . 116

§ 21

Einrichtung von Demokratie durch Ausrichtung an Modellen, oder: Demokratie durch Design . . . . . . . . . . . . . . 134 Teil IV Konsequenzen im Schatten entpolitisierter Demokratie und ein Epilog

§ 22

Hyperreale Demokratie ............................ 144

§ 23

Drei Optionen: moralisierend, operationalisierend und ein Augurenlächeln ......................... . ... .... . 148

§ 24

Epilog: Demokratie als Neue Mythologie ........... . ... 156

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Bibliographische Vorbemerkung Da das Werk Luhmanns vielfach in Aufsätzen vorliegt, wurde dafür der Übersichtlichkeit halber nachfolgende Sigeln gewählt. Im übrigen sind diese wie alle anderen im Text vorkommenden Referenzen mit den üblichen bibliographischen Angaben im entsprechenden Verzeichnis arn Endes des Buches aufgeführt. FR

Funktion der Rechtsprechung im politischen System, in: PP, S. 5366. GI Grundrechte als Institution, 1965. GZ Grundwerte als Zivilreligion, in: SA 2, S. 293-308. lOG Interaktion, Organisation, Gesellschaft, in: SA 2, S. 9-20. KD Komplexität und Demokratie, in: PP, S. 35-45. LP Liebe als Passion, 1984. LV Legitimation durch Verfahren, 1969. Macht, 1975. M OE Organisation und Entscheidung, in: SA 3, S. 335-389. Öffentliche Meinung, in: Langenbucher, S. 27-54 (auch enthalten in: öM PP, S. 9-34). PL Partizipation und Legitimation: Die Ideen und Erfahrungen, in: SA 4, s. 152-160. PP Politische Planung, 1971. RS Rechtssoziologie, 1972. RSt Gesellschaftliche und politische Bedingungen des Rechtsstaates, in: PP, S. 53-65. SA 1 Soziologische Aufklärung Bd.1, 1970. SA2 Soziologische Aufklärung Bd.2, 1975. SA3 Soziologische Aufklärung Bd.3, 1981. SA4 Soziologische Aufklärung Bd.4, 1987. SM Symbiotische Mechanismen, in: SA 3, S. 228-244. SPS Soziologie des politischen Systems, in: SA 1, S. 154-177. ss Soziale Systeme, 1984. SThG Selbst-Thematisierung des Gesellschaftssystems, in: SA 2, S. 72-102. TKM Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in: SA 2, S. 170-192. ViS Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien, in: SA 3, S. 309-320. WS Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1981.

§ 1 Einleitung: "Die" Demokratie muß aus legitimatorischen

Gründen wahrnehmbar sein

Max Weber typologisiert in seiner allseits bekannten Studie über die Legitimitätsformen von Herrschaft (Weber 122ft) die Eigenschaft verschiedener Herrschaftsformen (legale, charismatische und traditionale Herrschaft), in denen Legitimitätsglaube und -anspruch je auf ihre Weise zur Deckung gelangen und den Zustand der Legitimität von bestimmten Herrschaftstypen zeitigen. Das besondere soziologische Problem, welches sich beim Typus der legalen Herrschaft - und damit für die Demokratie im heutigen Sinne - stellt, läßt sich mit diesem Instrumentarium allerdings nicht lösen1: wie läßt sich die formale2, gesatzte Ordnung des Legalen auf das Informale des Glaubens an sie umsetzen (vorausgesetzt man nimmt nicht von vornherein an, daß Legalität automatisch Legitimität gleich mitproduziert, und selbst dann müßte man den davon Betroffenen immerhin noch erklären, was es zwar nicht mit der Demokratie, aber mit der Legalität ungefähr auf sich hat). Legitimität legaler Herrschaft heißt unangefochtene Umsetzung formalisierter Herrschaftsansprüche in informale Fügsamkeilsmotivation der Gehorchenden. Am reibungslosensten scheint dies vor sich zu gehen, wenn sie gar nicht erst thematisiert zu werden braucht, und damit schon des Risikos entschlagen ist, überhaupt problematisiert oder gar angefochten zu werden. Denn die Anerkennungswürdigkeit eines politischen Aktes, seine Anerkennungschance steigt mit dem Maß an Übereinstimmung der als Begründungszusammenhang in Anspruch genommenen Einheit mit den sozialen Reproduktionsformen der betroffenen Subjekte. Je natürlicher und selbstverständlicher, je mehr sie sich und ihre Interessen in dem in Anspruch genommen Begründungszusammenhang wiederfinden, desto höher die Legitimitätschancen eines Herrschaftsaktes, desto perfekter die Neutralisierung bzw. Verschleierung seines Willkürcharakters.

1 Und sollte auch aus diesem deskriptiv-idealtypischen Blickwinkel gar nicht gelöst werden. Dies auch die Ansicht von Kielmannsegg (1971, 376), der diesen Anspruch als gängigen Fehler von Kritikern wie Verteidigern Webers ansieht.

2 Wenn im Folgenden von "formal-informal" (bzw. den entsprechenden Ableitungen) die Rede ist, so in nicht .zufälliger Anspielung auf den Gebrauch dieser Begrifflichkeil in der sog. "neoklassischen" Organisationssoziologie (im Anschluß an Mayo et al.), die, und das ist hier das eigentlich Entscheidende, einerseits zwar die Relevanz des "Informalen" erkennt, aber zugleich (in Gestalt des "Formalen") am "Idealtypischen" mindestens insofern festhält, als sie das "Informale" als Abweichung davon versteht.

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§ 1 Einleitung: "Die" Demokratie muß wahrnehmbar sein

Solang ein Herrschaftsakt unter der diskursiven Schwelle ist, ist er "über jede Diskussion erhaben" und damit auch nicht in Gefahr. Als Garant für dieses "Unterschwellige" wird allgemein der Fall angesehen, "wenn Koinzidenz zwischen objektiver Ordnung und den subjektiven Organisationsprinzipien gleichsam vollkommen ist" (Bourdieu 1979, 325). Dann erscheint die soziale und politische Ordnung, und damit auch deren Herrschaftsformen, als selbstverständliche und als natürlich vorgegebene Welt, die keine Antworten verlangt, weil sie nicht einmal Fragen aufwirft: das Reich der Doxa. Die Herrschaftsansprüche und vor allem die Mechanismen ihrer Akzeptanz bleiben in dieser selbstverständlichen Welt(sicht) unbewußt, latent. In dieser Latenz schützen sie die Struktur der Herrschaftsausübung, die dann in Gefahr geraten könnte, wenn sie den Beherrschten zu Bewußtsein käme bzw. sich in der Kommunikation zur Disposition stellen, ·sich diskursiven Bewährungszwängen aussetzen müßte (was ja bekanntlich Habermas' große Hoffnung ist). "Wenn Strukturen Latenzschutz benötigen, heißt dies dann nicht, daß Bewußtheit bzw. Kommunikation unmöglich wäre; sondern es heißt nur, daß Bewußtheit bzw. Kommunikation Strukturen zerstören bzw. erhebliche Umstrukturierungen auslösen würde, und daß diese Aussicht Latenz erhält, also Bewußtheit bzw. Kommunikation blockiert" (SS 459)3• Diese Blockierung wird gefährdet, wenn der Bereich der Doxa verlassen werden muß, und der herrschaftliche Anerkennungsanspruch aus dem "Univ~rsum des Undiskutierten" in das "Universum der Diskussion" (Bourdieu 1979, 330) überführt wird. Zugleich auch "diskursives Universum" des Konsenses, baut es sich in der Spannung zwischen Orthodoxie, als einem "System von Euphemismen, schicklichen Weisen, die natürliche wie soziale (wie politisch, P.K.) Welt zu denken und in Worte zu fassen" (ebd. 332), und Heterodoxie, als die Kantestation dieser schicklichen Weisen, auf. In diesem Feld fmdet der Kampf um die legitimitätsstiftenden Symboliken statt, was seit Gramsei (429) "Kampf um die politische bzw. kulturelle Hegemonie" heißt. Darin "geht es um die 'Besetzung' jener strategischen Punkte im öffentlichen Bewußtsein, die für die Konstitution der neuen Legitimität relevant sind" (Dubiel in: Merkur, 651). Die in diesem Kampf verwandten "Feldzeichen", man spricht gerne von "Argumenten", wirken dann legitimitätsstiftend, d.h. sie motivieren zur Annahme der darin repräsentierten Legitimationsansprücben, sofern sie als Rechtfertigungsgründe kodiflzierbar sind, die auf einen fraglos anerkannten Begründungszusammenhang zurückgerechnet werden können (dieser Kodierungszwang gilt natürlich gleicher-

V neingedenk dieser theoretischen Ebene (und der sprachlich reichlich unästhetischen Form) kommt Luhmann, 20 Jahre Legitimations- und Partizipationsdiskussion Revue passieren lassend, trotzdem zu der folgerichtigen Beobachtung: "Mein Eindruck ist, daß Thematisierung von Legitimität legitimationspolitisch nicht neutral wirkt, sondern tendentiell delegitimierend wirkt" (PL 157). 3

§ 1 Einleitung: "Oie" Demokratie muß wahrnehmbar sein

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maßen für Interessen, die zur Ablehnung von Legitimationsanprüchen motivieren sollen). Mit "Legiti.mationskrisen" ist hingegen zu rechnen, wenn die symbolischen Präsentationen der Erwartungsstrukturen der Legitimitätsgewährenden in den Symboliken der Legitimitätsbeanspruchenden nicht mehr repräsentiert werden und daher zur Annahme des Legitimitätsanspruchs nicht mehr "motivieren" können, so daß einem Herrschaftsanspruch nur solang Legitimität gewährt ist, als er sich implizit auf eine vorgängige, den partikularen Anspruch transzendierende Einheit beziehen kann, in der sich die Kodierungen des Legitimationsanspruchs mit denen seiner Annahme bzw. Ablehnung austauschen und so die Ansprüche der Herrschenden mit denen der Beherrschten (und das Formale bzw. "Offizielle" mit dem Informalen bzw. "lnoffiziellen") über reziproke Anerkennungsverhältnisse -eine Zeitlang sprach man gerne von der Dialektik des Verhältnisses zwischen Herr und Knechtvermittelbar werden. Damit läßt sich das Spektrum der strukturellen Bedingungen von "Legitimität" einigermaßen überblicken: Unterhalb der Schwelle expliziter Bezugnahme auf sie ist sie so unangefochten, daß sie nicht einmal "zur Sprache kommen" kann. Anders ist es, wenn sie zum Gegenstand des "diskursiven Universums" wird, denn damit kommt zugleich die Differenz von Legitimationsanspruch und -gewährung und so auch die Möglichkeit seiner Ablehnung zur Verhandlung. "Legitimität" ist somit so lange gewährt, als sie jene Differenz in eine die jeweiligen Kodierungen bündelnde Einheit integrieren kann. Wahrhaft gefährdet ist Legitimität erst, wenn jene Einheit selbst kontestiert wird, die Legitimationskodes ihre normierende Kraft verlieren und angegriffen werden (können): dann muß es zu einer Neuabstimmung der Kodierung kommen, "Anpassung an Zeitgemäßes erfolgen" oder "neue Kompromißformeln gefunden werden'>4. Um diesen kurzen Anriß allgemeiner und damit auch für die Form charismatischer und traditionaler He·rrschaft mutatis mutandis geltenden Bedingungen von Legitimität für "Demokratie" als besondere Form legaler Herrschaft zu spezifizieren, gibt es eigentlich nur eine Antwort: In einer Demokratie kommt einer politischen Entscheidung, für die Betroffenen letztlich als staatlicher Herrschaftsakt verbindlich werdend, erst dann Legitimität zu, wenn sie sich als "demokratisch" ausweisen kann. Was hier noch stark nach Tautologie riecht, löst sich schnell auf, wenn man sich vergegenwärtigt, daß nicht in der "Demokratie" die politischen Entscheidungen getroffen werden, sondern im politischen System. Und dieses

Unter diesem Aspekt wären auch. im unterschiedlichen Maßstab, die Einführung eines neuen Kleidungsstils im Bundestag seitens der Grünen. die Forcierung eines "neuen Patriotismus'" durch Reagan oder die Vereinnahmung von Luther, Friedrich dem Großen oder Bismarck, allesamt ja nicht gerade unmittelbare Väter des Sozialismus, durch die DDR-Geschichtsschreibung zu sehen.

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§ 1 Einleitung: "Die" Demokratie muß wahrnehmbar sein

ist dann legitim, wenn es demokratisch ist. Wäre Demokratie ein politisches System, nur formales Organisationsprinzip staatlichen Handeins zur Gewinnung allgemeinverbindlicher Entscheidungen, käme sie über Legalität nicht hinaus. Denn Legalität bedeutet lediglich "die verfassungsrechtlich normierte Rechtssetzung und prinzipielle Gesetzesbindung aller staatlichen Gewalt. Staatliches Handeln ist legal, soweit es den verfassungsrechtlich vorgesehenen Ordnungs- und Verfahrensregeln entspricht" (Steffani 19). Als nur politisches System wäre Demokratie nicht in der Lage, Legitimität zu produzieren, denn gleich dem Empirismus; der seine Wahrheitskriterien selbst nicht mehr empirisch begründen kann (vgl. Kamlab/Lorenzen 189), kann Legitimität nicht legalisiert werden5: Gerade weil Demokratie nicht identisch mit dem politischen System ist, können dessen Herrschaftsakte legitim sein. In anderen Worten: nur auf Formelles, d.h. auf die Formalität des Legalen reduziert, wäre der Begriff "Demokratie" sinnlos, weil er sich nicht von politischen System, d.h. von dessen Formalität unterschiede. Auf diesen wichtigen Zusammenhang wird im allgemeinen, mehr oder weniger bewußt, damit reagiert, indem man betont, daß "Demokratie"6 mit "abstrakten Definitionen" (Greven 35) oder "strukturalen Kategorien nicht faßbar" sei ~ebd. 39), Demokratie also nicht nur als "staatliches Organisationsprinzip" oder bloße Staatsform, sondern als "Lebensform" (Jesse 27), "demokratische Lebensform" ~Besson/J asper), "Herrschafts- und Lebensform" (Friedrich) zu bestimmen sei, wobei die idealistische Variante vor allem das Konsensuelle der gemeinsamen "Werte" und der ethisch-moralischen oder geistigen Gemeinschaftlichkeit (Laufer 104) akzentuiert. Oberreuter betont die Relevanz der Erkenntnis dieses Zusammenhangs -und das zeigt, daß es sich dabei um mehr als ein nur soziologisches Problem handelt - für die Verfassungsinterpretation im engeren Sinne: "Der klassische, hochformalisierte, auf Legalität und nicht auf Legitimität abstellende Verfassungsbegriff erfaßt heute die rechtliche und politische Wirklichkeit unserer Verfassungsordnung nicht mehr" (Oberreuter 49). Die grundlegende Schwierigkeit dieses Ungenügens scheint in der Unmöglichkeit zu liegen, auf metaphysische, ja schon überpersönliche Handlungs-

5

"Prozesse, die Legitimität schaffen sollen, können nicht legitim sein" (RSt 63). Siehe dazu auch die Ausführungen von Frank zur Staatskritik der Romantik (Frank 1984, 176).

6 Lenk 74ff unterscheidet drei Vetwendungsweisen des Demokratiebegriffs: 1. Sein Gebrauch als unterscheidende Systembezeichnung (Demokratie vs. Monarchie oder pluralistisch-westlich vs. monistisch-östlich), 2. als Ordnungsprinzip. also Herrschaftsform, nämlich "jene Organisationsform und Methoden der Konfliktregelung. die dem demokratischen Postulat, der Forderung nach kontrollierter Herrschaft, Geltung verschaffen sollen." und 3. als Verhaltensprinzip. Wie auch von den oben zitierten Autoren wird auch in diesem Zusammenhang davon ausgegangen, daß 2. (Herrschaftsform) Punkt 3 zu seiner Legitimität voraussetzen muß.

7

Dies allerdings die Position von Grosser et al. (vgl. dort S. 16 und hier Anm. 18).

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Ebenso Ismayr 35f, Macpherson 1983, 14 und Dubiel 1985, 58.

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normen in einem System nicht mehr zurückgreifen zu können, das sich durch seine Entscheidungen selbst tragen, seine Reproduktionsgrundlagen selbst hervorbringen muß; denn: "dem modernen Strukturtyp legitimer Herrschaft steht keine Rechtfertigungsmöglichkeit aus 'letzten Gründen' zur Verfüguni. Um so mehr ist er angewiesen auf die gesellschaftliche Sicherung 'letzter Motivierungen', d.h. eines kulturellen Standards, aus dem sich ergibt, was man tun und lassen darf' (Hennis 26), und geheimnisvoller Böhr/Busch: "Politik gründet immer nur im Vorletzten" (Böhr/Busch 140). Exkurs zu einer demokratischen Spezialität Neben der bereits genannten, sich für alle Formen politischer Herrschaft ergebende Legitimationsproblematik der passiven Hinnahme "von unten", stellt sich für die demokratische Form politischer Herrschaft aus dem Bürgerrecht auf freier Erklärung von Nichtakzeptanz ein Legitimationssonderproblem: das Gelingen der Überführung von Informellem in Formelles in Gestalt einer Objektivierung der Bürgerwillen, also daß das Formelle nicht schon ohne wei~eres legitim ist, wenn es legal ist, sondern daß zugleich jene letzten Motivierungen, die sich gänzlich rationalem Zugriff entziehen können und sich "aus wissenschaftlichen oder durch bloßen Diskurs nicht begründbaren Quellen" (Hennis 27) speisen, auch legitim formalisiert, d.h. legitim ins Legale kanalisiert werden müssen. Im Zusammenhang mit der Lösung dieses Sonderproblems müssen wir auf die Wahl als den prominentesten Versuch, diese Überführung von Formellem in Informelles zu gewährteisten, zu sprechen kommen. Ihre Wichtigkeit liegt im legitimierenden Akt dieser gelungenen Transformation. Durch die Formalität des Wahlaktes wird Informelles, Diffuses, Aggressionen, Interessen, Leidenschaften Ängste etc. in Formelles, nämlich in gesatzte Verfahrensvorschriften, kurz, Legalität überführt: Wahlen legitimieren ein politisches System, indem sie den Glauben an dessen Legalität institutionalisieren, so jedenfalls die herrschende Meinung, die in der Wahl das Hauptlegitimationsbeschaffungsmittel politischer Herrschaft in der Demokratie sieht: "Im modernen Parlamentarismus basiert die Legitimation auf der allgemeinen Wahl" (Rausch 6) und: "Das Grundgesetz sieht nur eine einzige unmittelbar demokratische Legitimation vor, die der Wahl des Parlaments" (Rudzio 10). Diese bedeutende Stellung der Wahlen für die Legitimation des politischen Systems mag als Widerspruch zu der oben festgestellten Notwendigkeit erscheinen, daß das politische System aus Legitimitätsgründen einer kulturellen Verankerung bedürfe. Aber auch dort, wo die Wahl als das Legitimationskritierium betont wird, ist es nicht das ausschließliche, denn das trifft nur Vgl. dazu die diesbzgl. Ausführungen bei Kielmansegg 1971, 373, BessonjJasper 71, Dubiel 1985, 43, Luhmann GI 47, KD 38, SPS 168, FR 48.

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§ 1 Einleitung: "Die" Demokratie muß wahrnehmbar sein

für im engeren Sinne verfassungsrechtliche Gesichtspunkte zu10: die Wahl ist das einzig formale, nämlich, wenn man so will, einzig legale Legitimitätskriterium des politischen Systems, aus dem sich aber weder ergibt, daß die Wahl bzw. das Wahlverfahren nicht als illegitim, weil als inadä~uate oder unzureichende Interessenvertretung angesehen werden könnte , noch keinesfalls geschlossen werden darf, daß die supponierte legitimitätsstiftende "Wirkung" der Wahlen letztlich der direkten Partizipation des wählenden (bzw. gewählt habenden) Volkes an politischen Entscheidungen zuzuschreiben sei. Diese zu treffen ist vielmehr Sache des Parlaments, das, wiewohl das Volk von seinen Entscheidungen ausschließend, doch immerhin durch seine Wahl direkter Ausdruck. volkstümlichen Legitimationsglaubens ist12• Unter soziologischen Gesichtspunkten ist das Verfahren der Wahl daher als institutionell exponierter (aber auch gelungener) Sondermechanismus der Legitimitätgewährung zu sehen, dessen Legitimationsgewinn weniger in dem tatsächlichen·Ausgang derWahlenoder der Beteiligung der W abiberechtigten geschuldet ist (was etwa die "Musterdemokratie" USA und ihre Bewunderer bei einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung von nicht einmal 50% in erhebliche Schwierigkeiten brächte, allzumal das Volk, sondern die Mehrheit des Volkes entscheidet" (Avenarius 90)), sondern es ist vielmehr die nichtnegierbare Wahlmöglichkeit, die Legitimität gebiert. Wenn, wie oben gezeigt, der Begriff der Demokratie aus legitimatorischen Gründen über das politische System im engeren, formalen Sinne hinausgehen muß, kommt ihm die Aufgabe eines Medium mit der Funktion zu, als gesellschaftliche Einheit einem bestimmten Typus politischer Herrschaft Legitimität zu verschaffen. Die Leistung vo~. "Demokratie" läge somit darin, dem politischen System nicht nur durch Ubersetzung von Formellem in Informelles, sondern auch durch die besondere Betonung der Transformationsnotwendigkeit von Informellem in Formelles Legitimität zu schaffen und es so gegen Destabilisierungen seitens der Gesellschaft abzusichern.

Voraussetzung für diese Leistung ist allerdings, daß "Demokratie" als Einheit der mannigfaltigen Akte des politischen Systems von all denen erfahren werden kann, die Kosten dieser Akte zu tragen haben, die aber

10 Und selbst da nicht unumstritten vgl. Landshut (l.c. Habermas 1962, 258, Anm.1) und die o.a. Position Oberreuters, der folgendermaßen fortfährt: "Die Verfassungsgeber hatten von Beginn an als Antwort auf den Weimarer Wertrelativismus und auf die Wertvernichtung des Nationalsozialismus gegenteilige Intentionen: nichts lag ihnen ferner als die Errichtung einer Verfassunglediglich formaltechnischen Inhalts und Verständnisses. Betont wurde vielmehr ihre sinn- und integrationsstiftende Funktion" (Oberreuter. 49). 11 So braucht nicht unmittelbar einsichtig zu sein. warum das Prinzip der Mehrheitsentscheidung von Natur aus derart selbstverständlich "demokratisch" sein soll, wie immer getan wird; siehe dazu als Beispiel die Diskussion bei Offe (bes. 314f).

12 Siehe zu dieser Zwischenstellung des Parlaments als "Kette der Legitimität" zwischen "Volk und Staatsgewalt" die Ausführungen von Zeh 14f.

§ 1 Einleitung: "Die" Demokratie muß wahrnehmbar sein

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andrerseits auch die Legitimitätgewährenden sind; - die Intelligibilität von Demokratie als vermittelnde Einheit ist notwendige Bedingung für die Legitimität der politischen Herrschaftsform, auf die sie sich semantisch bezieht - bei Kielmansegg findet sich dafür das Wort "Geltungserfahrung" (1971, 368). Die daraus erwachsende Frage geht nun auf die Möglichkeit dieser Geltungserfahrung als Wahrnehmung der Einheit von Demokratie: wer da gleich daran denkt, dies mit "Partizipation" und "Engagement" zu beantworten, wird sich bald enttäuscht sehen müssen: Denn die geregelte Ausgrenzung des Staatsbürgers ist geradezu Prinzip parlamentarischer D~mokratie (vgl. Hennis 33 Anin.23, Avenarius 90, Agnoli 465f, Wesel113). Mit der Festschreibung in der Verfassung (Art. 38 I GG) und der dementsprechenden Betonung des repräsentativen sowie pluralistischen, unter dem Diktat der (Markt)Konkurrenz stehenden Charakters von Demokratie (vgl. Jesse) bzw. der "demokratischen Methode" (Schumpeter), also in Absetzung von Identitäts-(Rousseau) oder Selbstvervollkommnungsentwürfen (J.S. Mill), werden die durch partizipatorische Handlungen möglichen Erfahrungsbedingungen von Demokratie allein schon theoretisch von einheitsstiftenden Konzepten auf partikularistische, d.h. arbeitsteilige verlagert. Pragmatisch gewendet findet dieser Zusammenhang in der Rede von der "Massendemokratie" seinen Niederschlag13• Gemeint ist damit, daß sowohl der Umfang an Artikulations- und Anspruchsmöglichkeiten als auch an gesellschaftlichen Ereignissen, die "in der Demokratie" politisch kodiert und dem politischen Entscheidungssystem zugeführt werden könnten (bzw. je nach politischem Standpunk~1 zugeführt werden sollten) so komplex geworden sind, daß eine derartige Oberführung zunehmend schwieriger bzw. unmöglich geworden ist. Diese "Überkomplexität" und das Mißtrauen gegen die Fähigkeit und Reife des Bürgers, selbst verantwortungsbewußt und kompetent politische Entscheidungen zu treffen14, führen einerseits zur Begründung der Reduktion handlungsbezogener Partizipation aus Effektivitäts- und Stabilitätsgründen, andrerseits zu Elite-MasseVorstellungen, nämlich der Trennung zwischen denen, die die Komplexität managen (können) und denen, die diese Komplexität sind15: Der selbstbewußte, verantwortungsvolle Staatsbürger existiert auf dieser desillusionierten, pragmatischen Ebene nur als manipulationsbedürftige Masse, die als "Stimmvieh" durch "Loyalitätsmanagement" (Sarcinelli 5) zu "Massenloyalität" (Narr 27) und "Akklamation" (Habermas 1962, 255) gebracht werden muß. Die "Geltungserfahrung" von Demokratie so über eine allseitige Beteiligung an den politischen Entscheidungsprozessen nicht nur zu fordern, son13

Dieses Phänomen knapp aber klar umreißend: BessonfJasper 22f

Über die Berechtigung dieses Mißtrauens dazu die Ausführungen eines Unverdächtigen: Offe 320f. 14

15 Protagonist dieser Richtung ist Schumpeter und andere Verfechter der "empirischen Demokratietheorie", etwa Downs, vgl. dazu auch Hennis 43, Anm.27.

2.

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§ 1 Einleitung: "Die" Demokratie muß wahrnehmbar sein

dern tatsächlich auch vermitteln zu wollen, könnte man mit Luhmann allein schon wegen des strukturell angelegten Ausbleibenmüssens positiv verstärkender Erfahrungen als "seltsam unrealistisch"16 bezeichnen (es sei denn, jemand nimmt gerade in der meistenteils auftretenden Nichtdurchsetzung seiner Vorstellungen "Demokratie" in besonderem Maße wahr): "Entscheidungsprozesse sind Prozesse der Selektion, des Ausscheidens anderer Möglichkeiten. Sie erzeugen mehr Neins als Jas, und je rationaler sie verfahren, je umfassender sie andere Möglichkeiten prüfen, desto größer ist ihre Negationsrate" (KD 39). Aber auch eine nur mittelbare, aber gleichwohl vorrangig an der Erfahrung von "Demokratie" ausgerichtet Beteiligung würde ebenfalls nur "Frustrierung zum Prinzip" (ebd.) machen: Mit der Mittelbarkeil der Beteiligung, die zwar das Resultat des Scheiterns, die viel wahrscheinlicheren Neins, weniger vor Augen führte, stiege aber auch die Mittelbarkeil dessen, was als Demokratie wahrnehmbar ist: Als kleines Rädchen irgendwo in großen demokratischen Getriebe17 auf dessen Komplexität zu schließen kann zwar auch vom letzten Endes guten Zweck des Ganzen überzeugen, aber eher als gleichwohl Entlastung und Sicherheit versprechende Ohnmachts- denn als "aktive" Legitimität stiftende Einheitserfahrung18, wie sie etwa das komplexitätsreduzierende Prinzip politischer Delegation gewähren kann (vgl. dazu auch Bourdieu 1984). Damit ist auch für das Thema "Wahl" zu ergänzen: Wiewohl in erster Linie dazu dienend, "generalisiertes Systemvertrauen" (LV 139) zu erzeugen19, denn sachbezogen wirkt sie eher als "Störfaktor" der Entscheidungsroutine (vgl. Offe 323), werden auch konsequente Institutionenlehrer20 zweifeln, ob der Legitimationsbedarf des politischen Systems ausschließlich durch ein Kreuzehen alle vier Jahre gedeckt werden kann. Wie andere Delegationsprinzipien auch, erlauben Wahlen nur eine beschränkte Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen, aber sie symbolisieren Partizipation und damit

16

Eine "Illusion" meinen auch Böhr/Busch aufS. 143 angesichts so vieler Desinteressierter.

17 Ein

Stereotyp, das in Interviews, Studiogesprächen u.ä. stets immer wieder auf die ebenfalls stets immer wieder gestellte stereotype Frage kommt, wie Sie sich denn engagieren oder was Sie denn dagegen tun. 18 Ein weiteres Stereotyp, das sich nahezu automatisch immer dann ansagt, wenn jemand zu seiner Nazivergangenheit Stellpng nehmen muß: Er bestreitet dann in der Regel eigene "Aktivität" und versucht sich vielmehr (wenn er schon den militärischen nicht beanspruchen kann) auf eine Art zivilen oder sozialen Befehlsnotstand zu berufen; und man kann sich oft des Eindrucks nicht erwehren, daß gerade jene, die dieses wie das frühere Verhalten empört am allerunverständlichsten finden, selbst unter so etwas wie einem Opportunitätsnotstand handeln. · 19

Vgl. ebd. 164 und KD 43.

Etwa die versammelte Autoren- und Herausgeberschaft des kleinen Bändchens von Grosser et al., Politische Bildung: Grundlagen und Zielprojektionen für den Unterricht an Schulen. 20

§ 1 Einleitung: "Die" Demokratie muß wahrnehmbar sein

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Demokratie21 : Sie ist mehr als nur eine normengebundene Prozedur politischer Entscheidungen, sie ist symbolischer Ausdruck eines spezifischen Verhältnisses von Gesellschaft und politischem System: "Im Begriff der Demokratie werden letzte normative Postulate der Politik symbolisiert" (KD 37). Grob umrissen, stellt ein Symbol ein Medium der Einheitsbildung vor, das in seiner generalisierenden Funktion die operative Behandlungen von Vielheiten, so auch von Em9tionen, Normen, Postulaten oder sonstigen Einstellungen, Wünschen und Angsten ermöglicht: Symbole verweisen zwar auf eine Vielheit, stellen sie jedoch als Einheit dar, verdichten also Vielheit zu einer Einheit, und benutzen diese dann in der Darstellung als deren überdeterminierte Verweisungsfunktion, so daß Symbole neben ihren jeweiligen singulären bzw. konkreten Bedeutungen (ihr "Signifikat" oder "Denotat") noch einen über sie hinausgehenden Zusammenhang als Vielheit oder Allgemeinheit indizieren. Wenn aber Fügsamkeits- "Motivationen über die Verinnerlichung von symbolisch-repräsentierten Erwartungsstrukturen aufgebaut werden" (Habermas 1973, 131), dann muß Politik neben ihrer eigentlichen Aufgabe der Entscheidungstindung zudem auf die Schaffung von Symboliken ausgerichtet sein, die die Aufrechterhaltung der jeweiligen politischen Herrschaftsform (in diesem. Falle unter dem Namen "Demokratie") dadurch sichern, daß sie all deren Erwartungsansprüche zugleich als legitim indizieren. Für die Legitimität demokratischer Herrschaft heißt dies, daß jeder politische Akt zugleich sein Entsprungensein aus dem Geiste der Demokratie mit-symbolisieren muß, so daß in diesem Sinne "legal" nur "legitim" bedeuten kann. Es ist trivial, aber die Leistung von Symbolen, etwas als handhabbare Einheit darzustellen, ka.nn nur wirksam werden, wenn diese auch zugänglich und daher wahrnehmbar sind. Demokratie jedöch kann in alltagsweltlichen Bezügen kaum durch handelnde Teilhabe am politischen Entscheidungsprozeß als eine derartige symbolische Einheit erfahren werden. Aus institutioneller Sicht nennt Sarcinelli in seinem Aufsatz über "Politikvermittlung in der Demokratie" sieben, den "lnformationshaushalt des Bürgers" (Sarcinelli 3) speisende "Politikvermittlungsquellen" (ebd.): - die Massenmedien - unmittelbare Erfahrungen im persönlichen Umfeld - den Umgang mit den Behörden aller Art - direkte Anschauungen von Politik im lokalen Bereich - Kontakte mit politischen Akteuren - eigenes Engagement in gesellschaftlichen Gruppen - politische Bildung 21

Siehe dazu ausführlicher: Edelman 2ff.

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§ 1 Einleitung: "Die" Demokratie muß wahrnehmbar sein

Bringt man nun im Hinblick auf die Erfahrbarkeil von "Demokratie" in Abzug, daß sich diese Vermittlungsquellen und "Erfahrungsfelder" (ebd.) auf "Politik" im allgemeinen und nicht auf "Demokratie" beziehen, daß gerade 5% (einseht. der "Karteileichen") aller Bundesbürger Mitflied einer Partei sind, daß politische Bildung keineswegs obligatorisch ise , es sich fragt, wo im Umgang mit Behörden "Demokratie" erfahrbar wird und wie Wahlkämpfe, als besonders auffällige Form von Politikvermittlung, ohne mediale Hilfestellung aussähen, dann bleiben von diesen wenigen Möglichkeiten, durch die "Demokratie" wahrgenommen werden kann, eigentlich nur eine: die Massenmedien. Durch sie wird "Demokratie" wahrnehmbar- als Realität wahrnehmbar. Und dieser Realität soll unser Interesse gelten: ihrer medialen Produktionsweise, welche die Themenvorräte und "Formelbestände" (Kielmansegg 1977, 171f) des politischen Systems auf der Wahrnehmungsebene als symbolische Einheit "Demokratie" (re)präsentiert. Um dieses Interesse zu befriedigen, werden wir zuerst den Produktionsort dieser perzeptiven Einheit auszumachen suchen: Denn es "müssen Einrichtungen der Generalisierung von Kommunikation institutionalisiert werden, die darauf spezialisiert sind, legitime Macht zu schaffen" (GI 142). Die entscheidende Einrichtung dafür glauben wir im doppelten Sinne in der Öffentlichkeit gefunden zu haben.

22 In Bayern z.B. ist selbst für einen Abiturienten "politische Bildung" nur ein Jahr lang als einstündiges Fach (lO.Klasse, "Sozialkunde") Pflicht gewesen.

Tell I Wie man sich ungemhr "die Demokratie" vorstellt und manchmal ihre Realisierung kritisiert § 2 Normative Funktionen der Öffentlichkeit

Ohne eine staatsrechtliche Diskussion im engeren Sinne darüber aufnehmen zu wollen, dokumentiert doch die Tatsache, daß im GG "Demokratie" nur als adjektivisches Attribut vorkommt (in der Zusammensetzung "freiheitlich-demokratische Grundordnung" in Art.21 Abs.2, Art.lO Abs.2, Art.ll Abs.2, Art.18, Art.87a Abs.4 u.a.), die Ungesichertheit und den daraus resultierenden Interpretationsbedarf des Begriffs "Demokratie"23. Dessen inhaltliche Bestimmungen, die in der Regel ihren Ausgang von Art. 20 und 28 GG nehmen (vgl. Wesel 111ft), können hier nur insoweit interessieren, als sie einen bestimmten Satz formaler Elemente zu Grunde legen und die Notwendigkeit ihrer Erfüllung im Informellen postulieren, d.h. nur durch einen bestimmten Bestand an informellen, aus der Interpretation "rechtsstaatlicher" oder "sozialstaatlicher" Normen gewonnener Maximen gesichert werden können. Dieses bereits oben schon unter soziologischen Vorzeichen Konstatierte noch einmal von einem Staatsrechtier formuliert: "Der Rechtsstaat des Grundgesetzes darf als sozialer und demokratischer (Art.20, 28 GG) weder als der einen bestimmten status quo absichernde 'Rechtsbewahrerstaat' noch als ein bloßes formale Rechtsgleichheit garantierendes Rechtsschutzsystem (vgl. Art.19 Abs.4 GG) mißverstanden werden" (Deininger 76). Erst das Zusammenspiel der Prinzipien der Demokratie ~d des Sozialstaates "konstituiert die 'freiheitliche demokratische Grundordnung' als konkrete normative Einheit staatlich-gesellschaftlichen Lebens" (ebd.). Und wa sollte diese Einheit anders sichtbar (und kontrollierbar) werden als in und durch die Öffentlichkeit? Sie ist der Ort, an dem sich "Demokratie" in jeder Hin~icht zeigen und beweisen muß. 23 Zum Demokratiegebot bzw. -prinzip vgl. stellvertretend für viele andere Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland (bes. 451-461), oder verfassungsgeschichtlich Römer, Der Kampf ums Grundgesetz.

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Teil 1: Demokratie-Vorstellungen

Aber es ist eine weiterer Ausdruck der nur formellen Rahmenvorgaben der Verfassung, die staatlicherseits durch "ordnungspolitische Rah.mL·nkompetenz" als "Kommunikationsfreiheit"24 zu garantieren sind, daß Offcntlichkeit nicht als zu verwirklichendes Positivum gefaßt, sondern nur durch die Sicherung der Bedingungen ihrer Möglichkeit garantiert ist. "Obwohl das Grundgesetz die Kategorie der öffentlichen Meinung nicht kennt, schafft es über grundrechtliche Garantien und Publizitätsgebote die als notwendig erachteten Funktionsbedingungen für eine unablässige öffentliche Kommunikation zwischen Volk und politisch entscheidenden Instanzen i.S.d. gebotenen demokratischen Willensbildungsprozesses" ·(Kempen 193). Die "Projektgruppe" spricht in diesem Zusammenhang von einer "kommunikativen Grundordnung", die durch die Art.2, 8, 9, 17 GG gegeben ist. Diese "Kommunikatipnsgrundrechte" ermöglichen die Konstitution des Kommunikationssystems "Offentlichkeit" und die Entwicklung eines Kanons von Normen, welche als "Arbeitsanweisung" die Erfüllung der i~ den kommunikativen Grundrechten angelegten Möglichkeiten durch die Offentlichkeit regeln. So ist die Öffentlichkeit zwar "nicht selbst eine gesetzte Norm und insofern ein juristischer Begriff; aber das Normenssystem unterstellt sie implizite als eine soziale Größe, die im Sinne bestimmter Grundrechtsgarantien und einzelner Publizitätsvorschriften erwartungsgemäß funktioniert" (Habermas 1962, 258 Anm.1)15• Es kann also nur richtig sein, von "Öffentlichkeit" nicht als von etwas Dinglichem, sondern lediglich als von einem "Prinzip" zu sprechen - und gerade dies ist der hier gewählte Ansatzpunkt: nämlich nach ~en Produktionsanweisungen der Herstellung, d.h. der Materialisierung von Offentliehkeil durch Versinnlichung dieser Prinzipien, zu fragen. Was die normative Seite des Verhältnisses Demokratie - Öffentlichkeit einschließlich der darin der Öffentlichkeit zukommenden Funktionen angeht, herrscht weitgehend Einmütigkeit: So ist es herrschende Meinung, daß die Verwirklichung des Prinzips "Demokratie" substantiell an die Verwirklichung des Prinzips "Offentlichkeit" gekoppelt ist. Stellvertretend für viele26 sei hier

24 Projektgruppe am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität München, fortan zitiert als "Projektgruppe", S. 200. 25 Die näheren Umstände dieses Sachverhalts finden sich kurz bei Häberle (274) erläutert, der angesichts dessen von einem "verfassungstheoretischen 'Öffentlichkeitsdefizit'" spricht (ebd.) und im übrigen gleichfalls konstatiert, daß bisher "das Öffentliche nur sehr punktuell in die Dogmatik des Verfassun~taates, in seine einzelnen Institute und Prozeduren hereingeholt worden• ist (ebd.). Gleichwohl gilt auch für ihn: "'Öffentlichkeit' ist dabei in dem Maße Norm und Aufgabe wie Verfassung Norm und Aufgabe ist" (ebd. 275).

26 Bei Görlitz ist der Öffentlichkeitsbegriff "eine zentrale institutionelle Katego~e des demokratischen Staates" (11), Zacher sagt (77) "über die Stellung des Prinzips der Offentlichkeit innerhalb des demokratischen Rechtsstaates", daß "dessen System der Abhängigkeiten und Kontrollen von vorneherein ohne Öffentlichkeit nicht denkbar" sei; vgl. weiterhin Petry (89f), Laufer (87) und die Entscheidungen des BVG 8/104, 113 und 12/113.

§ 2 Funktionen der Öffentlichkeit

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nur Fraenkel zitiert, für den die Anerkennung des Öffentlichkeitsprinzips nichts weniger als "den Ausgangspunkt der modernen rechtsstaatliehen Demokratie darstellt" (Fraenkel176). Diese wechselseitige Abhängigkeit von Demokratie und Öffentlichkeit liegt auch den heute in der Demokratietheorie dominierenden Vorstellungen zu Grunde, die Demokratie in operationalisierender Erweiterung der kulturellen Rückgebundenheit (s.o.) als (generalisierte) Kommunikation begreifen, und zwar nicht nur als "Wertvorstellung" im besten Sinne, sondern auf Grund systematischer Erwägungen als funktionale Notwendigkeit: Wenn Demokratie nicht in einer Summe formeller Elemente aufgeht, andrerseits aber die Formalität von Rechtsstaatlichkeit und Legalität politischer Herschaftsausübung voraussetzen muß, so ist es vornehmstes Kennzeichen von Demokratie, daß über diese formellen Elemente informell kommuniziert werden kann und zwar öffentlich und legal. Durch die öffentliche Kommunikation verwirklicht sich das Demokratieprinzip: "Der Öffentlichkeitsgrundsatz wird konkret in der demokratischen Debatte< ... >Sie bildet den Kern des demokratischen Prozesses" (Laufer 181). Aus diesem normativ-projektiven Verhältnis von Demokratie und Öffentlichkeit leiten sich damit auch die Funktionen ab, die jedes einschlägige Lehrbuch im Sinne demokratischer Orthodoxie als unabdingbare Aufgaben von Öffentlichkeit in und für Demokratie vorschläge7• Da es sich dabei um Normen im o.a. Habermasseben Sinne handelt, müssen diese drei Hauptfunktionen präskriptiv als Katalog der von der Öffentlichkeit zu erfüllenden Zwecke betrachtet werden: 1. Wahrheits- und sachgemäße Information und Aufklärung der Bürger über politische Prozesse (einschließlich deren politische Erziehung); 2. Überwachung und Kontrolle der politischen Machtausübung; 3. Förderung und Beeinflussung des politischen Prozesses durch Meinungsbildung. In diesen Zwecken sind aber zugleich Vorstellungen von Aufbau und Funktionsweise von Öffentlichkeit impliziert: (quasi)normative Vorstellungen darüber, mit welchen Mitteln, auf welche Weise und innerhalb welcher Grenzen diese Zwecke in einem "demokratiegemäßen" Rahmen erreicht werden sollen, kurz gesagt, wie eine demokratische Öffentlichkeit "auszuschauen" habe.

v Einer für viele: Holzer (136).

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Teil 1: Demokratie-Vorstellungen

§ 3 Die Öffentlichkeit als offenes Kommunikationssystem

Ist von demokratischer Öffentlichkeit die Rede, so ist in der Regel "pluralistische Öffentlichkeit" gemeint, Öffentlichkeit im Pluralismus28• Denn es ist kein durchgängiger Gemeinwille gemäß Rousseauscher Vorstellung (mehr) voraussetzbar, sondern man muß im modernen Verständnis von einem Spektrum konkurrierender, jedenfalls divergierender (Gruppen)Intercssen ausgehen, die im Rahmen allgemein anerkannter "Spielregeln" - "demokratischer Meinungskampf < ... >ist ~r.~gelter Kampf' (Deininger 117) - kommunikativ zum Ausgleich bereit sind Offentlichkeit wird so als eine Art modernes Forum (Fraenkel177, Kempen 194, Holzer 56), als nur negativ durch allgemeine strAfrechtliche Tatbestände wie Beleidigung oder den verschiedenen Formen von Gewaltgebrauch oder -androhung (vgl. Deininger 117) umgrenzten Marktplatz der Informationen und Meinungen (Projektgruppe 41: "kommunikativer Raum") gesehen, welchen diejenigen aufsuchen, die den anderen etwas allgemeinbetreffendes mitzuteilen haben. Diese normenbezogene Vorstellung der Öffentlichkeit als Forum, präziser als Strukturvorgabe öffe~tlicher Kommunikation, liegt in der Regel gerade den Untersuchungen zur Offentlichkeit zu Grunde, die sich nicht der altliberalen Naivität hingeben, es gehe in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Erringung des Besten oder der Wahrheit. Vielmehr ist die Erfüllung der oben angeführten "klassischen" Aufgaben durch Kommunikation nur Voraussetzung für mitlaufende andere, im funktionalen Sinne "echte" Funktionen: Übersetzung politischer Diskurse in alltagsweltliche, in der Gegenbewegung Vorwarn- und Sondierungsinstrument von vorhandenen "Stimmungen" für Politik und Verwaltung, Ort der "Vorfelddiskussion" für politische Entscheidungen etc. Gut umrissen ist diese Vorstellung einer "funktionierenden", d.h. pragmatisch gewendeten aber gleichwohl ihren normativ gesetzten Aufgaben gerecht 28 Manheim unterscheidet auf analytischer Ebene eine "pluralistische': Öffentlichkeit von einer anderen, die er im Rückgriff auf Kants "transzendentale Publizität" "transzendentale" Offentlichkeit nennt: letztere ist dadurch gekennzeichnet, daß man "auf Grund verschiedener Meinungen, aber gleichen Wollens" (Manheim 51) diskutiert. wohingegen die "pluralistische" von vomherein auf "geschiedenen Gruppenkonsensus" und "polaren Scheidungen" (ebd. 55) beruht und ihre Einheit als Öffentlichkeit durch die Klammer der Publizität erhält. Wir gehen hier auf diese Unterscheidung und auch auf die spezifische Form dieser "Klammer" (die übrigens ein Grund mehr ist, warum für eine Lektüre von Habermas' "Strukturwandel" Manheims vorheriger Beitrag unbedingt mitbeachtet werden sollte) nicht näher ein, da der hier darzustellende Diskurs erstens "seine" Öffentlichkeit als Mischform von "transzendentaler" und "pluralistischer" Öffentlichkeit entwirft, und zum anderen sowohl die normativen Vorgaben dieser Mischform als auch die Rolle der Publizistik darin nicht aus einer "kommunikativen Rationalität" einer wie immer gearteten Öffentlichkeit, sondern aus der Interpretation "seiner• Verfassung. sprich Grundgesetz gewinnt. 29 Kempen kommt, die Auffassung des BVG zur öffentlichen Meinung (BVerfGE 8/104, 113) interpretierend, zu folgendem Schluß: "Hier ist öffentliche Meinung nicht mehr als durchgängig erfahrbares Ergebnis, als einheitliche Anschauung verstanden. sondern als ein kommunikativer Vorgang" (Kempen 193).

§ 3 Öffentlichkeit als Kommunikationssystem

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werdenden Öffentlichkeit in einer pluralistischen Demokratie mit den Worten Dubiels: Auf der "Bühne politischer Öffentlichkeit" wird ein "argumentativer Kampf' Dubiel 1985, 14) ausgetragen, in welchem ~s darum geht, "strategische Punkte im öffentlichen Bewußtsein zu besetzen, um neue Legitimität zu produzieren"30 ( ders. in: Merkur, 650f), und zwar nicht nur für die jeweiligen, wenn auch mit universellem Anspruch auftretenden partikularen Interessen, sondern es bringe, in utilitaristischer Emphase, der Durchsetzungskampf als solcher eine "Stärkung politischer Öffentlichkeit" (Dubiel1985, 64) und damit als Folge "eine so verstärkte Legitimität der Demokratie" (ebd.) im allgemeinen. Zu Grunde liegt dieser Vorstellung von Öffentlichkeit die Konzeption Graniscis31 , in der die Öffentlichkeit als Mittel zur Erringung politischer und kultureller Hegemonie gesehen Wird (vgl. Gramsei 412). Gramsei selbst begreift die Öffentlichkeit als "intermediäres Organ" (ebd. 430), also als Verhältnis, das einerseits an die Beherrschten, andrerseits an die Herrschenden, oder, weniger altmodisch formuliert, an Staat und Staatsbürger rückgebunden ist, d.h. zwar ihre Beziehung (mit)bestimmt, aber doch auch von ihnen und ihren Leistungen abhängig ist. Öffentlichkeit wird dabei nicht nur hinsichtlich ihrer Rolle, Demokratie als Kommunikation zu realisieren, als abhängige Größe des politischen Systems gesehen, sondern wird erst überhaupt durch den Bezug von dessen Te~!berei­ che aufeinander zu dem, das ihr erlaubt, diese Aufgaben zu erfüllen. "Offentlichkeit ist ein Aggregat von Relationsphänomenen - etwas, was nur existiert in bestimmten Beziehungen zwischen Herrschaft und Volk" (Schmidtchen 255). So ist auch die Öffentlichkeit nicht ein Kräfteverhältnis sui generis, sondern wird von denen als solches konstituiert, die sich an sie wenden. Sie wird damit "von außen" von den an sie gerichteten Ansprüchen und den ihnen zu Grunde liegenden Motiven unterhalten. Diese nehmen dabei bestimmte Strukturmerkmale in Anspruch (Multiplikatoreffekt, Objektivation, Kritikabilität etc.), die aber nicht exklusiv sind, sondern von denen jeder, nicht zuletzt auf Grund der Rechtsgarantien - ein weiteres Strukturmerkmal ,Gebrauch machen kann, ohne daß die Öffentlichkeit ihn (strukturell) daran hindern könnte. Jeder kann sich als Verteidiger, Mahner oder Ankläger an sie wenden, sie steht allen offen - und verwirklicht damit Demokratie in doppeltem Maße: "Freiheit und Gleichheit sind gleichermaßen gemeinsame Elemente des Rechtsstaats - und das Demokratieprinzips" (Deininger 78).

30 Allerdings sind übrigens g.enau die Voraussetzungen, woraus nach Habermas eine nur akklamierende, manipulierte Offentliehkeil entsteht; mehr dazu aber erst später .

Die interessanterweise auch unter diesem ~amen vom ehemaligen Generalsekretär der CDU, Biedenkopf, und dem ehemaligen Bundesgeschäftsführer der SPD, Glotz zu wahlkampfstrategischen l:berlegungen wieder aufgenommenen worden ist (siehe dazu Glotz, Die Bedeutung Antonio Gramscis für eine neue Strategie der europäischen Linken).

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Teil 1: Demokratie-Vorstellungen

In den Wendl!:Ogen der wechselseitigen Rückbindung von Demokratie, Rechtsstaat und Offentlichkeit, nämlich daß diese Prinzipien gleichermaßen für alle drei Bereiche, welch unterschiedlichen formalen Status und Beziehungen (Rechtsstaat und Öffentlichkeit als Bedingung von Demokratie, Rechtsstaat garantiert Öffentlichkeit, Öffentlichkeit verwirklicht Demokratie usw.) sie auch haben mögen, verbindlich sind, und daß Demokratie durch ihre (materielle) Verwirklichung in der Öffentlichkeit selbst (ideeD verwirklicht wird, zeigt sich ein spezielles Verhältnis von Demokratie und Offentlichkeit: Sie ist dem eigentlichen politischen Entscheidungsprozeß vorgelagert, in ihr können also nur Optionen auf politische Entscheidungen kommuniziert werden, ohne daß sie selbst, im Gegensatz zu einer "manipulierten Öffentlichkeit'', deren Akklamationen man ihr wiederum als Plebiszite "verkauft", für das politische System zwingende Ansprüche auf Durchsetzung dieser oder jener Optionen haben dürfte32 - ausgenommen die der Selbsterhaltung als freie Öffentlichkeit. Damit kommen wir dem entscheidenden Strukturmerkmal von Öffentlichkeit immer näher, welches sie gerade vor denen auszeichnet, die sie als "intermediäres Organ" vermittele3: Sie ist "staatsfrei" und nicht-privat; sie ist selbstlos und damit auch frei von jenen eigensüchtigen Interessen, von denen die umgetrieben sind, welche sich als Subjekte an sie wenden: Bürger, Parteien, Verbände, sonstige Gruppen und nicht zuletzt der Staat in Form der bestallten Agenten des politischen Systems. Würde die Öffentlichkeit selbst zu einem interessierten Subjekt, ginge sie ihrer Autonomie verlustig und degenerierte damit zum Instrument für Propaganda und Manipulation (vgl. Fraenkel179). Nur in einer interesselosen und für alle neutralen Form kann sie ihre strukturellen Bedingungen als autonom behaupten, muß damit aber auch die politischen Entscheidungen dem politi-

32 Und doch wird doch der Öffentlichkeit eine gewisse Macht zuerkannt. Kant sieht sie darin, daß sie in ihrer Sichtweite Unrechtes verhindere, denn alles. was sich mit der Publizität verträgt, kann nur rechtens sein. Aber was gibt ihm die Gewißheit. daß niemand etwas tinrechtes öffentlich kundzutun wagen wird? Die Antwort wird als so selbstverständlich vorausgesetzt!. daß selbst die Frage danach verwundert - doch worauf beruht letztlich die "Macht" der Offentlichkeit? Es ist nicht mehr als das, auf dem auch heute ( d.h. unter demokratischen Verhältnissen) noch der ganze Öffentlichkeitsmechanismus beruht: die Scham, am Pranger zu stehen, sich vor aller Öffentlichkeit schämen zu müssen. Ein anderer Sanktionsmechanismus steht der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung, und schon Kant hat (mit einer nur als spitzfindig zu bezeichnenden Begründung) dem Volke andere Mittel. selbst wenn es gegen einen Tyrannen ginge, für unrecntmäßig und vor allem für sehr unzweckmäßig erklärt: "Das Unrecht des Aufruhrs leuchtet also dadurch ein, daß die Maxime desselben dadurch, daß man sich öffentlich dazu bekennte, seine eigene Absicht unmöglich machen würde" (Kant 70) nämlich weil der Tyrann dann zuerst losschlüge. Einem guten Volk bleibt da nur das Hoffen auf die Schamgefühle seines Tyrannen. 33 Die Existenz diese_r "intermediären Organe" ist nach Fraenkel denn auch die differentia spezifica, die Demokratie von totalitären Regimen, die jene relativ autonomen Vermittlungselemente bewußt ausschalten, unterscheidet (Fraenkel 199).

§ 3 Öffentlichkeit als Kommunikationssystem

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sehen System selbst überlassen. Andrerseits ist sie dennoch an die Normen eines demokratischen Entscheidungsprozesses rückgebunden und nichtsdestoweniger gezwungen, die für das Entscheidungsverfahren des politischen Systems gedachten inhaltlichen Optionen im "demokratischen Sinne" zu konditionieren, d.h. sie mit demokratischen Elementen, wie Gleichheits- und Freiheitsprinzip zu behandeln. Gemäß der schon oben dargestellten definitorisch-idealtypischen Kopplung von Demokratie und Öffentlichkeit, werden Demokratie und Öffentlichkeit auch empirisch als strukturell homologe Einheiten vorgestellt34, in deren Verhältnis allerdings der Öffentlichkeit die Funktion eines "symbiotischen Mechanismusses" im Sinne Luhmanns zukommt: Sie macht den "unspezifischen Charakter organischer Vorgaben" (SM 241), d.h. roher (politischer) Optionen mit den "hochgeneralisierten SystemCodes" (ebd.), den hochkomplexen Entscheidungsprozessen in der (Massen)Demokratie, kompatibd5 • Dies ist die abstrakte Grundlage und der Ort aller der Öffentlichkeit auch sonst noch zugeschriebenen "Übersetzungs-", "Vorwarn-", "Schleusen-", "Filter-", "Integrations-" und sonstiger Funktionen. Die Verwirklichung von Demokratie durch Öffentlichkeit basiert mithin darauf, daß sie ihren Stoffwechsel - "die freiheitliche Demokratie setzt den ständigen< ... >politischen Konflikt< ... > als eines ihrer konstituierenden Prinzipien yoraus" (Deininger 116) - nur ermöglicht, aber nicht selbst bestreitet, d.h. abhängig ist von dem, was man ihr gibt oder nimmt - einerlei ob Formelles oder zu Quasiformellem gewordenes ("Grundlagen unsef.er Demokratie", "demokratische Spielregeln") oder rein Informelles wi€?. z.B. die Angstkundgebungen von ansonsten unbedeutenden Bürgern. Die Offentlichkeit schließt niemanden aus, disqualifizieren kann sichjeder nur selbst, indem er sich allein gegen die bessere (Selbst)Darstellung und sie besseren Argumente seiner Konkurrenten und Mitpartizipanten im Felde der Öffentlichkeit nicht bewähren kann. Die offene, nur auf Kommunikationsermöglichung ausgerichtete Struktur vollendet Demokratie letztlich dadurch, daß sie auf Reflexivität angelegt ist, Kommunikation über Kommunikation fördert und fordert und damit nicht nur in der Öffentlichkeit und in der Demokratie, sondern vor allem über sie kommuniziert. Einerlei wie da das Urteil ausfallen mag, allein diese Zulassung ist schon "Demokratiebeweis" genug. Wichtigstes Mittel zur Gewährleistung der Kommunikation im Kommunikationssystem Öffentlichkeit aber sind die Massenmedien: "Politische Öffentlichkeit kann in modernen Gesell-

Rust bezeichnet Öffentlichkeit als "institutionalisierte Kommunikation" (Rust 81) und Petry Demokratie als "institutionalisiertes Gespräch" (Petry 88).

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Conant/Ashby kommen in ihrem Aufsatz, dessen Titel zugleich seine These vorstellt, nämlich "Every good regulator of a system must be a model of that systcm" zu dem Ergebnis, "that any regulator that is maximally both successfull and simple MUST be isomorphic with the system being regulatcd" (Conant/Ashby 89), vgl. Maturana (200).

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Teil 1: Demokratie-Vorstellungen

schaften nur durch die Massenmedien hergestellt werden" (Projektgruppe 47; vgl. Weiss 421, Ranneberger 199 und Dahrendorf 108). § 4 Die Rolle der Massenmedien

Ohne den Multiplikatoreffekt der Massenmedien wäre es nicht möglich, die Staatsbürger mit dem Maß an Information zu versorgen, welches sie für ihre politische Meinungsbildung benötigen. Auch die Kontrolle der Regierung bzw. des der Vorgänge innerhalb des politischen Systems setzt entsprechende Information voraus. Die drei Hauptfunktionen der Öffentlichkeit im Rahmen der Demokratie wiederholen sich hier zu den drei Hauptfunktionen der Massenmedien als Mittel für die Öffentlichkeit (vgl. Laufer 183). .. Die Massenmedien werden darin als derartig integraler Bestandteil von Offentliehkeil vorausgesetzt, daß sich in der Rede über sie alt das wiederholt, was auch als Struktur- und Funktions-merkmale des offenen Kommunikationssystem Öffentlichkeit und seiner Rolle in der Demokratie angesehen wird. "Demokratie funktioniert nur, wenn Regierende und Regierte, die Gruppen und Gruppierungen in der Gesellschaft in ständiger Kommunikation miteinander stehen, und setzt damit voraus, daß politische Prozesse transparent gemacht werden und der Bürger informiert ist. Die Schlüsselfunktion der Massenkommunikationsmittel besteht in der Vermittlung dieser gesellschaftlichen Kommunikation" (Projektgruppe 200). Diese Vorstellung der strukturellen Homologie von Demokratie, Öffentlichkeit und Massenmedien ist so dominant, daß eine Unterscheidung der Begriffe "Öffentlichkeit", "Medienöffentlichkeit", "massenmediale Öffentlichkeit" nur in kritisch-analytischer Hinsicht sinnvoll ist, was allerdings an dieser Stelle, wo es darum geht, die aus normativen Vorgaben re~ultierenden allgemeinen Vorstellungen über die Erfüllungsmodi dieser Normen zu illustrieren, weniger relevant ist. Wichtiger ist es, bei aller strukturellen Homologie, äuf die Differenz und damit auf die Sonderfunktion der Öffentlichkeit (respektive der Massenmedien) hinzuweisen, die einem ausdifferenzierten Kommunikationssystem "Öffentlichkeit" erst seinen Sinn gibt: nämlich über Kommunikation zu kommunizieren. Die Medien erfüllen im Dienste der Öffentlichkeit ebenso wie diese selbst eine doppelte Rolle: einmal sind sie der Erfüllung demokratischer Normen dienendes Organ, zum anderen Mittel, um über deren Erfüllung oder Nichterfüllung wiederum selbst zu berichten und damit Kontrolle zu ermöglichen: "Denn demokratische Kritik und Kontrolle ist in erster Linie Aufgabe der Gesellschaft selbst. Die Medien sind auch hier nur Vermittler: Sie stellen den Raum der Öffentlichkeit her, in dem sich die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte - darunter auch Journalisten - selbst kontrollieren. Indem sie so Pressefreiheit als Kommunikationsfreiheit aller verwirklichen, tragen sie zur Selbstkontrolle des pluralistischen Gesamtsystems bei" (Projektgruppe 103).

§ 4 Die Rolle der Massenmedien

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Die Medien ermöglichen damit zugleich den Außenbezug des Kommunikationssystems Öffentlichkeit zu seiner demokratischen. Umwelt, nämlich zu demokratierelevanten Vorgängen in den jeweiligen gesellschaftlichen Subsystemen, jedenfalls aber zum politischem System. Sie sind damit zugleich Teil dieser demokratischen Prozesse, wie sie auch selbst die formalen Verfassungsgarantien materialisieren, "verwirklichen". Sie "stellen die Beziehungen zur gesellschaftlichen Umwelt her und sorgen dafür, daß diese aufrecht erhalten bleibt" (Projektgruppe 194) -sie schaffen sozusagen die Kommunikationskanäle und sorgen dafür, daß sie mit Botschaften gefüllt werden, indem sie einerseits politisch relevante Informationen von a\}ßen ("Ereignisse") aufnehmen und andrerseits wieder an Interessierte außerhalb ihrer weitergeben, z.B. an das Publikum der Privatleute, wo sie zu persönlich-politischen Handlungsentscheidungen der dermaßen aufgeklärten Staatsbürger weiterverarbeitet werden (können). Dazwischen, im Binnenraum der Öffentlichkeit gewissermaßen, können die aktuellen Informationen mit weiteren Informationen zusammengeschaltet werden, also sowohl mit Archivmaterial ode Expertenwissen, als auch, zwecks Meinungsbildung, mit Kommentaren, Politikerversprechen oder Dementis zusätzlich angereichert werden; wenig respektvoll spricht Habermas mit Altmann in diesem Zusammenhang von "Kommunifikation" (Habermas 1962, 220, vgl. 268). Die Massenmedien dienen der Vermittlung demokratierelevanter Kommunikatoren indem sie deren Kommunikationszusammenhang sowohl herstellen als auch darstellen. Damit machen sie zum einen die bereits oben ange~prochene integrative Pluralismuskonzeption von Demokratie auch für die Offentliehkeil verbindlich - "die politische Funktion der Massenmedien besteht also darin, den Raum oder das Forum der gesamtgesellschaftlicher Öffentlichkeit herzustellen, in dem die pluralistischen Teilöffentlichkeilen miteinander kommunizieren" (Projektgruppe 100) -, andrerseits, indem die Massenmedien gehalten sind, objektiv, ausgewogen und neutral zu berichten36, prolongieren sie zudem die Vorstellung von Öffentlichkeit als Forum überparteilicher Rationalität. Exkurs: Öffentliche Meinung Die öffentliche Meinung ist eine Dame deren Seele man wohl kaufen kann, aber nicht deren Körper. Unzählig die Versuche, ihr mit Demoskopen auf den Leib zu rücken, und auch die Philosophen hatten nicht mehr Glück: Das Spektrum reicht von der sardonischen Kanaille bis zur "Königin der Welt" (l.c. Habermas 1962, i36), so daß es müßig scheint, noch einige Be36

Vgl. als ein Bsp. unter vielen: l..aufer (184).

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Teil I: Demokratie-Vorstellungen

stimmungen mehr dranzusetzen. Doch die Strenge der Wissenschaften gebietet dies, zu Recht, da oben als "Öffentlichkeit" zitiert wurde, wo doch auch von "öffentlicher Meinung" die Rede sein könnte. Begriffliche Verwirrung ist gestiftet, und kaum eine Monographie oder ein Wörterbuch, durch zahllose Konnotationen und Kontexte unterschiedlichster Verwendungsweisen beunruhigt, die das nicht beschwörten, so daß als einzig annehmbare Folge zu bleiben scheint, in jedem einzelnen Falle zu prüfen, ob, und wenn ja wie sehr, die jeweiligen Begriffe interferieren. Der resümierende Kernsatz des Kapitels, das Habermas am Ende seiner Untersuchung über den Strukturwandel der Öffentlichkeit dem Begriff der öffentlichen Meinung widmet (Habermas 1962, 256-270), lautet jedenfalls lapidar: "Die staatsrechtliche Fiktion der öffentlichen Meinung ist im realen Verhalten des Publikums selbst nicht mehr zu identifizieren" (ebd. 260) Habermas ist zu dem Ergebnis gekommen, daß sich die ehemals normativen Gehalte des Begriffs der öffentlichen Meinung selbst in dezidiert politischen Einrichtungen nicht mehr anders denn als Fiktionen halten können, so daß ihm nur noch durch seine "sozialpsycholowsche Auflösung" (ebd.) in der empirische Sozialforschung Wert zukommt . So radikal wie Habermas können wir nicht sein, sondern wollen - hier auch weiterhin daran festhalten, daß die öffentliche Meinung (ebenso wie ihr Rahmen, die Öffentlichkeit selbst, die im Vorhandensein einer öffentlichen Meinung nur ihre Funktionalität unter Beweis stellt) "als eine implizite Größe< ... > im Sinne bestimmter Grundrechtsgarantien und einzelner Publizitätsvorschriften erwartungsgemäß funktioniert" (ebd. 258, Anm.l). Diesen Bezug auf die implizit funktionierenden Normierungen als das Entscheidende voraussetzend~. könnte also der Begriff der öffentlichen Meinung gleich dem Begriff der Offentlichkeit Verwendung finden. Der für uns in diesem Zusammenhang bemerkenswerte Unterschied zur Öffentlichkeit besteht darin, daß die öffentliche Meinung, im Gegensatz zur bloß objekthaften Strukturalität der Öffentlichkeit, diskursivleichter als Subjekt in Anspruch genommen werden kann: das Man bekommt eine Meinung. Die ist zwar l~unischer und wankelmütiger als eine Diva, dafür aber im Rahmen der Offentlichkeit jederzeit und in wessen Sinne auch immer, von jedem gefahrlos in Anspruch genommen (und ebenso leicht wieder zurückgegeben) werden, wobei nicht bewiesen zu werden braucht und auch gar nicht bewiesen werden kann, weshalb sie sich vor allem bei rhetorischen Manövern bewährt. Im übrigen steht eine empirische Operationalisierung trotz vielfältigen Bemü-

37 Für Lazarsfeld scheint dagegen schon von vomherein keine empirisch-normative Einheit annehmbar gewesen zu s.ein: die öffentliche Meinung ist entweder normativ im Hinblick auf ihr bestehendes Verhältnis zur Regierung zu formulieren oder empirisch auf ihre Einflußmöglichkeiten zu untersuchen (vgl. Lazarsfeld 14).

§ 5 Versagen der Öffentlichkeit

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hens38 noch aus, und ist insofern als dankbares Betätigungsfeld für eine ehrgeizige empirische Sozialforschung noch offen; allein es ist äußerst zweifelhaft, ob der öffentlichen Meinung jemals mehr als nur heuristischer oder eben: fiktionaler Wert (und Genuß) abgewonnen werden kann. § 5 Nichterfüllung der normativen Öffentlichkeit-Vorgaben

Konfrontiert man die normative Konzeption politischer Öffentlichkeit mit der Ebene ihrer empirischen Verwirklichung, so ist der Nachweis, daß sie die ihr gestellten Aufgaben nicht erfüllen kann, schon ein fast zu triviales und billiges Unterfangen. Gegen die Summe all der Informationen, die für politische Entscheidungen im weitesten Sinne relevant sind und die von der Möglichkeit her von den Massenmedien zur Information des Bürgers verwandt werden könnten (bzw. müßten) steht ein Bürger (nicht wie es häufig die Philosophen tun auch nicht als autonomes Subjekt fingiert, sondern als empirisches Individuum verstanden), dem auf Grund seiner Lebensumstände zu Informationsgewinnung über politische Ereignisse nur ein bestimmtes quantitatives Kontingent an Zeitressourcen (um andere Beschränkungen wie Geldmittel, Bildung, Artikulationsfähigkeit der Einfachheit halber gar nicht zu erwähnen) zur Verfügung steht. Die Massenmedien unterliegen jedoch ebenfalls der Einschränkung, nur eine bestimmte Menge der gelieferten Informationen verarbeiten zu können, womit noch nicht einmal eine inhaltliche, qualitative Beschränkung gemeint ist, sondern lediglich eine quantitative auf Grund von Platzmangel, Sendezeit, Bearbeitungsumfang etc., so daß von vornherein eh nur ein Bruchteil der Meldungen, die eine Zeitungsredaktion bloß über den Fernschreiber erreichen, in der Ausgabe am nächsten Tag erscheinen kann; es handelt sich hier um rein technisch bedingte und noch keineswegs um bewußt-evaluierende oder sozialpsychologische Selektionsvorgänge ("Gatekeepertheorie" und "selektive Wahrnehmung" sind hier die bekanntesten Auswahlmechanismen). "Kein einzelner ist unter modernen Bedingungen in der Lage, sich auch nur einigermaßen zu informieren über die Fragen, die in einem Partizipationsmodell gleichberechtigt auf seiner politischen Tagesordnung stehen müßten: von der städtischen Verkehrsplanung bis zur Hochschul- und Forschungsplanung; von der Verwaltungsreform bis zur Reform des internationalen Wäh-

38 "Weil

es trotzzahlreicher Versuche nicht gelang, ihn (den Begriff der öffentlichen Meinung, P.K.) wissenschaftlich in den Griff zu bekommen, wurde er häufig totgesagt" (Projektgruppe 28). aber man kann sich dazu auch die Publikationen von :'-loelle-Neumanns ansehen, die nach fast jeder Bundestagswahl ein neues Konzept offeriert, wie und nach welchen Regeln die öffentliche Meinung sich diesinal bewegt haben muß, damit die Wahl gerade so und nicht anders hatte ausgehen können. 3 Klier

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Teil 1: Demokratie-Vorstellungen

rungssystems; vom antiautoritären Kindergarten bis zu gesamteuropäischen Sicherheitssystem. Ohne daß man auf irgendwelche Manipulations-Hypothesen zurückzugreifen brauchte, zwingt allein schon das begrenzte Zeitbudget jeden einzelnen zu einer rigorosen Selektivität in der Aufnahme politischer Informationen, und die Auswahl muß notwendigerweise noch sehr viel restriktiver werden, wenn es um aktive Teilnahme auf irgendeine der anstehenden Entscheidungen geht. Jeder von uns, auch der Berufpolitiker, hat keine andere Möglichkeit, als sich gegenüber der großen Mehrzahl politischer Entscheidungen apathisch zu verhalten und die Verantwortung dafür den anderen zu überlassen" (Scharpf 58f). Jenseits dieser tagespolitischen, "offiziellen" Informationen über die politischen Vorgänge bedarf es noch eines umfänglichen Wissens, um diese Informationen überhaupt gebrauchen bzw. kontextualisieren zu können, und das sowohl auf Seiten der Emittenten, wie der Mittler und der Empfänger. Dazu gehört, um einen normalerweise unauffälligen, weil unspektakulären, aber gleichwohl unabdingbaren Bereich anzuführen, das ganze Feld des öffentlichen Rechts: was nützt eine Information über eine Entscheidung, wenn man Verordnung, Erlaß, Beschluß nicht von einem Gesetz unterscheiden kann, wen soll die Öffentlichkeit zum Adressaten ihrer Meinung machen, wenn sie nicht weiß, wer die trifft und wie sie zu Stande kommt: Partei, Fraktion, Kabinett, Parlament, Ministerialbürokratie, Vermittlungs- oder sonstige Ausschüsse, Referate, Opposition, Bundesrat oder gar- die Öffentlichkeit? Selbst wenn man mit der Öffentlichkeit guten Glaubens ist, die politischen Entscheidungen würden ganz legal und offiziell in diesen Institutionen getroffen, wird es einem und der Öffentlichkeit doch schlecht gelohnt: So sind die Bundestagsausschüsse ebensowenig öffentlich wie die Berat_ungen der Ministerialbürokratie und der sonstigen Exekutivorgane. Die Offentlichkeit ist stets auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen, und wo sie aus erster Hand, z.B. durch einen Pressesprecher "unterrichtet" wird, sind sie entsprechend bereinigt. Und trotzdem war bisher nur von der informationeilen Zuganglichkeil der Öffentlichkeit zur offiziellen Ebene der Politik die Rede: Denn es sind da noch die inoffiziellen Bereiche hinter den Kulissen, für die Öffentlichkeit daraufhin angelegt, um die, wie Kempen (188) in einem schönen Satz formuliert, "sorgfältig einstudierten Schaukämpfe einer Pienardebaue als groß angelegte Scheinmanöver durchzuführen, um so die wahren Hintergründe und Interessen, die geheimen Kämpfe und Pressionen, Absprachen am Rande und jenseits der Legalität, um also jenes äußerlich unentwirrbare Geflecht von Beziehungen und Informationen hinter den Fassaden offizieller Begründungen vor der Öffentlichkeit zu verbergen" (vgl. auch ebd. 191). Die dort stattfindenden "informellen Entscheidungsprozesse", denen eine, wenn nicht die entscheidende Rolle beim Zustandekommen politischer

§ 5

Versagen der Öffentlichkeit

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Entscheidungen zugesprochen werden muß39, sind der Öffentlichkeit so generell verschlossen, daß ihr gelegentliches, meist aber von der konkurrenten Gegenseite nicht ohne Kalkül lanciertes, öffentl~ches Auftreten schon überhaupt als Skandal und Sen-;ation empfunden wird, aber auch insofern willkommen sind, als sie der Öffentlichkeit Gelegenheit gewähren, auf sich und die Wichtigkeit und das gute Funktionieren ihrer Rolle billig hinzuweisen. Will man sodann, in seinem guten Glauben solchermaßen etwas bewährt, doch daran festhalten, daß die politischen Entscheidungen auch dort fallen, wo die Öffentlichkeit hingeführt davon zu zeugen, so hat sie dazu dennoch keinen eigentlichen Zugang: von den Kabinetts- und· Fraktionssitzungen (außer denen der Grünen) werden ihr nur stets die sie ausschließenden Türen zuteil, die signalisieren, daß dahinter wohl so Wichtiges zur Verhandlung ansteht, daß keine Mitwisser geduldet werden könnten; ganz zu schweigen von den Fragen, mit denen, will man den dafür als Ersatzöffentlichkeit eingesetzten Figuren glauben, das weitere Schicksal der Menschheit beschlossen wird: Die Zugänglichkeil und Transparenz der diversen (Welt-)(Wirtschafts-)(Abrüstungs-)Gipfel scheinen im umgekehrten Verhältnis zu den Behauptungen ihrer Bedeutung zu stehen - wenn nicht, dann muß sie wohl im Bild der sich zum Gruppenphoto davor und danach aufstellenden Teilnehmer liegen. So sprechen denn auch die professionellen Öffentlichkeitsagenten40 wie z.B. Moderatoren, die diese "Ereignisse" promovieren müssen, selbst ganz ungeniert von Fernseh- und Öffentlichkeitsspektakeln (wie Peter Voß am 19.11.85 im "heute-journal" anläßlich des Gipfeltreffens Reagan-Gorbatschow). In dieser Weise ließen sich Seiten über Seiten an Belegen damit füllen, daß "die" Öffentlichkeit weder strukturell noch empirisch ihre Aufgaben und Funktionen nicht so wie normativ prätendiert zu erfüllen in der Lage ist. Gerade Zahlen wären da sehr eindrucksvoll, oder wie sollte ein Regierungsmitglied oder Abgeordneter von der Öffentlichkeit, womöglich noch von seinen Wählern, in den Haushaltsberatungen kontrolliert werden, wenn er selbst als professioneller Entscheidungsspezialist die dem Haushaltsentwurf des Bundes 1986 zu Grunde liegenden 46 Ordner mit über 4000 Seiten weder quantitativ noch von der Sachkenntnis her zu bewältigen imstande ist. "Der moderne Interventions- und Leistungsstaat produziert offenbar im ganzen sehr viel mehr an Entscheidungen und Leistungen, als die eigentlichen politischen Prozesse zu verarbeiten in der Lage sind. Zwar werden auch hier die formellen Entscheidungen in der Regel noch vom Minister, vom Kabinett oder vom Parlament getroffen, aber die Entscheidungsinhalte werden doch weitgehend nicht von manifesten politischen Impulsen, sondern von den 39

Vgl. dazu Offe (327f) und lOG 14 und 20.

"Öffentlichkeitsarbeit darf nicht nur informieren und kommentieren. Sie muß selbst Ereignisse, und das heißt vor allem :\ofedienereignisse, schaffen" (Sarcinelli 6).

40

3.

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Teil I: Demokratie-Vorstellungen

Informationen, der Problemsicht und den Zielvorstellungen unserer öffentlichen Bürokratien bestimmt" (Scharpf 17). So ist es nur eine rhetorische Frage, wie dies der Öffentlichkeit (oder gar dem einzelnen Bürger) möglich sein sollte4 \ wenn schon die (staatliche) Verwaltung eine größere Komplexität produziert, als das politische System zu verarbeiten in der Lage ist. Die empirischen Defizite der normativen Konzeption von Öffentlichkeit laufen somit in zwei Punkten zusammen: Die Öffentlichkeit kann ihre normativen Aufgaben und Funktionen nicht erfüllen, weil sie 1. schon in ihret Kapazität, die politischen Ereignisse gemäß jener "staatsrechtlichen Fiktionalität'o42 zu behandeln, überfordert ist, und

2. auch in Teilbereichen eine wesentlich zu geringe Eindringtiefe besitzt, um zu den Punkten, an denen die politisch relevanten Entscheidungen tatsächlich fallen, wirklich vordringen zu können (und selbst wenn sie dies könnte, müßte eine angemessene Aufarbeitung an Pl.lnkt eins scheitern). § 6 Legitimitätsschwierigkeiten und ihre vorläufige Lösung

Die Frage, die sich nun stellt: Warum ergeben sich bei so evidenter und zudem in der politologischen Literatur so häufig verhandelter Nichterfüllung der normativen Vorgaben der Öffentlichkeit keine Legitimitätsschwierigkeiten für das als "Demokratie" apostrophierte System politischer Herrschaft? Wenn Öffentlichkeit eine unabdingbare Voraussetzung von Demokratie bildet, müßte doch bei deren so offensichtlichem Versagen mit einer buchstäblich massenhaften Kantestation der dahinter stehenden normativen Konzeption bzw. der mit ihrer Verwirklichung Beauftragten und folglich mit einer "Legitimationskrise" größeren Ausmaßes gerechnet werden. Doch von einer derarti~en (und auch von manchem schon lange prophezeiten) Legitimationskrise 3 kann nicht die Rede sein, auch wenn Habermas mit seiner Analyse des Spätkapitalismus (Habermas 1973) vielfältige Beobachtungen und Erkenntnisse als stichhaltige Hauptverdachtsmomente zu formulieren gesucht hat; jed~ch auf eine Aufkündigung der Massenloyalität; Offe - die klassische liberale Demokratietheorie erörternd - drückt dies in seiner spröden Art sehr diskret aus: "Die Funktion der Teilnahme des Bürgers an öffentlichen Entscheidungen diente nicht sowohl deren Qualität, sondern vor allem der intellektuellen und moralischen Selbstvervollkommung ("development") des Bürgers selbst. Zu diesem kühnen TheorC?,m fehlt uns heute jedes soziologisch ernstzunehmende (d.h. nicht nur pädagogisch gemeinte) Aquivalent" ( Offe 320).

41

42

So Habermas über die "öffentliche Meinung" (1962, 256ff).

Eine von Journalisten-, Politiker- und Politologenmund gleichermaßen als Spezifikationen oder Euphemismen gepflogene begrenzte Form davon bildet die Rede von der "Staats-", "Politik-", "Parteien-" und sonstigen "Verdrossenheit" der Bürger.

43

§ 6 Legitimitätsschwierigkeiten

37

der im Namen der Wahrheit heimlich geträumte Traum so mancher, zu spekulieren wäretrotz (aber auch wegen) der gegebenen Umstände gänzlich abwegig. Im Gegenteil: Gerade die Gruppen und Bewegungen, die für eine .~~lebe Kantestation als Folge des Versagens des Modells von liberaler Offentlichkeit besonders prädestiniert scheinen, wie z.B. die Bürgerinitiativen der 70er Jahre oder die basisdemokratischen Anfänge der "Grünen", setzen gerade mit dem Slogan der "Gegenöffentlichkeit" auf die Affirmation und C?.mpirische VerifiZierung des normativ prätendierten Zusammenhangs von Offentlichkeit und politischer Einflußnahme, also auf die "wirkliche" Partizipation des Bürgers am politischen Entscheidungsprozeß, die sie unter den gegebenen Bedingungen bislang nicht gewährleistet gesehen hatten44• Mit der Kritik an der tatsächlich vorliegenden Funktionsweise der Öffentlichkeit wird also nicht das virtuell normengerecht demokratisch funktionieren könnende politische System über die Infragestellung seiner Legitimität, wie Haberii?:as meinte (oder besser: vorschlug) kontestiert, sondern es werden die in der Offentlichkeit unmoralisch, nicht im Sinne des Systems handelnden (professionellen) Agenten, ihre unlauteren Macher angeklagt45; - so schied Habermas jüngst selbst die gute, "autonome" Öffentlichkeit von der schlechten, der "zu Zwecken der Legitimationsbeschaffung" (Habermas 1985a, 422) erzeugten. Nichtsdestoweniger muß seiner Feststellung, daß "d~r Ausschluß folgenreicher praktischer Fragen aus einer entpolitisierten Offentlichkeit infolge einer langfristigen Erosion Yerhaltenssichernder kultureller Überlieferungen, die bislang als nicht thematisierte Randbedingungen des politischen Systems vorausgesetzt. werden konnten, immer schwieriger wird: deshalb entsteht heute ein chronischer Bedarf an Legitimation" (Habermas 1978, 12f) insoweit zugestimmt werden, als er eine Entwicklung konstatiert, die wahrzunehmen aber anscheinend nur kriti'schen Intellektuellen und berufsmäßigen Analysanten vorbehalten ist, neben dem Zweifel aber, ob diese folgenreichen Fragen wirklich ausgeschlossen oder es nicht vielmehr die gegebenen Antworten sind, die folgenlos bleiben, muß man ihm mehr oder weniger beruhigt zurückgeben, daß der supponierte Mehrbedarf an Legitimation so gut gedeckt ist, daß er von den letztlich Legitimierenden nicht einmal als solcher wahrgenommen werden kann - die Frage ist eben: wie und warum. Einleitend waren wir davon ausgegangen, daß die Legitimität eines politischen System davon abhängt ist, wie sehr es ihm gelingt, seine formellgesalzten Voraussetzungen in informell-kulturellen zu "verwurzeln". Dies zu Grunde legend und doch gleichzeitig die gelungene Legitimationsbeschaffung

Vgl. zum Konzept einer proletarischen Gegenöffentlichkeit KlugejNegt (bes. 208), ansonsten, eher alternativ verbürgerlicht, Guggenberger/Kempf (Hrsg.) und Nestler (Hrsg.).

44

"Nicht das System ist schlecht, sondern die Leute", wie die oft zu hörende, personalistische Wendung dazu lautet.

45

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Teil 1: Demokratie-Vorstellungen

eines ob des Versagens seines Elements "Öffentlichkeit" eigentlich legitimitätsfragwürdigen politischen Systems erklären zu wollen, bleibt nur eins: "Die durch Massenmedien verbreitete 'Kultur' ist nämlich eine Integrationskultur" (Habermas 1962, 193). Denn die in ihr statthabenden (politischen) Informationen und Räsonnements werden der eigenen, privaten kleinen Welt so assimiliert, daß die von den Massenmedien hergestellte Öffentlichkeit "Funktionen der Werbung" (ebd.) übernimmt, mit der "'Absorption einer plebiszitierten, 'politischen' Öffentlichkeit durch die konsumkulturell entpolitisierte" (ebd. 195) als allmählicher, aber unausbleiblicher Folge. Denn: "Je mehr sie als Medium politischer und ökonomischer Beeinflussung eingesetzt werden kann, umso unpolitischer wird sie im ganzen" (ebd. 194), mit einem Wort: Manipulation. Dieser Titel bekam seine hohe Zeit Ende der 60er bis in die Mitte der 70er Jahre hinein. Er begann seine Karriere als kritischer Kamptbegriff, als es darum ging, die Volksmassen von der Demagogie der sie verdummenden Massenmedien zu befreien und die eigensüchtigen Interessen der sie skrupellos betreibenden Hintermänner zu demaskieren. Der täglich produzierte, schöne Schein einer nur vorgespiegelten Realität war auf seine unterdrückende Funktion hin zu entlarven, die wahren ("objektiven") Verhältnisse, die wirklichen Zusammenhänge ans Licht zu bringen. "Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit" (v. Hentig), "Wirklichkeit aus zweiter Hand" (Bauer/Hengst): schon die Titel verraten, worum es diesem Diskurs im Angesicht der Produktionsbedingungen moderner Massenmedien zu tun ist: Die Kultivierung des Wahrhaften als Wiedergewinnung des Authentischen. Es ist hier nicht der Ort, seine Karriere zu beschreiben, wie man ihm als sozialphilosophisch-kulturkritische Marke (vgl. Marcuse) ein empirischwissenschaftliches Fundament zu geben versuchte (vgl. Abromeit, Franke, Holzer, Zoll), wie er sich popularisierte und nicht zuletzt durch die Medien mit ihren kritischen Journalisten zur gängigen Münze eines zeitkritischen Diskurses wurde (vgl. Mc Luhan, Mander, Postman), um mit der in diesem Betrieb üblichen Verzögerung in den pädagogischen Institutionen (vgl. Hentig, Winn et al.) ein gesichertes Weiterleben zwischen Wissenschaft und Alltagswissen zu finden. Am Ende war er jedenfalls selbst zu dem geworden, das aufzuklären er ins Spiel gebracht worden war: Slogan, Klischee, ausgetretener Gemeinplatz - und schließlich Versammlungsort einer ganz besonders kritischen Generation, deren Erben sich immer noch am Stallgeruch des besonderen Kritisch-Seins erkennen. So lernt es jedes Kind heute schon in der Schule: daß die Werbung uns nur eine Scheinwelt vorgaukeln will, daß es in Wirklichkeit ganz anders ist, kurz, daß sie uns manipuliert. Doch dieser Text war schon vorbuchstabiert, noch bevor die Sättigungsgrenze deutscher Haushalte mit Farbfernsehgeräten

§ 6 Legitimitätsschwierigkeiten

39

die 85%-Marke46 erreichen konnte: "Aufklärung als Massenbetrug", so lautet der Untertitel eines aus Amerika mitgebrachten Aufsatzes von 1944, in dem Horkheimer und Adorno leidenschaftlich über die Funktion der Kulturindustrie und die allgemeinen Rahmenbedingungen der sich entwickelnden Massenmedien, als Herrschaftsinstrument aufklären, denn: "In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt" (Horkheimer JAdorno 109). Das Resultat dieses Prozesses führt den einzelnen in eine Totalität, in der er nicht er selbst, sondern so von sich entfremdet ist, daß er nicht einmal mehr seine eigenen, wahren Bedürfnisse kennt (wie er selbst auch von anderen nur noch als Imitat (ebd. 115,117,150) oder statistische Größe (ebd. 111, 130) gekannt wird). Unter diesem ubiquitären Diktat der Täuschung (ebd. 113) und des Betrugs (ebd. 125) - in Gestalt des insinuösen Amüsements (ebd. Ü2) - wird die ganze Welt zur Reklametafel (ebd. 140ff), die Kultur ihre beste Reklame ( ebd. 145). Wie im Bedürfnis ist auch in den Mitteln und Gegenständen seiner Befriedigung keine Authentizität mehr zu fmden: die Erkenntnisleistung des Subjekts wird ihm von der Industrie abgenommen (ebd. 112), der "echte Stil" des Kunstwerkes ist "Zerrbild" geworden (ebd. 116), wie überhaupt die Fusion von Kultur und Unterhaltung eine generelle "Depravation" ( ebd. 129) von Kultur bedeutet: "Innerlichkeit, die subjektiv beschränkte Gestalt der Wahrheit" (ebd.), sowieso schon immer den äußeren Herrn untertan, wird "zur offenen Lüge hergerichtet" (ebd.), wie die Kulturindustrie überhaupt das Individuum zum "fungiblen", aber gleichwohl "absolut ersetzbaren" Exemplar macht (ebd. 131). Nicht einmal der Außenseiter kann mehr "echter" Außenseiter sein: entweder ist er gleich einem Kapitalverbrecher oder wird zum Original, "dem Objekt böse nachsichtigen Humors" (ebd. 135), stilisiert, ebenso wie die Natürlichkeit einer Geste nur noch als künstliches Ideal pe~fektionierter Technik (ebd. 115) oder in der freiwilligen, zur zweiten Natur gewordenen, Selbstanpassung zum"erfolgsadäquaten Apparat" (ebd. 150) zu haben ist und die "richtige" Brüderlichkeit der des "Sportpublikums" weicht (ebd. 148). So wäre es denn auch verwunderlich, wenn diese Chronik des Verlustes gerade vor der Sprache haltmachte: Das "Substantielle" weicht aus den "Bedeutungsträgern", die von nun an nur noch als bloße ("qualitätslose") Zeichen ihren Dienst tun, und kaum mehr an das erinnern können, was einst geschah: "Unterschieden voneinander und unablösbar waren Wort und Gehalt einander gesellt. Begriffe wie Wehmut, Geschichte, ja: das Leben, wurden im Vier-Personen-Haushalte von Arbeitnehmern mit mittlerem Einkommen 88% (alle Zahlen beziehen steh auf 1984), von Beamten und Angestellten mit höherem Einkommen 85%; lediglich die Zwei-Personen-Haushalte von Renten- und Sozialhilfeempfängern mit geringem Einkommen scheinen mit nur 73% noch unterversorgt, allerdings hatten 39% dieser Haushalte auch noch ein Schwarzweiß-Gerät, so daß auf je 100 jener Haushalte doch immerhin noch beruhigende 112 Fernsehgeräte entfallen (Zahlen aus: Meyn 182). 46

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Teil I: Demokratie-Vorstellungen

Wort erkannt, das sie heraushob und bewahrte" (ebd. 147). "Jargon der Eigentlichkeit" hat dies einmal ein kritischer Kritiker anderwärts genannt. Ein treibendes Moment dieses manipulativen Prozess'es, liegt einmal in der Entwicklung medialer Technik begründet - das Telephon ermöglichte den Teilnehmern noch liberal die Rolle des Subjekts zu spielen, während das Radio sie demokratisch alle gleichermaßen zu Hörern macht, "um sie autoritär den unter sich gleichen Programmen der Stationen auszuliefern" (ebd. 109). Den Höhepunkt dieser technischen Entwicklung bildet einmal mehr das Fernsehen als "eine Synthese von Radio und Film< ... > hohnlachende Erfüllung des Wagnersehen Traums vom Gesamtkunstwerk" (ebd.). Aber, und das ist das eigentlich treibende Moment, die Technologie und ihr Gebrauch werden, wie es der Aufsatztitel "Kulturindustrie" bereits nahelegt, von der Wirtschaft bestimmt. Und die ist im Kapitalismus alleweil kapitalistisch. So ist auch die Industrie der Kultur nicht weniger nach Funktion und Muster der großen Industrie organisiert wie die anderen industriellen Bereich auch, ihre Produkte, die hergestellte Kultur, sind gleichfalls Waren, so daß "der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist" (ebd. 109). .. Zugleich die von Horkheimer und Adorno für die "allgemeine" kulturelle Offentlichkeit benutzte Erklärungsfigur des "Manipulationsparadigmas" mitübernehmend, bestimmt die vergesellschaftende Kraft dieser beiden Triebkräfte auch für Habermas die Bestandsaufnahme heutiger politischer Öffentlichkeit: Die technische Entwicklung der Massenmedien (vgl. Habermas 1962, 204f) im Verein mit ihrer zunehmenden Kommerzialisierung (vgl. 206) hat die durch sozialen Strukturwandel eh schon relativ funktionslos gewordene politische Öffentlichkeit47 auch noch ihrer Mittel beraubt und sie unter die Verfügungsgewalt der Profiteure technologischer, organisatorischer und ökonomischer Konzentration gebracht. Welche gesellschaftliche Macht diese Verbindung akkumuliert hat, verdeutlicht sich an Hand der Werbung48:

47 Dieser Funktionswandel leitet sich zusammenfassend von der Verschränkung des öffentlichen mit dem privaten Bereich her. "Es entsteht nämlich eine reP.?Iitisierte Sozialsphäre, die sich weder soziologisch noch juristisch unter Kategorien des Offentliehen oder Privaten subsumieren läßt. In diesem Zwischenbereich durchdringen sich die verstaatlichten Bereiche der Gesellschaft und die vergesellschafteten Bereiche des Staates ohne Vermittlung der politisch räsonierenden Privatleute; das Publikum wird von dieser Aufgabe durch andere Institutionen weitgehend entlastet: einerseits durch Verbände,< ... > andererseits durch Parteien, ~ie sich, mit Organen der öffentlichen Gewalt zusammengewachsen, gleichsam über der Offentliehkeil etablieren, deren Instrumente sie einst waren (Habermas 1962, 194f).

Welche Bedeutung Habermas (1962) der Konvergenz von Reklame und politischer Öffentlichkeit als Ausdruck und treibendes :Moment ihres Strukturwandels zumißt, belegt sich nicht zuletzt am Raum, dem er deren Betrachtung widmet: Neben der expliziten Bezugnahme auf den Seiten 207-214 und 236-242 läuft sie ab S. 194 für die weitere Erörterung permanent als Referenzfolie mindestens mit.

48

§ 6 Legitimitätsschwierigkeiten

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sie macht sich den Stellenwert und das Prestige politischer Öffentlichkeit für ihre Zwecke zu eigen, spricht nicht nur die potentiellen Kunden als räsonierendes Publikum bzw. deren Kaufentscheidungen im Stile einer verantwortlichen Teilnahme am Prozeß öffentlicher Meinungsbildung an (vgl. ebd. 210214), sondern behandelt zudem auch den öffentlichen Bereich politischer Willensbildung in der Art des Marketings (ebd. 236f). Diese zweifache "Verwandlung der Öffentlichkeit in ein Medium der Werbung" (ebd. 207, vgl. 194 und 236) hat mit der ursprünglichen Idee bürgerlicher Öffentlichkeit nicht mehr viel gemein. Ihre Adressaten und Partizipanten, als Privatleute· eh schon in "ein System fremdgesteuerter Konsumgewohnheiten" (ebd. 236) eingespannt, werden auch als Staatsbürger von der "temporär" (ebd. 230), nämlich "wahlperiodisch" neuinszenierten (ebd. 235) und "demonstrativ oder manipulativ hergestellten Öffentlichkeit der Wahlveranstalter" (ebd. 234) lediglich untt!r dem Gesichtspunkt einer zu Akklamationszwecken zu gewinnenden Kundschaft betrachtet, so daß insgesamt das gleiche Modell manipulativer Integration, welches Horkheimer und Adorno für die "subjektive", also die Bedürfnisseite des Publikums konstatiert haben, auch für die deren Bedienung zu gelten hat: Nicht nur die Bedürfnisse, auch deren Befriedigungschancen werden manipuliert. Die Publizität "dient der Manipulation des Publikums im gleichen Maße wie der Legitimation vor ihm. Kritische Publizität wird durch manipulative verdrängt" (ebd. 196).

Teil II Warum man weiß, was man sich unter "Demokratie" vorzustellen hat § 7

Epistemologische Implikationen

Bislang wurde mit der staatsrechtlichen Theorie die Erfüllung normativer Vorgaben der Öffentlichkeit als elementares Kriterium der "Verwirklichung von· Demokratie" begriffen. Insofern kann von einer "expliziten" Verwirklichung gesprochen werden; sie ist in diesem Sinne dann der Fall, wenn Kommunikation zum Zwecke der Einflußnahme auf den politischen Prozeß einerseits durch staatlich unzensierte Kommunikationsrechte garantiert ist und andrerseits diese auch in einem (existierenden offenen) Kommunikationssystem potentiell von jedem wahrgenommen werden können. Dieser definitorisch-normative Realitätsbegriff setzt damit ein klares Trennvermögen zwischen institutionaliertem Defmiens und dem geregeltem Spielraum eines Defmiendums voraus, indem er dem Definiens eine vorgängige Realität zuschreibt, die das Maß der zu definierenden Realität sanktioniert. So faßt etwa die Institutionenlehre als ausgeprägteste Form dieser Art Realitätsbegriff "Demokratie" als die geregelte Gesamtheit bestimmter gesellschaftlicher und staatlicher Einrichtungen, welche ihrerseits wieder dem als quasinatürliche Gegebenheit gegenübertritt, der, welcher Form auch immer, sich auf die Öffentlichkeit bezieht, und sei es nur, daß er sich eines Massenmediums bedient. Steht damit z.B. der Realitätsgehalt des Begriffs "Demokratie" zur Verhandlung, so sind darin "öffentliche Meinung", "Staat", "Volk" oder "der mündige Bürger" als vorgängige Realitäten bzw. Realitätsreferenzen bereits derartig vorausgesetzt, daß über sie dann die Realität von "Demokratie" analog des oben angeführten Öffentlichkeits-Kriteriums zu defmieren ist. Dies gilt gleichermaßen für den Realitätsbegriff der Manipulationshypothese in ihrer allgemeinen Form: auch wenn sie eine "wirkliche" Verwirklichung der normativen Vorgaben postuliert, so faßt sie "wirklich" im Sinne von "tatsächlich" und wendet sich damit weniger gegen die darin enthaltenen epistemologischen Voraussetzungen als eben vielmehr gegen den "falschen", nämlich manipulativen Umgang mit ihnen.

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Doch in diesem Umgang klingt gleichwohl eine Kritik mit dem Verdacht an49, daß die jeweils als Realitäten supponierten Begriffe ihrerseits nur Produkte eines vorgängigen Prozesses sind, ·der erst etwas, wie hier "Demokratie", als Realität definiert, so daß diese Realitätsdefmitionen lediglich als Produkte eines Verdinglichungsvorgangs anzusehen sind, in welchem der Prozeß der Reiflkation unterschlagen ist. Es ist also den impliziten epistemologischen und damit letztlich realitätskonstitutiven Prozessen der öffentlichen Rede nachzugehen, die ihr erst erlauben, Begriffen semantisch Dingcharakter zuzuweisen, ihr gestatten, etwa von der Demokratie als von einer Realität zu handeln, die sie in ihrem Vortrag per defmitonem als empirisch gegeben voraussetzt. Daß sie auf derartige implizite Realitätsreferenzen Bezug nehmen muß, zeigt die öffentliche Rede selbst: Der legitimitätssuchende Rekurs der staatsrechtlichen Theorie auf "letzte Gründe" in Gestalt des Postulats einer kulturellen Rückbindung seiner Begrifflichkeit in einer "demokratischen Lebensform", in der sich formale Narrnativität und informale Lebensweltlichkeit austauschen und sich eben zu einer "kulturellen Lebensform" Demokratie verbinden, indiziert gerade, daß noch über die gesatzten (Realitäts)Defmitionen hinaus, weitere, nämlich implizite Realitätskonstituenten vorausgesetzt werden müssen. Das ist nicht erst im Rekurs auf die (diesmal im streng Habermasseben Sinne) lebensweltlich-motivationale Ebene der Legitimation der Fall, vielmehr wird deren Bedarf im ganz normalen "alltäglichen Funktionieren" von Demokratie deutlich: "Demokratie" muß im Sinne der Partizipation der Bürger am politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozeß anders als nur in Form eines Verfassungsrechtskommentars, nämlich als sinnliche verfügbar sein. Entscheidend dafür ist die Mittelbarkeil der Stellung, in welcher der einzelne den repräsentativ-demokratischen Institutionen aggregiert ist, und das Mittel, die daraus institutionell erzwungene Distanz (der "repräsentativen" Demokratie) gleichwohl zentripetal als partizipatorische Integrationsfunktion verbindlich werden zu lassen. Seine Einheit fmdet dieser Antagonismus in der Öffentlichkeit und den sie herstellenden Massenmedien: So beruht Demokratie "auf der Voraussetzung, daß politische Ereignisse gleichzeitig allen bekannt werden (sofern sie nicht geheimgehalten werden), so daß der Politiker unterstellen muß, daß andere gleichzeitig mit ihm wissen, worauf er reagiert, und ihn verstehen, sei es billigen, sei es mißbilligen können. Darin steckt natürlich viel Fiktives, aber die Unterstellung wäre schon als Unterstellung nicht möglich, gäbe es keinen Funk und keine Presse. Die bloße Tatsache

49 Vgl. z.B. bei Habermas (1962, 256ff) die "öffentliche Meinung• als "Fiktion", bei Dubiel (in: Merkur, 640) das "Volk" als legitimierendes "Ding an sich", bei Luhmann (SS 618, 627) der "Staat" als "semantisches Artefakt" oder bei Hennis (208), in allerdings mehr affirmativer Hinsicht, der "Bürger" als "Modell".

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Teil II: Epistemologie der Öffentlichkeit

der Ausstrahlung einer Information ermöglicht es und zwingt in vielen Kontexten dazu, ihre Bekanntheil im nächsten Moment zu unterstellen und zwar ohne Prüfung des faktischen Wirkungsgrades der Kommunikation. Relativ unabhängig also von aller effektiven Wirksamkeit in der Informationsübermittlung wird schon die Unterstellung universeller Informiertheil wirksam" (ViS 314). In diesen Funktionsbedingungen von Demokratie werden implizit zwei "Realitätsquellen" vorausgesetzt: eine kommunikative50 und eine perzeptive51: der Entwurf von Demokratie als Kommunikationszusammenhang gibt den Defmitionsraum dessen ab, was in der Kommunikation selbst als Realitätsannahme Geltung erlangt - die Wichtigkeit der Massenmedien für das Funktionieren von Demokratie liegt neben dem, daß sie als "hard ware" die Kommunikationsflüsse überhaupt erst ermöglichen, darin, daß sie die kommunizierte Realität durch Vermittlung im wahrsten Sinne des Wortes "näher", nämlich bis an den heimischen Wohnzimmersessel, bringen. Quellort dieser Kommunikationsflüsse ist die Öffentlichkeit: Auch die Analyse der drei normativ-defmitorisch gewonnenen Hauptfunktionen der Öffentlichkeit - Information, Meinungsbildung und Kontrolle politischer Machtausübung - zeigt, daß in ihnen implizit kommunikative und perzeptive Realitätskonstitutionen eingelagert sind. So fungiert "Öffentlichkeit" nicht nur als Definitionsmerkmal "wirklicher , d.h. tatsächlicher Demokratie, sondern ihr kommt selbst eine Generierungsfunktion dessen zu, was als konstitutives Element von;. "Demokratie" Geltung erlangt. So ist in der Informationsfunktion der Offentliehkeil zugleich eine perzeptive Realitätsreferenz eingelagert, welche durch die "Rohstoffproduktion der Nachrichten" (Schelsky 1965, 101) erst die Voraussetzung für die kommunikative Behandlung der als politisch relevant angenommenen Ereignisse und Themata schafft - diese können dann kommunikativ zur Bildung von Meinungen, einerseits für dezisive Prozesse (nicht nur für Wahlen, sondern auch für Streiks, Boykott etc.), andrerseits zu kommunizierten Mißbilligungen, daß z.B. "die Grenze des Zurnutbaren endgültig erreicht" sei, verwertet werden, was dann wiederuttl Aufgabe der Öffentlichkeit ist, dies allgemein perzeptiv zugänglich zu machen. Ähnlich basiert die Kontrollfunktion der Offentlichkeit weiter darauf, daß sie staatliche und politische Akte durch die Information allgemein als Realien verbindlich macht und dies wiederum dafür voraussetzt, um kommunikativ festzustellen zu können, inwieweit das Wahrnehmbare bzw. Wahrgenommene mit den Erwartungsstandards der Beobachter korreliert (um dann weiterhin daraus resultierende Mißbilligung, Zustimmung oder Gleichgültigkeit den so Zur Bedeutung der Sprache für die Konstitution von Wirklichkeit vgl. Berger/Luckmann. Vgl. zu den Bedingungen dieser perzeptiven Realaffirmation (im Rekurs auf die "aisthesis" könnte man auch, wenn dieser Begriff nicht schon so philosophiegeschichtlich vorbelastet wäre, von "ästhetischer" Realaffirmation sprechen): Watzlawick et al., Maturana, Heji/Köck. 51

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Entscheidungsträgern als Tatsache perzeptiv und kommunikativ als weitere Entscheidungsvorschläge verfügbar zu machen). Es mag hier als fast triviales Unterfangen erscheinen, die Rolle, die Kommunikation und Perzeption für die Affirmation dessen spielen, was als Realität letztlich Anerkennung fmdet, noch eigens zu betonen. Aber "Demokratie" ist - ähnlich wie "Gott" oder die "Liebe" - ein hochgeneralisierter "Gegenstand", dessen konkrete Relevanz zwar selbst für die meisten Alltagshandlungen unterstellt aber trotzdem nur eher geahnt als wahrgenommen werden kann. Daß Demokratie als sinnliche Einheit wahrnehmbar sein muß, ist eingangs mit Legitimationsgründen des politischen Systems zu begründen versucht worden, interessant aber sind die Bedingungen, unter denen dies geschieht: daß es die Öffentlichkeit ist, die in ihrer Informationsverarbeitung "Demokratie", indem sie durch sie und mit ihr und in ihr spricht, kommunikativ als Realität affirmiert, und daß es die Massenmedien sind, die zu diesem Zweck die "Massen", uneingedenk des wie auch immer verschiedenen Gebrauchswerts für den einzelnen, auf "objektiver" Basis mit Zeichen versorgen, deren Tauschwert in seiDer abstrakten Form für alle der gleiche ist - was nicht der Fall wäre in gesellschaftlichen Konfigurationen, die hauptsächlich auf das Mediuui des Hören-Sagens, aber damit auch des Gerüchtes, Witzes oder Klatsches angewiesen wären.

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Stichwort "Medienrealität"

Daß die Medien "Realität" nicht "wirklichl(eitsgetreu" abbilden, sondern sie in ihrem Versuch der Vermittlung transformieren, stand in der Medienforschung schon sehr früh außer Frage, und der Gebrauch von Begriffen wie "Medienrealität" (Schulz 27), "Medienkultur" (Kepplinger 25) und "Medienwirklichkeit" (Schönbach 161) bedürfen heute keiner Rechtfertigung mehr. Die entscheidenden Fragen stellen sich für die Medienforschung daher eher für den Stellenwert der einzelnen Faktoren darin und deren Zusammenspiel. Einige Antworten darauf sollen nun kurz dargestellt werden. "Ein Bericht ist das verbindende Produkt von Kenner und Bekanntem, wobei der Beobachter stets eine Auswahl trifft und gewöhnlich schöpferisch tätig ist. Die Tatsachen, die wir sehen, sind abhängig von unserem Standort und die Gewohnheiten von unseren Augen" "(Lippmann 61). In der Psychologie fmdet sich dieser Komplex unter der Überschrift "selektive Wahrnehmung" verhandelt: Nicht erst bei der expliziten Erörterung eines Ereignisses oder Sachverhalts kommen individuelle Erfahrungen, Einstellungs- und Erwartungshaltungen, Stimmungen usw. zum Tragen, sondern bereits bei ihrer Wahrnehmung und dem Entschluß zur Weitergabe, ihrer Kommunikation.

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Teil II: Epistemologie der Öffentlichkeit

In den 50er Jahren wird unter dem Stichwort "Gatekeeper"52 die Selektivität vom Individuellen auf kollektive, institutionelle und organisatorische Wahrnehmungsprozesse ausgedehnt: Die individuellen Selektionen werden - hierarchisch wie funktional - gebündelt und, etwa in Form täglicher Redaktionssitzungen, zu institutionalisierten Selektionsvorgängen serialisiert. Die "Verfremdung des Tatsächlichen" ist damit nicht nur die mehr oder weniger zufällige Fehlleistung eines einzelnen, sondern wird im gegliederten Durchlauf durch die verschiedenen Selektionsinstanzen strukturell produziert53• Dies beginnt auf der vermeintlich "realitätsnahesten" Ebene der freien Mitarbeiter der Nachrichtenagenturen und der Reporter am Ort des Geschehens und setzt sich über die diversen Pressedienste, Wort- und Bildredaktionen zu bis zu Herausgeber, Rundfunkrat und sonstigen Aufsichtsgremien fort. Nach