Im Dienste des »Volkskörpers«: Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg 9783666370007, 9783647370002, 9783525370001

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Im Dienste des »Volkskörpers«: Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg
 9783666370007, 9783647370002, 9783525370001

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 177

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

Im Dienste des »Volkskörpers« Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg

von

Susanne Michl

Vandenhoeck & Ruprecht

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Umschlagabbildung Erster Weltkrieg 1914–1918: Rehabilitation Kriegsverletzter. Foto: n° 1014-10, © Agence Roger-Viollet, Paris

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abruf bar. ISBN 978-3-525-37000-1 Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln.

© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehrund Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: OLD-Media OHG, Neckarsteinach. Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Teil: Der Arzt als Wächter der Volksgesundheit . . . . . . . . . . .

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I. Grundzüge des ärztlichen Professionsverständnisses . . . . . . . . . . . 1. Ärztliche Interessenvertretungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ein ärztlicher Einheitsstand? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Individuelle und soziale Medizin – ärztliche Handlungsräume »La république sociale et médicale« – französische Ärzte in der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsche Ärzte in der öffentlichen Gesundheitspolitik . . . . . . 4. Der Arzt in den nationalen Versicherungssystemen . . . . . . . . . Der deutsche Kassenarzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der französische »médecin mutualiste« . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Der »Volkskörper« im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kollektiv- und Individualkörper im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Waffensieg an der Kriegfront. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gesundheitszustand der Truppe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Degenerierter »Volkskörper« und regenerierender Krieg . . . . . Die »Tauglichen« und die »Untauglichen« des Krieges . . . . . . . Das Individuum im Krieg: patientenrechtliche Aspekte. . . . . . 3. Der zweite Sieg an der Heimatfront . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gesundheitszustand der Zivilbevölkerung . . . . . . . . . . . . Frauenarbeit in der Kriegsindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Il faut repeupler«: Geburtenrückgang und Krieg . . . . . . . . . .

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III. Zwischenbilanz: Der Arzt im Krieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Teil: Der Kampf gegen die inneren Feinde – Sexualhygiene im Krieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Sexualhygiene in der Vorkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Die Militarisierung der Hygiene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. »Service annexe« und »cabinet prophylactique« in Frankreich . 2. Die Beratungsstellen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Der gefährdete oder der gefährliche Soldat?. . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sexualhygiene als militärische Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der ärztliche Entwurf einer epidemiologischen Karte . . . . . . .

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IV. Die Zivilbevölkerung – eine Gefahr für das Heer? . . . . . . . . . . . 1. Die professionelle Prostituierte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Des prostituées pour la durée de la guerre« - die heimliche Prostituierte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Der Krieg – eine Gefahr für die Zivilbevölkerung. . . . . . . . . . . . 1. Sexuelle Kriegsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Kriegsamenorrhoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kriegseinflüsse auf die weibliche Fortpflanzungsfähigkeit . . . .

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VI. Zwischenbilanz: Die Syphilis als nationale Gefahr . . . . . . . . . . .

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3. Teil: »Les blessés sans blessures« – Die Schockwirkungen des Kriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Kriegsverwundte oder »seelische Krüppel«? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Siegeszug der psychogenen Krankheitstheorie in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Commotion« und »émotion« in Frankreich . . . . . . . . . . . . . .

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II. Das mangelnde Gesundheitsgewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die »Begehrungsvorstellungen« in Deutschland . . . . . . . . . . . 2. Hysterie und Simulation in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die »Willensmassage« – Suggestionstherapie in Deutschland und Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die militärische Beurteilung der Kriegsneurotiker . . . . . . . . .

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III. Die Rolle der inneren Krankheitsdisposition . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Erschöpfung und Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konzeptionen der Erschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das »Kriegsherz« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die erschöpften Nerven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die »Invaliden der Tapferkeit« – Konzeptionen der Kriegsangst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Psychische Kriegsfolgen an der Heimatfront . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Zwischenbilanz und der französische Blick auf die deutsche Kriegspsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Krieg, Gesellschaft und ärztliche Deutungsmacht: eine Bilanz . .

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Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Fachzeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Schriften, Handbücher und Nachschlagewerke . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2006 von der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Dieter Langewiesche, der das Projekt von der ersten Idee bis zum fertigen Buch in allen seinen Etappen begleitet, betreut und aus Mitteln seines Leibnizpreises gefördert hat. Er hat das Thema einzugrenzen gewusst, wenn es auszuufern drohte, und immer sanft, aber nachdrücklich zum Schreiben ermuntert. Wesentliche inhaltliche Anregungen verdankt dieses Buch zudem dem interdisziplinären Austausch mit den Mitarbeitern des Tübinger Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin. Dankenswerter Weise haben sich der Medizinhistoriker Prof. Dr. Wolfgang U. Eckart und der Medizinethiker Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing als Gutachter bereitgestellt und meine Arbeit kritisch und anregend kommentiert. Der Fritz Thyssen Stiftung verdanke ich die Finanzierung einer Projektstelle sowie die Übernahme eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Das Forschungszentrum »Historial de la Grande Guerre« in Péronne hat die Arbeit mit einem Förderpreis bedacht, der es mir ermöglicht hat, ihr noch den letzten Schliff zu geben. In Paris haben mir die Mitarbeiter der Bibliothèque interuniversitaire de Médecine immer in sehr kompetenter Weise weitergeholfen. Bei den Herausgebern der Kritischen Studien möchte ich mich für die Aufnahme in ihre Schriftenreihe sowie für die Anregungen zur Bearbeitung bedanken. Wenn auch das Schreiben einer Doktorarbeit zumeist eine einsame Angelegenheit ist, tragen doch unzählige, anregende Diskussionen mit Freunden, Mitstreitern und Kollegen zu ihrem Gelingen bei. Für die Lesebereitschaft, die scharfsinnigen Kommentare und die Ermutigungen möchte ich mich besonders bei Sami Beji, Bernd Grün, Claudius Kienzle, Antje Weber und meinem Vater bedanken. Für seine Engelsgeduld danke ich von Herzen Matthias Speidel, der das Manuskript mehrmals durchgelesen hat und mir die Zeit über immer zur Seite gestanden ist. In schöner Erinnerung bleiben mir meine Arbeitsaufenthalte bei meiner Mutter in München, die während der Schreibphase immer ein offenes Ohr 9

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für mich hatte. Es waren nicht zuletzt ihre Kochkünste, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Ein letztes Dankeschön gilt meiner ganzen Familie, welche die Jahre hindurch mit mir mitgefiebert hat. Tübingen, im Januar 2007

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Susanne Michl

Einleitung Nachdem die Schlachten der ersten Kriegsmonate geschlagen waren und die blutige Kriegsrealität die anfänglichen Begeisterungsstürme eingeholt hatte, richtete sich der in einem Seuchenlazarett an der Westfront stationierte Internist Ludolf von Krehl mit einer Schrift an seine Kollegen, in der er die Einwirkungen des Krieges auf den menschlichen Organismus zu fassen versuchte: »In dieser ungeheuren Zeit des Kampfes mit allen körperlichen und seelischen Kräften kommen dem, der über die Natur der Krankheiten nachzudenken gewohnt ist, mancherlei Vorstellungen. Denn wenn das, was wir Krankheit nennen, im wesentlichen eine Reaktion des Organismus gegen besondere innere und äußere Einwirkungen darstellt, so liegt der Gedanke nahe, daß die Krankheiten jetzt im Feldzuge ein eigenartiges Gepräge tragen oder daß sogar Krankheitszustände sich entwickeln können. Schwerste körperliche Anstrengungen, außerordentliche seelische Erregungen, eine andere Ernährung nach Zusammensetzung und Menge, sowie eine völlige Wandlung der Lebensweise stürmen gleichzeitig auf eine große Anzahl von Menschen ein und halten lange Zeit an. Sollte es nicht möglich, ja wahrscheinlich sein, daß sich dabei der gesamte Zustand des Organismus innerhalb gewisser Grenzen ändert?«1

Ludolf von Krehl beschrieb nicht nur die körperlichen und psychischen Überbelastungen, denen die Soldaten ausgesetzt waren, er skizzierte ebenso ein Beobachtungsfeld, das die Ärzte während der nächsten vier Kriegsjahre in den Bann ziehen sollte. Ärzte sahen ihre Aufgabe im Kriegsgeschehen nicht allein in der medizinischen Versorgung der Kriegsteilnehmer und der in Mitleidenschaft gezogenen Zivilbevölkerung. Der Erste Weltkrieg mit seinem gewaltigen und beispiellosen zerstörerischen Potenzial stellte in den Augen vieler Mediziner ein immenses Experimentier- und Untersuchungsfeld dar, das es wissenschaftlich auszuwerten galt. Es bot sich eine einmalige Gelegenheit, eine so große Anzahl von Personen unter medizinische Obhut zu stellen. Die Konstitution der Bevölkerung sollte medizinisch erfasst und nach militärischen Maßstäben kategorisiert werden, um somit das Maß an Wehr- und Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung zu bestimmen. Ärzte fühlten sich aufgerufen, innerhalb ihres jeweiligen Spezialgebietes den Zusammenhang von »Krankheit« bzw. »Gesundheit« und »Krieg« zu fassen. Welche Aussagen konnten über die Beschaffenheit des Volkskörpers vor dem Krieg getroffen werden und wie veränderte sich diese unter den anhaltenden Kriegsbedingungen? Welche Aussichten erga1 Krehl, Betrachtungen, S. 7.

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ben sich durch den Krieg auf die zukünftige Zusammensetzung und Verfassung der Bevölkerung? Ärzte unterzogen die gesamte Gesellschaft einer sorgfältigen Anamnese, stellten eine Diagnose über ihren gegenwärtigen Kriegszustand und eine Prognose über die zukünftigen Heilungs- und Genesungsaussichten. Ihr Expertenstatus ermöglichte es ihnen, auf den gegenwärtigen wie zukünftigen »Volkskörper« einzuwirken und diesen für die Zukunft »robuster« und »gesünder« mitzugestalten. Hier schuf der Krieg neue Impulse für ein ärztliches Diskurs- und Aktionsfeld, das dem ungeheuerlichen Zerstörungspotenzial des Krieges entgegenwirken sollte. Bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sich der Wert von »Gesundheit« entscheidend gewandelt. In einer zunehmend industrialisierten Gesellschaft galt es, die individuelle und kollektive Gesundheit zu bewahren, um die Funktionstüchtigkeit der Menschen in der industriellen Produktion fortlaufend zu gewährleisten. Reinlichkeit und Hygiene als wichtige Bestandteile des Gesundheitsverhaltens blieben nicht mehr das bürgerliche Distinktionsmerkmal, wie es sich um 1800 herausgebildet hatte. Sie sollten sich nun auf die gesamte Bevölkerung erstrecken. Im Zuge dieser Entwicklung avancierten Ärzte in vielgestaltigen, aber stetig sich verstärkenden Professionalisierungsschüben zu nationalen Gesundheitsexperten. Ihr Kompetenzbereich umfasste nicht mehr allein das individuelle Arzt-Patienten-Verhältnis, sondern ebenfalls die öffentliche Gesundheitsfürsorge. Dabei ging es nicht nur darum, die erkrankten Teile der Bevölkerung so schnell wie möglich der Gesundung zuzuführen, auch die gesunden Bürger sollten durch Präventivmaßnahmen vor Krankheiten geschützt werden. Dieser Wertewandel von Gesundheit hatte Auswirkungen sowohl auf die ärztliche Profession, als auch auf die Gesellschaft, die zunehmend in die Verantwortung um die eigene und um die kollektive Gesundheit gezogen wurde. Die gesundheitliche Kontrolle über die eigene körperliche und seelische Funktionstüchtigkeit avancierte zu einem wichtigen Zugehörigkeitsmerkmal zur Volksgemeinschaft. Ob sich der »Volkskörper« gesundheitlich bewähren würde und ob er siegreich den Krankheitsrisiken widerstehen könne, wurde zur nationalen Sache erhoben. Kriege im Allgemeinen und der erste technologisierte Massenkrieg von 1914–1918 im Besonderen brachten diese Entwicklung an einen Höhepunkt. Sich selbst gesund und wehrfähig zu erhalten, stellte eine oberste militärische Pflicht dar. Im Interesse der Volksgemeinschaft wurde nun von jedem einzelnen Bürger zweierlei gefordert: Einerseits sollte er sein Leben und seine Gesundheit für das Vaterland opfern. Andererseits durfte er sich keine Krankheit zuschulden kommen lassen und musste sich für das Vaterland gesund erhalten. Ärzte beteiligten sich mit emphatischer Begeisterung an der Gesundheitspropaganda in einem Krieg, der Millionen von Menschen ihre Gesundheit raubte. Die Ärzte richteten ihren Blick nicht nur auf die männliche Militärbevölkerung. Da in die Kriegsanstrengungen alle Teile der Bevölkerung invol12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

viert waren, wurde die Sorge um die eigene Gesundheit dem Soldaten an der Kriegsfront wie der Frau an der Heimatfront auferlegt. Unter militärischen Vorzeichen setzte sich eine Entwicklung fort, im Zuge derer die Frau als Trägerin der Volksgesundheit vereinnahmt wurde. Durch ihre Gebärfähigkeit sicherte sie den Volksbestand auf die kommenden Generationen hinaus, ebenso wie der Soldat ihn für die aktuellen Generationen verteidigte. Aus ärztlicher Sicht oblag es der Frau, die zukünftigen Armeen vorzubereiten. Die Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, dieses im Krieg hoch aufgeladene Spannungsfeld von Gesundheitsdiskurs und -verhalten einerseits und Krankheitsrisiko Krieg andererseits in den ärztlichen Debatten zwischen 1914 und 1918 zu untersuchen. Im deutsch-französischen Vergleich werden die Diskussionsforen, speziell die Publikationsorgane für die breite Ärzteschaft, unter diesen Gesichtspunkten ausgewertet. Im Mittelpunkt stehen die ärztlichen Denk- und Vorstellungsmuster über die Einwirkungen des Kriegs auf den Individual- und »Volkskörper« und die therapeutischen Möglichkeiten und Prognosen ihrer zukünftigen »Regeneration«. Das heißt zum einen, dass die Erschließung und Konsolidierung neuer Kompetenzbereiche und Kontrollmöglichkeiten über den Individual- und den Volkskörper in den Kriegskontext eingebettet werden. Inwieweit trug der Krieg dazu bei, das ärztliche Deutungs- und Behandlungsmonopol körperlicher Vorgänge zu konsolidieren? Zum anderen wird eine Entwicklungslinie verfolgt, im Zuge derer der einzelne Bürger in die Verantwortung für die eigene Gesundheit und für die Gesundheit des Volkskörpers gestellt wurde. Der Arzt trat hier weniger als Heilperson der Erkrankten, sondern als Erzieher und Berater der Gesunden und Gefährdeten hervor. Die Arbeit fragt somit nach der Regulierung von Krankheit und Gesundheit – eine Regulierung, die sowohl in den ärztlichen Kompetenz- und Kontrollbereich fiel, als auch dem Individuum als Pflicht und Verantwortung auferlegt wurde. Um einer diskurs- und kulturgeschichtlichen Untersuchung von Deutungsund Vorstellungsmustern eine empirische Grundlage zu geben, sind zunächst die gesellschaftlichen Trägergruppen und die institutionellen Rahmenbedingungen, in die sie eingefügt sind, präzise zu bestimmen. Das erste Kapitel über die Grundzüge des ärztlichen Professionsverständnisses in der Vorkriegszeit beschäftigt sich mit diesem Themenkomplex. Dies ist umso wichtiger, als es in dem Projekt um einen Vergleich zweier nationaler Ärzteschaften geht. In Deutschland wie in Frankreich eigneten sich die Ärzte im Laufe des 19. Jahrhunderts ein spezielles professionelles Selbstverständnis als »Wächter der Volksgesundheit« an. Der strukturelle Handlungsrahmen, der den Ärzten zur Verfügung stand, war jedoch höchst unterschiedlich. Innerhalb dieser Koordinaten bewegten sich die Ärzte auch die Kriegsjahre über. Sie mussten sich den Kriegsbedingungen anpassen und mit den gesundheitlichen Gefährdungen auseinandersetzen, denen eine Kriegsgesellschaft ausgesetzt war. Der Zeitpunkt für 13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

die Erschließung neuer Handlungsspielräume war jedoch denkbar ungünstig. Der Krieg veränderte Altersauf bau und Organisation, Mobilität und wissenschaftliche Zielsetzungen der beiden Ärzteschaften. Deswegen wurde öfter auf bewährte Strukturen, Institutionen und das Professionsverständnis der Vorkriegszeit zurückgegriffen, als dass – angesichts der hohen Herausforderungen einer Kriegsmedizin – neue Lösungen und Vorschläge Eingang in die Debatten fanden. Nach dieser Standortbestimmung der beiden Ärzteschaften in ihren jeweiligen nationalen Gesundheitssystemen wird der ärztliche Blick auf den Individual- und Kollektivkörper untersucht: Wie beurteilten die Ärzte den Gesundheitszustand der Militärbevölkerung an der Front, der Zivilbevölkerung in der Heimat sowie die gesundheitliche Gefährdungen, denen beide ausgesetzt waren? Wie sahen sie, wie es Ludolf von Krehl ausdrückte, die kriegsbedingten Veränderungen des Organismus? Der Krieg hatte gravierende Auswirkungen auf die Bevölkerung. Die Kriegsgesellschaft befand sich in ihrer Altersstruktur und dem Verhältnis von gesunden und kranken Personen im Umbruch. Millionen junger Männer starben oder kehrten als Invaliden nach Hause zurück. Dazu kam die kriegsbedingte Trennung der Männer im Militärdienst von den Frauen, die in der Heimat verblieben und dort die vormals »männliche« Arbeit in Industrie oder landwirtschaftlichen Betrieben übernahmen. Auch die Geschlechterrollen schien der Krieg, wenigstens zeitweise, auf den Kopf zu stellen. Gerade das Wechsel- und Zusammenspiel von Kriegs- und Heimatfront beschäftigte die Ärzte, die somit auch zu Produzenten von gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen wurden. Nicht nur die gegenwärtige Generation war Gegenstand ärztlicher Sorge. Ärzte versuchten noch während der Kriegszeit zu bestimmen, wie sich der Krieg auf den fortschreitenden Geburtenrückgang und die »Qualität« der zukünftigen Generationen auswirken werde. Die Befunde, die im ersten Teil herausgearbeitet wurden, bilden die Grundlage für die darauffolgenden zwei Teile, in denen die Kriegsdebatte in zwei verschiedenen medizinischen Spezialbereichen, der Venerologie bzw. Hygiene auf der einen und der Neurologie bzw. Psychiatrie auf der anderen Seite, analysiert wird. »Die« Ärzteschaft gab es 1914 nicht mehr. Der im späteren 19. Jahrhundert stark beschleunigte Differenzierungsprozess in der Medizin ging einher mit einer nicht minder starken Spezialisierung der Ärzte. Sie verstanden sich zwar als einheitlicher Berufsstand und etablierten sich als eine Profession mit allen Merkmalen, die damit verbunden waren. Doch die Heterogenität in ihrer wissenschaftlichen Spezialisierung nahm zu. Eine Untersuchung über Ärzte im Krieg kann diesen Umstand nicht außer Acht lassen. Deswegen konzentriert sich die Arbeit auf die Deutungs- und Vorstellungsmuster von spezialisierten Ärzten in ihrem Dialog mit Allgemeinpraktikern. Es geht dabei weniger um eine ausführliche Darstellung der Kriegshygiene, -venerologie oder -psychiatrie. Vielmehr leitet die oben skizzierte Fragestellung die Un14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

tersuchung dieser Teilbereiche der ärztlichen Tätigkeit und Wissenschaft. Die Auswahl der beiden Gebiete wurde durch folgende Kriterien bestimmt: Zum einen entspricht sie einer Schwerpunktsetzung in den ärztlichen Publikationsorganen. Zum anderen handelt es sich bei beiden, nach ärztlicher Interpretation, um »vermeidbare« Krankheitszustände, deren Auf kommen und Verlauf im Einflussbereich des Arztes und des Patienten lagen. Das Spannungsfeld von Gesundheitsprävention bzw. -verhalten und dem Krankheitsrisiko Krieg kann hier gut veranschaulicht werden. Diese offerierten den Ärzten ein Gestaltungspotenzial, das den gewaltigen Kriegszerstörungen und der mehr oder weniger fatalistischen Grundhaltung der Ärzte in Bezug auf die Wiederherstellung körperlicher Schwerstverletzter entgegenwirken konnte. Für die Fokussierung auf diese ärztlichen Handlungsfelder ist zudem entscheidend, dass sowohl Militärals auch Zivilbevölkerung betroffen waren. Doch enden hier die Gemeinsamkeiten. Für die Sexualhygiene wie für die Psychiatrie müssen zunächst zwei unterschiedliche Rahmenbedingungen abgesteckt werden. Der Krieg spielte in den zwei Bereichen eine unterschiedliche Rolle. Auf dem Gebiet der Sexualhygiene wirkte der Krieg indirekt: Die Trennung von männlichen und weiblichen Bevölkerungsteilen gewann eine bis dahin unbekannte Dimension. Es ist demnach zu fragen, wie Ärzte die Kriegsbedingungen nutzen und neue, militärische Kontrollmöglichkeiten über den Soldaten- und den Frauenkörper erschließen konnten. Welche Kompetenzen schrieben sich Zivilärzte innerhalb der militärischen Strukturen zu und wie wirkte sich die Militarisierung der Ärzte, der Medizin und der Patienten auf das Selbstverständnis der Ärzte aus? Die neue Bevölkerungstopographie trug dazu bei, dass neue Gefahrenzonen und Schnittstellen zwischen Männer- und Frauenfront entstanden. Es ging dabei auch um die wechselseitige Zuschreibung von Verantwortung, im Zuge derer die Ärzte klar fassen mussten, wer eine Gefahr für wen darstellte. Der Sexualhygiene der Frau kam im Krieg ein besonderes Interesse der Ärzte zu. Inwieweit ihre Gebärfähigkeit unter den Kriegsbedingungen zu leiden hatte, führte zu heftigen Diskussionen innerhalb der Ärzteschaft. Eine Untersuchung über Krankheit und Krieg im innerärztlichen Austausch darf das Phänomen der Kriegsneurosen nicht außer Acht lassen.2 In einem solchen Ausmaß und einer solchen Eindringlichkeit waren psychische Störungen noch nie zur Beobachtung gekommen. Die »blessés sans blessure«, wie es ein französischer Arzt in Worte fasste, die »Verletzten ohne Verletzung« stellten die Frage nach den Einwirkungen des Kriegs in ein ganz neues Licht und eröffneten den Ärzten einen interpretativen Raum. Wer war für das nervliche und psychische Versagen im Krieg verantwortlich? Der Krieg mit seiner beispiellosen Häufung an traumatischen Ereignissen oder das Individuum, das diesen 2 So auch Kaufmann.

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Insulten nicht standzuhalten vermochte? Symptomatisch kann hier der ärztliche Umgang mit den Kriegsversehrten und mit der Brutalität des Ereignisses Krieg untersucht werden. Die Untersuchung befindet sich an der Schnittstelle unterschiedlicher Forschungsgebiete und Disziplinen. Seit Anfang der 1990er Jahre ist der Erste Weltkrieg wieder verstärkt in den Mittelpunkt des historischen Interesses gerückt. International haben sich Historiker der »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts in erfahrungs- und kulturgeschichtlicher Perspektive genähert und dabei zahlreiche Aspekte ausgeleuchtet. 3 In Deutschland wie in Frankreich haben diese neuen Impulse und Ausrichtungen in der Weltkriegsforschung dazu geführt, die verschiedenen Ergebnisse in zwei umfangreichen Enzyklopädien zu bündeln.4 Sie geben einen guten Einblick in den derzeitigen Forschungsstand.5 Darin wurde auch berücksichtigt, wie Medizin und Ärzte auf den Ersten Weltkrieg reagiert haben.6 Trotzdem fehlte bislang eine kulturgeschichtliche Darstellung der Ärzte als »militärisches Spitzenpersonal«, ihrer Deutungsmuster und Handlungsoptionen im Krieg.7 So konstatiert Anne Lipp: »Militärgeschichte als Kulturgeschichte muß mehr sein als eine Geschichte ›von unten‹ oder eine Geschichte des ›kleinen Mannes‹. Nimmt man den innerhalb der kulturgeschichtlichen Debatte geforderten Methodenwechsel ernst, bedeutet das, gerade auch die Praxis der militärischen Eliten in ihrer Abhängigkeit von und in ihrem Gestaltungspotential für kulturelle Strukturen zu analysieren.« 8 Ausnahmen sind Untersuchungen über Themenfelder, die direkt oder indirekt ärztliche Diskurse, Deutungs- und Handlungsmuster mit einschließen, so etwa 3 Siehe in Auswahl Hirschfeld u.a., Kriegserfahrungen; ders. u.a., »Keiner fühlt sich hier …«; siehe auch den Sammelband von Buschmann u. Carl und ihren programmatischen Aufsatz in diesem Sammelband: dies., Zugänge. Im Rahmen des Tübinger SFB 437 »Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit« ist eine Vielzahl von Untersuchungen entstanden, die sich der Erfahrungsgeschichte von Kriegen widmeten. Sie gehen von der Fragestellung aus, wie sich die Kriegserfahrung bestimmter Gruppen auf die Entwicklung von Gesellschaften ausgewirkt hat. 4 Hirschfeld u.a. (Hg.), Enzyklopädie; Audoin-Rouzeau u. Becker (Hg), Encyclopédie. 5 In der von Hirschfeld u.a. herausgegebenen Enzyklopädie fassen Gerd Krumeich und Gerhard Hirschfeld die Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg zusammen: Krumeich u. Hirschfeld, S. 304–315. 6 Eckart, Medizin; Delaporte, Médecine; dies., Névroses. 7 In Deutschland blieb die Beschäftigung mit medizinischen Quellen lange Zeit den Medizinhistorikern überlassen. Nur zögerlich entdeckten auch Historiker ohne medizinische Ausbildung dieses Feld für sich. Das mag vor allem an der Institutionalisierung des Fachs und der Angliederung der medizinhistorischen Institute an die Medizinischen Fakultäten liegen. In Frankreich gibt es nur wenige Lehrstühle für Medizingeschichte, so dass die Einbeziehung der Medizin in gesellschaftshistorische Untersuchungen bereits früher eingesetzt hat. Auf diesen Umstand machen auch aufmerksam: Bueltzingsloewen; Bonah, S. 31f. 8 Lipp, S. 222. Der von Kühne u. Ziemann herausgegebene Sammelband bietet einen guten Überblick über die neuere Kriegsforschung.

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die Untersuchungen über Kriegsinvalidität, Krüppelfürsorge oder zur Kriegsopferversorgung.9 Auch in Frankreich plädieren Wissenschaftler um den Historiker Stéphane Audoin-Rouzeau seit einem Jahrzehnt für eine neue »histoire culturelle de la Grande Guerre«.10 In dieser kulturgeschichtlichen Perspektive nehmen einige Historiker den Körper, das Leiden und den Schmerz zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen.11 Der Historikerin Sophie Delaporte ist es zu verdanken, zahlreiche Aspekte der französischen Ärzteschaft und Medizin beleuchtet zu haben.12 Obwohl in Frankreich der Erste Weltkrieg in der Geschichtsschreibung einen großen Raum beansprucht, stellt die Arbeit von Delaporte eine Pionierleistung dar. Sie konnte auf den reichen Fundus im Archiv des Militärkrankenhauses Val-de-Grâce zurückgreifen. Das Archiv mit angegliedertem Museum wurde bereits im Weltkrieg gegründet, um die »großen Leistungen der Ärzte« im Krieg für die Nachwelt zu erhalten. Eine medizinhistorische Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand »Medizin/Arzt und Krieg« setzte im deutschsprachigen Raum verstärkt in den 1980er Jahren ein, und zwar zunächst im Zusammenhang mit der ärztlichen Friedensbewegung gegen den Atomkrieg.13 Konzentriert hatten sich diese Studien vor allem auf die ideologische Ausrichtung einer Ärzteschaft, die mit Begeisterung in den Krieg zog und sich in den Dienst der nationalen Sache stellte. Das vielschichtige Thema Arzt und Krieg wurde nur langsam und vorrangig von Randgebieten aus, vor allem der Psychiatrie, erschlossen.14 Erst der 1996 von Wolfgang U. Eckart und Christoph Gradmann herausgegebene Sammelband öffnete der medizinhistorischen Erforschung des Ersten Weltkriegs auch kultur- und erfahrungsgeschichtliche Zugänge, die bis dahin noch keinen Eingang in die Medizingeschichte gefunden hatten.15 Der Band bietet ein weites Spektrum an Themen und methodischen Zugängen. Professions- und Wissenschaftsgeschichtliche Beiträge sowie die Untersuchung der Verflechtung ziviler 9 Kienitz, Beschädigte Helden; Ulrich, Behandlung der Kriegsopfer, S. 140–156; Whalen; Wall u. Winter (Hg.). 10 Siehe programmatisch Audoin-Rouzeau u. Becker, Histoire culturelle, S. 5–7. 11 Ärztliche und medizinische Aspekte finden Berücksichtigung bei: Audoin-Rouzeau u. Bekker (Hg.), Le corps, S. 43–197; Becker, Oubliés; Le Naour, Misères. Wichtige Impulse gerade für eine vergleichende Weltkriegsforschung kommen zudem aus dem 1992 eröffneten internationalen Forschungszentrum und Museum Historial de la Grande Guerre. Siehe beispielsweise das Themenheft über die Kriegsneurose: Winter (Hg.). 12 Delaporte, Le discours médical. In der publizierten Fassung finden sich weitaus nicht alle Aspekte ihrer Doktorarbeit wieder: dies., Les médecins. Ein bis dahin noch ungeschriebenes Kapitel über den Ersten Weltkrieg stellt ihre Arbeit über die französischen Gesichtsverletzten dar dies., Les Gueules Cassées. 13 Bleker u. Schmiedebach (Hg.); Riedesser u. Verderber; Winau u. Müller-Dietz (Hg.). Zu Krieg und Medizin allgemein siehe Cooter u.a. (Hg.), Medicine; ders., War, S. 1536–1573. 14 Zur Psychiatriegeschichte des Kriegs siehe Fischer-Homberger, Die traumatische Neurose; Komo; Lerner, Hysterical Men; Roudebush, A Battle of Nerves. 15 Eckart u. Gradmann (Hg.), Die Medizin.

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und militärischer Institutionen leuchten zahlreiche Aspekte des vielgestaltigen Themas »Medizin und Krieg« aus. Die Sozial- und Professionalisierungsgeschichte liberaler Berufsgruppen ist ein seit den 1980er Jahren gut erforschtes Feld. Neben Juristen fanden vor allem Ärzte große Beachtung.16 Die »Expertenberufe« eignen sich auf Grund ihrer Homogenität, die auf einer klaren Binnenstruktur und ebenso präzisen Außengrenzen beruht, zwar besonders für nationale Vergleiche, doch eine umfassende vergleichende Analyse der deutschen und französischen Ärzteschaft steht noch aus.17 Wohl aber wurden Teilaspekte, wie die Ausbildung zum Mediziner, eingehend in mehrnationalen Vergleichen untersucht.18 Diese Studien haben sich vor allem auf die Geschichte der Professionalisierung bis 1914 konzentriert. Inwieweit die Entwicklungen, die den Arztberuf gerade in den Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs tief greifend verändert hatten, durch die neuen Bedingungen im Kriegsgeschehen beeinflusst wurden, fand in der Forschung bisher weniger Berücksichtigung. Was bedeutete es für den Professionalisierungsprozess und für das professionelle Selbstverständnis der Ärzte, wenn im Krieg entwickelte medizinische Praktiken in den zivilen Bereich überführt wurden? Eine Untersuchung des professionellen Selbstverständnisses im militärischen Kontext, wie sie mit dieser Arbeit vorgelegt wird, fehlte bislang. In den letzten Jahrzehnten haben Untersuchungen über die Deutungsmacht der Medizin und das Selbstverständnis der Ärzte als Gesundheitsexperten die rein struktur- und sozialgeschichtliche Analyse erheblich erweitert. Nicht nur die Binnenstruktur der Ärzteschaften, sondern auch die Interaktionen mit politischen und öffentlichen Instanzen rückten in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Ärzte schufen sowohl medizinische als auch gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen. Als wichtigste Produzenten des wirkmächtigen Hygienediskurses in allen seinen Schattierungen – von der Individual- über die Sozial- zur Rassenhygiene – schenkten ihnen Historiker große Aufmerksamkeit.19 Diese Untersuchungen kreisen mit unterschiedlicher Gewichtung um die Pole »Gesundheit« als zunehmend politisiertes Wertekonstrukt, »Arzt« als eine der wichtigsten professionellen Interessengruppen und der Institution »Staat«, dessen Apparat die Gesundheit seiner Bürger sowohl förderte und 16 Für Deutschland/Preußen: Huerkamp, Aufstieg; Drees; für Frankreich siehe vor allem die Beiträge von George Weisz in den zwei folgenden Sammelbänden: Fox u. Weisz (Hg.); La Berge u. Feingold (Hg.); zudem: Weisz, Medical Mandarins; ders., Emergence; siehe zudem die Pionierstudie: Léonard, Médecins de l’Ouest. 17 Vergleichend angelegt ist der Sammelband von Siegrist (Hg.). 18 Flexner, Medical Education; Bonner; Bonah. 19 Der wohl beste Kenner dieses Forschungsbereiches, was die deutschen Ärzte betrifft, ist Weindling, Health; ders., Epidemics; siehe zudem Labisch, Homo Hygienicus; für Frankreich: Murard u. Zylberman, Hygiène; Faure, Histoire sociale; Schneider; Carol.

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verbesserte als auch steuerte, reglementierte und disziplinierte.20 Die Politisierungsgeschichte von Krankheit und Gesundheit konzentrierte sich auf das 19. Jahrhundert als die Epoche der Industrialisierung. Diese Zeit prägte entscheidend das individuelle Gesundheitsverhalten nicht nur in bürgerlichen Schichten, sondern auch in den sozialen Unterschichten und verhalf den Ärzten ihr Marktmonopol, sowie dem Staat seine Steuerung und Kontrolle auszubauen. Die Rezeption der Schriften Michel Foucaults lenkte den Blick auf körperbezogene Disziplinartechniken im Kalkül von staatlichen und professionellen Apparaten. Die Kontrolle über den Individualkörper weitete sich auf eine Macht über die Reproduktion des Gattungskörpers und über das Leben schlechthin aus.21 Ein Macht- und Wissensdispositiv entwickelte sich zu biopolitischen Zwecken. Die feministische Theorienbildung griff die Foucaultschen Konzepte auf und verwies darauf, dass die Biopolitik sich auf den Frauenkörper als potenziell Gebärende anders auswirkt als auf den Männerkörper.22 Das Dispositiv, das die Medizin für biopolitische Zwecke bereitgestellt hat, nahm schon bei Foucault einen prominenten Platz ein und wurde von zahlreichen Medizin- und Allgemeinhistorikern wieder aufgegriffen. Eine mittlerweile unüberschaubare Forschung hat sich den Körper als theoriefähigen und historisierbaren Untersuchungsgegenstand zum Ausgangspunkt genommen.23 Einige dieser körpergeschichtlichen Abhandlungen lehnen sich an Foucault an, indem sie den Blick auf Machtphänomene über den Körper werfen. Andere wiederum beschäftigen sich mehr mit »Körperrepräsentation und -habitualisierung« sowie mit der Historizität subjektiver Körpererfahrungen. Schon der Titel dieser Arbeit legt einen körpergeschichtlichen Beitrag zur Erforschung des Ersten Weltkriegs nahe, weshalb die Arbeit in dem weiten Feld körpergeschichtlicher Abhandlungen kurz situiert werden soll. Medizinische Quellen geben meist nur unzureichend Aufschluss über leibliche Erfahrungen der Patienten. Es wäre verfehlt, vom medizinischen Fachdiskurs der Kriegsjahre auf eine körperliche und psychische Erfahrungswelt der Soldaten an der Front und der Zivilisten in der Heimat zu schließen. Ebenso wenig behandelt diese Arbeit die vermeintlich unmittelbare und traumatisierende 20 Frevert; Göckenjan; Reulecke u. Castell Rüdenhausen (Hg.); Sauerteig, Krankheit. Ein wichtiger Impuls kommt auch aus der Frauengeschichte um den Themenbereich Medikalisierung des Frauenkörpers. In dieser Perspektive siehe beispielsweise: Bergmann, Die verhütete Sexualität; Steinekke. Im deutsch-französischen Vergleich vor allem: Dienel. Der öffentliche ärztliche Diskurs wird bei Dienel, neben dem politischen, dem kirchlichen, dem volkswirtschaftlichen und demjenigen der Frauenbewegung, nur marginal behandelt. 21 Foucault, Il faut défendre la Société, S. 213–235; ders., L’ordre du discours; ders., Nietzsche, S. 83–109; ders., Machtverhältnisse, S. 104–117. 22 Diamond u. Quinby, (Hg.); Bordo, S. 13–33; Smith-Rosenberg, S. 310–352. 23 Programmatisch zur Körpergeschichte siehe Planert, S. 539–576; Porter, S. 206–232; Duden, S. 105–122 sowie der Tagungsband des Bielefelder Graduiertenkollegs Sozialgeschichte (Hg.); Sarasin, Reizbare Maschinen; ders. u. Tanner (Hg.).

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Erfahrung von Ärzten in Berührung mit bis zur Unkenntlichkeit entstellten Personen.24 Ärztliche Körpervorstellungen zeichnen sich vielmehr durch ein Arsenal an wissens- und praxisorientierten Verfahren aus, auf die der Arzt zurückgreifen kann. Sie gaben die Schablone vor, anhand derer die explosiv freigesetzte Brutalität des Ereignisses Krieg wahrgenommen und interpretiert wurde. Sie bestimmten damit die Handlungsoptionen, die sich den Ärzten anboten. Sicherlich findet in den medizinischen Fachjournalen etwa im Vergleich zur öffentlichen Tagespresse die Faktizität der ungeheuren Kriegszerstörungen einen zumeist unzensierten Eingang. Wie die Ärzte anhand ihres Expertenwissens diese gewaltige Ansammlung an körperlichen und psychischen Verheerungen identifizierten und ordneten und welche Konsequenzen sie für ihre Profession und die Gesellschaft zogen, waren die leitenden Fragestellungen bei der Auswertung des Quellenmaterials. Die vorliegende Studie ist somit an der Schnittstelle von ärztlicher Professionalisierungsgeschichte, Kulturgeschichte des Krieges und Medizingeschichte angesiedelt. Trotz der Heterogenität der spezialistisch ausdifferenzierten Ärzteschaft forcierten die Kriegsbedingungen zugleich den Willen, sich als ein homogener Berufsstand zu präsentieren, der auf der Grundlage seines medizinischen Expertenwissens einen zentralen Beitrag zur Existenzsicherung der gesamten Gesellschaft leistete. Die Ärzteschaft führte über alle Grenzen beruflicher Vereinigungen und medizinischer Fachdisziplinen, über interne generationsspezifische, politische oder soziokulturelle Schranken hinweg eine öffentliche Debatte, in der sie als Expertengruppe den Zustand der Kriegsgesellschaft diagnostizierte und mit der Fachkompetenz des Mediziners Therapien vorschlug. Als aussagekräftigste Quellengruppe haben sich für die deutsche wie für die französische Seite übergreifende medizinische Fachzeitschriften erwiesen, die nicht auf bestimmte Teile der Medizin spezialisiert waren, sondern allen Ärzten offen standen.25 Hier vollzog sich eine intensive Debatte, in der nach den fachlichen und den gesellschaftlichen Aufgaben und Möglichkeiten der Medizin und der Mediziner im Krieg gefragt wurde. 24 Die französische Historikerin und beste Kennerin der französischen Ärzteschaft im Krieg 1914/18, Sophie Delaporte, bedient sich in ihren Studien diesem Ansatz: Delaporte, Médecins. 25 In jüngster Zeit haben Medizinhistoriker sich dem »Genre Wissenschaftszeitschrift« als Reflektionsraum für die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftspolitischen Umfeld sowie als Organ des wissenschaftlichen und standespolitischen Selbstvergewisserungsdiskurses verstärkt zugewandt. Siehe beispielsweise das DFG-Projekt »Politik in deutschen und britischen medizinischen Zeitschriften 1919–1960« an der Medizinischen Hochschule Hannover im DFG-Schwerpunktprogramm »Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Deutschland im internationalen Zusammenhang im späten 19. und 20. Jahrhundert«. Medizinhistorische Untersuchungen, die die medizinischen Fachorgane als eine eigene Quellengattung mit hohem Erkenntniswert auswerten, sind selten. Oft werden Zeitschriften lediglich als Ergänzung zu medizinhistorischen Fragestellungen punktuell herangezogen.

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In diesen Publikationsorganen kamen Ärzte jeglicher Fachrichtung zu Wort. Häufig führten spezialistisch ausgebildete Mediziner die Debatte an. Ihre Deutungs- und Vorstellungsmuster diffundierten über diese Fachpresse in die breite Leserschaft, die sich aus der Lektüre Handlungsorientierungen von spezialistischer Hand wünschte. Über die Rezeption der Fachblätter können nur indirekte Schlüsse gezogen werden. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland war die spezialistische Ausdifferenzierung des Fachs Medizin bereits so weit fortgeschritten, dass sich nur wenige Allgemeinpraktiker und sei es in Form von Leserbriefen an den Debatten beteiligten. Auch wenn in dieser Arbeit von »der Ärzteschaft« die Rede ist, handelt es sich nicht um eine repräsentative Studie, sondern um eine Untersuchung kriegsbedingter Wahrnehmungsmuster und Handlungsoptionen, die von einer ganz bestimmten Diskursgemeinschaft vorgegeben und gesteuert wurden. Das Deutungsmonopol hatten meist nur eine handvoll wortführender Ärzte inne. Sie gruppierten sich aus der medizinischen Elite, vor allem aus den Universitätsprofessoren, aus den Chefärzten der Krankenhäuser und aus renommierten ärztlichen Zirkeln, wie etwa der Académie de Médecine. Diese Gruppierungen befanden sich zum größten Teil in der Heimat und wurden nicht für den Heeresdienst an der Front herangezogen. Front- und Heimatärzte tauschten sich in der Kriegszeit selten aus, wenn auch der Dialog nicht gänzlich abwesend war. Die Auseinandersetzung zwischen einer medizinischen »Aristokratie« und dem Gros der praktizierenden Ärzte wurde insbesondere in Frankreich heftig geführt.26 Trotzdem waren es gerade die ausgewählten Journale, die diese Kluft überbrücken wollten. In beiden Ländern druckten die Schriftleitungen der Zeitschriften die regelmäßigen Berichte der ärztlichen Vereinigungen ab. Wenn diese auch zumeist knapp gehalten waren, geben sie doch Aufschluss über die Themen, die in den unterschiedlich geographischen wie spezialisierten Vereinen diskutiert wurden. In diesen Publikationsorganen nahmen die wissenschaftlichen Abhandlungen bei weitem den größten Raum ein. Standespolitische Fragen rückten in den Hintergrund. Der Krieg stellte die Ärzte vor neue wissenschaftliche Herausforderungen. Der Arzt in seinem eigenen Selbstverständnis trat im Kriegsgeschehen vor allem als Wissenschaftler hervor, welcher der gewaltigen Zerstörungswucht des Krieges seine heilbringende Wissenschaft entgegensetzen wollte. Dementsprechend beschränkt sich diese Arbeit nicht darauf, den Arzt lediglich als Vertreter seines Standes zu untersuchen und den Wissenschaftler außer Acht zu lassen. Sie versteht sich auch als einen Beitrag zur Medizingeschichte des Krieges. Wie wurden medizinische Theorien und Methoden in einen bestimmten historischen Kontext eingebettet, dem Kriegsgeschehen angepasst, reaktiviert und erneuert und welche sind angesichts der gesundheit26 Siehe hierzu die Ausführungen in Kap. I.2. »Ein ärztlicher Einheitsstand?« dieser Arbeit.

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lichen Katastrophe neu entstanden? Eine Studie der »longue durée« zeichnet die Geschichte medizinischer Konzepte nach, welche die Zeit überdauert hatten. Eine Untersuchung über einen kleinen Zeitraum ermöglicht es hingegen, die Funktionsweisen einer Wissenschaft in einer spezifischen, historischen Situation zu analysieren. Der Krieg änderte die Arbeitsbedingungen der Ärzte grundlegend. Ihre Tätigkeit übten sie zwischen 1914 und 1918 unter militärischen Vorzeichen aus: Die Ärzte sahen sich nun einer Gesellschaft gegenüber, die aufs höchste in die Kriegsanstrengungen involviert und dadurch ganz anderen gesundheitlichen Schädigungen ausgesetzt war als in Friedenszeiten. Ihre Hauptsorge galt nicht mehr nur dem Männerkörper, sondern dem Soldatenkörper, was das Arzt-Patienten-Verhältnis maßgeblich beeinflusste. Ärzte schöpften ihre Autorität nicht nur aus ihrem Expertenwissen, das sie sich in ihrer spezialisierten Ausbildung angeeignet hatten. Sie waren nun auch die militärischen Vorgesetzten ihrer Klientel. Mehrheitlich passten sich Ärzte in ihrer praktischen und wissenschaftlichen Ausübung scheinbar problemlos an die Kriegssituation an und eigneten sich eine spezifische Kriegsidentität an, die es im deutsch-französischen Vergleich zu untersuchen gilt. Die Untersuchung ist als eine deutsch-französische Vergleichsstudie angelegt. Eine solche komparatistische Vorgehensweise wirft immer auch die Frage der Vergleichbarkeit der ausgewählten Untersuchungsgegenstände auf. Wie lassen sich die spezifischen und singulären Konturen zweier historisch gewachsener Vergleichsgruppen herausarbeiten und einander gegenüberstellen? Die vor gut siebzig Jahren formulierte programmatische Forderung Marc Blochs, die komparatistische Herangehensweise sei eine der dringendsten Aufgabe der Geschichtswissenschaft, stieß lange Zeit auf taube Ohren der Historiker.27 Erst seit kurzer Zeit erfreut sich der nationale Vergleich eines größeren Interesses. Europäisierung und Globalisierung haben den Blick auf die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern geschärft. Eine vergleichende Studie ermöglicht es dem Historiker, gemeinsame, geschichtswirksame Faktoren hinter den singulären Ereignissen aufzuspüren. Ihr Erkenntniswert besteht darin, neue Fragen aufzuwerfen, die einer im nationalen Rahmen verharrenden Geschichtsschreibung verschlossen bleiben. Da die Gegenüberstellung zweier Vergleichseinheiten unweigerlich andere Analysekategorien hervorbringt als nationale Studien, können die Konturen nationaler Besonderheiten schärfer hervortreten. Dem Vergleich wurde von vielen Seiten der Vorwurf gemacht, dass er den nationalen Bezugsrahmen nicht überwinde, sondern vielmehr konsolidiere. Jeder vorgefundene Unterschied würde zugleich zum nationalen Spezifikum erhoben. Sodann käme den historischen 27 Zum Vergleich siehe Bloch, S. 16–40; Haupt u. Kocka (Hg.); Kaelble, Der historische Vergleich; ders. u. Schriewer (Hg.); Paulmann, S. 649–685.

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Prozessen nur wenig Bedeutung zu, da sich der Vergleich wie in einer experimentellen Versuchsordnung zwangsläufig statischen Untersuchungseinheiten nähern müsse. Dies mündete in der Kritik, wie sie beispielsweise Michel Espagne harsch hervorbrachte, die vergleichende Methode sei immanent unhistorisch.28 Espagne wollte dieser Gefahr entgegenwirken, indem er dem Vergleich die Transfergeschichte entgegensetzte. Der Transfer beschäftigt sich mit Phänomenen der Übertragung von Konzepten, Normen, Bildern und Repräsentationen von einer Kultur in die andere und den Umwandlungs- und Übersetzungsprozessen, die dabei stattfinden. Trotz der unversöhnlichen Haltung, mit der sich die Protagonisten der beiden Methoden gegenüberstanden, wurden mittlerweile Vergleichs- und Transfergeschichte gewinnbringend verknüpft.29 Sie bedingen sich gegenseitig. Wenn Transfer und Aneignungsprozesse von einer Gesellschaft in die andere untersucht werden, bedarf es einer vergleichenden Analyse über Ausgangsund Aufnahmekultur. Besonders für die Wissenschaftsgeschichte kann diese Verbindung von Transfer- und Vergleichsgeschichte fruchtbar gemacht werden.30 Wissenschaft findet im nationalen wie im internationalen Raum statt. Wissenschaftliche Konzepte passieren zumeist schneller die Grenze als Personen, Repräsentationen oder Mentalitäten. Ihre Träger sind in hohem Maße über die Grenzen hinweg vernetzt. Einige dieser wissenschaftlichen Netzwerke waren bereits Untersuchungsgegenstand historischer Analyse31, dennoch sind vergleichende Studien in der Medizingeschichte noch relativ selten. Diese befassen sich entweder nur mit einer nationalen Wissenschaftstradition oder sie situieren sich in einem übernationalen Raum, in dem nationale Stile und Eigenheiten aufgehoben zu sein scheinen. Die vergleichende Vorgehensweise birgt für den Historiker eine Vielzahl an Vorteilen, zweifelsohne aber auch erhebliche Schwierigkeiten und Gefahren. Die Vergleichbarkeit zweier Untersuchungsgegenstände wird – und oft nicht ganz zu Unrecht – angezweifelt und muss vom vergleichend arbeitenden Historiker stets kritisch und selbstreflexiv überprüft werden. Eine völlige Symmetrie der Quellenlage liegt nur in Ausnahmefällen vor. Begrifflichkeiten werden gegenübergestellt, die zwar annähernd das gleiche bedeuten, doch in ganz unterschiedlichen kulturellen und mentalitätsspezifischen Kontexten geprägt wurden. Dies trifft in besonderem Maße für die vergleichende Methode in der Wissenschaftsgeschichte zu. Gerade hier können sich schnell zwei me28 Espagne. 29 Middell (Hg.). 30 Siehe zum Vergleich in medizinhistorischer Perspektive Sauerteig, Vergleich, S. 266–291. 31 Siehe beispielsweise Arbeiten, die sich auch für diese Untersuchung von Relevanz erwiesen haben: Kühl; in vergleichender Perspektive der Sammelband: Eckart u. Jütte (Hg.); programmatisch zu einer Verflechtungsgeschichte siehe Werner u. Zimmermann, S. 607–636.

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dizinische Konzepte vermeintlich gleichen Inhalts gegenüberstehen, die jedoch in der nationalen wissenschaftlichen Kultur unterschiedlich rezipiert und verstanden wurden. Meinten die französischen und deutschen Ärzte dasselbe, wenn sie von »dégénérescence« oder »Degeneration«, »race« oder »Rasse«, »hystérie« oder »Hysterie« sprachen? Die sprachliche Differenz sollte jedoch weniger Hindernis als Chance sein, die nationalen Begrifflichkeiten schärfer zu umreißen. So stellt sich abschließend die Frage, ob die deutsche und die französische Ärzteschaft zwei vergleichbare Untersuchungseinheiten bilden. Die Brutalität des Ereignisses Krieg und die erhöhten Krankheitsrisiken für die Gesellschaft stellten beide vor ungeahnte neue Herausforderungen. Traf der Krieg sie auch unvorbereitet? Zunächst müssen die professionsspezifischen Merkmale der beiden Ärzteschaften vergleichend herausgearbeitet werden. Erst dann lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Deutungs- und Wahrnehmungsmustern angemessen beurteilen. Kamen sie, konfrontiert mit den gleichen gesellschaftlichen Problemen, die der Krieg erzeugte oder verstärkte, zu vergleichbaren Gesellschaftsdiagnosen und Handlungsempfehlungen? Wo lagen die Unterschiede, und wie lassen sie sich erklären? Die Frage nach der Vergleichbarkeit der gewählten Untersuchungsgegenstände stellt sich ebenso für den ausgewählten Quellenkorpus. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die beiden Fachzeitschriften: die »Deutsche Medizinische Wochenschrift« und die »Presse Médicale«. Für einen historischen Vergleich eignen sich diese beiden führenden Publikationsorgane auf Grund der ähnlichen Strukturen in Ausrichtung, Rezipienten und Produzenten, worauf bereits oben näher eingegangen wurde. Ausschlaggebend für diese Auswahl war ebenso, dass sich die Schriftführungen der beiden Journale über die Grenze hinweg kommentierten. Sie sahen jeweils in der anderen Zeitschrift eine Art Gegenpart. Ergänzend zu diesen zentralen Publikationsorganen von gesamtnationaler Bedeutung werden noch Zeitschriften mit regionalem Bezug ausgewertet: für Deutschland das »Medicinische Correspondenz-Blatt des Württembergischen Ärztlichen Landesvereins« sowie die »Münchener Medizinische Wochenschrift« und die »Berliner klinische Wochenschrift«, für Frankreich die Zeitschrift »Paris Médical«, deren Redaktionskomitee sich aus Ärzten der Pariser Medizinischen Fakultät sowie der Pariser Kliniken zusammensetzte. Für den Blick in die Regionen kann die Vergleichbarkeit nicht ebenso befriedigend gelöst werden wie für die gesamtnationale Ebene, gehen doch in Paris regionale und nationale Einrichtungen ineinander über. Die spezifische Situation in Frankreich während des Krieges erlaubt es jedoch nicht, eine andere regionale Ärzteschaft als die Pariser zu berücksichtigen, denn die regional ausgerichteten ärztlichen Zeitschriften stellten ihr Erscheinen bei Kriegsbeginn ein. Die ärztliche Mobilisierung konnte einen normalen Ablauf der Vereinssitzungen, deren Protokolle und Vorträge einen großen Teil der Zeit24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

schriftenbeiträge ausmachten, nicht gewährleisten. Die Zeitschrift »Marseille Médicale« erschien von Ende 1914 bis September 1916 nicht.32 Und auch nach diesem Datum enthielt sie nur die Publikationen und Sitzungsprotokolle einer kleinen Gruppe von Ärzten, die sich den militärärztlichen Fragen widmete. Auch der »Concours Médical«, die Zeitschrift der ärztlichen Gewerkschaften, stellte sein Erscheinen in den ersten Monaten des Kriegs ein und publizierte auch in der Folgezeit wenig. Die ersten Kriegsjahre hatten den Dialog eines Teils der französischen Ärzteschaft zum Erliegen gebracht. Auch der Umfang derjenigen Zeitschriften, die ununterbrochen erschienen, war im Vergleich zur Vorkriegszeit wesentlich dezimiert. Die französischen Zivilärzte in der Heimat entwickelten erst relativ spät ein spezifisches und systematisches Kriegsarbeitsfeld. Erst nachdem beinahe ein ganzes Kriegsjahr vergangen war, zeigten sich Ärzte bemüht, ihre Erfahrungen auszutauschen und zu bündeln, um sich den dringlichsten Gesundheitsfragen des Kriegs anzunehmen. Die medizinische Fachpresse bot ein wichtiges Dialogforum. In Deutschland hingegen war die wissenschaftliche Produktion trotz Papiermangel und personeller Diskontinuitäten eine ungleich höhere als in Frankreich. Sie setzte sich zudem von August 1914 an ununterbrochen fort. Zusätzlich zu diesen allgemeinärztlichen Publikationsorganen wurden noch weitere spezifische Diskussionsforen ausgewertet. Bei der spezialisierten Fachliteratur wurde darauf geachtet, dass sich zumindest ein kurzes Referat auch in der Allgemeinpresse befand. Von den Vorträgen und Resolutionen der Académie de Médecine nahm ebenfalls eine breitere Ärzteschaft Kenntnis. Diese altehrwürdige Institution gab Richtlinien für Ärzte vor, die zwar oft mit distanzierter Kritik aufgenommen wurden, sich dennoch Gehör verschaffen konnten. Medizinische Wörterbücher und Nachschlagewerke und kleinere Schriften, welche die Forschungen resümieren und Praxishilfen geben sollten, runden das Bild ab. Nach dem Krieg veröffentlichten die Ärzte umfangreiche Kompendien, die zum einen die ärztlichen Leistungen im Krieg glorifizierten, zum anderen den praktischen Zweck verfolgten, die Kriegserfahrungen zusammenzufassen und für die Nachkriegszeit nutzbar zu machen.33 32 Siehe die erste Nummer nach ihrem Einstellen 1914: Marseille Médical, 8. September 1916, Nr. 1, S. 1; siehe ebenso Lyon Médical, 24. Januar 1915, Nr. 1, S. 1, in dem berichtet wird, dass das wissenschaftliche Leben in Lyon bei Kriegsbeginn zum Erliegen kam. Auch die Zeitschrift Paris Médical unterbrach für einige Monate ihr Erscheinen: Ballet, G., A nos lecteurs, in: PaM, Bd. 15, Nr. 37, 1914/1915, S. 261. 33 Schjerning (Hg.), Handbuch, 9 Bde. In Frankreich hat eine solche wissenschaftliche Verwertung der Kriegserfahrungen bereits im Krieg eingesetzt. Das militärische Sanitätswesen hatte 1918 ein umfangreiches Werk publiziert, das den Vorwürfen einer katastrophalen Gesundheitsversorgung der Militär- und Zivilbevölkerung entgegenzutreten versuchte. Siehe Service de Santé (Hg.). 1917 wurde ein Museum im Militärkrankenhaus Val-de-Grâce eingerichtet, das sowohl Gegenstände, vor allem die Ausrüstung einer Notfallmedizin, als auch schriftliche Quellen für die medizinische Nachwelt konservieren sollte.

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1. Teil: Der Arzt als Wächter der Volksgesundheit Nachdem über ein Kriegsjahr vergangen war, umriss der Berliner Arzt und Gesundheitspolitiker Adolf Gottstein das zukünftige Aufgabenfeld der Ärzte: »Der kühne Traum, der dem jungen Virchow vorschwebte, als er in seinen Jugendaufsätzen den Arzt als den wichtigsten Berater einer körperlich und geistig sich harmonisch entwickelnden Gesellschaft hinstellte, wird jetzt zur Wirklichkeit. […] Denn die Ärzte werden in der nächsten Zukunft nicht mehr allein die Helfer der Erkrankten sein, sondern in viel größerem Umfange die Erzieher und Berater der Gesunden und Gefährdeten.«1

Der Kompetenzbereich des Arztes sollte fortan beides umfassen: einerseits die Erforschung von Krankheiten und Fürsorge der Kranken, andererseits eine weitreichende Expertise in allen Gesundheitsangelegenheiten. Der Krieg, so Gottstein, beschleunige diese Entwicklung, deren Ansätze sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatten. Um 1800 war es durchaus noch nicht selbstverständlich, dass die Ärzteschaft den Rang eines Gesundheitsexperten für sich beanspruchen konnte. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein war das medizinische Wissen weitgehend spekulativ, symptomorientiert und von geringer Wirksamkeit. Ärzte standen in einem patronageartigen Abhängigkeitsverhältnis zu den wenigen wohlhabenden Patienten. Es fehlte noch die Distanz zwischen Experten und Laien, wie sie im Laufe des 19. Jahrhundert eine immer entscheidendere Rolle spielen sollte. Mit den Fortschritten einer zunehmend naturwissenschaftlich orientierten Medizin ging auch ein Wandel der gesellschaftspolitischen Stellung des Arztes, des Spektrums seiner Handlungsfähigkeit und seines Selbstverständnisses einher. In diesem Kapitel soll diese Entwicklung in ihren Grundzügen nachgezeichnet werden. Der Fokus richtet sich dabei auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der deutschen und französischen Ärzteschaft, um somit den Professionalisierungsschub des Ersten Weltkrieges in den historischen Kontext einbetten zu können. Die Professionalisierung der beiden Ärzteschaften vollzog sich trotz etlicher gemeinsamer Merkmale unter unterschiedlichen strukturellen Rahmenbedingungen. Der Historiker Christophe Charle stellt angesichts dieser »nationalen Sonderwege« den recht allgemeinen Begriff »Professionalisierung« und »Professionalismus« in Frage.2 In der Forschung fehlt in der Tat eine 1 Gottstein, A., Krieg und Gesundheitsfürsorge, in: DMW, 21. Oktober 1915, Nr. 43, S. 1281. 2 Charle, S. 140.

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einheitliche Definition dieser komplexen und vielgestaltigen Entwicklung. Im anglo-amerikanischen Raum hat die Beschäftigung mit den sogenannten professions bereits in den fünfziger Jahren eingesetzt.3 Die soziologische Forschung stellte sich zunächst die definitorische Aufgabe, Merkmale und Kriterien zusammenzutragen, welche die professions gegenüber anderen Berufsgruppen auszeichneten. Die anschließende Diskussion setzte sich kritisch mit den oft starren funktionalistischen Modellen auseinander. Ab den siebziger Jahren dominierten in der Forschung makrosoziologische und historische Untersuchungen, die sich nicht mehr auf die Grundstruktur einzelner Professionen konzentrierten, sondern die Professionalisierung als einen dynamischen und gesamtgesellschaftlichen Vorgang zum Gegenstand hatten.4 Im Bereich der Medizinsoziologie und -geschichte richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Rolle einer standardisierten wissenschaftlichen Ausbildung, die es den Professionsangehörigen ermöglichte, durch klare soziale Außenabgrenzung den Zugang zum Beruf zu kontrollieren. In den Mittelpunkt der Forschungen rückten zudem Fragen nach der Bedeutung staatlichen Handelns auf den Professionalisierungsprozess und den Einfluss, den die Experten wiederum auf staatliche Entscheidungen gewinnen konnten. Schließlich fokussierte sich das Interesse auch auf ökonomische Aspekte: Wie war es den Expertenberufen gelungen, sich in einem erweiterten Gesundheitsmarkt eine Monopolstellung durch Verdrängung anderer Anbieter zu sichern und wie hatten sie es geschafft, ihre Autonomie gegenüber dem Staat, öffentlichen Gesundheitsinstanzen oder den Patienten zu maximieren? Die Untersuchungen der professions gingen nun nicht mehr in Fragestellungen der Berufssoziologie auf, sie trugen auch wichtige Erkenntnisse zum Verständnis moderner Gesellschaftsstrukturen bei.

3 Einen Überblick über die Forschungsdiskussion der fünfziger bis siebziger Jahre geben Rüschenmeyer und Huerkamp, Aufstieg, S. 17f. In der französischen Sozialgeschichte haben die liberalen Berufe lange Zeit keine Beachtung gefunden. Jacques Léonards legte mit »Les médecins de l’Ouest« 1978 eine Pionierstudie über eine akademische Berufsgruppe vor. In den achtziger Jahren folgten dann Arbeiten über weitere Berufsgruppen wie Ingenieure, Literaten, Journalisten und Juristen. Zu den Gründen siehe Charle, S. 127f. 4 Als ein Initiator der Medizinsoziologie auch in historischer Perspektive ist hier zu nennen: Freidson, Ärztestand; ders., Experten; zudem Sarfatti-Larson.

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I. Grundzüge des ärztlichen Professionsverständnisses Das Bewusstsein, als liberale Profession5 für die eigenen Interessen einzutreten, entwickelte sich in Deutschland wie in Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Waren die früheren ärztlichen Verbände und Zusammenschlüsse noch weitestgehend als wissenschaftliche Diskussionsforen konzipiert, traten nun eigentliche Standesvertretungen auf, die ihre wirtschaftliche, personelle und strukturelle Autonomie vor jedweder Fremdkontrolle – sei es durch den Staat, die Krankenkassen oder die Patienten – durchzusetzen und zu bewahren suchten. Dieser erfolgreiche Prozess hob im Laufe seiner Entwicklung die Ärzteschaft zu einer staatlich und gesellschaftlich anerkannten Expertengruppe empor, die sowohl im privaten Arzt-Patienten-Verhältnis als auch in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge ihre Stimme erhob und diese aktiv mitgestaltete.

1. Ärztliche Interessenvertretungen In Deutschland schufen die Reichsgründung und die darauf folgenden medizinalpolitischen Neuregelungen auf Reichsebene einen neuen Aktionsrahmen für den Auf bau reichsweiter Organisationsstrukturen.6 Zuvor kann von einer einheitlichen Standespolitik keine Rede sein, obwohl einige Ärzte schon 1848 politisch aktiv waren. Doch zeigte gerade die Ärztebewegung der Revolutionszeit, dass sie für eine wirksame Vertretung der Standesinteressen zu zersplittert war. Ein Dachverband wurde erst auf dem ersten deutschen Ärztetag am 17. September 1873 in Wiesbaden ins Leben gerufen. Dort fand die offizielle Konstituierung des »Deutschen Ärztevereinsbundes« statt.7 Dieser hob sich von den traditionellen Vereinsgründungen des 19. Jahrhunderts vor allem dadurch ab, dass im Mittelpunkt des Interesses nicht mehr der gesellige Austausch wissenschaftlichen Wissens und Erfahrung unter Kollegen, sondern die Durchsetzung von standespolitischen Forderungen stand. Der Ärztevereinsbund verstand sich als ein Dachverband der bereits existierenden Lokalvereine. Die standespolitischen Forderungen des Ärztevereinsbundes waren geprägt von der im 19. Jahrhundert vorherrschenden Zwitterstellung der Ärzte im Staat: Auf der einen Seite waren sie in disziplinarrechtlicher Hinsicht den staatlichen Beamten so gut wie gleich5 Zur Bezeichnung der Berufskategorie wird im Folgenden aus dem Französischen die im deutschen etwas unübliche Bezeichnung »profession libérale« übernommen. In der deutschen Forschung wird vielmehr von »Expertenberufe«, »akademische Berufe« oder »bürgerliche Berufe« gesprochen. 6 Zum Folgenden siehe mit Fokus auf die preußische Ärzteschaft Huerkamp, Aufstieg, S. 241ff. Zur württembergischen Ärzteschaft siehe Drees. 7 Zum Ärztevereinsbund siehe Huerkamp, Aufstieg, S. 241–254.

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gestellt8, auf der anderen Seite als Gewerbetreibende auf Angebot und Nachfrage angewiesen. Obwohl die Gewerbeordnung von 1869 eine Vielzahl staatlicher Reglementierungen auf hob, etwa den Kurierzwang, den Diensteid und das Recht der Medizinalbehörden auf Entzug der Approbation, richtete sich der Ärztevereinsbund gegen die staatliche Bevormundung und sprach sich für eine eigenständige Interessenvertretung und Berufskontrolle aus. Trotz des beeindruckenden Organisationsgrads im Ärztevereinsbund9 sah sich eine Vielzahl der Ärzte nicht zufriedenstellend vertreten, was zunächst auf die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts rasch ändernde Stellung des Arztes zurückzuführen ist. Die bereits genannte Gewerbeordnung schürte die weitverbreitete Angst vor Ansehens- und Prestigeverlust des Arztberufes, der sich anderen Gewerbetreibenden gleichgestellt sah. Die Erinnerung an die staatsabhängige und vielfachen Schikanen ausgesetzte Stellung der Ärzte vor 1869 verblasste erstaunlich rasch. Der Staat sollte nun den Zusammenhalt des Standes gewährleisten. Als ein privatrechtlicher Zusammenschluss stieß der Ärztevereinsbund an die Grenzen seines Wirkungsbereichs, so dass Ärztekammern als öffentlich-rechtliche Körperschaften und staatlich anerkannte ärztliche Ehrengerichte als disziplinarische Instanzen gefordert wurden. Um die ärztliche Tätigkeit nicht mehr als Gewerbe einzustufen, sollte eine Ärzteordnung die besondere Stellung des Arztberufes rechtlich festlegen. Der Karlsruher Arzt Adolf Hoffmann arbeitete einen solchen Entwurf aus, der auf dem Ärztetag von 1882 mit einer großen Mehrheit von 69 zu 8 Stimmen angenommen wurde. Dieser sah vor, dass auch nichtbeamtete Ärzte sich an der öffentlichen Gesundheitsfürsorge aktiv beteiligten, etwa zum Zwecke der Erfassung einer Sterblichkeitsstatistik. Als Gegenleistung sollte der Staat Standesvertretungen in Form von Ärztekammern anerkennen, die in gesundheitspolitischen Fragen beratend wirken sollten. Diese hatten zudem durch besondere Disziplinarbefugnisse über die moralische Integrität der Ärzte zu wachen. 1887 entsprach die preußische Regierung den ärztlichen Forderungen. Der Ausbau der öffentlichen Gesundheitsfürsorge hatte es erforderlich gemacht, auch die Erfahrungen der nichtbeamteten Ärzte für die staatlichen Aufgaben nutzbar zu machen. Das preußische Ehrengerichtsgesetz von 1899 erweiterte die Disziplinarbefugnisse der Ärztekammern erheblich. Ehrengerichtlich sollten diejenigen Ärzte bestraft werden, die in ihrer Berufstätigkeit sowie in ihrem Privatleben sich ihres Standes nicht würdig erwiesen hatten. Nicht belangt werden konnten allerdings politische, wissenschaftliche und religiöse Handlungen des 8 Kennzeichen des quasi amtlichen Charakters des Arztberufes waren: staatliche disziplinarrechtliche Befugnisse, Festlegung der Approbationsbestimmungen und möglicher Entzug, Berufseid, Kurierzwang, Festlegung eines Minimal- und Maximalhonorars (Medizinaltaxe). Siehe Huerkamp, Aufstieg, S. 241ff. 9 Ebd., S. 251, Tab. 15. Trotz starker regionaler Unterschiede stieg die Mitgliedszahl des Ärztevereinsbundes seit seiner Gründung stetig an und erreichte 1911 80% aller deutschen Zivilärzte.

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Arztes. Ehrengerichtsverfahren wurden häufig eingeleitet, vor allem auf Grund von kollegialem Fehlverhalten, unerlaubter Reklame und missbräuchlicher Bezeichnung als »Spezialarzt«. Die Situation änderte sich abermals grundlegend mit der Einführung der Gesetzlichen Krankenversicherung 1883, verschob sich doch nun die Abgrenzungstendenz vom Staat hin zu einer dritten, zumal sozialdemokratisch geprägten Instanz: Die Krankenkassen drohten durch den Abschluss von Verträgen als ein Arbeitgeber der Ärzte aufzutreten und den Gesundheitsmarkt durch sparsame Arzneimittelverordnung und restriktive Krankschreibungspraxis zu dominieren. Die Gründung des »Verbands der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen«, des Leipziger Verbands, der später nach seinem Gründer Hermann Hartmann in Hartmannbund umbenannt wurde, ist direkt auf diese veränderte Situation zurückzuführen. 1903 wurde der Leipziger Verband dem Ärztevereinsbund als wirtschaftliche Abteilung angegliedert. Mit dem Leipziger Verband trat aber auch eine neue Art ärztlicher Organisationsform in Erscheinung, die Konfliktlinien im Selbstverständnis der Ärzteschaft offenkundig machte: War der Ärztevereinsbund noch ein reiner Honoratiorenverband, trug der Leipziger Verband bereits deutliche Züge eines Funktionärsverbandes, der zur Erreichung seiner Ziele auch vor Methoden nicht zurückschreckte, die sich am Vorgehen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften orientierten und denen nicht alle Ärzte zustimmten.10 Die deutsche Ärzteschaft emanzipierte sich erst spät von staatlich-bürokratischer Reglementierung und nur langsam setzte sich das Prinzip der innerkollegialen, gegenseitigen Kontrolle durch. Die staatliche Dominanz in Medizinalangelegenheiten wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht wesentlich angetastet und blieb auch bis Anfang des 20. Jahrhunderts ein entscheidender Faktor. Noch bis in das 20. Jahrhundert hinein bewegte sich die Debatte um die Berufsautonomie zwischen zwei Polen: der Forderung nach vollständiger Beamtung und Besoldung des Ärztestandes durch den Staat einerseits – zünftlerische Bestrebungen bestanden noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts11 – und der nach reiner Selbstorganisation und Selbstkontrolle des Arztberufes andererseits. Für den Historiker Michael H. Kater bildet der Gegensatz zwischen angestrebter beruflicher Autonomie und der Einordnung in das obrigkeitsstaatliche Gebilde das bestimmende Charakteristikum der Ärzteschaft im Kaiserreich.12 Der Gewinn an naturwissenschaftlich-medizinischem Fachwissen stärkte jedoch das Selbstbewusstsein der Ärzte, die nun ihre Belange und die Formation einer eigenen berufsspezifischen Identität selbst in die Hand nehmen wollten. Loyalitätskonflikte zum traditionellen staatsgebun10 Huerkamp, Ärzte und Professionalisierung, S. 379ff. 11 Huerkamp, Aufstieg, S. 244. 12 Kater, S. 677–701.

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denen Verständnis blieben jedoch nicht aus und so bewegte sich die Ärzteschaft noch kurz vor Kriegsausbruch im Spannungsfeld zwischen Staatsloyalität und liberaler Profession. In Frankreich war die Ärzteschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts in eine tiefe Krise geraten.13 In den Städten standen zu viele Ärzte nur wenigen zahlungsfähigen Kunden gegenüber. Auf dem Land herrschte hingegen ein drastischer Ärztemangel. Das Medizinalwesen wurde durch das Gesetz vom 10. März 1803 aus der napoleonischen Ära geordnet, dessen Grundsätze das ganze 19. Jahrhundert hindurch unangetastet blieben. Dieses Gesetz hatte einen Gegensatz von Heilpersonen erster und zweiter Klasse begründet.14 Der Doktortitel konnte nur nach einer kostenintensiven Ausbildung an einer medizinischen Fakultät erworben werden. Den »officiers de santé« hingegen standen drei Ausbildungswege offen: Entweder verbrachten sie drei Jahre an einer medizinischen Fakultät, fünf Jahre in einem Krankenhaus oder assistierten sechs Jahre lang bei einem praktizierenden Arzt. Sie durften zudem das Département nicht verlassen, in dem sie ihre Examina abgelegt hatten. Diese Zweiteilung der Gruppe der Heilpersonen wirkte sich auf die Medikalisierung der französischen Bevölkerung sowohl in klassenspezifischer als auch in geographischer Hinsicht aus15: Ihr größeres Renommee sicherten den approbierten Ärzte eine bürgerliche bis großbürgerliche, zahlungskräftige Privatklientel in den Städten, wohingegen die »officiers de santé« die medizinische Grundversorgung in den ländlichen Gebieten übernahmen. Angesichts eines solchen Zwei-Klassen-Gesundheitssystems blieben Konflikte nicht aus. Wenn sich auch die Unterschiede zwischen den beiden Heilgruppen im Laufe des 19. Jahrhunderts anglichen, forderten die approbierten Ärzte angesichts der stetigen Überfüllungsängste und Geldknappheit doch unermüdlich die Abschaffung des »officiat«. Ärzte hatten sich bis dahin in lokalen Vereinigungen zusammengeschlossen, denen meist nur ein kleiner Aktionsraum zur Verfügung stand. Es fehlte an einer übergeordneten Instanz, welche die vereinzelten Initiativen verband und die ärztlichen Forderungen nach einer Gesetzesreform von 1803 mit Nachdruck gegenüber staatlichen Instanzen vertreten konnte. In Anbetracht 13 Faure, Histoire sociale, S. 97ff. 14 Léonard, Médecine, S. 46ff. 15 Zum Begriff der Medikalisierung siehe Loetz. Im Allgemeinen versteht man unter dem Begriff der Medikalisierung den Wandel der individuellen und kollektiven Verhaltensweisen im Bereich von Gesundheit und Krankheit. In einer »medikalisierten« Gesellschaft wurde es etwa zunehmend selbstverständlich, sich bei Krankheit in die Obhut eines Experten zu begeben. In einer kritischen Betrachtungsweise betonten in den siebziger Jahren vor allem französische Historiker die Kontrolle und Disziplinierung der Gesellschaft durch die Medikalisierung als ein von Eliten und Staat gesteuerten Prozess. Siehe Léonard, Médecins de l’Ouest; Goubert. Olivier Faure hat die Perspektive erneut verschoben: Mehr noch als die Medizin und die Mediziner hatten die Bevölkerung und die Patienten selbst die Medikalisierung voran gebracht. Siehe Faure, Histoire sociale; ders., Français.

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dieser Situation gründete der Mediziner Amédée Latour 1847 die Zeitschrift »L’Union médicale, journal des intérêts scientifiques et pratiques, moraux et professionels du corps médical«.16 Damit war der Weg für einen nationalen Zusammenschluss der bereits existierenden lokalen Vereinigungen geebnet. 1858 wurde die »Association Générale des Médecins de France« (AGMF) ins Leben gerufen, um die Standesinteressen der Ärzte gebührend zu vertreten. Seit 1880 umfasste diese Vereinigung mehr als die Hälfte aller französischen Ärzte. Bis 1903 zählte die AGMF 94 lokale Gesellschaften.17 Die hauptsächlichen Aktivitäten der AGMF betrafen die Binnenstruktur der französischen Ärzteschaft: Sie trat für die Abschaffung des »officiat«, eine wirksame Bekämpfung der Laienmediziner und eine einheitliche medizinische Ausbildung und Praxis ein, schlichtete Streitfälle zwischen Ärzten und baute eine innerkollegiale Solidarität auf. Vielen Ärzten ging der Aktionsrahmen der AGMF jedoch nicht weit genug. 1877 gründete ein ehemaliger Marinearzt, Auguste Cézilly, einen Verein, den er »Concours médical« nannte.18 Am 7. Juli 1879 erschien die erste Nummer der gleichnamigen Zeitschrift. Damit war eine Plattform geschaffen, durch die republikweit an die Ärzte appelliert wurde, sich gewerkschaftlich zu vereinigen. Gemeinsam konnten sie der Forderung nach einheitlichen Honoraren den notwendigen Druck verleihen. Schon bald sprossen syndikalistische lokale Einrichtungen aus dem Boden, den Anfang machte im Mai 1881 die Vendée. Ende 1884 zählte man 74 »syndicats médicaux« mit etwa 3 500 Mitgliedern. Obwohl das Gesetz Waldeck-Rousseau vom 21. März 1884 den Ärzten das Recht zu syndikalistischen Zusammenschlüssen verweigerte, konnten die vereinzelten lokalen Initiativen in der »Union générale des syndicats médicaux de France« (UGSM) im Juli 1884 zusammengefasst werden. Die Dritte Republik stand im Allgemeinen dem Bestreben der Ärzte wohlwollend gegenüber. Die lokalen gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse widersetzten sich dem Diktat von Versicherungsgesellschaften und Einrichtungen, welche die kostenlose Grundversorgung auf dem Land garantierten, zumeist erfolgreicher als die AGMF. Auch für eine einheitliche Honorierung der ärztlichen Leistung gegenüber Privatpatienten konnten die Gewerkschaften lokale Erfolge für sich verbuchen. Die ärztlichen Gewerkschaften bauten zudem ein solidarisches Netz von finanziellen Absicherungen für ihre Mitglieder auf, so 1884 eine Rentenkasse und 1894 die Gewährleistung finanzieller Abfindung im Krankheitsfall. In den Augen einiger Ärzte trugen die Gewerkschaften erheblich dazu bei, Konflikte zwischen den Ärzten zu schüren. Aus diesem Grund bekräftigten und kodifizierten die lokalen Vereinigungen kollegiale Verhaltensregeln. Neben diesen 16 Zum Folgenden siehe Léonard, Médecins de l’Ouest, Bd. 2, S. 1003ff. 17 Hildreth, Doctors, Bureaucrats, S. 47. 18 Zum Folgenden siehe Léonard, Médecins de l’Ouest, Bd. 2, S. 1055ff.

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wirtschaftlichen Aspekten glichen sich die weiteren standespolitischen Forderungen der »syndicats« und der AGMF in vielen Punkten. Die UGSM konnte dennoch nicht so viele Mitglieder hinter sich versammeln wie die AGMF. Von 1892 bis 1900, errechnet der Historiker Jacques Léonard, waren von 14 Ärzten acht in der AGMF und vier in lokalen Gewerkschaften organisiert, die zudem nicht immer der UGSM angeschlossen waren.19 Eine doppelte Mitgliedschaft in der AGMF und einer Gewerkschaft war nicht selten. Seit den 1890er Jahren bekräftigte der Gesetzgeber die Forderungen der verschiedenen ärztlichen Vereinigungen. Es setzte eine Welle an Reformen in der Gesundheitspolitik ein. Die Reformbewegung von 1892 bis 1902 resultierte aus einer allgemeinen Konjunktur verschiedenster staatlicher, öffentlicher sowie professioneller Interessen, die Ärzte zunehmend als Gesundheitsexperten in die demographischen Interventionen des Staates integrierte. Das Gesetz Chevandier vom 30. November 1892 über die Ausübung der ärztlichen Praxis machte den Anfang. Ihm folgten am 15. Juli 1893 das Gesetz über die »Assistance Médicale Gratuite« (AMG) und schließlich das Gesetz vom 15. Februar 1902 über die öffentliche Gesundheitsfürsorge (»protection de la santé publique«). 20 Die Ziele einer Homogenisierung der Ärzteschaft kamen mit dem Gesetz Chevandier zu einem vorläufigen Abschluss. Dieses schrieb im ersten Artikel den Grundsatz fest, dass »niemand ohne ein von der französischen Regierung ausgestelltes Diplom als Mediziner praktizieren dürfe.«21 Der Kandidat musste damit die Prüfungen an einer staatlichen universitären Einrichtung abgelegt haben, ausländische Diplome wurden nicht anerkannt. Das Gesetz wirkte den ständigen Überfüllungsängsten (»pléthore«) entgegen und förderte eine Homogenisierung des ärztlichen Berufstandes. Insbesondere die »officiers de santé« durften nun nicht mehr medizinische Grundversorgung leisten. Das Gesetz Chevandier legalisierte zudem die syndikalistischen Vereinigungen der Ärzteschaft und übertrug den Gewerkschaften Kompetenzen, um gegen das illegale Praktizieren der ärztlichen »Kunst« vorgehen zu können. Auf der Grundlage der Reformen im Gesundheitswesen konnte die französische Ärzteschaft mit Unterstützung des Gesetzgebers ihr Marktmonopol ausbauen. Zugleich begann eine Entwicklung, im Zuge derer der Staat immer mehr in Bereiche der öffentlichen Gesundheitsfürsorge vordrang. Die Ärzte befürchteten, dass ihr Beruf durch eine mehr und mehr verstaatlichte Medizin seinen liberalen Charakter einbüßen könnte, da immer mehr Ärzte eine Art Angestelltenverhältnis in öffentlichen und staatlichen Einrichtungen eingehen mussten. Die Mitglieder der Gewerkschaften und der AGMF diskutierten hit19 Ebd., S. 1082. 20 Der Wortlaut der beiden letztgenannten Gesetze findet sich in: Faure, Histoire sociale, S. 246ff. 21 Zitiert in: Léonard, Médecins de l’Ouest, Bd. 2, S. 1112.

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zig darüber, eine korporatistische Standesvertretung, ein »Ordre de Médecins« und Ärztekammern einzurichten, die auf einem staatlichen Vertrag gegründet waren und in die alle Ärzte einzutreten hatten. Vor 1914 verliefen die Debatten indes ergebnislos. Erst in der Zwischenkriegszeit wurde die Frage wieder aufgegriffen und unter der Regierung Vichy – verglichen mit Deutschland mit einiger Verspätung − ein »Ordre des Médecins« eingerichtet.

2. Ein ärztlicher Einheitsstand? Die kontroversenarmen ärztlichen Debatten der Kriegszeit vermitteln den Eindruck einer politisch, ideologisch und sozial geeinten Ärzteschaft. Konflikte der Vorkriegszeit wurden zunächst auf Eis gelegt. Der Burgfrieden bzw. die »union sacrée« waren, so scheint es, auch innerhalb der Ärzteschaften eingekehrt. Dieses gemeinsame Auftreten im Dienst der nationalen Sache verschleiert jedoch die Reibungsflächen und Diskrepanzen innerhalb der Profession. Die Herausbildung eines ärztlichen Standes schloss eine Vielzahl von Ärzten mit unterschiedlichem Wirkungsbereich, Einkommensstruktur und sozialen Status ein.22 Verschiedenste Konfliktlinien durchliefen die Ärzteschaften, die sich aus Privatärzten, verbeamteten Ärzten, Land- und Stadtärzten, Allgemeinpraktikern, Spezialisten, Krankenhausärzten, Kassenärzten, Armenärzten zusammensetzten. Es ist hier nicht der Raum, im Einzelnen auf die verschiedenen Arzttypen einzugehen. Die Aufzählung ließe sich mühelos fortsetzen, je nach dem, welche Differenzierungsmaßstäbe man ihr zugrunde legt. Überschattet wurden diese zahlreichen Konflikte von der andauernden Überfüllungsdiskussion bzw. der »pléthore«, wie sie die französische Ärzteschaft beklagte. In Frankreich und noch ausgeprägter in Deutschland stiegen die Ärztezahlen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprunghaft an. In Frankreich erhöhten sie sich von 16 005 im Jahr 1886 auf 20 673 im Jahr 1906.23 Für das Deutsche Reich verzeichnet Huerkamp im gleichen Zeitraum einen wesentlich steileren Anstieg der Ärztezahl: 1887 waren es 15 824. Bis 1909 erhöhte sich die Zahl auf 30 558.24 Der Krieg hatte Ängste um Ansehens- und Statusverlust angesichts der emporschnellenden Zahl an Medizinstudenten zunächst auf Eis gelegt.25 22 Für eine eingehende Untersuchung der heterogenen deutschen Ärzteschaft des wilhelminischen Kaiserreichs siehe Kater, S. 677–701. Kater nimmt eine detaillierte soziologische Untersuchung der deutschen Ärzteschaft vor. Es sei in diesem Zusammenhang lediglich darauf verwiesen, dass auch die medizinischen Fachdisziplinen hierarchisiert waren. So stand etwa die Chirurgie als eine »männliche« Wissenschaft ganz oben. 23 Charle, S. 132. 24 Siehe Huerkamp, Aufstieg, S. 151. 25 Zum Anstieg der Medizinstudentenzahl siehe für Frankreich Weisz, Reform and conflict, S. 70; für Deutschland Huerkamp, Aufstieg, S. 62.

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Gegen Kriegsende wurden sie allerdings ungewöhnlich rasch wieder aktuell: Klagen über die Folgeerscheinungen der Notapprobationen von jungen Medizinern, die bei Kriegsausbruch dem drohenden Ärztemangel abgeholfen hatten, gaben diesen Ängsten neuen Auftrieb und verschärften zudem den Generationskonflikt unter den Ärzten. In der Kriegszeit trat noch der Konflikt zwischen den Frontärzten, vor allem der jüngeren Generation, und den Ärzten im Heimatgebiet hinzu. Insbesondere im letzten Kriegsjahr wurde unter den Frontärzten aufgrund der langen und unvorhergesehenen Kriegsdauer die Befürchtung laut, bei bevorstehendem Kriegsende und dem Übergang zu einer Friedensmedizin den Anschluss zu verpassen: Ihre angestammte Praxis und Klientel waren in die Hände eines in der Heimat gebliebenen Kollegen übergegangen und drohten ihnen verloren zu gehen. Heimatärzte waren bei Stellungsausschreibungen, die an der Front häufig nicht einmal bekannt waren, eindeutig favorisiert. Zudem befürchteten die im Kriegsdienst tätigen Ärzte, dass die Kriegsbedingungen dem theoretischen Wissensgewinn und der praktischen Erfahrung keineswegs förderlich, sondern vielmehr abträglich waren.26 Die Begrenzung der ärztlichen Tätigkeit auf spezifische Kriegskrankheiten, vor allem Verwundungen und Seuchen, sowie die notgedrungene Automatisierung der Behandlung schürten dieses Unbehagen und waren der allgemeinen Euphorie über einen wissenschaftlichen Aufschwung diametral entgegengesetzt. Die Konfliktlinie zwischen dem meist jüngeren Front- und dem älteren Heimatarzt trat besonders in Frankreich scharf hervor. Ihre ganze Brisanz entfaltete sich in der Frage nach der »relève«, d.h. der Ablösung derjenigen Ärzte, die mehrere Monate bzw. Jahre an der Front gewesen waren, durch diejenigen, die bisher noch keinen Heeresdienst abgeleistet hatten. Den offenen Streit nahmen auch die deutschen Ärzte zur Kenntnis.27 In seiner Heftigkeit fände er, so die Redaktion der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift«, in Deutschland keine Entsprechung. Entgegen der fortschreitenden Ausdifferenzierung des Arztberufes bemühte sich die deutsche und französische Ärzteschaft im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zunehmend um Homogenität, um ihre Interessen erfolgreich vertreten zu können. Die medizinische Ausbildung war einer der wichtigsten Grundpfeiler, wenn es darum ging, einen ärztlichen Stand mit einer einheitlichen Referenzkultur zu bilden. Ärztliche Interessenpolitik richtete sich mit Vorliebe gegen den Laienheiler, den Kurpfuscher wie er in Deutschland oder »charlatan« wie er in Frankreich genannt wurde. In Frankreich erzielten Ärzte mit dem Gesetz von 1892 einen großen Erfolg. Nun durfte nur der durch ein staatliches Examen approbierte 26 Anregungen für den Übergang zur Friedenswirtschaft, in: MCWÄL, 4. August 1917, Nr. 31, S. 348. 27 La »relève« in Frankreich, in: DMW, 25. November 1915, Nr. 48, S. 1435.

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Mediziner zur ärztlichen Praxis zugelassen werden. Die staatliche Anerkennung eines Kurierprivilegs in Deutschland war hingegen wesentlich schwerer durchzusetzen. Erst das Heilpraktikergesetz von 1939 verbot eine gewerbsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne staatliche Approbation. 28 Die zahlreichen misslungenen Offensiven der organisierten Ärzteschaft machen deutlich, dass die staatlichen Instanzen von der Überlegenheit der Schulmedizin und ihren Vertretern, den approbierten Ärzten, nicht so überzeugt waren, wie es dem Selbstverständnis der deutschen Mediziner entsprochen hätte. Umso wichtiger war es, die Reform des Medizinstudiums als Stätte einer homogenen Ausbildung voranzutreiben. Das machte sich bereits in den Forderungen restriktiver Zulassungsbedingungen zur Medizinerausbildung bemerkbar. In Deutschland und in Frankreich hielten die ärztlichen Organisationen an einer humanistischen entgegen einer naturwissenschaftlich-praktischen Vorbildung fest. Die zunehmende Verwissenschaftlichung des Arztberufes im letzten Drittel des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts entfachte heftige Debatten in Medizinerkreisen. Sollte der Schwerpunkt der Medizinerausbildung mehr auf die Praxis oder auf die Wissenschaft gelegt werden? Gerade in Frankreich stießen die unterschiedlichen Interessen von Medizinern an Universitäten und an Kliniken harsch aufeinander.29 Das praktische Lernen am Krankenbett war in Frankreich ein Grundpfeiler des Medizinstudiums. Auf der »Hospital-Medizin« hatte sich das Renommee der französischen Medizin seit Beginn des 19. Jahrhunderts gestützt: Die Beobachtung der Patienten und die pathologischanatomische Untersuchung nach dem Tod hatten so manches neue Licht auf das Wesen der Krankheiten geworfen. Da sich in Deutschland die Hospitalmedizin im Vergleich zu Frankreich erst spät – fast zeitgleich mit der auf kommenden Labormedizin – durchsetzte, wurde die Auseinandersetzung um einen Richtungswechsel nicht so scharf geführt wie in Frankreich. Ein Neben- und Miteinander von theoretischen und klinischen Einrichtungen mit jeweils gut ausgestatteten Laboratorien war möglich. Die französischen Mediziner forcierten vielmehr die klinische Ausbildung. Nur zögerlich setzten sich Maßnahmen durch, das Medizinstudium auf eine naturwissenschaftliche, d.h. bakteriologische Grundlage zu heben. Die Einführung des PCN (»certificat d’études physiques, chimiques et naturelles«) im Jahr 1893, das nicht an medizinischen, sondern an naturwissenschaftlichen Fakultäten erworben werden konnte, sah vor, Medizin weniger auf eine praktische als auf eine experimentelle Grundlage zu stellen. Die Medizinkandidaten mussten ein ganzes Jahr ein naturwissenschaftliches Grundlagenstudium absolvieren, bevor sie mit dem Medizinstudium beginnen konnten. Im Vergleich zu Frankreich ersetzte in Deutschland 28 Huerkamp, Aufstieg, S. 277; siehe zum Kurpfuschertum ebenfalls: Spree, KurpfuschereiBekämpfung, S. 103–121. 29 Siehe zum Folgenden Weisz, Reform and conflict, S. 61–94.

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bereits 1861 das Physicum das Philosophicum: Von nun an wurden die fünf Fächer Anatomie, Physiologie, Physik, Chemie und »beschreibende Naturwissenschaften« (Botanik, Zoologie, Mineralogie) geprüft. Das deutsche Modell spielte im französischen Reformprozess des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts eine überragende Rolle. Nach der Niederlage von 1871 sahen französische Mediziner teils bewundernd, teils distanziert auf die institutionellen, strukturellen und inhaltlichen Errungenschaften der deutschen Wissenschaft. 30 In Frankreich kam es hingegen zu einer starken Polarisierung zwischen Klinik und Universität, obwohl diese beiden Institutionen personell und strukturell miteinander verbunden waren. Den Klinikern, die eine praktische Ausrichtung im Medizinstudium favorisierten, schloss sich eine Mehrzahl der Allgemeinpraktiker und Studenten an. In Paris kam es mehrmalig zu Ausschreitungen von Medizinstudenten, die mit den überfüllten Hörsälen und Laboratorien unzufrieden waren und sich auf ihren praktischen Beruf nur unzureichend und unangemessen vorbereitet sahen. Zwischen 1905 und 1913 störten Studenten fast jedes Jahr den normalen Lehr- und Forschungsbetrieb der Pariser Medizinischen Fakultät. Die Krise weitete sich gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aus und richtete sich zunehmend gegen die medizinische »Aristokratie« an den Universitäten. Eine Kampagne wurde von den ärztlichen Gewerkschaften organisiert, die das Lehrmonopol der medizinischen Mandarine und die Abschaffung der »agrégation«, des renommierten Universitätsdiploms, forderten. Kurz vor Kriegsbeginn kam der Reformprozess des Medizinstudiums zu einem vorläufigen Abschluss. Die Ausbildung gliederte sich fortan in drei Bereiche: theoretische Vorlesungen, praktische Laborarbeit und klinische Ausbildung. Den Forderungen der Kliniker und Befürworter einer praktischen Ausrichtung des Studiums wurde entsprochen: Medizinstudenten sollten fortan von Beginn ihrer Ausbildung an den Vormittag in einer Krankenhausstation verbringen. Das Prüfungsmonopol der Universitätsprofessoren wurde gebrochen, da nun eine Jahresabschlussprüfung vor einem Klinikarzt abgelegt werden sollte. Bereits der amerikanische Kenner der unterschiedlichen medizinischen Ausbildungssysteme, Abraham Flexner, hatte in seinem Bericht über die französische medizinische Forschung festgestellt, sie sei mehr individuell als institutionell verankert.31 In der Tat hatte der Nachdruck auf die klinische praktische Ausbildung zwar die Ausbildung zum Allgemeinpraktiker verbessert, die Entwicklung der Medizin als experimentelle Wissenschaft jedoch verschleppt. Zudem hatten die Auseinandersetzungen um eine adäquate Medizinerausbildung die Kluft zwischen einer medizinischen Elite, die sich an den Universitäten befand, und den Krankenhausärzten, denen sich die Allgemeinpraktiker 30 Mitchell. 31 Flexner, Medical Education, S. 39–41.

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angeschlossen hatten, zwischen dem wissenschaftlichen und dem praktischen Anspruch der Medizin offen gelegt. Die Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Medizin und ihrer Träger wirkte sich auch auf die Position des Arztes innerhalb der Gesellschaft entscheidend aus. Mit dem in den 1880er einsetzenden Prozess der Spezialisierung schien das Hausarztmodell zunächst ausgedient zu haben. Der Arzt als Vertreter einer objektiven Wissenschaft war nun mehr ein Techniker als ein fürsorglicher Begleiter von Familien über mehrere Generationen hinweg. In Frankreich wie in Deutschland wurde diese Entwicklung jedoch zunehmend kritisch betrachtet – sowohl von den Ärzten selbst als auch in der Öffentlichkeit. In Literatur, Theaterstücken und öffentlichen Debatten wurde ein Bild des Arztes entworfen, der sich dem Patienten nicht mehr als einem hilfsbedürftigen Menschen näherte, sondern ihn als ein zweckgebundenes Experimentierfeld betrachtete.32 Nicht zuletzt hatte die Vererbungslehre als ein wichtiger wissenschaftlicher Zweig in der Ätiologieforschung den Hausarzt wieder mehr aufgewertet. Die Familie und ihre pathologischen Strukturen waren in den wissenschaftlichen Vordergrund gerückt. Der deutsche Hausarzt bzw. der französische »médecin de famille« waren die ausgewiesenen Kenner von Familien über mehrere Generationen hinweg. Da sich so ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte, konnte er zudem erzieherisch auf das Gesundheitsverhalten seiner Patienten einwirken. In Deutschland hatte die zunehmende Spezialisierung zu einer heftigen Debatte auf dem Ärztetag von 1892 geführt, auf dem die Ärzte für die Bewahrung des Ideals des Allgemeinpraktikers und Hausarztes plädierten. In Frankreich wurde mit einer ganz ähnlichen Stoßrichtung in den Jahren 1907, 1910 und 1914 Kongresse für Allgemeinpraktiker abgehalten, zu denen sich auch viele Ärzte zusammenfanden, die nicht in den Gewerkschaften organisiert waren.33 Die Kongressteilnehmer wollten die Tätigkeit des Allgemeinpraktikers im Gegensatz zum wissenschaftlich tätigen Arzt wieder aufgewertet sehen und ihn aktiv in die öffentliche Gesundheitsfürsorge einbinden. Im Rahmen der Diskussion um die medizinische Ausbildung und die immerwährenden Klagen um die soziale Absicherung des Arztberufes trat das Bemühen der deutschen und französischen Ärzteschaft hervor, die Zahl der Medizinstudenten zu drosseln, insbesondere indem man Söhne aus dem unteren Mittelstand und nicht-akademischen Elternhäusern von einem Medizinstudium abzuhalten versuchte. Eine größere innerständische Homogenität des traditionell »vererbbaren« Arztberufes sollte somit durch eine soziale Absicherung nach unten gewährleistet werden. Zu diesem Zwecke verbreitete man insbesondere die Ansicht, dass derjenige, der nicht aus Verdienstgründen, 32 Hildreth, Doctors and Families, S. 189–209. 33 Ebd., S. 197.

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sondern aus Herzensdrang den Arztberuf ergreife, der bessere Arzt sei. Auch Frauen waren von der Ausgrenzung betroffen. In Diskussionen um die Zulassung der Frauen zum Medizinstudium nahm die Mehrheit der deutschen Ärzte eine schroff ablehnende Haltung ein. Konnten Ärztinnen zunächst lediglich als Hospitantinnen an den deutschen Universitäten Aufnahme finden und blieb ihnen die Zulassung zum Staatsexamen versagt, änderte sich das trotz massiven Protests im Jahr 1899. 1915 standen 233 Ärztinnen 33 000 Ärzten gegenüber.34 0,7% aller Ärzte waren demnach Frauen. In Frankreich wurde eine Quote von 0,8% bereits 1886 erreicht. Die Einberufung von Ärzten zum Heeresdienst konnten Frauen für sich nutzen. Sie erhielten Vertretungsposten als Assistenzärztinnen an Krankenhäusern.35 Inwieweit Ärztinnen zum Heeresdienst herangezogen wurden, lässt sich nicht eindeutig feststellen. In Deutschland gab es zu Kriegsbeginn Lazarettärztinnen. Eine Notiz aus dem württembergischen »Medicinisches Correspondenzblatt« vom Januar 1915 berichtet von der Zulassung der Lazarettärztin Elisabeth Reinicke, die ebenso wie ihre männlichen Kollegen die Uniform und Abzeichen eines Sanitätsoffiziers erhielt.36 Die ihrem Rang zustehenden Ehrenbezeichnungen mussten ihr erwiesen werden. Bereits gegen Ende des Jahres 1915 teilte der stellvertretende Kriegsminister dem Reichstag mit, dass künftig keine Frauen mehr in den Lazaretten beschäftigt werden sollten, da Ärzte in genügender Zahl vorhanden seien und »einzelne Unzuträglichkeiten diese Ausschliessung erwünscht erscheinen liessen.«37 Alle diese Ausgrenzungsmechanismen trugen zu einem Arztbild bei, das sich auf ein soziales und kulturelles Prestige in Familientradition, auf ein wissenschaftlich, akademisch erlangtes Spezialwissen, das lediglich von der männlichen Bevölkerung adäquat geleistet werden konnte, und nicht zuletzt auf die Tätigkeit des Arztes als allgemeinnützige und uneigennützige Berufung stützte.

3. Individuelle und soziale Medizin – ärztliche Handlungsräume Mit dem Auf kommen der Bakteriologie und der Verwissenschaftlichung der Medizin trat der Arzt immer mehr aus dem persönlichen Arzt-Patienten-Verhältnis heraus und weitete seinen Kompetenzbereich auf die öffentliche Gesundheitspflege sowie auf Sozial- und Hygienepolitik aus. War schon zur Zeit des Aufgeklärten Absolutismus der Gedanke der öffentlichen Gesundheitspflege verbreitet, bildeten die Fortschritte der Bakteriologie eine neue wissenschaft34 35 36 37

Huerkamp, Bildungsbürgerinnen, S. 232. Ebd., S. 233. Siehe hierzu auch Schwalbe; Bumm, Frauenstudium. MCWÄL, 16. Januar 1915, Nr. 3, S. 29. MCWÄL, 25. September 1915, Nr. 39, S. 385.

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lich-objektive Grundlage der Hygiene. Der Medizinhistoriker Heinz-Peter Schmiedebach spricht in diesem Zusammenhang von einem »neu entstandene[n] Arzttyp des nicht mehr den Einzelpatienten behandelnden, dennoch ärztlich ausgebildeten Gesundheitsadministrators«, der sich »in der Rolle des ›unpolitischen‹, auf naturwissenschaftlicher Basis operierenden, lediglich dem Volksganzen verpflichteten Beamten« sah.38 Schmiedebach hat hier die deutsche Ärzteschaft im Auge. Traf dieser Wandel des ärztlichen Selbstverständnisses jedoch im gleichen Maß auf die französische Ärzteschaft zu? Welche Handlungsspielräume ergaben sich für beide Ärzteschaften im öffentlichen Raum? »La république sociale et médicale« – französische Ärzte in der Politik »Unsere große Hygienefabrik«, so bezeichnete ein festes Redaktionsmitglied der »Presse Médicale« die Académie de Médecine.39 Diese altehrwürdige Institution von wissenschaftlich ausgewiesenen Medizinern war in der Tat ein wichtiges Gremium, das in allen Belangen des öffentlichen Gesundheitswesens den Regierungsinstanzen beratend zur Seite stand. Die Académie royale de Médecine wurde im Jahr 1820 gegründet, um die ärztliche Autorität innerhalb der Nation und gegenüber dem Staat zu stärken.40 Es handelte sich mehr um eine politische als um eine wissenschaftliche Einrichtung. Häufig wollte ein Ministerium die medizinische Meinung über ein Problem der öffentlichen Gesundheitsfürsorge einholen und löste mit seiner Anfrage eine Debatte unter den Akademiemitgliedern aus.41 Die Académie stellte sich somit weniger die Aufgabe, wissenschaftlich zu produzieren als die Wissenschaftsproduktion auf ihre Stichhaltigkeit hin zu bewerten, sie durch Preise zu fördern und sie schließlich einer praktischen Anwendung durch öffentliche und staatliche Behörden zugänglich zu machen. Sie nahm damit eine wichtige Vermittlerrolle zwischen der theoretischen Forschung und der praktischen Umsetzung ein. Ihr Aufgabenbereich erstreckte sich auf die gesamte öffentliche Gesundheitsfürsorge: Epidemien, Endemien, die öffentliche Gesundheitspolizei, die öffentliche Hygiene, die Rechtsmedizin und Impfungen. Die Akademie verstand sich nicht als ein Teil der Gesundheitsbürokratie, sie stellte sich im Gegenteil häufig vehement gegen diese. George Weisz weist darauf hin, dass in den Debatten der Académie auch die genuin ärztlichen Belange sowie die Patientenrechte gegenüber einschränkenden Staatsinterventionen verfochten wurden.42 Sie war

38 Schmiedebach, S. 95. 39 Helme, Vénus à l’Académie et la Prophylaxie des maladies vénériennes dans l’armée, in: PM, partie paramédicale, 2. Dezember 1915, Nr. 59, S. 449: »notre grande usine d’hygiène«. 40 Zur Geschichte der Académie de Médecine siehe Weisz, Medical Mandarins; ders., Elite médicale, S. 33–46; Léonard, Pouvoirs et savoirs, S. 191–194. 41 Weisz, Medical Mandarins, S. 73ff. 42 Ebd., S. 288.

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in diesem Sinne eine Interessenvertretung der liberalen Berufsgruppe der Ärzte und nicht nur ein beratendes politisches Gremium. Die Académie de Médecine spiegelte auch die Aufteilung der französischen Ärzteschaft in elitäre Pariser Ärzte und das Gros der praktizierenden Provinzärzte wider. Angesichts der Konflikte zwischen der medizinischen »Aristokratie« und den praktizierenden Ärzten wurden die Debatten und Resolutionen in der Académie einer regelmäßigen Kritik – zumeist mit einem ironischen Unterton – unterzogen. Dennoch fiel innerhalb der Ärzteschaft der Academie lange Zeit eine Monopolstellung in Belangen der öffentlichen Hygiene und Gesundheit zu. Die Diskussionen wurden in einem Bulletin abgedruckt und in den medizinischen Fachblättern verfolgt. Erleichtert wurde dieser innerärztliche Dialog von der äußersten Zurückhaltung der Académie, in ihren Resolutionen therapeutische Maßnahmen zwingend vorzuschreiben. Zumeist einigten sich ihre Mitglieder darauf, dem Allgemeinpraktiker eine möglichst große therapeutische Freiheit zu belassen. Im Zweiten Kaiserreich wurde die Monopolstellung der Académie in öffentlichen Gesundheitsfragen zum ersten Mal angegriffen.43 Nationale und lokale Kommissionen wurden gegründet, die sich mit öffentlichen Hygienefragen, Krankenhäusern und Schulen beschäftigten. Dies verschaffte einigen Ärzten eine Stellung zwischen den Notabeln und den staatlichen Amtsträgern. Zur Einrichtung eines Ministère de la Santé publique kam es dennoch erst 1930. Dank dieser Regierungseinrichtung konnten Ärzte als hohe Beamte und Bürokraten nun für die nationale Gesundheitsfürsorge über öffentliche Gelder verfügen. In der Kriegszeit waren es vor allem die Akademiemitglieder, die sich den bevölkerungs- und gesundheitspolitischen Herausforderungen stellten. Da die Académie sich vor allem aus älteren Medizinern zusammensetzte und dementsprechend wenige zum Heeresdienst eingezogen wurden, konnte sie mit großer personeller Kontinuität die Debatten fortsetzen. Das ärztliche politische Engagement beschränkte sich aber nicht nur auf eine beratende Funktion. An der Gesetzgebung der Dritten Republik waren parlamentarisch gewählte Ärzte aktiv beteiligt.44 Zwischen 1871 und 1914 gewannen 358 Ärzte die Wahlen als Abgeordnete oder Senatoren.45 In der Legislaturperiode 1910–1914 stellten sie 11,2% des gesamten Abgeordnetenhauses. Die Anzahl der Ärzte in der Periode zwischen 1876 und 1914 blieb konstant, ihr Gesamtanteil schwankte stets zwischen 10% und 12% der Parlamentarier. Im Senat saßen im gleichen Zeitraum 125 Ärzte. Zusätzlich waren in der Dritten Republik dreizehn Ärzte Kabinettsminister. Unter ihnen befanden sich be43 Siehe Zeldin, Médecins français, S. 237. 44 Zum Folgenden siehe Ellis. 45 Ebd., S. 4.

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rühmte politische Akteure: Paul Bert bereitete unter anderem die laizistischen Schulgesetze vor, Emile Combes beteiligte sich an dem Gesetz von 1905, das eine Trennung von Staat und Kirche vorsah. Zwischen 1906 und 1909 und wieder während des Ersten Weltkrieges hatte schließlich Georges Clemenceau das Amt des Premierministers inne, nachdem er in seiner Jugendzeit in der Armenfürsorge tätig gewesen war. Die rege Beteiligung von Ärzten am parlamentarischen Geschäft stellt eine französische Besonderheit dar. Obgleich Ärzte in Deutschland während der 1848er Revolution aktiv waren – in der Frankfurter Nationalversammlung saßen 31 Ärzte –, verschwanden sie unter Bismarck weitestgehend aus der Politik.46 1887 waren nur zehn Ärzte im Reichstag vertreten. 1902 hatte sich diese Zahl weiter auf sechs dezimiert. In Frankreich sah die Mehrheit der parlamentarischen Ärzte ihre politische Heimat bei den moderaten Republikanern (48,2%).47 Auch Radikalsozialisten waren zu 34,4% vertreten, gefolgt von den konservativen Republikanern mit 11,3%. Im monarchistischen und sozialistischen Lager machten sie hingegen jeweils nur etwa 3% aus. Der weitaus größte Teil der Ärzte im Abgeordnetenhaus verfocht vehement das laizistische Prinzip. Neben der Laizität beschäftigte die parlamentarischen Ärzte vor allem die soziale Frage. Sie beteiligten sich maßgeblich an der Gesetzgebung von 1893 über ländliche Gesundheitsfürsorge, 1898 über Arbeitsunfälle und 1902 über die allgemeine kostenlose Gesundheitsfürsorge. Ärztliche Abgeordnete befürworteten besonders die Ausdehnung der Gesundheitsvorrichtungen auf die ländlichen Gebiete. Ärzte traten im Parlament für die Standesinteressen ihrer Kollegen ein.48 Die Verabschiedung des Gesetzes von 1892 – ein Meilenstein in der Professionalisierung französischer Ärzte, da es ihnen das Monopol über die medizinische Praxis gegenüber anderen Heilpersonen sicherte –, war auf eine konzertierte Zusammenarbeit der ärztlichen Parlamentarier, allen voran Chevandier im Abgeordnetenhaus und Cornil im Senat, und der ärztlichen Organisationen zurückzuführen. Es kam nicht selten vor, dass sich die parlamentarischen Ärzte gleichzeitig in einer der professionellen Interessenvertretungen engagierten: 1876 beispielsweise wurden 43 Ärzte in das Parlament gewählt, von denen 23 auch Mitglieder der »Association Générale des Médecins de France« waren. Das Eintreten der Volksvertreter für spezifisch ärztliche Belange fand seinen Höhe- und gleichzeitigen Endpunkt im Gesetz von 1892. Die zunehmend engeren und spezifischeren Forderungen schwächten den politischen Arm der Ärzte im Parlament. Ihr professioneller Hintergrund bestimmte auch das Abstimmungsverhalten der parlamentarischen Ärzte in Angelegenheiten der öffentlichen Hygiene 46 Huerkamp, Aufstieg, S. 244. 47 Ellis, S. 93. 48 Ebd., S. 145–170.

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und Gesundheitsfürsorge. Dennoch waren die Mehrheitsverhältnisse auf diesem Gebiet weniger eindeutig als etwa bezüglich des Gesetzes von 1892, bei dessen Verabschiedung der Großteil der Ärzte hinter den Wortführern Chevandier und Cornil gestanden hatte. Lokale Interessen der einzelnen Volksvertreter sowie karrierepolitische Beweggründe wogen hier schwerer und ließen das Selbstverständnis eines Gesundheitsvertreters in den Hintergrund treten. Der Historiker Jack D. Ellis kann eine kleinere Gruppe von etwa 104 Ärzten, etwa 29% aller ärztlichen Abgeordneten, identifizieren, die sich durch ein großes Engagement in öffentlichen Gesundheitsfragen auszeichnete. Paul Strauss, einer der führenden Abgeordneten, sprach von einer »croisade sanitaire«, einem »Gesundheitskreuzzug«, den es vorzubereiten und durchzuführen galt. Das Parlament war hier nur eine von vielen Aktionsräumen der Ärzte: In der Académie de Médecine, der 1877 gegründeten »Société de médecine publique et d’hygiène professionnelle« und der 1907 ins Leben gerufenen »Alliance de l’hygiène sociale« waren viele der ärztlichen Abgeordneten vertreten. Es wäre jedoch verfehlt, dieses gesundheitspolitische Engagement auf den Ausbau einer ärztlichen Monopolstellung in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge zu reduzieren. Vielmehr war es im republikanischen Denken der Ärzte tief verankert. Diese Gruppe wollte das Recht auf medizinische Grundversorgung demokratisieren und dadurch das republikanische Prinzip der »fraternité« verwirklichen. Die meisten dieser Ärzte begrüßten die bakteriologische Entwicklung, welche die Medizin in den Jahrzehnten vor Kriegsbeginn genommen hatte. Dennoch waren sie weit entfernt davon, die mikroskopischen Erreger als die alleinige Entstehungsursache von Krankheiten zu benennen. Ihrem sozialpolitischen Engagement entsprechend, kam es ebenso darauf an, das Krankheit begünstigende Umfeld, die unhygienischen und ärmlichen Verhältnisse, in denen noch ein Großteil der Franzosen lebte, zu sanieren. Liberale Anschauungen, die für die ärztliche Profession charakteristisch waren, traten in diesem Zusammenhang vor den Befürwortungen einer verstärkten Staatsintervention zurück. Der Erste Weltkrieg markierte einen Wendepunkt in der politischen Aktivität der Mediziner.49 Zwar blieb die Quote der parlamentarischen Ärzte hoch, die politische Orientierung der Ärzte verschob sich jedoch vom moderaten republikanischen zum konservativen Lager. Die Ideale der Dritten Republik hatten ihre Kraft eingebüßt. Zwei Drittel der Ärzte der Legislaturperiode von 1919 gruppierten sich um den rechten »bloc national«. Diese Entwicklung hielt an: 1936 saßen 45% der Deputierten-Ärzte im ganz rechten Flügel. Die zunehmende Bedeutung einer naturwissenschaftlich fundierten Medizin zog auch strukturelle Veränderungen nach sich. Das »Comité consultatif d’Hygiène publique« (CCHP) blieb lange Zeit an das Handels- und Landwirt49 Ebd., S. 242ff.

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schaftsministerium angegliedert. Die dort vorgenommenen statistischen Erhebungen über das epidemiologische Auftreten der Krankheiten wurden mehr und mehr als ein wichtiger Bestandteil einer systematischen und übergreifenden Gesundheitspolitik wahrgenommen. 1888 erfolgte die Angliederung des CCHP an das Innenministerium. Von 1884 bis 1903 leitete Paul Brouardel das CCHP und avancierte in dieser Zeit zu einem der prominentesten und effizientesten Administratoren der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Brouardel war Mitglied der »Société de médecine publique et d’hygiène professionnelle«, die 1877 gegründet wurde. Als ein Verfechter des Pasteurismus in Frankreich hatte es sich diese medizinische Gesellschaft zum Ziel gesetzt, die Gesetzgebung der öffentlichen Gesundheitsfürsorge in Frankreich voranzutreiben und die verschiedenen Gesundheitsinstanzen in einem Ministerium zu zentralisieren. Bereits in den Jahren 1890–1891 hatte das CCHP einen Gesetzesentwurf vorgeschlagen, der eine systematische öffentliche Gesundheits- und Seuchenpolitik vorsah. Nach langjährigen Debatten im Senat und Parlament konnte das Gesetz erst 1902 in Kraft treten. Ziel war es, für die bis dahin medizinisch unterversorgten Kommunen eine öffentliche Gesundheitsbürokratie einzurichten. Es oblag den Kommunalpolitikern, Infektions- und epidemisch auftretende Erkrankungen zu melden sowie bei bereits aufgetretenen Seuchen Maßnahmen zu ergreifen. Sie sollten zudem für die Sauberkeit von Trinkwasser und Wohnungen sorgen. Eine Forderung des CCHP wurde von den meist konservativen Senatoren und Parlamentariern nicht eingelöst: Eine Gruppe von Inspektoren sollte die hygienischen Maßnahmen kontrollieren und direkt dem CCHP unterstehen. Erst die Gesetzesergänzung von 1906 erweiterte die Kompetenzen des CCHP in diese Richtung. Bei den ärztlichen Syndikalisten stieß das Gesetz von 1902 auf Ablehnung. Sie befürchteten, dass der Auf bau einer Gesundheitsbürokratie ihre eigene Privatpraxis bedrohte. Besonders der Artikel 11 des Gesetzes war den Ärzten ein Dorn im Auge, gab er doch dem CCHP das Recht, in Fragen der ärztlichen Behandlung Entscheidungen zu treffen. Wollte man dem CCHP in hygienischen und sanitären Fragen noch die Kompetenz überlassen, drohte hier ein Eingriff von staatlicher Seite in die ärztliche Berufsautonomie. De facto sollte sich dieser unscharf formulierte Artikel als wirkungslos erweisen. Die harscheste Kritik wurde jedoch der Meldepflicht entgegengebracht. Bereits das Gesetz von 1892 über die medizinische Praxis hatte eine solche Meldepflicht bei übertragbaren Krankheiten vorgeschrieben. Darunter fielen beispielsweise die Cholera, der Typhus, die Ruhr, die Diphtherie, die Pocken, Scharlach und die Pest. Syphilis und Tuberkulose zählten jedoch nicht darunter. Meldeten die Ärzte eine dieser Krankheiten nicht, drohte ihnen eine Geldstrafe von 50 bis 200 Francs. Die Einführung der Meldepflicht für übertragbare Krankheiten vollzog sich in Frankreich im europäischen Vergleich relativ spät. In Deutschland gab es bereits 1832 eine solche Regelung. Auch England und Holland hat45 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

ten zu diesem Zeitpunkt ernsthafte Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. In diesen Ländern gab es eine lange Vorbereitungsphase, die es den Ärzten ermöglichte, ihre eigene Position zwischen dem Patienten und den öffentlichen und staatlichen Gesundheitseinrichtungen zu finden und auszubauen. In Frankreich taten sich die Ärzte hingegen schwer, einer Meldepflicht zuzustimmen. Wie Murard und Zylberman in ihrem Standardwerk zur Hygiene in der Dritten Republik aufzeigen können, hielt sich das Gros der Ärzte nicht an eine solche Meldepflicht.50 In diesem Bereich wirkte das ärztliche Berufsgeheimnis als eine quasi sakrosankte Pflicht und als wesentlicher Bestandteil des ärztlichen Selbstverständnisses. Paul Brouardel selbst hatte 1887 gefordert, die ärztliche Schweigepflicht solle höchste Priorität genießen.51 Sie war der Grundstein im Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient und durfte nicht angetastet werden. Durch dieses professionsethische Gebot wurde der Arzt zu einer wichtigen Schaltstelle zwischen Patienten und Staat. Die kategorisch ablehnende Haltung gegenüber der Verletzung des Berufsgeheimnisses begann jedoch zunehmend zu schwinden. Den Anfang machte die AGMF, die bereits in den 1880er Jahren einen Verstoß gegen die Schweigepflicht befürwortete, wenn der behandelnde Arzt Patienteninformationen einem Kollegen weitergab, der diese für statistische Zwecke nutzen wollte. Tabu blieb jedoch weiterhin die Weitergabe von Informationen an außermedizinische, zumal staatliche Gesundheitsinstanzen. Im Zuge der Debatten um den Gesetzesentwurf zur öffentlichen Gesundheitsfürsorge 1902 mehrten sich Vorstöße gegen ein striktes Einhalten der Schweigepflicht.52 Eugenische Denkmuster hielten verstärkt Einzug in die ärztlichen Gesellschaften. Die kollektive Gesundheit galt es ebenso zu schützen wie die individuelle Gesundheit. Dennoch behielt die ärztliche Schweigepflicht zum Schutze des Patienten eine ungebrochene Wirkungs- und Ausstrahlungskraft im professionellen Selbstverständnis. So waren in Frankreich Fragen einer sozialen Medizin bis zum Kriegsbeginn 1914 eine elitäre Angelegenheit. Die Institutionen, die sich diesen Fragen annahmen, gruppierten sich zumeist um die wissenschaftlich ausgewiesenen Eliten der Pariser Ärzteschaft. Die französischen Allgemeinpraktiker, die in der AGMF und in den Gewerkschaften organisiert waren, hatten vor Ort einen kleinen Aktionsraum, um sich innerhalb der öffentlichen Gesundheitsfürsorge zu engagieren. Im Parlament waren zwar Abgeordnete als lokale Repräsentanten der Wahlbezirke vertreten, doch auch hier zog die organisierte Ärzteschaft nicht immer am gleichen Strang wie ihre parlamentarischen Kollegen.

50 Murard u. Zylberman, Hygiène, S. 300–304. 51 Brouardel. 52 Carol, S. 235–236.

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Deutsche Ärzte in der öffentlichen Gesundheitspolitik Die Reichsgründung hatte in Deutschland eine Medizinalgesetzgebung in Gang gesetzt, die eine weitreichende Vorsorge und Prävention ansteckender Krankheiten garantieren sollte. Am 8. April 1874 wurde das Impfgesetz als erstes Gesundheitsgesetz auf Reichsebene erlassen. Die konkrete Umsetzung des Gesetzes blieb freilich den Einzelstaaten überlassen. In Preußen etwa wurden Impfungen für die gesamte Bevölkerung zur Pflicht und infektiöse Personen konnten zwangsisoliert werden. Das Reichsseuchengesetz vom 30. Juni 1900 stellte diese gesetzgeberischen Maßnahmen auf eine bakteriologische Grundlage. Staatliche Untersuchungsstellen – das »Königliche Institut für Infektionskrankheiten« in Berlin, hygienische universitäre Einrichtungen, Typhusuntersuchungsstellen und städtische bakteriologische Untersuchungsämter – wurden systematisch und reichsweit ausgebaut. Das Kaiserliche Gesundheitsamt wurde im Zuge dieser gesetzgeberischen Maßnahmen ins Leben gerufen.53 Es war dem Reichskanzleramt direkt untergeordnet und hatte beratenden Charakter. Da die Universitäten den experimentellen Forschungen Robert Kochs zunächst skeptisch gegenüberstanden, wurde ein Großteil der Bakteriologie in diesem Reichsgesundheitsamt etabliert. Um Seuchen effizient bekämpfen zu können, wurden 1899 in preußischen Städten über 5 000 Einwohnern Gesundheitskommissionen eingerichtet. Sie gingen aus der Wahl der Selbstverwaltungskörperschaften hervor und sollten Infektionsherde ausmachen, bestehende Einrichtungen verbessern und neue vorschlagen. Ihr Aufgabenbereich erstreckte sich von den kommunalen bis hin – bezüglich der Seuchenbekämpfung – zu staatlichen Angelegenheiten. Sie stellten im Gesundheitswesen somit ein wichtiges Bindeglied zwischen den Kommunen und dem Staat dar. Innerhalb dieser Gesundheitsbürokratie nahmen Ärzte zum Teil prominente Stellungen ein. In Preußen waren die Gesundheitsbeamten eine wichtige Stütze dieser öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Hervorgegangen aus den Kreis-Physikern, wurden die beamteten Ärzte ab 1899 als Kreis-Ärzte bezeichnet. Mit der Etablierung der Bakteriologie ab 1880 verwissenschaftlichte sich zunehmend der Aufgabenbereich der Kreisärzte. Bei Ausbruch einer Seuche genügte es nicht mehr, kontrollierend einzugreifen und öffentliche Einrichtungen schließen zu lassen. Nun mussten Ermittlungen über die Ursachen anhand von bakteriologischen Untersuchungen, Trinkwasser- und Nahrungsmittelproben angestellt werden. Ab 1884 wurden hierfür in Preußen bakteriologische Fortbildungskurse für Medizinalbeamte abgehalten. Auch die neue Prüfungsordnung der medizinischen Ausbildung von 1901 setzte die Anforderungen herauf. Das Kreisarztgesetz von 1899 erweiterte den Aufgabenbereich des Gesundheitsbeamten: Er musste die gesundheitlichen Verhältnisse 53 Siehe zum Reichsgesundheitsrat: Glaser, S. 1–31.

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seines Kreises ständig beobachten, den zuständigen Behörden Vorschläge zur Abstellung von Mängeln unterbreiten und die Durchführung der Gesundheitsgesetzgebung überwachen. Das Reichsseuchengesetz von 1900 besiegelte den erweiterten Aufgabenbereich des beamteten Arztes in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Er wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Seuchenbekämpfung. Im Zuge dieser Entwicklung trat die Privatpraxis der beamteten Ärzte zunehmend in den Hintergrund zu Gunsten der öffentlichen und amtlichen Tätigkeitsfelder. Dieser mit einer Verwissenschaftlichung verbundene Ausbau des Kompetenzbereiches beamteter Ärzte rief Interessenkonflikte mit den nicht-beamteten, niedergelassenen Ärzten hervor. Vor allem in der Seuchenbekämpfung, der Impfpraxis und der Schulgesundheitspflege trat die organisierte Ärzteschaft ihren beamteten Kollegen misstrauisch gegenüber. Diese hatten sich 1883 mit der Gründung des preußischen Medizinalbeamtenvereins eine eigene Interessenvertretung gegeben. Auch in der Ministerialbürokratie in Preußen konnte sich die Medizin zunehmend professionalisieren. Ein wichtiger Schritt war die Überführung der Medizinalabteilung am 1. April 1911 vom Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten in das Ministerium des Innern. An die Stelle des juristischen Abteilungsleiters Adolf Förster wurde nun ein Arzt zum Ministerialdirektor ernannt. Der ehemalige Militärarzt Martin Kirchner – ein Schüler Robert Kochs – setzte dessen Lehren in die Praxis der staatlichen Gesetzgebung um. Die wissenschaftliche Mobilisierung in öffentlichen Gesundheitsbelangen war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – im Vergleich zu Frankreich – beeindruckend. Die französischen Historiker Murard und Zylberman zählen für den Zeitraum 17 Hygienelehrstühle in Deutschland gegenüber vier in Frankreich.54 Dazu kamen an die zehn professionelle Publikationsorgane, wohingegen den Spezialisten in Frankreich nur etwa fünf für ihren wissenschaftlichen Austausch zur Verfügung standen. Zudem wurden in Deutschland Expertennetzwerke systematisch aufgebaut.55 Der preußische Kulturpolitiker und Ministerialdirektor der I. Unterrichtsabteilung Friedrich Althoff förderte den Wissensaustausch von Staatsbeamten einerseits, Hygieneexperten und den Ärztekammern andererseits. Ein wissenschaftliches Komitee wurde ins Leben gerufen, die »Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen«, in deren Gremien über das Schulgesundheitswesen, Tuberkulosebekämpfung, Reform des Hebammenwesens, Kinderernährung, Geschlechtskrankheiten, Laienmedizin und Geburtenrückgang sowie Abtreibung debattiert wurde. Das Komitee nahm eine wichtige Vermittlerrolle zwischen der ärztlichen Profession und dem Staat ein. 54 Murard u. Zylberman, Hygiène, S. 148. 55 Zum Folgenden siehe Weindling, Hygienepolitik, S. 53.

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Der Weg über die Gesetzgebung verlief aber auch in Deutschland schleppend. Finanzielle Einzelinteressen verhinderten, dass sich eine reichsweite einheitliche Linie im Gesundheitswesen durchsetzen konnte. Es wäre jedoch verfehlt, den ärztlichen Handlungsspielraum einzig und allein auf die Anlehnung an staatsinterventionistische Maßnahmen zu reduzieren. Auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge spielten nicht nur der Staat und sein neu gewecktes Interesse an der Gesundheit als politische, soziale und nicht zuletzt militärisch wichtige Größe eine entscheidende Rolle. Die Gründung von örtlichen gesundheitspflegerischen Einrichtungen spricht für eine allgemeine Interessenverflechtung verschiedenster Bevölkerungsgruppen. Ab 1895 breiteten sich lokale Organisationen zur Bekämpfung von Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und Säuglingssterblichkeit aus. Diese gewannen teilweise finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite sowie höchste gesellschaftliche Anerkennung durch die Übernahme von Schirmherrschaften von Adligen bis hin zum Kaiserhaus. Die Heilstätten- und später Fürsorgestellenbewegung ermöglichte durch ihren örtlichen Charakter einen effizienteren und flächendeckenderen Ausbau des Gesundheitswesens als so manche gesetzgeberische Maßnahme. 1905 gab es beispielsweise 1 000 Tuberkulosefürsorgestellen. Ärzte traten in dieser Bewegung als Initiatoren und als die wichtigsten Gesundheitsexperten auf und trieben nicht zuletzt auf diesem Gebiet ihre professionspolitischen Ziele voran. Alfons Labisch spricht von einer »bürgerlichen Gesundheitsbewegung«, angesichts derer »die Medizinalgesetzgebung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nicht mehr als ausschließlicher Maßstab staatlicher Gesundheitspolitik angesehen werden« könne.56 Eine effiziente, reichsweite Gesundheitsfürsorge war nicht immer gewährleistet, da sich häufig verschiedenste Interessengruppen den lokalen Initiativen und staatlichen Maßnahmen widersetzten. Dennoch bleibt festzuhalten, dass sich der Ärztestand vom Konzept eines freien Berufes in dem Maße abwandte, in dem er sich als gefragter Gesundheitsexperte dem Staat in Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege annäherte.

4. Der Arzt in den nationalen Versicherungssystemen In der Forschung wird im Allgemeinen die eklatante Kluft zwischen Deutschland und Frankreich in der Entwicklung eines staatlichen Interventions- und Wohlfahrtsstaats hervorgehoben.57 In gesundheitspolitischen Fragen sicherte sich in Deutschland der Staat bereits recht früh durch die Einführung der obligatorischen staatlichen Versicherungssysteme eine Monopolstellung. In den 56 Labisch, Homo Hygienicus, S. 160. 57 Kaelble, Nachbarn.

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drei Bereichen der staatlichen Versicherungen, der Renten-, Kranken- und Unfallversicherung übernahm das deutsche Reich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine eindeutige Vorreiterrolle. Der deutsche Kassenarzt Der Eingriff des Staates in die allgemeinen Lebensbedingungen und in die soziale Sicherung betraf auch unmittelbar die Stellung der Ärzte als eine unabhängige Profession. Die quantitative Ausdehnung des Versicherungswesens ab 1884 führte dazu, dass die Kassenarzttätigkeit, die einzelne Ärzte früher neben ihrer Privatpraxis ausgeübt hatten, für mehr und mehr Ärzte zur wesentlichen Grundlage ihrer Existenzsicherung wurde. 1908, so schätzte ein Berliner Arzt und Reichstagsabgeordneter, waren 90% der Ärzte zu drei Viertel ihrer Zeit im Dienste der Krankenkassen tätig.58 Im Jahr 1914 waren 23% der Bevölkerung staatlich versichert. Wenn man die Knappschaftskassen und die mitversicherten Familienangehörigen hinzuzählt, erfassten die Kassen an die 50% der gesamten Bevölkerung. Das Versicherungswesen trieb die Medikalisierung der Bevölkerung entscheidend voran. Es wurde zunehmend selbstverständlich, dass sich der Erkrankte in die Obhut eines Arztes begab. Huerkamp weist nach, dass der Kassenarzt auch bei leichteren Beschwerden herangezogen wurde, die keine unmittelbare Erwerbsunfähigkeit nach sich zogen.59 Das Krankheitsverhalten veränderte sich entscheidend, und die Krankheitsschwelle wurde wesentlich gesenkt. Die ärztliche Praxis weitete sich, nach eigenem Bekunden der Ärzte, zu einem »Massenbetrieb« aus. Trotz der immer wiederkehrenden Klagen der Ärzte waren diese auch Nutznießer der Krankenkassen, die ihnen Patientenkreise erschlossen, die sich sonst wohl kaum eine medizinische Behandlung hätten leisten können. Ebenso wie die öffentliche Gesundheitspflege verhalf die Gesetzliche Krankenversicherung der Auffassung von der Nützlichkeit naturwissenschaftlicher Medizin zum Durchbruch.60 Klagen der Ärzte, unter dem Diktat des Kassenvorstandes zu stehen, brachen in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg nicht ab. Ärzte forderten eine einheitliche Vergütung, die nicht willkürlich vom Kassenvorstand festgesetzt werden sollte, sowie eine freie Arztwahl der Kassenmitglieder. Aber nicht nur Interessengegensätze zwischen Krankenkassen und Ärzten taten sich auf. Auch innerhalb der Ärzteschaft profitierten einige Kassenärzte von dem lukrativen Geschäft mit den Krankenkassen und stemmten sich gegen eine freie Arztwahl. 1913 fand diese Auseinandersetzung zwischen Ärzten und Krankenkassen einen vorläufigen Abschluss im Berliner Abkommen. Die Zulassungsautono58 Huerkamp, Aufstieg, S. 199. 59 Ebd., S. 202. 60 Herold-Schmidt, S. 82.

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mie der Kassen wurde aufgehoben und in die Hände paritätisch besetzter Vertrags- und Registerausschüsse gelegt. Die Mediziner konnten somit an den Individualverträgen mitarbeiten, was allmählich den Übergang zur organisierten freien Arztwahl freigab. Das entsprach auch dem staatlichen Interesse, das ein Gegengewicht zu den sozialdemokratisch verwalteten Kassen aufzubauen wünschte. Nach Huerkamp kommt der Gesetzlichen Krankenversicherung eine Schlüsselfunktion für den ärztlichen Professionalisierungsprozess zu: Sie beschleunigte die Akzeptanz des professionellen Experten Arzt in der breiten Bevölkerung. Dies führte dazu, dass die akademischen Berufsgruppen in einem nicht gekannten Rigorismus ihre materiellen und standespolitischen Interessen durchsetzen konnten.61 Trotzdem hatte die Einführung der Zwangsversicherungen den Konflikt zwischen den Kassenärzten und den Ärzten mit Privatpraxis verschärft. Er konnte sich nur in dem Maße lösen, in dem immer mehr Ärzte zu ihrer Privatklientel Kassenpatienten behandelten. Der französische »médecin mutualiste« Im Versicherungswesen hatte Frankreich in den Jahren vor Kriegsbeginn seinen Rückstand gegenüber dem Nachbarland aufgeholt. 1910 wurde eine obligatorische staatliche Rentenversicherung geschaffen, welche die freiwillige und kaum genutzte staatliche Rentenversicherung von 1850 ablöste. Gegen Krankheiten waren jedoch die Franzosen bei weitem nicht so gut versichert wie die deutsche Bevölkerung. Das französische System der sozialen Sicherung war nicht staatsinterventionistisch, sondern genossenschaftlich ausgerichtet. Ein Erlass im März 1852 legalisierte die »Gesellschaften zur gegenseitigen Hilfe«, die »Sociétés de secours mutuels«, die sich zu einer der wichtigsten Säulen im französischen Gesundheitssystem des 19. und 20. Jahrhunderts entwickeln sollten.62 Ursprünglich waren diese Einrichtungen dazu gedacht, die Klassenunterschiede zu nivellieren und die unteren Schichten zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen und der kollektiven Gesundheit zu erziehen. Der Arzt nahm hier eine Schlüsselrolle ein. Er trat nicht nur als Therapeut, sondern auch als Erzieher auf. So entsprang es wenigstens den Wunschvorstellungen der Verfechter des Solidaritätsgedankens. In einer Schrift über die Arbeiterbewegung von 1864 hieß es etwa, dass es nunmehr in den Händen des Arztes läge, »die Gewohnheiten der Arbeiterklasse zu verändern, ihre körperliche und sittliche Erziehung zu verbessern, sie von tyrannischen Ausschweifungen, den heimtückischen Anreizen der Armut und den Vorurteilen der Unwissenden zu befreien«.63 Er könne bei den Arbeitern »die Prinzipien von Ordnung, Arbeit und Sparsamkeit wecken 61 Huerkamp, Aufstieg, S. 308. 62 Zum Folgenden siehe Faure, Français, S. 121–143. 63 Rougier, P., Les associations ouvrières, Paris 1864, zitiert in: Faure, Français, S. 125.

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und dem Land in Zukunft gesündere und robustere Generationen bereitstellen.« Zumindest in der Anfangszeit der sociétés mutualistes im Aufgabenbereich des Arztes, angehende Mitglieder sorgfältig zu untersuchen und festzustellen, ob sie den gesundheitlichen und sittlichen Vorstellungen entsprächen. Diese Beweihräucherungen der sociétés mutualistes hingen letztlich einem Idealbild einer Gesellschaft an, in der der Arzt als »Wächter« der gesellschaftlichen Gesundheit und Sittlichkeit fungierte. Dennoch billigten die sociétés mutualistes den Ärzten einen ausgezeichneten Status zu. Zögerten die Ärzte zunächst noch, eine Vertrags- und Angestelltenbeziehung einzugehen, die ihre liberale Profession zu gefährden drohte, konnten sie sich doch von einer Bevormundung freimachen. Ihren Forderungen nach einer freien Arztwahl und einheitlichen Tarifen wurde rasch entsprochen. Wie auch bezüglich anderer öffentlicher Einrichtungen drang der Arzt ohne große Schwierigkeiten in den Bereich der öffentlichen Gesundheitsfürsorge ein. Durch die »Sociétés de secours mutuels« war in Frankreich ein nicht unerheblicher Teil der Arbeiter gegen Krankheitskosten abgesichert. Mitglied einer secours mutuel war 1890 etwa jeder fünfte, um 1914 bereits jeder zweite bis dritte französische Arbeiter.64 Der Abstand zwischen dem französischen und dem deutschen Modell zeigte sich vielmehr in den Leistungen, die diese Sicherungssysteme erbrachten. 1890 zahlten die deutschen staatlichen Krankenversicherungen 84 Millionen Mark, wohingegen die »Sociétés de secours mutuels« nur umgerechnet 17 Millionen auf brachten. Auch bei den Mitgliederzahlen verzeichnete das deutsche Modell einen großen Vorsprung: 1910 waren etwa 13,1 Millionen Deutsche versichert, aber nur 3,6 Millionen Franzosen. Ärzte standen dieser republikanischen Entwicklung einer kollektiven genossenschaftlich organisierten Fürsorgepflicht nicht immer wohlwollend gegenüber: Ebenso wie die skeptische Haltung deutscher Ärzte gegenüber dem Wohlfahrtsstaat sahen die französischen Ärzte ihre Berufsautonomie bedroht. Der Arzt dürfe nicht ein Angestellter der Mutualité werden und sich von ihr Honorare und Tarife diktieren lassen. Innerhalb der ärztlichen Gemeinschaft wurden die »médecinsmutualistes« massiv unter Druck gesetzt. Am 9. April 1898 trat das Gesetz über die Arbeitsunfälle in Kraft, das für die Ärzte weitreichende Folgen hatte. Es schrieb eine Entschädigung des Unfallverletzten durch den Arbeitsgeber vor und blieb zunächst auf den Industriesektor beschränkt. Musste vorher der Verletzte den Beweis erbringen, dass es sich um einen Arbeitsunfall handelte, war es nun am Arbeitgeber, das Gegenteil zu beweisen. Das Gesetz setzte eine Entwicklung in Gang, im Zuge derer Ärzte, die sogenannten »médecins-contrôleurs«, ein Angestelltenverhältnis in den Unfallversicherungen eingingen. Sie wurden dafür bezahlt, den Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Art bzw. Schwere der Verletzung zu attestie64 Kaelble, Nachbarn, S. 125.

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ren. Bisweilen führten sie auch die Therapie auf Kosten des Arbeitgebers und der Versicherungsanstalt durch. Der Artikel 4 des Gesetzestextes legte die freie Arztwahl für den Unfallverletzten fest. Arbeiter- und Ärztegewerkschaften zogen an einem Strang, um die Freiheit des Patienten in der Auswahl des Arztes und die des Arztes in seiner Berufsausübung zu bestärken. Zu diesen Zwecken bildete sich ein eigenes nationales »syndicat de médecine sociale«, dessen politisches Engagement bald schon Erfolge zeitigen würde. Ein Gesetz vom 31. März 1905 legte jeder Person, welche die freie Arztwahl beeinträchtigt oder den Versuch dazu unternommen hatte, eine Geldstrafe auf. Das Gesetz vom 9. April 1898 versetzte den französischen Arzt in eine ungewohnte Position, leistete es doch einer Interessengemeinschaft zwischen ärztlichen und Arbeiterverbänden Vorschub. Der Arzt wurde nun mehr und mehr in die Klassenkämpfe des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hineingezogen. Französische Ärzte fühlten sich vor eine schwere Wahl gestellt: Entweder lehnten sie sich an einer staatlichen Gesundheitsbürokratie an, die autoritäre Züge trug, dafür jedoch umso effizienter ärztliche Handlungsspielräume gestalten konnte. Oder aber sie befürwortete eine liberale Organisation des Gesundheitswesens, was zwar Freiheitsräume garantierte, im Gegenzug aber auch in die Rückständigkeit führen konnte. In der Herausbildung eines ärztlichen Selbstverständnisses spielte die Abgrenzung gegenüber ihren deutschen »fremdgesteuerten« Kollegen eine wichtige Rolle: »In Frankreich würde es keiner dem Gesetz erlauben, sich so grausam in die Familie einzumischen wie dies in Deutschland der Fall ist«, befand der Hygieniker Charles Ribouleau.65 Auch in der Kriegszeit, in der sich der Arzt auf Grund einer Notstandsgesetzgebung weitere Kontrollmöglichkeiten sichern konnte, verschwand dieses argumentative Muster der eigenen professionellen Zuschreibung nicht.

65 Ribouleau, Ch., A travers l’hygiène. Guide précieux de la santé. Causeries variées, littéraires et scientifiques sur l’Hygiène physique, morale et sociale, Reims 1902, S. 225, zitiert in: Dienel, S. 128.

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II. Der »Volkskörper« im Krieg 1. Kollektiv- und Individualkörper im Krieg Der millionenfache Ansturm auf die ärztlichen Praxen und Behandlungsstationen an der Kriegs- und Heimatfront hatte den Krieg auch für die Ärzte zu einem Massenbetrieb anwachsen lassen, in dem es zunehmend schwieriger wurde, sich um den Einzelpatienten zu kümmern. Neben den ideologischen kriegsbejahenden Motiven sind es nicht zuletzt die Erfahrungen von überlasteten ärztlichen Einrichtungen und Kapazitäten, die Ärzte dazu veranlassten, im Chor mit anderen gesellschaftlichen Deutungseliten die scheinbar so unerschütterliche »Logik des Krieges« zu untermauern. Ihr zufolge hatte sich das einzelne Individuum in den Dienst der großen nationalen Sache zu stellen. Dem Volksganzen, das geht ganz klar aus den deutschen wie aus den französischen Quellen hervor, galt die Hauptsorge der Ärzte. Die Gesundheit des einzelnen Individuums trug zwar zur Gesunderhaltung des Volksganzen bei, war dieser jedoch untergeordnet und gegebenenfalls zum Opfer zu bringen. Der Massenbetrieb Krieg hatte auch hier ein Denken in Kollektivformen wenn nicht neu generiert, so doch in seinem Kern verstärkt. In dieser Hinsicht macht es auch keinen Unterschied, ob man ein deutsches oder ein französisches Journal aufschlägt. Drohte auf der einen Seite eine Gefahr für den »Volkskörper«, lamentierten auf der anderen Seite die Ärzte in begrifflich zwar anders gefassten, aber kontextuell ganz ähnlichen Formulierungen über die sterbende »nation«, »peuple« oder auch »race française«. Es wäre jedoch verfehlt, den ärztlichen Gesundheitsdiskurs der Kriegsjahre allein auf einen inflationären Gebrauch dieser Kollektivformen zu reduzieren. Eine andere Tendenz rückte das Einzelindividuum wieder verstärkt in den Mittelpunkt der ärztlichen Betrachtung. Die Sorge um den Individual- und den Kollektivkörper schlossen sich nicht gegenseitig aus, sondern hingen eng zusammen.66 »Die Verhältnisse dieses Krieges weichen von denen aller früheren in mancher Beziehung ab«, resümierte der Direktor der Inneren Medizinischen Klinik der Charité in Berlin Wilhelm His, der im Krieg als beratender Internist an der Ostfront tätig war, rückblickend die Kriegsereignisse.67 His zählte zu den Besonderheiten des vergangenen Weltkrieges den Umfang der Altersklassen, die zu den Marsch- und Kampf handlungen herangezogen wurden und unter denen sich viele junge Kriegsfreiwillige befanden, die lange und unun66 Allgemein zu den Kollektiv- und Individualvorstellungen in der Medizin, speziell in der Psychiatrie, siehe den Sammelband Kaiser u. Wünsche (Hg.). 67 His, W., Allgemeine Einwirkungen, S. 3.

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terbrochene Dauer des Krieges, die Gewöhnung an klimatische Verhältnisse, das geforderte Maß an körperlicher Anstrengung und schließlich die seelische Einwirkung: »Was bedeuten die kurzen Kampf handlungen früherer Kriege neben dem tagelang dauernden Trommelfeuer, dem Minenkampf, der Vergasung und der Fliegergefahr; was die strapazenreichsten Biwaks neben dem deprimierenden Hausen in unreinlichen, dumpfen Höhlen und Stollen! Wann hat wohl je das Heimweh so gezehrt wie bei den Wehrmännern und Landstürmern; wann die Subordination so schwer gelastet, wie in dem engen Beisammenleben des Grabenkrieges!« 68

Der Krieg als individuelle Grenzerfahrung verlange das Äußerste vom Menschen. Angesichts der beispiellosen Brutalität des Ereignisses nahmen die ärztlichen Debatten eine Wendung, die nicht von vornherein zu erwarten war. Die Betonung lag nun nicht auf den Kriegsteilnehmer als eine lediglich quantitativ zu erfassende kriegsgewichtige Größe, was den Vorstellungen der Nation als einem unbestimmbaren Kollektiv entsprechen würde. Die Soldaten zeichneten sich vielmehr durch eine psychische Tiefenstruktur aus, die es ihnen ermöglichte oder erschwerte, ihre Leistungsfähigkeit trotz der gewaltigen Einwirkungen des Krieges zu bewahren.69 Entgegen dem üblichen auch in der Medizin vorherrschenden Sprachgebrauch, in dem vom »Menschenmaterial« analog zu der Anzahl der Artilleriegeschütze, Bombenflieger oder der Stärke der Kriegsflotte die Rede war, wurde der »Faktor Mensch« als ein sich aus psychischen und physischen Merkmalen zusammensetzender Organismus wieder erheblich aufgewertet. In den Vordergrund der ärztlichen Beobachtungen rückte nun zunehmend die psychophysische Beschaffenheit des Menschen, dank derer er den Kriegseinflüssen widerstehen konnte. Die große Anzahl an kriegspsychologischen Betrachtungen belegt anschaulich diese Inflation der Innenschau.70 Jedermann sei zum Psychologen geworden, beobachte sich selbst und andere, um die Wechselwirkungen von Innen- und Außenwelt verfolgen und verstehen zu können, so der Rezensent des Buches von Otto Binswanger »Die seelischen Wirkungen des Krieges«.71 Es fand eine ärztliche Verständigung darüber statt, inwieweit sich die Militär- und die Zivilbevölkerung durch eine derartige Beschaffenheit auszeichneten. Das zog zudem konkrete Maßnahmen nach sich, mit denen die Ärzte sich in den Dienst des Staates und der Nation stellten: etwa in den ärztlichen Untersuchungen bei der Rekrutenauswahl, um möglichst viele Männer für den Kriegsdienst brauchbar zu machen. Ärztliche Zielsetzung war demnach nicht zuletzt, eine Optimierung der psychischen Leistungsfähig68 Ebd., S. 4. 69 Die im Entstehen begriffene Disziplin der Psychologie spielte hier eine wichtige Rolle, vgl. Gundlach, S. 131–143. 70 Binswanger; Everth; Huot u. Voivenel, La psychologie du soldat. 71 Schwalbe, J., in: DMW, 5. November 1915, Nr. 45, S. 1351. Rezension zu Binswanger.

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keit der männlichen wehrfähigen Bevölkerung zu erreichen. Ebenso handelten die Ärzte im Dienste ihrer eigenen Wissenschaft, erschloss der Krieg ihnen doch Forschungsfelder, die zwar nicht gänzlich neu waren, sich jetzt jedoch auf ein ungeheures Beobachtungsmaterial stützen konnten. Der Internist Ludolf von Krehl hatte als einer der ersten diesen Zusammenhang systematisiert. Er verfasste seine in der Folgezeit viel zitierten »Betrachtungen über die Einwirkung des Krieges auf unsern Organismus und seine Erkrankungen« im November 1914 in einem Seuchenlazarett im französischen Montmédy.72 Bereits vor dem Krieg zeigte Krehl Interesse an den psychischen Faktoren bei der Krankheitsentstehung bzw. dem Einfluss, den psychische Faktoren auf die Organfunktionen im Allgemeinen ausüben konnten.73 Durch die Kriegsereignisse angeregt, verstärkte sich die Ansicht Krehls, die Gesamteinflüsse auf den Organismus mehr zu berücksichtigen. Der Krieg zeigte ihm, dass der Mensch sich nicht nur auf einen naturwissenschaftlich zugänglichen Untersuchungsgegenstand reduzieren lasse, sondern dass er den inneren seelischen und äußeren Umwelteinflüssen ausgesetzt sei. Gerade der Mensch als Ganzes müsse in den Mittelpunkt der ärztlichen Untersuchungen rücken. Diese Überlegungen stehen im Zusammenhang mit dem Auf kommen einer naturwissenschaftlichen, insbesondere bakteriologischen Medizin, im Zuge derer das Studium der Krankheiten weniger am Krankenbett als im Labor stattfand. Die Euphorie über eine objektive naturwissenschaftliche Grundlage der medizinischen Heilkunde war noch lange nicht verschwunden. Auch von Krehl fühlte sich ihr verbunden, hegte aber großen Zweifel an der alleinigen Erklärungshoheit der naturwissenschaftlichen Methode. Der Krehlschüler K. Hansen fasste diesen durch den Krieg angestoßenen und sich verstärkenden Richtungswechsel anlässlich des 100. Geburtstag Krehls treffend zusammen. Der Auftrag der Klinik habe nach dem Krieg einen anderen Inhalt bekommen. »Ein Umdenken« sei aus dem Kriegserlebnis, »den 4 Jahren Front, dem Zusammenbruch des Landes, des Volkes und seiner monarchischen […] Regierungsform« erwachsen. Und so habe nach dem Krieg »nicht mehr die Krankheit«, sondern die »kranke Person« im Mittelpunkt des Denkens und Handelns Ludolf von Krehls gestanden.74 Der Weltkrieg hatte, urteilte rückblickend sein Schüler, im persönlichen und wissenschaftlichen Werdegang des Internisten von Krehl einen entscheidenden Einfluss ausgeübt. Dieses Beispiel aus dem wissenschaftlichen Werdegang eines Mediziners bildete keine Ausnahme. In den medizinischen Fachjournalen rückte der kranke Individualkörper in den Mittelpunkt. Der Massenbetrieb Krieg hatte, so paradox dies scheinen mag, die ärztliche Ansicht bestärkt, der pathologische Ein72 Krehl, Betrachtungen. 73 Krehl, Entstehung hysterischer Erscheinungen, S. 727–744. 74 Hansen, S. 36–38.

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zelfall müsse mehr berücksichtigt werden. Das hatte zum einen für den Arzt, zum anderen für den Patienten weitreichende Folgen. Beklagt wurde, dass die naturwissenschaftlich ausgebildeten Ärzte nur ungenügend psychologisch geschult seien, um auf ihre Patienten adäquat eingehen zu können. Vorherrschend war nicht mehr das naturwissenschaftliche Denken, jeder Organismus, ob pathologisch oder nicht, könne in ein medizinisches Raster eingefügt und einer standardisierten Behandlung zugeführt werden. Im Gegenteil: Der Arzt müsse jeden Fall einzeln betrachten und in seinen Therapievorschlägen individuell auf den Patienten eingehen. Ähnliche Forderungen nach individualisierter Behandlung wurden auch in Frankreich laut. »Die krankhafte Individualität« müsse genauer bestimmt werden, lautete ein Appell an die Ärzte, »die nosologischen Krankheitseinheiten würden jeglicher Bedeutung entbehren ohne eine psychologische und möglichst vollständige Untersuchung des Patienten.«75 Was für den Arzt galt, wurde auch auf den Patienten übertragen. Mit unabsehbarer Kriegsdauer, zermürbendem Stellungskrieg und mörderischen Offensiven wurde die Überwindung des Kriegserlebnisses nicht als eine Frage von kollektivem Sieg oder Niederlage verstanden, sondern als eine individuelle Aufgabe gesehen. Es ging nun nicht so sehr darum, dem meist anonymen, da im Kriegsgeschehen nicht sichtbaren Feind die Stirn zu bieten, wie das noch in früheren Kriegen im Kampf Mann gegen Mann der Fall gewesen war. Vielmehr kam es darauf an, dem Ereignis Krieg an sich standzuhalten und im Krieg gesund zu bleiben. War eine Krankheit oder aber eine Verwundung aufgetreten, so müsse diese erfolgreich überwunden werden. Der Kampfschauplatz war nun nicht mehr ein kollektiver, sondern ein ganz persönlicher, der Feind nicht mehr der Soldat auf der anderen Seite der Frontlinie, sondern der Krieg mit allem seinem Entsetzen an sich. Im Folgenden soll nun untersucht werden, wie Ärzte den »Volkskörper« ausdifferenziert und die Kriegseinwirkungen, denen er ausgesetzt war, bestimmt hatten. Die ärztlichen Vorstellungen nahmen unterschiedliche Formen an, je nach dem, ob es sich um die Militär- oder die Zivilbevölkerung handelte.

2. Der Waffensieg an der Kriegsfront Der Gesundheitszustand der Truppe Nachdem im Verlauf der ersten Kriegsmonate abzusehen war, welche Bewährungsprobe die Soldaten zu bestehen hatten, mehrten sich die ärztlichen Bewertungen über die Leistungsfähigkeit der Truppen. Durchgehend wurde in 75 Nach einem Zitat von Falret: Dezwarte u. Jannin, M., Les quantités mentales et la hiérarchie des délires, in: AMédPsych, Oktober 1917, rezensiert in: PM, 10. Januar 1918, Nr. 3, S. 28.

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den französischen und deutschen Debatten den Heeresangehörigen ein überdurchschnittlich guter Gesundheitszustand bescheinigt. In den Augen der Ärzte beider Länder hatte die Armee ihre Feuerprobe bestanden: Ihre Truppenteile, so stellten es die Ärzte dar, boten nicht nur dem Feind erfolgreich die Stirn, sondern waren auch dem Kriegsgeschehen und der neuen Art der modernen Kriegführung an sich physisch und psychisch gewachsen. Als einer der ersten deutschen Ärzte ergriff der bereits erwähnte Internist Ludolf von Krehl das Wort.76 Seine Bilanz nach etwa drei Monaten Krieg fiel durchweg günstig aus: Nur wenige und geringfügige Störungen des Herzens, des Magens, der Schilddrüse, der Lungen und der Nieren kämen zur Beobachtung. In der Krehlschen Abhandlung trug jedes einzelne Organ zur Anpassung des Gesamtorganismus an die neuen strapaziösen Lebensbedingungen bei, sowie pars pro toto der einzelne Soldatenorganismus wiederum für die Leistungsfähigkeit des deutschen »Volksganzen« stand: »Wenn man so vielfach von der Entartung unseres Volkes sprechen hört, und wenn man die Form und Unregelmäßigkeit der Ernährung berücksichtigt, denen im Felde alle ausgesetzt waren, so kann ich die Widerstandsfähigkeit der deutschen Mägen und Därme nur im höchsten Grade bewundern.«77

Alles in allem sei der deutsche Organismus gegen so manche Schädlichkeiten gefeit. Eine »Angelegenheit allerschönster Natur« sei die »außerordentliche seelische und körperliche Widerstandsfähigkeit unsrer Volksgenossen, namentlich in den reindeutschen Kreisen«. Weder die körperliche noch die ästhetisch-kulturelle Bildung allein seien dafür verantwortlich zu machen. Vielmehr beziehe das deutsche Volk seine militärische Stärke aus dem »Festhalten an streng väterlicher Sitte […]. Dann bleibt der Grund gesund, auf dem das Haus erbaut ist.« Durch eine gesunde und kräftige Konstitution würden sich auch die französischen »poilus« auszeichnen. Die Rekruten, das hätte der Krieg bewiesen, gehörten zu einer »immer noch mächtigen Rasse, die auch zukünftig die Welt in Staunen versetzen werde.«78 Beide Ärzteschaften führten die Konstitution ihrer Rekruten auf rassische Merkmale zurück. Biologistische Argumentationsmuster verbanden sich mit einer genealogischen Komponente, so der Verweis Krehls auf die »väterliche Sitte«. Der Rassebegriff wurde immer in Abgrenzung zum Feind, also im postulierten Gegensatz von germanischer und französischer Rasse, verwendet. Die Differenz und Feindschaft wurden damit fest in der Körperbeschaffenheit verankert und ethnisiert. Eine dementsprechende rassenbiologische Unterscheidung innerhalb der Truppe, etwa eine Ausgrenzung der jüdischen Sol76 Krehl, Betrachtungen, S. 23f. 77 Ebd., S. 12. 78 Godlewski, H., Les bienfaits de la guerre sur l’organisme des soldats français, in: PM, partie paramédicale, 24. Juni 1915, Nr. 28, S. 219.

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daten oder auch der schwarzen Kolonialsoldaten, findet sich weitaus seltener und beschränkt sich auf vage Hinweise, wie etwa in der Abhandlung Krehls auf die »reindeutschen Kreisen«. Ärzte beschrieben die Soldaten vielmehr in ihrer unbestimmten Masse als eine homogene schlagkräftige Truppe, als ein »erstklassiges Menschenmaterial«.79 Im Laufe der Kriegsjahre entging es den Ärzten nicht, dass sich der Phänotyp des Soldaten während seiner Dienstzeit zu verändern begann. Erhebliche Abmagerung wurde beobachtet, wenn das auch, so Krehl, ein Teil der Ärzte nicht zugeben mochte.80 Außerdem fiel den Ärzten ein »fahlgraues und müdes Aussehen« auf. Äußere Gestalt und Haltung veränderten sich. Vom physiologischen Standpunkt zeichneten die Ärzte einen athletischen Typ nach: »Die intensive Arbeit, die sogleich in den ersten beiden Kriegsmonaten begonnen hat, hat unsere Männer zu Athleten geformt […]. Sie haben unnützes Gewebe verloren zu Gunsten einer immer größeren Muskelmasse.«81 Die Beschreibungen des äußeren Erscheinungsbildes der Soldaten – der Muskelabbau und das Hervortreten von Sehnen und Fasern – ließen zwar nicht gerade auf einen gesunden Menschen schließen. Es entstand jedoch das Bild eines neuen soldatischen Phänotyps, eines abgehärteten, schon durch seine Farbe und Gestalt dem Kriegsgeschehen angepassten Soldaten. Die Gesundheit bestand nun nicht mehr in einer krankheitsfreien Existenz, die im Krieg auf Dauer nicht zu bewahren war. Vielmehr bildete sich eine besondere soldatische Konstitution heraus, die Immunitäten entwickeln und auftretende Beschwerden stoisch zu ertragen vermochte. Aber nicht nur das äußere Erscheinungsbild, auch die Innenwelt des toten soldatischen Organismus gab Aufschluss über den Gesundheitszustand der männlichen Verteidiger des Vaterlandes. Es fiel in den Aufgabenbereich der Pathologie, daraus Schlüsse zu ziehen.82 Vor allem in Deutschland gelang es den Pathologen unter der Führung des Freiburgers Ludwig Aschoff, die Kriegsbedingungen optimal zu nutzen und sich systematisch ein militärisches Arbeitsgebiet zu erschließen: Feldprosekturen wurden eingerichtet und für jede Armee das Amt eines besonderen Armeepathologen bzw. für jedes Sanitätsamt in der Heimat das Amt eines beratendes Pathologen geschaffen. Zudem wurde eine kriegspathologische Sammlung in Berlin ausgebaut. 83 Schließlich eröffnete der Krieg den Pathologen eine einzigartige Gelegenheit, den gesunden und kranken Organismus zu studieren. Ihre Stimme gewann durch die reichen Beobachtungen am »seltene[n] Material junger gesunder Leute, die durch Verlet79 Hesse, E., Die Hygiene im Felde, in: DMW, 4. Februar 1915, Nr. 6, S. 157. 80 Krehl, Betrachtungen, S. 7. 81 Godlewski, H., Les bienfaits de la guerre sur l’organisme des soldats français, in: PM, partie paramédicale, 24. Juni 1915, Nr. 28, S. 216. 82 Zur Kriegspathologie siehe Prüll, S. 155–182. 83 Siehe das Vorwort von Ludwig Aschoff (Hg.), Pathologische Anatomie, S. V-VI.

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zungen plötzlich getötet werden«, an herausragender Bedeutung. 84 Während eines kriegsärztlichen Abends in Metz kurz nach Kriegsbeginn beteuerte der deutsche Chefpathologe Ludwig Aschoff, nur recht wenige gravierende pathologische Mängel unter den sezierten Soldaten gefunden zu haben, »sodaß der allgemeine Gesundheitszustand des sehr gemischten Soldatenmaterials als sehr gut bezeichnet werden konnte.«85 In Frankreich wurde den Pathologen und ihrer Kriegstätigkeit in der medizinischen Öffentlichkeit wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Sie konnten sich nicht so systematisch ein kriegsbedingtes Aufgabenfeld erschließen, wie das ihren deutschen Fachkollegen gelang. In den publizistischen Fachorganen meldeten sie sich kaum zu Wort, geschweige denn, dass sie ihre Tätigkeit als einen Dienst am Vaterland verstanden wissen wollten. Auch in der 1918 erschienenen Zusammenfassung über die Tätigkeiten des militärischen und zivilen Sanitätswesens und in der Auflistung der verschiedenen medizinischen Fachbereiche, die sich daran beteiligt hatten, fehlt eine »Kriegspathologie« wie sie in Deutschland entworfen wurde.86 Blieb bis etwa Ende 1915 die männliche wehrpflichtige Bevölkerung in ihrer Zusammensetzung noch relativ unbestimmt, differenzierten die Ärzte in ihren späteren Stellungnahmen je nach Alter, Berufsklasse oder auch nach Landbzw. Stadtzugehörigkeit. Ob ein Soldat in seinem zivilen Leben einer schweren körperlichen Tätigkeit nachgegangen war oder ob er zu den Kopfarbeitern gehörte hatte, machte sich, so die Ärzte einhellig, auch in seiner Leistungsund Strapazierfähigkeit bemerkbar. Die Berufszugehörigkeit als Differenzierungsmerkmal innerhalb der Mannschaften wurde neben dem militärischen Rang am häufigsten herangezogen. Ja selbst die anatomisch-organische Anpassung an das Kriegsgeschehen blieb nicht unbeeinflusst von der vormaligen Berufsausübung. Der Oberarzt der medizinischen Klinik in Königsberg Felix Klewitz hatte die Herzgröße bei Soldaten untersucht, die mehrmonatige Kriegsstrapazen hinter sich hatten. Er stellte einen Zusammenhang zwischen den Veränderungen der Herzgröße und dem jeweiligen Beruf des Soldaten her.87 Bei den schwer arbeitenden Maurern, Schlossern, Bauern, Brauereiarbeiten, Militäranwärtern, vergrößerte sich das Herz. Bei leichter arbeitenden 84 Aschoff, L., Erfahrungen über Obduktionen im Kriege, 2. Kriegsärztlicher Abend der Festung Metz, 13.10.1914, in: DMW, 19. November 1914, Nr. 47, S. 2000. 85 Ebd., S. 2000; siehe zur Kriegspathologie außerdem: Kaiserling, Die Aufgaben der Pathologischen Anatomie im Frieden und Kriege. Vortrag gehalten im Verein für wissenschaftliche Heilkunde in Königsberg am 24. Januar 1916, in: DMW, 22. und 29. Juni 1916, Nr. 25 und 26, S. 755–757 u. 787–788; Tagung der Kriegspathologen, Berlin, 26. u. 27.IV.1916, in: DMW, 20. Juli 1916, Nr. 29, S. 897–900. 86 Service de Santé. 87 Klewitz, F., Berufsarbeit und Herzvergrösserung bei Frontsoldaten, in: MMW, 20. August 1918, Nr. 34, S. 927f.

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Kaufleuten, Lehrern, Kutschern, Bureaugehilfen und Kanzlisten, Monteuren, Rangierern, Gastwirten und Stallschweizern verkleinerte es sich. Häufig wurde hervorgehoben, dass sich gerade diejenigen Soldaten besonders auszeichneten, die aus den mehr kopf- als muskelarbeitenden Berufsgruppen kamen.88 Ein weiteres Differenzierungsmerkmal betraf die Land- bzw. Stadtbevölkerung. Die Ärzte folgten einem Topos, der im Gesundheitsdiskurs der Vorkriegszeit bestimmend war. Wo lebte es sich gesünder? Auf dem Land, wo die Bevölkerung vielfach medizinisch unterversorgt war und nur unzulängliche Kenntnisse über hygienische und gesundheitliche Erfordernisse hatte, oder in der Stadt, mit ihren sowohl hygienischen als auch »sittlichen« Schädlichkeiten? Auch zur Klärung dieser Frage schien der Krieg beizutragen. Im Allgemeinen stellten die Ärzte fest, dass der vom Land kommende Soldat dem Kriegsgeschehen nicht so gewachsen war wie der Stadtbewohner. Das läge vor allem an der Vielgestaltigkeit der Eindrücke, die auf den daran nicht gewohnten Landmann einstürmten. Solchen Deutungsmustern wurde die Parallele zwischen dem Kriegsgeschehen und dem Großstadtleben zugrunde gelegt.89 Im Gegenzug wurde jedoch die erstaunliche Adaptationsfähigkeit der Landbewohner hervorgehoben.90 Weitaus seltener thematisierten Ärzte den Altersunterschied zwischen den Soldaten. Gewöhnten sich ältere oder jüngere Soldaten eher an den Krieg? Dabei kamen vor allem psychologische Gesichtspunkte zum Tragen. Angesichts der anhaltenden Todesgefahr dürfe man voraussetzen, dass »von den reifen Persönlichkeiten die Mehrzahl sich in irgend einer Weise, sei es mit religiösen, sei es mit philosophischen Erwägungen, auf die Todesnähe eingestellt hat; nur die jüngste Generation unserer Kriegsfreiwilligen, die das Rätsel des Lebens noch nicht in seinen Fängen gehabt hat, geht vielfach heiter und ahnungslos, wie Kinder, in den Tod.«91 Ein französischer Arzt untersuchte die körperliche Widerstandkraft der Mannschaften nach ihrem Alter und bescheinigte den über 40-Jährigen eine ungünstige Prognose, jedenfalls in der vordersten Kampfeslinie.92 88 D’Oelsnitz, L’adaptation organique des territoriaux à la guerre actuelle, Société Médicale des Hôpitaux, 24 novembre 1916, in: PM, 7. Dezember 1916, Nr. 68, S. 565. 89 Siehe hierzu auch das Kap. IV.3. »Die erschöpften Nerven« im dritten Teil dieser Arbeit. Dem Krankheitskonzept der Neurasthenie lag diese Parallelkonstruktion von hektischem und rasantem Großstadtleben und Krieg zugrunde. 90 D’Oelsnitz, L’adaptation organique des territoriaux à la guerre actuelle, Société Médicale des Hôpitaux, 24 novembre 1916, in: PM, 7. Dezember 1916, Nr. 68, S. 565. 91 Hoche, S. 17. 92 De La Prade, Rapports de la tension avec l’âge et la résistance des soldats au front. 10 mai 1917, in: PM, 4. Juni 1917, Nr. 31, S. 325: »Die Ergebnisse des Autors sind beruhigend: Die große Mehrheit der Truppenteile scheint dem Schützengrabenkrieg gewachsen zu sein; nur die 40jährigen Männer müssen in einem gewissen Maß geschont werden; ab dem Alter von 43 sollte man auf die Männer nicht mehr zählen; ihre körperliche Widerstandskraft ermöglicht es ihnen

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Im Großen und Ganzen blieben diese Ausdifferenzierungen des Heeres nach berufs-, klassenspezifischen und geographischen Merkmalen auf deutscher und französischer Seite eher blass. Individuelle Eigenschaften des Soldaten verschwanden vielmehr hinter einer grauen und gleichförmigen Masse. Degenerierter »Volkskörper« und regenerierender Krieg Bereits in der Vorkriegszeit war die militärärztliche Frage, wie viele Männer im wehrpflichtigen Alter sich für den Wehrdienst in gesundheitlicher Hinsicht als geeignet erweisen würden, nicht unwesentlich daran beteiligt, Schreckensszenarien über eine vermeintliche qualitative Verschlechterung der Bevölkerung neu zu beleben. Die drohende Degeneration eines Volkes wurde in Deutschland wie in Frankreich häufig an den Tauglichkeitsprüfungen von Rekruten festgemacht.93 Ihr Gesundheitszustand stellte einen untrüglichen Gradmesser für die körperliche und seelische Leistungsfähigkeit der Gesamtbevölkerung dar. Im 19. Jahrhundert hatte die Sorge um eine individuelle und kollektive Verschlechterung und letztlich um den drohenden qualitativen Untergang des Volksbestandes die deutschen und französischen medizinischen Fachkreise fest im Griff. Schon 1857 brachte der Arzt Bénédict Augustin Morel diese Angst begrifflich auf den Punkt. Er arbeitete in seinem »Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine« das Konzept der »dégénérescence« aus, das im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert nicht nur in der französischen, sondern in der gesamteuropäischen medizinischen Öffentlichkeit auf große Resonanz stieß.94 Morels Lehre der Degeneration stellte eine biologische Spielart des Dekadenzgedankens dar, der eine kontinuierliche Abwärtsentwicklung von Kulturen, Staaten und Gesellschaften beinhaltete. Krankhafte Abweichungen von einem normalen und primitiven Menschentypus, die von Generation zu Generation immer schlimmere Formen annähmen, schraubten sich im Zuge eines unabänderlichen und unumkehrbaren Verfallsprozesses immer weiter nach unten, bis schließlich eine Gattung zum Aussterben verurteilt sei. Der Gebrauch der Degenerationsvokabel konnte sich auf verschiedene Bereiche erstrecken: Üblich war es, ein einzelnes Organ oder Körperteil als degeneriert zu bezeichnen, wenn sie sich bei seltenen nicht mehr, so scheint es, die permanenten Kriegsstrapazen auszuhalten, zumindest in vorderster Kampfeslinie«. Siehe ebenso Nobécourt, Rôle de l’âge dans la fréquence des maladies contagieuses, Sitzung in der Société Médicale des hôpitaux vom 21. Juni 1918, in: PM, 8. Juli 1918, Nr. 38, S. 352. 93 Broca, P., Sur la prétendue dégénérescence de la population française. Sitzung in der Académie de Médecine vom 26. März 1867, in: BAM, Bd. 32, 1866–1867, S. 547–601. Auch im französischen Parlament war diese Argumentationsstruktur beliebt siehe Ellis, S. 176ff. Für Deutschland siehe beispielsweise Meisner, H., Einfluss der sozialen Lage auf die Militärtauglichkeit, in: Mosse u. Tugendreich (Hg.), S. 342–385. 94 Zum Degenerationskonzept allgemein: Demandt, S. 6–35; zur Degenerationsdebatte in Frankreich siehe Carol, S. 87–114; Goldstein, S. 148–154.

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oder exzessiven Gebrauch sowie bei Krankheit zurückgebildet hatten. Sodann konnten Gesamtorganismen und ganze Gattungen von der Degeneration betroffen sein. Nach der französischen Niederlage von 1871 verstärkte sich das Amalgam von verschiedenen biologischen und politischen Kollektivformen. In der französischen Öffentlichkeit wurde zunehmend die Sorge laut, das gesamte französische Volk könnte sich in einer kontinuierlichen Abwärtsentwicklung befinden. In dieses Untergangsszenario passte die biologische Begriffsprägung der Degeneration gut. Seit 1860 war die Morelsche Degenerationstheorie in aller Munde. Valentin Magnan und sein Schüler M. Legrain stellten schließlich das Konzept auf eine systematische Grundlage.95 Morel hatte in seiner bizarren Mischung aus theologischen und naturwissenschaftlichen Überlegungen noch von einem »type primitif« gesprochen, der wie Adam nach dem Sündenfall aus der vollkommenen und reinen Umgebung den schädigenden Einflüssen ausgesetzt war und sich nun durch Abweichungen vom ursprünglichen Typus in einer stetigen Abwärtsentwicklung befand. Magnan und Legrain sahen die Degeneration nicht in Bezug auf einen Urzustand, sondern in Bezug auf die »unmittelbaren Erzeuger« und führten in diesem Zusammenhang das Konzept des Lebenskampfes ein. Der Morelsche religiöse Kontext wurde durch einen evolutionistisch-darwinistischen ersetzt. In Frankreich begann die Erfolgsgeschichte des Konzeptes der »dégénérescence« jedoch bereits um die Jahrhundertwende ihrem Ende entgegenzugehen. Zehn Jahre nach der Publikation des Morelschen Werkes widmete sich die Académie de Médecine dieser Frage. Der Gehirnforscher, Biometriker und Anthropologe Paul Broca, selbst ein vehementer Verfechter der Vererbungslehre, wandte sich in seinem Vortrag vor den Akademiemitglieder weniger gegen das Konzept an sich als gegen seine Auswüchse und Verallgemeinerungen bezüglich der gesamten französischen Nation.96 Kurz vor Kriegsbeginn hatte Genil-Perrin, ein Schüler Gilbert Ballets, in seiner Doktorarbeit das Konzept einer umfassenden Kritik unterzogen, das er als zu vage bezeichnete, um in die psychiatrischen Klassifikationen einzugehen.97 Diese Skepsis gegenüber der »dégénérescence« als klassifikatorisches Prinzip wurde im Krieg weitergeführt. 1917 prangerte René Larger den übermäßigen Gebrauch der dégénérescenceVokabel an. »Dégénérescence« sollte nicht automatisch mit jeder pathologischen Störung gleichgesetzt werden.98 Eine Neudefinition von Magnan und Legrain aufgreifend, sollten nur diejenigen Pathologien als »dégénérescence« 95 Magnan u. Legrain. 96 Broca, P., Sur la prétendue dégénérescence de la population française. Sitzung in der Académie de Médecine vom 26. März 1867, in: BAM, Bd. 32, 1866–1867, S. 547–601. 97 Genil-Perrin. 98 Larger.

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begriffen werden, die nach dem Muster »acquisition → transmission et accumulation → mort de la lignée« verliefen.99 Hielt Larger noch am Begriff »dégénérescence« fest, sprach sein Kollege E. Apert in seinem zwei Jahre später erschienene Buch nur noch von »Hérédité morbide«, um alle Mehrdeutigkeiten eines bereits so häufig und vielgestaltig konnotierten Begriffs von vornherein zu umschiffen.100 Apert zog in Zweifel, dass es eine »dégénérescence collective« überhaupt geben könnte. Zudem bestritt er die Unumkehrbarkeit des Prinzips der Degeneration und stellte ihm die Perspektive einer Regeneration entgegen, die von Natur selbst gegeben sei und nicht eine natürliche Elimination der Degenerierten meine. Der Arzt könne also gegen die Degeneration in den Kampf ziehen, ohne dabei gegen die Degenerierten kämpfen zu müssen. In der medizinischen Fachpresse zwischen 1914 und 1918 wurde das Degenerationskonzept so gut wie gar nicht rezipiert. Nichts war mehr vom inflationären Gebrauch der Degenerationsvokabel der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts übrig geblieben. Der Krieg hatte die These einer vermeintlichen französischen Degeneration endgültig widerlegt. Biologistische Ordnungsvorstellungen von »Rassen«, die sich auf einer absteigenden oder aufsteigenden Entwicklungslinie befanden, blieben dennoch aktuell. Ärzte beteiligten sich an einem biologisierten Kulturkrieg, in dem sie näher zu bestimmen versuchten, worin die Eigenarten der »race française« in Abgrenzung zur »race germanique« bestünden. So wurde beispielsweise ein Beitrag des Professors des nationalen Museums für Naturgeschichte und Anthropologen Marcellin Boule auf der ersten Seite der »Presse Médicale« veröffentlicht, der den aktuellen »Rassenkampf« mit evolutionistischen und biologistischen Ordnungsregeln zu erklären versuchte. Naturwissenschaftliche Gesetze sollten, so die einleitenden Worte eines Redaktionsmitgliedes, den Franzosen das sichere Gefühl vermitteln, dass »ihr Instinkt gesund und die französische Nation ein normaler Organismus« seien, der sich harmonisch entwickelt hatte, kurz gesagt: »ein lebenswerter Organismus«.101 Der Anthropologe Boule berief sich auf die Degenerationstheorie, wenn er auch den Begriff der »dégénérescence« nicht benutzte und eher von einem Phänomen der Regression sprach, das in der Natur- wie in der Menschheitsgeschichte wirke. Die »germanische Rasse« unterscheide sich von der französischen dadurch, dass in ihrer Evolution ein Ungleichgewicht entstanden sei: Auf der einen Seite hatten sich Organe exzessiv herausgebildet, auf der anderen Seite waren andere verkümmert. Einer übermäßigen Zunahme der intellektuellen Fähigkeiten, wie 99 Ebd., S. 15. 100 Apert. 101 Boule, La Biologie et la Guerre, in: PM, partie paramédicale, 27. März 1915, Nr. 13, S. 97: »En dehors du puissant intérêt spéculatif qu’elle soulève, elle donne au sentiment national l’assurance que son instinct est sain, que la nation française est bien un ›organisme normal‹, qu’il est fait d’harmonie et d’équilibre, en un mot qu’il mérite de vivre«.

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sie auch die deutsche Wissenschaft widerspiegeln würde, hatte dazu geführt, dass andere Tendenzen, die der uneigennützigen, nur der Wahrheit verpflichteten Wissenschaft, die der Liebe zur Gerechtigkeit und zur sittlichen Schönheit, geradezu ausgestorben seien. Hypertrophie der zweckmäßigen und materiellen Eigenschaften einerseits, Atrophie der ideellen und moralischen Werte andererseits, so umriss Boule die Evolution der »germanischen Rasse« und verglich sie mit derjenigen der Dinosaurier, die auf Grund ihrer »kolossalen« Größe ausgestorben seien. Der Franzose hingegen zeichnete sich dadurch aus, dass er sich das Gleichgewicht seiner verschiedenen Fakultäten und seine Individualität bewahrt hätte. Deswegen konnte er auch dem Feind eine so kräftige Konstitution entgegensetzen: »Gemeinsam mit ihren Verbündeten, allen Verteidigern der gerechten Sache, allen Soldaten der Freiheit und des Rechts – werden sie sicherlich dem germanischen Monster, dessen Evolution so schief gelaufen ist, den Garaus machen.«102 Dass eine solche Deutung nicht unüblich war und alle medizinischen Kreise erfasst hatte, zeigt eine recht ähnliche Schrift, die in der Académie de Médecine vorgestellt wurde.103 Im deutschsprachigen Raum hatte in den 1890er Jahren Max Nordau dem Degenerationskonzept zum Durchbruch verholfen.104 Er verband damit eine umfassende Zivilisationskritik, in der soziale und kulturelle Bedingungen einem vermeintlichen kollektiven Niedergang Vorschub leisteten. Aber auch hier stießen solch pessimistischen Ansichten noch vor 1914 auf harsche Kritik. Oswald Bumke stellte 1912 zwar die Degeneration nicht grundsätzlich in Abrede.105 Er wandte sich allerdings gegen die Ansicht, es handele sich um einen unauf haltsamen und irreparablen Mechanismus. Vielmehr seien erworbene Schäden, namentlich in den unteren Schichten, sozial bedingt und somit auch wieder rückgängig zu machen. Deutsche Ärzte im Ersten Weltkrieg verwendeten das Degenerationskonzept weniger in Abgrenzung zum Feindeskörper, wie es französische Ärzte im Gegensatz von »race française« und »race germanique« zu fassen suchten. Der Krieg wurde vielmehr als eine zu bestehende Bewährungsprobe gegen die vermeintlich drohende Degeneration des Volkes gesehen. Das Schreckgespenst eines bevorstehenden Untergangs spukte immer noch in den Köpfen. Der Krieg fungierte jetzt allerdings nicht als Bestätigung einer tatsächlichen Unterlegenheit der qualitativ absteigenden deutschen Nation, sondern als Widerlegung des wirkmächtigen Degenerationskonzeptes. Die Prognosen der deutschen Ärzte fielen dementsprechend günstig aus: Von einer Entartung könne nicht 102 Ebd., S. 99. 103 Capitan, La psychologie des Allemands actuels, in: PM, 19. August 1915, Nr. 38, S. 312; Capitan stellte sein Buch den Mitgliedern der Académie de Médecine am 17. August 1917 vor, in: BAM, Bd. 74, 1917, S. 189. 104 Nordau. 105 Bumke, Entartung.

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die Rede sein, im Gegenteil »die körperliche, geistige und sittliche Leistungsfähigkeit« des Volkes entspreche den höchsten Anforderungen, so der Direktor des hygienischen Instituts der Universität Leipzig.106 Der Soldat stand pars pro toto für das »Volksganze«. »Die Zahl derer, die vor Ausbruch des Weltkrieges die Auffassung vertreten haben, dass die körperliche Tüchtigkeit des deutschen Volkes sich auf einer absteigenden Linie befinde, war außerordentlich groß, und das Gespenst der Degeneration hielt selbst viele wissenschaftliche Köpfe gefangen. Es bedurfte des Weltenringens, um die Probe auf das Exempel zu machen, und die Erfahrungen auf dem Schlachtfelde, das oft geradezu Übermenschliches von den Kriegern gefordert hat, erbrachten mit einem Schlage den Beweis, dass jene Unkenrufe glücklicherweise unberechtigt waren.«107

Eine Vielzahl von Psychiatern sprach sich im gleichen Sinne aus, galten doch psychisch-nervöse Störungen als wichtige Erkennungsstigmata und eindeutige Anzeichen einer individuellen und kollektiven Degeneration.108 Otto Binswanger gestand, als Arzt »bei den einseitigen, im wesentlichen an krankhaften Menschen gewonnenen persönlichen Erfahrungen zu schwarzseherisch gewesen« zu sein »und so den Umfang der krankhaften Entartung viel zu weit bemessen« zu haben. »Im deutschen Volke ist […] noch ein gewaltiges Maß seelischer Widerstandskraft vorhanden.«109 »Aber der Verlauf des Krieges hat auch bewiesen, dass die körperliche, geistige und sittliche Leistungsfähigkeit unseres Volkes höchsten Anforderungen entspricht, der früher hin und wieder von Schwarzsehern erhobene Vorwurf der Entartung auf uns also nicht zutrifft. Ein ähnlich günstiges Urteil kann bekanntlich über unsere Gegner nicht gefällt werden.«

Die Hochkonjunktur der Degenerationsvokabel hatte bei Kriegsbeginn sowohl in Deutschland als auch in Frankreich bereits ihren Zenit überschritten.110 Sie war jedoch nicht gänzlich aus den medizinischen Kreisen verschwunden. Sie wurde in Kriegszeiten vor allem herangezogen, um die Überlegenheit der eigenen Nation biologistisch zu untermauern.

106 Kruse, S. 21. Kruse hielt seine Rede »Grundlagen der Volksgesundheit« zwar im Juni 1914, die Druckfassung enthält jedoch einen Zusatz, der den neuen Kriegsbedingungen Rechnung trug. 107 Wolf, J., Protokoll über die Sitzung der deutschen Gesellschaft für Bevölkerungspolitik, 18.10.1915, in: DMW, 4. November 1915, Nr. 45, S. 1355; ebenso äußert sich Hoche, S. 4f. 108 Meyer, E., Funktionelle Nervenstörungen bei Kriegsteilnehmern, nebst Bemerkungen zur traumatischen Neurose, Vortrag im Verein für wissenschaftliche Heilkunde, Königsberg, 22.11.1915, in: DMW, 16. Dezember 1916, Nr. 51, S. 1511; Richter, Die Bevölkerungsfrage. Vortrag gehalten im Verein für wissenschaftliche Heilkunde in Königsberg i. Pr. am 7. Dezember 1915, in: DMW, 2. März 1916, Nr. 9, S. 257. 109 Binswanger, S. 11. 110 Carlson, S. 121–144.

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Nur selten wurde dem Krieg selbst ein regenerierendes Potenzial zugeschrieben. Zu Kriegsbeginn verwiesen Mediziner darauf, dass der Krieg eine günstige Wirkung auf den individuellen wie kollektiven Körper ausüben könne. Die »Ursachen des guten Gesundheitszustandes unserer Truppen im Felde« seien in den folgenden Momenten gelegen, so der Internist Alfred Goldscheider: »Fehlen der zahlreichen Kulturschädlichkeiten des Friedenslebens, besonders in den größeren Städten und Fabriken; günstiger Einfluß des Lebens in der freien Natur und der einfachen Lebenshaltung; Fehlen kranker und siecher Bevölkerungselemente und des Kontaktes mit solchen, Übung der regulatorischen Einrichtungen des Organismus (Anpassung, Ausgleichung, Abhärtung etc.) durch die ständige Berührung mit den Naturgewalten und die Leistung großer Körperanstrengungen und dadurch erfolgte Kräftigung der Widerstandsfähigkeit gegenüber den einwirkenden Schädlichkeiten.«111

Hygienische Fürsorge und psychische Übung der Willenstätigkeit, so Goldscheider weiter, trügen ebenfalls dazu bei, die Stimmung zu heben und Krankheitsgefühle zu verdrängen. Das Kriegsleben fand demnach in einem hygienisch sauberen und gesundheitlich äußerst günstigen Raum statt, der an den Antipoden zum krankmachenden Großstadtleben stand. Die Gesundheit der Soldaten könnte im Kampf mit dem Feind – dargestellt als ein Messen mit den Naturgewalten – nur gestärkt hervorgehen. Auch in Frankreich fanden sich derartige Bemerkungen.112 Erheblich häufiger stellten Ärzte fest, dass der Krieg sich auf gewisse Krankheitszustände durchaus günstig auswirken könne. In diesem Zusammenhang stand nicht mehr der Kollektivkörper der Truppe im Vordergrund, sondern die Individualkörper mit seinen Gebrechlichkeiten und die individuelle Überwindung des Ereignisses Krieg. Dabei gestanden Ärzte ein, dass es sich dabei in der Regel um anekdotische Einzelfälle handelte. Trotzdem kursierten Krankengeschichten von Offizieren oder jugendlichen Kriegsfreiwilligen, die entgegen dem ärztlichen Rat am Krieg teilnahmen und ihre Krankheit erfolgreich überwanden. Im Gegensatz zu den »Drückebergern und Bittstellern ärztlicher Atteste« hob das Akademiemitglied Fiessinger jene »tapferen Soldaten« im Kriegsdienst hervor, »die jeden Grund hätten, zu Hause zu bleiben, da sie tatsächlich eine Krankheit zurückhält«.113 Diese Überwindung der eigenen Krankheit im Dienst der großen Sache bezeichnete er als einen »wahrhaft patriotischen Akt«. 111 Rezension zu Goldscheider, Ursachen des günstigen Gesundheitszustandes unserer Truppen im Winterfeldzug, in: DMW, 24. Juni 1915, Nr. 26, S. 780 sowie in: MCWÄL, 23. Oktober 1915, Nr. 43, S. 419f. 112 Godlewski, Les bienfaits de la guerre sur l’organisme des soldats français, in: PM, partie paramédicale, 24. Juni 1915, Nr. 28, S. 215–219. 113 Fiessinger, Ch., Les maladies du coeur aux armées. Sitzung in der Académie de Médecine am 29. Dezember 1914, in: BAM, Bd. 72, 1914, S. 444.

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Eine vermeintlich günstige Wirkung des Krieges diagnostizierten Ärzte insbesondere bei Herzkranken114 und »Geisteskranken« wie Epileptikern.115 Dem zerstörerischen Potenzial des Krieges stand damit ein heilendes gegenüber. Angesichts der blutigen Kriegsverheerungen war dies auf gesamtnationaler Ebene zu einem gewissen Zeitpunkt schlicht und einfach nicht mehr möglich, so dass sich die Überwindung des Kriegserlebnisses zunehmend vom Kollektivum auf das Individuum verschob. Das Bild des kranken Soldaten, der »geheilt« aus dem Krieg zurückkam, verhalf, dem anonymen Massensterben ein positives Bild entgegenzusetzen. Die »Tauglichen« und die »Untauglichen« des Krieges Die Tauglichkeitsprüfungen trugen dazu bei, die Brisanz der Beziehung der militärärztlich selektierten »wehrtauglich« gesunden zu den »wehruntauglich« kranken Mitgliedern einer Gesellschaft zu erhöhen. Nicht nur Militär-, sondern auch Zivilärzte waren an dieser Ausmusterung maßgeblich beteiligt. Ihnen oblag die Deutungshoheit, wer als gesund zu bezeichnen war und zur Verteidigung des Vaterlandes an die Front geschickt werden konnte, und wer als untauglich in der Heimat verblieb. Im Folgenden geht es nicht um die tatsächliche Durchführung des Musterungsgeschäfts. Es soll vielmehr die Frage aufgeworfen werden, ob und wenn ja, welche Ordnungsvorstellungen dieser Selektion nach gesunden und kranken Männern zugrunde lagen. Die Mobilmachung stellte den Zivilarzt vor ungeahnte Herausforderungen. Alle wehrfähigen Männer mussten innerhalb kürzester Zeit die ärztlichen Musterungsuntersuchungen durchlaufen. Vor 1914, stellen Murard und Zylberman fest, wurde in Deutschland ein Fünftel der militärärztlich untersuchten Männer als tauglich empfunden. Die französischen Militärärzte neigten weniger zum Aussortieren: Hier wurden zwei Drittel der untersuchten Männer zum Wehrdienst zugelassen.116 Der Erste Weltkrieg verschärfte die Proportion der zu untersuchenden Männer in Frankreich um ein erhebliches. Anfang 1917 untersuchten die medizinischen Kommissionen 150 bis 200 Männer pro Stunde. Nach einem Bericht an das Abgeordnetenhaus gab es in Frankreich im Jahr 1914 für eine Armee von 600 000 Mann 1 518 Sanitätsärzte.117 In Deutschland belief sich die Zahl auf 2 224 und steigerte sich bis im letzten Kriegsjahr 114 Müller, O., Rigide Arterien, Tropfenherz und Kriegsdienst, in: MKl, 12. Dezember 1915, Nr. 50, S. 1370; Fiessinger, Ch., Les maladies du coeur aux armées. Sitzung in der Académie de Médecine am 29. Dezember 1914, in: BAM, Bd. 72, 1914, S. 443–447. Siehe hierzu ausführlicher Kap. IV.2. »Das Kriegsherz« im dritten Teil dieser Arbeit. 115 Spranger, H., Zur aktiven Behandlung der Kriegsneurosen, in: DMW, 18. Oktober 1917, Nr. 42, S. 1328; Weygandt, Kriegspsychiatrische Beobachtungen, in: MMW, 14. September 1915, Nr. 37, S. 1258, rezensiert in: DMW, 23. September 1915, Nr. 39, S. 1234. 116 Murard u. Zylberman, The Nation, S. 348. 117 Dies., Hygiène, S. 563.

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auf 7 114.118 Militärärzte allein hätten die Aufgabe nicht bewältigen können, weshalb Zivilärzte vor allem aus Kliniken und Krankenhäusern herangezogen wurden. Im Vergleich zum deutschen Informationsfluss fällt die spärliche französische Berichterstattung über Tauglichkeitsprüfungen auf. Der Leser der französischen medizinischen Fachpresse erfuhr nur wenig über die Kriterien, die in den militärärztlichen Untersuchungen angelegt wurden. Ärzte in speziell für diesen Zweck eingerichteten Kommissionen führten das Musterungsgeschäft durch, über deren Tätigkeit nur selten etwas in die medizinische Fachpresse drang. Anders verhielt es sich mit der Begutachtung von Kriegsverletzten und -erkrankten, die anhand eines ärztlichen Attests ihre Forderungen nach finanziellen Entschädigungen stellen konnten. Hier informierten die ärztlichen allgemeinen Publikationsorgane über Form und Kriterien.119 Waren vor dem Krieg nur einige »médecins-experts« bei Gericht oder Versicherungsanstalten tätig, erweiterte sich nun die Zahl der Ärzte, die über den Grad und die Schwere von Invalidität nach militärischen Maßstäben entscheiden mussten. Die Rechtsmedizin zog hieraus einen nicht unerheblichen Nutzen. In Deutschland trat hingegen der Zivilarzt bereits im Musterungsgeschäft als Experte auf. So betraute etwa das Preußische Kriegsministerium die Ärzte der Medizinischen Universitätsklinik der Charité in Berlin mit der Untersuchung der Kriegsfreiwilligen.120 Militärärztliche und zivilärztliche Instanzen gingen in Deutschland gleich nach Kriegsbeginn ineinander über. Die medizinische Fachpresse stellte hier eine wichtige Informationsquelle über die Richtlinien der militärischen Auswahl über Tauglichkeit und Untauglichkeit dar. Die deutschen ärztlichen Publikationsorgane wollten dem zum Kriegsdienst eingezogenen Sanitätsoffizier oder dem ungedienten Arzt, »der von heut auf morgen vor die Aufgabe gestellt ist, Mannschaften auszuheben oder zu entlassen«,121 eine Handreichung bieten, wie er seine militärärztlichen Aufgaben zu leisten habe. Diejenigen Ärzte, die sich an den Musterungen beteiligt hatten, versuchten das Material wissenschaftlich zu verwerten, um den Grad und die Verteilung 118 Sanitätsbericht. 119 Duco u. Blum; Chavigny, Les pensions aux blessés et aux invalides de la guerre, in: PaM, Bd. 17, Nr. 3, 1915, S. 526–533; Laquerrière, A., Pensions et retraites et réformés N° 1, in: PM, 6. April 1916, Nr. 20, S. 156–157; Garnaud, Comment constituer un dossier en vue d’une pension; – d’une gratification; d’une réforme N° 1 sans gratification, in: PM, partie paramédicale, 6. August 1917, Nr. 457–460; ein ganzes Dossier befasste sich 1916 mit der Frage im Paris Médical: Camus, J., La question des réformes, in: PaM, Bd. 21, Nr. 41, 1916, S. 289–327. 120 Kaminer, S. u. A. Silva Mella, Erfahrungen bei der Untersuchung von Kriegsfreiwilligen, in: DMW, 11. Februar 1915, Nr. 7, S. 195, rezensiert in: MCWÄL, 6. März 1915, Nr. 10, S. 98. 121 Christian, Felddienstfähigkeit, Garnisondienstfähigkeit und Dienstunbrauchbarkeit, in: DMW, 3. Juni 1915, Nr. 23, S. 665.

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der Kriegstauglichkeit der Freiwilligen zu bestimmen. Die Klinikärzte der Charité verzeichneten unter ihren 1829 kriegsfreiwilligen Untersuchten eine Tauglichkeitsrate von 70%; 18% waren nur bedingt tauglich und konnten nach körperlicher Ausbildung dem Heer zugeführt werden; 12% eigneten sich nicht für den Heeresdienst.122 Sie differenzierten nach Alter, Berufskategorie und Stadt- oder Landbewohner. Innerhalb der Gruppe der Freiwilligen im Alter von 15 bis 40 Jahren stellten die beiden Ärzte ein Ansteigen der Tauglichkeit mit zunehmendem Alter fest. Den größten Anteil an Tauglichen wiesen ferner die Arbeiter und Handwerker mit 68% auf; bei Kaufleute und Beamte belief sich der Wert auf 58%, bei Gelehrte und Studenten auf 56%. Schüler wurden zu 50% tauglich geschrieben. Der Anteil der vollkommen Untauglichen war mit 17% am größten bei den Gelehrten und Studenten, gefolgt von den Kaufleuten und Beamten mit 16%. In der Charité wurden Einwohner aus allen Teilen des Reiches gemustert, so dass die beiden Mediziner auch die Herkunft der Gestellten berücksichtigen konnten. Nur geringe Abweichungen stellten sie jedoch bei Land- und Stadtbewohnern fest. In Deutschland konnte von Kriegsbeginn an auf ein ausgeklügeltes und streng durchrationalisiertes Rekrutierungssystem zurückgegriffen werden. Anhand der Unterscheidungskriterien »Felddienstfähigkeit«, »Garnisonsdienstfähigkeit« und »Dienstunbrauchbarkeit« sollte jeder deutsche Mann erfasst und seinem Platz zugeführt werden, an dem er dem Vaterland am besten dienen könne. Mit einigem Stolz informierten die deutschen Ärzte ihre Kollegen über dieses rationale Erfassungssystem, das »die Mannheit Deutschlands […] nach einem wissenschaftlichen und zugleich praktischen Plan katalogisiert«.123 Der Arzt nahm in diesem System eine wichtige Stellung ein, war er es doch, der den organischen und psychologischen Befund erbrachte, in welche Kategorie die Männer einzuordnen waren. Die Kompetenzen des Zivilarztes sollten denjenigen des Militärarztes ergänzend zur Seite stehen, forderte der Psychiater Robert Gaupp, der die Rolle des Arztes auf neue Grundlagen gestellt wissen wollte: Anhand der Unterscheidungskriterien solle jeder Mann für das Heer und für das Vaterland brauchbar gemacht werden, auch derjenige dessen »schwächere psychophysische Organisation« ihn nur bedingt tauglich erscheinen lässt. »Jeder Mann am rechten Platz – so werden wir am stärksten sein; um dies aber zu erreichen, brauchen wir eben doch jetzt auch das, was dem militärischen System des Friedens beim einfachen Soldaten viel ferner lag: die weitgehendste Berücksichtigung der 122 Zum Folgenden siehe Kaminer, S. u. A. Silva Mella, Erfahrungen bei der Untersuchung von Kriegsfreiwilligen, in: DMW, 11. Februar 1915, Nr. 7, S. 192–195, rezensiert in: MCWÄL, 6. März 1915, Nr. 10, S. 98. 123 Militärärztliche Tätigkeit gesehen von der ausländischen Presse, in: DMW, 2. Dezember 1915, Nr. 49, S. 1468.

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im einzelnen Individuum vorhandenen Eigenschaften und Mängel; wir brauchen als Ärzte unseres Heeres psychiatrische Denkweise und pädagogisches Geschick, denen eine sinnvolle, den veränderten Aufgaben angepasste Organisation die volle Betätigung ermöglicht.«124

Die Expertenrolle, die sich der deutsche Zivilarzt im Musterung- und Aushebungsgeschäft selbst zuschrieb, wurde im Gegensatz zu Frankreich hoch veranschlagt. Da die Musterung des Individuums nicht nur nach organischen Kriterien erfolgen sollte, war eine Beteiligung von Psychiatern bzw. eine gute psychiatrische und psychologisch-pädagogische Vorbildung des Musterungsarztes von grundlegender Bedeutung. So konnten alle Fähigkeiten und Gebrechlichkeiten des Einzelnen aufgedeckt und seine Leistungsfähigkeit in einem rationalisierten System optimal ausgenutzt werden. Im Allgemeinen basierten die Beurteilungsgrundsätze auf einem Gleichgewicht: Zum einen mussten so viele Gestellungspflichtige als möglich den mit zunehmender Kriegsdauer immer größeren Bedarf an »Menschenmaterial« decken. Zum anderen sollte auch den gesundheitlichen Interessen der Untersuchten Rechnung getragen werden.125 Noch zu Kriegsende hin wurde nachdrücklich betont, dass die Meßlatte der körperlichen und geistigen Merkmale, die zum Kriegsdienst in welcher Form auch immer befähigten, nicht zu niedrig gelegt werden sollte. »Körperlich und geistig Unzulängliche« sollten nicht in den Krieg ziehen. »Unser Volkskörper wird selbst bei den aufs äußerste hochgespannten Bedürfnissen dieses Krieges nicht so weit ausgepresst wie z.B. bei den Franzosen, wo auch völlig untaugliche, insbesondere tuberkulöse Mannschaften in größerer Zahl ins Heer gesteckt werden«, versicherte der Schriftführer der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« Julius Schwalbe.126 Dass solche, nach Angaben der Ärzte, großzügigen Maßstäbe angesetzt wurden, war nicht auf eine stärkere Berücksichtigung der individuellen Patientenrechte zurückzuführen. Vielmehr beteuerten die Ärzte, dass die militärischen Verhältnisse bereits bestehende Gebrechlichkeiten ausschließen würden. Der Krieg erforderte eine durch und durch gesunde, schlagkräftige und gegen die Strapazen widerstandsfähige Truppe. Es führe »zu einer Schädigung dienstlicher Interessen […], wenn offenbar kranke und körperlich oder geistig unzulängliche Personen ausgehoben würden«.127 Es bestehe die Gefahr einer 124 Gaupp, R., Die Dienstbrauchbarkeit der Epileptiker und Psychopathen. Militärärztlicher Vortrag gehalten am 16. Dezember 1916 in Stuttgart, in: MCWÄL, 13. Januar 1917, Nr. 2, S. 12. 125 Schwalbe, J., Leitsätze für die militärärztliche Tätigkeit bei der Kriegsmusterung, in: DMW, 7. Oktober 1915, Nr. 41, S. 1226. 126 Ebd., S. 1225f; zum Musterungsgeschäft siehe auch Christian, Felddienstfähigkeit, Garnisonsfähigkeit und Dienstunbrauchbarkeit, in: DMW, 3. Juni 1915, Nr. 23, S. 665–668. 127 Schwalbe, J., Leitsätze für die militärärztliche Tätigkeit bei der Kriegsmusterung, in: DMW, 7. Oktober 1915, Nr. 41, S. 1228.

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Beeinträchtigung der militärischen Operationen. Solche Personen auszusondern oder mit dem zeitgenössischen Begriff gesprochen »auszumerzen«,128 lag nicht nur im militärischen, sondern auch im finanziellen Interesse des Staates, da bei einer Verschlimmerung des Leidens oder dem Ausbruch einer Krankheit Staatspensionen eingefordert werden konnten. Auch deswegen wurde bei der Diagnose einer psychischen Erkrankung eher von einem Kriegsdienst abgesehen. Diese Leiden zogen oft Versorgungsansprüche nach sich, da in jedem Fall von einer Verschlimmerung durch den Krieg ausgegangen werden musste.129 Zudem waren psychische Krankheiten, nach Ansicht der Fachärzte, ansteckend, so dass die Anwesenheit von psychisch labilen Personen eine psychische Epidemie hervorrufen könne und letztlich eine Zersetzung der militärischen Disziplin drohe. Angesichts der hohen Kriegsverluste und der langen Kriegsdauer mussten sich nach und nach die vormals »Untauglichen« erneut einer Untersuchung unterziehen. Vom Leitsatz, nur diejenigen auszuheben, die den Anforderungen des Krieges gewachsen waren, wurde mit zunehmender Kriegsdauer immer stärker abgegangen. Friedrich Mörchen, der leitende Arzt der Nervenabteilung beim Reservelazarett I Darmstadt, untersuchte, wie die »schwächer Veranlagten«, die »Masse der Unterwertigen«, die auf Grund der »lange Dauer der Weltkrieges und die durch ihn bedingten sozialen Erschütterungen und Umwälzungen« verstärkt zum Heeresdienst herangezogen worden waren, auf diese psychische Ausnahmesituation reagierten.130 Der Artikel ist wissenschaftlich motiviert. Die Untersuchungsobjekte waren diejenigen Personen, die eigentlich bereits ausgemustert, nun doch ins Gefechtfeuer ziehen mussten. Die psychischen Mechanismen kranker Menschen in einer Situation, der man sich nicht durch Flucht entziehen kann, standen im Mittelpunkt der Mörchenschen Betrachtungen. Mörchen sah denn auch die Abwehrreaktionen dieser Personen nicht als Krankheitserscheinungen, sondern als eine »biologisch-primitive gesetzmäßige Reaktionsweise einer unterwertigen Anlage« an. Der Berliner Charité-Arzt Karl Bonhoeffer bedauerte im Rückblick, dass von dem Grundsatz, keine Schwächeren zum Kriegsdienst zuzulassen, abgesehen wurden: »Die Praxis hat auch stets mit der Tatsache einer besonders erhöhten Suggestibilität an der Front gerechnet. Wenn man es zu Anfang des Krieges vorsichtig vermieden hat, Psychopathen an die Front zu schicken, so ist mit ein Grund der gewesen, daß man es vermeiden wollte, in die suggestible Massenstimmung psychisch-infektiöses Material 128 Kaminer, S. u. A. Silva Mella, Erfahrungen bei der Untersuchung von Kriegsfreiwilligen, in: DMW, 11. Februar 1915, Nr. 7, S. 192. 129 Siehe Kap. II.4. »Die militärische Beurteilung der Kriegsneurotiker« im dritten Teil dieser Arbeit. 130 Mörchen, F., Die biologischen Selbstschutzvorrichtungen bei den seelisch und nervös Unterwertigen. Sozialpsychologische Leitsätze zum Hysterieproblem nach Kriegserfahrungen, in: DMW, 24. Oktober 1918, Nr. 43, S. 1195.

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hineinzubringen. Es war kein Gewinn für das Heer, daß von dieser Praxis später abgegangen worden ist.«131

Bonhoeffer ließ offen, ob er in der Zersetzung der Disziplin durch »psychischinfektiöses Material« auch gleichzeitig eine politische Gefahr sah. Es bleibt jedenfalls festzuhalten, dass namentlich deutsche Psychiater die Selektion von »Tauglichen« und »Untauglichen« als eine Grenze zwischen »Voll- und Minderwertigen« ansahen. Gesunde und Kranke wurden nach diesem militärischen Leistungsanspruch bewertet. Der Historiker Stefan Kühl hat in seiner Studie über die internationale Bewegung der Eugenik und Rassenhygiene aufgezeigt, welchen Einfluss der Krieg auf die Eugeniker in Europa hatte.132 Wurden Kriege noch um die Jahrhundertwende als ein geeignetes Selektionsinstrument befürwortet, verschob sich der Fokus bis Kriegsende hin zu seiner Ächtung als einer der größten Gefahren für die »Rassenaufartung«. Der Erste Weltkrieg verstärkte diese Positionen, ohne jedoch eine wirkliche »eugenische Friedenspolitik« nach sich zu ziehen. Im Gegenteil, der Krieg brachte eine Nationalisierung der eugenischen Gesellschaften in Europa und eine Fokussierung auf nationale Belange, infolge derer der Schritt zu einer intellektuellen Auseinandersetzung über die Möglichkeiten eugenischer Maßnahmen zu einer konkreten Umsetzung eugenischer Konzepte gemacht werden konnte. Das traf zumindest für die deutschen Eugeniker zu, wie dies auch Julius Schwalbe hervorhob: »Bemerkenswert ist, wie unter dem Einfluß des Krieges der Staatsgedanke auch auf dem Gebiete des öffentlichen Gesundheitswesens sich verstärkt hat und die Überzeugung gewachsen ist, dass die persönlichen Rechte zugunsten des Allgemeinwohls zurücktreten müssen.«133 Erfreulicherweise, so Schwalbe weiter, stünden einige Abgeordnete, darunter auch viele seiner Arztkollegen, der Einführung von Gesundheitszeugnissen bei der Eheschließung nicht mehr so skeptisch gegenüber wie noch vor sieben Jahren. Die französische eugenische Gesellschaft hingegen traf der Krieg besonders hart, da viele engagierte Eugeniker, wie Lucien March, zum Militärdienst eingezogen wurden. Die Aktivitäten der eugenischen Gesellschaft mussten darauf hin sogleich nach Kriegsbeginn eingestellt werden. Es mag zum großen Teil auch daran liegen, dass in den französischen Fachorganen der Kriegszeit eugenische Positionen zum Krieg überhaupt nicht rezipiert wurden. Dieser Befund erstaunt um so mehr als die »Presse Médicale« vor dem Krieg durchaus zugänglich für die Veröffentlichung dieses neuen Zweiges der Medizin war. Man suchte noch nach einem adäquaten Ausdruck, »hygiène ethnique«, »orthopédie de la 131 Bonhoeffer, S. 3–44. 132 Siehe zum Folgenden Kühl, S. 40–63; zur Rassenhygiene im Ersten Weltkrieg siehe auch Weingart u.a., S. 229–232. 133 Schwalbe, J., Aus den Parlamenten, in: DMW, 29. März 1917, Nr. 13, S. 406.

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race«, »biocratie«, »hominiculture«, »anthropotechnie«, »eubiotique«, »eugénique«.134 Der internationale Kongress der Eugeniker in London im Juli 1912 fand durchaus Beachtung bei den Lesern der »Presse Médicale«.135 Der Eugeniker Georges Schreiber begann in der Nummer vom 7. Dezember 1912, noch vor der Gründung der »Société française d’eugénique« am 22. Dezember eine Serie von Abhandlungen unter dem Titel »Hygiène sociale, Eugénique«.136 Mit Kriegsbeginn wurden diese ersten zaghaften Versuche, dem Allgemeinpraktiker das eugenische Gedankengut näher zu bringen, nicht fortgesetzt. Auch in Deutschland waren eugenische Positionen in der Kriegsdebatte nicht tonangebend. Äußerst selten stößt man auf das Argument, nach dem die Ärzte mit ihren Selektionsmaßnahmen von »Tauglichen« und »Untauglichen« wesentlich dazu beitragen würden, dass für den Fortbestand der Nation in Zukunft nur noch die kranken und schwachen Glieder der Gesellschaft zur Verfügung stünden, das Erbgut der Gesunden und Tüchtigen sich jedoch durch den mörderischen Krieg verringert hätte. Ein Allgemeinpraktiker, der sich durch die Lektüre der einschlägigen Fachorgane auf den neuesten Stand der professionellen wie wissenschaftlichen Entwicklungen halten wollte, kam nur geringfügig in Berührung mit eugenischem Gedankengut. Ärzte waren zwar in der eugenischen Bewegung in Deutschland und noch deutlicher in Frankreich überproportional repräsentiert. In die Diskursgemeinschaft der Allgemeinpraktiker sickerten indes nur Rinnsale der eugenische Positionen durch. An prominenter Stelle, in den »Deutschen Reden in schwerer Zeit«, publizierte einer der führenden Rassenhygieniker, Max von Gruber, eine Abhandlung über »Krieg, Frieden und Biologie«, die auch in der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« rezensiert wurde.137 Die genuin eugenischen Anteile seiner Rede wurden allerdings nicht besprochen. Erwähnung fanden vielmehr die Betonung des Verteidigungskrieges, der Gegensatz zwischen sozialem Empfinden und Staatsgesinnung in Deutschland und staatsfeindlichem Individualismus in Frankreich und die Unvermeidbarkeit des Krieges. Von Gruber nahm gerade hinsichtlich der kontraselektorischen Wirkung des Kriegs keine eindeutige Stellung ein. In seiner Rede in der Neuen Aula der Berliner Universität am 8. Januar 1916 führte er zwar aus, wie der Krieg als eine »Auslese allerschlimmerster Art« gerade alle jene Individuen vernichte, welche »Träger von Genotypen bester Art […] zu Stammvätern von wertvollsten Generationsreihen hätten werden können«.138 Zugleich betonte er die Unvermeidbarkeit 134 Léonard, Médecine, S. 270. 135 Premier Congrès international d’éugénique, in: PM, 10. August 1912, Nr. 65, S. 836ff und 11. November 1913, Nr. 4, S. 44, zitiert in: Léonard, Le premier Congrès, S. 141–146. 136 Ebd., S. 145. Zur eugenischen Bewegung in Frankreich siehe Schneider, Quality; ders., Eugenics Movement, S. 69–109; Carol. 137 Gruber, Krieg, rezensiert in: DMW, 2. Juni 1915, Nr. 23, S. 686. 138 Gruber, Hygienische Aufgaben, S. 27.

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des Krieges, der wie ein Naturereignis auf die deutsche Nation hereingebrochen sei, und räumte ihm keine große Wirkung auf die Evolution ein. Mit Leichtigkeit würden sich die Lücken wieder füllen, wäre da nicht ein »weitaus schlimmeres Übel als der Krieg«: der Hang vor allem der höheren und gebildeten Schichten zum Zweikindersystem, wenn nicht gar zur Kinderlosigkeit. Diese Verschiebung von äußerlichen hin zu innergesellschaftlichen und sittlichen Gründen schwächte die kontraselektorische Wirkung des Kriegs auf den qualitativen Fortbestand der Nation ab.139 Dem Tübinger Psychiater und Neurologen Robert Gaupp kam der zweifelhafte Ruhm zu, das Schweigen in der medizinischen Fachpresse über eine etwaige kontraselektorische Wirkung des Krieges zu brechen. »Noch nie, seit die Welt steht, hat ein Krieg eine so furchtbare negative Auslese getroffen. Ich habe es schon einmal hier in München gesagt, wie schwer mir in den letzten 3 Jahren oft der Beruf des Neurologen und Psychiaters geworden ist. Muss ich doch Tag für Tag daran mitarbeiten, dass die seelisch Unzulänglichen rechtzeitig den Strapazen und dem Grauen des Krieges entzogen werden, denen sie nicht gewachsen sind. Je mehr dies aber geschieht und geschehen muss, desto furchtbarer drückt die Last des Kämpfers und die Not des Sterbens auf den gesunden und volkskräftigen Teil des männlichen Deutschlands.«140

Nicht nur Psychiater, sondern auch Gynäkologen sahen die »biologische Qualität der Bevölkerung Europas« – nicht der Nation – durch die Kriegseinflüsse beeinträchtigt.141 Für den Berliner Gynäkologen Vaerting waren gerade die männlichen Fortpflanzungszellen viel eher der Gefahr einer Verschlechterung ausgesetzt als die weiblichen. Da, wie Orchansky herausgefunden hatte, der Einfluss der pathologischen Vererbung bei den Vätern progressiver, bei den Müttern regressiver Natur sei, könne die große »Degenerationsgefahr […] an der Gesundheit der Frauen nur einen schwachen Widerstand finden«.142 Es bleibt dennoch festzuhalten, dass es sich dabei um vereinzelte Autoren handelte, die allenfalls von prominenter Warte aus das Wort ergriffen, die Kriegsdebatte dennoch nicht gänzlich bestimmten. Das brisante Verhältnis von »tauglich gesunden« und »untauglich kranken« Männern hatte sich zwar verschärft, zumal mit zunehmender Kriegsdauer vormals »Unzulängliche« zum Kriegsdienst herangezogen wurden. Ärzte unterlegten diese Beziehung allerdings selten mit der Vorstellung einer dysgenischen Wirkung des Krieges. 139 Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt Hoffmann. 140 Gaupp, R., Über die Neurosen und Psychosen des Krieges. Ärztlicher Verein München, 21. November 1917, in: MMW, 30. April 1918, Nr. 18, S. 494. 141 Rezension zu Vaerting, M., Verschiedene Intensität der pathologischen Erblichkeit der Eltern in ihrer Bedeutung für die Kriegsdegeneration, in: DMW, 14. November 1918, Nr. 46, S. 1281. 142 Ebd., S. 1281.

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Das Individuum im Krieg: patientenrechtliche Aspekte Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass sich Strategien der Kriegsbewältigung mehr und mehr auf das Individuum verschoben, das nun seine körperlichen und psychischen Schwächen sowie das Kriegserlebnis an sich erfolgreich überwinden musste. Angesichts dieser vielgestaltigen, militärischen und gesundheitlichen Pflichten, die dem Einzelnen auferlegt wurden, stellt sich die Frage, wie es umgekehrt mit seinen Rechten aussah. Inwieweit tastete der Krieg das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper an? Diese patientenrechtlichen Aspekte flossen durchaus in die ärztlichen Kriegsabhandlungen ein. Es wurde diskutiert, ob der Patient das Recht dazu habe, ärztliche Eingriffe zu verweigern. Im Zivilleben war die Rechtslage eindeutig: Der Arzt hatte die Pflicht, den Patienten über Risiken und Vorteile eines Eingriffes aufzuklären. Erst nach seiner Einwilligung durfte der Arzt den Eingriff vornehmen. Das Recht des Patienten auf Selbstbestimmung über seinen Körper stand über der ärztlichen Pflicht zur bestmöglichen Versorgung des Patienten. Ausgenommen waren jedoch ausdrücklich Präventivmaßnahmen, wie etwa Impfungen, die nicht allein das Wohl des Patienten, sondern die Gemeinschaft betrafen. Bei Arbeitsunfällen, die in Frankreich nach dem Gesetz von 1898 geregelt wurden, blieb dieses Grundrecht zwar uneingeschränkt erhalten. Gleichwohl konnte ein Gericht gegebenenfalls entscheiden, inwieweit der Arbeitgeber finanziell für Folgen einer Verweigerung aufzukommen hatte. Konnte nun dieses Zivilrecht einfach auf das Militärleben übertragen werden? Wo hörte die militärische Pflicht auf und wo begann das individuelle Recht auf Selbstbestimmung? In Frankreich war um diese Frage eine hitzige Debatte in der Presse, im Abgeordnetenhaus und in medizinischen Kreisen entbrannt. Ausgelöst wurden die Diskussionen von einem Fall, der sich im Sommer 1916 im »Centre neurologique« von Tours unter der Leitung des Arztes Vincent Clovis zugetragen hatte.143 Der Zouave Deschamps, der an einer funktionellen Erkrankung der »camptocormie« erkrankt war – einer krampf haften Neigung des Oberkörpers nach vorne −, hatte eine Elektroschocktherapie verweigert. Es handelte sich dabei um eine übliche Therapieform, die durch die Suggestivkraft des Schmerzes Verkrampfungen zu lösen versuchte, von denen man annahm, dass sie nicht organisch bedingt waren. Der Fall löste eine Flut an öffentlichen Stellungnahmen aus. Viele der meinungsführenden Zeitungen, etwa »L’Oeuvre«, »Le Matin«, »Le Journal« und »Paris-Midi«, berichteten von dem Soldaten, der vor ein Kriegsgericht gestellt und schließlich am 3. August 1916 zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt wurde. Das Parlament hatte sich klar und deutlich ausgesprochen: Der französische Staatsbürger, wenn er aus dem Gefechtsfeuer in eine Sanitätsstation kam, stand nicht mehr unter militärischer Autorität, dann sei er nämlich »sein eigener 143 Siehe hierzu: Roudeboush, Un patient, S. 56–67; Delaporte, Médecins, S. 161–186.

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Herr über seine Zukunft.«144 Er habe nun das Recht, Behandlungsvorschläge des Arztes mitzubestimmen und sie gegebenenfalls, ob zu Recht oder Unrecht mache keinen Unterschied, zu verweigern. Auch die Presse stellte sich auf die Seite des Patienten und forderte in einer Art Auf klärungskampagne die Soldaten auf, von ihrem Recht Gebrauch zu machen. Noch vor der Sitzung im Abgeordnetenhaus am 20. Oktober 1916 schlug der Chefarzt des Neurologischen Zentrums der 16. Region in Montpellier, Joseph Grasset, Alarm. In einer Sitzung der Académie de Médecine vom 13. Juni 1916 zählte er die Fälle in seinem Zentrum auf, in denen sich Patienten dem ärztlichen Eingriff verweigert hätten.145 50 Kranke hatten die Lendenpunktion abgelehnt, die zu diagnostischen Zwecken durchgeführt werde, um bei Neurotikern feinste Läsionen feststellen zu können. Vier Soldaten hatten sich zudem gegen eine Blutabnahme gestellt, die einen Syphiliserreger diagnostizieren sollte. Einige wollten nicht eingegipst werden. Grasset befürchtete den Ausbruch einer wahren Verweigerungsepidemie unter den Soldaten, gegen die der Arzt die Waffen strecken müsste, da ihm keine Handlungsvollmacht zur Verfügung stand. Ärzte beklagten ebenfalls die zunehmende Medikalisierung der Gesellschaft. Machtlos stehe ein Arzt den Soldaten gegenüber, welche die medizinische Kapazität in Frage stellten, da sie in irgendeiner populärwissenschaftlichen Zeitung über die Erfolge dieser oder jener Operation gelesen hätten.146 Die Zahl der »soldats protestataires« scheint bereits zu Kriegsbeginn groß gewesen zu sein. Sie nahm im Krieg stetig zu.147 Ein ministerielles Rundschreiben, das Klarheit in die Lage bringen sollte, datiert bereits vom 5. April 1915. Daraus lässt sich auf ein frühes Auftreten der Operationsverweigerungen schließen.148 Die Vorgaben der Regierung stellten sich für die Ärzte als durch und durch ungenügend heraus. Sie betrafen nur diejenigen therapeutischen Eingriffe, die den Soldaten immun gegenüber infektiösen Erkrankungen machen oder eine vollständige oder partielle Heilung herbeiführen sollten. Nicht vorgesehen waren Maßnahmen, die zu diagnostischen Zwecken angewandt wurden. Außerdem beschränkten sie sich auf die »méthodes simple et non san-

144 So im Journal officiel n. 287, 1916, zitiert in: Delmas, P., Comment faut-il entendre les rapports respectifs du chirurgien et du blessé dans l’armée, in: PaM, Bd. 27, 1918, S. 50. 145 Grasset, J., Le droit du blessé de refuser des interventions ou opérations reconnues nécessaires pour le diagnostic ou le traitement. Sitzung in der Académie de Médecine am 13. Juni 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 718–720, rezensiert in: PM, 15. Juni 1916, Nr. 34, S. 270. 146 Delmas, P., Comment faut-il entendre les rapports respectifs du chirurgien et du blessé dans l’armée, in: PaM, Bd. 27, 1918, S. 54. 147 So auch Chauffard in der Diskussion in der Académie de Médecine am 6. Juni 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 687. 148 Grasset, J., Le droit du blessé de refuser des interventions ou opérations reconnues nécessaires pour le diagnostic ou le traitement. Sitzung in der Académie de Médecine am 13. Juni 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 718–720, rezensiert in: PM, 15. Juni 1916, Nr. 34, S. 270.

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glantes«, auf einfache und nicht blutige Eingriffe wie die Massage, die Thermo- und Elektrotherapie. In der Académie de Médecine wurde die Frage durch einen Vortrag von Reynier angestoßen. Dieser wollte die Chloroformierung als eine Zwangsmaßnahme analog zu den Impfungen auch ohne Einwilligung des Patienten durchführen. Diese Form der Narkose war nicht allein eine vorbereitende Maßnahme zu einem operativen Eingriff. Ähnlich wie bei der oben genannten Elektrotherapie wurde der Chloroformschlaf auch dazu benutzt, »eine hysterische Verkrampfung zu erkennen, eine Simulation aufzudecken oder um rasch die Fehlhaltung (»position vicieuse«) eines Gelenks, das der Patient lange Zeit nicht bewegt hatte, zu lösen«.149 Im Allgemeinen gehörte die Chloroformierung also zum therapeutischen Arsenal der funktionellen Störungen. Es sei ungerecht, so Reynier, dass sich ein Patient diesem sowohl therapeutischen als auch differentialdiagnostischen Mittel verweigere, das weniger Gefahren berge als die prophylaktischen Injektionen. Ein solches Verhalten verhelfe dem Soldaten dazu, sich dem Dienst an der Waffe zu entziehen. Obgleich Reynier vehement dafür eintrat, die Chloroformierung als Pflichtuntersuchung einzuführen, war ein großer Teil der Akademiemitglieder nicht bereit, ihm darin zu folgen. Die Chloroformierung stellte zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein massives Eingreifen nicht selten mit Todesfolge dar, erwiderte auch der Arzt Quénu.150 Die Akademiemitglieder gingen recht behutsam in dieser Frage vor, immerhin stellte sie ein Grundrecht des Patienten in Frage, das zu einem nicht unerheblichen Teil das ärztliche zivile Selbstverständnis mitbestimmte. In der Diskussion nach dem Vortrag von Reynier kamen die Akademiemitglieder zu keinem eindeutigen Ergebnis außer demjenigen, dass es sich um eine der dringlichsten Fragen handelte, die sich dem Arzt im Krieg stelle und die eine eingehende Untersuchung erfordere. Zu diesem Zweck wurde eine Kommission eingerichtet. Am 19. September 1916 konnten sich die Akademiemitglieder in ihrer Abschlussdiskussion auf den Wortlaut ihres Beschlusses einigen: Angesichts der medizinischen und chirurgischen kompetenten Arbeit der Kriegsärzte hätten die militärischen Kranken und Verletzten keine Veranlassung, sich den klinischen diagnostischen und behandelnden Eingriffen zu verweigern, die dem aktuellen Wissensstand entsprächen und die beste Heilung in Aussicht stellten.151 Dass es sich bei den Diskussionen um eine besonders heikle und – mit den Worten Helmes – gefährliche und un-

149 Reynier, Chloroformisation obligatoire dans le service militaire pour le diagnostic ou la thérapeutique sans opérations sanglante. Sitzung in der Académie de Médecine am 6. Juni 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 683. 150 Ebd., S. 687. 151 Sitzung in der Académie de Médecine vom 19. September 1916, in: BAM, Bd. 76, 1916, S. 210.

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nütze Frage handelte,152 wird schon daraus ersichtlich, dass die Diskussionen in der Académie im »Comité secret« geführt wurden und im Bulletin nicht dokumentiert sind. In der medizinischen Fachpresse war man sich prinzipiell einig darüber, dass die Patientenrechte unter militärischen Bedingungen außer Kraft gesetzt waren. Hier ließen es die Ärzte nicht so sehr an Vorsicht walten wie ihre Kollegen in der Académie. Für das Wohl des Volksganzen mussten auch individuelle Freiheiten eingeschränkt werden. Der Krieg hatte dem Individuum einen neuen Status auferlegt: »Der Sohn gehört nun nicht mehr der Mutter, der Ehemann nicht mehr der Ehefrau und der Vater nicht mehr seinen Kindern, deren Stütze er war. Das kollektive Leben wird an die Stelle des Familienlebens gesetzt, deren Verbindungen abrupt unterbunden wurden: Schreckliches Gesetz, aber Gesetz des Heils.«153

Herrschte auch im Grundsatz Einigkeit darüber, dass eine Militärperson seinem Vaterland und seinen Kameraden verpflichtet war und so alles zu seiner Heilung erdenkliche beizutragen hatte, stieß die praktische Durchführung des Prinzips auf einige Schwierigkeiten. In der Praxis sah sich der Arzt nicht zuständig, einen Eingriff auch ohne Einwilligung des Patienten durchzuführen und im schlimmsten Fall sogar zu Zwangsmaßnahmen zu greifen. Die heikle Situation, in der sich der Zivilarzt befand, warf erneut die brisante Frage auf, welche Position der zu Kriegszwecken eingezogene Arzt innerhalb militärischer Strukturen und im Arzt-Patienten-Verhältnis unter Kriegsbedingungen einnehmen sollte. Der Arzt im Krieg, so der Rechtsmediziner Delmas, sei kein Heeresmitglied.154 Der militärische Rang verleihe ihm lediglich die Hochachtung innerhalb der militärischen Strukturen, die seine persönliche Leistung erfordere, und eine entsprechende Besoldung. Diese Höherrangigkeit gegenüber den gemeinen Mannschaften übertrage ihm jedoch keine befehlende Autorität. Im militärischen Arzt-Patienten-Verhältnis sei der Arzt zunächst ein »expert-technique« zur Feststellung von Diagnose und Prognose. Die Militärleitung hätte das Recht, die Beurteilung des behandelnden Arztes zu kennen, weshalb auch ein Widerspruch des Soldaten gegen die ärztliche Diagnosestellung ein schlimmes Vergehen gegen die militärische Disziplin darstelle. Zum anderen agiere der Arzt dem Patienten gegenüber als Therapeut und zwar kraft seiner technischen Kompetenzen als Bevollmächtigter der Militärleitung. Der Arzt habe deswegen seine Pflicht sowohl gegenüber dem kranken und verletzten Soldaten

152 Helme, L’Académie de Médecine et le droit du blessé, in: PM, partie paramédicale, 29. Juni 1916, Nr. 36, S. 283. 153 Ebd., S. 282. 154 Delmas, P., Comment faut-il entendre les rapports respectifs du chirurgien et du blessé dans l’armée, in: PaM, Bd. 27, 1918, S. 52.

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als auch gegen die militärischen Autoritäten zu erfüllen. Der Rechtsmediziner Delmas betonte somit das militärische Angestelltenverhältnis des Arztes. Die ärztlichen Vorschläge, um in dieser Situation Abhilfe zu leisten, fielen unterschiedlich aus. Delmas selbst appellierte an die militärischen Instanzen. Ihnen und nicht den Ärzten oblag es, den Konflikt zu lösen: »Es wäre ebenso kindisch und ungerecht, den Arzt zu beschuldigen und ihn im Streitfall zum Sündenbock zu machen, wie das Thermometer wegen der angezeigten Temperatur anzuklagen.«155 Delmas schlug vor, den widerspenstigen Patienten einfach in seine Einheit zurückzuschicken, nicht als Strafe, sondern weil seine Anwesenheit in der Sanitätsstation keine Nützlichkeit mehr hätte und dadurch Nachahmungen weiterer Patienten ausblieben. Schließlich läge es dann an den Militärinstanzen, gegebenenfalls Sanktionen zu verhängen. Im Allgemeinen wurden Zwangsmaßregeln, die vom Arzt durchgeführt werden sollten, strikt abgelehnt. Die Autorität, die vom Arzt auszugehen hatte, sei mit solchen Mitteln unvereinbar. Einzig und allein in der moralischen Unterstützung liege sein maßgebender Einfluss auf den kampfesmüden Soldaten. Die lange Kriegsdauer, so das Redaktionsmitglied der »Presse Médicale« Helme, vermindere verständlicherweise den Kampfeswillen. »Glücklicherweise ist hier der Arzt zur Stelle, der gute Arbeiter, der mit Taktgefühl und klinischem Sinn, das Pflichtgefühl in den kraftlosen Seelen wiedererweckt.«156 Der Arzt solle nicht kraft seiner befehlenden Gewalt auftreten, sondern als Erzieher, der den Soldaten ein moralischer Beistand sei. In dieser Frage war die Persönlichkeit desjenigen Arztes gefragt, der in unmittelbarer Nähe und Kameradschaft zu den kämpfenden Soldaten stand und nicht der Arzt im Hinterland. In Deutschland entzündete sich um patientenrechtliche Fragen im Krieg weder in der Öffentlichkeit noch in medizinischen Kreisen eine nennenswerte Debatte. Nur wenige Ärzte meldeten sich zu Wort, um auf Unzulänglichkeiten in den militärischen Vorschriften hinzuweisen, so 1915 der Stabsarzt des Festungslazarettes in Thorn Brewitt.157 Ihm war im Musterungsgeschäft aufgefallen, dass einige junge Männer garnisonsdienstfähig oder sogar untauglich geschrieben wurden, da Schäden wie Geschwülste, Knochenauswüchse oder Unterleibsbrüche vorlagen, die tatsächlich die Bewegungsfreiheit einschränkten, die man aber leicht operativ beheben könnte. Dagegen wurden ältere Landwehrmänner und Landsturmleute als felddienstfähig befunden, die zwar den militärischen Bestimmungen durchaus entsprachen, jedoch auf Grund ihres Alters den Anstrengungen des Feldzuges viel weniger widerstehen könnten 155 Ebd., S. 55. 156 Helme, L’Académie de Médecine et le droit du blessé, in: PM, partie paramédicale, 29. Juni 1916, Nr. 36, S. 283. 157 Brewitt, R., Das Recht und die Pflicht zu operativen Eingriffen an Heerespflichtigen in Kriegszeiten. Vortrag in der militärärztlichen Gesellschaft der Festung Thorn, in: DMW, 22. April 1915, Nr. 17, S. 500f.

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als manch einer der jungen Gestellungspflichtigen. Im Namen der Gleichbehandlung stellte sich ihm die Frage, ob es »unter den derzeitigen Kriegsverhältnissen nicht möglich [sei], derartige, die körperliche Vollkraft wiederherstellende Operationen auf militärischen Befehl unter gewissen Voraussetzungen vornehmen zu lassen?«158 Aus militärischen wie sozialen Gründen forderte Brewitt im Zweifelsfall ein Mitbestimmungsrecht der Militärbehörde. In der Vorkriegszeit klaffte in der Tat eine Lücke in der Rechtslage, wie sie die Kriegssanitätsordnung von 1907 vorschrieb. Eine Verfügung der Medizinalabteilung des Kriegsministeriums vom 6. Dezember 1916 sollte Abhilfe schaffen.159 Diese unterschied zwei Fälle: zum einen die Versorgungsberechtigten, die bereits aus dem Heeresdienst ausgeschieden waren; zum anderen die Soldaten, die durch einen medizinischen Eingriff wieder dienstbrauchbar, also kriegs-, garnisons- oder arbeitsverwendungsfähig, gemacht werden könnten. Für die erste Gruppe galt die Fassung der Kriegssanitätsordnung: Sie mussten sich eine operative und orthopädische Behandlung gefallen lassen, wenn sie »gefahrlos und nicht mit nennenswerten Schmerzen verknüpft ist«. Behandlungen und Untersuchungen, die unter Narkose vorgenommen wurden, schieden aus. Bei Weigerung musste der Betreffende mit einer Minderung oder Entziehung der Versorgungsleistungen rechnen. Für die zweite Gruppe galten rigorosere Regelungen: Sie mussten den ärztlichen Vorschriften Folge leisten, wenn es sich nicht um einen erheblichen Eingriff handelte. Darunter fielen lebensgefährliche Operationen und Narkosen, jedoch keine mehr oder weniger schmerzhaften und unbequemen Behandlungsarten. Schmerzhaftigkeit war für die Erheblichkeit eines Eingriffes ohne jegliche Bedeutung. Die Entscheidung, ob eine Operation erheblich und ablehnbar oder unerheblich und erzwingbar ist, stand dem behandelnden Arzt zu. Dieser hatte im Zweifelsfall die Pflicht, das Urteil des Sanitätsamtes einzuholen, nach dessen Entscheidung gegebenenfalls der Eingriff auch unter Zwang durchzuführen war. Für den Oberstabsarzt Mandry, der seinen Kollegen in einem Vortrag die Bestimmungen der Heeresleitung vorstellte, genügten diese Regelungen, um dem Arzt die notwendige Rückendeckung zu geben. Lediglich in der Frage der Narkose wich er von den militärischen Richtlinien insofern ab, als er diese nicht als einen unzumutbaren Eingriff wertete. Praktisch stöße sie jedoch auf keine allzu großen Schwierigkeiten, da die Allgemeinnarkose mehr und mehr von der Lokalnarkose ersetzt würde und diese ein unerheblicher Eingriff sei. Besonders begrüßenswert hielt der Oberstabsarzt das Eingreifen des Sanitätsamtes als letzte behördliche Entscheidungsinstanz, da »die erzwungene 158 Ebd., S. 500. 159 Zum Folgenden siehe Mandry, Über die Zulässigkeit ärztlicher Eingriffe an Heeresangehörigen. Militärärztlicher Vortrag vom 14. April 1917, in: MCWÄL, 30. Juni 1917, Nr. 26, S. 289f.

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Operation […] dem ärztlichen Empfinden« widerspräche. Auch die Medizinalabteilung hatte diesem Grundsatz Rechnung getragen. Sie erwartete, »dass die behandelnden Ärzte durch ihr Auftreten und ihr ärztliches Können […] jenes Vertrauensverhältnis zu den ihrer Behandlung und Beurteilung überwiesenen Kranken herzustellen dauernd bestrebt sind, die ernste Streitfälle zu seltenen Ausnahmefällen machen wird«.160 Ganz ähnlich wie in Frankreich, jedoch ohne hitzige Debatten, sah man die Rolle des deutschen Arztes nicht als eine befehlende, militärisch unüberwindbare Autorität, wodurch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten längerfristigen Schaden erleiden könne. Vielmehr wurde auch hier die moralische Instanz des Arztes hervorgehoben.

3. Der zweite Sieg an der Heimatfront Der ärztliche Blick konzentrierte sich nicht nur auf die mobilisierten Männer, sondern ebenso auf die in der Heimat verbliebene Zivilbevölkerung. Auch hier, das wurde mit zunehmender Kriegsdauer und immer größeren Menschenverlusten klar, galt es einen Sieg davonzutragen. Was nütze der schönste Waffensieg, wenn die Nation vom Aussterben bedroht sei, versicherten sich die Ärzte beider Länder in großer Einmut. Kampfeslinien und Bedrohungsszenarien verschoben sich mehr und mehr von der Front in die Heimat. Nicht mehr allein der äußere Feind schlug dem »Volkskörper« die todbringenden Wunden, auch innere Feinde – es sei hier nur die Trias von Tuberkulose, Alkohol und Syphilis erwähnt − drohten ihn zu zersetzen und gesundheitlich zu schädigen. Die Debatte um den Gesundheitszustand und die gesundheitlichen Kriegsfolgen in der Zivilbevölkerung legt von dieser mehr oder weniger diffusen inneren Bedrohung beredtes Zeugnis ab. Mit ihren Befürchtungen nahmen Ärzte auch von einer sich wandelnden Kriegführung Kenntnis, welche die Zivilisten aktiv in die Kriegsanstrengungen mit einbezog bzw. unmittelbar der Kriegsgefahr aussetzte. Von der Zivilbevölkerung wurde die Bereitschaft erwartet, den Krieg rückhaltlos und aktiv zu unterstützen, zumeist durch die Arbeit in der Kriegsindustrie, aber auch durch Engagement in der Kriegsfürsorge und Kriegskrankenpflege. »Die ›zweite Front‹ in der Heimat musste in nicht nachlassendem Maße Material und Menschen für den Krieg an der ‹ersten Front› bereitstellen und zugleich deren Verluste materiell und mental verarbeiten.«161 Das Zusammenspiel von Kriegsund Heimatfront ging über eine solche militärisch gelenkte Zulieferrolle weit hinaus. Die Zivilbevölkerung war ebenso Opfer von direkten Kampf handlungen. Die deutsche Armee stand auf französischem Boden, weite Teile wa160 Ebd., S. 290. 161 Hagemann, Heimat-Front, S. 20.

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ren besetzt. Übergriffe von Soldaten auf die Zivilbevölkerung, insbesondere Vergewaltigungen von Frauen, zeugten von der Entgrenzung der Gewalt im Ersten Weltkrieg.162 Bei Luftangriffen auf Städte kamen einige hundert Zivilisten ums Leben.163 In allen kriegführenden Ländern verschlechterte sich die Ernährungslage drastisch.164 Davon waren vor allem die besetzten Gebiete in Belgien, Nordfrankreich und Polen sowie im letzten Kriegsjahr der Nordosten Italiens betroffen, da die Besatzungsmächte eine Politik betrieben, die sich in erster Linie um die Verpflegung der stationierten Truppen kümmerte. Durch die Blockade von Lebensmitteln und Brennstoffen verschlimmerte sich auch im Deutschen Reich die Ernährungslage mit zunehmender Kriegsdauer, so dass bei der Lebensmittelknappheit zahlreiche Zivilisten verhungerten. Insbesondere vormals kranke und ältere Personen sowie Insassen von psychiatrischen Heilanstalten wurden zu Opfern des Krieges und fielen gleichzeitig einem gesellschaftlichen Tabu anheim. Die Gesundheit der Zivilbevölkerung, die mit dem Ziel einer totalen Mobilmachung sowohl zu den Kriegsanstrengungen herangezogen als auch zu direkten Ziele einer systematischen Kriegführung wurde, war in einem solch entgrenzten Krieg auf das höchste bedroht.165 Das Problem einer gesundheitlich zunehmend in Mitleidenschaft gezogenen und in ihrer Existenz gefährdeten Zivilbevölkerung wurde unter den deutschen und den französischen Ärzten ganz unterschiedlich wahrgenommen. Der Gesundheitszustand der Zivilbevölkerung Für Frankreich haben die beiden Historiker Lion Murard und Patrick Zylberman in ihrem Standardwerk über die Hygiene in der Dritten Republik die schwach ausgebildeten Strukturen einer öffentlichen Gesundheitsfürsorge herausgearbeitet.166 Das Gesetz von 1902 sprach weitreichende Kompetenzen nicht den Ärzten oder anderen medizinisch spezialisierten Berufsgruppen zu, sondern lokalen Eliten wie den Präfekten und Bürgermeistern. Französische Ärzte hatten sich den Plagen von Tuberkulose, Alkohol, Syphilis oder auch der Säuglingspflege zwar verstärkt angenommen, ihr Aktionsradius blieb allerdings äußerst beschränkt. Sie übten allenfalls durch ihre Kollegen im Abgeordnetenhaus 162 Über die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten siehe Becker, Oubliés. 163 Zu den Auswirkungen der Städtebombardierungen auf die Zivilbevölkerung siehe Kap. V. »Psychische Kriegsfolgen an der Heimatfront« im dritten Teil dieser Arbeit. 164 Zur Ernährungssituation siehe Roerkohl; Winter u. Robert (Hg.), Capital Cities. 165 Zum Totalisierungskonzept, über das in der Forschung noch keine Einigkeit besteht, siehe Chickering, u. Förster (Hg.). Die totale Mobilisierung und die totale Kriegsmethode, das heißt u.a. die systematische und zielbewusste Kriegführung gegen die feindliche Zivilbevölkerung, decken natürlich nicht alle Aspekte des totalen Krieges ab, wie etwa die totalen Kriegsziele und die totale Kontrolle. 166 Murard u. Zylberman, Hygiène.

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Einfluss auf die Gesetzgebung aus sowie in den verschiedenen medizinischen Gesellschaften und Akademien, die den Regierungsinstanzen beratend zur Seite standen.167 Dieser gesetzgeberische Weg war indes nicht immer von Erfolg gekrönt und zudem ein höchst langwieriger. In der konkreten Umsetzung an Ort und Stelle mussten die Ärzte sich mit weniger weitreichenden Kompetenzen begnügen als ihre deutschen Kollegen. Der Erste Weltkrieg stellte die Ärzte vor eine akute Notsituation, die nicht in langwierigen Verfahren und vom Katheder aus, sondern sofort und an Ort und Stelle gelöst werden musste. Murard und Zylberman heben in ihren Untersuchungen die wichtigen Impulse des Ersten Weltkriegs für den Ausbau der öffentlichen Gesundheitsfürsorge hervor. Nicht das Gesetz von 1902, sondern die unbarmherzige Offenlegung der Defizite im Gesundheitssystem durch den Krieg brachte hier die Wende. Während des Krieges hatte die Gesunderhaltung der kämpfenden Truppe Priorität. Die Nation, so der aussagekräftige Titel eines Artikels der beiden Historiker, fiel der Armee zum Opfer.168 Bereits vor dem Krieg herrschende Missstände traten nun offensichtlich zu Tage und verschlechterten sich bei zunehmendem Mangel an Ärzten und Krankenhausbetten. Der Soldat hatte eindeutigen Vorrang vor dem Zivilisten. Der Zusammenbruch der französischen zivilen Gesundheitsfürsorge im Gegensatz zu den recht gut versorgten Truppenteilen fand in der ärztlichen Presse keine explizite Erwähnung. Auch der Gesundheitszustand der französischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten war nicht Gegenstand ärztlicher Sorge. Eine Wende brachte das massive Eingreifen der amerikanischen Wohlfahrtsorganisationen, insbesondere der Rockefeller Foundation, die von Berichten über desaströse sanitäre Verhältnisse aufgeschreckt worden war. Nun wurde auch die medizinische Öffentlichkeit für solche Missstände sensibilisiert und zwar nicht nur als ein Problem, das vom Gesetzgeber angepackt werden müsse. Zu dessen Behebung sahen die Ärzte die Notwendigkeit, erzieherische Wege zu beschreiten. Mit Bewunderung blickten die französischen Ärzte auf die systematisch durchgeführte und effizient gestaltete öffentliche Gesundheitskampagne der Amerikaner gegen eine Ausbreitung von Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten, für eine sexual- und körperhygienische Prävention sowie für eine verbesserte Säuglings- und Mutterpflege.169 Während ihrer zahlreichen Touren durch Frankreich zwischen 1918 und 1922 erreichte die Gesundheitspropaganda der Rockefeller Foundation die Bewohner von 1338 Städten und 65 Départements.170 Es war vor allem dem amerikanischen Impuls 167 Siehe Kap. I.3. »Individuelle und soziale Medizin – ärztliche Handlungsspielräume« im ersten Teil dieser Arbeit. 168 Siehe hierzu Murard u. Zylberman, The Nation, S. 343–364. 169 Zur Einführung des amerikanischen Modells der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten siehe Kap. II. »Militarisierung der Hygiene« im zweiten Teil dieser Arbeit. 170 Faure, Histoire Sociale, S. 223.

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zu verdanken, dass in den Jahren nach dem Krieg die Gesundheitserziehung im großen Maßstab als ein wichtiger Teil der ärztlichen Tätigkeit wahrgenommen wurde. Noch während des Krieges bereiteten die französischen Ärzte den Amerikanern einen wohlwollenden Empfang. So berichtete der für die »Presse Médicale« schreibende Helme bewundernd von einer Ausstellung über Säuglingspflege, die von den Amerikanern organisiert worden war.171 Er attackierte direkt seine Kollegen, die es als unehrenhaft empfanden, wenn sie nicht wie der »Pfarrer von der Kanzel von ihrem Katheder aus, die großspurigen Reden schwingen« könnten. Sie vergäßen, so Helme weiter, dass man sich zu einem Kind hinunterbeugen müsse, um mit ihm zu sprechen: »Ist das Volk schließlich nichts anderes als ein Kind?« Besonderes didaktisches Geschick sah der Arzt in einer Installation verwirklicht, in der alle paar Sekunden eine elektrische Lampe ausgelöscht wurde. Der Zuschauer erfuhr aus dem Off, dass bei jedem Ausgehen der Lampe, ein Kind sterbe und »ein unschuldiges Lächeln nicht mehr [sein] Leben erhellen« werde. »Wenn Sie wollen, dass die Lampe des Lebens seltener gelöscht wird, so machen Sie schöne Kinder, trinken Sie weniger, hetzen Sie nicht mehr und pflegen Sie sorgsam Ihre Kleinen«, kommentierte Helme beeindruckt die pädagogische Intention.172 Trotz der wohlwollenden Rezeption, welche die amerikanische Kampagne in den französischen Fachzeitschriften erfuhr, gestaltete sich ihre Durchführung äußerst schwierig.173 Die Kompetenzstreitigkeiten auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitsfürsorge waren zu verfangen, so dass die Rockefeller Foundation von ihrem Grundsatz abging, auf die landeseigenen kompetenten Eliten in hygienischen Angelegenheiten zurückzugreifen und selbst nur gestaltend im Hintergrund aufzutreten. Trotzdem ging die medizinische Fachpresse mit großer Emphase auf die positive »Zusammenarbeit« gerade auch von amerikanischen mit französischen Ärzten ein. Die Herzen sollten sich zwischen den Ärzteschaften zu einem transatlantischen Bündnis verbinden, sowie die Soldaten auf dem Schlachtfeld ihr Blut vermischten.174 Dabei wurde nicht übersehen, dass nicht nur humanitäre Beweggründe für das amerikanische Interesse an einer gesundheitlich und hygienisch kräftigen französischen Bevölkerung eine Rolle spielten. Vielmehr gleiche das amerikanische medizinisch-soziale Eingreifen in französische Belange einer militärischen Unterstützung, welche die Ressource Mensch einer militärisch schlagkräftigen Nation wieder mehr ausschöpfen möchte. Die Amerikaner handelten somit im Interesse eines starken Frankreich im europäischen Gleichgewicht. 171 Helme, Nos frères américains et les nouveaux procédés de propagande pour l’hygiène populaire, in: PM, partie paramédicale, 9. Mai 1918, Nr. 26, S. 297–299. 172 Ebd., S. 299. 173 Zum Folgenden siehe Murard u. Zylberman, L’autre guerre, S. 367–398. 174 Helme, Nos frères américains et les nouveaux procédés de propagande pour l’hygiène populaire, in: PM, partie paramédicale, 9. Mai 1918, Nr. 26, S. 299.

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Parallel zur Verteidigung an der Kriegsfront stand die Fürsorgearbeit an der Heimatfront: »Während auf dem Schlachtfeld die alliierten Helden mittels Eisen und Feuer eine neue Welt schmieden, bemühen sich hier arbeitsame Bienen eine sanitäre Wiedergeburt eines ganzen Volkes vorzubereiten.«175 Das Eingreifen der amerikanischen Alliierten in den Kampf um eine schlagkräftige französische Nation hatte die schwache Stellung der Ärzte an der Heimatfront offen gelegt. Das Bewusstsein, als Träger einer starken Nation sowie als Volksbelehrer in allen Gesundheitsfragen zu fungieren, war bis dato noch nicht in großem Maßstab in die breite Ärzteschaft vorgedrungen, zumal es an einem republikweiten Netz an Institutionen fehlte. Die enthusiastische Rezeption der Arbeit der Rockefeller Foundation muss auch vor dem Hintergrund der offenen Konflikte zwischen den Ärzten gesehen werden. Die Gesundheitskampagne der Amerikaner wertete die Tätigkeit des örtlich gebundenen Allgemeinpraktikers wieder auf und band ihn in seiner volkserzieherischen Funktion in die öffentliche Gesundheitsfürsorge ein, die bis dahin eher in den Kompetenzbereich der medizinischen Eliten, wie der Académie de Médecine, gefallen war. In Deutschland fürchteten Ärzte in weitaus größerem Maße um die Gesunderhaltung der Zivilbevölkerung. Die ärztliche Sorge fokussierte sich zunehmend auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch die drastische Lebensmittelknappheit. Bereits Ende 1914 hatten sich renommierte Wissenschaftler, darunter Nationalökonomen, Ernährungsphysiologen und Ärzte, zur Abfassung einer Denkschrift zusammengefunden, um den zukünftigen Bedarf der deutschen Bevölkerung und die zur Verfügung stehenden Nahrungsquellen genauesten Berechnungen zu unterziehen.176 Diese Schrift machte den Anfang einer konzertierten interdisziplinären Zusammenarbeit und eines wissenschaftlichen Entwurfs mit dem Ziel, die reichsweite Nahrungszufuhr nach strengen Prinzipien zu rationalisieren. Der Plan sah vor, die Konstitution der Individual- sowie des gesamten »Volkskörpers« nach der Bemessung ihrer jeweiligen Leistungsfähigkeit zu erfassen. Das Autorenkollektiv kam zu einem überaus günstigen Ergebnis: »Bei Berechnung unseres Bedarfs und unserer Hilfsquellen ist überall eher zu schlecht als zu gut gerechnet.«177 Die Rationalisierungsstrategien erstreckten sich von den staatlichen Eingriffen in die Nahrungsproduktion und -verteilung bis hin zu den einzelnen Haushalten, wo Frauen als Experten der privaten Nahrungsherstellung fungierten. Der frühe und intensive Austausch 175 Desfosses, P., L’Assistance américaine à l’enfance française, in: PM, partie paramédicale, 3. Dezember 1917, Nr. 67, S. 727. 176 Eltzbacher, P. (Hg.). An der Denkschrift hatten mitgewirkt: Friedrich Aereboe, Karl Ballod, Franz Beyschlag, Wilhelm Caspari, Paul Eltzbacher, Hedwig Heyl, Paul Krusch, Robert Kuczynski, Kurt Lehmann, Otto Lemmermann, Karl Oppenheimer, Max Rubner, Kurt von Rümker, Bruno Tacke, Hermann Warmbold und Nathan Zuntz. 177 Ebd., S. 105.

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der Wissenschaftler über die Lösung der Ernährungsfrage kontrastierte mit der schleppenden und von Gruppen- und lokalen Interessen geprägten Lebensmittelrationierung, wie sie tatsächlich zur Durchführung kam.178 Da Ärzte als Körperexperten die Nahrungszufuhr für die unterschiedlichen Konstitutionen der jeweiligen Bevölkerungsgruppen – Männer, Frauen, Kinder, Leicht- und Schwerarbeiter, Kranke und Schwache – am genauesten bestimmen konnten, schrieben sie sich selbst eine wichtige Rolle in der Rationalisierung der Nahrungsverteilung zu. Namentlich der Berliner Ernährungsphysiologe Max Rubner, der seine wissenschaftlichen Kenntnisse ebenfalls für den oben genannten Sammelband zur Verfügung stellte, setzte sich frühzeitig eingehend mit der Problemlage auseinander. Rubner betonte, dass es sich bei den Berechnungen nicht allein um Bilanzfragen von Eiweiß, Fett und Kohlehydraten handelte. Vielmehr sei eine umfassende Gesellschaftsanalyse von Nöten, welche die unterschiedlichen »Stammeseigentümlichkeiten«, Essgewohnheiten, die allgemeinen Sitten und sozialen Besonderheiten mit einbezog. So kristallisiere sich »aus der Einzelernährung das heraus, was man die mittlere nationale Ernährung nennen muß«.179 Um die gesamte deutsche Bevölkerung nach ihrer Konstitution und Leistungsfähigkeit rational erfassen zu können, plädierten manche Ärzte für eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Krankenkassen, dem Heeressanitätswesen und den wissenschaftlichen ärztlichen Experten.180 Neben einer Sterblichkeits- und Morbiditätsstatistik fehle es an einer positiven »Konstitutionsstatistik«, wie sie das Krankenkassenmaterial liefern könne. Der Mensch »als Kapitalanlage« würde darin erfasst werden, »beginnend vom Säuglingsalter, fortgesetzt bis zur Rekrutierung«. Der Ernährungsmangel hatte damit der ärztlichen Vision einer vollständig erfassten »Volkskonstitution« weiter Auftrieb gegeben. Das Problem einer rationalisierten Nahrungsmittelverteilung war ein eminent soziales. Die unterbemittelten, schwachen und kränklichen Teile der Bevölkerung waren die ersten, die von der Lebensmittelknappheit betroffen waren. Ärzte machten es sich zur Aufgabe, in diesen sozialen Konflikt weniger als Heilpersonen denn als Volksbelehrer einzugreifen. Man müsse dahin wirken, dass die Masse nicht nur durch staatliche Zwangsmaßnahmen, sondern auch aus innerer Überzeugung dieses physische Opfer bringe, so Rubner: »Der kategorische Imperativ muß als vernünftige, zweckmäßige und gesundheitsförderliche Handlung empfunden werden.«181 Das Redaktionsmitglied der »Deut178 Siehe hierzu Roerkohl. 179 Rubner, M., Der Staat und die Volksernährung, in: DMW, 5. November 1914, Nr. 45, S. 1948. 180 Ascher, Zweckverbände für Gesundheitsfürsorge, in: DMW, 2. November 1916, Nr. 44, S. 1355–1357. 181 Rubner, M,, Der Staat und die Volksernährung, in: DMW, 5. November 1914, Nr. 45, S. 1945.

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schen Medizinischen Wochenschrift«, Julius Schwalbe, rief die Ärzte, die »bei ihrer ständigen Berührung mit den Familien reichlich Gelegenheit haben«, dazu auf, sich an dieser Volksbelehrungskampagne, in deren Zentrum die Frau stand, aktiv zu beteiligen.182 In der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« dominierten zu Kriegsbeginn bei weitem die ärztlichen Beteuerungen, der Gesundheitszustand der Deutschen habe nicht unter den Mangelbedingungen zu leiden. Der durchschnittliche Ernährungszustand sei zufrieden stellend, so der Arzt und Gesundheitspolitiker Adolf Gottstein in Charlottenburg.183 Den individuellen Klagen der Patienten ständen objektive Befunde entgegen. Besonders beruhigend wirkten die ärztlichen Versicherungen, Säuglinge, Kinder und Jugendliche seien in ihrem Wachstum von der Not nicht betroffen.184 Die Diagnose stützte sich vor allem auf physiologische Kriterien: Es konnten in der Regel keine Gewichtsunterschiede gegenüber den Kindern der Vorkriegszeit sowie Unterschiede im Längenwachstum gefunden werden. In einem Fall wurde jedoch auch Kritik an dieser Methode geübt185: Die Inspektion müsse auf den Gesamthabitus gerichtet sein. Stoffwechseluntersuchungen, die Veränderung der Muskeltätigkeit im Zusammenhang mit der herabgesetzten und veränderten Ernährung würden von den Ärzten üblicherweise nicht in ihre Analyse einbezogen. Analog zu den Soldatenkörpern ließ sich auch zu den zivilen Gesundheitsverhältnissen die Stimme der »Kriegspathologen« vernehmen. Anhand von Sektionen an Zivilpersonen kam der Pathologe Karl Walz in einem militärärztlichen Vortrag zum Schluss, er könne mit Sicherheit ausschließen, dass dem »Aushungerungskrieg eine Wirkung auf Verlauf bestimmter Krankheiten« zukomme. Eine ausreichende Fettschicht war bei allen von ihm sezierten Personen vorhanden.186 Die robuste Konstitution des deutschen Volkes angesichts des Notstandes schlug sich 182 Schwalbe, J., Kriegsernährung, in: DMW, 4. Februar 1915, Nr. 6, S. 166; ebenso Strauss, H., Kriegsernährung und Krankendiät, in: DMW, 21. Januar 1915, Nr. 4, S. 93f. 183 Gottstein, A., Ärztliche Bemerkungen zur Nahrungsmittelversorgung, in: DMW, 1. Juni 1916, Nr. 22, S. 671. 184 Lommel, F., Über den Einfluß der kriegsmäßig veränderten Ernährung. Vortrag in der Medizinisch-naturwissenschaftlichen Gesellschaft in Jena am 24. Januar 1916, in: DMW, 23. März 1916, Nr. 12, S. 351–353; zu den Untersuchungen an Kindern und Jugendlichen und den durchgehend guten Prognosen siehe ebenso: Über schulärztliche Untersuchungen in GrossStuttgart, in: MCWÄL, 8. April 1916, Nr. 15, S. 146; vom Schularzt in Charlottenburg Kettner, A., Das erste Kriegsjahr und die großstädtischen Volksschulkinder, in: DMW, 25. November 1915, Nr. 48, S. 1428–1430. 185 Griesbach, H., Über den Einfluß der Kriegskost auf die Ernährung, insbesondere der Jugend, in: DMW, 7. Juni 1917, Nr. 23, S. 722–724; Peller, S., Die Maße der Neugeborenen und die Kriegsernährung der Schwangeren, in: DMW, 8. Februar 1917, Nr. 6, S. 178–180; Ritter, J., Die Ernährung der Säuglinge während der Kriegszeit, in: DMW, 1. November 1917, Nr. 44, S. 1392–1394. 186 Walz, K., Pathologisch-anatomische Erfahrungen an Kriegsteilnehmern. Militärärztlicher Vortrag mit Demonstrationen gehalten am 16. März 1918, in: MCWÄL, 28. September 1918, Nr. 39, S. 342–344.

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auch in den vermeintlich unveränderten Mortalitätsraten nieder. In den ärztlichen Vereinen demonstrierten Ärzte anhand von statistischen Berechnungen, dass die Sterblichkeitsziffer im Krieg nicht erheblich gestiegen sei.187 Vielfach wurde betont, dass die Nahrungsmittelknappheit auch heilsame Wirkung vor allem bei vormals Schwergewichtigen haben könne. Dass diesem Optimismus von Ärzten, insbesondere von Armen- und Schulärzten, widersprochen wurde, schrieb Gottstein nicht so sehr den physiologischen Folgen des Nahrungsmangels als der allgemeinen Kriegssituation zu.188 Überwiegend seien psychopathologische Störungen zur Beobachtung gekommen, die mit der Nahrungsmittelversorgung in ursächlichem Zusammenhang stünden. Gottstein zählte darunter drei Gruppierungen: 1. diejenigen, deren Willenskraft und damit die Neigung zur Selbsthilfe herabgesetzt sei; 2. die Querulanten, die sich aus »Erfindern«, »Weltverbesserern«, »Neurasthenikern«, »Hypochondern« und »Angebern« zusammensetzten; schließlich 3. bildete sich bei vielen eine Neigung zur Verfolgungssucht heraus. Sie witterten »im friedlichsten Nachbarn [ihren] Feind, der sich auf Kosten anderer mästet«. Die gesundheitlichen Folgen der Hungersnot wurden somit psychopathologisiert, und die höchst angespannte soziale Situation verharmlost. Ein Zusammenhang zwischen den pathologischen Reaktionen einer »Hungerpsychose« und politischen Unruhen wurde allerdings nicht explizit hergestellt.189 Diese günstigen Prognosen ließen sich allerdings im Laufe des Kriegsjahres 1917 nicht mehr aufrechterhalten. Nun wurde explizit von Abmagerung, Mangel- und Unterernährung gesprochen, wenn auch die Gefahren für die Gesundheit immer noch verharmlost wurden.190 Nach den Berechnungen des Berliner Professors Loewy reiche die kontingentierte Nahrung nicht aus, um den erforderlichen Bedarf eines Leichtarbeiters zu decken.191 Das Streben der Bevölkerung, sich neben den rationierten Teilen weitere Nahrungsmittel zu 187 Nocht, B., Krieg und Sterblichkeit in der Zivilbevölkerung, Ärztlicher Verein Hamburg Offizielles Protokoll 1. u 15. VI 1915, in: DMW, 23. September 1915, Nr. 39, S. 1173; Hälsen, G., Wirkungen des Krieges auf die Sterblichkeitsverhältnisse, in: DMW, 30. August 1917, Nr. 35, S. 1109f; Sterblichkeit in Berlin während des Krieges, in: MCWÄL, 3. Juli 1915, Nr. 27, S. 268. 188 Gottstein, A., Ärztliche Bemerkungen zur Nahrungsmittelversorgung, in: DMW, 1. Juni 1916, Nr. 22, S. 672. 189 Ein solcher findet sich beispielsweise 1931 im »Handwörterbuch der psychischen Hygiene und der psychiatrischen Fürsorge« unter dem Eintrag »Ernährung«: Kißkalt, S. 46: »Die letzte deutsche Revolution wäre mindestens nicht mit solcher Sinnlosigkeit durchgeführt worden, wenn nicht die Massen unter der Hungerpsychose gelitten hätten; allgemein in Erinnerung dürften noch sein die Zusammenrottungen auf den Straßen, bei denen Zungenredner das große Wort führten, die wilden Streiks, bei denen die Massen nicht mehr ihren Führern gehorchten; die Leichtgläubigkeit gegenüber den Behauptungen und Prophezeiungen.« 190 Schmidt, A., Unterernährung, Magerkeit und krankhafte Abmagerung, in: DMW, 5. April 1917, Nr. 14, S. 417–420. 191 Loewy, A., Über Kriegskost. Nach statistischen Erhebungen, in: DMW, 15. Februar 1917, Nr. 7, S. 198.

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beschaffen, müsse vor diesem Hintergrund als berechtigt und notwendig anerkannt werden. Sein Kollege Zuntz riet davon ab, Jugendliche zu unnützen körperlichen Betätigungen anzuspornen, da dann der Mehrverbrauch durch die unzureichende Nahrungszufuhr nicht ausgeglichen werden könne.192 Auch auf der Sitzung im Ärztlichen Verein in München vom 13. November 1918 hielten die Ärzte eindeutig fest, dass die Rationierung zur Erhaltung des arbeitenden Menschen nicht genüge und dass Gesundheitsschädigungen eingetreten seien.193 Die ärztliche Position in diesem Verteilungssystem der verknappten Ressource »Nahrung« war zweischneidig. Auf der einen Seite fokussierte sich die Sorge um die Gesunderhaltung des »Volkskörpers« ganz eindeutig auf die reproduktionsfähigen und zukunftsträchtigen Teile der Bevölkerung: auf Männer, Frauen im zeugungsfähigen Alter sowie auf Säuglinge, Schulkinder und heranwachsende Jugendliche. Maßnahmen sollten vor allem die Gesundheit dieser Personengruppen erhalten. Auf der anderen Seite sahen es die Ärzte ebenso als ihre Pflicht an, die durch Krankheit oder Alter geschwächten Personen, ihre ursprünglichen Schutzbefohlenen, nicht zu Opfern der Rationalisierungsmaßnahmen werden zu lassen. Ein großer Teil der Ärzte berichtete über die Auswirkungen des Nahrungsmangels auf Kranke.194 Die drastisch gestiegene Sterblichkeitsrate von alten Personen fand keine dementsprechende Berücksichtigung.195 Um die Nahrungs- und Kräftigungsmittel für Kranke und Schwache zu schonen, sollte eine Umverteilung der vorhandenen Bestände von Gesunden zu Kranken stattfinden.196 Ärzte sprachen sich indes ebenso oft dafür aus, »eine besondere Rücksicht auf Schwache, Kranke, Verlorene« sei »in dieser harten Zeit […] nicht am Platze«, so zitierte Gottstein seine Kollegen und fügte hinzu: 192 Zuntz, N., Die Aufgaben des Arztes beim gegenwärtigen Stande der Ernährungsfragen, in: DMW, 8. November 1917, Nr. 45, S. 1411. 193 Siehe den Diskussionsbeitrag von Müller im Ärztlicher Verein München, 13. Februar 1918, in: DMW, 11. April 1918, Nr. 15, S. 424. 194 Strauss, H., Kriegsernährung und Krankendiät, in: DMW, 21. Januar 1915, Nr. 4, S. 93f; Gottstein, A., Über Massenspeisung und Nahrungsmittelversorgung von Kranken, in: DMW, 31. August und 4. September 1916, Nr. 35 u. 36, S. 1075–1077 u. 1105f; Lublinski, W., Ist eine Unterernährung der Tuberkulösen augenblicklich zu befürchten?, in: DMW, 19. Oktober 1916, Nr. 42, S. 1293–1295; Dienemann, Über die Ernährung der Kranken im Kriege und ihre Grundlagen, in: DMW, 29. März 1917, Nr. 13, S. 394–397; ders., Die einheitliche Regelung der Krankenernährung im Reich, in: DMW, 3. Mai 1917, Nr. 18, S. 558–560; Kuttner, L., Zur weiteren Regelung der Krankenernährung während des Krieges. Vortrag gehalten am 18. Januar in der von der Ärztekammer für die Provinz Brandenburg und den Stadtkreis Berlin einberufenen Ärzteversammlung, in: DMW, 21. u. 28. Februar 1918, Nr. 8 u. 9, S. 203–206 u. 228–231; Fischler, Über Lebensmittelversorgung der Kranken. Münchener Ärztlicher Verein, 27. Februar 1918, in: DMW, 4. April 1918, Nr. 14, S. 302. 195 Robert u. Winter, Un aspect ignoré, S. 303–328. 196 Strauss, H., Kriegsernährung und Krankendiät, in: DMW, 21. Januar 1915, Nr. 4, S. 94.

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»Selbst vom Standpunkt extremer Rassenhygiene ist dies kaum zu rechtfertigen. Schwangere und nährende Frauen, Genesende von schwerer Krankheit, kränkelnde Geistesarbeiter, deren Tätigkeit der Gesamtheit zugutekommt, haben vollen Anspruch auf besondere Berücksichtigung ihres gesteigerten Bedarfs; auch die Erhaltung oder Verlängerung der Erwerbsfähigkeit Erkrankter liegt im Interesse aller, und selbst im verlorenen Fall sollte man dem Kranken und seinen Angehörigen den Trost nicht rauben, dass alles Zulässige zur Milderung der Leiden geschah, hier allerdings mit der Einschränkung, dass dadurch keine Beraubung Vollkräftiger am Unentbehrlichsten eintritt.«197

Das Kriterium der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit potenziell nützlicher Glieder der Gesellschaft spielte, so wird aus den Ausführungen Gottsteins ersichtlich, dennoch eine überragende Rolle. Die Ressource Mensch galt es auf allen Ebenen auszuschöpfen. Der Dresdener Stadtarzt Dienemann, der beim Lebensmittelamt als Sachverständiger und Begutachter tätig war, fasste ebenso wie Gottstein zwei Beweggründe zusammen198: Dass Kranke eine Ausnahmestellung in der Nahrungsmittelversorgung einnähmen, könne man zum einen »nur soweit mit dem Prinzip der Zweckmäßigkeit rechtfertigen, als es sich um Erhaltung oder Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit des Kranken handelt«. Zum anderen beruhe die Bewilligung von Sonderzulagen auf humanen Gesichtspunkten, die »als Mitglieder eines Kulturstaates […] es uns unmöglich machen, die Invaliden des Lebenskampfes, die zu Tode Betroffenen einfach ihrem Schicksal zu überlassen«. Fern blieben den allgemeinärztlichen Debatten allerdings radikale Ansichten über die kriegsbedingte Hungersnot als eugenisch förderliche »reinigende« Auswirkung auf die Zivilbevölkerung. Innerhalb eugenischer Kreise, das hat Stefan Kühl gezeigt, war es durchaus üblich, den Hungertod von Zehntausenden von sozial und gesundheitlich Schwachen mit den genetisch hochwertigen Verlust von Soldatenleben an der Front zu verrechnen.199 Auch der Mediziner Alfred Ploetz, einer der bedeutendsten Vertreter der Rassenhygiene in Deutschland die Rassenhygiene, hatte sich dahingehend geäußert.200 Derartige Stellungnahmen fanden keinen Eingang in die allgemeinärztlichen Publikationsorgane. Der Hungertod mehrerer Tausender von Personen, die aus Alters- oder Gesundheitsgründen nichts mehr zum Fortbestand der Volksgemeinschaft beizutragen hatten bzw. deren Beitrag nicht erwünscht war, fiel einem nur gelegentlich gebrochenen Schweigen der Ärzte, nicht jedoch deren

197 Gottstein, A., Ärztliche Bemerkungen zur Nahrungsmittelversorgung, in: DMW, 1. Juni 1916, Nr. 22, S. 671. 198 Dienemann, Über die Ernährung der Kranken im Kriege und ihre Grundlagen, in: DMW, 29. März 1917, Nr. 13, S. 394. 199 Kühl, S. 51. 200 Ebd., S. 251, Anm. 63.

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Zustimmung anheim. Keine Erwähnung fand etwa die Unterversorgung der Insassen psychiatrischer Anstalten. 201 Die wichtige Rolle, die sich der Arzt in dem staatlichen System der Nahrungsmittelverteilung zuschrieb bzw. in den Sonderzuteilungen tatsächlich einnahm, stieß auch auf professionsspezifische Bedenken. Die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und kommunalen Gesundheitseinrichtungen lief in der Tat nicht immer konfliktlos ab. Die Appelle an die Ärzte, Atteste auf Sonderzulagen nur im äußersten Notfall auszustellen, legen hiervon Zeugnis ab. Der staatliche Eingriff in das persönliche Arzt-Patientenverhältnis konnte nicht nur als Erweiterung des ärztlichen Kompetenzbereiches, sondern auch als Bedrohung empfunden werden. Der Streit zwischen Privat- und Kassenpatienten bzw. zwischen Privatärzten und denjenigen, die für öffentliche Gesundheitsanstalten, Lebensmittelämter, Stadtverwaltungen oder Krankenkassen tätig waren, wurde durch die aktuelle Notsituation nur noch weiter geschürt. So beschwerte sich der regelmäßig für die »Deutsche Medizinische Wochenschrift« schreibende bayerische Arzt Ludwig Hoeflmayr über die Situation.202 Privatpatienten, die bereits mit einem ärztlichen Attest von ihrem Vertrauensarzt ausgestattet wurden, würden in München in einem Krankenhaus vor einer Kommission der Simulation und Aggravation ihrer Leiden beschuldigt. Dieser Eingriff in die Schweigepflicht und das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient sei durch einen willkürlichen Erlass des städtischen Lebensmittelbeirates veranlasst. Solche Bedenken von Privatärzten, die sich im Konflikt von öffentlichen und privaten Interessen befanden, blieben in den medizinischen Fachzeitschriften dennoch die Ausnahme. In ihrem Selbstverständnis übernahmen deutsche Ärzte im Vergleich zu ihren französischen Kollegen die Verantwortung für die kollektive Gesundheit, selbst wenn damit eine Gefährdung des individuellen Vertrauens zwischen Arzt und Patient einherging. Den französischen Ärzten entging es nicht, wie es um ihre Nachbarn bestellt war. Der Informationsfluss lief hier hauptsächlich über die medizinische Fachpresse, deren aufmerksame Leser nicht nur im eigenen Land zu suchen waren. Die französische »Presse Médicale« richtete ab März 1915 eine eigene Rubrik »A travers les publications médicales allemandes« ein, in der ihre Leser201 Zu den Sterberaten in psychiatrischen Anstalten während des Krieges siehe Faulstich, S. 25–68. 202 Hoeflmayr, Brief aus Bayern, in: DMW, 25. Juli 1918, Nr. 30, S. 830; siehe auch die Erwiderung der Mitglieder der Nachuntersuchungskommissionen Oberärzte und Direktoren der Krankenhäuser: Zur Nachprüfung der Lebensmittelzeugnisse. Bemerkungen zu dem »Brief aus Bayern« in Nr. 30 dieser Wochenschrift, in: DMW, 5. Dezember 1918, Nr. 49, S. 1366f. Siehe dazu auch eine lakonische Notiz aus dem MCWÄL, dass die ärztlichen Zeugnisse für Nahrungsmittelzulagen den Ärzten des Esslinger Vereins »Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten« im Konflikt mit den Nahrungsmittelbehörden machen würden. MCWÄL, 9. Dezember 1916, Nr. 50, S. 498.

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schaft über die wissenschaftliche Produktion in Deutschland auf den Laufenden gehalten werden sollte. In den Eingangsworten zur ersten Nummer stellte die Schriftleitung ihre Absicht heraus, anhand einer Sammlung von Tatsachenmaterial die »Maîtres Germaniques« von ihrem hohen Sockel zu stürzen und ihre wissenschaftlichen Ansichten einem spezifisch französischen Blick zu unterziehen. Die deutsche Wissenschaft galt in der Vorkriegszeit als eine Referenz, die nun zunehmend in die Schusslinie der französischen Wissenschaftler geriet. Dementsprechend enthielt diese Rubrik vor allem in der ersten Zeit so manchen propagandistischen Einschlag. Sie verselbständigte sich jedoch im weiteren Verlauf. Das Interesse richtete sich nun zunehmend nicht so sehr auf die wissenschaftlichen Abhandlungen selbst, sondern auf die gesundheitliche Konstitution der deutschen Bevölkerung, die sich hinter den ärztlichen Ausführungen erahnen ließ. So wurde die Rubrik ab November 1917 folgerichtig in »La Vie en Allemagne« umbenannt. Mit zunehmender Kriegsdauer rückte die Frage in den Mittelpunkt, wie lange die andere Nation noch durchhalten werde: »Wenn man die unzähligen Artikel über die Hungersnot, die unzähligen Traktate bezüglich der ›Kunst der Resteverwertung‹, ›für die fachgemäße und rationelle Anwendung der Küchenabfälle‹, diese strengen Ratgeber, Vorschriften und offiziellen Beschlagnahmungen liest, so kann nicht mehr daran gezweifelt werden, dass die Austro-Deutschen wirklich unter Blockade und Belagerung stehen.«203

Die optimistischen Töne, welche die deutschen Wissenschaftler, darunter viele Mediziner, etwa in der Schrift »Die deutsche Volksernährung und der englische Aushungerungsplan« angeschlagen hatten, bedachten die Franzosen nur mit einem müden Lächeln: Man könne das als Ironie auffassen, wenn man nicht wüsste, dass die Deutschen zur Ironie nicht fähig seien. Die deutschen Versicherungen, fleischlose Nahrung könne dem Organismus keinen Schaden zufügen, was auch katholische Fastentage bewiesen hätten, kommentierte die Zeitschrift mit: »Die Buße kann beginnen.«204 In den folgenden Monaten konnte jedoch der französische Leser meist ohne beißende Kommentare die Verschlechterung der Ernährungssituation genauestens verfolgen.205 Auch die öffentlichen psychologischen Folgen der Hungersnot wurden berücksichtigt. Die Feststellung E. Meyers aus Königsberg wurde wiedergegeben, dass immer mehr Frauen den 203 A travers les publications médicales allemandes, in: PM, partie paramédicale, 18. Februar 1915, Nr. 11, S. 82. 204 Ebd., S. 86. 205 A travers les publications médicales allemandes, in: PM, partie paramédicales, 27. März 1915, Nr. 13, S. 99; L’état sanitaire de l’Allemagne, in: PM, partie paramédicale, 8. Oktober 1917, Nr. 56, S. 591; La Vie en Allemagne, PM, partie paramédicale, 19. November 1917, Nr. 64, S. 688; 3. Dezember 1917, Nr. 67, S. 728–733; 17. Dezember 1917, Nr. 70, S. 762–763; 18. Februar 1918, Nr. 10, S. 121f; 8. April 1918, Nr. 20, S. 238f; 30. Mai 1918, Nr. 30, S. 346f; 5. August 1918, Nr. 44, S. 517–519; 29. August 1918, Nr. 48, S. 563f; 9. September 1918, Nr. 50, S. 591f.

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Arzt um einen Schwangerschaftsabbruch bäten.206 Die Zeiten seien so hart, dass auch aufrichtige und gewissenhafte Frauen in einen Pflichtkonflikt gerieten und zu diesem letzten Mittel griffen. Die eigene Bevölkerung in den besetzten französischen Gebieten, die ja ebenfalls von der Lebensmittelblockade betroffen war, fand nur einmal eine kurze Erwähnung.207 Hier erfuhr der Leser, dass die landwirtschaftliche Nutzung der besetzten Gebiete durch die Zivilbevölkerung, in den evakuierten Gebieten durch Kriegsgefangene und an der Front durch die Truppe gewährleistet wurde. Getreide und ein Teil der Kartoffeln stünden der Zivilbevölkerung zur Verfügung. Die Militärbehörden hätten Viehfutter, Heu und Rüben beschlagnahmt. Es bleibt dennoch überraschend, wie wenig über den Gesundheitszustand der eigenen Bevölkerung in den besetzten Gebieten in die medizinische Fachpresse drang. Der Ernährungszustand der deutschen Bevölkerung war auch Gegenstand in der Académie de Médecine. Das Akademiemitglied Maurel setzte seinen Kollegen in einer statistischen Vergleichsstudie zwischen Deutschland und Frankreich auseinander, dass die deutschen Lebensmittelvorräte nicht mehr lange reichen würden.208 Auch nach dem Krieg hielt sich das Interesse an den deutschen Maßnahmen zur Lebensmittelrationierung. Nun wurde auf ernährungsphysiologische Fragen eingegangen in der Absicht, den Wissensvorsprung der Mittelmächte auf diesem Gebiet auch den französischen Medizinern zur Kenntnis zu bringen und für die eigenen Bedürfnisse auszunutzen.209 Frauenarbeit in der Kriegsindustrie »Jahraus, jahrein kämpfen die Frauen ihren Kampf ums Dasein fort. Sie halten es, wenigstens in großer Mehrzahl, für selbstverständlich, sich diesem Kampfe zu stellen. Wie die militärische Tüchtigkeit der Männer in Friedenszeiten in regelmäßigen Vorübungen für den Krieg sich zu erkennen gibt, so weisen die Begleiterscheinungen der Ausstoßung befruchtungsfähiger Eier beim Weibe durch die ganze Blüte der Jahre hindurch auf die stete Bereitschaft seiner Fortpflanzungskräfte hin. Im Befruchtungsfalle machen manche Mütter in ihrer Art bis zu Dutzenden von Feldzügen mit, in welchen alle Anstrengungen verdoppelt werden müssen. Die Geburt gleicht einem blutigen Entscheidungskampfe: Die Frauen empfangen dabei ihre Wunden, die oft genug zu Todeswunden werden. Gab es doch Zeiten und Umstände, unter welchen jede vierte Wöchnerin dem Tode verfiel! Viele tapfere Kämpferinnen gehen als Sieche und Krüppel aus der Gefahr hervor. Manche werdende Mutter erlebt eine Enttäuschung und 206 La Vie en Allemagne, in: PM, partie paramédicale, 29. August 1918, Nr. 48, S. 563. 207 La Vie en Allemagne, in: PM, partie paramédicale, 9. September 1918, Nr. 50, S. 591f. 208 Maurel, E., L’insuffisance des productions alimentaires de l’Allemagne. Sitzung in der Académie de Médecine vom 14. November 1916, in: BAM, Bd. 76, 1916, S. 393–401, rezensiert in: PM, 16. November 1916, Nr. 63, S. 512 und in PaM, Bd. 15, Nr. 48, 1914/15, S. 467. 209 Bouquet, H., L’alimentation en Allemagne pendant la guerre, in: PM, 24. März 1919, Nr. 17, S. 189–192; Cheinisse, L’alimentation d’après le système de Pirquet, in: PM, 4. Dezember 1920, Nr. 89, S. 878f.

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muß auf den schon zum Greifen nahen Siegespreis schließlich doch noch verzichten. Das alles ist weibliches Ringen, um unserer Volkskraft immer wieder zum stillen Siege zu verhelfen.«210

Wenn auch nicht alle Ärzte ihren Ausführungen jene Bildhaftigkeit gaben wie der Gynäkologe Hugo Sellheim in seinem Artikel »Volkskraft und Frauenkraft«, war es in Deutschland üblich, Parallelen zwischen dem Frontkampf und dem »Geburtskampf« zu konstruieren. Die Mutterschaft wurde den Frauen als eine militärische Dienstpflicht auferlegt.211 Jede Verweigerung galt als eine Art Desertion vor dem offenbar so übermächtigen Feind des Geburtenrückgangs. Entsprechend der Sorge um den Gesundheitserhalt der Verteidiger des Vaterlandes gebührte demnach den Frauen, zumal den potenziell Gebärenden, eine besondere ärztliche Fürsorge. Der Frauenkörper wurde zum Schauplatz eines anderen Kampfes um die »Schicksals- und Daseinsfrage der Nation«. Frauen waren durch die ungewohnte und zum Teil körperlich anstrengende Arbeit in der Kriegsindustrie oder in landwirtschaftlichen Betrieben hohen Belastungen ausgesetzt.212 Vor dem Hintergrund der überbordenden Sorge um das weibliche Wohl ist es verwunderlich, dass deutsche Ärzte die Frage der Frauenarbeit und deren etwaige gesundheitliche Folgen nicht grundsätzlich diskutierten. Eine Ausnahme bildet eine vom Ärztlichen Verein München eingesetzte »Kommission zur Beratung von Fragen der Erhaltung und Mehrung der Volkskraft«, die sich in einer ihrer Sektionen explizit mit der außerhäuslichen Erwerbsarbeit der Frau befasste.213 Ihr Berichterstatter Kaup prognostizierte den in der Rüstungsindustrie arbeitenden Frauen große gesundheitliche Schäden. Bei ledigen erwerbstätigen Mädchen stellte er eine höhere Erkrankungsfähigkeit fest. Insbesondere die Tuberkulosesterblichkeit sei um einiges höher als bei den gleichaltrigen Männern. Die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen ziehe eine Vernachlässigung der häuslichen Obliegenheiten und der Kinder, eine Erhöhung der Säuglingssterblichkeit und eine Verminderung der generativen Tüchtigkeit nach sich. »Die gewerbliche Frauenarbeit steht im umgekehrten Verhältnis zur Mutterschaftsleistung«, resümierte Kaup und forderte, weniger Frauen zur Industriearbeit heranzuziehen und Familienwirtschaften zu unterstützen. Frauen mit Kindern im vorschulpflichtigen Alter sollte eine solche Arbeit gänzlich verboten werden. Zweifelsohne, räumte der Kommissionsbericht ein, wirke sich eine Einschränkung der Frauenarbeit in Kriegszeiten schädigend 210 Sellheim, H., Volkskraft und Frauenkraft, in: ZblGyn, 2. Januar 1915, Nr. 1, S. 4, rezensiert in: DMW, 21. Januar 1915, Nr. 4, S. 115. 211 Siehe auch Grotjahn. Siehe hierzu auch Usborne, S. 389–416. 212 Zur Frauenarbeit in der Kriegsindustrie siehe Darrow; Robert, Women, S. 251–266; Daniel, Fiktionen, S. 530–562; dies., Krieg der Frauen, S. 157–177. 213 Kaup, Außerhäusliche Erwerbsarbeit der Frau und Erhaltung und Mehrung der Volkskraft, in: MMW, 10. Juli 1917, Nr. 28, S. 903–904, rezensiert in DMW, 16. August 1917, Nr. 33, S. 1052.

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auf das Vaterland aus. Trotzdem sollte man diese Ausnahmesituation nicht als »natürlich« bezeichnen und in der Friedenszeit »in Berücksichtigung der außerordentlichen Verluste an generationstüchtigen Männern« wieder zur »natürlichen« Geschlechterordnung der Vorkriegszeit zurückkehren. Auch im preußischen Abgeordnetenhaus fand eine Diskussion statt, die ihren Niederschlag in der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« gefunden hat. Der Sexualhygieniker Max Marcuse protokollierte die parlamentarischen Ausführungen und kommentierte in drastischen Worten: »Wir Ärzte der Großstädte und der Industriezentren kennen sie [die Frauenarbeit], kennen ihren vernichtenden Einfluß auf das hygienische, sittliche und – nur scheinbar eine contradictio in adjecto! – das wirtschaftliche Gedeihen der Familie, auf die Gesundheit der Frau selbst und diejenige ihrer Nachkommenschaft. Wir Ärzte wissen, dass die Arbeit der Frau schuld ist an zahllosen – unfreiwilligen und gewollten – Aborten, dass sie, besonders die der verheirateten Frau, das physische und kulturelle Fundament des Volkes zernagt und dass hier ein zum Himmel schreiender Raubbau mit Menschenwert und nationalem Gut getrieben wird, ohne dass Hilfe, Rettung naht.«214

Ihr Missfallen gegenüber der kriegsbedingten Frauenarbeit untermauerten Ärzte mit medizinischen Argumenten über den schädlichen Einfluss auf die Gesundheit der Frau, der Nachkommenschaft und der Nation. Sie beklagten zudem die sich wandelnde natürliche Geschlechterordnung. Insgesamt fiel die Frage allerdings eher einem kollektiven Schweigen anheim. Die Kriegszeit stellte hohe Anforderungen an Mann und Frau und schien dadurch denkbar ungünstig, um sich gründlich mit der Frage zu befassen. Abgesehen vom Münchener Ärztlichen Verein gingen von der Ärzteschaft keine Anstöße aus, das Problem zu beheben oder zumindest durch verbesserte hygienische Maßnahmen Abhilfe zu schaffen. Die Ärzte, so scheint es, akzeptierten die kriegsbedingte Entwicklung, ohne ihr einen Tribut zu zollen. In Frankreich kommentierten Ärzte hingegen weitaus häufiger die veränderten Geschlechterrollen und machten praktische Vorschläge zur Verbesserung der hygienischen Arbeitsbedingungen. An besonders prominenter Stelle in der Académie de Médecine entfachte eine regelmäßig abgefasste Berichterstattung Adolphe Pinards über den Schutz des Kindes, zumal des ungeborenen Kindes, eine Debatte über Frauenarbeit in der Kriegsindustrie, die sich über mehrere Monate von Ende Dezember 1916 bis März 1917 hinzog.215 In seinen 214 Marcuse, M., Die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses über das Medizinalwesens, in: DMW, 15. März 1917, Nr. 11, S. 341. Siehe auch Mamlock, Aus den Parlamenten, in: DMW, 8. August 1918, Nr. 32, S. 888, der sich über die Ausführungen des Reichstagsabgeordneten empört, nach denen es den Säuglingen in der Kriegszeit fast besser gehe als in der Friedenszeit: »Auch wenn die Mütter Nachtschicht in den Munitionsfabriken haben oder Straßenbahn bzw. Postwagen fahren?« 215 Der Gynäkologe Adolphe Pinard (1844–1934), Begründer der »Puériculture«, hatte bereits 1895 vor den Akademiemitgliedern auf die bedeutende Phase des intra-uterinen Lebens für

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sprachgewaltigen Ausführungen führte der renommierte Puériculteur Pinard seinen Kollegen vor Augen, welche gesundheitlichen Auswirkungen die Arbeit in der »kindermordenden« Industrie, dieser »tueuse d’enfant«, für die Frauen und das ungeborene Leben haben könnte. Da es um nichts weniger als um die »Daseinsfrage der französischen Nation« gehe, ließe sich dieser Missstand nur mit einem radikalen Verbot jeglicher Industriearbeit für jede Frau während der Schwangerschaft, der Stillperiode und sechs Monate nach der Entbindung beheben.216 In diesem Anfangsplädoyer gab Pinard den Ton an, der in der darauf folgenden Debatte bestimmend wirken sollte: »Die Kinder, die sie uns geben und geben werden, sind ebenso notwendig und unentbehrlich für den zweiten Sieg, wie es die Munitionen für den ersten sind. […] Man braucht viel mehr Zeit, Kinder auszutragen, als Granaten und Kanonen herzustellen.«217 Schützenhilfe bekam Pinard von seinem nicht minder redegewandten Kollegen Charles Richet: »Nicht die Armeen Wilhelms werden Frankreich vernichten, die französischen Haushalte werden sich schon darum kümmern.« 218 Pinards und Richets Vorstöße stießen auf geteilte Meinungen. Die militärischen Bedürfnisse schienen die aktive Mitarbeit der Frauen in den Munitionsfabriken unverzichtbar zu machen. Die totale Mobilisierung brachte es mit sich, dass ausnahmslos die gesamte Bevölkerung in die Kriegsanstrengungen involviert wurde. Keine Personengruppe dürfe hier einen Sonderstatus innehaben, selbst wenn sie an anderen Orten den – mit den Worten Pinards − »zweiten Sieg Frankreichs«, denjenigen gegen den Geburtenrückgang, vorzubereiten half. So begnügte sich die Mehrzahl der Akademiemitglieder damit, einen weiteren Ausbau hygienischer und sozialer Maßnahmen zu fordern, um die Arbeitsbedingungen schwangerer Frauen zu verbessern.219 Der Arzt und Parlamentsabgeordnete Paul Strauss trat als Gegenspieler Pinards und Richets auf, deren Forderung nach einem generellen Verbot schwangerer Frauen in der Kriegsindustrie in der Académie nicht durchzusetzen war. Auf Grund der offenen Fragen, die das Thema aufgeworfen hatte, setzte sich eine Kommission eine gute Konstitution und Lebenserwartung des Kindes hingewiesen. Er betonte unermüdlich die Notwendigkeit von Ruhe und Erholung sowie einer ärztlichen Begleitung der Frauen während der Schwangerschaft. Diese Forderung, die er bereits vor der Jahrhundertwende gestellt hatte, bekam durch den Krieg und seinen übermäßigen körperlichen Belastungen für die Frau einen erneuten Aufwind. Siehe zu Pinard und der puériculture: Carol, S. 38 ff. 216 Pinard, A., De la Protection de l’enfance pendant la deuxième année de guerre dans le camp retranché de Paris. Sitzung in der Académie de Médecine am 19. Dezember 1916, in: BAM, Bd. 76, 1916, S. 565. 217 Ebd, S. 568–569. 218 Richet, Ch., Sitzung in der Académie de Médecine am 13. Februar 1917, in: BAM, Bd. 77, 1917, S. 190. 219 Strauss, P., Sitzung in der Académie de Médecine am 2. Januar 1917, in: BAM, Bd. 77, 1917, S. 34–42, rezensiert in: PM, 4. Januar 1917, Nr. 1, S. 7.

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zusammen, um Vorschläge gegen die »Entvölkerung« Frankreichs auszuarbeiten.220 Auch in der medizinischen Fachpresse waren die Ärzte sich nicht einig. Keinen Nachteil sah etwa ein Redaktionsmitglied des »Paris Médical« darin, dass die Frau in manchen Situationen den Platz des Mannes einnehmen könne, um gleich zu erwidern: »Aber wer wird die Frau ersetzen in der einzigen Rolle, in der sie unersetzbar ist, der Mutterschaft?«221 Das Argument, eine körperlich anstrengende Arbeit ziehe eine eheliche Unfruchtbarkeit nach sich, wurde jedoch vor der Leserschaft der »Presse Médicale« entkräftet.222 Das Land leide im aktuellen Krieg nicht unter einer erhöhten Kindersterblichkeit, noch unter einer mangelhaften Qualität des Nachwuchses. Die Arbeit in der Kriegsindustrie schließe eine gesunde und schöne Nachkommenschaft nicht aus. Zu den gleichen Schlussfolgerungen kam ein Arzt der Pariser Krankenhäuser und Geschäftsführer der »Ligue contre la mortalité infantile« A. Lesage:223 Zwar gebe es auf Grund der abwesenden Männer weniger Kinder als früher. Die »Kriegskinder«, die geboren werden, unterschieden sich dennoch in nichts von den Vorkriegskindern. Die unheilbaren Schäden der Vererbbarkeit der Krankheiten der Eltern – die Trias von Alkoholismus, Syphilis und Tuberkulose aber auch Erschöpfung, Diabetes, übermäßiges Kinderreichtum und hohes Alter – wirkten weiterhin fort. Bezüglich des vererbbaren Alkoholismus vermeinte er sogar eine Verbesserung feststellen zu können, die er auf das Leben in freier Natur des Erzeugers zurückführte. Die große Sorge Lesages galt denjenigen Kindern, deren Mütter wegen der Arbeit nicht stillen konnten, so dass er vehement Stillstuben für arbeitende Mütter forderte. Es ist ein wichtiges Ergebnis des deutsch-französischen Vergleichs, dass die Frage der industriellen Kriegsarbeit der Frauen in Frankreich weitaus öfter aufgeworfen wurde als in Deutschland. Darüber hinaus ist festzuhalten: In beiden Ländern stand weniger die Gesundheit der Frau selbst im Mittelpunkt, sondern die mögliche Beeinträchtigung der Gebärfähigkeit ihres Körpers. Der Fokus beider Ärzteschaften war auf den schwangeren Frauenkörper gerichtet. Quantität wie Qualität der zukünftigen Generationen standen auf dem Spiel. Die Antworten auf diese Frage fielen jedoch unterschiedlich aus: Aus den wenigen deutschen Ausführungen kann man schließen, dass mehrheitlich eine Ver220 Siehe hierzu das folgenden Kapitel »Il faut repeupler: Geburtenrückgang und Krieg« dieser Arbeit. 221 Linossier, G., Féminisme et dépopulation, in: PaM, Bd. 19, Nr. 5, 1916, S. 113. 222 Bonnaire, Le travail dans les fabriques de munitions dans ses rapports avec la grossesse et l’accouchement, in: PM, partie paramédicale, 18. Dezember 1916, Nr. 70, S. 577–582; ders., La natalité chez les ouvrières des usines de guerre, in: PM, partie paramédicale, 17. Januar 1918, Nr. 4, S. 39. 223 Lesage, A., L’enfant de l’ouvrière d’usine et la mortalité infantile, in: PaM, Bd. 23, 1917, S. 97.

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ringerung der weiblichen Fruchtbarkeit und eine Schädigung der Mutterrolle angenommen wurde. Nur ein striktes Verbot könnte dem entgegenwirken. In Frankreich versuchte man dieses Argument eher zu entkräften und suchte nach einer Alternative, die auch der Kriegssituation ihren Tribut zollen würde. Selbst solch wirkmächtige Befürworter eines Arbeitsverbots für schwangere Frauen wie Adolphe Pinard und Charles Richet konnten in der Kriegsdebatte keine Mehrheit hinter sich versammeln. Im Gegenzug betonten französische Ärzte ausdrücklich die Notwendigkeit von verbesserten hygienischen Arbeitsbedingungen. »Il faut repeupler«: Geburtenrückgang und Krieg Um die Jahrhundertwende hatten die Ängste um einen bevorstehenden Geburtenrückgang die deutsche und französische Ärzteschaft fest im Griff. Statistische Erhebungen in Frankreich für die Jahrzehnte vor Kriegsbeginn ergaben in der Tat eine ungünstige Prognose. Die Geburtenziffern sanken ab der Mitte des 19. Jahrhunderts stetig.224 Ein Bevölkerungsrückgang, wie die Zeitgenossen ihn häufig für die eigene Nation diagnostizierten, fand trotzdem nicht statt, da die Mortalitätsrate ebenfalls sank. Um die Jahrhundertwende, als in Deutschland die Diskussionen um eine bevorstehende Entvölkerung auf Hochtouren liefen, verzeichnete das Land gar äußerst hohe Bevölkerungswachstumsraten. Die demographischen Umbrüche im 19. Jahrhundert waren dennoch einschneidend, zumal bei vergleichender Betrachtungsweise. 1798 war Frankreich mit 27,5 Millionen Einwohnern zusammen mit dem europäischen Russland das bevölkerungsreichste Land Europas. Während im Laufe des 19. Jahrhunderts Deutschland, England und Russland ihre Bevölkerung verdreifachen oder gar vervierfachen konnten, wuchs die französische Bevölkerung lediglich um knapp die Hälfte. Der Geburtenrückgang trug erheblich dazu bei. In Frankreich setzte er wesentlich früher ein als in Deutschland. Bereits 1870/71 hatte die Geburtenzahl einen niedrigen Stand erreicht. In Deutschland stellt man ein zunächst langsames Sinken der Geburtenziffer im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fest. Um die Jahrhundertwende erhöhte sich die Geschwindigkeit zunehmend. In unzähligen Diskussionsforen fand eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Geburtenrückgangs und der »dépopulation« bzw. »Entvölkerung« statt.225 In Frankreich koinzidierte die Debatte mit dem Verlauf des Geburtenrückganges. Ab 1870 nahm sie stetig an Intensität zu und erreichte bis um die Jahrhundertwende einen Höhepunkt. Bis 1914 war sie wieder am Abflauen. Der Erste Weltkrieg mit seiner sprunghaft ansteigenden Sterblichkeits224 Zum demographischen Hintergrund im deutsch-französischen Vergleich siehe Dienel, S. 24–29. 225 Ebd., S. 32–44.

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rate unter der männlichen Bevölkerung entzündete das bereits nachlassende Interesse an dem Thema für einen kurzen Moment wieder neu. Das galt nicht für Deutschland: Hier setzte die Auseinandersetzung wesentlich später, etwa im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, ein. Sie verlief in einem kürzeren Zeitraum als in Frankreich und wurde dementsprechend intensiver und dringlicher geführt. Die Debatten waren vom französischen Negativbeispiel wesentlich angeregt und beeinflusst. Der Kriegsbeginn in Deutschland stellte die bereits bestehenden Bedrohungsszenarien in ein umso grelleres Licht. Wie setzten sich diese Diagnosen um eine rückläufige Bevölkerungsentwicklung in der Kriegszeit fort? Im Folgenden soll vor allem untersucht werden, welche Bedeutung der Krieg in diesen Deutungsmustern einnahm. In Deutschland wurde bei Kriegsbeginn auf die bestehenden medizinalstatistischen Arbeiten zurückgegriffen. Der Epidemiologe und Gesundheitspolitiker Adolf Gottstein zitierte den ausgewiesenen Experten im Bereich der Medizinalstatistik Friedrich Prinzing: »Wir stehen heute mitten in einem Weltkrieg. Niemand weiß, was er für Umwälzungen bringen wird. Mögen sie sein, welche sie wollen, sie sind zweifellos von der allergrößten Bedeutung für das Geburtenproblem und für die Bevölkerungsentwicklung.«226

Über die Einflüsse der enormen Menschenverluste auf die Bevölkerungsentwicklung wisse man trotzdem noch nichts Sicheres, so das Resümee Gottsteins: »Es gilt hier ein ganz neues Arbeitsgebiet zu eröffnen.« Ärzte blieben auf diesem Gebiet in der Tat nicht untätig. In der Kriegszeit schlossen sie sich verstärkt in verschiedenen Verbänden zusammen, um über bevölkerungspolitische Aspekte zu debattieren, die bis dato vor allem in den Kompetenzbereich der Nationalökonomen, wie etwa des engagierten Julius Wolf, gefallen waren. Verschiedene neue Bündnisse wurden von Ärzten ins Leben gerufen: Gleich zu Beginn des Jahres 1915 gründete der Direktor des physiologischen Instituts in Halle, der Arzt Emil Abderhalden, den »Bund zur Erhaltung und Mehrung der deutschen Volkskraft« in der Absicht, alle Maßnahmen zu fördern, welche die Gesundheit der jetzigen und der kommenden Generation verbesserten.227 Eine Konferenz wurde im Oktober 1915 in Berlin abgehalten, auf der an die 1500 Teilnehmer über die deutsche Volkskraft im Weltkrieg debattierten. Noch im gleichen Jahr rief Julius Wolf die »Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungspolitik« ins Leben, der sich einige Ärzte anschlossen, und die im November 1916 zusammen mit dem Ausschuss für Bevölkerungsfragen, den evangelischen und katholischen Arbeiterorganisationen, den Wohlfahrtsverbänden und sozialen wie gemeinnützigen Vereinen, den ersten deutschen Kongress über Bevölkerungsfragen in 226 Gottstein, A., Krieg und Gesundheitsfürsorge, in: DMW, 14. Oktober 1915, Nr. 42, S. 1237. 227 Zu den verschiedenen Gründungen der Kriegszeit siehe die Zusammenschau von Steinecke, S. 115–150.

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Darmstadt organisierte. Der Krieg brachte somit eine Bündelung der verschiedenen Verbände und Interessengruppen mit sich. Ärzte waren daran maßgeblich beteiligt und konnten ihre medizinische Kompetenz einbringen. Trotz aller dieser neuen Impulse erfuhr der Leser der medizinischen Fachpresse nicht allzu viel über einen möglichen Kausalzusammenhang zwischen Krieg und Geburtenrückgang. Die hohe Sterblichkeitsziffer an der Front und infolgedessen die steigende Anzahl an Witwen, die Trennung der Ehepaare sowie die Beschränkung der Kinderzahl in einer allgemeinen und ökonomischen Krisensituation wurden nicht eingehend thematisiert. Ähnlich wie die Sterblichkeitsrate an der Front schienen auch die ausbleibenden Geburten einem kollektiven Schweigen anheim zu fallen. Nur am Rande machten Ärzte darauf aufmerksam, dass sich die Geburtenzahl durch den Krieg verringert hatte. In der naturwissenschaftlichen-medizinischen Gesellschaft in Jena führte ein Gynäkologe aus, dass in der Jenaer Frauenklinik die Zahl der Geburten im Jahr 1916 eine wesentlich geringere war als im Jahr 1915.228 Der Geburtenrückgang sei, so die Diagnose, durch den Krieg hervorgerufen. Allgemeiner beschrieb der Arzt an der Giessener Frauenklinik Erich Opitz, wie die Rolle des Krieges einzuschätzen sei. »Über eine halbe Million Männer« fielen für Heirat und Zeugung fort, schrieb er im Juni 1917.229 Die Trennung der Ehepaare, die zunehmenden Ernährungsschwierigkeiten, welche die Sterblichkeitsrate erheblich anschwellen lasse, die große Zunahme der Geschlechtskrankheiten, die nun auch in die bisher verschonten ländlichen Gebiete einzudringen drohte – diese Faktoren führten dazu, die Lage Deutschlands als höchst bedrohlich und ernst zu bezeichnen.230 Diese vereinzelten Stimmen waren dennoch nicht maßgeblich, um den Krieg als eine Bedrohung für den Fortbestand des deutschen Volkes zu betrachten. Der Krieg erschien vielmehr als Teil des natürlichen Verlaufs der Geburtenschwankungen. Der bereits eingangs erwähnte Adolf Gottstein kam anhand der Forschungsliteratur nach dem Krieg von 1870/71 zu dem Schluss, dass die natürlichen Schwankungen in der Geburtenkurve meist größeren Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung hätten als die durch Krieg oder Seuchen sprunghaft ansteigenden Sterblichkeitsziffern. 231 Um diese Ergebnisse auf 228 Engelhorn, Geburtshilflich-gynäkologische Demonstrationen. Vortrag in der Naturwissenschaftlich-medizinischen Gesellschaft zu Jena am 14. Dezember 1916, in: MMW, 10. April 1917, Nr. 15, S. 494f; ebenso für die Kieler Medizinische Gesellschaft: Birk, Der Einfluß des Krieges auf die Kinder. Sitzung in der Medizinischen Gesellschaft zu Kiel am 6. Dezember 1917, in: MMW, 4. Februar 1918, Nr. 5, S. 127. 229 Opitz, E., Bevölkerungspolitik und ärztliche Tätigkeit, in: MKl, 3. Juni 1917, Nr. 22, S. 597. 230 Ebd., S. 597. 231 Gottstein, A., Krieg und Gesundheitsfürsorge, in: DMW, 14. Oktober 1915, Nr. 42, S. 1237–1240.

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die aktuelle Situation zu übertragen, errechnete Gottstein im Oktober 1915 die hypothetischen Zahlen der Menschenopfer, die der Krieg kosten würde. Er nahm an, dass nach dem ersten Kriegsjahr im deutschen Heer etwa eine halbe Million Männer durch den Tod hingerafft worden sei und dass diese Zahlen sich zu 40% auf das Alter von 20 bis 25, zu je 30%, 20% und 10% für die nächsten Jahrfünfte verteilten. So stellte Gottstein eine »Überlebenstafel für Männer« auf und verglich sie mit den Zahlen seit 1871. Durch die ganz erhebliche Verbesserung der Volksgesundheit insgesamt seien, so Gottstein resümierend, die kriegsbedingten Einbußen erträglich. In der Lebenserwartung wurde die deutsche Bevölkerung lediglich auf den Stand von 1895 zurückgeworfen. Der Krieg erhöhte zwar die Brisanz der Thematik und machte die Sicherung des Volksbestandes zu einem drängenden Problem, die vorgeschlagenen bevölkerungsstrategischen Wege, um den quantitativen Zuwachs zu sichern, änderten sich dennoch nicht grundlegend gegenüber denjenigen, die vor dem Krieg kursierten. Die Hauptverantwortung für den stagnierenden Bevölkerungszuwachs lag, so die Ärzte nahezu einhellig, in den schwindenden Moralvorstellungen und dem mangelnden Willen zum Kind. Kinderarmut oder Kinderlosigkeit als Zeichen einer »sittlichen Degeneration« des Volkes seien das eigentliche Grundübel der Zeit.232 Der Tag sei nicht fern, so ein Gynäkologe, »an dem unser Vaterland, das die feindliche Welt nicht vernichten kann, an innerer Fäulnis zu grunde gehen muß, wenn wir uns nicht selbst besinnen, wenn wir nicht umkehren auf der abschüssigen Bahn«.233 Dagegen sei der Krieg mit seinen gewaltigen Verlusten an Männern und Neugeborenen ein unvermeidliches Übel im »Überlebenskampf des deutschen Volkes«, das jedoch mit Leichtigkeit durch die »große Vermehrungsfähigkeit des Menschen« wieder behoben werden könnte.234 Dem Krieg als einer Zeit der Krise und gesellschaftlicher Umbrüche kam somit eine geringe Bedeutung zu. Da Ärzte die Verantwortung allein auf den fehlenden Fortpflanzungswillen schoben, gerieten andere Begründungsmuster ins Hintertreffen: Medizinische Argumente, wie beispielsweise eine weit verbreitete pathologische Unfruchtbarkeit, fanden zwar Erwähnung, blieben jedoch ohne große Bedeutung. Auch wirtschaftliche Gründe wurden dafür verantwortlich gemacht, dass die deutsche Bevölkerung immer weniger Kinder zur Welt brachte.235 Aber auch diese ökonomischen Gründe wogen nie so schwer wie etwa in Frankreich, da die deutschen

232 Hoffa, Th., Die Stellung der Ärzte zur Frage des Geburtenrückgangs, in: DMW, 5. November 1915, Nr. 45, S. 1342. 233 Opitz, E., Bevölkerungspolitik und ärztliche Tätigkeit, in: MKl, 3. Juni 1917, Nr. 22, S. 598. 234 Gruber, Hygienische Aufgaben, S. 28. 235 Richter, Die Bevölkerungsfrage. Vortrag gehalten im Verein für wissenschaftliche Heilkunde in Königsberg i. Pr. am 7. Dezember 1915, in: DMW, 2. März 1916, Nr. 9, S. 257–259.

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Ärzte die Kinderlosigkeit mehr in den bürgerlichen und städtischen Kreisen als in den ärmeren ländlichen Bevölkerungsschichten lokalisierten. Die Steigerung der Gebärlust wurde als eine der wichtigsten Aufgaben angesehen, um den Volksbestand zu sichern. Der Arzt sah sich nach seinem eigenen Verständnis weniger als Mediziner denn als Berater und Erzieher des Volkes. Er sei berufen, »seinen Mitmenschen ein treuer Helfer und Berater zu sein«, so der Gynäkologe Opitz.236 Und im kriegerischen Eifer fügte er hinzu: »Wir Ärzte können im Verein mit anderen berufenen Führern des Volkes die Sturmgruppe bilden, die den Durchbruch in die gar wohl verschanzte und befestigte Stellung der Volksverderber erzwingt.« Der Kompetenzbereich sollte sich, nach eigenem Bekunden der Ärzte, weniger auf den heilenden als auf den pädagogischen Bereich ausweiten. Nirgends wird diese Diskrepanz zwischen der Heilperson und dem Erzieher augenscheinlicher als in einer in der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« abgedruckten Abhandlung über die hygienischen und sozialen Aufgaben in den Lazaretten.237 Der verwundete Soldat sei, berichtete der Generaloberarzt Ziemann über seine Erfahrungen in einem Grenzlazarett, gleich nach der Aufnahme in den Lazaretten dicht hinter der Front, »wo ihm körperliche und geistige Ruhe nach den Strapazen des Schützengrabens unendlich wohl tut«, besonders aufnahmefähig gegenüber hygienischer Auf klärung. Ziemann verteilte zu diesem Zweck Merkblätter, der einer verbesserten Individualhygiene dienen sollten und Informationen über den Schutz vor Tuberkulose, Alkoholismus und Geschlechtskrankheiten sowie die richtige Zahnpflege enthielten. Darüber hinaus gab der Oberarzt Merkblätter zu sozialhygienischen Anforderungen an den Einzelnen aus. Die im Lazarett tätigen Ärzte waren angehalten, während ihrer Visite die bedrohliche Geburtenabnahme zu erörtern und »immer wieder gegen die Landflucht zu predigen und auf die enormen Schäden hinzuweisen, die eine allmähliche Entvölkerung des Landes für Deutschland bedingen muß.« Die Männer sollten über die richtige Kindererziehung aufgeklärt werden, um einmal in die Heimat zurückkehrt auf die »Frauenwelt« einwirken zu können. Diese Überlegungen und konkrete Umsetzungen in einem Grenzlazarett untermauern, wie sich Ärzte als technisch-medizinische und geistig-pädagogische Führer des Volkes verstanden. Eine Verantwortung wurde dem einzelnen Soldaten, der soeben seine körperliche Versehrtheit eingebüsst hatte, übertragen, die sich sowohl auf individualhygienische Anforderungen als auch auf die Bewahrung der kollektiven Gesundheit und Fortbestand der Nation richtete. Wenn sich auch die Auf klärungsmaßnahmen hauptsächlich auf die Frau richteten, die als Trägerin 236 Opitz, E., Bevölkerungspolitik und ärztliche Tätigkeit, in: MKl, 3. Juni 1917, Nr. 22, S. 598, rezensiert in: DMW, 12. Juli 1917, Nr. 28, S. 891. 237 Ziemann, H., Einiges über hygienische und soziale Aufgaben in den Lazaretten, in: DMW, 21. September 1916, Nr. 38, S. 1168.

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der Volksvermehrung vereinnahmt wurde, so wollte gleichwohl der Lazarettarzt Ziemann auch den Mann in die Verantwortung ziehen. Die bevölkerungsstrategischen Überlegungen, die der hohen Kriegssterblichkeit an der Front und in der Heimat entgegenwirkten sollten, beschränkten sich nicht nur auf die Forderung einer quantitativen Anhebung der Geburtenanzahl. Die Qualität des zu zeugenden Nachwuchses galt es ebenso sicherzustellen. »Das Wachstum der Masse an Quantität und Qualität«, führte der Psychiater Anton aus Halle vor dem Württembergischen Frauenverein des Roten Kreuzes aus, sei »eine unerlässliche Vorbedingung für künftige Siege«. 238 Auch Gottstein verwies nach seinen statistischen Hochrechnungen der Menschenverluste des Krieges darauf, dass »mit kalten Zahlen die erschütternde Tatsache dieser außerordentlich hohen Menschenverluste überhaupt [nicht] erschöpft werden könnte«.239 Gerade die Ereignisse im Osten, wo dem deutschen Heer die zahlenmäßig größere russische Übermacht gegenüberstand, habe gezeigt, »daß nicht die Menge, sondern daß vielmehr die Beschaffenheit den Ausschlag gibt«. Einen weiteren Zusammenhang zwischen dem Krieg und dem bedrohlichen Geburtenrückgang stellten führende Rassenhygieniker her. Er fand ebenfalls Eingang in die medizinische Fachpresse. Max von Gruber stellte den Kriegszerstörungen im Fall eines Sieges ein konstruktives Potenzial gegenüber: Ein erfolgreicher Krieg sei »das beste Mittel […], einem Volke die Zukunft und den Aufstieg zu sichern, wenn er ihm einen größeren Lebensraum, vermehrte Nahrungsquellen erschließt«.240 Ein Vorstoß für eine konkrete Umsetzung dieses Gedankens ging von einer »Kommission zur Beratung von Fragen der Erhaltung und Mehrung der Volkskraft« aus, die vom Ärztlichen Verein München eingesetzt wurde. Gruber stellte in Zusammenarbeit mit einem Rechtsanwalt am Oberlandesgericht München Pesl Leitsätze über Heimstätten auf dem Lande auf, die darauf ausgerichtet waren, »das Gedeihen der Generationen, eine möglichst ausgiebige Aufzucht von Gesunden und Tüchtigen dauernd sicherzustellen«.241 Die beiden Autoren verfolgten vor allem das Ziel, der 238 Anton, Ärztliches zur Erhaltung und Mehrung der Volkskraft, in: MCWÄL, 25. Dezember 1915, Nr. 52, S. 513. 239 Gottstein, A., Krieg und Gesundheitsfürsorge, in: DMW, 14. Oktober 1915, Nr. 42, S. 1238; siehe hierzu auch Sellheim, H., Volkskraft und Frauenkraft, in: ZblGyn, 2. Januar 1915, Nr. 1, S. 4–10, rezensiert in: DMW, 21. Januar 1915, Nr. 4, S. 115; Niemann, A., Die gesundheitlichen Gefahren für unsern Nachwuchs und die Aufgabe und Bedeutung der öffentlichen Fürsorge. Vortrag gehalten in der Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene, am 29.3.1916, in: DMW, 21. September 1916, Nr. 38, S. 1169f. 240 Gruber, Hygienische Aufgaben, S. 28. 241 Gruber, M.v., Rassenhygienische Bevölkerungspolitik auf dem Gebiete des Wohnungsund Siedlungswesens, Arbeiten der vom Ärztlichen Verein München eingesetzten Kommission zur Beratung von Fragen der Erhaltung und Mehrung der Volkskraft, in: MMW, 27. März 1917, Nr. 13, S. 415.

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Wohnungsnot in den Städten durch eine »innere Kolonisation« abzuhelfen. Sie knüpften an Bestrebungen der Vorkriegszeit an. Die Abhandlungen, die in der »Münchener Medizinischen Wochenschrift« im März 1917 veröffentlicht wurden, verstanden sich dennoch nicht als explizite Beiträge zur Debatte um etwaige Kriegsziele, wenn auch nahezu zeitgleich die Kriegszielkonferenz in Bad Kreuznach stattfand. Hier verständigten sich die Mittelmächte auf extrem weitreichende territoriale Annexionsziele im Westen und Osten. Grubers Ausführungen legten zwar einen Zusammenhang von rassenhygienischen Forderungen und ländlichem Siedlungsraum im Osten nahe, führten diesen jedoch nicht explizit aus, sondern verwiesen auf die Potenziale innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches.242 In Frankreich belebte der Krieg die Debatte um die »repopulation« neu, nachdem sie in den Jahren vor dem Krieg an Schärfe eingebüsst hatte. Dennoch blieb eine ähnliche Gründungswelle von Zusammenschlüssen mit einer Bündelung verschiedenster Interessen, wie sie in Deutschland stattgefunden hatte, in Frankreich aus. Einzelne Initiativen wurden zwar ins Leben gerufen, erreichten aber nicht den Wirkungsgrad der deutschen Pendants. Die »Alliance d’hygiène sociale«, die 1903 von Casimir Perier gegründet wurde und der seit 1907 Léon Bourgeois vorstand, organisierte Anfang 1915 eine Reihe von öffentlichen Konferenzen unter dem Titel »La Guerre et la Vie de demain«, die im Musée Social stattfanden.243 Ärzte wie Adolphe Pinard, Anatole Chauffard und weitere Akademiemitglieder waren hier ebenso vertreten wie Ingenieure, Schuladministratoren und Vertreterinnen von Frauenvereinen. Die Befürchtungen hatten keineswegs die gesamte Ärzteschaft erfasst. Der engagierte Arzt Helme, der für die »Presse Médicale« die Glossen auf dem Titelblatt verfasste, beschwerte sich über die ungewöhnlich geringe Resonanz, die er auf seinen Artikel mit dem Titel »Die aussterbende Rasse« von seinen Kollegen erhalten hatte.244 Er erhoffte sich vom Krieg, dass »dieses große moralische Trauma uns auf den gesunden und befreienden Weg der Wiederbevölkerung bringt«.245 Einige Ärzte beschworen zwar die Schreckensszenarien vom Aussterben der »französischen Rasse« und den »germanischen Heerscharen«, die den 242 Über die siedlungspolitischen Vorstellungen der Eugeniker siehe Weindling, Epidemics, S. 104 ff. 243 Die Konferenzen sahen drei Bände vor, von denen allerdings in der Bibliothèque interuniversitaire de Médecine an der Pariser Medizinischen Fakultät nur die ersten zwei ausfindig gemacht werden konnten: Alliance d’hygiène sociale, La Guerre et la Vie de demain, Bd. 1: Enfance et jeunesse 1916; Bd. 2: Les risques immédiats de la guerre et leur réparation 1917. Der dritte Band sollte den Titel tragen: Les risques futurs de la Guerre et la réorganisation de la France. Die erste Konferenz von Anatole Chauffard »La guerre et la santé de race« wurde zudem rezensiert in: AHPML, Bd. 23, Nr. 2, 1915, S. 110–111. 244 Helme, La nouvelle loi Breton pour repeupler le pays, in: PM, partie paramédicale, 8. Juli 1915, Nr. 31, S. 237. 245 Ebd., S. 238.

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Franzosen zahlenmäßig überlegen seien. 246 Das Schreckgespenst des Geburtenrückgangs, das auch in Frankreich lange Zeit die öffentliche und die ärztliche Debatten in Atem gehalten hatte, ließ sich dennoch nicht mehr zum Leben erwecken. Nur in der Académie de Médecine weitete sich das Thema des Mutterschutzes für Frauen in der Kriegsindustrie zu einer umfassenderen Fragestellung über die Maßnahmen gegen die Entvölkerung Frankreichs aus. Prominentester Wortführer in dieser Debatte war der Nobelpreisträger Charles Richet, der sich redegewandt und leidenschaftlich für Gegenmaßnahmen einsetzte, welche die Abwärtsentwicklung der französischen Nation stoppen könnten. Die Thematik beschäftigte die Akadmiemitglieder von Mai bis Oktober 1917. Über die Ergebnisse der Diskussion wurde auch die breitere Ärzteschaft in Form von Protokollen in der medizinischen Fachpresse in Kenntnis gesetzt. Ausnahmslos alle Akademiemitglieder machten die willentliche Geburtenbeschränkung, die »restriction volontaire«, für die Entvölkerung Frankreich verantwortlich. Weder eine vermeintliche Sterilität und Senilität der französischen Bevölkerung noch eine »Dekadenz der Rasse« hätten eine so große Auswirkung wie das gemeinsame Einverständnis der Ehepartner, »die Fruchtbarkeit als ein Unglück zu sehen«.247 Darin stimmten sie mit ihren deutschen Kollegen überein. Bilanzierungen über die Menschenverluste und die ausbleibende Erhöhung der Geburtenziffer auf Grund der abwesenden Männer und eine Aufrechnung mit dem kommenden Bedarf für die nächsten Generationen finden sich nicht. Der Krieg wurde eher als ein günstiger Moment gesehen, die Debatte wieder neu zu beleben, als ein wesentlicher Beitrag zur Verschlimmerung der Situation. Der Sozialhygieniker Charles Richet wendete sich in seiner Rede in der Académie de Médecine direkt an die übrigen Akademiemitglieder, die einen Sohn an der Front verloren hatten. Die Trauer sei umso grausamer, da sie keine anderen Kinder hätten, die den Verlust vertrösteten.248 Die Kriegszeit schien opportun, um im Zuge der »nationalen Begeisterung«, der sich alle Bevölkerungsschichten angeschlossen hatten, dieses Grundübel auszutilgen. Alle Sinne seien nun weniger auf das Individuum als auf das Gemeinwohl gerichtet. Dem »französischen Individualismus« schien der Krieg ein Ende bereiten zu können. Dafür wurde auch das Bild der einzelnen Glieder einer Kette bemüht, die für sich genommen keinen besonderen Wert besäßen und erst zusammen den Fortbestand der Nation garantierten: »Die Familie hingegen, ist eine endlose Kette, deren Glieder sich im Laufe der Jahrhunderte aneinanderreihen, ohne jemals auszusterben. Die Gattung hat nur durch die 246 Linossier, G., Une loi contre la dépopulation, in: PaM, Bd. 17, 1915, Nr. 24–25, S. 405; Richet, Ch., Sur la dépopulation. Sitzung in der Académie de Médecine am 15. Mai 1917, in: BAM, Bd. 77, 1917, S. 621, rezensiert in: PM, 17. Mai 1917, Nr. 27, S. 280. 247 Ebd., S. 620. 248 Ebd., S. 622.

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Familie Bestand. Das Individuum als ein vorübergehendes und vergängliches Glied einer unsterblichen Familie zieht seinen größten Wert aus seiner Fortpflanzung, ohne dass es im übrigen davon abgehalten würde, von sich aus einen hohen Eigenwert zu besitzen.«249

Gegen die schädigende individualistische Haltung vorzugehen, welche die Bedürfnisse der eigenen Person vor denjenigen des Kollektivs privilegierte, war nicht selbstverständlich: Zu propagandistischen Zwecken wurde der Individualismus als französisches Charakteristikum dem deutschen Militarismus entgegengestellt. Er galt in einem höchst ideologisierten Krieg als ein Zeichen der »Zivilisation« gegenüber den germanischen, untertänigen und befehlsgeleiteten Heerscharen. Französische Ärzte gingen denn auch nie so weit, die Kinderarmut der Franzosen als eine »sittliche Degeneration« zu bezeichnen, wie das ihre deutschen Kollegen taten. Charles Richet stellte vielmehr einen Zusammenhang zwischen dem Wunsch nach weniger Kindern und dem Grad der Zivilisation her. Je weiter diese fortschreite, desto weniger Kinder würden geboren. So versicherten die Diskussionsteilnehmer einerseits, die Gebärlust der Franzosen könne vergrößert werden, indem auf die moralische Verpflichtung gegenüber dem Volksganzen hingewiesen werde. Sie versuchten andererseits, den »naturgegebenen« individualistischen Charakter der Franzosen nicht moralisierend zu beurteilen. Dem entsprach eine Fokussierung der Akademiemitglieder auf die ökonomischen Aspekte. Allen voran betonte Charles Richet unermüdlich und in immer neuen Rechenbeispielen, dass es vor allem finanzielle Zwänge wären, die ein Paar dazu veranlassten, wenige oder gar keine Kinder in die Welt zu setzen.250 Vielen Kollegen behagte jedoch die Debatte über moralische und ökonomische Aspekte nicht. Sie wollten wieder mehr die medizinischen Belange in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt wissen und zweifelten die ärztlichen Kompetenzen auf diesem Gebiet an.251 Diesen Einwand seiner Kollegen hatte Charles Richet vorhergesehen und versuchte, ihn von vornherein auszuschalten. Er schickte seinem Eingangsbericht die Bemerkung voraus, dass die Académie sich allein mit medizinischen Aspekten befassen würde, wenn diese auch soziale, politische und wirtschaftliche Implikationen hätten. Der Aufgabenbereich der Medizin dürfe sich nicht allein auf therapeutische Maßnahmen individueller Krankheiten beschränken, so Richet. Die Akademie als ein »beratendes, vom Staat bestimmtes Organ« unterschätze ihre Einflussmöglichkeiten in den »großen Fragen der sozialen Physiologie, 249 Jayle, F., Le repeuplement de la France au point de vue médical seulement, in: PM, partie paramédicale, 22. Oktober 1917, Nr. Nr. 59, S. 621. 250 Richet, Ch., Sur la dépopulation de la France. Sitzung in der Académie de Médecine am 15. Mai 1917, in: BAM, Bd. 77, 1917, S. 627f, rezensiert in: PM, 17. Mai 1917, Nr. 27, S. 280. 251 Barrier, Contribution à la discussion sur la dépopulation de la France. Sitzung in der Académie de Médecine am 29. Mai 1917, in BAM, Bd. 77, 1917, S. 691–701.

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Psychologie, Hygiene«. Schließlich gruppiere sie die medizinische Elite des Landes und solle sich von einem »Übermaß an Bescheidenheit« befreien. »Unser Auftrag sollte über die Indikation von Quecksilberchlorid in einer Tablette hinausgehen. Wir müssen über die öffentliche Gesundheit wachen. Der Rückgang der Fruchtbarkeit ist ja eine wahrhafte Krankheit, vielleicht sogar die schwerste von allen; sie ist eine tödliche Bedrohung für ganz Frankreich. Unsere strenge Pflicht ist es, diese schreckliche Krankheit zu erkennen und ein Heilmittel zu suchen. Ich würde mich meinerseits schämen, mich hinter dem heuchlerischen Vorwand zu verstecken, Ärzte dürften zu dieser Thematik nicht das Wort ergreifen. Ich habe eine höhere Vorstellung von unseren Rechten und Pflichten.«252

Der Akademiepräsident Hayem sah sich genötigt, der Schlussresolution Erörterungen über Individual- und Sozialhygiene vorauszustellen, um die erweiterten Kompetenzbereiche zu rechtfertigen.253 Die Individualhygiene, die »hygiène privée«, trage nicht ausschließlich Sorge um die körperlichen Krankheitsursachen. Auch die sittlichen Gründe, die »causes morales«, fielen in den ärztlichen Aufgabenbereich. Die Akademie müsse sich als eine »Société d’hygiène« Gedanken darüber machen, warum der »Instinkt zur Erhaltung der Gattung« sich im Laufe der Zeit immer mehr abschwäche. Die Kompetenzstreitigkeiten hatten sich nicht in der Schlussresolution niedergeschlagen. Darin wurden unter anderem die ökonomischen Zwänge der kinderreichen Familien benannt und Subventionierungsmaßnahmen vorgeschlagen. Dennoch sah es eine Anzahl von Ärzten mit Unbehagen, wie der Arzt den genuin medizinischen Bereich verließ und das weite Feld gesundheitspolitischer Vorstellungen mit allen seinen sozialen, finanziellen und administrativen Implikationen mitgestalten wollte. Dass die Académie de Médecine nicht nur als eine hygienische, sondern auch als eine moralische Instanz fungierte, stieß nicht auf uneingeschränkte Zustimmung aller Mitglieder. In Frankreich war seit Beginn des 20. Jahrhunderts die pronatalistische Bewegung stark.254 Sie forderte eine Bevölkerungspolitik, die sich vor allem auf die quantitative Zunahme beschränkte. Eugenische, d.h. die auf gesundheitliche Qualität des Nachwuchses gerichtete Erfordernisse waren in dieser Bewegung so gut wie nicht vorhanden. Traf dies auch auf die Ärzteschaft in der Kriegszeit zu? Der bereits zitierte Hayem richtete die Aufmerksamkeit seiner Kollegen auf die Bedeutung der qualitativen Beschaffenheit des zukünftigen

252 Richet, Ch., Contribution à la discussion sur la dépopulation. Sitzung in der Académie de Médecine vom 9. Oktober 1917, in: BAM, Bd. 78, 1917, S. 374. 253 Ders., Declaration additionnelle aux conclusions votées sur la dépopulation de la France. Sitzung in der Académie de Médecine vom 23. Oktober 1917, in: BAM, Bd. 78, 1917, S. 456– 458. 254 Dienel, S. 153–161.

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Frankreichs.255 Auch Alkoholiker, Tuberkulöse und Syphilitiker hätten Kinder und sogar eine recht große Anzahl. Es käme aber nicht auf statistische Hochrechnungen an, sondern auch auf die Qualität des Nachwuchses. In der Frage nach der Privilegierung von Quantität oder Qualität wurde stets auf die militärische Stärke Deutschlands hingewiesen, um die eigenen Positionen zu untermauern. Die Quantität allein mache nicht alles aus, das zeige der aktuelle Krieg, so das Akademiemitglied Barrier.256 Wenn sie auch ein wichtiger Macht- und Wohlstandsfaktor sei, genüge eine hohe Bevölkerungszahl nicht, um den Vorrang einer Nation zu sichern: »In der Tieraufzucht hat die Quantität, die man beeinflussen kann, nur in Bezug auf die Qualität, die man ebenfalls beeinflussen kann, einen Wert. Ist in der Menschenzucht die Quantität denn alles? Ich frage Sie, welchen Einfluss hätte sie, wenn ihre Macht nicht durch die geistige Entwicklung, der sittlichen Vervollkommnung, dem Zivilisationsgrad und der fundamentalen Energie der Völker vervielfacht würde?« 257

Die Akademiemitglieder sahen die Möglichkeit, durch ein System der Kinderprämien die Geburtenzunahme auch in qualitativer Hinsicht zu steuern, je nach dem wem man das Geld zuteilte. Es stand außer Zweifel, dass eine hohe Fruchtbarkeit der Arbeiter- und Landbevölkerung erwünscht war. Vorstellungen von einer Gesundheit als bürgerliches Distinktionsmerkmal, in Folge derer nur die bürgerlichen Gene an den zukünftigen qualitativen Bestand der Nation weitergegeben werden dürfte, lag den Kriegsdebatten fern. Im Gegenteil: Alle sozialen Schichten sollten sich an der Wiederbevölkerung Frankreichs beteiligen sowie sie auch gemeinsam das Vaterland verteidigten.258 Nach den Ansichten des Gynäkologen am Krankenhaus Broca und Hygieneinspektor des Départements Nièvre F. Jayle müsste man die Bevölkerungsstrategien vor allem auf die Landbevölkerung richten. Eine robuste Gesundheit sei vor allem abhängig von dem Schutz, den die Mutter ihrem Nachwuchs angedeihen lassen kann, und von einem Aufwachsen in freier Natur und in Kontakt mit anderen Kindern. Diese Bedingungen seien am ehesten noch auf dem Land erfüllt. »Die Wiederbevölkerung Frankreichs ist hauptsächlich an eine Aufstockung der ländlichen Bevölkerung gekoppelt.«259 Aber auch gesundheitliche Kriterien sollten entscheiden, wem eine Kinderprämie zustand. Jayle wollte die staat255 Hayem, Contribution à la discussion sur la dépopulation de la France. Sitzung in der Académie de Médecine am 11. September 1917, in: BAM, Bd. 78, 1917, S. 200. 256 Barrier, Contribution à la discussion sur la dépopulation de la France. Sitzung in der Académie de Médecine am 29. Mai 1917, in: BAM, Bd. 77, 1917, S. 698, rezensiert in: PM, 17. Mai 1917, Nr. 30, S. 312. 257 Ebd., S. 697f. 258 Guéniot, Discussion du rapport de M. Charles Richet sur la dépopulation de la France. Sitzung in der Académie de Médecine vom 19. Juni 1917, in: BAM, Bd. 78, 1917, S. 367. 259 Ders., Le repeuplement de la France au point de vue médical seulement, in: PM, partie paramédicale, 22. Oktober 1917, Nr. 59, S. 623.

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liche finanzielle Unterstützung von einer medizinischen Untersuchung über den Gesundheitszustand des Kindes abhängig machen. Seine Ansichten führte er nicht nur im auserlesenen Kreis der Akademiemitglieder, sondern auch vor einer breiteren Ärzteschaft aus. »Das gesunde Kind hat den Vorrang vor dem kranken Kind«, so die Devise Jayles.260 Das sei in der Menschenaufzucht nicht anders als in der Tieraufzucht, bei der die Qualität ebenso entscheidend sei wie die Quantität. Der Gynäkologe schlug eine Prämie von 100 Francs für jedes Kind mit normaler Größe, normalem Gewicht und ohne organische Schäden vor, die jedes Jahr in einer Art offiziellen und öffentlichen Zeremonie zur Ehrung der kinderreichen Familien vom Bürgermeister übergeben werde. Eine Ärztekommission müsste eingesetzt werden, um die gesundheitlichen Untersuchungen festzustellen.

260 Jayle, La cause de la dépopulation et la méthode de repopulation du point de vue médical seulement. Sitzung in der Académie de Médecine vom 3. Juli 1917, in: BAM, Bd. 78, 1917, S. 4, rezensiert in: PM, 5. Juli 1917, Nr. 37, S. 384; ders., Le repeuplement de la France au point de vue médical seulement, in: PM, partie paramédicale, 22. Oktober 1917, Nr. 59, S. 624.

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III. Zwischenbilanz: Der Arzt im Krieg Die Hauptsorge der Ärzte galt in Deutschland wie in Frankreich den reproduktionsfähigen Teilen der Bevölkerung. Sie widmeten sich vor allem Männern im zeugungs- und wehrfähigen und Frauen im gebärfähigen Alter. Ärzte sollten nach ihrem eigenen Selbstverständnis wesentlich zum Sieg an der Kriegsfront wie an der Heimatfront beitragen. In Frankreich kontrastierte die Pinardsche Parole vom »zweiten Sieg« in der Heimat mit einem weit verbreiteten Desinteresse an den gesundheitlichen Beeinträchtigungen in der Zivilbevölkerung sowohl in den besetzten Gebieten als auch im übrigen Land. Der Zusammenbruch der bereits vor dem Krieg schwach ausgebildeten öffentlichen Gesundheitsfürsorge wurde in den französischen Fachjournalen nicht erwähnt. Die ärztlichen Kapazitäten waren alle auf die Militärbevölkerung gerichtet. Trotz dieser unterschiedlichen strukturellen Vorbedingungen, ähneln sich die deutschen und französischen Debatten um Wiederbevölkerungsstrategien in vielen Punkten: In beiden Ländern gewannen die bereits in der Vorkriegszeit einsetzenden bevölkerungspolitischen Debatten durch den Krieg an Brisanz. Der Krieg spielte in den statistischen Errechnungen und Überlegungen um den Fortbestand der Nation freilich keine nennenswerte Rolle. Er war lediglich ein unvermeidbares Übel und konnte auf natürlichem Wege, durch eine gesteigerte Gebärlust, wieder ausgeglichen werden. Eine direkte Kausalverbindung zwischen dem verlustreichen Krieg und dem Geburtenrückgang wurde nicht hergestellt. Im Gegenteil: Die in der Vorkriegszeit dominierende Vorstellung einer willentlichen Geburtenbeschränkung, einer »restriction volontaire«, verlor in beiden Ländern nichts an ihrer Deutungsmacht. Dass der Krieg eine quantitative Aufstockung der Nation erfordere, war eindeutig. In beiden Ländern wurde zugleich darüber nachgedacht, wie die qualitative Beschaffenheit der Bevölkerung auf die nächsten Jahre sichergestellt werden könnte. Eine Bevölkerungspolitik unter quantitativen und qualitativen Vorzeichen, unter maßgeblicher Beteilung der medizinisch ausgebildeten Körperexperten schwebte den beiden Ärzteschaften vor. In dieser Hinsicht wurde die Frau als Trägerin der Volksgesundheit und Garantin des fortwährenden Volksbestandes vereinnahmt. In Frankreich befürworteten die meisten Ärzte eine Beteiligung der Frauen am Rüstungsgeschäft, zumal in der Ausnahmesituation Krieg, in der es alle Kräfte gegen den Feind zu bündeln galt. Ein Kompromiss wurde ausgehandelt zwischen der »natürlichen Funktion« der Frau als Mutter und den Erfordernissen des aktuellen Krieges. In den deutschen Kriegsdebatten war die Tendenz, die Kriegssituation zur rationalisierten Erfassung der Gesamtbevölkerung zu nutzen, wesentlich ausgeprägter als in Frankreich. Die Tauglichkeitsprüfungen für die Militärbe111 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

völkerung sowie die Ernährungssituation in der Heimat, die die Erhebung einer umfassenden Konstitutionsstatistik ermöglichten, förderten diese ärztliche Vision. Die Brisanz im Verhältnis von gesunden, kräftigen zu den kranken, schwachen Bevölkerungsgruppen wurde dadurch wesentlich erhöht. Dabei verblieb es aber auch: Dass die »Schwachen« sich gegenüber den »Starken« durch eine Kriegsauslese stärker reproduzierten könnten bzw. in der Heimat angesichts der Lebensmittelknappheit das Verhältnis umgekehrt sei, war keine maßgebliche Argumentationsstruktur. Sie blieb auf die Kreise der Eugeniker beschränkt, deren Gedankengut in der allgemeinen Fachpresse nicht rezipiert wurde. Ärzte in beiden Ländern stellten sich in den Dienst der nationalen Sache. Sie machten nicht nur die Gewährleistung der medizinischen Vorsorgung, sondern auch ihren Status als Gesundheitsexperten und, wenn auch zögerlicher in Frankreich, als moralische Instanz geltend. Der Übergang von einer Zivilmedizin in eine Kriegsmedizin behagte den französischen Ärzten weniger als ihren deutschen Kollegen. Die Diskussionen um patientenrechtliche Aspekte im Krieg sowie die Abwesenheit jeglicher genuin militärärztlicher Aspekte der Kriegstätigkeit – und das obwohl auch Zivilärzte darin involviert waren − wirft ein Schlaglicht auf die französische Ärzteschaft. Zwar befürwortete die Mehrheit, ein Zugeständnis an die militärischen Bedingungen machen zu müssen. Dennoch sah sich der französische Arzt gemäß seinem Selbstverständnis einer liberalen Tradition sowie dem persönlichen Arzt-Patienten-Verhältnis verbunden.

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2. Teil: Der Kampf gegen die inneren Feinde Sexualhygiene im Krieg

I. Sexualhygiene in der Vorkriegszeit Der amerikanische Experte für medizinische Ausbildung, Abraham Flexner, bereiste kurz vor Kriegsbeginn im Jahr 1913 die europäischen Großstädte, um die Prostitutionsüberwachung in den verschiedenen Ländern vergleichend auf ihre Erfolge hin zu untersuchen. In den abschließenden Betrachtungen seiner Schrift, die in Deutschland erst nach dem Krieg veröffentlicht werden konnte, stellte er einen Zusammenhang zwischen der militärisch-technischen Aufrüstung und dem ärztlichen Kampf für die Gesunderhaltung der Nation her: »Bei dem zunehmenden militärischen Wetteifer muß man mit jedem Faktor rechnen, der die Tüchtigkeit erhöht; das Ergebnis eines Krieges würde, so fühlt man, nicht nur von der Tonnage der Kriegsschiffe und der papiernen Stärke der Armee abhängen, sondern von der Gesundheit der Seeleute und Soldaten; ihre physische Energie ist mindestens so wichtig wie rauchloses Pulver und ein gutes Gewehr. […] Ich habe schon gesagt, dass venerische Krankheiten an sich schon ein Uebel sind, ein ernsthaftes Hindernis für die Wirksamkeit des gesellschaftlichen Organismus. Diejenige Nation, der es zuerst gelingt, sie einzudämmen, wird vor ihren Rivalen einen großen Vorsprung gewonnen haben.«1

Die Gesundheit von Militär- und Zivilpersonen deutete Flexner als im Kriegsfall einsetzbare Waffen. Die Ausübung des Arztberufes stellte er in den Dienst der »gesundheitlichen« Militarisierung der Nation. Dieses Deutungsmuster bestimmte ebenfalls die Kriegsdebatte der französischen und deutschen Ärzte, die ihrer Tätigkeit im Krieg eine überragende militärisch-strategische Bedeutung beimaßen. Wie vollzog sich der Übergang von einer zivilen zu einer militärischen Medizin in beiden Ländern? Im Zeitraum von etwa 1880 bis 1914, dem »goldenen Zeitalter der Syphilisphobie«,2 waren bereits alle Merkmale vorgezeichnet, welche die ärztliche Kriegsdebatte um die Eindämmung der Geschlechtskrankheiten bestimmen 1 Flexner, Prostitution, S. 399f. 2 Corbin, Péril vénérien, S. 245. Siehe zur Geschichte der Sexualhygiene in Deutschland: Sauerteig, Krankheit; Geyer-Kordesch u. Kuhn, (Hg.); in Frankreich: Corbin, Filles de noces; und speziell für den Ersten Weltkrieg Le Naour, Misères.

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sollten. Im Zuge einer Dramatisierung der Krankheit bedeutete eine Geschlechtskrankheit nicht nur einen Angriff auf die individuelle Gesundheit. Ein Geschlechtskranker stellte auch eine erhöhte Gefahr für den Fortbestand des Volkes, ein »péril national«, eine nationale Gefahr, dar. Zu dieser Entwicklung trug nicht allein die von den Ärzten festgestellte rapide quantitative Verbreitung der »Volksseuche« bei. Entscheidend war zudem, dass sich mit der genaueren Erforschung die Krankheit auch qualitativ verändert hatte: Zunehmend rückte nicht mehr allein die sexuelle Übertragung, sondern die Vererbbarkeit in den Vordergrund der ärztlichen wissenschaftlichen Untersuchungen. Der französische Spezialist Edmond Fournier, Sohn des renommierten Venerologen Alfred Fournier, hatte 1898 auf diese Gefahr hingewiesen und die Begriffe der »hérédosyphilis« sowie der »dégénérscence syphilitique« geprägt.3 Die hereditäre Syphilis war das eigentliche Schreckgespenst, konnte sie doch jeden treffen. Durch die geschlechtliche Übertragung drang die Krankheit in die breiten Bevölkerungsschichten vor. Durch die hereditäre Übertragung war zudem die Gesundheit der zukünftigen Generationen gefährdet. Wer konnte sich jetzt noch dieser Gefahr entziehen? Das Motiv des »unschuldigen Geschlechtskranken« − damit waren vor allem Kinder, Ammen, Hebammen gemeint − verschob den Infektionsherd von einem klar abgegrenzten Personenkreis der Prostituierten auf die Gesamtbevölkerung, vor allem auf ihre reproduktionsfähigen Teile. Der Kampf gegen die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten wurde nicht allein von Ärzten getragen. Er bündelte eine Vielzahl von öffentlichen, staatlichen und wissenschaftlichen Interessengruppen, so etwa Juristen, Verwaltungsbeamte und Vertreterinnen der Frauenbewegung. Es hatten sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts internationale Dialogforen gebildet, wie die Internationalen Brüsseler Syphiliskongresse von 1899 und 1902, die wiederum den Anstoß zur Bildung von nationalen ärztlichen Vereinen gaben.4 Die französischen Ärzte machten 1901 den Anfang, gefolgt von Deutschland 1902 und den USA 1905. Erst bedeutend später, im Jahr 1914, formierten sich die britischen Ärzte. Auf den internationalen Zusammenkünften wurden Statistiken über die einzelnen europäischen Großstädte zusammengetragen, vergleichend gegenübergestellt und unterschiedliche Modelle gegen die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten auf ihre Erfolgsquote hin untersucht. Im ersten Kriegsjahr erinnerte der Venerologe Alfred Blaschko daran, was der deutsche Kampf 3 Fournier. 4 Blaschko, A., Erste internationale Conferenz zur Bekämpfung der Syphilis und der venerischen Krankheiten, abgehalten zu Brüssel vom 4.-8. September 1899, in: Af DS, Bd. 51, 1900, S. 129–136; Dubois-Havenith, Conférence internationale pour la prophylaxie de la Syphilis et des maladies vénériennes, Bruxelles sept. 1899. Rapports, enquêtes et comptes-rendus, Brüssel 1900. Zum internationalen Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten siehe Weindling, Politics, S. 93–117.

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gegen die Geschlechtskrankheiten den internationalen Kongressen in Brüssel 1899 und 1902 als einen »Markstein jener Bewegung« zu verdanken hatte, hob die Länder übergreifende, auf persönliche Kontakte auf bauende Zusammenarbeit hervor und sprach sich damit gegen die vorherrschende »Mode […], auf die internationalen Kongresse geringschätzig herabzusehen«, aus.5 In Bezug auf die Re-Nationalisierung der ärztlichen Bestrebungen fügte Blaschko bedauernd hinzu: »Die Zeit internationalen Zusammenarbeitens ist ja noch nicht gekommen, aber es wäre schlimm um die Menschheit bestellt, wenn sie nicht wiederkehren sollte. Gerade wir, die wir ein großes Ziel vor Augen haben, dürfen uns von den Stimmungen des Tages nicht beeinflussen lassen und sollten niemals vergessen, dass unsere Arbeit der gesamten Menschheit gilt.« 6

In der Tat kann trotz der unterschiedlichen Gesetzgebungen und Verwaltungstechniken der einzelnen Länder der einheitliche Grundtenor der internationalen Zusammenkünfte hervorgehoben werden. Wenn auch Meinungsverschiedenheiten in gewissen Punkten herrschten, verlief die Konfliktlinie doch zumeist nicht entlang, sondern quer zu den nationalen Grenzen. Der ärztliche Diskurs um die Geschlechtskrankheiten blieb lange Zeit auf die Prostitutionsfrage begrenzt. Wie und ob man Prostitution reglementieren sollte, war der durchgängige Diskussionsgegenstand auf den internationalen Kongressen von 1899 bis 1902. Bis 1914 setzte sich in ärztlichen Kreisen langsam die Erkenntnis durch, dass die polizeiliche Überwachung und Kontrolle der Prostitution keine effiziente Prophylaxe gegen die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten darstellten. Es stand schon bald außer Frage, dass dieses System reformiert werden musste. Umstritten war indes, ob man das System überhaupt noch reformieren und die Sittenpolizei nicht durch andere Instanzen ganz ersetzen sollte. Auf dem 17. Internationalen Medizinischen Kongress in London konnte sich 1913 diese antireglementaristische Opposition massiv Gehör verschaffen: Anstatt den Mängeln des polizeilichen Überwachungssystems entgegenzuwirken, stellten sich Ärzte wie Alfred Blaschko in Deutschland und Louis Fiaux in Frankreich in scharfe Opposition zu dem bereits vorhandenen System und seinen immer noch zahlreichen Anhängern. Sie forderten, dass die Lücke, die durch den Wegfall der polizeilichen Überwachung entstehen würde, von verbesserten medizinischen Einrichtungen gefüllt werden müsste. Mit diesen Forderungen kam es zu einem Schulterschluss zwischen Ärzten und einem Teil der bürgerlichen Frauenbewegung, den Abolitionistinnen, welche die staatliche Reglementierung und die damit verbundene bürgerliche Doppelmoral strikt ablehnten. So verband Blaschko in der Stellungnahme auf diesem 5 Blaschko, A., Über internationale Kongresse, in: ZBG, Bd. 16, Nr. 10, 1915/1916, S. 330f. Zu Alfred Blaschko siehe Tennstedt. 6 Blaschko, A., Über internationale Kongresse, in: ZBG, Bd. 16, Nr. 10, 1915/1916, S. 331.

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Kongress hygienisch-wissenschaftliche und sexualemanzipatorische Forderungen.7 Die Frage der Staatskontrolle sei »keine rein hygienische […] und keine der »Verwaltungstechnik«, sondern »vor allem eine eminent politische und kulturelle Frage«. Die Frau wurde lange Zeit nicht als »Subjekt mit eigenen Interessen und Bedürfnissen, sondern nur als Lustobjekt für den Mann« betrachtet. Das habe zu einer Politik geführt, welche »die unsozialen weiblichen Elemente […] auf der einen Seite ächtete und aus der menschlichen Gesellschaft ausschloss, sie auf der anderen Seite privilegierte und für den männlichen Bedarf züchtete und präparierte«. Hygienische Bestrebungen seien hier von vornherein zur Erfolglosigkeit verurteilt. »Die moderne Frau, an den Arbeiten, Kämpfen, Siegen und Niederlagen des Mannes als gleichberechtigte Genossin teilnehmend oder ihm im wirtschaftlichen Kampfe als streitbare Gegnerin gegenübertretend, verlangt auch in sexueller Beziehung die gleichen Rechte und die gleichen Freiheiten. Sie lehnt sich auf gegen ein System, welches dem Manne alle Freiheit zur Infektion lässt, während es – freilich ohne rechten Erfolg – bestrebt ist, ihm mit allen erdenklichen Zwangmaßregeln gesundes Frauenmaterial zu verschaffen.«8

Blaschko schloss sein Plädoyer in der Zuversicht, dass auf Grund des »rein sachlichen, wissenschaftlichen Gutachtens« der hygienischen Wissenschaft ein System gefunden werde, »welches in gleicher Weise den Erfordernissen moderner Hygiene und dem modernen Rechtsempfinden gerecht wird«. Blaschko war sicherlich einer der radikalsten Vertreter dieser Ansichten und kaum repräsentativ für einen Großteil der Ärzte. Es bestand aber immer weniger Zweifel daran, dass die herkömmliche Gesundheitspolitik den Zeitumständen nicht mehr angemessen war. Hygienische und medizinische Maßnahmen als Überwachungs- und Kontrollmechanismen sollten die polizeiliche Kontrolle ersetzen oder wenigstens ergänzen. Getragen wurden solche Forderungen zudem von der Einsicht, dass es zu einer effizienten Prophylaxe nicht mehr gehöre, den Personenkreis allein auf die Prostituierten einzuschränken. Die Blickrichtung verschob sich langsam aber stetig: Zunehmend trat neben die Prostituierte der Mann als möglicher Krankheitsüberträger und neben das Bordell die Familie als möglicher Infektionsherd. Die Ärzte mussten entschieden zu der Entstehung eines effizienten Apparates beitragen, der nun die gesamte, bereits erkrankte oder aber gefährdete Bevölkerung erreichen konnte, so umrissen die Venerologen in unterschiedlichen Schattierungen ihr Aufgabenfeld für die nächsten Jahrzehnte.

7 Blaschko, A., Die Gefahren der Syphilis für die Gesellschaft und die Frage der Staatskontrolle. Referat, erstattet dem 17. Intern. Med. Kongreß zu London am 9. August 1913, in: ZBG, Bd. 15, Nr. 6, 1914, S. 216f. 8 Ebd., S. 217.

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Die von den spezialisierten Ärzten entworfenen gesundheitspolitischen Maßnahmen beinhalteten zwei Stoßrichtungen: In der Gesellschaft sollten sich eine individuelle Verantwortung der eigenen Gesundheit und eine soziale Verantwortung der kollektiven Gesundheit durchsetzen. Die Hygienisierung der Gesellschaft basierte darauf, dass sich die Patienten im Krankheitsfall und die gefährdeten Personen prophylaktisch spontan und freiwillig an die ärztlichen Anweisungen hielten. Ärzte sollten durch belehrende Vorträge und persönliche Gespräche zu diesem langfristigen Ziel beitragen: einer Umwertung der Krankheit und der Erkrankten als nicht diffamierend und selbstverschuldet einerseits, einer Aufwertung der individuellen und kollektiven Gesundheit andererseits, so entwarfen Ärzten den Idealzustand einer verantwortungsvollen Gesellschaft. Bis dieses Ziel erreicht sei, darin waren sich die Ärzte prinzipiell aber auch einig, könnten sie auf Zwangsmaßregeln nicht verzichten. Umstritten blieb jedoch, wer solche koerzitiven Maßnahmen durchsetzen sollte und welche Bevölkerungskreise neben der marginalisierten Prostituierten davon betroffen seien. Die zweite Stoßrichtung der ärztlichen Überlegungen der Vorkriegszeit betraf demnach die Möglichkeiten einer Zwangsbehandlung bzw. -untersuchung. Auf internationaler Ebene konnte auf die Erfahrung mit unterschiedlichen nationalen Modellen zurückgegriffen werden. So beschrieb der Wiener Arzt Ernst Finger auf dem 17. Internationalen Medizinischen Kongress in London 1913 das italienische System: Die Behandlung wurde nicht unter Zwang gestellt, die anfallenden Kosten allerdings vom Staat getragen und geeignete Ambulatorien errichtet, die den Zugang zu solchen Behandlungseinrichtungen erleichterten.9 Finger nahm diesem Vorhaben jedoch seine erfolgsversprechenden Aussichten, da »unsere Bevölkerung für solche Maßregeln noch nicht reif ist, dass die Mittel, die in der reichlichsten Weise geboten werden, gerade von den am meisten interessierten Kreisen nicht zur Anwendung kommen«. Der Einführung von Zwangsuntersuchungen und -behandlungen in Norwegen, Schweden und Dänemark stand er ebenso kritisch gegenüber: Sei dies doch in den nordischen Länder nur möglich, da die Krankheit vor allem als eine ansteckende und weniger als eine sexuell übertragbare angesehen werde und damit der diffamierende Charakter, der kennzeichnend für den Umgang mit der Krankheit in den mitteleuropäischen Ländern sei, wegfiele. Bei der Einführung solcher Zwangsmaßregeln in diesen Ländern bestehe die Gefahr, dass dies auf Grund des diffamierenden Rufes der Krankheit, zu einer größeren Verheimlichung führe und damit der Ausbreitung der Krankheit mehr Vorschub als Abbruch geleistet werde. Der Wiener Arzt ließ die Frage nach den Zwangsmaßregeln offen: Es gäbe »zweifellos Fälle […], in 9 Finger, E., Die Syphilis als Staatsgefahr und die Frage der Staatskontrolle. Vortrag auf dem 17. Internationalen Medizinischen Kongress in London 1913, in: ZBG, Bd. 7, 1914, S. 252.

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denen ein beschränkter Zwang in einer oder der anderen Richtung erwünscht erscheint und für das Handeln von Arzt und Sanitätsbehörde eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden sollte, dass aber die Frage eines ganz allgemein geltenden Behandlungszwanges derzeit nicht spruchreif ist […]«.10 Die anwesenden Ärzte und medizinische Laien konnten sich schließlich auf zwei Resolutionen einigen, in denen jedoch die Frage der Zwangsbehandlung und -untersuchung ausgespart wurde. Zögerlich erwähnten sie indes die Einführung einer allgemeinen ärztlichen Meldepflicht solcher Erkrankungen, für die sich eine Mehrheit aussprach, wenn auch keine Einstimmigkeit erzielt werden konnte: Angesichts der »Verheerungen, die durch die Syphilis an der Allgemeinheit angerichtet werden« und den »Unzulänglichkeiten der bestehenden Maßregeln« forderten die Kongressteilnehmer die vertretenen Länder auf, »ein System vertraulicher Anmeldung der Krankheit bei einer Gesundheitsbehörde einzuführen«.11 Der Widerstand gegen eine solche ärztliche Meldepflicht ging, vermutete wenigstens der Lyonäser Stadtarzt Carle, von den französischen, italienischen und deutschen Kongressteilnehmern aus, die sich »kaum zu einer derartigen Neuerung bereit finden lassen«, da sie die ärztliche Schweigepflicht und das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten verletzen würde.12 Es ist an dieser Stelle nur soviel festzuhalten, dass kurz vor Kriegsbeginn die sich schon bald feindlich gegenüberstehenden Nationen in ihren gesundheitspolitischen Vorstellungen nahe standen. Eine Kluft tat sich vielmehr zum skandinavischen Modell auf. 10 Ebd., S. 257. 11 Diskussion auf dem 17. Internationalen Medizinischen Kongress in London 1913, in: ZBG, Bd. 15, Nr. 8/9, 1914, S. 310; zur Geschichte der Diskussionen um die Einführung einer allgemeinen Meldepflicht und die Aufnahme der Geschlechtskrankheiten in die Reichsseuchenverordnung siehe Sauerteig, Krankheit, S. 319ff; siehe auch das Kap. I.3. »Individuelle und soziale Medizin – ärztliche Handlungsspielräume« im ersten Teil dieser Arbeit. 12 Carle, Allgemeine Grundsätze über die Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten, in: ZBG, Bd. 15, Nr. 6, 1914, S. 225: »In Deutschland, Italien und Frankreich wird man sich kaum zu einer derartigen Neuerung bereit finden lassen. Jede Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht empfinden wir als eine Unmöglichkeit. Eine derartige Bestimmung stände überdies in absolutem Gegensatz zu den hergebrachten Anschauungen. Als der elementarste Begriff ärztlicher Ethik erscheint uns, das Vertrauen derer nicht zu täuschen, welche ihre Gesundheit oder ihr Leben in unsere Hände geben. In diesem Sinne äußerte sich Gaucher in der Versammlung, im gleichen sprach auch ich. Aber es fand sich anscheinend am Ende der Sitzung eine Majorität für die Annahme des Vorschlages. Ich glaube indessen nicht, dass diese Abstimmung die wirkliche Meinung der Mehrzahl der Teilnehmer des Kongresses wiedergab.« Carles Beurteilung traf nicht ganz zu: Ernst Finger forderte in seinem Vortrag ein »beschränktes ärztliches Anzeigerecht an die Sanitätsbehörde« und eine »Ausdehnung der Berufsgeheimnisverpflichtung auf alle Stellen, welche beruflich mit Kranken zu tun haben«. Auch die französischen Venerologen Gaucher und Gougerot befürworteten, entgegen der Meinung Carles, »eine Einführung der Anzeigepflicht für Geschlechtskrankheiten, wie sie z.B. von Balzer für Frankreich verlangt«. Vgl. ebd., S. 265 und 297.

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Ein großer Anteil der Diskussionen auf den internationalen Versammlungen betraf demnach ethische Fragen der ärztlichen Profession: Welche Pflichten und Kompetenzen waren neben der rein medizinischen Behandlung der Geschlechtskrankheiten zu beachten und wie ließen sich die zur Diskussion stehenden Modelle von Zwangsbehandlung und obligatorischer Meldepflicht mit der ärztlichen Schweige- und Diskretionspflicht vereinbaren? Wie weit erstreckte sich hier der ärztliche Kompetenzbereich angesichts der Tatsache, dass es in den meisten Ländern an einer Gesetzgebung in diesem Bereich fehlte? Der Krieg sollte alle diese ungelösten Probleme mit besonderer Dringlichkeit wieder aufwerfen. Mit der internationalen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich war es nun vorbei. Wie hatte sich der ärztliche Diskurs renationalisiert und wie, wenn überhaupt, wurden die gesundheitspolitischen Maßnahmen und Überlegungen des anderen Landes wahrgenommen? Das hatte nicht nur professionsspezifische, sondern auch eminent politische Auswirkungen, betrafen doch die deutschen Maßnahmen in den besetzten Gebieten einen Teil der französischen Bevölkerung. Der Krieg stellte die Ärzte vor eine neue demographische Landkarte. Es entstanden neue kriegsbedingte Schnittstellen zwischen männlicher und weiblicher Bevölkerung, die es in Augenschein zu nehmen galt, wenn man der Ausbreitung der Geschlechtskrankheit wirksam entgegentreten wollte, so etwa der Heimat- oder Rekonvaleszenzurlaub des Soldaten, die militärisch-topographische Zone des Etappengebiets oder das gemeinsame Arbeiten von Frauen und Männern in der Kriegsindustrie. Die Kriegsbedingungen entschärften aber auch die Situation: Ein Großteil der männlichen Bevölkerung war mobilisiert und stand unter militärärztlicher Aufsicht, ja, die Gesamtbevölkerung wurde zunehmend militarisiert, was auch vor der ärztlichen Praxis nicht Halt machte. Die Ausnahmesituation des Krieges eröffnete neue ärztliche Kontrollmöglichkeiten und Kompetenzbereiche. So stellte sich etwa die Frage nach der Zwangsbehandlung für einen Teil der wehrpflichtigen Männer ganz neu, wurde doch die Gesunderhaltung ihres Körpers eine militärische Pflicht, der sie sich nicht entziehen konnten. Es ist zu fragen, ob und wie die Ärzte diese neuen Kontrollmöglichkeiten über die Gesamtbevölkerung nutzten. Trotz dieses engmaschigeren Netzes an Kontroll- und Zwangsmöglichkeiten muss auch untersucht werden, was im Kriegskontext von den Appellen an den Einzelnen, sich für die eigene und kollektive Gesundheit verantwortlich zu zeigen, übrig blieb. Ärzte sahen in der Stärkung dieser individuellen Verantwortung auf lange Sicht das effizienteste prophylaktische Mittel im Kampf gegen die Seuche.

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II. Die Militarisierung der Hygiene Der Krieg eröffnete den Ärzten neue hygienische Kontrollmöglichkeiten. In einer Zeit, in der die medizinische Fürsorge einer gesundheitlich in höchstem Maße geschädigten Bevölkerung eine der dringlichsten ärztlichen Aufgaben darstellte, erweiterten sich die ärztlichen Kompetenzbereiche erheblich. Die Maßnahmen standen nicht vereinzelt da, sondern bauten auf neu entstandene oder weiter ausgebaute institutionelle Grundlagen auf, die sowohl der veränderten Kriegssituation Rechnung trugen als auch eine Antwort auf langfristige Probleme darstellten. Nicht nur Ärzte, sondern eine Vielzahl von zivilen und militärischen Instanzen waren an der Weiterentwicklung und Entstehung solcher Einrichtungen beteiligt. Die deutschen Ärzte reagierten auf die emporschnellende Rate der Geschlechtskranken wesentlich früher als ihre französischen Kollegen. Alfred Blaschko entwarf bereits zwei Monate nach Kriegsbeginn einen umfassenden Plan für die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Krieg.13 In Frankreich schreckten erst Ende 1915 alarmierende Berichte über die venerische »Volksseuche« die Ärzte und die Öffentlichkeit auf.14 Auch im Laufe des Krieges erfuhren die französischen Leser der ärztlichen Zeitschriften für Allgemeinmedizin weitaus weniger von der »nationalen Gefahr«, als das in Deutschland der Fall war. Gerade in der Gesundheits- und Hygienepolitik drifteten Deutschland und Frankreich am Vorabend des Ersten Weltkrieges weit auseinander.15 Es wird hier nicht ein Vergleich in der Geschlechtskrankenfürsorge angestrebt, wäre hierfür doch eine umfassendere Untersuchung der unterschiedlichen Gesetzgebungen, Verwaltungstechniken und sozialen Sicherungssysteme der Vorkriegszeit erforderlich. Dieses weite Feld kann hier nur angeschnitten werden. Die Implementierung neuer medizinischer Institutionen in ein bereits gewachsenes System von Gesundheitsvorrichtungen ganz unterschiedlichen Gepräges kann aber auch eine ärztliche Antwort auf ähnliche kriegsbedingte gesellschaftliche Entwicklungen sein. Welche Aktions- und Kompetenzbereiche erschlossen sich die Ärzte und welche Zugeständnisse wurden von der Zivilmedizin an die militärischen Anforderungen gemacht?

13 Blaschko, A., Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Kriege, in: DMW, 1. Oktober 1914, Nr. 40, S. 1816–1818. 14 Der Historiker Yves Le Naour datiert den ersten Bericht über eine Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten an die parlamentarische Kommission für öffentliche Hygiene auf den 30. Juni 1915. Es folgten die Berichte der Ärzte Brocq und Thibierge am 19. Dezember 1915 an den médecin-inspecteur Vaillard. Siehe Le Naour, Misères, S. 136f. 15 Siehe hierzu Kaelble, Nachbarn, S. 113–128; Mitchell; siehe auch Kap. I.3. »Individuelle und soziale Medizin – ärztliche Handlungsspielräume« im ersten Teil dieser Arbeit.

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1. »Service annexe« und »cabinet prophylactique« in Frankreich Von den hohen Ansteckungsziffern alarmiert, setzte die Militärregierung bis 1916 die Sanitätspolizei verstärkt ein. Im zivilen Bereich blieben Festnahmen von vermutlichen Krankheitsüberträgern und deren Überwachung zunächst die einzigen Reaktionen. Das Innenministerium von Malvy hatte kraft des Notstandsgesetzes etwaige Kranke einfach zwangshospitalisiert und wegsperren lassen. Anfang 1916 übernahm Justin Godart an der Spitze des militärischen Sanitätswesens (»Service de santé militaire«) die Aufgabe, epidemische Krankheiten zu kontrollieren. Es handelte sich dabei nicht um eine rein militärische Institution, da bereits Anfang 1915 angesichts der Überforderung militärärztlicher Einrichtungen dem »Service de santé militaire« eine zivile Autorität in Form eines Staatssekretariats zur Seite gestellt wurde. Im »Service de santé militaire« arbeiteten somit militärische und zivile Instanzen zusammen. Godart änderte die bisherige Strategie der Militärregierung entscheidend: Er setzte fortan statt auf koerzitive auf prophylaktische und auf klärerische Maßnahmen. Zivilärzte wurden mehr und mehr in den Kampf gegen eine »Verseuchung« der Bevölkerung eingebunden, zumal Militärärzte zu diesem Zeitpunkt noch keine Ausbildung in Diagnose und Behandlung von Geschlechtskrankheiten vorzuweisen hatten. Mit diesem strategischen Richtungswechsel ebnete Godart den Weg zu einer flächendeckenden Implementierung von ärztlichen Behandlungsstationen, die in Frankreich zwar nicht gänzlich neu, doch bis dahin höchst selten waren: die »dispensaires« oder »services annexe des hôpitaux«. Es handelte sich dabei um ambulante Behandlungsformen, die an Krankenhäusern angegliedert wurden. Vor allem im Bereich der Tuberkulosebekämpfung hatte man bereits Erfahrungen mit einer solchen poliklinischen Form gesammelt. Bis 1916 hatte die große Mehrheit der französischen Bevölkerung keine Möglichkeit, sich von einem in der Venerologie oder Dermatologie spezialisierten Arzt kostenlos behandeln zu lassen.16 In Paris waren lediglich drei »dispensaires« in Betrieb. Für Militärpersonen sah es nicht viel besser aus: Das Rundschreiben Chéron von 1906 schrieb zwar die Einrichtung eines Sanitätspostens speziell für Geschlechtskranke in jeder Kaserne vor, was jedoch nur in vereinzelten Fällen realisiert worden war. Der Beginn einer flächendeckenden ambulanten Behandlungsmöglichkeit für die Bevölkerung entstand mitten im Krieg. Zunächst blieb die Maßnahme auf Militärpersonen beschränkt. In der neunten Region eröffnete der Zivilarzt Henri Gougerot, Professor an der Pariser Medizinischen Fakultät, im März 1916 das »Centre Militaire de Dermatologie et Vénéréologie« im Militärkrankenhaus in Tours. Die Ärzte Pautrier in Bourges und Perrin in Mar16 Murard u. Zylberman, Hygiène, S. 572–575.

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seille folgten dem Beispiel Gougerots. Am 1. Januar 1918 existierten zwanzig solcher Zentren und 53 Zweigstellen.17 Der Krieg stellte die Ärzte vor die Notwendigkeit einer schnellen und gleichzeitig effizienten Therapie, die den Patienten ein schnelles Wiederaufnehmen ihrer militärischen Pflicht ermöglichte. Gougerot hob in seinem Jahresresümee wiederholt die großen Vorteile hervor, vor allem den »möglichst geringen Zeitverlust für den Soldaten, den Offizier oder den Arbeiter, da man außerhalb ihrer Übungs- und Arbeitszeit behandeln kann und ihnen somit keine Zeit zur Gewöhnung an Untätigkeit und Faulheit lässt«.18 Diese militärische Rationalisierung der medizinischen Therapiemöglichkeiten wurde in der Folgezeit auch auf den zivilen Sektor ausgedehnt. Im Mai 1916 ergriff Gougerot die Gelegenheit und versah verschiedene, auch kleinere Städte mit ambulanten Behandlungsstationen für die Zivilbevölkerung. Die besonders schwer betroffene Arbeiterbevölkerung in der Kriegsindustrie sollte von einer solchen Einrichtung in der Nähe der Arbeitsstätte profitieren. Ein weiteres großes Anliegen Gougerots war es, seine Zentren bis in die ländlichen Gegenden hinein zu tragen, ohne das Prinzip aus den Augen zu verlieren, dass bei kleineren Gemeinden auch eine größere Diskretion gewahrt werden musste. Hierfür setzte Gougerot das »voiture vénéréologique« ein, eine Art kleine Behandlungsstation auf Rädern, um auch die entlegenen Gegenden zu erreichen.19 Der Chef einer solchen Einrichtung war die Zentralstelle im Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten. Die Zeit der Einzelaktionen sollte endgültig vorbei sein, nun wurde die therapeutische und organisatorische »unité d’action« allerorts beschworen. Diese Vereinheitlichung der Aktionsfelder wurde dadurch erreicht, dass der leitende Arzt der Zentralstelle eine Kontrollfunktion gegenüber den anderen militärischen oder zivilen Zentren auszufüllen hatte. Monatliche Inspektionen sollten die zu behandelnden Militär- und Zivilpersonen überwachen, die therapeutische Einheit und eine Kontrolle der Ärzte garantieren und die zivilen Autoritäten, wie die Präfekten und Bürgermeister, zu »mehr Eifer im Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten stimulieren«. 20 Die Fäden liefen damit in einer spezialisierten Hand zusammen, welche die Einheit in der Überwachung und Kontrolle aller im Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten beteiligten Institutionen und Personen stiftete.21 Diese neue Kontrollinstanz wurde von den Ärzten vehement eingefordert, hatte doch das Gesetz von 1902 17 Le Naour, Misères, S. 137. 18 Gougerot, Organisation et fonctionnement d’un centre militaire régional de dermatologie et vénéréologie, in: AMV, Juli 1917, Bd. 12, S. 414. 19 Gougerot, La lutte antivénérienne. Organisation des dispensaires antivénériens «services annexes» dans la population civile, in: AHPML, Nr. 27, 1917, S. 196–197. 20 Ebd., S. 197. 21 Zu den Inspektionen siehe Gougerot, Organisation et fonctionnement d’un centre militaire régional de dermatologie et vénéréologie, in: AMV, Bd. 12, Juli 1917, S. 418f.

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den lokalen Funktionären weitreichende Kompetenzen über die öffentliche Gesundheit übertragen.22 Diese Entspezialisierung von wichtigen gesundheitlichen Angelegenheiten war den Ärzten schon lange ein Dorn im Auge. Die therapeutisch und organisatorisch flexiblen »dispensaires« erreichten auch weit entlegene Bevölkerungsteile. Sie waren ein geeignetes Instrument zur Medikalisierung der Bevölkerung sowie eine adäquate Antwort auf die kriegsbedingten Bevölkerungsfluktuationen. Durch die funktionelle Vielfalt sollte die Poliklinik sowohl die medizinisch-therapeutischen Aspekte als auch die früher von der Sittenpolizei ausgeübten überwachenden und kontrollierenden Aspekte in der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten beinhalten. Diese Einrichtung garantierte zudem, so versicherten die Ärzte ausdrücklich, den diskreten und anonymen Umgang mit der Erkrankung. Gougerot entwarf hierfür ein zwei-stufiges Behandlungsmodell, eine »consultation à deux degrés«. Es bestand darin, dass man die Kranken zu einer allgemein-medizinischen Sprechstunde kommen ließ, wo ein erster Arzt sie erfassen sollte. Von dort aus wurden sie zu einem zweiten Arzt geschickt, der sie dann behandelte. Dieses Modell habe, nach Gougerot, drei entscheidende Vorteile23: Zunächst ändere diese Vorgehensweise nichts an den Gewohnheiten der Bevölkerung, die weiterhin zu den allgemeinen Sprechstunden im Krankenhaus oder zum Fürsorgeamt gingen. Zweitens könnten sich die Patienten den ihnen bekannten Ärzten anvertrauen. Schließlich sei dieses Modell diskret und verhindere Diffamierungen von Geschlechtskranken: Keiner bräuchte sich dafür zu schämen, einen Arzt aufzusuchen. In der Nachkriegszeit wurde die Errichtung von solchen »dispensaires« weitergeführt. Neben der »Ligue nationale contre le péril vénérien«, die über eigene »dispensaires« verfügte, rief der Staat 1922 eine »Commission de propylaxie antivénérienne« ins Leben, die 1923 etwa 200 ambulante Behandlungsstationen verwaltete. Der Krieg hatte hier entscheidendes bewirkt, stellen Murard und Zylberman in ihrer Arbeit über die Hygiene in der Dritten Republik fest, die das Kriegsjahr 1916 als den Anfangspunkt der hygienischen Medikalisierung der französischen Bevölkerung sehen.24 Die Sanitätspolizei hatte endgültig ausgedient und einer Präventivmedizin Platz gemacht. Zudem kümmerte sich eine Regierungsinstanz, das Staatssekretariat unter Justin Godart, um öffentliche Gesundheitsbelange. Im Unterschied zu wirtschaftlichen und sozialen Sektoren hatte der Krieg eine zunehmende Staatsintervention in Bereiche der öffentlichen Gesundheitsfürsorge nicht beschleunigt, sondern zweifelsohne generiert. 22 Siehe das Kap. I.3. »Individuelle und soziale Medizin – ärztliche Handlungsräume« im ersten Teil dieser Arbeit. 23 Gougerot, La lutte antivénérienne. Organisation des dispensaires antivénériens «services annexes» dans la population civile, in: AHPML, Nr. 27, 1917, S. 198f. 24 Murard u. Zylberman, Hygiène, S. 577f.

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Anfang 1918, als immer noch nicht abzusehen war, wie lange der Krieg noch dauern würde, wurde erneut die Frage nach den Möglichkeiten koerzitiver Maßnahmen in der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten aufgeworfen. Für den Arzt Sabouraud waren eine Vervielfachung der Spezialabteilungen und der Ambulatorien in den Zivil- und Militärkrankenhäusern nicht der richtige Weg, um die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten zu stoppen. 25 Es handele sich doch um eine veraltete Formel, die zwar durchaus einige, wenn auch nur unzureichende Erfolge zu verbuchen habe. Der amerikanische Kriegseintritt führte auch im medizinischen Bereich dazu, sich mit neuen Methoden und Ansätzen auseinanderzusetzen und gegebenenfalls Neuerungen einzuführen. Die amerikanischen kontrollierenden und überwachenden Maßnahmen waren hier, so glaubten die Ärzte wenigstens anfangs, besonders effizient im Kampf gegen die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten. Insbesondere die »prophylactic station« ermöglichte in sexualhygienischer Hinsicht eine größere und effizientere Kontrolle über die Militärpersonen. Prinzipiell sah die amerikanische Prophylaxe das obligatorische Aufsuchen einer »prophylactic station« drei Stunden nach jedem Geschlechtsverkehr vor. Der Soldat musste mit einer Strafe rechnen, sobald bei ihm eine Geschlechtskrankheit diagnostiziert wurde, galt dies doch als Beweis dafür, dass er sich nach dem Geschlechtsverkehr nicht oder zu spät behandeln hatte lassen. Alle Geschlechtskranken wurden vor ein Kriegsgericht, den »summary-court«, gestellt. Das Strafmaß reichte üblicherweise von einer Geldstrafe, bzw. einer Kürzung des Wehrgehaltes über ein Ausgehverbot bis hin zur Degradierung. Auch Offiziere waren von einer solchen Regelung nicht ausgeschlossen. 26 Dieses rigorose Durchgreifen war an eine moralische Auf klärungskampagne gekoppelt, die von Organisationen wie der »Young Men’s Christian Association« (YMCA) oder der »Rockefeller Foundation« effizient und systematisch durchgeführt wurde.27 Die französischen Ärzte blickten voll Bewunderung auf dieses erzieherische Programm der Amerikaner und stellten ihre bahnbrechenden Erfolge fest. Gougerot berichtete etwa folgende Begebenheit: 25 Sabouraud, R., Prophylaxie des Maladies Vénériennes aux Armées, in: PM, partie para-médicale, 18. Februar 1918, Nr. 10, S. 113. 26 Wilhelm von Drigalski führte vier Jahre nach Kriegsende aus, dass auch in Deutschland in einigen Armeeteilen, zum Beispiel in Brüssel, auf seinen Vorschlag hin eine ähnliche Regelung getroffen worden war. Diese ordnete an, »daß jeder sich möglichst unmittelbar nach vollzogenen Beischlaf auf der Revierstube zu melden und sich nachträglich desinfizieren zu lassen habe […] und daß bei einer Erkrankung ohne vorherige derartige Meldung Bestrafung eintrete.« Und Drigalski fügte hinzu: »Zu dieser wichtigen Bestimmung, die ohne weiteres eingehalten werden konnte und die meines Wissens in fremden Armeen z.T. durchgeführt war, konnten sich die Kommandostellen in manchen Teiles des Feldheeres leider nicht entschließen«. Siehe Drigalski, S. 590. 27 Siehe zur amerikanischen Gesundheitskampagne auch Kap. II.3. »Der Gesundheitszustand der Zivilbevölkerung« im ersten Teil dieser Arbeit.

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»Schon häufiger konnte ich auf der Straße beobachten, wie amerikanische Soldaten, die verführerischen, leichtfertigen und jungen Frauen folgten, von amerikanischen Damen in der YMCA-Uniform angesprochen wurden. Diese Damen verwarnten ihre Landesgenossen, die beschämt eine andere, schicklichere Richtung einschlugen.«28

Gougerot trat dafür ein, die bereits langjährige ärztliche Forderung nach einer effizienten moralischen Erziehungskampagne (»éducation morale«) im Krieg durchzusetzen. Gleichwohl könne die amerikanische Methode nicht eins zu eins übernommen werden, da der französische Soldat »tendenziell alles, was mit Venus zu tun hätte, ins Lächerliche zieht« und er sich deswegen den prophylaktischen Vorschriften nicht so einfach beuge wie der amerikanische Soldat.29 Deswegen sei eine systematische Gesundheitserziehung umso erforderlicher, in der alle Einzelmaßnahmen von einer Zentralstelle aus koordiniert und gesteuert würden: »Für diese Propaganda fordern wir eine Gesellschaft von aktiven Propagandisten mit Filialen in ganz Frankreich.«30 Ebenso wie die Auf klärungskampagnen begrüßten die französischen Ärzte die Einrichtung der »cabinets prophylactiques«, die eine Prophylaxe vor und nach dem Geschlechtsverkehr mit den daran gekoppelten Strafmaßnahmen vorsahen. Sie hoben den französischen Ursprung dieser Idee hervor. 31 Obgleich am Institut Pasteur Effizienz und Durchführbarkeit solcher Methoden erprobt worden waren, wurden sie in Frankreich, so bedauerten die Ärzte, beharrlich ignoriert. 1906 hatte der Staatssekretär im Kriegsministerium Chéron bereits vergeblich versucht, dieses System flächendeckend einzuführen, und sich damit, so Gougerot, nur ein »ironisches Lächeln« eingehandelt. 32 Von den amerikanischen Erfolgsquoten in der Eindämmung der Geschlechtskrankheiten ermuntert, knüpften einige Ärzte an die zögerlichen Versuche Chérons an, um auch in Frankreich solche Einrichtungen zu implementieren. Es stand allerdings ebenso fest, dass die amerikanische Methode nicht in toto übernommen werden könne und Adaptationen für den französischen Fall vorzunehmen seien. Gougerot bemerkte, dass das amerikanische System nicht die nötige ärztliche Diskretion gegenüber den Erkrankten garantiere. Vorkehrungen seien zu treffen, um ein Bekanntwerden der Erkrankung zu verhindern. Vor allem stießen sich die französischen Ärzte an dem Vorgehen, jeden Geschlechtskranken von vornherein vor das Militärgericht zu stellen und zu bestrafen. Es sei damit nicht sogleich bewiesen, dass der Soldat sich zu spät behandeln habe lassen. Da28 Gougerot, Prophylaxie antivénérienne «avant» et «après» campagne de propagande, in: AMV, Bd. 13, 1918, S. 521f. 29 Ebd., S. 542. 30 Ebd., S. 522. 31 Sabouraud, R., Prophylaxie des Maladies Vénériennes aux Armées, in: PM, partie paramédicale, 18. Februar 1918, Nr. 10, S. 113. 32 Gougerot, Prophylaxie antivénérienne «avant» et «après» campagne de propagande, in: AMV, Bd. 13, 1918, S. 524.

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mit fühlten sich die französischen Ärzte dem Grundsatz verbunden, dass Geschlechtskrankheit nicht ohne weiteres mit einem Vergehen gleichgesetzt und unter Strafe gesetzt werden könne. Die Vernachlässigung der eigenen Körperhygiene zu bestrafen, hieße auch, dem diffamierenden Charakter, der einer Geschlechtskrankheit lange Zeit anhing, nur noch weiter und unnötigerweise Vorschub zu leisten. Allein die zweifelsfrei feststellbare Verweigerung, sich zu schützen und behandeln zu lassen, solle bestraft werden. Der Zwangscharakter wurde damit wesentlich abgemildert und durch eine forcierte Auf klärung individueller Prophylaxe ersetzt. Nach einigen nicht überzeugenden Einzelaktionen, etwa von Louis Bory in der Region Nancy im Februar 1918, scheiterte der Versuch im August 1918, die »cabinets prophylactiques« in Frankreich auf freiwilliger Basis einzuführen: Die französischen »poilus« ignorierten schlichtweg die Sanitätsstationen. Die strikten amerikanischen Maßnahmen übten auf die französischen Ärzte eine große Wirkung aus. Sie versprachen eine lückenlose Kontrolle der Militärbevölkerung. Trotzdem drückten einige der Ärzte ihr Unbehagen gegenüber einem solchen Rigorismus aus: Sie hielten an der Idealvorstellung fest, dass es in einer gesundheitlich und hygienisch verantwortungsvollen Gesellschaft zur Selbstverständlichkeit werden würde, sich in ärztliche Behandlung zu begeben und die ärztlichen Anweisungen zu befolgen.

2. Die Beratungsstellen in Deutschland Im Vergleich zu Frankreich ging es in Deutschland weniger darum, eine flächendeckende kostenlose medizinische Fürsorge der Geschlechtskranken zu gewährleisten. Für die versicherten Patienten, vor allem Arbeiter und Angestellte, waren schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach und nach die einschränkenden Bestimmungen in der Sozialversicherung gestrichen worden, nach denen die Behandlungskosten und das Krankengeld für selbstverschuldete Krankheiten, also auch »Krankheiten nach geschlechtlichen Ausschweifungen«, von der Krankenkasse nicht übernommen wurden.33 Ebenso war bereits in der Vorkriegszeit die ambulante Behandlungsform der Polikliniken in Deutschland, zumindest in den Großstädten, weit verbreitet. Um 1900 existierten in Berlin an die 300 Polikliniken.34 Dort wurden auch Kranke ohne Versicherungsschutz, die sich keine private Behandlung leisten konnten, kostenlos behandelt. Nebenbei ermöglichte das den Ärzten, wissenschaftliche und praktische Erfahrungen zu sammeln. In den ländlichen Gebieten war die Geschlechtskrankenfürsorge allerdings noch nicht ebenso flächendeckend gewährleistet wie in den Städten. 33 Sauerteig, Krankheit, S. 141ff. 34 Ebd., S. 158.

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Auch in Deutschland versuchte man, die Behandlung nach militärischen Maßstäben zu rationalisieren. Im ersten Kriegsjahr 1915 entbrannte eine heftige Debatte um die Frage, ob man die im Operationsgebiet geschlechtskranken Soldaten hospitalisieren müsse oder ob man sie nicht ambulant bei der Truppe in unmittelbarer Nähe zum Kampfesgeschehen behandeln könne. In dieser Frage prallten vor allem die Meinungen der jüngeren mobilisierten Ärzte an der Front und der spezialistisch ausgebildeten meist älteren Ärzte im Heimatgebiet aufeinander. Für den renommierten Venerologen Albert Neisser bräuchte das Gros der Erkrankten zwar Ruhezeiten, jedoch »keine schön eingerichteten Lazarette«. Er plädierte dafür, sie im Feld zu belassen.35 Die Mehrzahl der an der Front tätigen Ärzte schloss sich dieser Meinung nicht an. Vor allem therapeutische Gründe sprachen dagegen: Eine gründliche Behandlung und eine vollständige Heilung des Patienten könnten im Operationsgebiet nicht gewährleistet werden, so beispielsweise der Arzt eines Feldlazaretts des VI. Reserve-Armeekorps Karl Zieler.36 Die Vorstellungen Neissers scheiterten schließlich an den Bedenken der Frontärzte und an den Kriegsumständen, die eine ambulante Behandlung in der Truppe schlichtweg nicht erlaubten. In den Etappen- und Heimatlazaretten dagegen war eine Angliederung ambulanter Behandlungsformen durchaus durchführbar, so dass die Geschlechtskranken für die Gesellschaft nutzbar blieben und den militärischen Erfordernissen Folge geleistet werden konnte. Für Carl Stern, den Chefarzt eines Reservelazaretts für geschlechtskranke Soldaten, sollten aus den Lazaretten entlassene Soldaten nach der klinischen Behandlung in ambulante Behandlung gegeben werden, die es ermöglichte, sie als »garnisonsdienstfähig« militärisch zu beschäftigen, bis sie dann als »militärdienstfähig« wieder ihren Truppenteilen zugeführt werden könnten.37 Die Ärzte ließen keine Station in der Evakuierungskette (Front – Etappe – Heimat) außer Acht, um eine Nutzbarmachung der vorhandenen Arbeits- und Wehrkräfte zu ermöglichen. Die veränderte Kriegssituation rief in Deutschland eine neue − wenn auch nicht ganz unbekannte – Institution ins Leben. Den neu errichteten Beratungsstellen für Geschlechtskranke standen Fürsorgestellen für Tuberkulosekranke und für Säuglingspflege Modell. Zudem gab es seit Januar 1914 in Hamburg bereits eine Fürsorgestelle für Geschlechtskranke, die als Vorbild für die in der Kriegszeit aus dem Boden sprießenden Beratungsstellen galt. Die Beratungsstellen sollten nicht nur den Zweck erfüllen, eine kostenlose Untersuchung und Auf klärung über die Natur und die Folgen der Krank35 Neisser, A., Krieg, Prostitution und Geschlechtskrankheiten, in: DMW, 14. Januar 1915, Nr. 3, S. 62. 36 Zieler, K., Zur Behandlung der Geschlechtskrankheiten bei den im Felde stehenden Truppen, in: DMW, 1. Januar 1915, Nr. 1, S. 12. 37 Stern, C., Die Behandlung geschlechtskranker Soldaten im Kriege, in: DMW, 15. April 1915, Nr. 16, S. 473.

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heit zu gewährleisten. Sie sollten zudem alle Geschlechtskranken überwachen, die ihnen von den Krankenhäusern und von Ärzten überwiesen wurden oder sich ihnen freiwillig anvertraut hatten. Da es sich bei der Syphilis um eine Krankheit handelte, die sich über Jahre hinziehen konnte, wurde genauestens Buch über deren Verlauf geführt. Die Behörde sandte säumigen Patienten, die sich nicht an die Anweisungen des Arztes hielten oder zu Folgeuntersuchungen nicht erschienen waren, ein Mahnschreiben zu. So war eine Behörde geschaffen, die den Arzt, vor allem den viel beschäftigten Kassenarzt, von den gesundheitspolitischen Aufgaben entlastete, für die ihm die Zeit wie die Befugnisse fehlten. Besonders fahrlässige Patienten konnte die Behörde an den Kassenvorstand melden, der eine Strafe bis zum dreifachen Betrag des täglichen Krankengeldes einfordern konnte.38 Das Beraterkonzept beinhaltete auf der einen Seite auf klärende und belehrende Maßnahmen, die auf einen verantwortungsvollen Umgang des Individuums und der Gesellschaft mit den Geschlechtskrankheiten abzielten. Auf der anderen Seite entstand eine Institution, die durchaus einen gewissen Behandlungs- und Untersuchungszwang für diejenigen Patienten durchsetzen konnte, die sich ihr anvertrauten. In einem Vortrag zur Eröffnung der städtischen Beratungsstelle für Geschlechtskranke in Charlottenburg fasste der Dermatologe Carl Bruhns diese beiden Aspekte zusammen: »Der Geschlechtskranke, der ohnehin heute durch die Presse, durch belehrende Vorträge usw. viel mehr von der Bedeutung der Erkrankung Kenntnis hat wie früher, bedarf ja reichlichster psychischer Beeinflussung von seiten des Arztes, um bei ihm einerseits über seine Erkrankung keine übertriebenen Befürchtungen auf kommen zu lassen, um ihm aber auch andererseits die mögliche Tragweite seiner Erkrankung und die Notwendigkeit erneuter Behandlung immer wieder vor Augen zu führen.«39 Ein wichtiger Anstoß zur Weiterentwicklung und Implementierung des Beraterkonzepts ging von der Militärverwaltung und den Militärärzten aus. Im März 1915 hatte der Generalgouverneur in Belgien, Moritz Freiherr von Bissing, Vertreter der Zivil- und Militärverwaltung, Militärärzte, den Präsidenten des Reichsversicherungsamtes Paul Kaufmann sowie Direktoren einiger Landesversicherungsanstalten zu einer Tagung eingeladen. Die vorhersehbare Schwemme der heimkehrenden Soldaten bei Beendigung des Kriegs und die große Gefahr vor einer Übertragung der Krankheit auf die Zivilbevölkerung stand Pate bei dem Gedanken, diese Männer fortlaufend zu kontrollieren und gleichzeitig ihre Gesundheit so schnell wie möglich wieder herzustellen, damit sie ihre Vorkriegsbeschäftigung wieder aufnehmen konnten. Die Militärsani38 Siehe den § 529 der Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911: Stier-Somlo (Hg.) 39 Bruhns, Zur Eröffnung der städtischen Beratungsstelle für Geschlechtskranke in Charlottenburg. Nach einem Vortrag im Charlottenburger Ärzteverein, in: ZBG, Bd. 16, Nr. 11, 1915/16, S. 337.

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tätsverwaltung hatte darauf hin zugesagt, dass sie »beim Friedensschluß den Landesversicherungsanstalten die noch behandlungsbedürftigen Geschlechtskranken nach Möglichkeit zuführen will.«40 Das Beraterkonzept, dessen Erfolgsgeschichte aus der Not der Stunde geboren wurde, konnte dennoch nicht im militärischen Bereich realisiert werden. Eine Kontrolle der geschlechtskranken Soldaten scheiterte vielmehr an den Militärbehörden, die »an dem Standpunkt festhalten, dass sie nicht berechtigt sind, ohne ausdrückliche Zustimmung der Erkrankten deren Namen an die Landesversicherungsanstalten weiterzugeben.«41 Bis Kriegsende konnte innerhalb der Militärbehörden keine Mehrheit für eine allgemeine Meldepflicht gefunden werden. Diese meldeten bis Ende 1916 den Landesversicherungsanstalten lediglich 200 geschlechtskranke Soldaten, im folgenden Jahr waren es 900 und bei der Demobilisierung um die 10 000. Das war deutlich weniger als die Quote der Personen, die von Zivilärzten gemeldet wurden.42 Damit stießen sich die Militärverwaltungen und Militärärzte an einem Prinzip der Beratungsstellen, das in zivilärztlichen Kreisen mit »triftigen« Gründen widerlegt wurde: Die Beratungsstellen waren im deutschen Gesundheits- und Krankenversicherungssystem weniger eine therapeutische als eine weitere gesundheitspolitische Schaltstelle im ursprünglichen Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Dem Arzt stand es frei, aus gesundheitspolitischen Gründen den Patienten der Behörde zu melden, auch wenn dieser sein Einverständnis nicht gegeben hatte. Man war allerdings noch weit entfernt von einer allgemeinen Meldepflicht für Geschlechtskrankheiten, wie sie weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik durchzusetzen war und die erst 1945/46 von den Besatzungsmächten eingeführt wurde.43 Sowohl in der Fachpresse als auch in der konkreten Durchsetzung schien das Konzept bei der Ärzteschaft auf wenig Bedenken gestoßen zu sein. Sie meldeten mehrheitlich die in ihrer Behandlung befindlichen Geschlechtskranken den Beratungsstellen und garantierten dadurch die konkrete Umsetzung des Beraterprinzips.44 Widerstand gegen eine solche Regelung, wie sie beispielsweise vom Ärztlichen Kölner Verein ausgegangen war, bezog sich nicht auf ein grundsätzliches In40 Ebd., S. 336. 41 Blaschko, A., Die Beratungsstellen für Geschlechtskranke im Jahre 1917, in: DMW, 28. März 1918, Nr. 13, S. 348. 42 Sauerteig, Krankheit, S. 331. 43 Ebd., S. 343. Seit 1969 mussten alle Geschlechtskranke anonym zu statistischen Zwecken an die Gesundheitsämter gemeldet werden. 44 Sauerteig bietet die Statistik der an Beratungsstellen gemeldeten Personen, nach meldender Institution für die Jahre 1916–1931. Beachtenswert ist der hohe Anteil der Selbstmelder. Das Beraterprinzip wurde offenbar von der Bevölkerung gut akzeptiert. Privat- und Krankenhausärzte machten jedoch ebenfalls einen hohen Prozentsatz aus, vor allem wenn man bedenkt, dass viele Ärzte die Patienten zuerst den Krankenkassen meldeten, die dann wiederum die Beratungsstellen benachrichtigten. Vgl. ebd., S. 178.

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fragestellen der staatlichen Interventionen und der Verletzung der Privatsphäre des Patienten. Vielmehr waren professionspolitische Motive, die Angst vor dem Vertrauensverlust des Patienten und in der Folge das Erstarken der nichtapprobierten Ärzte, entscheidende Argumente der Gegner des Beratungsstellenkonzepts. Obwohl das Beratungsmodell ursprünglich für die aus dem Militärdienst entlassenen Soldaten entwickelt wurde, setzte es sich mit größerem Erfolg im zivilen als im militärischen Bereich um. Die Redaktionsmitglieder der »Presse Médicale« nahmen durchaus zur Kenntnis, welche Maßnahmen die Ärzte des anderen Landes diskutierten und durchführten. Sie richteten ab der Märznummer des Jahres 1915 bis etwa Kriegsende eine von Alfred Martinet verfasste Rubrik mit dem Titel »A travers les publications médicales allemandes« ein, die ihre Leserschaft über die deutschen medizinischen Veröffentlichungen informierte. Die erste Ausgabe vom 4. März 1915 beschäftigte sich sogleich mit den deutschen Abhandlungen auf dem Gebiet der Geschlechtskrankheiten: »Wir wollen einen Blick auf das medizinische Deutschland werfen. Um uns auf der anderen Seite des Rheins Rat zu holen? – Ganz und gar nicht. Wir wollen einfach Tatsachenmaterial sammeln und »beobachten«, […] Wenn auch unsere Ausdrucksweise manchmal leichtfertig ist und nicht immer den schulmeisterlichen Ton trifft – sapientissime docent –, der den doktrinalen Ausführungen der Deutschen Meister angemessen wäre, so erlaube man es uns, trotz der schweren Ereignisse, die heilige Gabe der Ironie zu bewahren.«45

Lange Zeit galten das deutsche ärztliche Ausbildungssystem und die deutsche Wissenschaft als ein vorrangiges europäisches Modell. In der Kriegszeit waren französische Ärzte bestrebt, sich gegenüber ihren deutschen Kollegen abzugrenzen und dieses vermeintliche Vorbild zu untergraben. Hierbei wurde das Stilmittel der Ironie besonders oft eingesetzt. So wurden auch die deutschen organisatorischen Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten mit einem ironischen Unterton kommentiert. Im Mittelpunkt stand dabei die Verletzung des ärztlichen Berufsgeheimnisses durch die Möglichkeit der Ärzte, ihre Patienten an eine Sanitätsbehörde, die Beratungsstellen, zu melden. Zu den Maßnahmen, die gegen die Gefährdung der Zivilbevölkerung durch die Rückkehr der ansteckungsfähigen Soldaten getroffen wurden, bemerkte der Arzt Bouquet: »Aber es ist doch schwierig, denken Sie jetzt, die Zivil- als auch die Militärpersonen in gründlichen Statistiken zu erfassen. Ja, zweifelsohne, weil wir unter einem Regime der individuellen Freiheit leben. Um diese uns so wertvolle Freiheit kümmern sich unsere Nachbarn nicht im gleichen Maße. Bis aufs Äußerste diszipliniert, zögern sie nicht, aus

45 Martinet, A., A travers les publications médicales allemandes, in: PM, 4. März 1915, Nr. 9, S. 67.

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ihren Moralvorstellungen einige dieser lästigen Grundrechte zu streichen (oder wenigstens versuchen sie es).«46

Er warf den deutschen Ärzten eine Doppelrolle vor: Sie würden als »Angestellte einer öffentlichen Hygienebehörde« fungieren, so dass das ärztliche Berufsgeheimnis − ein wichtiger Bestandteil im Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient – seinen bindenden Charakter verlieren würde.47 Solche Maßnahmen könnten nur in einer hochgradig militarisierten Gesellschaft durchgesetzt werden: »Was soll man dazu sagen, es gibt eben einige Dinge, die man nicht gerne allen Verwaltungsangestellten anvertrauen möchte, auch wenn man bereits in jungen Jahren an den Schlagstock oder den Paradeschritt gewöhnt ist.«48

Französische Ärzte grenzten sich von ihren deutschen Kollegen weniger wissenschaftlich ab. Die internationalen Konferenzen hatten auf diesem Gebiet etliche Gemeinsamkeiten offenbart. Die Distanzierung von den deutschen Methoden betraf vielmehr das ärztliche Professionsverständnis selbst: auf der einen Seite der französische Arzt, Vertreter einer unabhängigen, liberalen Profession, die sich den ethischen ärztlichen Werten verpflichtet sah, auf der anderen Seite der deutsche Arzt, der sich nicht scheute, diese Werte im Geflecht von gesundheitspolitischen und verwaltungstechnischen Behörden zu verletzen. Im Selbstund Fremdverständnis der französischen Ärzte war demnach der deutsche Arzt ein abhängiger, staatsgebundener, zumal in Kriegszeiten hoch militarisierter Angestellter. Diese professionsspezifische Konfliktlinie im Selbst- und Fremdverständnis nahmen auch deutsche Ärzte wahr. Die Vorschläge des engagierten Arztes Balzer, die Überwachung der Prostitution und die Einführung von geheimen Journalen für infizierte Militärpersonen, wurden folgendermaßen kommentiert: »Der Artikel enthält für uns Deutsche nichts wesentlich Neues. Er beweist nur, wie sehr die Franzosen diese ›Organisation‹, die sie bei den Deutschen verspotten, sich anzueignen bestrebt sind.«49

46 Bouquet, La lutte contre les maladies vénériennes en Allemagne, in: AMV, Bd. 12, September 1917, S. 574. 47 Ebd., S. 574. 48 Ebd., S. 575. 49 Zur Verhütung der Geschlechtskrankheiten im Kriege, in: DMW, 10. Februar 1916, Nr. 6, S. 208. Der Originalartikel von Balzer lautet: La prophylaxie antivénériennes des autorités civiles et militaires, in: PM, 13. Januar 1916, Nr. 2, S. 10–12.

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III. Der gefährdete oder der gefährliche Soldat? Die ärztlichen Bestrebungen, der Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten entgegenzuwirken, änderten sich grundlegend mit Kriegsbeginn. Angesichts der Bevölkerungsbewegungen entwarfen Ärzte nun eine ganz neue epidemiologische Karte: Die mobilisierte männliche Bevölkerung befand sich unter militärischer Aufsicht entweder an der Front, in einem Lazarett oder in den Garnisonsstädten. Dennoch stellte der Erste Weltkrieg in vielerlei Hinsicht keinen Bruch, sondern eine Fortsetzung der Debatten der Vorkriegszeit dar. Bereits vor 1914 trat die Tendenz hervor, mögliche Infektionsherde nicht nur im Bordell zu suchen und die ärztliche Aufmerksamkeit allein auf die Prostituierten zu richten. Der Krieg verstärkte die Forderung, den Mann als etwaigen Krankheitsüberträger und Gefahr für die Familie ebenfalls in das Visier der ärztlichen Maßnahmen zu nehmen. »Die Erfahrungen des Krieges zeigen«, so der MedizinalReferent bei der Zivilverwaltung in Brüssel Pannwitz, »dass die Massnahmen sich nicht nur, wie bisher, gegen die Frau, sondern in gleicher Weise gegen den Mann richten müssen.«50 In den Kriegsjahren brachen diese ärztlichen Forderungen nicht ab, zumal die Mobilisierung auch die einmalige Gelegenheit schuf, einen Großteil der männlichen Bevölkerung unter medizinische Kontrolle zu stellen. Sie nahmen allerdings eine bestimmte Form an, betrafen sie doch die heroischen »Verteidiger des Vaterlandes«, die man nicht einfach den Schikanen einer medizinischen Untersuchung aussetzen durfte. Der ärztliche Kriegsdiskurs über die Militärpersonen oszillierte denn auch zwischen dem gefährdeten und dem gefährlichen Soldaten, dessen Gesundheit und damit militärische Kraft es in Kriegszeiten zu schützen galt und der gleichzeitig eine Gefahrenquelle für die Zivilbevölkerung darstellte und den die Ärzte infolgedessen massiven medizinischen Kontrollen und Belehrungen auszusetzen hätten. Pointiert fasste eine französische Ärztin dieses Spannungsfeld in ein suggestives Bild: »Nicht ohne Entsetzen denken wir an die Gefahren, die der heroische Soldat von heute für sein Dorf darstellt, in das er bald zurückkehren wird. Der Kommandant von den Lorbeeren des Sieges geschmückt, aber, o weh, die Lippen und der Mund mit Plaques muqueuses [spezifisches Symptom der Frühsyphilis, Schleimhauteffloreszenzen] ganz und gar übersät!«51

50 Pannwitz, Über planmässige Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten als vermeidbare soziale Schäden. Vortrag anlässlich der Ausstellung für Kriegs- und Verwundetenpflege in Barmen, in: MCWÄL, 15. Januar 1916, Nr. 3, S. 27. 51 Klein, R., Statistique des syphilis récentes contractées après la mobilisation, observées chez les militaires traités dans le service (août 1914-décembre 1915), in: AMV, Bd. 11, März 1916, S. 152.

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In Deutschland wurde ein analoges Bild entworfen: Der Soldat als »Hüter der Gegenwart« drohte zum »Totengräber der Zukunft« zu werden, wenn er die Geschlechtskrankheit in die Heimat trug.52 Diese Konfliktsituation gibt Einblicke in eine kriegsspezifische Ausformung des Arzt-Patienten-Verhältnisses, in dem die Ärzte mit militärischer Autorität, die Patienten mit militärischen Attributen, wie der Soldatenehre, ausgestattet waren.

1. Sexualhygiene als militärische Pflicht In Frankreich waren sich die Ärzte über einen Punkt einig: Die Kriegssituation bot eine einmalige Gelegenheit, Gesundheits- und Sittlichkeitsvorstellungen einer breiten Bevölkerung gerade auch in sexualhygienischer Hinsicht näher zu bringen. Die Fragen, wie sich eine solche Gesundheitspropaganda gestalten, wer sie durchführen und mit welchen Inhalten sie gefüllt werden sollte, stießen jedoch auf geteilte Meinungen. Zwar sah sich der französische Arzt ebenso wie sein deutscher Kollege im persönlichen Gespräch mit zivilen Patienten als Erzieher, der auf das individuelle Gesundheitsverhalten und -gewissen einwirken konnte.53 Nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit übernahm er indes diese Rolle in der Öffentlichkeit, zumal wenn er seine moralischen, heimatlichen Appelle an Soldaten richtete, die an der Front permanent der Todesgefahr ausgesetzt waren. Die ärztlichen Eingriffe in das Intimleben der Soldaten, ob es sich nun um medizinische Kontrolluntersuchungen oder Belehrungen handelte, empfanden Ärzte häufig als Schikanen für die Vaterlandsverteidiger. Sie fühlten sich zu einer Rechtfertigung genötigt. Der Krankenhausarzt von Saint-Louis Félix Balzer hob die prophylaktische Gesundheitspropaganda italienischer Ärzte lobend hervor, machte jedoch im gleichen Zug darauf aufmerksam, dass sie ausschließlich auf die Zivilbevölkerung gerichtet war.54 Den Soldaten gelte es sicherlich vor der Allgemeinheit zu schützen. Allerdings müsse auch mit einer notwendigen Strenge dafür gesorgt werden, dass der mit einer Geschlechts52 Mayer, A., Diskussion über den Vortrag von Linser, Neuere Erfahrungen über Verbreitung, Infektion und Behandlung der Gonorrhoe. Vortrag im Medizinisch-naturwissenschaftlichen Verein Tübingen. Medizinische Abteilung. 17. Juli 1918, in: MCWÄL, 28. Dezember 1918, Nr. 52, S. 451. 53 Ein solches fiktives Gespräch zwischen Arzt und Patient entwarf beispielsweise der Arzt Louis Bory, Un mal moral ou la deuxième apparence du mal vénérien. Etude comportant un essai d‹éducation sur les premiers soucis de la vie masculine, in: AHPML, Bd. 17, Nr. 3 u. 4, 1917, S. 129–147 u. 227–263. Es sollte dem Arzt eine Handreichung sein, wie er sich als moralische Instanz im Arzt-Patienten-Verhältnis zu verhalten habe. 54 Balzer, F., La prophylaxie antivénérienne par les administrations civiles et militaires, in: PM, 13. Januar 1916, Nr. 2, S. 12.

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krankheit infizierte Soldat sie nicht ungehindert ausbreiten könne. Er forderte medizinische regelmäßige Untersuchungen der Soldaten, die vom Militärsanitätswesen vorgenommen werden sollten. Ein gewisses Unbehagen konnte aber auch Balzer nicht verhehlen, so dass er hinzufügte, eine einseitige, allein auf die Frau ausgerichtete Umsetzung der prophylaktischen Maßnahmen verletze die öffentliche Meinung. Balzer brachte in der Académie de Médecine die Idee auf, eine sexualhygienische Propaganda zu organisieren, die sich an die Männer im Kriegsdienst richtete. Er hatte den Vorschlag bereits im Innenministerium M. Brissac, dem Direktor der »Assistance et Hygiène publique«, unterbreitet und erstattete darüber in einer Sitzung der Académie de Médecine Bericht, von der er Unterstützung und Schirmherrschaft einer solchen Propaganda erbat. Die darauf hin gegründete Kommission bestand aus den angesehenen Fachspezialisten Félix Balzer, Ernest Gaucher, Maurice Letulle, Louis Vaillard und Emile Arthur Vallin.55 In der Sitzung vom 23. November 1915 diskutierten die Akademiemitglieder hitzig über ein von der Kommission redigiertes Merkblatt, das an die Soldaten verteilt werden sollte. Das Merkblatt fasste alle sogenannten »maladies évitables«, also durch hygienische Maßnahmen vermeidbaren Krankheiten zusammen. Dazu gehörten neben den Geschlechtskrankheiten die Schutzmaßnahmen gegen Alkohol, Kälte, Ungeziefer und anderen unhygienischen Zuständen in den Schützengräben. Die Diskussion wurde ausgesprochen kontrovers geführt. Obwohl man sich prinzipiell über die Nützlichkeit, ein Merkblatt unter die Soldaten zu verteilen, einig war, wollten sich einige Ärzte partout nicht auf eine Diskussion über den genauen Wortlaut des Merkblattes einlassen. Sie schlugen deshalb vor, die Redaktion allein den Kommissionsmitgliedern zu überlassen, ohne den redigierten Text nochmals der gesamten Académie zur Abstimmung vorlegen zu müssen. Das widersprach den Regeln der Académie, nach denen alles, was ihren Namen trug, auch der Abstimmung ihrer Mitglieder zu unterbreiten war. Wieso eine solche Verweigerung, was den Wortlaut betraf, wenn man sich doch grundsätzlich einig war? Die Akademiemitglieder waren sich über die Position uneins, die sie im Geflecht der militärischen bzw. militärärztlichen Institutionen und dem Soldaten einnehmen sollten. Der Arzt und Präsident der »Ligue sanitaire française«, Raphael Blanchard, plädierte dafür, doch das englische Modell der sexualhygienischen Auf klärung dem italienischen vorzuziehen. Richteten sich die Appelle der englischen Ärzte an die Militär- und Zivilärzte, die Offiziere und Unteroffiziere und waren wissenschaftlicher Art, sprachen die italienischen Flugblät-

55 Sitzung der Académie de Médecine am 2. November 1915, in: PM, 4. November 1915, Nr. 53, S. 440.

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ter konziser und sprachlich angepasst direkt die Truppe an.56 Blanchard zog es vor, mit den Kommandierenden zu kommunizieren, die wiederum die Maßnahmen in einen militärischen und damit unbedingten Befehl umschreiben könnten. Die Kommission unter Vorsitz von Balzer und Letulle befürwortete dagegen den Weg, den die italienischen Ärzte eingeschlagen hatten: Die unter der Schirmherrschaft der höchsten zivilärztlichen Instanz verfassten Merkblätter sollten direkt und individuell an die Soldaten verteilt werden. Allerdings, wendete Letulle in der hitzigen Debatte auf die Anfrage eines Kollegen ein, würden die Merkblätter zwar unter der Schirmherrschaft, nicht aber im Namen der Académie verteilt. Sie sollten zuerst an die Militärverwaltung gehen, die einen definitiven Text erstellen und die Merkblätter verteilen werde.57 Diese einmalige Gelegenheit, Auf klärungsarbeit im Volk zu betreiben, solle man, so Letulle, nicht einfach ungenutzt vorbei ziehen lassen. Ja, es bestehe vielmehr die Pflicht der Akademie, der sie sich nicht entziehen dürfe.58 Einige Akademiemitglieder sahen es allenfalls in ihrem Aufgabenbereich, den Soldaten auf die »hautes vérités morales«, die großen moralischen Wahrheiten hinzuweisen. So etwa im ersten und dritten Paragraph der Schlussresolution: »Soldaten, verteidigt Euch gegen die Geschlechtskrankheiten. […] Es ist die Pflicht eines jeden guten Bürgers und guten Soldaten, seine Gesundheit für den vaterländischen Dienst zu erhalten. […] Freund, denke daran, dass Du mit Deiner Geschlechtskrankheit eines Tages Deine Familie, Freunde und vor allem Deine Frau und Kinder anstekken könntest. Damit würdest Du ihre Liebe, ihre Wertschätzung und ihren Respekt verlieren. Wirst Du Dich wirklich einmal vor Deiner Familie schämen müssen? Denke daran, was Du empfinden würdest, wenn ein Mann Deine Schwester oder Deine Tochter anstecken würde.«59

Die Diskussion um die vermeidbaren Krankheiten geriet unweigerlich ins Stocken, als der Leiter der Kommission den 6. Paragraph vorstellte, der sich von der Proklamation großer moralischer Prinzipien verabschiedete und detailreich schilderte, welche Verhütungsmittel und welche hygienischen Maßnahmen dem Soldaten zur Verfügung stünden, um sich vor Geschlechtskrankheiten zu schützen.60 Eine solche »amouröse Kochanleitung« sei der Académie nicht wür56 Blanchard, R., A propos des notices d’hygiène destinées aux soldats de notre armée. Diverses publications de la Ligue sanitaire française, in: BAM, Bd. 74, 1915, S. 596–599. 57 Discussion du rapport de M. Letulle sur la distribution, dans l’Armée, de Notices relatives à la prophylaxie des maladies évitables. Sitzung der Académie de Médecine am 23. November 1915, in: BAM, Bd. 74, 1915, S. 566. 58 Ebd., 566. 59 Notice relative à la prophylaxie des maladies vénériennes adoptée par l’Académie de Médecine. Sitzung am 23. November 1915, in: BAM, Bd. 74, 1915, S. 570. 60 Discussion du rapport de M. Letulle sur la distribution, dans l’Armée, de Notices relatives à la prophylaxie des maladies évitables. Sitzung der Académie de Médecine am 23. November

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dig, so der ungehaltene Zwischenruf des Arztes Quénu.61 Adolphe Pinard widersprach diesem Einwurf heftig: Diese »cuisine vénérienne« sei notwendig und unerlässlich, da die Ratschläge an die Soldaten gerichtet seien und man es somit nicht mit großspurigen moralischen Wahrheiten bewenden lassen könne. Ihnen müssten im Gegenteil konkrete Anweisungen zum Schutze vor der Krankheit zur Hand gegeben werden. Die Befürworter einer Gesundheitspropaganda, die sich mit einer konkreten Handreichung direkt an die Soldaten wandte, konnten sich schlussendlich durchsetzen. In der allgemeinen medizinischen Fachpresse rief die burleske Diskussion in der Akademie bissige Kommentare hervor. Mit pointierter Ironie und einer gehörigen Portion scharfer Kritik an den medizinisch-akademischen Kapazitäten brachte der Arzt Helme, der in fast jeder Nummer der »Presse Médicale« die erste Seite füllte, dies auf den Punkt. Die Akademiemitglieder mit ihren hochtrabenden Maximen würden die Mentalität der französischen »bonhommes« verkennen: »Ist es nicht sinnlos, das Bild der Krankheit vor Männern heraufzubeschwören, die jeden Tag dem Tod nur um Haaresbreite entgehen? Welche Aussicht kann sie jetzt noch in Schrecken versetzen? […] Um offen zu sprechen, ich kann mich nicht davon überzeugen lassen, dass die Aussicht auf einen Krankenhausaufenthalt im Hinterland, selbst wenn dieser von einigen Arsenobenzolspritzen und Permanganatwaschungen erschwert werden sollte, unsere Truppen auf dem Hang der Lust aufzuhalten vermag.« 62

Man solle doch, so schloss Helme seine scharfe Kritik, alle akuten hygienischen Maßnahmen getrost in die Hände der Kriegsärzte im Operationsgebiet legen. Ihnen werde zu wenig Anerkennung entgegengebracht, obwohl sie nicht nur für die Militär-, sondern auch für die Zivilbevölkerung Hervorragendes leisten würden:

1915, in: BAM, Bd. 74, 1915, S. 557–570; in der endgültigen Resolution konnten sich die Akademiemitglieder auf folgenden Wortlaut verständigen: Notice relative à la prophylaxie des maladies vénériennes adoptée par l’Académie de Médecine. Sitzung am 23. November 1915, in: BAM, Bd. 74, 1915, S. 570: »Wenn Du jedoch die Schwäche hattest, Dich von diesen Frauen verführen zu lassen, dann benütze ein »Präservativ« aus Gummi. Schmiere Dein Genitalorgan mit einer fettigen, talghaltigen Salbe ein, Öl oder Schmalz, oder besser noch mit einer »Verhütungspommade« mit 30% Quecksilberchlorid. Vermeide den Kontakt mit Mund oder Genitalorganen. Nach dem Geschlechtsverkehr, sollte man die Genitalorgane großflächig mit Wasser und Seife gewissenhaft waschen. Wenn möglich, mit einer Lösung aus 1/1000stel Sublimat. Man sollte nach dem Koitus sofort urinieren«. 61 Discussion du rapport de M. Letulle sur la distribution, dans l’Armée, de Notices relatives à la prophylaxie des maladies évitables. Sitzung der Académie de Médecine am 23. November 1915, in: BAM, Bd. 74, 1915, S. 564: »Cette cuisine amoureuse n’est vraiment pas bien digne de l’Académie«. 62 Helme, Vénus à l’Académie et la Prophylaxie des maladies vénériennes dans l’armée, in: PM, partie paramédicale, 2. Dezember 1915, Nr. 59, S. 449 f.

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»Hinter den Schützengräben, wo der Schnitter Tod seine Sense schwingt, verbringen unsere auf Ordnung, Sauberkeit und sittliche Erneuerung erpichten militärischen Kollegen ihre Freizeit mancherorts damit, hygienische Maßnahmen zu verkünden. Die Zivilbevölkerung zieht großen Nutzen aus ihrer Präsenz. Nicht nur, dass der französische Ärztestab […] zum Heile Frankreichs beiträgt, er will zudem Frankreich auch noch schöner, gesünder und robuster machen. Oh, die guten Leute, denen zu danken, man oft vergisst. So sind in einigen Gegenden, die ich selbst gesehen habe, die Dörfer vollständig neu hergerichtet, die Mistgräben an den Häusern entfernt, die Ställe gereinigt und die Mauern der Wohnhäuser neu verputzt worden. Die Gesundheit des Soldaten hängt von der zivilen Gesundheit ab.« 63

Die Diskussion in zivilärztlichen Kreisen legte vor allem die Kluft zwischen Ärzten im Hinterland und Ärzten an der Front offen. Den richtungsweisenden sittlichen Prinzipien der Académie standen die konkreten Aktionsfelder der Frontärzte entgegen, die wissenschaftliche Erörterung der Frage im Hinterland der praktischen Anwendung im Operationsgebiet, schließlich der zögerlichen und betont distanzierten Annäherung an den Soldaten der angeblich kameradschaftliche Schulterschluss zwischen Militärärzten und Soldaten. In den intimsten Bereich des Soldaten, das Geschlechtsleben, fände nur der an der Front den gleichen Bedingungen ausgesetzte Arzt Eingang. Diese aufschlussreiche Debatte macht demnach eine Konfliktlinie unter den Ärzten deutlich, die es in dieser Ausprägung in Deutschland nicht gegeben hat.64 Eine gleichermaßen heikle Frage stellte sich den französischen Ärzten bei der Forderung nach Enthaltsamkeit des Soldaten im Feld. War es nicht eine sittliche und zumal unter den Kriegsbedingungen militärische Pflicht des Soldaten, sich für sein Vaterland gesund zu erhalten und alle Gesundheitsrisiken, wie etwa den außerehelichen Geschlechtsverkehr, zu meiden? Die Debatte um die sexuelle Abstinenz nahm in den ärztlichen französischen Publikationen einen kleinen Raum ein. Die Akademiemitglieder betonten im November 1915 und im April 1917 einstimmig und diskussionslos die Notwendigkeit, die Soldaten, insbesondere die verheirateten Männer, davon in Kenntnis zu setzen, dass Enthaltsamkeit zum einen möglich, zum anderen gesundheitlich sogar fördernd sei.65 Dieser Maxime schloss sich eine Vielzahl der Ärzte an. Ihr trat das ärztliche Bemühen entgegen, den Krieg und die ständige Todesbedrohung als eine Ausnahmesituation zu sehen, in der auch der Soldat den Moralvorstellungen der Friedenszeit enthoben sei. Die häufige Klage, der Krieg habe die »üblichen sittlichen Wertbegriffe«, die »notions morales habi-

63 Ebd., S. 451. 64 Zur Konfliktlinie zwischen Front- und Heimatarzt, die gleichzeitig auch eine generationsspezifische war, waren doch an der Front vor allem jüngere Ärzte tätig, siehe Audoin-Rouzeau, Carnets. 65 Sitzung der Académie de Médecine vom 3. April 1917, in: BAM, Bd. 78, 1917, S. 433.

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tuelles« außer Kraft gesetzt, ging mit dem Versuch einher, Verständnis für den aus seiner gewohnten Umwelt herausgerissen Mann zu erwecken. »Der Mann muss plötzlich seine Lieben, sein Zuhause, seine Arbeit und seine Gewohnheiten verlassen. Er weiß, dass er auf eine lange und mörderische Expedition zieht. Der Soldat von heute ist nicht mehr der vorsichtige Mann von gestern. Er weiß nun, dass er jeden Tag sein Leben aufs Spiel setzt, dass er sich vor Gefahren standhaft zeigen muss, die er in seinem friedvollen Leben so sehr gefürchtet hat. […] Die gleiche begeisterte und patriotische Hoffnung bewegt diese Männer jeden Alters, alle scheinen sie in das Feuer ihrer 20 Jahre zurückzukehren. Gegenseitig überreizt man sich; einige wollen vielleicht ihre uneingestandenen Ängste und Traurigkeit hinter einer Maske schallender Freude verbergen; und wie kann man besser vergessen und sich ablenken, als während eines unangemessen häufigen Aufenthaltes im cabaret, dieses Vorzimmer der Bordelle, wo sich so leicht Beziehungen knüpfen lassen, die schließlich im Zimmer einer Prostituierten enden. Alkoholkonsum, Tripper und Syphilis sind die Faktoren ein und derselben Gleichung.«66

Den Soldaten ins sittliche Kreuzfeuer zu nehmen, ihm seine geschlechtlichen Ausschweifungen vorzuwerfen, hieße auch, es an der notwendigen Dankbarkeit fehlen zu lassen, die den »défenseurs de la patrie« gebühre. In der Académie de Médecine drückte der Arzt Henrot, der selbst fünfzehn Monate lang im Operationsgebiet tätig war, seine Empörung gegenüber den in der Académie diskutierten Maßnahmen, aus. Er teilte die männliche Bevölkerung von 18 bis 50 Jahren in zwei Teile: auf der einen Seite die Frontkämpfer, auf der anderen Seite die Truppen im Hinterland, die Ausgemusterten und die Drückeberger. Während die ersten »mit bewundernswerten Mut« und einer »vollkommenen Opferbereitschaft« das Vaterland verteidigten, führten die letzten im Hinterland ein angenehmes Leben. Die Diskussionen der Akademiemitglieder kümmerten sich nur, so Henrot, um den Frontsoldaten, anstatt ihm »tiefste Dankbarkeit« entgegenzubringen. Das Gesetz der Gleichheit gebiete es, die sanitären Zwangsmaßregeln vor allem in der Heimat durchzuführen. An der Front seien solche Untersuchungen vielleicht noch hinnehmbar, so Henrot weiter, sie verletzten hingegen das Ehrgefühl von Familienvätern, bei denen sich die Akademie auf sonderbare Weise für ihre vaterländische Ergebenheit bedankte.67 Die französischen Ärzte taten sich schwer damit, eine effiziente Gesundheitspropaganda in der Armee im großen Maßstab zu entwerfen. Obwohl sie die Notwendigkeit und die Gunst der Stunde sahen, bestand eine tiefe und offenbar unüberbrückbare Kluft zwischen Front- und Heimatarzt. Die sittlichen Maßstäbe, die der Arzt in der Heimat im persönlichen Arzt-Patienten-Ver66 Gaucher u. Bizard, Statistique des syphilis contractées par les militaires depuis la mobilisation et traitées dans le service de clinique de l’hôpital Saint-Louis (août 1914-décembre 1915), in: AMV, Bd. 11, März 1916, S. 130f. 67 Henrot, H., Sur la lutte contre les maladies vénériennes. Sitzung in der Académie de Médecine am 26. Juni 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 731.

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hältnis anzusetzen vermochte, schienen unter den Frontbedingungen und der permanenten Todesbedrohung an Schlagkraft zu verlieren. In Deutschland näherten sich die Ärzte den Soldaten mit weit weniger Scheu. Das mag zum einen daran liegen, dass mit der Einführung der sozialen Zwangsversicherungen bereits eine Entwicklung eingesetzt hatte, im Zuge derer den Ärzten neue Bevölkerungsgruppen, wie die der Arbeiter und Angestellten, als Patienten in großem Maßstab erschlossen wurden. Die ärztliche Autorität im Arzt-Patienten-Verhältnis ging gestärkt aus der Expansion des Gesundheitsmarktes hervor. Es lag den deutschen Ärzten der Kriegszeit jedenfalls fern, etwaige Schikanen einer medizinischen Untersuchung und ärztlichen Belehrung für die »Helden des Vaterlandes« zu thematisieren. Im Gegenteil: Venerologen wie Albert Neisser, aber auch der Neurologe Emil Kraepelin forderten dazu auf, die Gelegenheit nicht ungenutzt vorübergehen zu lassen und sämtliche während des Krieges eingezogenen Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften einer Massenuntersuchung zu unterziehen, um alle gefährlichen Infektionsherde ausfindig zu machen.68 Die außergewöhnliche Situation des Kriegs hatte die ärztliche Vision einer vollständigen Kontrolle und einer möglichen Ausschaltung aller Krankheitsträger begünstigt. Das läge zum einen im Interesse der Erkrankten, die »sonst blind und schutzlos dem Schicksal einer syphilitischen Nacherkrankung entgegengehen«. Zum anderen könne das »deutsche Volk für jetzt und für alle Zukunft« großen Nutzen aus solchem Vorgehen ziehen. »Sie würde eine Kontrolle von Millionen Männern und Weibern ermöglichen, deren außerehelicher Geschlechtsverkehr in einem steten Hin und Her den Bestand der venerischen Volksseuche aufrechterhält und sogar steigert!«69 Albert Neisser hielt eine »militärische Allgemeinbekämpfung« im Krieg nicht nur für durchführbar, er versprach sich von ihr auch einen wichtigen Impuls für die Friedenszeit. Nach dem Krieg sollten eine Entwicklung und ein Umdenken einsetzen, im Zuge derer sämtliche Mitglieder von Krankenkassen und Versicherungsanstalten regelmäßig zur Kontrolluntersuchung gehen müssten. Die militärische Kontrolle über den Soldaten sollte im Frieden erweitert und im zivilen Bereich fortgesetzt werden. Eine Polarisierung des Verteidigers des Vaterlandes, der zugleich zu einer Gefahren- und Infektionsquelle für die Heimat zu werden drohte, fand in der Regel nicht statt. Sich für das Vaterland gesund zu halten, so befand eine Mehrzahl der Ärzte, läge schlicht und einfach in der Pflicht des Soldaten. Die Erkrankung an einem Geschlechtsleiden käme einer militärischen und sittlichen Pflichtverletzung gleich. Ärzte argumentierten auf beiden Ebenen: die Krankheit als militärische Kampfunfähigkeit einerseits und die Krankheit als unvereinbar mit der »soldatischen Ehre« andererseits. Die Kriegssituation wur68 Zum Folgenden siehe Neisser, S. 32. 69 Ebd., S. 32.

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de dazu benutzt, die Propaganda für eine soziale Verantwortung der kollektiven Gesundheit mit militärischen Appellen zu stützen und zu stärken. Das Bild des geschlechtskranken Soldaten war unvereinbar mit den militärischen Idealen. Sie wurden als Müßiggänger bezeichnet, die nichts zu ihrer Gesundung beitrügen und ihre Kameraden an der Front im Stich ließen.70 Spezialisten wie Alfred Blaschko wehrten sich jedoch gegen Mutmaßungen, welche die geschlechtskranken Soldaten in die Nähe von Deserteuren rückten. Blaschko wollte den langjährigen Kampf gegen den diffamierenden Charakter, der dieser Erkrankung anhaftete, auch in der Kriegszeit nicht einfach aufgeben. So versah er zum Zeichen seines Unverständnisses solche Annahmen mit einem Fragezeichen: »Es ist gesagt worden, eine Gonorrhoe hindere doch nicht am Schießen; man befürchtet auch, dass, wenn jeder Gonorrhoiker zurückgeschickt würde, die Akquisition einer Gonorrhoe leicht dazu benutzt werden könne, um sich dem Dienst zu entziehen (?).«71 Eng mit diesen militärischen und sittlichen Argumentationsmustern war die Frage verbunden, ob man von den Soldaten im Felde eine sexuelle Enthaltsamkeit verlangen könne. Damit gewann erneut eine Debatte an Brisanz, die sich in Deutschland bereits um die Jahrhundertwende im Zusammenhang mit den sexuellen Bedürfnissen von Jugendlichen entzündet hatte.72 Seitdem schloss sich eine wachsende Zahl von Ärzten den Überzeugungen der Sexualwissenschaftlern Max Marcuse und Magnus Hirschfeld an, dass eine sexuelle Abstinenz über einen längeren Zeitraum gesundheitsschädlich sei. Bereits 1915 wurde die Gelegenheit, die erzwungene Enthaltsamkeit von so vielen Männern in wissenschaftlicher Hinsicht ausgenutzt und Beobachtungsmaterial gesammelt, um in dieser Frage endgültig Klarheit zu schaffen. Dazu verteilte die »Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« einen Sammelfragebogen an die ärztlichen Kollegen im Felde, der Aufschluss über die Frage geben sollte, welche Folgen praktizierte Enthaltsamkeit nach sich zöge und inwieweit Abstinenz überhaupt durchführbar sei.73 Auf der Grund70 Stern, C., Die Behandlung geschlechtskranker Soldaten im Kriege, in: DMW, 15. April 1915, Nr. 16, S. 473: »Wer gesehen hat, wie die Tripperkranken oft monatelang in den Lazaretten herumlungern, sich die Zeit mit Kartenspiel und oft mit Unfug vertreiben, der wird mit mir den Wunsch haben, diese hier brach liegende Arbeitskraft im Interesse des Vaterlandes zu verwerten. Gar mancher würde auf die Wiederherstellung auch mehr Gewicht legen und seinerseits mitwirken, wenn ihm nicht bei einem kleinen Morgentropfen die Aussicht winkte, wochen- und monatelang im Lazarett verbringen zu können, während seine Kameraden in den Schützgräben sich im Kugelregen für das Vaterland opfern. Ich stehe nicht auf dem Standpunkt, den Geschlechtskranken die Wohltaten einer sorgfältigen klinischen Behandlung verkümmern zu wollen, aber man kann in diesem Punkte die Fürsorge auch zu weit treiben. Wir sind in unserem »Jahrhundert der Humanität« nicht weit davon, über das Notwendige hinauszugehen«. 71 Blaschko, Aufgaben, S. 18. 72 Sauerteig, Krankheit, S. 264ff. 73 Neisser, A., Sammelforschung über die Frage der sexuellen Abstinenz, in: DMW, Nr. 39, 23. September 1915, S. 1150f.

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lage eines objektiven Beobachtungsmaterials könne dann geklärt werden, inwieweit ein Abstinenzgebot in die Auf klärungs- und Erziehungsarbeit miteinbezogen werden sollte. Die meisten Ärzte zeigten sich in der Vorkriegszeit pragmatisch, wenn sie vor- und außereheliche Abstinenz im großen Maßstab als schlichtweg nicht durchführbar erklärten. Auch Alfred Blaschko wies bezüglich der Frontsoldaten auf diesen Standpunkt hin: »Die Männer, die mutig ihr Leben in die Schanze schlagen, die sich vor den feindlichen Kugeln nicht fürchten, fürchten sich auch nicht vor den Geschlechtskrankheiten – es sind das oft Draufgängernaturen, kühn, unbedacht, mit Frauen bald fügsam und leicht verführbar, bald wieder brutal und gewalttätig. Nur eine kleine Minorität der Menschen besitzt eine so starke Willenskraft, einen so kühlen Verstand und einen so tüchtigen sittlichen Kern, um selbst starken sexuellen Anreizungen erfolgreich zu widerstehen. Mit dieser Tatsache müssen wir rechnen.«74

Blaschko verband im Bild des draufgängerischen Soldaten, der seinen Geschlechtstrieb nicht zu beherrschen weiß, kämpferische soldatische Eigenschaften und unsittlichen, gesundheitlich gefährlichen Lebenswandel. Dennoch zeichnete er ein Gegenbild des wahrhaft heroischen Soldaten, der nicht nur den feindlichen Kugeln, sondern auch dem eigenen inneren Feind des Geschlechtstriebes heldenhaft und willensstark widerstehen könne. Sittliche Wertvollstellungen wurden somit unter militärischen Bedingungen keineswegs aufgehoben. Die pragmatische Feststellung der Unvermeidbarkeit einer emporschnellenden Geschlechtskrankenrate und das Festhalten an der soldatischen Tugend der Enthaltsamkeit gingen hier Hand in Hand und mündeten in der Forderung der soldatischen Enthaltsamkeit als Zeichen der Opferbereitschaft für das Vaterland, der sich die meisten deutschen Ärzte anschlossen: »Viele Ärzte halten es für unmöglich, den Soldaten den Verkehr mit Prostituierten völlig zu verbieten. Das ist meiner Meinung nach völlig falsch. In einer Zeit, welche so große Opfer an jeden Einzelnen stellt, ist das Verlangen nach Enthaltung vom Geschlechtsverkehr auch für den Soldaten, der seine Kraft wahrlich anderweitig zur Genüge braucht, keine allzu rigorose Forderung.«75 74 Blaschko, Aufgaben, S. 8. Ganz ähnlich argumentiert Bettmann, Geschlechtskrankheiten im Heere, in: DMW, 18. Februar 1915, Nr. 8, S. 240: »Die Empfehlung der sexuellen Abstinenz widerspricht dem soldatischen Empfinden«. 75 Blaschko, A., Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Kriege, in: DMW, Nr. 40, 1. Oktober 1914, S. 1817. Für eine Enthaltsamkeit als sittlich-militärische Pflicht: Bendig, Die Bedeutung der Geschlechtskrankheiten für den Krieg mit Berücksichtigung des Württembergischen XIII. Armeekorps, Vortrag auf dem kriegsärztlichen Abend zu Stuttgart am 18. März 1915, in: MCWÄL, 8. Mai 1915, Nr. 19, S. 192: »Die sexuelle Abstinenz soll durch belehrende Vorträge, gute Lektüre erleichtert werden. Und ein jeder, der, vom heiligen Gefühl der Vaterlandsliebe durchglüht, ins Feld gezogen, soll sich klar machen, wie sehr er dem Vaterlande gegenüber seine

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In dem Idealbild eines sittlich-enthaltsamen Soldaten, der mit eisernem Willen seinem Geschlechtstrieb widerstehe, spielte auch ein sozialspezifisches Abgrenzungskriterium eine Rolle. »Die gebildeten Kreise des Heeres«, so Albert Neisser, übten sich viel mehr in Selbstzucht »als die den unteren Ständen entstammenden Mannschaften.«76 Allerdings ging eine Forderung, Geschlechtsverkehr generell zu bestrafen, den meisten Ärzten zu weit. Zu Kriegsbeginn meldete sich der leitende Arzt der Dermatologischen Abteilung des Rudolf-Virchow-Krankenhauses, Abraham Buschke, zu Wort.77 In seiner Abteilung kamen mehrere Fälle zur Beobachtung, deren Ansteckung von einem Bordell in der nordfranzösischen Stadt Chauny herrührte. Buschke hatte hiervon der Medizinalabteilung des Kriegsministeriums Mitteilung gemacht hat, um das Bordell schließen oder zumindest überwachen zu lassen. Zudem rief er seine Kollegen in den heimatlichen Spezialabteilungen ausdrücklich auf, bei der Erhebung der Anamnese die Infektionsherde festzustellen. Der in Chauny stationierte Arzt Kurt Mendel erwiderte darauf hin seinem Kollegen in der Heimat. Der Schlagabtausch zwischen den beiden Ärzten verdeutlicht die Interessens- und Kompetenzkonflikte sowie die gescheiterten Kooperation zwischen Front- und Heimatarzt.78 Der in Frankreich stationierte Arzt Mendel trat für rigorose Maßnahmen ein, um der Ausbreitung der venerischen Erkrankungen im Krieg Einhalt zu gewähren: striktes Verbot jeglichen Geschlechtsverkehrs und »schonungslose Isolierung der einmal krank befundenen Personen während der ganzen Dauer des Krieges«. Ohne diese Zwangsmaßnahmen werde auch Buschke, »mit seinem schönen, am heimatlichen Herde aufgesetzten Appell an Presse und Kriegsministerium« das gehäufte Auftreten der Geschlechtskrankheiten nicht verhindern können. Buschke erklärte sich entschieden dagegen, den Soldaten unter Strafandrohung den Geschlechtsverkehr zu verbieten und hielt seinem Kollegen »als Nichtspezialisten und noch dazu im Felde« vor, die reichliche Literatur nicht zu kennen: »Strafen bringen nichts.«79 In der Enthaltsamkeitsdebatte um die Jahrhundertwende bestand eine »medizinisch-moralische Allianz« zwischen den Ärzten und den Kirchen bzw. Sittlichkeitsvereinen.80 Dieses Zweckbündnis stumpfte bis zu Kriegsbeginn relativ rasch ab und machte in medizinischen Kreisen einem Pragmatismus gegenüber Pflicht verletzt, wenn er dem Triebe folgend, sich leichtsinnig der Gefahr aussetzt, krank und kampfunfähig zu werden«. 76 Neisser, 20. 77 Buschke, Zur Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten im Felde, in: DMW, 26. November 1914, Nr. 48, S. 2007. 78 Mendel, K., Zur Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten im Felde, in: DMW, 21. Januar 1915, Nr. 4, S. 106. 79 Ebd., S. 106. 80 Zum Folgenden siehe Sauerteig, Krankheit, S. 280.

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der Durchführbarkeit vor- und außerehelicher Enthaltsamkeit Platz. Im Ersten Weltkrieg und im Zusammenhang mit der soldatischen Enthaltsamkeit erneuerte sich dieses diskursive Schema. Das militärische Erfordernis, sich kampfesfähig zu erhalten, wurde an die Forderung nach einem sittlich-enthaltsamen Lebenswandel gekoppelt, ohne den pragmatischen Standpunkt ganz auszuklammern. Der deutsche moralisch-medizinische Schulterschluss führte in den französischen Publikationen zu bissigen Kommentaren. Der französische Arzt Balzer zog in Zweifel, ob man in Kriegszeiten tatsächlich auf prophylaktische Erziehungsmaßnahmen vertrauen könne.81 Gerade das deutsche Beispiel veranschauliche, wie Auf klärungsarbeit in Kriegszeiten zum Scheitern verurteilt sei. In keinem anderen Land wurde in Friedenszeit mehr gemacht, um Armee und die Zivilbevölkerung darüber aufzuklären, dass sexuelle Abstinenz keine schädigenden Auswirkungen auf die Gesundheit habe, wohingegen Geschlechtskrankheiten auf Individuum, Familie und Land die schlimmsten Folgen nach sich zögen. Balzer sah den Misserfolg der deutschen Propagandakampagne durch den Krieg bestätigt: »Wie haben sich die Kriegsereignisse auf diese Hoffnungen ausgewirkt? Man weiß nur zu gut, welchen kriminellen Ausschweifungen sich die deutsche Armee in Belgien hingegeben hat und man ist erstaunt, dass sie in einer Armee stattfinden konnten, die, was die dienstliche Pflichtausübung betrifft, den Ruf von Disziplin und Gehorsamkeit hat. Wäre einfach nur eine rohe Brunst ausgebrochen, so hätten sich die Soldaten zweifelsohne an die sich anbietenden Prostituierten gehalten. Aber die sexuellen Gräueltaten erklären sich nur aus der Tatsache, dass die moralische Prophylaxe von vornherein zum Scheitern verurteilt war.«82

Indem er die deutsche militarisierte Sittlichkeitspropaganda in den Zusammenhang mit der sexuellen Kriegsgewalt brachte, distanzierte sich Balzer vehement von seinen deutschen Fachkollegen. Ebenso urteilte Alfred Martinet, der ironisch den Artikel von Alfred Neisser in der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« kommentierte: »Der ehrenwerte Professor« habe an die »ursprüngliche Tugend und an das Ehrgefühl« der Truppen appelliert, obwohl er sich selbst keine Illusionen bezüglich des Erfolgs dieser prophylaktischen Maßnahmen mache, richteten sich diese doch an die »Helden von Löwen und Flandern.«83

81 Balzer, Prophylaxie et traitement des maladies vénériennes en temps de guerre, in: PM, 14. Oktober 1915, Nr. 49, S. 401. 82 Ebd., S. 401. 83 Martinet, A., A travers des publications médicales allemandes, in: PM, partie paramédicale, 4. März 1915, Nr. 9, S. 67; Alfred Martinet kommentierte den Artikel von Neisser, A., Krieg, Prostitution und Geschlechtskrankheiten, in: DMW, 14. Januar 1915, Nr. 3, S. 61f.

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2. Der ärztliche Entwurf einer epidemiologischen Karte Angesichts der kriegsbedingten demographischen Veränderungen, des Herausreißens vieler Soldaten aus ihrem familiären Umfeld und ihrer angestammten Heimat, warfen Ärzte die Frage auf, welche Personengruppen von der venerischen Gefahr besonders bedroht waren. Wo befanden sich die Infektionsherde – um es in einem aktuellen Vokabular zu sagen die »Risikogruppen« − innerhalb der Truppe? In Deutschland wie in Frankreich stachen zwei Gruppen an etwaigen Krankheitsüberträgern besonders heraus: der Soldat, der aus den ländlichen Gegenden zur Fahne gerufen wurde und der verheiratete, meist ältere Familienvater. Hinzu traten auf französischer Seite der geschlechtskranke Soldat in den Kolonialtruppen und die Infektionsstätte der Kriegsindustrie. In beiden Ländern wurde nicht erwähnt, dass eine Bedrohung von Kriegsgefangenen als Feinde im eigenen Land ausgehen könnte. Schließlich stellte sich den Ärzten die Frage, ob sie in ihren prophylaktischen und therapeutischen Maßnahmen innerhalb der Truppe nach militärischem Rang unterscheiden müssten. Bis vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges blieb die Debatte um die Geschlechtskrankenfürsorge allein auf die Großstädte konzentriert. Dort war die Infektionsziffer am höchsten, dort lauerten die größten Ansteckungsgefahren. Blaschko setzte die Zahl der Geschlechtskranken in den Großstädten um das 50fache höher als auf dem Land an.84 Mit der Mobilisierung eines Großteils der männlichen Bevölkerung beschworen die Ärzte sowohl in Frankreich als auch in Deutschland die Gefahr, dass die Geschlechtskrankheiten nun auch in die bis dahin verschont gebliebenen ländlichen Gegenden hineingetragen werden könnten. Auf der epidemiologischen Karte verwischte der Krieg die Grenzen zwischen »gesundem« Land und »kranker« Großstadt – eine bereits vor dem Krieg in Ärztekreisen beliebte Polarisierung. Der ländliche Soldat wurde als Krankheitsüberträger viel eher exkulpiert als sein Kamerad aus der Großstadt: Er musste sein gesundes Milieu verlassen und wurde wider Willen in ein krankmachendes und »unsittliches« Milieu hineingezogen. Diesem Soldaten begegneten Ärzte mit Verständnis. Er war auf Grund seiner Unwissenheit und Naivität den sittlichen Wertvorstellungen zeitweise enthoben. »Dieses kerngesunde Material«, so Blaschko, »wird nun mit einem Mal in den Strudel der großen weltgeschichtlichen Ereignisse gezogen.« 85 Die diskursiven Muster ähneln sich in den französischen und deutschen Publikationen.86 84 Blaschko, Aufgaben, S. 1. 85 Ebd., S. 1. 86 Klein, R., Statistique des syphilis récentes contractées après la mobilisation, observées chez les militaires traités dans le service (août 1914-décembre 1915), in: AMV, Bd. 11, März 1916, S. 143; siehe auch Gougerot, Traitement rural des vénériens indigents, in: AMV, Bd. 13, 1918, S. 577–599.

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Ärzte stellten zudem eine hohe Infektionsziffer unter den verheirateten Soldaten fest, wohingegen unter den jungen Soldaten sich wesentlich weniger Geschlechtskranke befänden.87 Im Allgemeinen wurde außerehelicher Geschlechtsverkehr stärker gebrandmarkt als vorehelicher Geschlechtsverkehr. Der verheiratete geschlechtskranke Soldat gefährdete unmittelbar seine Ehefrau, seine Familie und damit den Fortbestand der Nation. Fern der Heimat falle eine große Anzahl an Hemmungen weg, die die verheirateten Männer daheim von der Untreue abhalten würden.88 Häufig verbanden sich diese Feststellungen mit klassenspezifischen Argumentationsmustern über die Sexualgewohnheiten höherer gebildeter und niederer ungebildeter Bevölkerungsgruppen. Albert Neisser gab zu Bedenken, »dass in den niederen Kreisen der Bevölkerung durchweg viel lockere, naivere Ansichten über den Geschlechtsverkehr herrschen. Es ist wohl nicht unbekannt, ein wie enormer Prozentsatz auch im Frieden der in unseren Krankenhäusern und Polikliniken behandelten Männer (der Arbeiter- und ärmeren Bevölkerung) verheiratet sind. Also auch hier wird an über die im Kriege gewonnenen Ziffern nicht gar zu entsetzt sein dürfen!«89 Dabei wurde nicht immer bei den ungebildeten Bevölkerungskreisen eine höhere Ansteckungsziffer diagnostiziert. Professor Scholtz aus Königsberg kehrte die Zahlen für die Vorkriegszeit um (25% Studenten; 16% Kaufleute und nur 8% Arbeiter in Großstädten) und prognostizierte eine Nivellierung für die Kriegszeit.90 Die Sorge um eine Zunahme des außerehelichen Geschlechtsverkehrs war an die bevölkerungspolitischen Bedenken gekoppelt, dass nach dem Krieg Geburten ausbleiben bzw. die geborenen Kinder gesundheitlich geschädigt sein könnten. Der Staat verarme durch den Krieg »an seinen Höchstwerten, an den Menschen selbst«, so ein Arzt am Hygienischen Institut in Saarbrücken.91 Gerade die »Tüchtigsten« gingen dem Staat durch eine »negative Auslese« verloren. Es läge in der Pflicht des Einzelnen, die so entstandenen Lücken baldmöglichst zu füllen. Das hieß zunächst, an der Front enthaltsam und in der Heimat fruchtbar zu sein. Ein harsches Urteil über die Untreue der verheirateten Soldaten im Krieg wurde dennoch selten gefällt. Das Argument, der 87 Stern, C., Die Behandlung geschlechtskranker Soldaten im Kriege, in: DMW, 15. April 1915, Nr. 16, S. 472; zum gleichen Ergebnis kam Gaucher, La syphilis après deux ans de guerre, in: PaM, Bd. 23, 1917, S. 54. 88 Halberstaedter, L., Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten bei der Truppe, in: DMW, 14. Oktober 1915, Nr. 42, S. 1248. 89 Neisser, S. 13. 90 Scholtz, W., Verbreitung, Bekämpfung und Behandlung der Haut- und Geschlechtskrankheiten im Kriege. Zugleich ein Beitrag zur Novinjektolbehandlung der Gonorrhoe, in: DMW, 17. Juni 1915, Nr. 25, S. 728. 91 Reiter, Kann eine Verbreitung der Gonorrhoe und der hiermit verknüpfte Geburtenrückgang nach Friedensschluß eingeschränkt werden?, in: DMW, 31. Mai 1917, Nr. 22, S. 690–691.

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an Geschlechtsverkehr gewöhnte Soldat könne sich besonders schwer an das enthaltsame Leben im Krieg halten, entkräftete die auferlegte Pflicht, für den Fortbestand der Nation zu sorgen. In den französischen Publikationen taucht das Bild des geschlechtskranken Kolonialsoldaten recht selten auf. Einige Artikel beschäftigten sich aus medizinisch-wissenschaftlichem Interesse mit dem Phänomen, um Unterscheidungsmerkmale einer arabischen von einer europäischen Syphilis zu untersuchen.92 Sie knüpften dabei an wissenschaftliche Forschungen der Vorkriegszeit an: Die Präsenz kolonialer Truppen auf französischem Territorium bot nun eine Gelegenheit zur Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes. Von prophylaktischen Maßnahmen und medizinischen Untersuchungen, die speziell auf die Kolonialsoldaten ausgerichtet waren, wurde darin nur am Rande berichtet. So wiesen die Autoren auf die Schwierigkeiten in der Erhebung der Anamnese hin, vor allem auf Grund der Sprachbarrieren und der andersartigen Mentalität der Kolonialsoldaten, die an dem Prinzip festhielten, jeden Geschlechtsverkehr zu leugnen. Religiöse Gründe und ein anderes Frauenbild – die Frau als »minderwertiges Wesen« – seien hierfür die Hauptgründe, so die Ärzte. Die erst vor kurzem in Frankreich stationierten Kolonialsoldaten lebten in ihrer eigenen religiösen und primitiven Vorstellungswelt und hätten die »obersten moralischen Prinzipien« noch nicht assimiliert. So seien auch Sanktionen nicht zweckmäßig, da der Kolonialsoldat diese mit einem Fatalismus hinnehme, ohne auch nur die geringsten Schuldgefühle zu empfinden.93 Der draufgängerische Kampfgeist und die militärische Inanspruchnahme der Kolonialsoldaten wurden hervorgehoben und mit der hohen Geschlechtskrankenrate korreliert, wie beispielsweise in Bezug auf die »Zouaven«, einer 1830 formierten Elitetruppe von algerischen Soldaten. Nach einer Statistik, die zwischen August 1914 und Dezember 1915 alle geschlechtskranken Soldaten des Krankenhauses Saint-Louis von Chefarzt Philippe Gaucher erfasst hatte, führten die »Zouaven« die Liste der Syphilitiker an. Die behandelnde Ärztin sah folgende Gründe dieser »bedauernswerten Häufigkeit«: »Soll man darin einen Beweis für den Ruf dieser Soldaten sehen, keine tugendhaften Dragoner zu sein? Vielleicht ist da ein kleines bisschen Wahrheit dabei. Sie waren oft ins Kampfgeschehen verwickelt, waren Gefahren ausgesetzt und haben mit angesehen, wie ihre Regimenter dezimiert wurden. Diese Elitesoldaten waren dann mehrmals in die Ersatztruppenteil gebracht worden, um sich zu neuen Einheiten zu formieren. Dort haben sich diese Männer voller Verachtung gegenüber den Gefahren der Granaten und

92 Carle u. Bourcart, Quelques considérations sur la syphilis chez les marocains, in: AMV, Bd. 12, 1917, S. 193–207; Levy-Bing, La syphilis, et en particulier ses manifestations nerveuses, chez les Arabes aux Armées, in: AMV, Bd. 12, 1917, S. 449–475. 93 Carle u. Bourcart, Quelques considérations sur la syphilis chez les marocains, in: AMV, Bd. 12, 1917, S. 197.

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Kugeln sicherlich nicht besonders vorsichtig gegenüber dieser anderen Gefahr, der Syphilis, gezeigt.«94

Um die Einreise geschlechtskranker Kolonialsoldaten zu verhindern, verabschiedeten die Mitglieder in der Académie de Médecine im Juni 1916 eine Resolution, die vorschrieb, alle Personen aus den Kolonialgebieten, die gerufen worden waren, um in der Kriegsindustrie zu arbeiten, vor dem Verlassen ihrer Heimat und bei der Ankunft in Frankreich zu untersuchen.95 Die Mitglieder der Akademie nahmen den Vorschlag der Kommission einstimmig an. In einem der wenigen Artikel über die Geschlechtskrankheiten der Kolonialsoldaten wurde dennoch hervorgehoben, dass die Aufgabe nicht so sehr darin bestünde, die Zivilbevölkerung vor den Kolonialsoldaten zu schützen, sondern vielmehr die Soldaten vor den Übergriffen der weiblichen Zivilbevölkerung, vor allem »vor der Neugierde der frühreifen Jugend oder den Perversitäten der reifen Damen, denen es an neuen Sensationen mangele«.96 Der Hebel für eine wirksame Bekämpfung sei nicht am Kolonialsoldaten, sondern an der Frau anzusetzen. Die deutschen Ärzte griffen in ihrem internen Diskurs das Thema der Geschlechtskrankheiten der Kolonialsoldaten nicht auf, auch wenn diese sich ebenfalls in den Kriegsgefangenenlagern auf deutschem Territorium befanden und allgemein die Präsenz von Kolonialsoldaten ein häufig benutztes Propagandamittel darstellte. Anders sah es in den populärwissenschaftlichen Schriften von Ärzten aus. Aber auch hier wurden vor allem die »exotischen Vorlieben« deutscher, französischer und englischer Frauen an den Pranger gestellt.97 In einer nationalistisch aufgeheizten Zeit ist diese grenzübergreifende Stigmatisierung der »Frau« an sich bemerkenswert. Sie fand aber keinen Eingang in die medizinischen Fachorgane. An der Frage der Gleichbehandlung von Offizieren lässt sich die unterschiedliche Position, die sich Zivilärzte in Deutschland wie in Frankreich innerhalb der Militärmedizin zuschrieben, besonders gut veranschaulichen. Sollten diese von den gesundheitlichen Kontrolluntersuchungen und ärztlichen Maßnahmen verschont bleiben? Ärzte waren in den Heeresapparat, der den Respekt vor den militärischen Hierarchien erforderte, eingebunden. Sie sahen sich aber auch dem Grundsatz einer allgemeinen Medikalisierung der Gesellschaft verbunden, demzufolge es nicht ein Privileg einer bestimmten Bevöl94 Klein, R., Statistique des syphilis récentes contractées après la mobilisation, observées chez les militaires traités dans le service (août 1914-décembre 1915), in: AMV, Bd. 11, März 1916, S. 138. 95 Gaucher (rapporteur), Sur la lutte contre les maladies vénériennes et la syphilis. Sitzung in der Académie de Médecine vom 6. Juni 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 681f. 96 Carle u. Bourcart, Quelques considérations sur la syphilis chez les marocains, in: AMV, Bd. 12, 1917, S. 207. 97 Siehe beispielsweise Vorberg, S. 14–16 und Spier-Irving.

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kerungsschicht bleiben sollte, sich der Verantwortung für die individuelle und kollektive Gesundheit zu entziehen. Französische wie deutsche Ärzte betonten die Vorbildfunktion des Offiziers gegenüber den Mannschaften. Der Offizier war eine der Hauptstützen der sexualhygienischen Propaganda. Militärische Vorgesetzte und Ärzte sollten am gleichen Strang ziehen, um das Gros der gemeinen Soldaten für die Bedeutung der hygienischen Vorschriften zu sensibilisieren. So befand Blaschko: »Wo die Offiziere mit gutem Beispiel vorangehen, ist auch die Haltung der Truppen weit besser, als da, wo die Vorgesetzten selber ihren Begierden die Zügel schießen lassen.«98 Anders sah es da schon mit der Frage aus, inwieweit die Ärzte selbst ihren Einfluss auf die Offiziere geltend machen und sie zu den Untersuchungen nötigen konnten. Die »Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« betonte, dass »alle Maßnahmen« – die Gesundheitsuntersuchung vor und nach dem Heimaturlaub, sowie die Verweigerung eines Urlaubes bei Infizierten – »auch auf die jüngeren Offiziere Anwendung finden sollten«, zumindest »soweit es die militärischen Rücksichten« zuließen.99 Wenn auch de facto die Offiziere anders behandelt wurden100, so wollten deutsche Ärzte das medizinethische Prinzip der Gleichbehandlung gewahrt wissen oder sparten die heikle Frage von vorneherein aus.101 In der Académie de Médecine stieß die Frage der Gleichbehandlung von Offizieren auf geteilte Meinungen. Gaucher bedauerte, dass auf Grund der Unstimmigkeiten in die Endresolution die Frage der zwangsweisen Kontrolluntersuchung von Offizieren nicht aufgenommen wurde.102 Man konnte sich einzig und allein auf eine Aufforderung an die Offiziere einigen, sich freiwillig und nicht im eigenen Interesse, sondern als Vorbild für die Mannschaften den Untersuchungen zu unterziehen. Die Hälfte der Kommissionsmitglieder, so Gaucher, war der Meinung, dass die Gesundheitsuntersuchung allen Militärpersonen – dem Offizier wie dem einfachen Soldaten − bis zu einem gewissen Alter, beispielsweise bis zu 50 Jahren, vorgeschrieben werden müsste. Offiziere seien im Durchschnitt von den Geschlechtskrankheiten stärker betroffen als der Rest der Truppe, da sie mehr Geld hätten und sich damit der Ansteckung ungleich höher aussetzten. Das Gleichheitsprinzip gelte bei prophylaktischen Maßnahmen, ebenso wie auch der Syphiliserreger keinen Unterschied zwischen Offizier und einfachem Soldaten mache, befand der ausgewiesene Ve98 Blaschko, Aufgaben, S. 9. 99 Ausschußsitzung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 18. April 1915, in: DMW, Nr. 21, 20. Mai 1915, S. 363. 100 Siehe hierzu rückblickend Drigalski, S. 590. 101 Blaschko, Aufgaben, S. 10. 102 Gaucher, Commission Supérieure consultative du Service de Santé militaire. Rapport sur la mesure à prendre contre les progrès de la syphilis, in: AMV, Bd. 12, September 1917, S. 515f.

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nerologe Gaucher. Er bekam Unterstützung von seinem Akademiekollegen Adolphe Pinard: »Es ist absurd, einen unverheirateten Unterleutnant von 22 Jahren von der Gesundheitsuntersuchung zu befreien und einen 45-jähriger verheirateter Familienvater dazu verpflichten.«103 Die Befürworter einer Gleichbehandlung stießen auf ausdrückliche Kritik bei einer Vielzahl ihrer Kollegen.104 In der Académie sprach sich ein Mitglied gegen die Gesundheitsuntersuchungen bei Offizieren aus. Diese seien »sorgsam bemüht, sich zum Wohle Frankreichs sittlich und körperlich gesund zu halten. Man sollte keine Schmähungen erfinden, sondern ihnen unsere Bewunderung und Anerkennung bezeugen.«105 Das Unbehagen der französischen Ärzte, sich innerhalb der militärischen Strukturen zu positionieren, trat demnach auch in der Frage der Gleichbehandlung ranghöherer Militärpersonen offen zu Tage.

103 Ebd., S. 516. 104 Sitzung der Académie de Médecine vom 13. Juni 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 706ff. 105 Henrot, Sur la lutte contre les maladies vénériennes, Sitzung vom 20. Juni 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 732.

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IV. Die Zivilbevölkerung – eine Gefahr für das Heer? »Die Zivilbevölkerung«, so der Venerologe Gaucher in der Académie de Médecine, »steht in der aktuellen Kriegssituation in unmittelbarer Abhängigkeit von der Militärbevölkerung«.106 Selbst wenn die Prophylaxe im Militär effizient und systematisch durchgeführt werde, sie wäre zum Scheitern verurteilt, falls ihr nicht ebensolche Maßnahmen in der Heimat folgen würden. In der Tat war es letztlich der zivile Bereich, der den ärztlichen Kontrollen stärker zu entgleiten drohte als der militärische. Unter der Militärbevölkerung war eine Sanierung relativ leicht durchführbar. Mit zunehmender Kriegsdauer zeitigten diese Anstrengungen auch die erwünschten Erfolge.107 Durch die flächendeckende Implementierung medizinischer Versorgungseinrichtungen in Frankreich und die Beratungsstellen in Deutschland waren zwar Institutionen geschaffen, deren Wirkungsbereich sich mehr auf die Zivil- als auf die Militärbevölkerung erstreckte. Trotz aller dieser Vorsorgemaßnahmen zog das gesundheitliche Erstarken der Militärpersonen eine Vernachlässigung der Zivilbevölkerung nach sich.108 Es ergaben sich neue Schnittpunkte zwischen der männlichen und der weiblichen Bevölkerung. Die offizielle Kriegsprostitution stellte nur eine Form der Zunahme des außer- und vorehelichen Geschlechtsverkehrs da. Sie zog das größte Interesse der Ärzte auf sich. Bereits in der Vorkriegszeit hatte sich jedoch gezeigt, dass nicht allein von der offiziellen Prostitution eine große Gefahr ausging. Im Krieg konzentrierten sich Ärzte zunehmend auf die gemeinsame Arbeit von Männern und Frauen in der Kriegsindustrie, auf den Heimat- oder Rekonvaleszenzurlaub des Soldaten oder den Lazarettbesuch der Frau. Der Personenkreis der etwaigen Infektionsträgerinnen weitete sich aus. Auch die Lazarettkrankenschwester konnte eine Gefahr darstellen. Misstrauen wurde dem weiblichen Sanitätspersonal trotzdem selten entgegengebracht, so etwa von Alfred Blaschko: »Sehr genau ist auch darauf zu achten, daß nicht etwa, wie dies oft geschieht, Prostituierte unter irgend106 Gaucher, Sur la lutte contre les maladies vénériennes et la syphilis. Sitzung in der Académie de Médecine vom 6. Juni 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 678. 107 Linser, Neuere Erfahrungen über Verbreitung, Infektion und Behandlung der Gonorrhoe. Vortrag im Medizinisch-naturwissenschaftlichen Verein Tübingen. Medizinische Abteilung. 17. Juli 1918, in: MCWÄL, 28. Dezember 1918, Nr. 52, S. 451. Über die ärztliche Vernachlässigung der Zivilbevölkerung in Frankreich siehe Murard u. Zylberman, Hygiène, S. 535ff und dies., Nation, S. 343–364. 108 So auch rückblickend Milian u. Burnier, Le mouvement syphiligraphique, in: PaM, 5. April 1919, Nr. 14, S. 288–290; ebenso Linser, Neuere Erfahrungen über Verbreitung, Infektion und Behandlung der Gonorrhoe. Vortrag im Medizinisch-naturwissenschaftlichen Verein Tübingen. Medizinische Abteilung. 17. Juli 1918, in: MCWÄL, 28. Dezember 1918, Nr. 52, S. 451.

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einem Vorwand, als Krankenpflegerin u.dgl. sich den Truppenkörpern anschließen.«109 Den Wechselbeziehungen zwischen einem militärisch-männlichen und einem zivil-weiblichen Bereich wurden verschiedene Interpretationsmuster unterlegt, die einer historischen Analyse zugänglich sind. So oblag es einer spezifisch ärztlichen Deutung auszumachen, in welcher Beziehung die beiden Bereiche zueinander standen, wer die Gefahrenquelle für wen darstellte und wen es infolgedessen vor wem zu schützen galt. Wo befanden sich die Infektionsherde und wer konnte als »unschuldiger« Geschlechtskranker und Krankheitsüberträger gelten und wer nicht?

1. Die professionelle Prostituierte Eine der größten Gefahrenquellen für die Gesundheit und Kampfesfähigkeit der Soldaten stellte die Prostituierte dar. Die Militärverwaltungen beider Länder griffen auf die in medizinischen Kreisen umstrittene Methode der Reglementierung der Prostitution zurück und errichteten eigens verwaltete Bordelle, deren Prostituierte unter militärärztliche und polizeiliche Kontrolle gestellt waren.110 Das bedeutete einen Rückschritt gegenüber der in der Vorkriegszeit vorherrschenden neo-reglementaristischen Tendenz, nach der die polizeiliche Überwachung durch medizinische Instanzen ersetzt werden sollte. Darüber wurde in ärztlichen Kreisen indes kaum debattiert. Waren über die Frage der Reglementierung kurz vor 1914 noch hitzige Debatten entbrannt, schien es in der Kriegszeit nicht opportun, diese fortzuführen. Die Effizienz der Prostitutionsüberwachung mit allen, d.h. nicht nur medizinischen Mitteln, wurde in der Ausnahmesituation des Krieges auch von den vehementesten Befürwortern des Abolitionismus nicht in Zweifel gezogen. In Frankreich waren sich die Ärzte einig, dass auf eine moralische Prophylaxe, wonach sich der Patient freiwillig und eigenverantwortlich in ärztliche Behandlung begab, nicht vertraut werden könne. Eine administrative und militärische Überwachung der Prostituierten verbunden mit einer ärztlichen Untersuchung von allen Frauen, die Kontakt mit Militärpersonen hatten, sei in Kriegszeiten verpflichtend, so Balzer. »Die Prophylaxe wie die Gesellschaft allgemein könne weder auf moralische noch auf überwachende und strafende Maßnahme verzichten.«111 Kranke Prostituierte sollten, so die Forderung, 109 Blaschko, A., Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Kriege, in: DMW, Nr. 40, 1. Oktober 1914, S. 1817. 110 Sauerteig, Krankheit, S. 390ff. 111 Balzer, F., Prophylaxie et traitement des maladies vénériennes en temps de guerre, in: PM, 14. Oktober 1915, Nr. 49, S. 402.

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in einem speziell dafür eingerichteten Krankenhaus interniert werden. Zum Schutze der Soldaten und angesichts der verheerenden Wirkung einer einzigen Prostituierten sei eine solche antiliberale Maßnahme durchaus gerechtfertigt. Auch in der Académie de Médecine sprach sich die Mehrheit dafür aus, weitere »Maisons de tolérance« in den Garnisonsstädten und im Operationsgebiet einzurichten, um die militärische und medizinische Kontrolle über den außer- und vorehelichen Geschlechtsverkehr zu garantieren.112 In unmittelbarer Frontnähe setzten sich so die repressiven Maßnahmen durch und wurden von den Ärzten trotz ihres Zwangscharakters nicht in Frage gestellt. War auch die Kontrolle der Prostitution im Operationsgebiet relativ leicht durchführbar, meldeten sich schon recht bald Ärzte zu Wort, die auf die Missstände im Heimatgebiet hinwiesen. In den meisten Provinzstädten sei eine medizinische Überwachung der offiziellen Prostitution schlicht und einfach nicht vorhanden.113 Laut beklagt wurden die katastrophalen Sanierungsmöglichkeiten in den ländlichen Gebieten sowie die ungenügende Fachkompetenz der Ärzte. Was im Operationsgebiet auf Grund der militärischen Notstandsverordnungen möglich war, entbehrte im Inneren des Landes jeglicher rechtlicher Grundlage. Gegen eine Frau, die eine Untersuchung, eine Behandlung und eine Hospitalisierung verweigerte, hatten Ärzte keine rechtliche Handhabe, beklagte auch Gougerot.114 Das Gesetz ermöglichte zwar, dass Frauen, die nachweislich der Straßenprostitution als ausschließlicher Geldquelle nachgegangen waren, wegen öffentlicher Sittenwidrigkeit mit einer Geldstrafe belegt werden konnten. Es war jedoch nicht erlaubt, sie gegen ihr Einverständnis einer Zwangsbehandlung und -internierung zuzuführen. Über die Unzulänglichkeit des Gesetzestextes waren sich die Ärzte einig.115 Laut Gougerot müsse man in der Frage der Reglementierung der Prostitution die Untersuchung und Behandlung aller ansteckenden Krankheiten verpflichtend machen. Der Venerologe fasste demnach eine Ausweitung der im Operationsgebiet durchgeführten Zwangshospitalisierungen und -untersuchungen auch für das restliche Frankreich ins Auge. Als einer der heftigsten Befürworter dieser radikalen Maßnahmen meldete sich der Leiter des venerologischen Zentrums in

112 Gaucher, Sur la lutte contre les maladies vénériennes et la syphilis. Sitzung in der Académie de Médecine am 6. Juni 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 679. 113 Carle, La prophylaxie des maladies vénériennes aux armées. Mesures prises, mesures à prendre. Rapport à la Réunion des chefs de centres dermato-vénéréologiques, le 13 juillet 1916, in: AMV, Bd. 11, September 1916, S. 549. 114 Gougerot, La lutte antivénérienne. Les perfectionnements désirables, in: PaM, Bd. 25, Nr. 38, 1917, S. 244f. 115 Pautrier, Sur l’organisation générale des hôpitaux militaires de vénériens et des services annexes. Rapport présenté à la Réunion des chefs de centres de vénéréologie tenue le 13 juillet 1916, in: ADS, September 1916, S. 249.

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Lyon, Carle, zu Wort.116 Ohne die moralische und medizinische Prophylaxe geringschätzen zu wollen, forderte er eine Veränderung des Gesetzestextes mit weitreichenden Kompetenzen für die administrativen und polizeilichen Verantwortlichen gegenüber denjenigen Frauen, die sich jeder wohlgemeinten Überredung widersetzten. Den Vorwurf seiner Kollegen, er bringe hier Medizin und Polizei durcheinander, nähme er in Kauf: »Wenn wir Medizin und Polizei strikt voneinander trennen, so erreichen wir mit unseren medizinischen Redseligkeiten nur Beschlüsse von hoher moralischer Tragweite, die jedoch in der Praxis vollkommen undurchführbar sind. Die Verwaltungsbehörden werden nur allzu glücklich sein, wenn sie diese dann nicht durchführen müssen.«117

Carle erinnerte daran, dass die kommunalen Vertreter die kriegsbedingte Notstandsregelung, den »état de siège«, der durch das Gesetz von 1849 geregelt wurde, für eine effizientere Kontrolle ausnutzen könnten.118 Bereits im Februar 1915 hatte der Innenminister die Präfekten und Bürgermeister in einem Rundschreiben darauf hingewiesen, dass der »Cour de Cassation«, der oberste Gerichtshof, ihnen das Recht zuerkenne, die heimlichen Prostituierten von Amts wegen polizeilich registrieren zu lassen. Gerade diese zivilen Instanzen zeigten sich sehr nachlässig bei der Überwachung und Kontrolle der Prostitution in ihrem Bezirk, da ein zu massives Durchgreifen häufig auf den Widerstand lokaler und persönlicher Eigeninteressen stieß. Deswegen sollten, so Carle, auch die leitenden Ärzte der in jeder Region eingerichteten Behandlungszentren von diesem Recht Gebrauch machen. Angesichts der Notlage sei die langwierige Auseinandersetzung zwischen den »abolitionnistes« und den »répressionnistes« beendet worden: Sie habe einer engen Zusammenarbeit von militärischen und zivilen Entscheidungsträgern und Akteuren Platz gemacht, so dass sowohl im Operationsgebiet als auch im Inneren des Landes versucht werde, alle »anstekkende Elemente« zu kontrollieren. Auch wenn diese ärztliche Vorstellung nicht systematisch umgesetzt werden konnte, schwebte den französischen Ärzten doch ein engmaschiges Netz an Überwachungs- und Kontrollinstanzen vor, die nicht allein von Ärzten zu bewältigen waren und die Grenze zwischen der Frontzone und dem Innern des Landes überschritten. In Deutschland wichen die Forderungen der Ärzte nur geringfügig von denjenigen ihrer französischen Kollegen ab. Alfred Blaschko, in der Vorkriegszeit ein vehementer Vertreter des Abolitionismus, betonte zwar, dass die »Re116 Carle, Quelques réflexions prophylactiques et médicale, in: AMV, Bd. 13, April 1918, S. 217f. 117 Ebd., S. 219. 118 Carle, La prophylaxie des maladies vénériennes aux armées. Mesures prises, mesures à prendre. Rapport à la Réunion des chefs de centres dermato-vénéréologiques, le 13 juillet 1916, in: AMV, Bd. 11, September 1916, S. 550f.

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glementierung mit und ohne Kasernierung in hygienischer Beziehung bisher nicht viel Ersprießliches geleistet« hätte.119 In Ausnahmezuständen wie in Kriegszeiten lägen die Verhältnisse aber anders. Hier müssten in den heimischen Garnisonen die verdächtigen Frauen und Mädchen einer genauen Überwachung unterstellt werden. Die gleichen Regelungen sollten in der Heimat wie im Feindesland gelten. Die Maßnahmen dürften sich nicht nur auf die reglementierte Prostitution, sondern müssten sich auf »alle verdächtigen Elemente« erstrecken, befand der renommierte Spezialist. In diesem Sinne urteilte auch die »Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten«. Da die vollkommene Sanierung der Prostitution nicht zu erreichen sei, »so sollte man versuchen, die sich prostituierenden Frauen, wenn man sie nicht ganz abschieben kann, so doch bis zum Friedensschluss festzuhalten. Wo dies nicht durchführbar ist, sollten alle Überwachungsmaßnahmen unter Kontrolle deutscher Spezialärzte vor sich gehen.«120 Albert Neisser forderte, keine falsche Rücksicht walten zu lassen und alle Prostituierten durch Einsperren unschädlich zu machen.121 Die Befolgung der ärztlichen Vorschriften sollte unter Zwang gestellt werden. Das galt insbesondere für solche Frauen, bei denen auch Belehrung und Überredung nichts ausrichten konnten.122 In Asylen sollten einerseits die jungen Prostituierten untergebracht werden, die man noch umerziehen könnte, andererseits diejenigen, die »geistig minderwertig oder gar geistig krank« seien. Als »gänzlich a- und antisoziale Elemente« dürften sie nicht sich selbst überlassen bleiben und bedürften dauernden Schutzes. Und Neisser extrapolierte: »Eigentlich sollte jede, trotz aller Warnungen bei der Prostitution beharrenden Person einer psychiatrischen Begutachtung unterworfen werden.«123 Der Krieg brachte demnach auch auf deutscher Seite rigorose Forderungen nach einer möglichst dichten Kontrolle durch Internierung nicht nur der inskribierten Prostituierten, sondern sämtlicher verdächtiger Personen. Schützenhilfe erhielten die deutschen Ärzte auch von den Rechtsexperten. In seiner regelmäßigen Rubrik über rechtliche Fragen des ärztlichen Berufstandes führte Reichsgerichtsrat Ebermayer aus, dass es zwar »der Ausübung der Berufspflicht als einer charitativen entspräche […], dass sie nicht aufgezwungen werden dürfe«.124 Die Zwangsheilung der Prostituierten bilde davon eine Aus119 Blaschko, A., Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Kriege, in: DMW,. 1.Oktober 1914, Nr. 40, S. 1817. 120 Ausschußsitzung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, Berlin 18.4.1915, in: DMW, 20. Mai 1915, Nr. 21, S. 636. 121 Neisser, A., Krieg, Prostitution und Geschlechtskrankheiten, in: DMW, 14. Januar 1915, Nr. 3, S. 61. 122 Ders., Ist es wirklich ganz unmöglich, die Prostitution gesundheitlich unschädlich zu machen?, in: DMW, 18. November 1915, Nr. 47, S. 1385–1388. 123 Ebd., S. 1387. 124 Ebermayer, in: DMW, 17. Januar 1915, Nr. 2, S. 49.

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nahme, da hier »die öffentliche Stellung des Arztes in den Vordergrund« trete. Er übe lediglich »öffentliche Befugnisse auf Grund der Anweisung der zuständigen Polizeibehörde aus«. Als eine rechtswidrige Körperverletzung dürfen intravenöse Spritzen nicht angesehen werden, auch wenn sie nicht mit Einwilligung der Frau erfolgt seien. So kann man für Deutschland und Frankreich feststellen, dass der Krieg eine rückläufige Entwicklung in der Prostitutionsfrage hervorgebracht hatte. Hatten sich noch auf dem 17. Internationalen Medizinischen Kongress in London die Antireglementaristen massiv Gehör verschaffen können, kehrten Ärzte in der Kriegszeit wieder zu dem reglementierten System der polizeilichen Prostitutionsüberwachung zurück, die an repressive Maßnahmen gekoppelt war.

2. »Des prostituées pour la durée de la guerre« – die heimliche Prostituierte Etwa ein Jahr nachdem die Akademiemitglieder in der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten das Wort ergriffen hatten, unterzog Gaucher die Beschlüsse einer genauen Prüfung.125 Zwar würden Prostituierte nun genauer überwacht und regelmäßig untersucht, ein Fortschreiten der Syphilis hätte dadurch aber nicht gestoppt werden können. Die Infektionsträgerinnen, so die Begründung Gauchers, seien nicht immer Prostituierte, sondern vielmehr die eigenen Ehefrauen und die Arbeiterinnen der Kriegsindustrie, die zu ihrer Existenzsicherung auf dieses Nebengewerbe auswichen. Damit lenkte Gaucher die Aufmerksamkeit seiner Kollegen auf die Grenzen der Prostitutionsüberwachung und auf das Problem der Kontrolle aller Bevölkerungsteile. Sowohl in den deutschen als auch in den französischen Publikationen wurde an die Vorkriegsdebatte angeknüpft, die bereits den Begriff der »heimlichen Prostitution«, der »prostitution clandestine«, eingeführt hatte. Somit wurden tendenziell sämtliche Fälle von außer- und vorehelichem Geschlechtsverkehr, die den bürgerlichen Wertvorstellungen nicht entsprachen, als Prostitution erklärt.126 Der Krieg, so die Ärzte, biete der Frau ein erweitertes Feld an Gelegenheiten zur Prostitution. Es handele sich – mit den Worten der Venerologen Gaucher und Bizard − um »prostituées pour la durée de la guerre«, um Prostituierte für die Dauer der Kriegs, die mit Friedensschluss und bei Rückkehr ihrer Männer auch wieder zur Normalität zurückkehren würden.127 125 Gaucher, Commission Supérieure consultative du Service de Santé militaire. Rapport sur la mesure à prendre contre les progrès de la syphilis, in: AMV, Bd. 12, September 1917, S. 514. 126 Sauerteig, Krankheit, S. 390ff. 127 Gaucher u. Bizard, Statistique des syphilis contractées par les militaires depuis la mobilisation et traitées dans le service de clinique de l’hôpital Saint-Louis (août 1914-décembre 1915), in: AMV, Bd. 11, März 1916, S. 133.

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Französische Ärzte erklärten das gehäufte Auftreten dieser »heimlichen« Kriegsprostitution unterschiedlich. Am häufigsten wurde auf die kriegsbedingten finanziellen Nöte hingewiesen, denen die Frau durch Prostitution abzuhelfen versuchte. Ebenso wurden eine vorherrschende Sexualnot bzw. sexualemanzipatorische Bestrebungen der Frau für ihre Untreue in der Heimat verantwortlich gemacht. Sozialkritische Argumente und nüchterne Feststellungen veränderter Sexual- und Moralvorstellungen der Frau schlossen sich nicht gegenseitig aus, sondern standen vielmehr unverbunden nebeneinander. »Ohne es auch nur im geringsten an der Bewunderung fehlen zu lassen, die man dem Mut, der Opferbereitschaft und der Haltung der französischen Frauen entgegenbringen solle«, so Gaucher und Bizard, müsse man auch eingestehen, »dass die lange Trennung der Familien, der tote oder verschollene Ehemann, die Misere, die Geldnöte, […] ja leider manchmal auch die Genugtuung einer wiedererlangten Freiheit, die Bewunderung für die Helden, ja sogar das Mitleid für die leidenden Soldaten, alles Gründe sind, die so manche bis dahin ehrenhafte und treue Frau dazu gebracht haben, plötzlich vom rechten Wege abgekommen zu sein und den ersten Fehltritt zu wagen«.128 Die französischen Erklärungsmuster einer Zunahme der Geschlechtskrankheiten durch außer- und vorehelichen Geschlechtsverkehr stellten den Krieg als eine Ausnahmesituation dar, die Zunahme der Geschlechtskrankheiten als eine unausweichliche Konsequenz der bedrohlichen Präsenz des Feindes. Dieses Deutungsangebot wurde bereits auf die Militärbevölkerung angewandt und galt gleichermaßen für die Zivilbevölkerung. Auch ihrer Opferbereitschaft solle man es an Dankbarkeit nicht fehlen lassen und sie nicht unnötigerweise an den Pranger stellen. Es läge an den »unauf hörlichen, bedrohlichen Gefahren«, dass die »Sittsamkeit und die sexuelle Vorsicht erlahmen« würden.129 Neben den Schnittstellen, die sich zwischen der kriegsbedingten Aufteilung der männlichen Bevölkerung an der Kriegsfront und der weiblichen an der Heimatfront ergaben, existierte indes noch eine weitere sensible Zone in der militärischen Topographie: das Operationsgebiet, also ein spezifisch männlicher Bereich, den es von den weiblichen Gefahrenelementen freizuhalten galt. Die weibliche Präsenz im Operationsgebiet beschränkte sich nicht allein auf Prostituierte. Die ansässige weibliche Zivilbevölkerung, Lazarettbesuche der Soldaten von Verwandten, die Frauenarbeit in der Kriegsindustrie – die Problematik war neben der Prostitutionsfrage vielgestaltig. Ein deutsch-französischer Vergleich ist hier besonders aufschlussreich: Betrachtet man allein die Westfront, die auch den Schwerpunkt der deutschen und französischen Ärzte 128 Ebd., S. 132. 129 Gaucher, Les maladies vénériennes pendant la guerre à l’hôpital Villemin dans ses annexes, in: AMV, Bd. 11, April 1916, S. 200; Gaucher hielt diesen Vortrag auch in der Académie de Médecine in der Sitzung vom 28. März 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 352–360.

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bildete, war es im französischen Fall ein innergesellschaftliches Problem, während sich in Deutschland die Frage der hygienischen Maßnahmen in den besetzten Gebieten gegenüber der französischen Bevölkerung stellte. In seinen Feststellungen der etwaigen Infektionsquellen für die Truppe bemerkte der Chefarzt eines venerologischen Zentrums in Lyon, dass die Zahl der professionellen Prostituierten abnahm, je näher man der Frontlinie rückte.130 Das »élément indigène« – die ansässige Bevölkerung bildete die größte Gefahr für die anhaltend hohe Geschlechtskrankenrate in der Armee. Aufgeschreckt von solchen alarmierenden Zahlen beschäftigte sich auch die Académie de Médecine mit dem Problem der weiblichen Präsenz im Operationsgebiet. Unter den Akademiemitgliedern entzündete sich eine heftige Diskussion an der radikalen Forderung der »Kommission zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« unter Vorsitz von Gaucher, allen nicht im Operationsgebiet ansässigen Frauen den Aufenthalt dort zu verbieten.131 Der allgemeinen Formulierung konnten die meisten nicht beipflichten, waren davon doch auch Ehefrauen, Mütter und Schwestern betroffen, deren Besuche durchaus eine positive Wirkung auf die Soldaten ausüben konnten. Die Trennung zwischen weiblicher und männlicher Bevölkerung zumindest zeitweise aufzuheben, liege im Interesse sowohl der Frauen als auch der Männer und stärke die Kampfmoral und das Durchhalten im Hinterland. Nicht nur die körperliche auch die moralische Gesundheit der Krieger galt es zu bewahren. Das Akademiemitglied Henrot versuchte bei seinen Kollegen Verständnis für die Folgen der erzwungenen Trennung von Frauen und Männern zu wecken. Frauen in der Heimat würden Beträchtliches leisten: Sie hielten Kleinbetriebe am Laufen und ergriffen sichernde Maßnahmen, wenn Haus und Hof in Schutt und Asche lagen. Man könne ihnen nicht verweigern, so Henrot weiter, ihre Ehemänner aufzusuchen, um gemeinsam die Zukunftsängste zu beruhigen. Aber auch für die Kampfeskraft der Männer wäre eine solche Durchlässigkeit der männlichen und weiblichen Sphäre eher förderlich als hemmend: »Der Ehemann will ja kämpfen, aber er kann nicht gleichgültig gegenüber dem Untergang seiner Familie bleiben: Von diesen dunklen Gedanken verfolgt, droht ihm der Verlust eines großen Teils seiner Kraft, das ist auch eine lang vernachlässigte psychologische Frage; die Urlauber kehren an die Front mit mehr Schwung und Mut zurück, 130 Carle, La prophylaxie des maladies vénériennes aux armées. Mesures prises, mesures à prendre. Rapport à la Réunion des chefs de centres dermato-vénéréologiques, le 13 juillet 1916, in: AMV, Bd. 11, September 1916, S. 549. 131 Siehe zum Folgenden, Discussion du rapport de Gaucher au nom de la Commission sur la lutte contre les maladies vénériennes. Sitzung vom 13. und 27. Juni 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 709–713 u. 761–763. Die Resolutionen wurden in Deutschland kommentarlos bekannt gegeben: Schrumpf, Rezension zu Gaucher, Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten während des Krieges, Comptes Rendus der Académie de Médecine, Paris 6. Juni, in: DMW, 20. Juli 1916, Nr. 29, S. 896.

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nachdem sie ihre Familien umarmen konnten. […] Ich meine, es wäre ein schwerer moralischer und physiologischer Fehler, das Operationsgebiet den Ehefrauen zu verbieten.«132

In der Diskussion bemühten sich die Akademiemitglieder, die Frauen, denen der Zutritt gestattet und denen er verwehrt werden sollte, zu kategorisieren. So fragte sich der Arzt Delorme, welche Kategorie von Frauen eine Bedrohung für den Soldaten darstellte, denn hinter jeder Frau könnte eine heimliche Prostituierte stecken.133 Die Frage blieb offen, ob damit auch das weibliche Sanitätspersonal und die Arbeiterinnen der Kriegsindustrie betroffen wären, wie Paul Strauss suggeriert hatte. Zudem hatte das Operationsgebiet keine geographisch feststehende und unveränderliche Grenze und konnte sich im Laufe des Krieges verschieben.134 Nachdem einige Vorschläge als ungenügend verworfen worden waren, konnten sich die Akademiemitglieder auf die Formulierung einigen, dass der Zutritt für nicht im Operationsgebiet ansässige Frauen, die keine besondere Erlaubnis der Militärbehörden hätten, verboten sei. Insbesondere wollte die Akademie die Aufmerksamkeit auf die heimliche Prostitution lenken.135 Die Diskussion in der Académie de Médecine macht zum einen deutlich, wie die Debatte um die Geschlechtskrankheiten aus dem begrenzten Personenkreis Prostituierte/Soldat heraustrat. Auf Grund der Feststellung eines Übergreifens auf alle Bevölkerungsgruppen sahen sich die Ärzte vor die Notwendigkeit gestellt, neue Kategorien anzulegen, die helfen sollten, die Gefahrenquellen innerhalb der weiblichen Bevölkerung einzugrenzen. Zum anderen sollte aber auch die Trennung von männlicher und weiblicher Bevölkerung durchlässig gestaltet werden, da diese füreinander nicht nur eine Gefahr sondern auch eine gegenseitige moralische Unterstützung darstellten. Schließlich muss die Diskussion auch im Gesamtkontext des Krieges gesehen werden: Die heftige Auseinandersetzung in der Académie de Médecine über die zu ergreifenden Maßnahmen auf der eigenen Seite der Front kontrastiert mit dem ärztlichen Schweigen gegenüber den deutschen Zwangsmaßnahmen auf der anderen Frontseite. In den ärztlichen französischen Publikationen fand keinen Niederschlag, was die eigene Zivilbevölkerung, insbesondere die Frauen, in den besetzten Gebieten erleiden musste, obwohl zeitgleich zur Diskussion in der Académie, im April 1916, in der Region um Lille die Deportationen von 20 000 Personen, darunter viele Frauen und Mädchen, stattfanden.136 Deutsche Ärzte waren daran ebenfalls beteiligt. Sie zwangen jede Frau zu einer gynä132 Henrot, Sur la lutte contre les maladies vénériennes. Sitzung der Académie de Médecine vom 20. Juni 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 732. 133 Discussion du rapport de Gaucher au nom de la Commission sur la lutte contre les maladies vénériennes. Sitzung vom 13. und 27. Juni 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 710. 134 Ebd., S. 711f. 135 Ebd., S. 763. 136 Zum Folgenden vgl. Becker, Humanitaire, S. 68–77.

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kologischen Untersuchung, um Geschlechtskranke ausfindig zu machen. Die betroffenen Frauen und Mädchen beschrieben diese Zwangsuntersuchungen als besonders erniedrigend und traumatisierend, wurden sie doch öffentlich als Prostituierte behandelt. Die Deportationen von Lille reihten sich in eine Vielzahl von Aktionen ein mit dem Ziel, die gesamte zivile Bevölkerung zwangsuntersuchen zu lassen und etwaige Infektionsherde auszuschalten.137 Doch es blieb bei punktuellen und begrenzten Einzelaktionen wie etwa in den Dörfern der Somme. Der deutsche Versuch einer systematischen Zwangsuntersuchung aller Frauen in den besetzten Gebieten scheiterte nicht zuletzt an den Bedenken, durch die französische Propaganda im neutralen Ausland in Misskredit zu geraten. Die Debatte in der Académie de Médecine sowie das ärztliche Schweigen um die deutschen Zwangsmaßnahmen auf französischem Territorium veranschaulichen, wie sehr sich die Ängste um eine Verseuchung der Bevölkerung und damit dem Fortbestand der Nation auf beiden Seiten ähnelten. In Deutschland war es bereits kurz nach Kriegsbeginn Alfred Blaschko, der auf die soziale Misere der Frauen im Krieg als die Ursache der Prostitution hinwies. »Ein Weltkrieg wie der jetzige, der alle wirtschaftlichen Schäden der Kulturnationen plötzlich jäh zerreißt, setzt in unseren großen Städten zahlreiche Industrien matt und macht zugleich Hunderttausende von Frauen brotlos.«138 Frauen der besitzenden Klassen hätten zudem Arbeit zu Kriegszwekken übernommen und somit das Elend der Arbeitslosen nur noch vermehrt. Blaschko blieb in Kriegszeiten seinem sozialhygienischen und -politischen Engagement treu, indem er den Einfluss sozialer und wirtschaftlicher Faktoren auf die Erkrankungsziffer ebenso anprangerte wie den Wandel in den Wertevorstellungen.139 Diese Positionierung war in den ärztlichen Reihen eher ein Ausnahmefall. Wollten sich viele Ärzte den milden Urteilen Blaschkos auch nicht anschließen, sparten sie doch mit harschen sittlichen Verurteilungen der Frau. Viele übernahmen den pragmatischen Standpunkt und konstatierten die Zunahme des außerehelichen Geschlechtsverkehrs in der Heimat. Ein Oberarzt in einem Lazarett in Karlsruhe hatte statistisch erhoben, welche Infektionsträgerinnen eine Gefahr für das Heer zu werden drohten. Hauptsächlich, stellte er abschließend fest, wurden die Militärpersonen durch Kellnerinnen, Dienstmädchen und Straßendirnen angesteckt. Dicht folgten die eigenen Ehefrauen und Bürgerstöchter, von letztere Gruppe vor allem durch Kontakte im Feindesland.140 Überraschend sei dieses Ergebnis aber keinesfalls, so der Karls137 Le Naour, Misères, S. 142–146. 138 Blaschko, A., Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Krieg, in: DMW, Nr. 40, 1. Oktober 1914, S. 1818. 139 Siehe zur Biographie und sozialpolitischem Engagement Blaschkos: Tennstedt. 140 Gans, O. Die Ansteckungsquellen der geschlechtskranken Heeresangehörigen während des Krieges, in: DMW, 3. Januar 1918, Nr. 1, S. 15f.

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ruher Arzt. Die Gonorrhoe in der Ehe sei dem Kenner bereits bestens aus Friedenszeiten bekannt. Bemerkenswert ist, dass Ärzte ausschließlich vom Soldaten Enthaltsamkeit einforderten. Die Enthaltsamkeitsfrage fand keine Entsprechung bezüglich der Frau. Diese pragmatische Haltung traf für das Diskussionsforum der Fachpresse zu. In eher populärwissenschaftlichen ärztlichen Publikationen wurde hingegen mehr oder weniger verständnisvoll das Bild der Kriegerfrau entworfen, die den Verführungen einer solchen Massenansammlung von Männern nicht widerstehen könne.141 Selten erwähnten die deutschen Ärzte die konkreten Maßnahmen in den besetzten Gebieten. Das mag zum einen daran liegen, dass sie in den Kompetenzbereich der an der Front tätigen Militär- oder Zivilärzte fielen, sich das Gros der publizierenden Ärzte jedoch im Heimatgebiet befand. In den okkupierten Gebieten griff die deutsche Militärverwaltung mit großer ärztlicher Beteiligung drastisch in die lokalen Regelungen der Gesundheitsfürsorge und Prostitutionsüberwachung ein und ersetzte diese nach und nach.142 Im Dezember 1914 ließ die deutsche Kommandatur in Lille Prostituierte drei Mal die Woche von einem deutschen Arzt zwangsuntersuchen. Frauen, die geschlechtskrank waren oder bei denen ein Verdacht – etwa durch Verleumdung – vorlag, wurden gefangen genommen und in militärischen Stützpunkten interniert, so etwa in Mézières und Sedan für die Ardennen oder in Tourcoing für das Départment Nord.143 Die Deportationen der Liller Frauen und Mädchen wurden bereits erwähnt. Die bekannten Venerologen Blaschko und Neisser befürworteten die Zwangsinternierung als die effizienteste Methode, um einer »Verseuchung« der deutschen Soldaten vorzubeugen. Sie wollten indes nicht nur die als krank befundenen Frauen, sondern alle der Prostitution verdächtigen Frauen von dieser Maßnahme betroffen wissen – eine Forderung, die den betroffenen Personenkreis und in der konkreten Handhabung die militärischen Vollmachten erheblich erweitern würde. »Am radikalsten ist der Vorschlag, alle der feindlichen Bevölkerung angehörigen Frauen und Mädchen, die sich eines prostitutionsartigen Treibens verdächtig gemacht haben, ebenso in Gefangenenlagern zusammenzubringen, wie wir dies mit den männlichen Kriegsgefangenen tun. Hier ist mit Bezug auf die erwachsenden Unkosten zu bemerken, daß ein solches Verfahren (selbst 50 000 solcher Weiber mit ihren Kindern zu bewachen und dem Verkehr zu entziehen) immer noch billiger sein würde, als die 141 Siehe beispielsweise Spier-Irving, der auch die Thematik der Kontakte zwischen heimatlicher Bevölkerung und Kriegsgefangenen, u.a. den Kolonialtruppen anschneidet, die in der Fachpresse nirgends auftaucht. Siehe auch Vorberg. 142 Der Historiker Yves Le Naour spricht von einer regelrechten »dictature prophylactique«, Le Naour, Misères, S. 161f u. 217. 143 Ebd., S. 161, zitiert Bajart, Sophie, Les Femmes à Tourcoing sous l’occupation allemande (1914–1918), mémoire de maîtrise, université de Lille III, 1997, S. 89–91.

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Verpflegung und Behandlung von vielleicht vier bis fünfmal soviel angesteckter Soldaten, ganz abgesehen von dem Nutzen für die Schlagfertigkeit des Heeres.«144

Die Analogie mit den Zwangsinternierungen der Kriegsgefangenen in Lagern stellten sowohl Neisser als auch Blaschko her und stimmten hiermit der Behandlung der betroffenen Frauen als Militärpersonen zu. Von da ist es nur ein kleiner Schritt, auch den Geschlechtsverkehr von belgischen und französischen Frauen mit deutschen Soldaten als eine Art Kampf handlung mit anderen Mitteln zu sehen, die darauf abzielte, den Soldaten kampfunfähig zu machen.145 In der ärztlichen Fachpresse wurde auf dieses propagandistische Argument nur selten zurückgegriffen. Allenfalls wurde ein Zusammenhang nahe gelegt: Der Krieg führe die deutschen Truppen »in Länder, die stark mit Geschlechtskrankheiten durchseucht« seien und »in denen ein Teil der Bevölkerung sicher das Seine tat, um unser Heer durch Krankheit zu schwächen«.146 Blaschko selbst trat solchen Erwägungen vehement entgegen und argumentierte gemäß seinem sozialpolitischen Engagement, dass die eigentliche Wurzel der Prostitution, egal welcher Nationalität, in den wirtschaftlichen und sozialen Missständen zu suchen sei. Er zitierte zwar die Forderung eines Soldaten in einem Brief an die »Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten«, wonach kurzerhand jede französische oder belgische geschlechtskranke Frau, die »einen deutschen Mann anlockt«, vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen werden müsste.147 Blaschko wies ein solches Radikalmittel aber von der Hand. Keine Frau käme auf den Gedanken, in so »herostratischer Weise ihren Patriotismus auszuüben«: »Die wirtschaftliche Not und das eigene geschlechtliche Bedürfnis sind ausreichende Gründe, um die fremden Frauen genau so den Soldaten in die Arme zu führen, wie leider auch zahlreiche Frauen bei uns in der Heimat.« Letztlich ähnelten sich die Vorschläge, die bezüglich der feindlichen und der eigenen sich prostituierenden Frauen gemacht wurden. Den Ärzten schweb144 Neisser, S. 17f; Blaschko, Aufgaben, S. 15f: »Aber es wäre zu erwägen, ob man nicht alle einmal erkrankten Prostituierten während der ganzen Dauer des Krieges internieren soll. Wenn wir eine Million Kriegsgefangener so lange durchfüttern, können wir da nicht 30- bis 40 000 gemeingefährliche Frauen ebenfalls bis zum Schlusse des Krieges auf solche Weise unschädlich machen? […] Ja, es entsteht die Frage, ob man sich damit begnügen soll, nur die kranken Frauen zu internieren und nicht auch jede Frau und jedes Mädchen, wenn sie das zweite Mal bei gewerbsmäßiger Unzucht ertappt wird.[…] Wenn, wie ich höre, in einem polnischen Orte durch ein einziges dreizehnjähriges Mädchen 135 Landsturmmänner gonorrhoisch infiziert worden sind (verbürgen kann ich diese Nachricht freilich nicht), so scheint ein solches Vorgehen nicht einmal zu drakonisch.« 145 Die Vorstellung, Prostituierte agierten als Spione findet sich nur einmal in dem untersuchten Quellenkorpus und zwar in einem französischen Artikel: Borne, Hygiène du soldat permissionaire à Paris, in: PaM, Bd. 21, Nr. 33, 1916, S. 133f. 146 Linser, Krieg und Geschlechtskrankheiten, in: MCWÄL, Nr. 46, 16. November 1918, S. 401. 147 Blaschko, Aufgaben, S. 15.

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ten drastische Maßnahmen von Zwangskasernierung vor, die eine lückenlose medizinische Kontrolle zuließ. Überdies wurde es um die Regelungen, die in den okkupierten Gebieten getroffen wurden, mit anhaltender Kriegsdauer zunehmend leiser. Die Ärzte in der Heimat stellten nüchtern fest, dass der Hebel weniger im Feindesland als in der Heimat anzusetzen sei, war doch hier die Ansteckungsrate eine wesentlich höhere. Das zeigten auch die nach dem Krieg aufgestellten Statistiken über die Ansteckungsquellen, die nach dem Ort der Ansteckung – Operationsgebiet, Etappe, Heimat – aufgeschlüsselt waren: Die Gefahr der Ansteckung sei »naturgemäß gering im Operationsgebiet, aber auffallend stark in der Etappe und bedauerlicherweise noch stärker in der Heimat« gewesen.148 Es ging nicht so sehr darum, die feindlichen Infektionsherde auszuschalten. Dem Feind im eigenen Land galt die ganze Aufmerksamkeit.

148 Drigalski, S. 586f.

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V. Der Krieg – eine Gefahr für die Zivilbevölkerung? Die fachärztlichen Debatten fokussierten sich auf die syphilitische Anstekkungsgefahr. Kaum Erwähnung fanden solche Fälle, in denen die männliche Fortpflanzungsfähigkeit anderweitig durch den Krieg beschädigt oder eingeschränkt worden war. Denjenigen Soldaten, die im Krieg ihre Genitalorgane eingebüsst hatten, schenkten die Ärzte selten ihre Aufmerksamkeit.149 Der Frauenkörper stand hingegen in verschiedenster sexualhygienischer Hinsicht im Mittelpunkt des ärztlichen Interesses. Mit Nachdruck warfen Ärzte die Frage auf, inwieweit die weiblichen Genitalfunktionen und die Fruchtbarkeit durch den Krieg beeinträchtigt würden. An dieser Frage entschied sich, ob der Fortbestand der Nation auf die zukünftigen Generationen hinaus als gesichert gelten konnte.

1. Sexuelle Kriegsgewalt Ein gesondertes Kapitel stellt die Kriegsgewalt gegenüber der weiblichen Zivilbevölkerung dar. Besonders in der französischen Ärzteschaft entfachte dieses Thema heftige Stellungnahmen und Diskussionen. Aber auch die deutschen Ärzte sahen sich damit konfrontiert. Die Frontlinie verlief in den ersten Kriegsmonaten durch Ostpreußen, so dass es zu sexuellen Übergriffen von russischen Soldaten auf deutsche Frauen kam. Ging in der Debatte um die Eindämmung der Geschlechtskrankheiten die Bedrohung von der eigenen Bevölkerung aus, kam sie nun vom feindlichen Männerkörper. Nur selten findet sich eine Koppelung der beiden Thematiken, d.h. die Befürchtung, dass der Soldat des feindlichen Heeres durch Geschlechtsverkehr mit der einheimischen Bevölkerung auch eventueller Übertragungsträger von Geschlechtskrankheiten sein konnte.150 In Frankreich entrüsteten sich die Ärzte über die sexuelle Kriegsgewalt, die von deutschen Soldaten an Französinnen verübt wurde.151 Dieser Umstand ist nicht zuletzt deswegen erwähnenswert, da der französische Arzt aus der Lektüre der medizinischen Fachpresse nur wenig über den Gesundheitszustand der französischen Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten erfuhr. Die sexuellen Übergriffe auf die französischen Frauen bildeten jedoch eine Ausnahme. Unter dem Titel »L’ignomonie des Allemands«, die deutsche Schan149 Kienitz, Kastrierten, S. 62–82. 150 Eine Ausnahme bildet: Klein, R., Statistique des syphilis récentes, contractées après la mobilisation, observées chez les militaires traités dans le service. Août 1914-Décembre 1915, in: AMV, Bd. 11, März 1916, S. 151. 151 Siehe zu der öffentlichen Debatte über die »Kriegskinder« in Frankreich: Audoin-Rouzeau, Enfant.

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de, veröffentlichten die »Annales des Maladies vénériennes« einen Auszug aus einer Doktorarbeit über zehn gynäkologische Kriegsbeobachtungen, die weniger medizinisch verwertbares Material beinhalteten als die Grausamkeiten beschrieben, welche die französischen Frauen unter der deutschen Besetzung zu erleiden hatten.152 Aber auch in der allgemeinen Fachpresse wurde das Thema aufgegriffen.153 Leserbriefe gingen bei der »Presse Médicale« ein, die sich mit den Kriegsvergewaltigungen auseinandersetzten. Dabei blieb es nicht bei den empörten Ausrufen über die deutsche Brutalität. Die Allgemeinpraktiker sahen sich mit dem konkreten Problem konfrontiert, dass die vergewaltigten Frauen in ihren Praxen um den ärztlichen Eingriff einer Abtreibung baten. In Frankreich wie auch in Deutschland sah das Gesetz vor, ausschließlich bei der medizinischen Indikation einer Gefährdung der Mutter eine Abtreibung vornehmen zu dürfen.154 Dieser Gewissenskonflikt der Ärzte bündelte wie in einem Brennpunkt drängende Fragen, die der Krieg aufgeworfen oder verstärkt hatte: Wie sollte man allgemein mit den Kriegsopfern und speziell mit den Frauen umgehen? Die Frage, ob Abtreibung in bestimmten Fällen erlaubt sein sollte, wurde als eine eminent bevölkerungspolitische diskutiert, schien doch angesichts des Geburtenrückgangs jede Tötung von geborenem und ungeborenem Leben der Nation einen weiteren Todesstoß zu versetzen. Schließlich beschwor diese Situation rassisch-biologistische Schreckensszenarien einer »Teutonisierung« der französischen Gesellschaft herauf. Dem Zusammenhang von quantitativer Zunahme der französischen Bevölkerung und qualitativer rassischer Beschaffenheit wurde wieder mehr Bedeutung beigemessen. Obwohl ein Sturm der Entrüstung ausgebrochen war, blieben die Ärzte mehrheitlich der Meinung, dass eine Abtötung des Kindes im Mutterleib nicht angemessen sei. In den Leserbriefen wurde etwa hervorgehoben, dass dann alle Vergewaltigungen einen ärztlichen Eingriff nach sich zögen, ob die Gewalt nun von einem Feind oder einem Freund des Vaterlandes ausgeübt worden war.155 Im Extremfall die Abtreibung zuzulassen, hieße auch Tür und Tor für 152 Dubois, R., L’ignominie Allemande. Dix observations obstétricales du temps de guerre. Thèse pour le doctorat en médecine, Paris 10 juillet 1916, in: AMV, August 1916, Nr. 11, S. 449–459. 153 Siehe auch die Meinungsumfrage in der Chronique médicale: Correspondance médico-littéraire. «Dans l’espèce», l’avortement est-il légitime?, in: Chronique médicale, 15. April 1915/15. Juni 1915/15. August 1915, Nr. 4/6/8, S. 123–128/174–191/243–255. 154 Es handelt sich in Deutschland um den §218 des Strafgesetzbuches (Verbot der Schwangeren zur Abtreibung bei Zuchthausstrafe bis zu fünf Jahren) und die §§219 und 220 (gegen denjenigen, der der Schwangeren die Abtreibungsmittel gegen Entgelt verschafft, bei ihr angewendet oder ihr beigebracht oder ohne ihr Wissen und Wille die Abtreibung vorgenommen hat) und in Frankreich um den Artikel 317 des »Code pénal« von 1810, der die Schwangere und den Arzt, die eine Abtreibung vorgenommen hatten, mit Zuchthaus bestraft. 155 Boîte aux lettres. Correspondances venues du front et d’ailleurs recueillies par F. Miles, in: PM, partie paramédicale, 25. Februar 1915, Nr. 8, S. 59.

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weitere Forderungen der Frauen zu öffnen. Unbehagen breitete sich aus, allein aus den Worten der Frauen auf ein Gewaltverbrechen zu schließen: »Man wird zunächst den Erzeuger ermitteln müssen. Zweifellos wird eine große Anzahl von Frauen und Mädchen, die einzig und allein Opfer eines schlechten Umgangs geworden sind, ihren Zustand auf ein Gewaltverbrechen zurückführen, obwohl sie ganz und gar selbst dafür verantwortlich sind.«156

Auch die Ärzte, Rechtsmediziner und Magistrate der »Société de médecine légale« erklärten es für unzureichend, lediglich auf Grund der Aussagen der Frauen das ungeborene Leben zu töten. Nicht selten käme es vor, dass Mädchen ihre Schwangerschaft mit einer imaginären Vergewaltigung zu entschuldigen suchten.157 Die sexuellen Gewaltübergriffe wurden häufig nicht wie eine Kampfhandlung gegen die Zivilbevölkerung verstanden, sondern auf eine weibliche sexualhygienische Angelegenheit reduziert. Der äußere Feind, verkörpert durch den deutschen Mann, und der innere Feind der sexuellen Ausschweifungen mit allen seinen unerwünschten Folgen wurden gegeneinander ausgespielt. Häufig war es die Frau, welche die Hauptschuld für ihren Zustand zu tragen hatte. Die Mehrheit der Ärzte sprach sich auch aus ethischen Gründen gegen eine Abtreibung aus. Es handele sich hier um einen Tötungsdelikt wie jedes andere auch. Der Kinderarzt Adolphe Pinard versicherte nachdrücklich, dass das Leben von Kind und Mutter das zu schützende Gut sei: »In einer zivilisierten Gesellschaft darf niemals die Identität des Vaters einen Tötungsgrund darstellen. Ansonsten würde man dem Verbrechen des Barbaren ein Verbrechen des Wissenschaftlers folgen lassen.«158 Pinard schlug vielmehr vor, die Kinder, die aus einer solchen Gewalttat hervorgegangen waren, unter ärztliche Aufsicht zu stellen. Die Mütter hätten damit ebenso wie andere hilfsbedürftige Französinnen Anspruch auf materiellen Schutz, d.h. die Maternité würden sie aufnehmen, sie könnten ihre Rechte auf kostenlose medizinische Versorgung und auf Kindergeld geltend machen und wären sicher, dass ihre Anonymität bewahrt würde. So könnte einer Entehrung der Opfer von deutschen Gewalttaten entgegengetreten werden. Adolphe Pinard machte sich die Situation für seine auf klärerischen Zwecke zunutze. In seiner wissenschaftlichen Lauf bahn hatte er es sich zum Ziel gesetzt, die französische Gesellschaft über den Wert des ungeborenen Lebens zu belehren. Der kriegsbedingte Extremfall sollte nun dazu beitragen, dass die »leuchtende ab156 Ebd., S. 62. 157 Tissier, Prétendu viol et fausse grossesse. Société de Médecine legale, März 1917, in: PM, 19. April 1917, Nr. 23, S. 237, siehe den Diskussionsbeitrag von Demelin. 158 Pinard, A., zitiert in: Brisac, J., La Santé Publique en France pendant la guerre, in: AHPML, Bd. 23, Nr. 6, 1915, S. 355; siehe auch Pinard, A., De la Protection de l’enfance pendant les cinq premiers mois de guerre dans le camp retranché de Paris. Sitzung in der Académie de Médecine vom 16. Februar 1915, in: BAM, Bd. 73, 1915, S. 241f.

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solute Wahrheit«, dass nämlich das Kind nicht schuldig und auch ein Opfer sei, in die Gesinnung der Mütter eindringe. Die Wissenschaft, insbesondere die puériculture, würde sich der Kinder annehmen. Mit Pinard sprach sich die gesamte Académie de Médecine für einen Schutz der werdenden Mütter und gegen die Abtreibung aus. In den Ausführungen des Akademiemitglieds Henrot wird deutlich, wie sehr die Debatte auch im größeren Zusammenhang von Geburtenrückgang und Wiederbevölkerungsstrategien gesehen werden muss. Es sei kein günstiger Zeitpunkt, die Abtreibung zu erleichtern, damit zu entschuldigen und zu legitimieren.159 Doch ließen die Ausführungen der Abtreibungsgegner ein Aspekt völlig außer Acht, der die Ärzteschaft beunruhigte. Konnte der Erzeuger nicht seine Charakter- und sonstigen Eigenschaften dem Nachwuchs durch Vererbung mitgegeben haben? Wuchsen dann nicht in Frankreich halb-deutsche Sprösslinge auf und führten zu einer Verseuchung des französischen Volksbestandes? Gewalt wäre nun nicht allein der einzelnen Frau angetan, sondern der ganzen »französischen Rasse« auf die zukünftigen Generationen hinaus. In der »Société d’anthropologie de Paris« wurde dieses Schreckensszenario vom Chefarzt des Pariser Waisenhospizes, einem vehementen Abtreibungsbefürworter der Kriegskinder, entworfen: »Unter dem Vorwand, dass das menschliche Leben überaus kostbar ist (was eine Binsenwahrheit ist), hat man vorgegeben, dass alles menschliche Leben, gleich welchen Ursprungs, respektiert werden müsse.«160 Auch die Option, die Kinder anonym in ein Waisenhaus zu geben, rief Ablehnung hervor. Wie könne man den Ammen zumuten, dass sie einen halben Deutschen nährten, während ihre Männer draußen ihr Leben und ihre Gesundheit opferten. Diese erschreckenden Aussichten wogen schwer, da sich eine Vererbung nach dem unsicheren zeitgenössischen Wissensstand der Vererbungsgesetze nicht nur auf das Kind beziehen könnte, das unmittelbar aus dem vollzogenen Geschlechtsverkehr entstanden war. Es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass auch die zukünftigen Kinder der Frau, wenn sie nun auch von einem anderen – französischen – Mann stammten, mit dem feindlichen Samen imprägniert waren. Diese Ansichten wurden von einer Reihe von »zootechniciens«, die sich mit Tierzüchtung beschäftigten, vertreten. In der Ärzteschaft erfreute sich die Telegonie, auch »impréganation« oder »hérédité par influence« genannt, einer breiten Anhängerschaft.161 Dieses Phänomen wurde sowohl in der allgemeinmedizinischen Presse als auch in der Académie de Médecine 159 Henrot, Le viol de guerre et la protection de l’enfance. Sitzung in der Académie de Médecine am 19. Oktober 1915, in: BAM, Bd. 74, 1915, S. 452–455, rezensiert in: PM, 21. Oktober 1915, Nr. 50, S. 416. 160 La Question des grossesses par viols de guerre, in: AHPML, Bd. 23, Nr. 6, 1915, S. 365f. 161 Für die Stichhaltigkeit der Telegonie sprachen sich etwa in der Société d’anthropologie de Paris Variot, in der Société de médecine légale Tissier und das Redaktionsmitglied der Presse

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diskutiert. Der Arzt Barrier dieser renommierten Institution für öffentliche Gesundheitsbelange versuchte nach Kräften, diesem Argument der nachhaltigen Impregnation der Frau entgegenzutreten.162 Wissenschaftlich sei die These der Telegonie nicht haltbar, die Zuständigkeit der Medizin stoße hier an ihre Grenzen: »Der ärztliche Eingriff, der der Sklaverei und den Schrecken einer verabscheuten Schwangerschaft ein Ende setzt, lässt sich nicht aus wissenschaftlichen Gründen legitimieren; er bezieht sich auf überaus zu respektierende Betrachtungen sentimentaler und sozialer Art, die den Moralisten und Gesetzgeber angehen, aber über die Wissenschaftler nicht urteilen sollten. (Sehr gut.).«163

Die anschließende Diskussion bestätigte den wohlwollenden Beifall am Ende des Vortrags von Barrier. Galippe und Pinard begrüßten die Stellungnahme ihres Kollegen gegen eine telegonische Wirkung der ersten Befruchtung. Der Venerologe Gaucher gab allerdings zu bedenken, dass er bereits Fälle beobachtet hätte, die eine Impregnation der Frau durch den ersten Ehemann nicht ganz ausschlössen. Der Leser der »Presse Médicale« wurde von einem Arzt namens Henri Coupon über den neuesten Wissensstand der Telegonie belehrt.164 Coupon ließ die Frage offen, ob die Hypothese in wissenschaftlicher Hinsicht haltbar sei, führte allerdings schlagende Beispiele aus der Tierzüchtung an, die eine solche belegen könnten. Er schloss seine Ausführungen mit einem Beispiel aus der Pflanzenwelt und setzte hinzu: »Hoffen wir, dass die Spermatozoiden der »Boches« nicht auch ebenso wirken, aber fürchten wir es nicht allzu sehr.«165 Im Allgemeinen ergibt sich aus den Debatten um die Kriegsvergewaltigungen, dass sie nicht als Ausnahme von der Regel betrachtet wurden. Die Frauen galten zwar als Kriegsopfer, es kamen jedoch Zweifel und Misstrauen gegenüber den Frauen auf, ob dies auch auf alle im gleichen Maße zutreffe. Einige Ärzte beschworen gar das Schreckgespenst einer »Teutonisierung« der französischen Gesellschaft herauf, worauf sich eine Opposition formierte, die diesen Argumenten, speziell demjenigen der Telegonie, entgegentreten wollte. Die Académie de Médecine ging hier mit gutem Beispiel voran. Eugenisch-rassische Argumentationsmuster blieben demnach trotz allem nicht tonangebend. Die Erfordernisse einer quantitativen Aufstockung der französischen Bevölkerung gewann die Oberhand gegenüber etwaigen biologisch-rassischen Ängsten. Médicale Bonnaire aus. Siehe das Sammelreferat La Question des grossesses par viols de guerre, in: AHPML, Bd. 23, Nr. 6, 1915, S. 363–369. 162 Barrier, Le viol et la télégonie. Sitzung in der Académie de Médecine am 4. Mai 1915, in: BAM, Bd. 73, 1915, S. 538–547, rezensiert in: PM, 6. Mai 1915, Nr. 19, S. 151. 163 Ebd., S. 541f. 164 Coupon, H., La Télégonie, in: PM, partie paramédicale, 30. Juni 1915, Nr. 29, S. 221–223; ders., L’imprégnation mâle, in: PM, partie paramédicale, 30. August 1915, Nr. 40, S. 305f. 165 Ebd., S. 223.

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In Deutschland wurde nach dem Einmarsch der russischen Streitkräfte in Ostpreußen im August 1914 die Frage der sogenannten »Kosakenkinder« mit einiger Dringlichkeit aufgeworfen. Handelte es sich hier verglichen mit der deutschen Besatzung französischer und belgischer Gebiete nur um eine kurze Kriegsepisode – die russischen Armee wurde endgültig in der Winterschlacht der Mauren (7.-21. Februar 1915) zurückgeschlagen −, erstaunt doch die Anzahl der Stellungnahmen und die Dauer der Auseinandersetzung von Ende 1915 bis etwa März 1917. Das mag zum einen daran liegen, dass Ostpreußen in der Anfangsphase des Krieges zu einem wichtigen Thema der deutschen Propaganda geriet. Die Opfer der »Russeninvasion« untermauerten anschaulich die offizielle Version eines deutschen Verteidigungskrieges. Überdies versuchte man, der alliierten Propaganda gegenüber deutscher Brutalität in den besetzten belgischen und französischen Gebieten Kontra zu geben und ein russisches Pendant zu setzen. Trotzdem beteiligten sich Ärzte in der Frage der sexuellen Kriegsgewalt nicht an dieser propagandistischen Zurschaustellung der deutschen Opfer der russischen Invasion. Der Extremfall Krieg hatte vielmehr die Brisanz der strafrechtlichen und medizinischen Frage nach der Rechtmäßigkeit von Abtreibung in bestimmten Notsituationen erhöht. In Deutschland sprachen sich in der Debatte um die Kriegsvergewaltigungen die wortführenden Ärzte dagegen aus, mit einer Art Notstandsgesetzgebung die straflose Abtreibung zu gestatten. Es sei zu riskant, Abtreibung im Kriegsfall zu erlauben, würde doch dann ein Ventil gegenüber Missbräuchen geöffnet und die rigorose Gesetzgebung in Zukunft unterwandert. So argumentierte der Leipziger Arzt Lieske in der »Berliner klinischen Wochenschrift«.166 Von den spezifischen aktuellen Kriegsgeschehnissen hob er auf die grundlegende Frage nach der Rechtmäßigkeit von Abtreibung ab: »Ist es rechtlich und sozial-ökonomisch haltbar, einen straf befreienden Notstand abtreibenden Frauenpersonen zuzubilligen, die in erzwungenem Beischlaf geschwängert wurden?« Die Antwort Lieskes fiel negativ aus. Der Jurist Bauchwitz widersprach dem Arzt, drückte unmissverständlich seine Missbilligung gegenüber den Überlegungen Lieskes aus und stellte sich auf die Seite der Frauen: »Hat man vergessen oder nicht gelernt, dass es ein Persönlichkeitsrecht gibt? Soll nur das physische, nicht auch, und besonders, das moralische Leben geschützt werden? Kann man – um es gegenständlicher zu bezeichnen – einem Weibe zumuten, das durch Verbrechen aufgezwungene Kind zu tragen und zu gebären, dieses verabscheute Wesen aufzuziehen in stetem Hass und im Gedenken der Erniedrigung und unsäglichen Qual zu dulden, weil die Frucht des Verbrechend perpetuiert werden soll?«167

166 Lieske, Der Kampf gegen die Abtreibung und das sogenannte Kriegskinderproblem, in: BklW, 7. August 1916, Nr. 32, S. 895, rezensiert in: DMW, 24. August 1916, Nr. 34, S. 1052. 167 Bauchwitz, K., Bemerkungen zu dem Aufsatze Dr. Lieske’s: »Das Kriegskinderproblem«, in: BklW, 20. November 1916, Nr. 47, S. 1282.

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In ärztlichen Kreisen dominierten allerdings die Abtreibungsgegner, selbst wenn die Frau das Opfer einer Gewalttat geworden war. Ähnlich wie in Frankreich herrschte Skepsis gegenüber den Frauen vor, und Forderungen nach einer Überprüfung der Aussagen des mutmaßlichen Opfers wurden laut. Da eine solche nur schwer und in den seltensten Fällen durchzuführen war, opponierten die Ärzte gegen eine straflose Gestattung der Abtreibung. »Es ist eine bekannte Erfahrung jedes mit der praktischen Strafrechtspflege sich befassenden Juristen, wie sehr – hysterische und nicht hysterische – Frauen dazu neigen, Sittlichkeits- und Raubanfälle zu erfinden.«168 Der Bund für Mutterschutz hatte an den Bundesrat eine Eingabe gerichtet, in der er um den Erlass eines Notgesetzes zugunsten der während des Krieges von Soldaten des feindlichen Heeres geschändeten Mädchen und Frauen bat, allerdings unter der Bedingung, dass der Tatbestand einer Vergewaltigung beglaubigt sei. In Fällen, in denen die Schwangere sich solchen Maßnahmen nicht unterziehen mochte, sollte der Staat die Fürsorge über das Kind übernehmen. Die Schriftleitung der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« kommentierte folgendermaßen: »Man darf gespannt sein, wie viel wirklich »beglaubigte« Fälle denn eigentlich in Frage kommen. Man kennt ja die Rolle, die die Phantasie auf diesem Gebiete bereits im Frieden spielt, und man kann sich auf das tollste Zeug gefasst machen in diesen erregten Zeiten.«169 Ähnlich wie in Frankreich kamen hier also auch sexualhygienische Bedenken zum Tragen, alle sexuellen Ausschweifungen der Frau nur auf deren Aussagen hin als Gewalttat anzusehen. So abschreckend das Bild des russischen Soldaten auch in der medizinischen Fachpresse gezeichnet wurde, in der von »tierischer Begierde der russischen Horden«170 und »Kosakenkindern«171 die Rede war, so wenig fanden rassischbiologische Schreckensszenarien einer Verseuchung der Nation ihren Eingang in die Auseinandersetzung. Die kurze Dauer und folglich die geringe Bedeutung des Problems dürften hier eine Rolle gespielt haben. Der Abtreibungsgegner Lieske machte zwar auf die Möglichkeit einer »Rassenverschlechterung« aufmerksam, entkräftete jedoch diese Befürchtungen: Die geringe Zahl der »Kosakenkinder« – nach Lieske könne sie sich höchstens auf fünfzig belaufen – stelle in dieser Hinsicht keine Bedrohung dar.172 Ebenso fänden sich keine Hinweise auf eventuelle Kontakte zwischen den Kriegsgefangenen und den 168 Ebermayer, Kriegskinder vor und nach der Geburt, in: DMW, 16. Dezember 1916, Nr. 51, S. 1525. 169 DMW, 12. August 1915, Nr. 33, S. 986. 170 Ebermayer, Kriegskinder vor und nach der Geburt, in: DMW, 16. Dezember 1916, Nr. 51, S. 1524. 171 Lieske, Der Kampf gegen die Abtreibung und das sogenannte Kriegskinderproblem, in: BklW, 7. August 1916, Nr. 32, S. 895, rezensiert in: 24. August 1916, Nr. 34, S. 1052. 172 Ebd., S. 895.

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deutschen Frauen. Die Überlegungen, wie mit den »Kosakenkindern« umzugehen sei, waren keine Vorläufer der Debatte um die »Rheinbastarde« in den 1920er Jahren, d.h. um Kinder von deutschen Frauen und schwarzen französischen Kolonialsoldaten während der Besetzung des Rheinlandes.173 Deutsche Ärzte nahmen überdies Stellung zu den sexuellen Gewalttaten, die von ihren eigenen Soldaten ausgeübt wurden. Sie stritten zwar das Ausmaß der Übergriffe deutscher Soldaten auf die französische und belgische Zivilbevölkerung ab, stellten sie aber nicht grundsätzlich in Frage. In den französischen Rekrutenjahrgängen von 1934 und 1935 werde sich durchaus der ein oder andere finden, »der deutsches Blut in seinen Adern hat«.174 Die »Schauergeschichten«, die auf französischer Seite zirkulierten, seien aber ein Produkt »echt romanischer Phantasie und Verlogenheit«. Die Maßnahmen, welche die französischen Ärzte forderten, wurden ebenfalls der deutschen Kritik unterzogen. Ein Redaktionsmitglied der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« führte die ablehnende Haltung der französischen Ärzte gegen die Abtreibung auf die schwindenden Geburtenzahlen zurück. In Frankreich müsse »jedes Menschenleben erhalten werden.« – ein Umstand, der in Deutschland noch nicht so dringlich sei.175 Reichsgerichtsrat Ebermayer, der in der gleichen Zeitschrift die Rubrik über rechtliche Fragen des ärztlichen Berufstandes füllte, griff aus der medizinischen französischen Fachpresse weniger die bevölkerungspolitischen, sondern mehr die ethischen Argumente gegen die Abtreibung heraus. Er zitierte eine französische Stellungnahme über die »höhere Auffassung von der Empfängnis, die dem menschlichen Wesen würdiger und von höher stehender Moral« sei.176 Angesichts der blühenden Abtreibungszahlen in Frankreich, kommentierte Ebermayer, könnte man wirklich meinen, »der scheinheiligste Engländer hätte diese Worte geschrieben«. Beide Autoren, der eine Jurist, der andere Arzt, wiesen darauf hin, dass auch in Frankreich Skepsis gegenüber den Aussagen der Frauen angebracht schien, wie dies in Deutschland hervorgehoben wurde: »Eben erst sind die Namen von Frauen und Mädchen öffentlich bekannt gegeben worden, die ein allzu großes Entgegenkommen gegen Angehörige der uns feindlichen Heere bewiesen haben, und so scheint die Frage berechtigt, ob bei den sogenannten »Vergewaltigungen« denn wirklich »Gewalt« angewendet werden musste! Vielleicht gefällt sich da doch manche in der Rolle der Märtyrerin, da sie ja wohl sicher ist, dass ihr »Partner« nicht vor dem Tribunal zur Aussage kommen wird!«177 173 Pommerin. 174 Ebermayer, Kriegskinder vor und nach der Geburt, in: DMW, 16. Dezember 1916, Nr. 51, S. 1524. 175 DMW, 12. August 1915, Nr. 33, S. 986. 176 Ebermayer, Kriegskinder vor und nach der Geburt, in: DMW, 16. Dezember 1916, Nr. 51, S. 1525. 177 Ebd., S. 1525.

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Obgleich sich die Stellungnahmen in der deutschen medizinischen Presse von der französischen Grundhaltung abzugrenzen suchten, fördern sie doch die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ärzteschaften zu Tage.

2. Die Kriegsamenorrhoe Häufiger als auf die direkten Gewaltübergriffe der feindlichen Soldaten richtete sich die Aufmerksamkeit der Ärzte auf die indirekten Einflüsse des Krieges. Welchen gesundheitlichen Schädigungen war eine Bevölkerung ausgeliefert, die über Jahre hinweg in Angst um Familie, Angehörige und Freunde lebte, die in stetiger Anspannung sich ohne die Männer um die Familie und den Fortbestand der Arbeit sorgte, deren Mehrzahl um gefallene männliche Familienangehörige trauerte und für die der Krieg ein hohes gesundheitliches Risiko bedeutete? In den Diskussionen um den Einfluss des Krieges auf die Frauenkrankheiten führten hauptsächlich Gynäkologen und Geburtshelfer das Wort. In Deutschland entbrannte etwa ab Mitte des Jahres 1917 eine Debatte in gynäkologischen Kreisen über die Ursachen des Ausbleibens der Menstruation bei Frauen, deren Männer zum Felddienst eingezogen worden waren. Auch die zahlreich zur Beobachtung kommenden Fehlgeburten entgingen der Aufmerksamkeit der Gynäkologen nicht. Sie warfen die Frage auf, in welchem Zusammenhang diese Phänomene mit den Kriegsereignissen standen. Wurde der Schlagabtausch auch in gynäkologischen Publikationsorganen ausgetragen, erhielt doch die breitere Ärzteschaft durch Rezensionen in der allgemeinen medizinischen Fachpresse darüber Kenntnis. Alle Diskussionsteilnehmer – sie stammten aus verschiedenen Regionen des Deutschen Reichs – sahen den Ausfall der monatlichen Blutung als eine Kriegsfolge an und folgerten daraus, dass die Bezeichnung »Kriegsamenorrhoe« durchaus ihre Berechtigung habe. Über den genaueren ursächlichen Zusammenhang zwischen den Kriegsereignissen und dieser Störung waren sich die Gynäkologen nicht einig: Einige sahen einen Zusammenhang zwischen dem Leiden und den ungenügenden und gleichförmigen Ernährungsbedingungen sowie der körperlichen Erschöpfung der Frauen, die durch die Übernahme harter Arbeit in Industrie und Landwirtschaft stark geschwächt waren.178 Für diese Faktoren sprach, dass die Amenorrhoefälle besonders im Herbst 1916 gehäuft auftraten, als die Ernährungssituation sich 178 Siehe etwa die Beobachtungen in einer Kieler Klinik von Giesecke, A., Kriegsamenorrhoe, in: ZblGyn, 1. September 1917, Nr. 35, S. 865–872, rezensiert in: DMW, 27. September 1917, Nr. 39, S. 1242; Stickel, Zur Amenorrhoefrage, in: ZblGyn, 14. Juli 1917, Nr. 28, S. 689– 696, rezensiert in: DMW, 23. August 1917, Nr. 34, S. 1083 f; Czerwenka, K., Kriegsamenorrhoe, in: ZblGyn, 29. Dezember 1917, Nr. 52, 1917, S. 1162–1165, in: DMW, 24. Januar 1918, Nr. 4, S. 107; Franqué, O. von, Kriegsfolgen auf gynäkologischen und geburtshilflichen Gebiete, Würzburg 1918, rezensiert in: DMW, 8. August 1918, Nr. 32, S. 892.

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drastisch zu verschlechtern begann. Bezüglich der Erschöpfungszustände erwähnten Ärzte nicht nur die körperliche, sondern auch die intellektuelle Inanspruchnahme.179 Der Frauenarzt und Direktor der Frauenklinik in Düsseldorf O. Pankow beschrieb etwa einen Fall von Kriegsamenorrhoe bei einer 32-jährigen Wirtsfrau, dessen Mann im Sommer 1915 eingezogen wurde.180 Die Leitung der Schankwirtschaft und des damit verbundenen landwirtschaftlichen Betriebs sei – nach eigenen Angaben der Frau – nicht körperlich, sondern eher geistig anstrengend. Und Pankow zitierte seine Patientin: »Die ganze Rechnerei und das Arbeiten mit den Büchern hat mich mehr angestrengt als die andere Arbeit, denn kräftig genug bin ich dazu.« Einige Frauenärzte machten die psychischen Erregungszustände für das Ausbleiben der Monatsblutung und die gehäufte Zahl von Fehlgeburten verantwortlich.181 Der Tübinger Gynäkologe August Mayer legte sich zwar nicht eindeutig fest, sah aber mit dem Krieg eine besonders günstige Zeit angebrochen, um sich über die Wirkung »psychischer Insulte« und »Schreckwirkungen« auf die weiblichen Geschlechtsfunktionen Klarheit zu verschaffen.182 Sein Kollege Pankow sprach sich dagegen schon eindeutiger aus. Er wollte einen Schlusspunkt unter die bereits über ein Jahr währende Diskussion setzen, indem er der »psychogenen Kriegskomponente bei der Bewertung gynäkologischer Leiden« wieder mehr Bedeutung beimaß.183 Gerade der Krieg habe die Abhängigkeit körperlicher Beschwerden von seelischen Vorgängen so greif bar deutlich gemacht, dass es »oft wirklich leicht fällt, die inneren Zusammenhänge zu erkennen […]«.184 Die Kriegserfahrungen würden den Allgemein- wie Spezialmediziner, gleich welcher Richtung, die Augen für diese Zusammenhänge öffnen. Von nun an könne sich kein Arzt mehr vor der Eventualität einer psychogenen Erkrankung verschließen.185 Pankow nahm Anleihen aus der Neurosenlehre, indem er sich explizit auf den Psychiater Max Lewandowsky bezog. Um die richtigen thera179 Siegel, P.W., Zur Kriegsamenorrhoe, in: ZblGyn, 7. April 1917, Nr. 14 , S. 329–333, rezensiert in: DMW, 2. Mai 1917, Nr. 18, S. 568. 180 Pankow, O., Die Bedeutung der psychogenen Kriegskomponente bei der Bewertung gynäkologischer Leiden, in: DMW, 28. März 1918, Nr. 13, S. 344. 181 Ebeler, Krieg und Frauenklinik, in: ZblGyn, 8. Januar 1916, Nr. 1, S. 15–21, rezensiert in: DMW, 10. Februar 1916, Nr. 6, S. 174; ders., Zur Kriegsamenorrhoe, in: ZblGyn, 14. Juli 1917, Nr. 28, S. 696–708, rezensiert in: DMW, 23. August 1917, Nr. 34, S. 1083f. 182 Mayer, A., Über Störungen von Menstruation und Schwangerschaft durch psychische Alterationen, in: ZblGyn, 16. Juni 1917, Nr. 24, S. 569–589, rezensiert in: DMW, 5. Juli 1917, Nr. 27, S. 858. 183 Pankow, O., Die Bedeutung der psychogenen Kriegskomponente bei der Bewertung gynäkologischer Leiden, in: DMW, 28. März 1918, Nr. 13, S. 343. 184 Ders., Die Bedeutung der psychogenen Kriegskomponente bei der Bewertung gynäkologischer Leiden, in: DMW, 4. April 1918, Nr. 14, S. 377. 185 Siehe hierzu Kap. I.1. »Deutschland: Der Siegeszug der psychogenen Krankheitstheorie« im dritten Teil dieser Arbeit.

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peutischen Maßnahmen zu ergreifen, sei es von besonderer Wichtigkeit, in der Diagnose zwischen den somatogenen und den psychogenen Leiden zu differenzieren. So könne man sich manchen operativen Eingriff sparen. Es sei letztlich verhältnismäßig leicht, die Patientin von »den inneren Zusammenhängen ihres seelischen Kriegserlebnisses mit den körperlichen Beschwerden [zu] überzeugen.« Diese seien »schließlich froh, daß sie nicht ›eigentlich krank‹ sind […] und mit dem Kriegsende auch ein Ende ihres Leidens erhoffen können«.186 In seiner Privatpraxis hatte der Gynäkologe Schülein ebenfalls ein gehäuftes Vorkommen von Amenorrhoefällen beobachtet.187 Schloss er auch Ernährungsmangel als Ursache nicht gänzlich aus, kam er doch zu dem Schluss, dass der psychische Eindruck bei Privatpatientinnen aus dem Beamten- und Mittelstande sicherlich eine größere Rolle spielte als bei der Arbeiterbevölkerung, die sich mehr in den poliklinischen Einrichtungen behandeln ließ. Er wollte zwar den letzteren nicht eine geringere Sorge um ihre Männer und Söhne zuschreiben. Doch diese Frauen treffe der Verlust um den Ernährer weit weniger als die kleinbürgerlichen Bevölkerungsgruppen, die es nicht gewöhnt seien, hart zu arbeiten und so häufiger psychisch deprimiert seien. Die Mehrzahl der Fachspezialisten schloss aus, dass das Aussetzen der Regelblutung eine Verminderung der Konzeptionsfähigkeit nach sich ziehe. Es handele sich um eine zeitweilige kriegsbedingte Störung, die nicht länger dauern werde als der Krieg. Der Frieden war die beste, wenn nicht die einzige Therapie. Auch Schülein berichtete, dass er seine Patientinnen mit der Mitteilung beruhigen konnte, die Krankheit wäre eine Kriegserscheinung und würde im Frieden wieder verschwinden. Französische Gynäkologen warfen im Krieg die Frage nach den kriegsbedingten Menstruationsstörungen überhaupt nicht auf. Die 1920 an der Faculté de Médecine in Lille eingereichte Doktorarbeit von Maurice Boucher über die Amenorrhoe in den besetzten Gebieten konnte sich auf keine Kriegsliteratur über das Thema stützen.188 Nach seinen statistischen Beobachtungen schätzte Boucher die Zahl der betroffenen Frauen auf 45%. Ähnlich wie die deutschen Ärzte führte er den Ausfall auf die Unterernährung sowie auf die anhaltende, starke emotionale Belastung zurück. Er widersprach dem Abgeordneten des Département du Nord, der in einer Rede vor dem Parlament die Behauptung aufgestellt hatte, dass 60% der jungen Mädchen nie mehr Mütter sein könnten. Die weibliche Fortpflanzungsfähigkeit sei von dem momentanen Aussetzen der Regelblutung nicht betroffen. 186 Pankow, O., Die Bedeutung der psychogenen Kriegskomponente bei der Bewertung gynäkologischer Leiden, in: DMW, 4. April 1918, Nr. 14, S. 379. 187 Schülein, Über den Einfluß des Krieges auf die Erkrankungen des weiblichen Geschlechts, in: DMW, 6. Juni 1918, Nr. 23, S. 630. 188 Boucher.

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3. Kriegseinflüsse auf die weibliche Fortpflanzungsfähigkeit Gynäkologen und Geburtshelfer, insbesondere in Deutschland, passten sich an die neue Kriegssituation an. Die Kriegseinflüsse auf die reproduktionsfähige, schwangere und gebärende Frau standen im Mittelpunkt ihres Interesses. Inwieweit beeinträchtigte der Krieg die weibliche Konzeptionsfähigkeit, Schwangerschaft und Geburt? Die günstige Prognose, die der Kriegsamenorrhoe ausgestellt wurde, galt nicht im gleichen Maße für weitere ärztliche Beobachtungen. Der Gynäkologe sah sich ebenso wie andere Mediziner in den Dienst der Aufstockung und Auf besserung des Volksbestandes gestellt und wollte notfalls den schädigenden Kriegseinflüssen entgegenwirken. Das traf vor allem für deutsche Gynäkologen, im weitaus geringeren Maße für ihre französischen Fachkollegen zu. Die gynäkologischen Fragen wurden vor allem von einem wissenschaftlichen Interesse geleitet. Der Krieg galt als ein einzigartiges Experimentier- und Beobachtungsfeld, das man nicht ungenützt vorbeiziehen lassen sollte. Noch nie zuvor war eine so große Anzahl der Frauen getrennt von ihren Männern. Aus dem abrupten Weggang und dem gelegentlichen Heimaturlaub der Männer ließen sich präzise Rückschlusse über den genauen Konzeptionszeitpunkt gewinnen. Fragen nach dem Konzeptionsoptimum oder nach dem Geschlecht des Kindes je nach Konzeptionszeitpunkt fielen in diesen Untersuchungsbereich der Ärzte. So entwarf der Freiburger Gynäkologe Siegel nach genauen Berechnungen eine Konzeptionskurve der Frau, die »wenn sie sich weiter bewahrheitet, für unser ganzes wirtschaftliches Leben und für das Geburtenproblem« weittragende Bedeutung habe.189 Der bekannte Frauenarzt Hermann Fehling beschäftigte sich die Kriegsdauer über mit dem Phänomen der Kriegsschwangerschaften. Es fiel ihm auf, dass Frauen, deren Ehemänner im Felde waren, bei deren Heimkehr nach fünf bis 17-jähriger Ehe, konzipierten. Er ließ dahingestellt, ob dies die Folge »einer durch die längere Enthaltsamkeit bedingten Vermehrung und Kräftigung des männlichen Sperma oder einer durch die längere Schonzeit verursachten Ausheilung von Genitalleiden oder vielleicht einer durch die Kriegskost bedingten regeren ovariellen Tätigkeit sei«.190 Eine weitere Frage, die wissenschaftlich noch nicht zum Abschluss gekommen war, betraf das Geschlecht des Kindes je nach Konzeptionszeitpunkt und Ernährung der Mutter. Auch in bevölkerungspolitischer Hinsicht war es von großer Bedeutung, über diese Fragen Aufschluss zu gewinnen. Der Ver189 Siegel, P.W., Wann ist der Beischlaf befruchtend?, in: DMW, 14. Oktober 1915, Nr. 42, S. 1251–1253. 190 Fehling, Kriegsschwangerschaften, in: ZblGyn, 15. September 1917, Nr. 37, S. 905–906, rezensiert in: DMW, 18. Oktober 1917, Nr. 42, S. 1336 und in MCWÄL, 17. November 1917, Nr. 46, S. 492.

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lust eines Großteils der männlichen Bevölkerung musste schließlich nach dem Krieg wieder wettgemacht werden.191 In vielen Frauenkliniken und gynäkologischen Praxen stellten Ärzte einen Überschuss an männlichen Neugeborenen fest. Sie führten diesen Umstand auf den Kriegseinfluss zurück, ohne dafür eine plausible Erklärung finden zu können.192 Die ersten Erklärungsversuche fielen zaghaft aus. Sie lassen jedoch schon zu einem Zeitpunkt, als die Vererbungsgesetze noch nicht zu gesicherten Lehrmeinungen avanciert waren, die ärztlichen Bestrebungen um die Vorherbestimmung der qualitativen Eigenschaften des Kindes erkennen. Ein Aktionsfeld wurde umrissen, in dem der Arzt eingreifen und sich damit an der Gestaltung des zukünftigen »Volkskörpers«, etwa in der Frage des Verhältnisses des männlichen zum weiblichen Anteil der Bevölkerung, beteiligen konnte. Fachärzte untersuchten ebenfalls, ob die veränderten Ernährungsbedingungen die gynäkologischen Beschwerden hevorriefen. Sie kamen indes mehrheitlich zu dem Schluss, dass dem Ernährungsmangel kein großes Gewicht beigemessen werden könne. Die Kriegsneugeborenen unterschieden sich nicht in Größe und Gewicht von den Kindern in Friedenszeit.193 Die veränderte Nahrung wirke sich im Gegenteil auf Schwangerschaft und Geburt häufig sogar günstig aus. Mehrere Frauenärzte aus den unterschiedlichsten Regionen Deutschlands hatten in ihrer Praxis seit Kriegsbeginn eine verminderte Anzahl von Eklampsiefällen beobachtet. Dabei handelt es sich um Krampfanfälle, die häufig in der letzten Zeit der Schwangerschaft auftraten. Die verminderte eiweiß- und fetthaltige Kriegskost habe zu dieser geringen Zahl an Eklampsiefällen entscheidend beigetragen.194 »Weniger der verminderte Fleischgenuß als eine durch die englische Hungerblockade verursachte Entfettungskur der deutschen Frauen ist mit der Abnahme der Eklampsiefälle in Deutschland während

191 Nürnberger, Kriegszeugung und ihre wissenschaftliche Verwertung, Ärztlicher Verein und Gynäkologische Gesellschaft München, 24.5.1917, in: DMW, 12. Juli 1917, Nr. 28, S. 895; Möglich, O., Zur Frage der Dauer der menschlichen Schwangerschaft, in: MMW, 22. Juni 1915, Nr. 25, S. 870, rezensiert in: DMW, 15. Juli 1915, Nr. 29, S. 869. 192 Ruge, C., Über den Einfluß der Ernährung auf die Fruchtentwicklung und die Laktation, in: ZblGyn, 19. August 1916, Nr. 33, S. 680–684, rezensiert in: DMW, 14. September 1916, Nr. 37, S. 1142. 193 Mössmer, Kriegsneugeborene, in: ZblGyn, 19. August 1916, Nr. 33, S. 684–686, rezensiert in: DMW, 14. September 1916, Nr. 37, S. 1142; Tschirch, Zur Frage der Kriegsneugeborenen, in: MMW, 21. November 1916, Nr. 47, S. 1650–1651, rezensiert in: DMW, 14. Dezember 1916, Nr. 50, S. 1559; Prochnownik, Ernährungskuren in der Schwangerschaft, in: ZblGyn, 11. August 1917, Nr. 32, S. 785–794, rezensiert in: DMW, 6. September 1917, Nr. 36, S. 1149. 194 Aus der Berliner Frauenklinik Warnekros, Kriegskost und Eklampsie, in: ZblGyn, 18. November 1916, Nr. 46, S. 897–902, rezensiert in: DMW, 14. Dezember 1916, Nr. 50, S. 1559; aus der Wiener Frauenklinik Franz, Th., Kriegsnahrung und Eklamspie, in: ZblGyn, 19. Mai 1917, Nr. 20, S. 480–483, rezensiert in: DMW, 7. Juni 1917, Nr. 23, S. 731.

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des Krieges in Zusammenhang zu bringen.«195 Vereinzelt stand der Tübinger Frauenarzt August Mayer mit seiner Erklärung einer Abnahme der Eklampsiefälle da: Er führte diese auf eine wegen des kurzen Urlaubs der Männer auferlegte sexuelle Temperenz zurück, durch die eine überhäufte Spermaimprägnation nach erfolgter Konzeption wegfallen würde.196 Das Interesse der deutschen Gynäkologen richtete sich auf die Kriegsbedingungen, denen die schwangere und gebärende Frau ausgesetzt war. Ausführungen über die ältere Frau waren eine Seltenheit. Wenn dies trotz alledem der Fall war, dann verwiesen die Ärzte auf den verschobenen Altersauf bau der Gesellschaft – eine durch den Krieg verstärkte Entwicklung. Eine Zunahme der Spätgebärenden sei die Folge.197 Im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen interessierten sich französische Gynäkologen nur wenig für den Kriegseinfluss auf Geburt und Konzeptionsfähigkeit. Nur hin und wieder und nicht so systematisch wie in Deutschland wurden Untersuchungsfelder umrissen, die eine ähnliche Ausrichtung aufwiesen. Die Frage, wie die Kriegssituation wissenschaftlich zu verwerten sei, warf das Akademiemitglied Maurel auf. Er hielt vor seinen renommierten Kollegen einen Vortrag, um die Gründe für die geringe Zahl an Knabengeburten in Frankreich herauszufinden.198 Für die »Verteidigung des Vaterlandes« sowie für die »Zukunft der französischen Rasse« sei eine solche Untersuchung von herausragender Bedeutung. Angestoßen wurde die Untersuchung Maurels von der kriegsbedingten Trennung von Frauen und Männern. Trotz dieser vereinzelten Ausführungen meldeten sich nur wenige Gynäkologen zu Wort. Die wissenschaftliche Mobilisierung der Gynäkologen war eine deutsche Besonderheit, die es in diesem Ausmaß in Frankreich nicht gab. Dem für seine bissigen Kommentare bekannten, französischen Arzt Helme blieb die Aufmerksamkeit, die deutsche Ärzte den kriegsbedingten Veränderungen der weiblichen Genitalfunktionen entgegenbrachten, nicht verborgen. Auf dem Titelblatt der »Presse Médicale«, das Helme regelmäßig mit aktuellen Themen oder medizinischen Kuriositäten füllte, gab er seinem Erstaunen über die Arbeit des Gynäkologen Schülein Ausdruck: 195 Gessner, W., Eklampsiestatistik in der Kriegszeit, in: ZblGyn, 15. September 1917, Nr. 37, S. 905f, rezensiert in: DMW, 18. Oktober 1917, Nr. 42, S. 1336. 196 Mayer, A., Über die Beziehungen des Krieges zur Eklampsie, in: ZblGyn, 7. Oktober 1917, Nr. 40, S. 793–795, rezensiert in: DMW, 2. November 1916, Nr. 44, S. 1365. 197 Heil, K., Die Zunahme der Gebärenden in den höheren Altersstufen während des Krieges, in: ZblGyn, 24. November 1917, Nr. 47, S. 1081–1083, rezensiert in: DMW, 3. Januar 1918, Nr. 1, S. 27; Prinzing, Fr., Gegenseitiges Alter der Gatten und Kinderzahl, DMW, 15. November 1915, Nr. 46, S. 1372f. 198 Maurel, E., De la masculinité: causes de ses variations. Sitzung der Académie de Médecine am 26. Juli 1917, in: BAM, Bd. 77, 1917, S. 811–817; siehe ebenfalls Coupon, H., L’origine des sexes, in: PM, 26. Juli 1915, Nr. 34, S. 261–263.

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»Welchen Einfluss könnten denn die Lebensmittelblockade und die kriegsbedingten Leiden auf die deutsche Frau ausüben? Tota mulier in utero: Wie verhalten sich ihre Genitalorgane in diesen Weltwirren? Das werde ich ihnen jetzt »objektiv« zusammenfassen, als ob es sich um Zeitgenossen von Semiramis handele.«199

Helme griff ironisch auf, wie deutsche Ärzte die Frau auf ihre Gebärfunktion reduzierten. Inwieweit die Psyche der deutschen Frau unter den Kriegseinflüssen zu leiden habe, bemerkte Helme abschließend, davon stehe nichts in dem ihm vorliegenden Aufsatz von Schülein. Die deutschen Frauen, vermutete er, seien wahrscheinlich nichts weiter als die Widerspiegelung ihrer männlichen Gegenparts: »Zunächst aufgestachelt wie Furien«, würden sie sich »langsam in ihr Schicksal, der nahenden Niederlage, ergeben.« Die Frage, welche gesellschaftliche Stellung Frauen im anderen Land einnahmen, spielte eine wichtige Rolle im grenzübergreifenden Dialog der Redakteure der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« und der »Presse Médicale«. Das Bild der deutschen Frau als »Gebärmaschine« konsolidierte in Frankreich das eigene nationale und ärztliche Selbstverständnis in Abgrenzung zum Feindesland. Das wurde auch in Deutschland vermerkt. Julius Schwalbe zitierte seinen französischen Kollegen Helme, nach dem »die deutsche Frau noch nicht den ihr gebührenden Platz einnimmt, denn die Deutschen betrachten sie immer noch, wie ihre Ahnen, als die Sklavin des Kriegers«.200 Schwalbe setzte kommentierend hinzu: »Danach hätte wohl der Vierverband die Aufgabe, nicht nur das deutsche Volk vom Militarismus und die süddeutschen Staaten von der Herrschaft Preußens, sondern auch die deutschen Frauen aus der Sklaverei ihrer Ehemänner zu befreien!« Die Auseinandersetzung macht deutlich, welche große Bedeutung die Frau in der Konstituierung der eigenen nationalen Identität besaß. Sie wurde nicht nur als Trägerin der Nation vereinnahmt, indem sie durch ihre Gebärfunktion den zukünftigen Volksbestand sicherte. Das Frauenbild diente zugleich den Ärzten im propagandistischen »Kulturkrieg« nationaler Zuschreibungen.

199 Helme, L’influence de quatre années de guerre sur la santé de la femme allemande, in: PM, partie paramédicale, 5. September 1918, Nr. 49, S. 578; Helme zitiert Schülein, Über den Einfluß des Krieges auf die Erkrankungen des weiblichen Geschlechts, in: DMW, 6. Juni 1918, Nr. 23, S. 630–632. 200 Schwalbe, J., in: DMW, 6. Juli 1916, Nr. 27, S. 830.

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VI. Zwischenbilanz: Die Syphilis als nationale Gefahr Sowohl die französischen als auch die deutschen Ärzte hoben die sexualhygienische Erziehung als das effizienteste Mittel im Kampf gegen die venerische »Volksseuche« hervor. Da es sich dabei allerdings um einen langwierigen Prozess handelte, stand angesichts der alarmierenden Berichte über die emporschnellenden Geschlechtskrankenraten bald außer Frage, dass es die Notsituation des Krieges erforderte, andere Wege zu beschreiten. Allein auf moralisch prophylaktische Maßnahmen konnte nicht vertraut werden. Die neuen militärischen Kontrollmöglichkeiten galt es auszuschöpfen, notfalls auch mit Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen. Im Vordergrund stand zunächst die Rationalisierung der üblichen Behandlungsformen, um eine militärisch notwendige Effizienz der Therapie zu ermöglichen. Die Arbeits- und militärischen Kräfte geschlechtskranker Soldaten sollten nicht brachliegen, sondern für das Vaterland nutzbar gemacht werden. In beiden Ländern setzte sich die Vorkriegsmaßnahme durch, nicht nur die Frau, vor allem die Prostituierte, den prophylaktischen Untersuchungen zu unterziehen, sondern auch den Mann als etwaigen Übertragungsträger ins Visier zu nehmen. In Frankreich gab diese Situation den Anstoß für eine flächendeckende Implementierung der ambulanten Behandlungsform nach militärischem Muster. Wie in der neunten Region unter Gougerot entstand ein Geflecht an zivilen und militärischen Einrichtungen, deren Kontrolle in einer spezialistischen Hand zusammengefasst war. In Deutschland bestand auf Grund des bereits aufgebauten Versicherungssystems und der weiteren Verbreitung der Polikliniken dafür keine Notwendigkeit. Mit zunehmender Kriegsdauer stellte sich immer dringlicher die Frage, wie bei einer bevorstehenden Demobilisierung der Militärbevölkerung eine Verseuchung der gesamten Bevölkerung verhindert werden könne. Wie wirkte man der Schwemme der in die Heimat zurückkehrenden etwaigen Krankheitsträger entgegen? In beiden Ländern scheiterten die Lösungsversuche. In Frankreich konnte sich das »cabinet prophlyactique«, d.h. eine kontinuierliche Zwangsuntersuchung aller Soldaten mit Strafandrohung, nicht durchsetzen. Der Versuch, das amerikanische System auf freiwilliger Basis weiterzuführen, musste ebenfalls eingestellt werden. In Deutschland verhinderten paradoxerweise die Bedenken der Militärbehörden, die geschlechtskranken Soldaten ohne ihre Einwilligung an die Landesversicherungsanstalten zu übermitteln, ein engmaschiges Netz an Kontrolle über die Militärbevölkerung. Dennoch konnte das Beraterkonzept im zivilen Bereich einen langlebigen Erfolg für sich verbuchen. Der Vergleich der beiden Debatten um die Einführung von militärischen Zwangsmaßnahmen zeigt, dass die deutschen Zivilärzte sich erstaun178 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

lich gut in die militärischen Rahmenbedingungen einfügten. Sie waren die unangefochtenen Spezialisten in venerologischen Fragen und mussten ihren Kompetenzbereich nicht gegenüber den Militärärzten abstecken. Ohne jegliche Probleme wurde der bereits in der Vorkriegszeit vorherrschende Diskurs über die soziale Verantwortung, die jeder Bürger gegenüber der Allgemeinheit zu tragen habe, der neuen Kriegssituation angepasst. Sich für sein Vaterland gesund zu erhalten, erhoben Ärzte zu einer sittlichen und militärischen Pflicht, die Ansteckung stellte in diesem Sinne eine Pflichtverletzung dar. Keiner wurde von dieser Pflicht entbunden, ob es sich nun um ranghöhere Offiziere und einfache Mannschaften handelte. Damit setzten sich die Debatten der Vorkriegszeit über eine Gefahr, welche die gesamte Bevölkerung betraf, nahtlos fort. In Frankreich herrschte hingegen Uneinigkeit, wie man sich als Zivilarzt innerhalb der neuen militärärztlichen Instanzen zu behaupten hatte und wo die Grenzen der neuen Befugnisse lagen. Der nicht-spezialistisch ausgebildete Frontarzt, der den Soldaten kameradschaftlich verbunden war, wurde dem Heimatarzt als ein Gegendbild entgegengesetzt. Die Debatten in der Académie de Médecine – das höchst angesehene Expertengremium für hygienische Gesundheitsangelegenheiten – belegen dieses Unbehagen, aus der Kriegssituation tatsächlich Nutzen zu ziehen. Die Akademiemitglieder sahen durchaus die Gunst der Stunde, die wichtigsten Kenntnisse über sexualhygienische Erfordernisse in die breite Bevölkerung zu tragen und das Verantwortungsgefühl zu schärfen. Zugleich wollten sie der ständigen Todesbedrohung Rechnung tragen. Der Soldat, zumal der Offizier, war auch in Gesundheitsfragen zumindest für die Kriegszeit den Moralvorstellungen enthoben. Diese Selbstbilder der französischen Zivilärzte wurden in Abgrenzung gegenüber dem Feindbild des deutschen Arztes aktiviert: Im Dienst des Staates und des Militärapparates würden diese ihre liberale Profession und das auf Vertrauen und dem Berufsgeheimnis basierende Verhältnis zwischen Arzt und Patient verleugnen. Daran ändere sich auch nichts, so die französischen Ärzte, wenn der Patient ein Angehöriger der militärischen Streitkräfte war. So stark die ärztlichen Vorstellungen auf der einen und der anderen Seite der Frontlinie über eine lückenlose Kontrolle der geschlechtskranken Militärpersonen voneinander abwichen, so wenig grundlegend unterschieden sich die Handlungsoptionen gegenüber der Zivilbevölkerung. Die Frau, ob nun die professionelle oder die »geheime« Prostituierte, stellte eine erhöhte Gefahr für die Kampfesfähigkeit des Soldaten dar. Der Krieg hatte die Ängste um die Zunahme der heimlichen Prostitution weiter geschürt. Dem geschlechtskranken, verheirateten Mann wurde die untreue Kriegerfrau in der Heimat gegenübergestellt. Deswegen sollte, nach Meinung der Ärzte beider Länder, zu drastischen Mitteln gegriffen werden. In der Prostitutionsfrage beobachtet man eine rückläufige Entwicklung gegenüber der Vorkriegszeit, in der viele Ärzte 179 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

eine polizeiliche Überwachung ablehnten. Die Ausnahmesituation des Krieges erfordere ein massives Einschreiten: Nur durch Zwangsinternierung und -behandlung könne die Gesundheit der Vaterlandsverteidiger bewahrt werden. Diese Maßnahmen wurden in Deutschland sowohl für die eigene als auch für die feindliche Bevölkerung in den besetzten Gebieten befürwortet. Es handelte sich auf beiden Seiten um eine innergesellschaftliche Debatte. Dem Feind im eigenen Land galten die Bemühungen der Ärzte und nicht dem etwaigen feindlichen Übertragungsträger, etwa den Kriegsgefangenen oder den feindlichen Soldaten in den besetzten Gebieten. Auch bezüglich der Kriegsgefahren, denen Frauen in der Heimat ausgesetzt waren, ähneln sich die ärztlichen Vorstellungen in beiden Ländern. Der Vergleich der Debatte um die Kriegsvergewaltigungen hat deutlich gemacht, wie auf beiden Seiten dem Kriegsopfer Frau bevölkerungsstrategische Bedenken entgegengesetzt wurden. Eine Abtreibung der ungewollten Frucht lehnten deutsche wie französische Ärzte in ihrer Mehrheit ab. Es war eine deutsche Besonderheit, dass sich im hohen Maße auch Gynäkologen mobilisierten, um dem ungünstigen Kriegseinfluss auf die weibliche Gebärfunktion entgegenzuwirken. Ihr Expertenwissen ermöglichte es ihnen, die Kriegssituation wissenschaftlich zu nutzen. Der Krieg begünstigte die ärztliche Vision einer quantitativ und qualitativ gesteuerten Geburtenpolitik.

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3. Teil: »Les blessés sans blessure«1 Die Schockwirkungen des Kriegs

In der Forschung der letzten Jahre ist das Interesse an den psychischen Traumatisierungen infolge des Kriegserlebnisses stark angestiegen.2 Wenn auch mit leichten Akzentverschiebungen, verbinden diese Untersuchungen psychiatriegeschichtliche Ansätze mit einer Kultur- und Sozialgeschichte des Krieges. Bereits Mitte der 1970er Jahre hatte die Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger in ihrer Pionierstudie über die traumatische Neurose diesen Weg beschritten und die Geschichte der Krankheit nicht allein von einer wissenschaftsgeschichtlichen Warte aus, sondern mit Hilfe sozial- und kulturgeschichtlicher Ansätze untersucht.3 Die Beschäftigung mit dem Phänomen der »Kriegsneurosen« blieb nicht allein den Medizinhistorikern vorbehalten. Mit fortschreitender psychiatriegeschichtlicher Aufarbeitung konnten sich »Kriegsneurosen« in den 1990er Jahren in einer neuen Militärgeschichte, die sich den Alltagserfahrungen der Kriegsteilnehmer widmete, fest etablieren. Die zuckenden, zitternden und schüttelnden Bewegungen der Kriegsneurotiker schienen das individuelle Kriegserleben zu reproduzieren und lenkten das Augenmerk auf den Menschen, der in einem hoch technologisierten Krieg in den Hintergrund gedrängt wurde. So traten neben Ego-Dokumente, wie Kriegstagebücher und Feldpostbriefe, auch medizinische Quellen, die einen neuen Zugang zu den Alltagserfahrungen der Kriegsteilnehmer eröffneten. Im folgenden Kapitel geht es weniger darum, vom medizinischen Diskurs auf die Kriegserfahrungen der Soldaten zu schließen. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage, wie französische und deutsche Ärzte das vielgestaltige »Krankenmaterial« der neuro-psychisch Erkrankten identifizierten, sortierten und nach militärärztlichen Maßstäben bewerteten. Die Bildung einer ärztlichen Einheitsfront im Kampf gegen die psychischen Erkrankungen bedeutete gleichsam eine innerkollegiale Verständigung darüber, wie die explosionsartig 1 Pierre, M., Préface, in: Léri, S. V: »Die Verletzten ohne Verletzung«. 2 Allgemein zur Kriegspsychiatrie in kulturgeschichtlicher Perspektive siehe Winter, Shellshock, S. 7–11; Micale u. Lerner, Trauma, S. 1–27; Ulrich, Nerven, S. 163–192. Zur deutschen Psychiatrie im Ersten Weltkrieg siehe Riedesser u. Verderber; Komo; Lerner, Hysterical Men; Lengwiler; Zur österreichischen Psychiatrie siehe Hofer; Zur französischen Psychiatrie im Ersten Weltkrieg Roudebush, A Battle of Nerves; Delaporte, Névroses, S. 357; Becker, Guerre totale, S. 135– 151; dies., The Avant-Garde, S. 71–84. 3 Fischer-Homberger, Die traumatische Neurose; dies., Der Begriff.

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freigesetzte Brutalität des Kriegs auf den Gesellschaftskörper wirke, wie dieser beschaffen sein müsse, um diesen gewaltigen Einwirkungen standzuhalten, und nicht zuletzt, was der Arzt dazu beitragen könne, um seine psychische Leistungsfähigkeit zu erhalten und zu stärken. Trotz des derzeitigen großen Forschungsinteresses an den psychischen Wunden des Krieges wurde bisher nur wenig vergleichend geforscht.4 Das mag auch daran liegen, dass auf den ersten Blick die Gemeinsamkeiten zwischen der französischen und der deutschen Ärzteschaft zu überwiegen scheinen.5 In Frankreich wie in Deutschland gab es eine ähnliche Bandbreite an Therapiemöglichkeiten. Im Laufe des Krieges wurden hier wie dort immer brutalere Schocktherapien eingeführt. Auch für die Kriegsrenten war es für die Soldaten von großem Belang, ob bei ihnen eine rein psychische Erkrankung diagnostiziert wurde oder ob sie als »organisch Verwundete« galten. In beiden Ländern setzten sich die Ärzte dafür ein, die psychisch Erkrankten deutlich geringer zu entschädigen als die körperlich Versehrten. In beiden Ländern nahmen die Militärregierungen Kenntnis von den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Ärzte über die Natur der Erkrankung, was sich als günstig für die Belastungen des Staatshaushalts erwies. In einem ganz anderen Licht erscheinen die beiden Ärzteschaften, wenn man auf diskursiver Ebene den innerärztlichen Austausch über »Kriegsneurosen« betrachtet. Die Unterschiede, die eine solche Untersuchung zu Tage befördert, sind sowohl inhaltlicher Natur als auch in der Diskussions- und Streitkultur des jeweiligen Landes begründet. Innerhalb des ärztlichen fachlichen Austauschs ging es verstärkt um wissenschaftliche und professionsspezifische, weniger um militärische Belange − was nicht zugleich heißt, dass er vom Krieg unbeeinflusst blieb. Neurologie und Psychiatrie hatten sich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert stark professionalisiert.6 Die »Seelenspezialisten« nahmen innerhalb der Ärzteschaft eine immer höhere Stellung ein und produzierten zudem außerhalb ihres eigentlichen Wirkungsbereiches wichtige gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen. Das Klientel der vormaligen »Irrenärzte« hatte sich in dem Maße erweitert, in dem in ihr Blickfeld nicht nur 4 Eine Ausnahme bilden Winter (Hg.), Le choc traumatique, mit Beiträgen von Annette Bekker, Sophie Delaporte, Antonio Gibelli, Paul Lerner, George L. Mosse, Marc Roudebush und Jay Winter; sowie Micale u. Lerner (Hg.) mit Beiträgen von Peter Leese zur britischen, Bruna Bianchi zur italienischen, Caroline Cox zur amerikanischen, Paul Lerner zur deutschen und Marc Roudebush zur französischen Kriegspsychiatrie. 5 Auf diese Gemeinsamkeiten macht auch jüngst aufmerksam Ulrich, Kriegsneurosen, S. 655: »In der britischen und französischen Armee gestaltete sich die Situation grundsätzlich ähnlich [wie in der deutschen]. Das Spektrum der diagnostischen Sichtweisen und therapeutischen Möglichkeiten in der Behandlung der Kriegsneurosen bzw. des »shell-shock« oder des »choc traumatique« bzw. der hystérie de guerre« glichen denen in Deutschland«. 6 Goldstein; Dowbiggin, Inheriting Madness; Engstrom; Roelcke, Krankheit.

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irreversible Erkrankungen, sondern vorübergehende Befindlichkeitsstörungen und leichtere Beschwerden traten. Psychiater erschlossen sich das Bildungsbürgertum als neue Patienten. Der Erste Weltkrieg trug zudem erheblich dazu bei, reversible psychische Leiden auch unter der Bevölkerungsgruppe der Arbeiter zu diagnostizieren. Der Krieg warf mit besonderer Dringlichkeit eine Frage auf, die bereits einige Jahrzehnte zuvor im Brennpunkt der wissenschaftlichen Diskussion gestanden hatte. Welche Faktoren waren bei der Entstehung und dem Verlauf psychischer Erkrankungen ausschlaggebend und wie waren sie untereinander zu gewichten?7 Die Kriegsdebatten setzten in vielen Punkten diese Vorkriegsdiskussionen fort, in denen die Ätiologieforschung einen breiten Raum eingenommen hatte. Ärzte traten vor allem als Wissenschaftler auf, die dank des reichen Beobachtungsmaterials ein neues Licht auf die alte Frage nach dem Zusammenspiel von Körper und Seele in der Entstehung von Krankheiten warfen. Einen ganz erheblichen Teil der Kriegsdebatten um die neuro-psychischen Störungen nahm die Frage ein, ob es sich um organisch Verwundete handelte, deren verletztes Substrat nur noch nicht aufgefunden war, oder ob die Erkrankung nicht eher psychischen Ursprungs war. Bereits die Bezeichnung »seelische Krüppel« bzw. »eclopés du système nerveux« [Krüppel des Nervensystems] deutet darauf hin, dass es um mehr ging als nur um ein wissenschaftlich aktuelles Problem. Konnte man im Krieg die Nerven verlieren, wie ein Bein, einen Arm oder das Gesicht? Durfte und sollte man also die »blessés sans blessure« auf eine gleiche Stufe mit denjenigen Kriegsversehrten stellen, deren körperliche Entstellungen jedem ins Auge sprangen? Vor dem Hintergrund einer physisch und psychisch im höchsten Maße geschädigten Bevölkerung fand eine Hierarchisierung der verschiedenen Kriegsschädigungen statt, im Zuge derer die Frage nach dem somatogenen oder dem psychogenen Ursprung der Erkrankung eine immer wichtigere Rolle spielte. Das wird im ersten Abschnitt der Studie untersucht. Im zweiten Teil verengt sich der Blickwinkel auf diejenigen Ärzte, die eine organische Verwundung ausschlossen und die Krankheitsursache in den falschen Vorstellungen, dem unzureichenden Willen zur Gesundung und allgemeiner im Geisteszustand des Betroffenen verorteten. Diese individuellen Zuschreibungen einer selbst produzierten Erkrankung nahmen in Deutschland wie in Frankreich unterschiedliche Formen an, die es hier gegenüberzustellen gilt. Vor dem Krieg kam der inneren Veranlagung zur Krankheit, ob diese nun erworben oder vererbt war, eine große Bedeutung zu. Inwieweit der Krieg und seine gewaltigen Einwirkungen diese Annahme in ihren Grundfesten erschütterte, wird im dritten Kapitel untersucht. 7 Zur Ursachenerforschung in der Medizin allgemein siehe Gradmann u. Schlich (Hg.); zu psychiatrischen Konzepten siehe den Aufsatz von Roelcke, Laborwissenschaft, S. 93–116.

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Die ungeheuerlichen Affektwirkungen des Krieges, wie Schrecken, Todesangst und Erschöpfung, schienen indes der Theorie einer selbst produzierten Erkrankung zu widersprechen. Konnte sich ein Individuum gegen diese überwältigenden und ohne Unterlass auf ihn einbrechenden Einwirkungen überhaupt wehren? Wie müsste der Einzelne beschaffen sein, um nicht nur dem äußeren Feind, sondern dem Ereignis Krieg Widerstand zu leisten? Diese Fragen werden im vierten Teil aufgeworfen. Hier weitete sich der ärztliche Blick und nahm nicht nur den Soldaten, sondern auch die in Mitleidenschaft gezogene Zivilbevölkerung in Augenschein.

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I. Kriegsverwundete oder »seelische Krüppel«?8 Noch zögerlich gegen Ende des ersten Kriegsjahres 1914, jedoch mit unauf haltsamer Dringlichkeit in den Folgejahren, diskutierten Ärzte auf ihren nationalen und regionalen Zusammenkünften die psychischen und nervösen Folgen des Krieges. In einem solchen Ausmaß und einer solchen Intensität waren psychische und nervöse Störungen vorher noch nie zur Beobachtung gekommen. Aus der Fülle der Beispiele sollen hier zwei Krankengeschichten, die im Stuttgarter Ärztlichen Verein Anfang 1915 vorgestellt und diskutiert wurden, ausführlicher wiedergegeben werden: »Herr A. Zeller stellt zwei Soldaten vor, die Granatkontusionen erlitten hatten. Der eine war von einer vorbeifliegenden Granate, ohne selbst getroffen zu werden, zu Boden und über eine Böschung hinabgeworfen worden; er verlor die Besinnung, weiss aber nicht, wie lange er bewusstlos dalag. Als er wieder zu sich kam, konnte er mit Unterstützung gehen und kam in ein Lazarett. Bei dem anderen platzte eine Granate in einiger Entfernung von ihm, überschüttete ihn mit Erde, ohne ihn ernstlich zu verletzen, nur ein kleiner Splitter machte eine unbedeutende Wunde am Kopf. Auch er war eine Zeitlang bewusstlos. Beide zeigen dieselben Erscheinungen, eine eigentümliche, stark vornübergebeugte Körperhaltung, so dass Rumpf und Beine einen Winkel von etwa 120° bilden. Sie sind nicht imstande, sich aufzurichten, und setzten jedem Versuch, dies zu tun, Widerstand entgegen. Bisweilen treten Zuckungen der Rumpfmuskulatur auf. Die Reflexe sind erhöht. Irgend eine anatomische Veränderung ist nicht zu finden. Diese Granatkontusionen, besser Luftkontusionen, galten den älteren Kriegschirurgen als feststehendes Axiom, wurden später in das Reich der Fabel verwiesen und die Verletzten oft für Simulanten gehalten. Jetzt weiss man, dass es sich um rein funktionelle Erscheinungen handelt, die zu dem grossen Gebiet der traumatischen Neurose gehören. Die Behandlung ist eine sehr schwierige.«9

Die Ärzte standen zunächst ratlos vor diesen Männern, die am ganzen Leibe zitterten, deren Lähmung oder Verkrampfung der Gliedmaßen sich auch mit brachialer Gewalt nicht mehr lösen ließen und die sich nicht mehr oder nur noch in eigentümlichen, quasi clownesken Verrenkungen fortbewegen konnten. Nicht nur die Motorik, auch die Sinnesorgane waren von solchen Störungen betroffen. Die dem Granatfeuer ausgesetzten Soldaten ertaubten, verstummten, er8 Der Begriff »seelischer Krüppel« stammt von Fauser, Kurze Übersicht über die auf der psychiatrischen und der Psychopathen-Abteilung des Bügerhospitals an Militärpersonen beobachteten Fälle von Psychosen und Neurosen, Kriegsärztlicher Abend in Stuttgart am 18. Februar 1915, in: MCWÄL, 22. Mai 1915, Nr. 21, S. 209. Siehe hierzu eine ganz ähnliche Begrifflichkeit vom französischen Arzt Grasset, J., Le traitement des psychonévroses de guerre, in: PM, 28. Oktober 1915, Nr. 52, S. 452, der von den »éclopés du système nerveux«, den »Krüppeln des Nervensystems« sprach. 9 9. Kriegsärztlicher Abend am 21. Januar 1915 des Stuttgarter ärztlichen Vereins, in: MCWÄL, 13. Februar 1915, Nr. 7, S. 66f.

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blindeten vollkommen oder zeigten weitere psychische Störungen wie etwa Apathie oder Delirium. Groß war die Bandbreite der beobachteten Störungen und im Laufe des Kriegs kamen immer neue hinzu. Nun wurden alle Störungen ohne sichtbare Verletzungen, etwa innere Krankheiten, wie Blasen-, Magen- und Darmleiden, ganz besonders auch Ischias und Rheumatismus, auf ihre organischen oder psychischen Ursachen hin untersucht. Davon ausgenommen wurden auch nicht nervöse Erkrankungen nach Schussverletzungen, insbesondere Schädelschüssen. Waren die äußerlich erkennbaren Verletzungen ausgeheilt und dauerten die Krankheitsbilder trotzdem weiter an, riskierten solche Soldaten ebenfalls, als Kriegsneurotiker eingestuft zu werden. Zumeist ging diesen klinischen Krankheitsbildern ein traumatisches Erlebnis voraus, d.h. eine Gewalteinwirkung auf Körper und Psyche.10 Mechanische Erschütterungen durch Granaten, Schusswunden, Verschüttungen, eine schwere Infektionskrankheit oder die Folgen von Gaseinwirkungen auf den Körper konnten beispielsweise eine nervös-psychische Störung zur Folge haben. Oft traten diese Störungen nicht sofort, sondern erst nach einer mehr oder weniger langen Bewusstlosigkeit auf. Es häuften sich Krankengeschichten von Soldaten, die zunächst noch einige Stunden oder auch Tage nach einer Explosion in ihrer unmittelbaren Nähe ihrem Tagesgeschäft normal nachgehen konnten, bevor sie erkrankten. Ebenso konnten »seelische Erschütterungen« zu traumatischen Erlebnissen werden. Es genüge etwa, so der Psychiater Gaupp zu Kriegsbeginn, ein Schreck- und Schockerlebnis wie der Anblick toter Kameraden, aber auch andauernde seelische Erregungen, Angst, Trauer, die Sorge um das Wohl der Familie, um nervöse und psychische Störungen auszulösen.11 In Frankreich wurden dafür die Begriffe »commotion«, also die Erschütterung durch Explosionen, und »émotion« geprägt und von »commotionnés de la guerre« wie von »émotionnés de la guerre« gesprochen. Die genaue Anzahl der Hysteriefälle im Krieg ist unbekannt. Für Deutschland beziffert Whalen die neurologischen Störungen auf 313 337 Fälle, was etwa 1,7% der Gesamtzahl derjenigen Soldaten ausmachte, die von Ärzten behandelt wurden.12 In Frankreich standen für die psychisch Erkrankten 20 000 Betten zur Verfügung, etwa ein Siebtel aller Lazarettbetten.13 Die Ärzte des Krieges sprachen von einer epidemischen Ausbreitung der Psychoneurosen. Konfrontiert mit dem massenhaften Auftreten dieser Krankheitsbilder konnten die Ärzte noch auf keine gefestigten Lehrmeinungen zurückgreifen. Der wechselnde und oftmals widersprüchliche Sprachgebrauch spiegelt den zöger10 Der Trauma-Begriff wird hier rein medizinisch gebraucht, im zeitgenössischen Sprachgebrauch war damit oft ausschließlich eine körperliche Einwirkung gemeint. Siehe das Klinische Wörterbuch von 1934: Dornblüth (Hg.), S. 507: »Trauma: Verletzung, Wunde.« 11 Gaupp, R., Hysterie und Kriegsdienst, in: MMW, 16. März 1915, Nr. 11, S. 361. 12 Whalen, S. 53. 13 Delaporte, Névroses, S. 357.

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lichen Umgang mit dem Phänomen dieser Psychoneurosen wider. Ob die Störungen als hysterisch und psychogen zu bezeichnen seien, ob man eher von Psychoneurose, traumatischer Neurose oder Unfallneurose sprechen sollte, darüber herrschte in der deutschen und französischen Ärzteschaft keine Einigkeit, geschweige denn eine allgemein verbindliche Sprachregelung. Zudem entsprangen die Begriffe nicht nur einer wissenschaftlichen Bestimmung des Einzelfalles, sondern auch dem »sozialen Gesichtswinkel« des Arztes, wie das der Neurologe W. Cimbal aus Altona folgendermaßen auf den Punkt brachte: »Wer den Ausdruck »traumatische Neurose« braucht, spricht damit die Anschauung aus, daß die langsame Weiterentwicklung eines angeborenen minderwertigen nervösen Charakters im Anschluß an ein nur auslösendes, nicht ursächliches Ereignis den Minderwertigen zur Rentenentschädigung berechtigt. Wer den Ausdruck »Rentenhysterie« oder »Rentenneurose« braucht, lehnt schon in der Benennung die vorstehend geschilderte Weltanschauung ab. Die beiderseitigen Schlagworte sind lediglich Verdeckungen dieser sozialpolitischen Weltanschauungen, die damit ungebührlich die Stelle der rein sachlichen Erörterung der Krankheitsbilder in der wissenschaftlichen Diskussion eingenommen haben.«14

Es ging also um viel mehr als nur um eine genaue wissenschaftliche Bestimmung der Entstehungsweise, Natur und Prognose der nervös-psychischen Störungen im Krieg. Eng mit der wissenschaftlichen Diskussion verzahnt war die Frage, wer für das nervliche und psychische Versagen im Krieg verantwortlich zu machen sei. Der Krieg mit seiner beispiellosen Häufung an traumatischen Ereignissen oder das Individuum, das diesen Insulten nicht standzuhalten vermochte? Handelte es sich um Kriegsverwundete mit allen Rechten auf staatlichen Entschädigungsleistungen oder schlicht und einfach um Individuen, die dem Krieg nervlich und psychisch nicht gewachsen waren? Sollte man sie gar als Simulanten bezeichnen, die ihre Kameraden im Schützengraben im Stich ließen?

1. Der Siegeszug der psychogenen Krankheitstheorie in Deutschland Die Geschichte der Diagnose »traumatische Neurose« erstreckt sich auf den Zeitraum von etwa 1860 bis 1920.15 Begonnen hatte diese Entwicklung mit den Opfern von Eisenbahn- und später von Arbeitsunfällen. Sie fand ihren Höheund gleichzeitigen Schlusspunkt in Form der Kriegsneurose während des Ersten Weltkriegs. Den verschiedenen Formen der traumatischen Neurose ist gemeinsam, dass es sich bei den Erkrankten größtenteils um Männer handelte. 14 Cimbal, W., Benennung nervöser Zustände in Gutachten, in: NeurZbl, 1. Oktober 1915, Nr. 19, S. 710, rezensiert in: DMW, 3. November 1915, Nr. 45, S. 1352. 15 Zum Folgenden vgl. Fischer-Homberger, Die traumatische Neurose.

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Überdies hatte die ärztliche Diagnose direkten Einfluss auf die Entschädigungspraxis der Eisenbahngesellschaften, Versicherungsanstalten oder in Kriegszeiten des Staates. Im Verlauf dieser Entwicklung wurde zwar die Einheitlichkeit der Symptomatik nicht in Frage gestellt, Vorstellungen über Ursache und Bezeichnung der Erkrankung erfuhren jedoch entscheidende Veränderungen. Der englische Arzt John Eric Erichsen sprach zunächst von »railway spine« und lokalisierte als Sitz der Krankheit das geschädigte Rückenmark. Bei Kriegsbeginn war die Frage nach dem organischen oder rein psychischen Ursprung der hysterischen Krankheitsbilder nach traumatischen Ereignissen nicht neu.16 Für den Neurologen Hermann Oppenheim, der den Begriff »traumatische Neurose« prägte, verursachten zwar feine, molekulare, anatomisch nicht nachweisbare Läsionen im Nervensystem die neurotischen Störungen.17 Dennoch schloss er seelische Komponenten in der Krankheitsverursachung nicht gänzlich aus. Psychische Erschütterungen, geistige Überanstrengung sowie körperliche Erschöpfung spielten durchaus eine wichtige Rolle. Die wissenschaftliche Ursachenforschung ging gleichwohl in eine andere Richtung: Oppenheim wollte die körperliche Grundlage der krankhaften seelischen Äußerungen ausfindig machen. Mit dieser wissenschaftlichen Ausrichtung stand er nicht allein, im Gegenteil: Das Gros der Neurologen schloss sich ihm an. Zwar hatte sich bereits vor dem Krieg das Interesse der Spezialisten auf die psychologischen Komponenten bei der Entstehung von Neurosen, etwa der Schreckwirkung, verschoben. Dass ein organisch lädiertes Substrat dem Krankheitsbild zugrunde lag, wurde dennoch nicht grundlegend bezweifelt. Nicht etwa grundsätzlich verschiedene Ansichten über die Natur und die Entstehung psychisch-nervöser Erkrankungen, sondern ein Nebeneinander unterschiedlicher Forschungsinteressen waren demnach für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kennzeichnend. Das Jahr 1916 brachte einen Wendepunkt in den Anschauungen über die kriegsbedingten psychischen Folgeerscheinungen. Mit äußerster Vehemenz, ja, Unerbittlichkeit wurden auf der Münchener Kriegstagung im September 1916 die Gegner der psychogenen Krankheitsverursachung bekämpft, so dass diese zur unumstrittenen und allgemeingültigen Ansicht avancieren konnte. Auf der Münchener Zusammenkunft bezeichnete die Mehrheit der anwesenden Psychiater und Neurologen, darunter Max Nonne, Robert Gaupp und Karl Bonhoeffer, die medizinisch-naturwissenschaftliche Betrachtungsweise über die traumatische Neurose, d.h. die Rückführung auf ein pathologisch verändertes organisches Substrat, wie sie von Oppenheim vertreten wurde, schlicht als Irrweg. Im Gegenzug trat die psychologisch-spekulative Theorie als die al16 Zur Debatte »Somatiker« versus »Psychiker« siehe etwa Jaspers, S. 709; Kutzer, S. 27–47. 17 Zur Hermann Oppenheim siehe Lerner, Hysterical Men, S. 27ff; ders., Niedergang und Fall.

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lein Gültigkeit beanspruchende Theorie in den Vordergrund. Damit war das Nebeneinander der beiden Theorien, das vordem im psychiatrisch-neurologischen Diskurs vorherrschend gewesen war, aufgebrochen und einer Gegenüberstellung von einer gültigen und einer ungültigen Theorie gewichen. Diese unversöhnliche Haltung einer Mehrzahl der anwesenden Neurologen und Psychiater ist umso erstaunlicher, als Oppenheim selbst in seinem Tagungsbeitrag seinen wissenschaftlichen Kontrahenten Zugeständnisse machte und es ihm augenscheinlich ein großes Anliegen war, Brücken zwischen den Verfechtern und Gegnern der psychogenen Krankheitstheorie zu bauen. So begann er seine Ausführungen mit den Worten: »Unsere heutige Besprechung steht im Zeichen des Krieges. Wir betreten ein Feld des Kampfes und der Gegensätze. Soweit es an mir liegt, soll jedoch die Erörterung vom Geist des Friedens getragen sein.«18 Er selbst gestehe ein, das Ausmaß der im Krieg zur Beobachtung kommenden hysterischen, d.h. psychogen bedingten Störungen unterschätzt zu haben. Der »Wille zur Genesung« spiele in der Entstehung und Prognose der Krankheiten eine wichtige Rolle, so dass man zum Wohle des Patienten und für dessen schnelle Heilung von einer hohen Rente absehen sollte.19 Damit gab er seinen »Feinden« in vielen Punkten durchaus Recht, wenn er auch an dem Grundsatz festhielt, nicht alle zur Beobachtung kommenden Störungen auf diese »Begehrungsvorstellungen« zurückführen zu können und es sich auch um tatsächlich Verletzte handele. »Ich halte es gewiss für wahrscheinlich, dass wir mit diesen Grundsätzen [einmalige niedrige Kapitalabfindung statt laufende Zahlungen hoher Renten, Nachuntersuchungen und keine Anerkennung einer allgemeinen Erwerbsunfähigkeit] in manchem Falle den Verletzten unrecht tun werden, aber im Interesse des Grossen und Ganzen müssen diese Unbilligkeiten in Kauf genommen werden.«20

Innerhalb der deutschen Ärzteschaft geriet Oppenheim, der bereits vor der Münchener Kriegstagung nicht unumstritten war, noch mehr ins wissenschaftliche Abseits. Nach der Münchener Tagung florierte die Diagnose »psychogene Krankheit« im ärztlichen Fachdiskurs. So möchte der beratende Neurologe des Heeres Max Lewandowsky nur bei schweren Gehirnverletzungen und Schädelverletzungen nicht ausschließen, dass kleinere Blutungen und Nekrosen die Grundlage der krankhaften Erscheinungen bildeten. Lediglich in diesen frag18 Oppenheim, S. 3–37. 19 Ebd., S. 35f: »In der Rentenfrage habe ich mich schon seit dem Beginn des Krieges für verpflichtet gehalten, alles zu vermeiden, was dem Verletzten den Rentengenuss als etwas Begehrenswertes erscheinen lassen könnte. Ich gebe gern die Erklärung ab, dass mich dabei auch die Anschauungen und Erfahrungen meiner Fachgenossen beeinflusst und mein Urteil modifiziert haben.« 20 Ebd., S. 36.

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lichen Fällen sollten die Ärzte »zu gunsten der Verletzten« urteilen.21 Bei allen übrigen krankhaften Erscheinungen stünde eine psychische Verursachung außer Zweifel. Als psychische Ursachen kämen zum einen die Schreckwirkungen bei Granatexplosionen in Betracht, zum anderen der »unbewusste Wunsch, sich dem Kriegsdienst zu entziehen und in die Heimat zurückzukehren«. So zählte für Lewandowsky im Krankheitsbild der Granatkontundierten allein die Schreckwirkung. Manche Ärzte wendeten die Diagnose »psychogene Erkrankung« fast unbegrenzt an. So sah der fachärztliche Beirat für Innere Medizin des XIII. Armeekorps Liebermeister »das Charakteristische der Kriegsneurosen nicht in der Form des einzelnen Krankheitsbildes […], sondern in der Massenhaftigkeit der Erkrankungen. Die Kriegsneurosen verhielten sich in dieser Beziehung gerade so wie ›epidemische Infektionskrankheiten‹.«22 Unter diese Kategorie zählte er beispielsweise Herzbeschwerden, Migräne – von der zusätzlich behauptet wurde, sie sei eine iatrogene Krankheit 23 −, psychogene Pseudorheumatismen, Schüttelzittern, Blasenschwäche, hysterische Wutanfälle und Blutungen. Liebermeister konstruierte also eine Entität aller dieser höchst unterschiedlichen Krankheitsbilder einzig und allein auf Grund eines vermeintlich gemeinsamen Entstehungsmechanismus − der psychogenen Pathogenese, die größtenteils, so Liebermeister, auch auf Simulation hinweisen könnte − sowie auf Grund der Tatsache ihres epidemischen und infektiösen Auftretens. Nicht zuletzt, um den militärärztlichen Kategorien, der Unterscheidung von somatogen und psychogen gerecht zu werden, unterwarfen die Ärzte in ihren Publikationen nun alle Beschwerden und Erkrankungen ohne sichtbare äußere Verletzung dem Generalverdacht, kein eigentlich organisches, sondern ein psychogenes Leiden zu sein. Nach den großen Feldzügen und Offensiven der Jahre 1915 und 1916 brachte der Stellungskrieg in der Tat ganz neue kriegsbedingte Erkrankungen hervor als der Bewegungskrieg mit seinen zahlreichen Schuss- und Explosionsopfern. Gerade bei Soldaten, die an Rheumatismus und Ischias litten, waren die Ärzte bemüht, die organischen von den psychogenen Fällen zu trennen. Waren die Betroffenen erst einmal als Kriegsneurotiker erkannt und 21 Lewandowsky, M., Erfahrungen über die Behandlung nervenverletzter und nervenkranker Soldaten, in: DMW, 30. Dezember 1915, Nr. 53, S. 1565–1567. 22 Liebermeister, Verhütung von Kriegsneurosen, nach einem in Stuttgart gehaltenen kriegsärztlichen Vortrag am 26. Januar 1918, in: MCWÄL, 31. August 1918, 35, S. 307. Auch Magenerkrankungen wurden mit Vorliebe als psychogen diagnostiziert: siehe Crämer, Magenkrankheiten und Krieg, in: MMW, 21. August 1917, Nr. 34, S. 1117–1119. 23 Unter iatrogener Krankheit, von iatros der Arzt, versteht man eine durch ärztliche Einwirkung verursachte oder gar verschuldete Erkrankung. In diesem speziellen Fall meinte Liebermeister eine iatrogene Häufung der Erkrankungsform, d.h. allein schon dadurch, dass sich Ärzte eingehender mit einem einzelnen, an Migräne erkrankten Patienten beschäftigten, kamen mehrere Migränefälle in der Armee zur Beobachtung.

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eingestuft, sollten sie auch dementsprechend behandelt werden, so etwa ein Arzt vor seinen Kollegen in der »Niederrheinischen Gesellschaft der Naturund Heilkunde« in Bonn im Oktober 1917: statt warmer Bäder die Anwendung von Elektroschocks.24 Das Bild der psychisch bedingten Erkrankung verbreitete sich nicht zuletzt auf Grund der redundanten Berichterstattung innerhalb der breiten Ärzteschaft. Der Schriftleiter der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift«, Julius Schwalbe, appellierte beispielsweise an die Krankenhausärzte, die neuesten wissenschaftlichen Kriegserkenntnisse über den Ursprung zahlreicher Krankheiten zu berücksichtigen.25 Von dem Wissen über den tiefgehenden Einfluss des Psychischen auf die Organfunktionen, wie sie die Fachärzte anhand des Kriegsmaterials herausgearbeitet hätten, sollten nicht nur Privatpatienten, sondern auch Krankenhausinsassen profitieren. Angesichts der Wirkungslosigkeit der therapeutischen Verordnungen gerade im Krankenhaus überließe man das Feld den Naturheilkundigen und Kurpfuschern, an die sich enttäuschte Patienten wenden würden, wenn man den neuesten Forschungsstand nur unzureichend berücksichtige. In Deutschland kam der einzige Widerstand gegen diese Dominanz der psychogenen Krankheiten bezeichnend genug nicht aus den Reihen der Neurologen und Psychiater, sondern von einem Orthopäden. Zu einem Zeitpunkt, als die psychogene Krankheitsverursachung bereits zur alleingültigen Lehrmeinung aufgestiegen war, im März 1917, warf der Dresdener Orthopäde Alfred Schanz ein neues Licht auf das Krankheitsbild der »Schüttler«.26 Niemand habe, so Schanz, daran gedacht, bei diesen Patienten die Wirbelsäule zu untersuchen. Bei einer solchen Untersuchung stelle man allerdings fest, dass die Tragkraft der Wirbel durch eine Stauchung der Wirbelsäule geschädigt sei. Das Schütteln werde in folge dessen als Reflexstörung hervorgerufen. Die Patienten seien nicht nerven-, sondern wirbelsäulenkrank (»Insufficientiae vertebrae«) und müssten dementsprechend mit einem Stützkorsett und einem Rumpfgipsverband versehen werden. Schanz gab an, dass er das Krankheitsbild auch bei einer Krankenschwester beobachtet habe, die weder Trauma noch Schreck er24 Raether, M., Psychogene Ischias, in: DMW, 13. Dezember 1917, Nr. 50, S. 1576; ders., Fall von psychogener Versteifung der Wirbelsäule, in: DMW, 7. Juni 1917, Nr. 23, S. 735. In ihren Bemühungen, das Phänomen der hysterischen Erkrankungen differenzierter zu betrachten, lag den französischen Ärzten eine solche Ausweitung des Phänomens der psychogenen Krankheiten, etwa auf rheumatische Beschwerden, fern. Es finden sich hierfür keine Belege in den einschlägigen Publikationsorganen. 25 Schwalbe, J., Soziale Krankenhausfürsorge, in: DMW, 30. Dezember 1915, Nr. 53, S. 1578– 1580. 26 Zum Folgenden siehe Schanz, A., Zur Pathologie und Therapie der Schüttler, in: MMW, 20. März 1917, Nr. 12, S. 403–405. Das Krankheitsbild der »Insufficientiae vertebrae« hatte Schanz bereits 1907 beschrieben: ders., Eine typische Erkrankung der Wirbelsäule (Insufficientia vertebrae), in: BklW, 5. August 1907, Nr. 31, S. 986–992.

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lebt hätte und allein durch die erschöpfende Tätigkeit im Lazarett die gleichen Krankheitssymptome wie »unsere kopfschüttelnden Soldaten« zeigte. Es verwundert nicht, dass ihm die Neurologen und Psychiater äußerst heftig widersprachen. Lewandowsky appellierte an die Orthopäden, sich des Urteils der Neurologen zu versichern, auch sie hätten erst im Krieg »mit Staunen gelernt, was alles hysterisch bzw. psychogen sein und wie es geheilt werden kann«. 27 Vor allem warnte Lewandowsky vor den Behandlungsmethoden von Schanz: Für den Soldaten sei der Apparat »die Bescheinigung seiner Krankheit«. Auch Weber hob die heilungshinderliche Suggestivkraft hervor, die solche Apparate und die somatogene Diagnose »Insufficientiae vertebrae« auf den Soldaten ausübten: »Für den kranken Laien sind »Wirbelsäule«, »Rückenmark«, »Rückgrat« ohnehin ominöse Worte, die im höchsten Masse suggestiv im Sinne der Fixierung einer Krankheitsvorstellung wirken und das noch besonders, wenn die Verbalsuggestion der Diagnose dem Kranken durch jahrelanges Tragen eines Korsetts auch körperlich eingehämmert wird. Selbst wenn er dadurch das »Schütteln« los wird, wird er immer unter dem Eindruck stehen, dass »an seinem Rückgrat etwas kaput ist« und bei jeder Gelegenheit hier neue Beschwerden bekommen.«28

2. »Commotion« und »émotion« in Frankreich Seit 1878 hatte sich der Neuropsychiater und seinerzeit international bekannteste französische Arzt Jean-Martin Charcot den psychischen Krankheitsbildern nach traumatischen Erlebnissen gewidmet.29 1882 wurde eine eigene Sektion an der Salpêtrière eingerichtet, in der Fälle männlicher Hysterie nach Eisenbahn- und Arbeitsunfällen, aber auch ehemalige Soldaten des 1870/71er Krieges untersucht wurden. Neben Erschöpfung, Herzrasen, Kopf- und Rückenschmerzen kamen hier auch die später im Krieg von 1914/18 so eindrücklichen Krankheitsbilder der Schüttler und Zitterer und andere motorische Störungen zur Beobachtung. Charcot glaubte, dass die traumatische Erfahrung bei prädisponierten Individuen diese Symptome hervorrufen könne. Er betonte ebenso die pathogene Wirkung der Emotionen, vor allem der Angst, die durch das 27 Lewandowsky, M., Zur Behandlung der Zitterer. Zu dem Aufsatz von A. Schanz zur Pathologie und Therapie der Schüttler in Nr. 12 der MmW, in: MMW, 17. April 1917, Nr. 16, S. 542. 28 Weber, L.W., Hysterische Schüttelerkrankungen und »Insufficientiae vertebrae« (Schanz), in: MMW, 1. Mai 1917, Nr. 18, S. 606; rezensiert in: DMW, 24. Mai 1917, Nr. 21, S. 668. Auch der beratende Orthopäde beim IV. Armeekorps Blencke setzt sich für die Einstufung des Schüttelns als hysterische Krankheitserscheinung ein: Blencke, A., Hysterische Schüttelerkrankungen und Insufficientiae vertebrae, in: MMW, 5. Juni 1917, Nr. 23, S. 767; ders., Die Beziehung der »Schüttelerkrankungen« zur Insufficientiae vertebrae, in: DMW, 12. Juli 1917, Nr. 28, S. 879. 29 Siehe Micale, Jean-Martin Charcot, S. 115–139.

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Trauma freigesetzt wurden, und grenzte diese stark von einem generellen Simulationsverdacht ab. Damit war ein wichtiger Schritt zur Psychologisierung des Krankheitsbildes gerade von einem Wissenschaftler getan, der sich ganz und gar als Kliniker und Somatiker verstand. Der Historiker Mark Micale stellt in seinen Untersuchungen zu Charcot diesen als eine »Figur des Übergangs« heraus: »While working within the reigning neurophysiological paradigm of this time, with its emphasis on the anatomy and biology of heredity, he granted greater causal latitude to the role of the emotions than earlier medical writers.«30 Zahlreiche Schüler Charcots, etwa Joseph Babinski und Paul Sollier, beteiligten sich maßgeblich an der Kriegsdebatte um die Beurteilung der psychischen Kriegsversehrten.31 Auch in Frankreich wurde die Frage aufgeworfen, ob es sich bei der Masse der »funktionellen Erkrankungen« um organisch »Verwundete«, deren lädiertes anatomisches Substrat nur nicht nachweisbar war, oder um hysterisch Erkrankte handele. Zu Beginn des Krieges waren die Ärzte schnell bei der Hand, die Diagnose »hystérie« oder »pithiatisme« zu stellen. Den Begriff »pithiatisme« prägte 1901 Joseph Babinski, der ihn vom griechischen peithein »überzeugen« und iatos »heilbar« ableitete.32 Diese Thesen widersetzten sich den Behauptungen des organischen Ursprungs der Hysterie. Sie gründeten auf drei Annahmen: 1. Das hysterische Symptom könne nicht physiologisch erklärt werden; 2. es setze in Krankheitsbilder um, was auch vom Willen umgesetzt werden könne; 3. es resultiert aus einer Suggestion und könne durch eine Gegensuggestion, etwa in Form von Überredung [persuasion] geheilt werden. In den Jahren 1908 und 1909 hatte die Pariser Société de Neurologie darüber debattiert, ob die Babinskische neue Krankheitseinheit der »troubles pithiatiques« die Hysterie, wie sie Charcot beschrieben hatte, ersetzen sollte.33 Auf Grund der Meinungsverschiedenheiten unter den Spezialisten kam es indes zu keiner Einigung. Das änderte sich zu Kriegsbeginn: Die optimistische Diagnose einer leicht behandelbaren und heilbaren Krankheit hatte vorerst Konjunktur. Charcot hatte noch einen allgemeinen Simulationsverdacht solcher Patienten von der Hand gewiesen. Doch die Grenze zur Simulation verschwamm zunehmend. 34 Schon 30 Ebd., S. 123. 31 Ebd., S. 131. 32 Siehe hierzu Postel u. Quétel (Hg.), S. 289. 33 Réunion annuelle de la Société de Neurologie de Paris et de la Société de Psychiatrie de Paris, Séance du 9 décembre 1909, in: Encéphale, Nr. 1, 1910, S. 213–220; siehe hierzu auch Roudebush, A Battle of Nerves, in: ders. u. P. Lerner (Hg.), Traumatic Pasts, S. 260ff. 34 Marie, P., Préface, in: Léri, S. I: »Wie sehr haben sich in den zwei letzten Kriegsjahren die Meinungen über die Frage der ›commotionnés‹ geändert! In den Jahren 1914 und 1915 hatten die meisten unter uns sie noch tendenziell entweder als reine Nevropathen und Psychopathen angesehen oder gar als Übertreiber und Simulanten.«

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Babinski hatte eine Parallele zwischen dem »pithiatique« und dem Simulanten gezogen. Es gäbe kein Kriterium, anhand dessen zwischen Suggestion hervorgerufenen und simulierten Erkrankungen unterschieden werden könne. 35 Infolge des inflationären Gebrauchs der Diagnose Hysterie setzte jedoch schon bald eine Debatte ein, die ein differenzierteres Bild der zur Beobachtung kommenden Störungen zeichnete. Besonders bei den Granatkontundierten schien es einer Vielzahl von Ärzten schlicht und einfach nicht einsichtig, dass die gewaltigen Explosionen des Krieges, die permanenten Luftdruckveränderungen, denen die Soldaten im Felde ausgesetzt waren, keine Wirkungen auf den Körper haben sollten. Gerade weil der Mechanismus der Entstehung funktioneller Störungen bei Explosionsopfern noch weitgehend unerforscht war, trat in der französischen Ärzteschaft verstärkt die Tendenz hervor, diese »commotionnés de la guerre« als eine »classe à part« zu bezeichnen, über die man noch keine gesicherten wissenschaftlichen Aussagen treffen könne.36 Diese Vorsicht der französischen Ärzte war nicht nur für die ersten Kriegsjahre charakteristisch. In Frankreich drehte sich ein Großteil der Kriegsdebatte darum, ob es einen Unterschied zwischen den mechanisch und den seelisch Erschütterten gäbe. Die griffigen Bezeichnungen »commotionnés« und »émotionnés« dominierten die Debatte über die vier Kriegsjahre hinweg.37 Drei Tendenzen kristallisierten sich im Laufe der Debatte heraus38: Am einen Ende des Meinungsspektrums stand Gilbert Ballet, der die »commotionnés« mit den »émotionnés« gleichsetzte und das Studium des mechanischen Erschütterungszustandes als ein Kapitel aus der Pathologie der Emotionen hielt: »Die Granatkontusion [l’ébranlement par déflagration] beinhaltet immer auch eine Affekterregung [émotion], und aus dieser Affekterregung zieht sie auch ihre kausale Wirksamkeit: Was auch immer den Erschütterungszustand hervorgerufen hat, ob es nun eine Granat-, Bomben oder Minenexplosion war, der Anblick von Kadavern, die Verschüttung in einem Bombentrichter, eine Verwundung durch Granatsplitter oder eine Schussverletzung, einzig und allein der Faktor Emotion zählt. Er ist im wesentlichen für die neuro-psychischen Störungen verantwortlich.« 39

Bekannte Neuropsychiater wie Gustave Roussy und Jean Boisseau schlossen sich dieser Meinung an. Neurologen wie Georges Guillain und Paul Ravaut formu35 Roudebush, A Battle of Nerves, in: ders. u. P. Lerner (Hg.), Traumatic Pasts, S. 261. 36 Déjerine, J. u. E. Gauckler, Le traitement par l’isolement et la psychothérapie des militaires atteints de troubles fonctionnels du système nerveux, in: PM, 30. Dezember 1915, Nr. 64, S. 521f. 37 Dupré, E., Emotion et commotion. Sitzung in der Académie de Médecine am 30. Juli 1918, in: BAM, Bd. 80, 1918, S. 124–134. 38 Siehe hierzu auch: Charon, R. u. G. Halberstadt, Les troubles psychiques des commotionnés, in: PaM, Bd. 25, 1917, S. 23f. 39 Ballet, G. u. J. Rogues de Fursac, Les psychoses «commotionnelles» (psychose par commotion nerveuse ou choc émotif ), in: PaM, Bd. 19, Nr. 1, 1916, S. 3f.

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lierten indes eine gegensätzliche Ansicht: Bei den mechanisch Erschütterten handele es sich um organisch Verwundete, weswegen sie gesondert von den psychisch Erkrankten betrachtet werden müssten. Guillain hielt das Vorkommen nervöser, hysterischer Störungen durchaus für möglich, wenn auch nicht für den Regelfall. Die nervösen Erscheinungen nach einer Granatexplosion seien oftmals durch organische Läsionen des Zentralnervensystems bedingt, die höchstwahrscheinlich auf kleinere diffuse Blutungen zurückzuführen seien.40 Auch Paul Ravaut machte in seinem Bericht vor der Académie de Médecine darauf aufmerksam, dass es besonders wichtig sei, die Betroffenen unmittelbar nach der Erschütterung zu untersuchen. Die Untersuchung der Zerebrospinalflüssigkeit gäbe dann Aufschluss über organische Veränderungen, die einige Tage nach dem Unfall bereits wieder verschwunden seien. Er plädierte dafür, die Betroffenen nicht gleich als »névropathes«, »hystérique« oder gar als »simulateurs« zu bezeichnen, nur weil man das lädierte organische Substrat noch nicht aufgefunden habe. Bei der Entstehung solcher Erkrankungen wollte er die Rolle der traumatischen Hysterie massiv eingeschränkt, ja, gleich gänzlich gestrichen sehen.41 Mit Guillain und Ravaut setzten sich auch weitere renommierte Psychiater und Neurologen dafür ein, doch mit der Diagnose »Hysterie« zu Gunsten der Betroffenen sparsamer umzugehen und bei nicht auffindbarer Läsion nicht sofort auf eine psychische Erkrankung zu schließen. Im Gegenteil, der Arzt sollte sich nur zu dieser Diagnose durchringen, wenn er alles andere eindeutig ausgeschlossen habe.42 Manche Ärzte gingen auf diesem somatogenen Weg noch einen Schritt weiter. Die Verfechter der Theorie, es handele sich bei den betroffenen Soldaten tatsächlich um »Verwundete« obgleich ohne sichtbare Verwundung, verschafften sich nicht nur bezüglich der Granatkontundierten massiv Gehör. Sie zweifelten ebenfalls die körperliche Unversehrtheit der »émotionnés« stark an, also derjenigen Soldaten, die nicht mechanisch, sondern durch Schreck- oder Schockeinwirkungen erschüttert wurden. Häufig zitiert wurden die Arbeiten des Biologen Crile, der in Tierversuchen traumatische, d.h. mechanische und psychische Schockwirkungen sukzessive untersucht hatte. Dabei hatte er herausgefunden, dass ein mechanischer oder psychischer Schock gleiche organi40 Guillain, G., Les crises épileptiques consécutives à l’explosion des projectiles sans plaie extérieure, in: PM, 17. Mai 1915, Nr. 23, S. 181–182. 41 Ravaut, P., Les blessures indirectes du système nerveux déterminées par «le vent de l’explosifs». Sitzung in der Académie de Médecine vom 22. Juni 1915, in: BAM, Bd. 73, 1915, S. 717–720, rezensiert in: PM, 26. August 1915, Nr. 39, S. 313–315. Die Ausführungen Ravauts wurden auch in Deutschland zur Kenntnis genommen, in: DMW, 2. März 1916, Nr. 9, S. 272. 42 Delherm, L. u. Py, De l’importance de bien différencier les manifestations organiques des manifestations chez les blessés de guerre, in: Journal de Radiologie et de l’Electrologie, Nr. 11, November 1915, S. 625–628, rezensiert in: PM, 24. Juli 1916, Nr. 41, S. 348: »on ne doit arriver au diagnostic de pithiatisme que par élimination.«

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sche Veränderungen hervorrief.43 Ebenso hatten Georges Dumas und Malloizel gezeigt, dass unter Einfluss der Emotionen der Druck der Zerebrospinalflüssigkeit variierte. Angesichts dieser Forschungsergebnisse schloss der Neurologe Paul Sollier seinen Aufsatz mit der Feststellung, dass es sich bei der Hysterie also im Wesentlichen um eine physiologische Störung handele, in der sich organische und psychologische Faktoren in unterschiedlichen Proportionen verbänden. Es sei schließlich von den Bedingungen, unter denen die Störung aufgetreten sei, abhängig, ob mehr der organische oder eher der psychologische Faktor dominiere.44 Auf große Resonanz stießen die Versuche des Neurologen André Léri, das »Krankenmaterial« in zwei Kategorien einzuteilen. Bei den »commotionnés vrais« müsse man eine makroskopische oder auch mikroskopische Läsion im Nervensystem annehmen, selbst wenn diese noch nicht nachweisbar sei. Die zweite Kategorie der »commotionnés faux« sei bei weitem zahlreicher als die erste. Es handele sich dabei um die eigentlichen hysterischen, vielfach auch simulierten Störungen. Léri legte gegen Kriegsende eine umfangreiche Untersuchung über die Unterscheidung zwischen »commotionnés« und »émotionnés« vor, die wohl die Bemühungen der französischen Ärzte um Trennschärfe zu einem Abschluss brachte.45 Léris Verdienst war es aufzuzeigen, dass man wohl zwischen den mechanisch und seelisch Erschütterten unterscheiden könne. Bis jetzt, so Léri, hätten die Ärzte die Kranken nur in den Heimatlazaretten untersucht, wo sich die Krankheitsbilder von »commotionné«, »émotionné« tatsächlich äußerst ähnlich seien. Ein anderes Bild ergäbe sich aber auf dem Schlachtfeld (»champ de bataille«), in den Erste-Hilfe-Stationen (»poste de secours«) direkt hinter der Front sowie in den Etappenlazaretten (»ambulance«), in welche die Soldaten nach der ersten Grundversorgung gebracht wurden. Nur eine solche Untersuchung kurz nach dem traumatischen Ereignis, gleich hinter der Feindesgrenze erlaube Rückschlüsse auf die tatsächliche Art und Weise der Erschütterung und bestimme auch die Therapieform sowie militärärztliche Entscheidungen. Trotz mancher Einwände war mit den Ausführungen Léris die Diskussion zu einem Schluss gekommen: Die »commotionnés« und die »émotionnés« des Krieges stellten keine klinische Einheit dar. Sie waren vielmehr zwei unterschiedliche Krankheitsbilder, die getrennt voneinander zu betrachten seien. 43 Crile, S. 52–54. Crile und seine Theorien wurden beispielsweise wohlwollend erwähnt von Mairet, A. u. H. Piéron, Le syndrome »commotionnel« du point de vue du mécanisme pathogénique et de l’évolution. Sitzung in der Académie de Médecine am 22. Juni 1915, in: BAM, Bd. 73, 1915, S. 712; eher ablehnend stand ihnen gegenüber: Dupré, E., Emotion et commotion. Sitzung in der Académie de Médecine am 30. Juli 1918, in: BAM, Bd. 80, 1918, S. 131. 44 Sollier, P. u. M. Chartier, La Commotion par explosifs et ses conséquences sur le système nerveux, in: PaM, Nr. 24–25, 1915, S. 414. 45 Léri.

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Die Debatte an sich zeichnete sich durch eine große Nähe zum Kriegsgeschehen aus. Ärzte versuchten, die Entstehung dieser Erkrankungen bis auf das Schlachtfeld zurückzuverfolgen. Bereits die Begriffe »commotion« und »émotion« fassten einen Teil der kriegerischen Realität: Die permanenten Explosionen, der Schrecken durch den Anblick der Toten sowie die ständige akustische Überflutung ließen sich darunter subsumieren. Die Begriffe wurden zwar keineswegs in der Kriegszeit geprägt. Sie ermöglichten es den französischen Ärzten dennoch, die Krankheitskonzepte und -ursachen in den Entstehungskontext zu stellen, der begrifflichen Kriegsschöpfung des englischen »shellshock« nicht unähnlich. In Deutschland gab es keine analogen Begrifflichkeiten hierfür. Hier wurde die allgemeine Bezeichnung traumatische Neurose oder Hysterie sowie psychogene Erkrankung bevorzugt. Allein die Diagnose »Granatkontusion« gab die mechanische Erschütterung wieder, von der eine Vielzahl der Soldaten betroffen war. Sie verschwand aber in dem Maße aus dem Sprachgebrauch, in dem sich die Theorie von der Psychogenie durchzusetzen vermochte. Es blieb nicht allein bei der Unterscheidung zwischen »commotionnés« und »émotionnnés«. Die scheinbar so allumfassende Kategorie der Hysterie wurde weiteren Angriffen ausgesetzt und somit die körperliche Unversehrtheit eines Teils der Erkrankten angezweifelt. Diesmal waren weniger der Entstehungskontext als die Krankheitssymptome an sich entscheidend. Es war gerade der Neurologe, der den hysterischen Krankheitsbegriff als eine »durch Fremd- oder Selbstüberzeugung heilbare Krankheit« am weitesten gefasst hatte, der diese Vorstellungen einer organischen, aber mit den aktuellen Investigationsmitteln nicht nachweisbaren Erkrankung wirkungsvoll bündelte und in einem Begriff verdichtete. Joseph Babinski stellte im Januar 1916 in der Académie de Médecine einen Patienten vor, dessen Hand gelähmt war und der, da sich keine Anzeichen einer organischen Ursache ergaben, lange Zeit erfolglos psychotherapeutisch behandelt und schließlich der Simulation verdächtigt worden war.46 Anhand dieses Falles schloss Babinski, dass es sich um ein besonderes, noch unbekanntes Krankheitsbild handeln müsse, dessen Funktionsweise noch zu entschlüsseln sei.47 Die Bedeutung, die den »troubles physiopathique« oder »troubles réflexes« wie Babinski sie in späteren Publikationen nannte, von der französischen Ärzteschaft beigemessen wurde, war zunächst eine rein wissenschaftliche. Es handelte sich um ein Krankheitsbild, das noch nicht beschrieben worden war und deswegen ein besonderes wissenschaftliches Interesse der Ärzte auf sich zog. Babinski versuchte damit die unübersichtli46 Babinski, J. u. J. Froment, Paralysie et hypotonie réflexes avec surexcitabilité mécanique, voltaïque et faradique des muscles. Sitzung der Académie de Médecine am 11. Januar 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 40–47. 47 Ebd., S. 44.

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che Krankheitsgruppe der »hystéro-traumatisme«, die sich durch eine große Vielzahl und Vielseitigkeit an klinischen Erscheinungsbildern (Lähmungen, Kontrakturen, Ausfall der Sinnesorgane, psychische Zustände wie Apathie und Delirien) kennzeichnete, auseinanderzudividieren, indem er innerhalb dieser Gruppe ein eigenständiges klinisches Krankheitsbild identifizierte: Neben den hysterischen Erscheinungen, die durch Fremd- oder Eigensuggestion behoben werden könnten, traten im Kriegsgeschehen motorische Störungen wie Lähmungen, Kontrakturen und Spasmen auf, die auf eine physiologische Hemmung der Reflexe zurückzuführen waren.48 Dass tatsächlich eine organische Verwundung die Störungen verursachte, schien Babinski schon dadurch glaubhaft, dass sie auch im tiefen, künstlich herbeigeführten Chloroformschlaf andauerten. Der Arzt müsse sich gegen den leichtfertigen Umgang der Diagnose »Hysterie« zur Wehr setzen, in der man »wie in einen Abfalleimer alles werfe, was man nicht in einer Schublade einordnen könne«. Überzeugt davon, dass die Störungen nicht vom Willen beeinflusst werden könnten, appellierte er an die Ärzte, sie nicht mit hysterischen und neuropathischen Erscheinungen zu verwechseln. Für die Unfallverletzten und für die Kriegsverwundeten hätte diese Verkennung der wahren Natur der Störung schwere Folgen.49 Die neu identifizierte Krankheitseinheit der »troubles physiopathiques« wurde nicht zuletzt auf Grund des Renommees ihres Erfinders in den ärztlichen Fachdiskurs ohne nennenswerte Widerstände integriert. So beklagte sich der Gerichtsmediziner Paul Chavigny Mitte 1916 darüber, dass es nicht mehr in Mode sei, die Diagnose auf Hysterie zu stellen und deswegen viele Fälle verkannt und – was noch bedauernswerter sei – falsch behandelt würden.50 Wenn auch die Thesen Babinskis in toto kaum angegriffen wurden, so fanden doch partielle Verschiebungen in der Bedeutung und der Auswertung des vorliegenden Krankenmaterials statt. Der »Erfinder« selbst hatte in seinen 1917 erschienenen Publikationen die Bedeutung seines Fundes beträchtlich eingeschränkt. Er wehrte sich ausdrücklich gegen die Fehlinterpretation seiner Thesen, jede

48 Darunter befanden sich Krankheitsbilder wie etwa typisch »hysterische« Verkrampfungen und Spasmen, die auch unter den Namen »main figée«, »pied bot«, »pied de cheval« oder »genou fléchi« bekannt waren. Diese Krampfzustände der Hände und Füße machten einen normalen Gebrauch der Gliedmaßen unmöglich. 49 Babinski, J. u. J. Froment, Paralysie et hypotonie réflexes avec surexcitabilité mécanique, voltaïque et faradique des muscles. Sitzung der Académie de Médecine am 11. Januar 1916, in: BAM, Bd. 75, 1916, S. 46f: »La volonté est, en effet, sans action sur ces manifestations nerveuses. En les confondant avec les troubles dits névropathiques, hystériques, en méconnaissant leur nature et leur valeur on commet une erreur susceptible de conséquences graves quand il s’agit d’accidents du travail et plus encore lorsqu’on a affaire, comme dans les circonstances présentes, à des blessures de guerre.« 50 Chavigny, P., Les maladies méconnues. Anesthésie et analgésies hystériques, in: PaM, Bd. 19, Nr. 9, 1916, S. 214f.

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auftretende Störung in diesem Gebiet als eine »physiopathische« anzusehen.51 Es sei seit dem ersten Vortrag über diese neue Krankheitseinheit dazu gekommen, so Babinski bedauernd, dass Personen mit motorischen Störungen rein hysterischer Natur, vor allem Krampfzustände und Spasmen, mit Verweis auf den Status eines »organisch Verwundeten« eine finanzielle Entschädigung erhalten hätten. Die hysterischen Störungen, folgerte er weiter, nähmen immer noch einen beträchtlichen Teil der psychisch-nervös Erkrankten ein. Am häufigsten beobachte man ursprüngliche organische Verletzungen, auf die sich hysterische Symptome aufgepfropft hätten. Das sei umso bedauerlicher, als diese Hysteriker, deren Krankheit bei unverzüglich einsetzender Therapie leicht zu heilen sei, für den Militärdienst verloren gingen. Diese konziliante Haltung Babinskis brachte die Diskussion erst recht in Gang. Mitte 1917 wurde eine dritte Phase der changierenden Interpretation um die nervös-psychischen Kriegserkrankungen eingeläutet: Nachdem zu Beginn des Krieges die Diagnose »Hysterie« bzw. »pithiatisme« eindeutig bevorzugt worden war, ab Mitte 1915 die Aufmerksamkeit vermehrt auf die eventuellen organischen Kriegsschädigungen gerichtet wurde mit der Bündelung dieser Vorstellungen in dem Babinskischen Begriff der »troubles physiopathiques« ( Januar 1916) und der »commotion«, kehrten die Ärzte in den letzten beiden Kriegsjahren tendenziell wieder zu ihrer ursprünglichen Diagnose »Hysterie« zurück. Im ärztlichen Fachdiskurs gewann die Vorstellung wieder an Bedeutung, dass die Kriegsstörungen auf rein psychische Komponenten zurückzuführen waren. Die Existenz organischer Läsionen wurde zwar nicht gänzlich bestritten, ihr kam fortan jedoch weniger Gewicht zu. Kennzeichnend für die französische Debatte der Kriegsjahre war, dass die jeweiligen Meinungen sich nicht unversöhnlich gegenüberstanden. So stellte etwa der Arzt des Krankenhauses Saint-Joseph in Paris und behandelnder Arzt eines Centre neurologique, Jean Ferrand, das Vorkommen physiopathischer Störungen nicht in Abrede. Er verwies jedoch auf die klinischen Ähnlichkeiten zwischen psycho- und physiopatischen Störungen, auf Grund derer er es schlichtweg ablehnte, eine eigene klinische Krankheitseinheit zu konstituieren, wie es das Anliegen Babinskis gewesen war. Besonders hob Ferrand hervor, dass der geistige Zustand, der »état mental«, der von physio- oder psychopathischen Störungen Betroffenen der gleiche sei. Zum größten Teil handele es sich um »contagionnés par l’exemple«, also um Betroffene, die am Beispiel anderer Kranken angesteckt wurden. In allen Fällen handele es sich um Männer, die sich eine falsche mentale Vorstellung von ihrer Krankheit und den Krankheitsfolgen machten. Jede Therapie sei gut, wenn sie nur diesen geistigen Zustand modifiziere. Dabei hielt Ferrand jede Therapie für erlaubt, sei sie 51 Babinski u. Froment; dies., Troubles physiopathiques d’ordre réflexe. Association avec l’hystérie – évolution mesures médico-militaires, in: PM, 9. Juli 1917, Nr. 38, S. 385f.

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auch noch so hart. Es galt, alle Therapiemöglichkeiten auszuschöpfen, um das weitere »Fortschreiten der Verseuchung« zu verhindern.52 Gustave Roussy machte bereits im Januar 1915 seine Kollegen darauf aufmerksam, dass bei der Vielzahl der zur Beobachtung kommenden funktionellen Erkrankungen, u.a. bei den Explosionsopfern, zwar minimale Läsionen nicht ganz auszuschließen seien, der Erkrankungsmechanismus jedoch ein psychologischer sei. Das hysterische Element spiele die hauptsächliche Rolle, so Roussy, der seine Thesen nicht zuletzt dadurch bestätigt sah, dass er nach eigenen Angaben mit psychotherapeutischen Mitteln eine fast 100% Heilungsquote zu verzeichnen hatte. Nachdem Babinski seine Ansichten über das »neue« Krankheitsbild der »troubles physiopathique« veröffentlicht hatte, versuchte Roussy auch in Fällen, die eindeutig als physiopathische Störungen diagnostiziert wurden, eine Mischung aus Psycho- und Physiotherapie und hatte Erfolg. In einer Sitzung der Société de Neurologie im Juli 1917 stellte er fest, dass zwar die Natur und Pathogenese der psycho-neuropathischen Störungen unterschiedlich sein können. In beiden Fällen – Hysterie oder Physiopathie – sei der psychische Zustand des Patienten im Heilungsprozess von entscheidender Bedeutung.53 Damit widersprach Roussy seinen Kollegen Joseph Babinski und Froment nicht grundsätzlich, da auch er mit der Mehrheit der Spezialisten die klinische Einheit der physiopathischen Störungen nicht anzweifelte. In der Behandlung mache das aber keinen Unterschied. Skepsis gegenüber den großen Heilerfolgen Roussys blieb nicht aus: Vincent Clovis traute den günstigen Heilungsaussichten nicht, die Roussy seinen Patienten bescheinigte.54 Zwar könnten die hysterischen Krankheitssymptome durch psychotherapeutische Mittel durchaus zum Verschwinden gebracht werden, die »physiopathischen Störungen« allerdings seien äußerst hartnäckig und widersetzten sich der Psychotherapie. Im Laufe des Krieges entwickelte Gustave Roussy mit seinen beiden Kollegen Jean Boisseau und der Ärztin D’Oelsnitz eine eigene Interpretation, die sie »théorie dyskinétique« nannten. Bei den Verkrampfungen, Lähmungen und Spasmen handelte es sich danach um motorische Störungen, die ursprünglich hysterischer Natur seien. Den primären hysterischen Störungen seien sekundäre, organische gefolgt, etwa dadurch, dass ein Gliedmaß über eine längere Zeit hinweg überhaupt nicht mehr (»immobilisation«) oder falsch (»attitudes 52 Ferrand, J., De l’unité clinique et pathogénique de tous les hystéro-traumatismes, in: PaM, Bd. 23, Nr. 25, 1917, S. 511f; ders., Hystéro-traumatisme avec syndrome dit «physiopathique» guéri par la rééducation, in: PrM, 10. Mai 1917, Nr. 10, S. 83. 53 Roussy, G. u.a., L’influence du facteur psychique dans la guérison des psychonévroses de guerre. Sitzung in der Société de neurologie am 5. Juli 1917, in: PM, 19. Juli 1917, Nr. 39, S. 413. 54 Vincent, C., Pronostic des troubles nerveux physiopathiques. Sitzung in der Société de Neurologie, 11. April 1918, in: PM, 13. Mai 1918, Nr. 27, S. 251.

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vicieuses«) gebraucht worden war.55 Der »état mental du sujet« spiele hier eine wichtige Rolle. Es handele sich durchgehend um »willensschwache, mehr oder weniger verkommene« Patienten, die ähnlich wie die Betroffenen der Arbeitsunfälle alles daran setzten, den Gebrauch des Gliedmaßes endgültig zu verlieren. Deswegen zeitige auch die Psychotherapie so große Erfolge. So war gegen Kriegsende die »Hysterie« im Vergleich zu den physiopathischen Störungen wieder neu gewichtet worden. Fortan erklärten wieder mehr Ärzte, dass man versuchen sollte, auf den unzureichenden Genesungswillen des Individuums einzuwirken und nicht ein organisches Leiden zu heilen.

55 Roussy, G. u.a., Eléments de prédisposition et causes déterminantes des troubles secondaires de l’hystérie. (L’immobilisation ou l’utilisation vicieuse; Le terrain circulatoire, l’état mental), in: PM, 12. Dezember 1918, Nr. 69, S. 637–640.

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II. Das mangelnde Gesundheitsgewissen 1. Die »Begehrungsvorstellungen« in Deutschland Die Mehrheit der deutschen Ärzte sprach sich dafür aus, dem psychischen und nicht dem organischen Moment die wichtigste Bedeutung bei der Entstehung solcher kriegsbedingten Krankheitsfälle einzuräumen. Innerhalb dieser Meinung konnten allerdings die Akzente unterschiedlich gesetzt werden. Einige Ärzte legten den Nachdruck auf die zahlreichen und außergewöhnlichen Affekte des Krieges, die in ihrer Schreck- und Schockwirkung ein so unvorstellbares Ausmaß angenommen hätten, dass sie die Störungen auslösten. Die Mehrheit der deutschen Psychiater und Neurologen wendete sich gegen diese externalisierende Tendenz, welche die Entstehung der Erkrankung auf Faktoren verlegte, die von außen auf das Individuum einwirkten. Sie befürworteten vielmehr einen internalisierenden, ideogenen Entstehungsmechanismus, innerhalb dessen das Konzept der »Begehrungsvorstellungen« eine wichtige Rolle spielte. Bereits 1888 hatte Adolf Strümpell den Begriff der »Begehrungsvorstellungen« für die sogenannte »Rentenhysterie« nach Arbeitsunfällen geprägt.56 Nach dieser Theorie lasse der Wunsch nach einer finanziellen Entschädigungsleistung erst die eigentliche hysterische Krankheit entstehen, die sich auf die ursprüngliche Unfallverletzung aufpfropfe. Den Boden zur Entstehung solcher hysterischen Erscheinungen haben, so Strümpell, die Unfall- und Versicherungsgesetze bereitet. In Deutschland war die Diskussion um die Kriegsneurotiker in vielem lediglich eine Fortsetzung der in den Vorkriegsjahren geführten Debatten um die »Rentenhysterie«. Nur zu leicht schien sich das Erklärungsmuster der »Rentenhysterie« auch auf die »Kriegshysterie« übertragen zu lassen. Besonders eindrücklich hat das der »Erfinder« der Begehrungsvorstellungen Adolf Strümpell selbst beschrieben: »Man versetze sich aber einmal in die Seele eines im Kriege von einem schreckhaften Ereignis betroffenen Soldaten. Alle grauenvollen Erlebnisse stehen dauernd vor seiner Erinnerung. Er ist ihnen zwar glücklich entronnen und statt in der Hölle des Granatfeuers liegt er wohlgeborgen im Lazarett unter freundlichster Pflege und Behandlung. Aber er hat den Zusammenbruch seines Nervensystems erlebt, er hat das Bewußtsein, seine Gesundheit dem Vaterlande geopfert zu haben. Und nun weiß er, dass ihm alle Anstrengungen, alle Schrecknisse, Gefahren und Greuel des Krieges aufs neue bevorstehen, wenn er wieder gesund wird und wieder an die Front geschickt wird. Auch an seine Familie und an seine eigene materielle Zukunft denkt er. Er weiß, daß der Staat, 56 Strümpell, Über die traumatische Neurose.

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für dessen Erhaltung er Leben, Gesundheit und alle Behaglichkeit des bürgerlichen Lebens eingesetzt hat, auch die Verpflichtung hat, für ihn und seine Familie zu sorgen, wenn er durch den Krieg dauernd krank und arbeitsunfähig geworden ist. Machen wir uns diesen Seelenzustand des Kriegsneurotikers klar, so verstehen wir wohl, dass ihm die Genesung nicht ohne weiteres als ein möglichst rasch und vollständig zu erreichendes Ziel vorschwebt.«57

Strümpell schilderte das Aufkommen des Wunsches, nicht mehr zurück an die Front zu müssen, als einen nachvollziehbaren Vorgang. Er forderte die Zuhörer seines Vortrages gar auf, sich in die Haut eines solchen Soldaten zu versetzen, wohlwissend, damit das Verständnis seiner Zuhörer für die Überlegungen des verwundeten Soldaten im Lazarett wecken zu können. Insgesamt schlug er damit einen nachsichtigen und versöhnlichen Ton an, den er mit nur wenigen seiner deutschen Kollegen teilte. Nebeneinander und ohne moralische Wertung stellte Strümpell die Vorstellung einer im Krankheitsfall finanziellen Absicherung für sich und die Familie und den Wunsch, sich der Gefahr zu entziehen. Das war nicht gerade üblich: Scharf verlief die Trennlinie zwischen den »negativen Begehrungsvorstellungen«, also dem Entrinnen aus der Gefahrenzone, und dem Wunsch nach einer staatlichen Anerkennung und finanziellen Entschädigung der Verletzung, was die Ärzte als »positive Begehrungsvorstellung« bezeichneten. Wurde dem »timor belli« oder »horror campi«, wie es im lateinischen Fachjargon hieß, noch Verständnis entgegengebracht, galten die anderen Vorstellungen als unehrenhaft und unangemessen.58 Strümpell fasste dieses Dilemma der Ärzte in Worte, indem er offen zugestand, »daß die Aufdeckung dieser Verhältnisse für uns Ärzte etwas Peinliches hat«.59 Nichts läge den Ärzten ferner, »als unsere tapferen Krieger der Feigheit und der unberechtigten Begehrlichkeiten zu beschuldigen«. Aber gerade darin sah Strümpell die Aufgabe des Arztes im Krieg: »Wir müssen auch zu Erziehern werden, wir müssen das seelische Gleichgewicht und die normale Herrschaft des Bewußtseins unserer Kranken auf ihren Körper wieder herstellen.« Das heldenhafte, durch die nationale Propagandatrommel vermittelte Soldatenbild brachten Ärzte nur zögerlich mit dem »unehrenhaften« Verhalten der Kranken in Einklang. Angesichts dieses ärztlichen Unbehagens schöpften einige Ärzte die Analogie zwischen dem Unfall- und dem Kriegsneurotiker nicht gänzlich aus. Sie waren bemüht, auch die Unterschiede zwischen den beiden Krankheitsformen zu betonen. So zeichnete der Hamburger Arzt Wilhelm Weygandt durchaus ein günstiges Bild vom Soldaten in Abgrenzung zu den Unfallneurotikern, die sich zwar in einer ähnlichen Situation befänden, doch ganz unterschiedlichen suggestiven Wirkungen ausgesetzt seien. 57 Strümpell, Schädigungen der Nerven, S. 15. 58 Kaufman, C., Planmäßige Heilung komplizierter psychogener Bewegungsstörungen bei Soldaten in einer Sitzung, in: MMW, 30. Mai 1916, Nr. 22, S. 802f. 59 Zum Folgenden vgl. Strümpell, Schädigungen der Nerven, S. 15f.

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»Die psychische Atmosphäre beider Kategorien ist doch zu verschieden: Dort der Unfallverletzte, der aus dem beruflichen Einerlei in die Krankenhausumgebung versetzt ist und nun mit zunehmender Befreiung von den Folgen der rein somatischen Schädigung die Frage der Unfallentschädigung einen immer grösseren Platz in seinem Bewusstsein einnehmen lässt. Hier dagegen der Kriegsverletzte, der Wochen und Monate mit vaterländischer Begeisterung, doch auch unter dem Einfluss der militärischen Disziplin ein wechselvolles Tatleben führte, aus dem er durch ein Trauma herausgerissen wird, das aber vielfach durch seine Eigenart, wie bei der Granatexplosion, eine Erschütterung des Nervensystems mit sich brachte, die über die Wundheilung des Verletzten selbst hinaus noch nachwirkt trotz seines Dranges, wieder ins Feld zu gelangen.« 60

Während des Aufenthaltes des Soldaten im Lazarett, in Fühlung mit Kameraden und Vorgesetzten, sei kein Raum für auf kommende Begehrungsvorstellungen, so Weygandt weiter. Das dürfe doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach dem Krieg, wenn die Krieger aus dem militärischen Apparat entlassen würden, eine Flut an solchen »Begehrungsneurosen« auf die Staatskasse zukommen werde. Ähnlich wie Weygandt bemerkte auch der renommierte Psychiater Alfred Hoche noch zu Kriegsbeginn, dass der Kriegsneurotiker nicht gleichzusetzen sei mit dem Unfallneurotiker, da er zu seiner Genesung mithelfe.61 Fälle von Operationsverweigerung seien selten. Der »im ganzen Volke erkennbare Schwung der Gesinnung« habe augenscheinlich »auch auf die Energie des Willens zum Gesundwerden bei den Verwundeten im günstigen Sinne eingewirkt«. Diese Situation verändere sich nach dem Krieg, so Hoche, da nun im Zuge einer nachlassenden Spannkraft auch die Rentensucht in der Entschädigungsfrage wieder stärker hervortreten werde. Einige Ärzte wollten den Soldaten keine ungebührliche Verhaltensweisen unterstellen, die im Zivilleben dem Unfallneurotiker anhafteten, und verschoben so die »positiven Begehrungsvorstellungen«, also das Streben nach einer finanziellen Abfindung, auf die Nachkriegszeit, wenn die Soldaten ihrer Uniform entledigt wieder in ihr Zivilleben zurückgekehrt waren. Auch wenn Kriegsneurotiker und Rentenneurotiker von diesen Ärzten nicht gleichgesetzt wurden, war doch der Übergang vom einen zum anderen fließend. Weygandt und Hoche hatten ihre Ansichten über die Unwirksamkeit der Begehrungsvorstellungen noch in der ersten Kriegszeit dargelegt. Gegen deren Auftreten stand die »Energie des Willens zum Gesundwerden«. Mit zunehmender Kriegsdauer verschärfte sich die Diskussion über eine pathogene Vorstellungswelt der Soldaten: Die meisten Ärzte zögerten nun nicht, dem Soldaten ein mangelndes Gesundheitsgewissen zu bescheinigen und ihn selbst für die Erkrankung verantwortlich zu machen. Um den Ärzten ihr Unbehagen im 60 Weygandt, Kriegspsychiatrische Begutachtungen, in: MMW, 14. September 1915, Nr. 37, S. 1259. 61 Hoche, S. 23f.

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Umgang mit den Kriegsneurotikern zu nehmen, setzte sich der Berliner Mediziner und beratende Neurologe des Heeres Max Lewandowsky für eine schonungslose Behandlung derselben ein. Dass viele Soldaten erkrankten, um sich in Sicherheit zu bringen, sei eine klare sachliche Erkenntnis.62 Lewandowsky gestand den Neurotikern zwar zu, dass viele unter ihnen auch »Heldenhaftes geleistet« hätten, weswegen man ihnen »die allergrösste Hochachtung innerlich entgegenbringen muss«. »Aber in dem Augenblick, wie sie neurotisch werden, sind sie keine Helden mehr.« Trotz steter Beteuerungen Lewandowskys, den Kriegsneurotiker nicht mit »unsachlicher moralischer Entrüstung« begegnen zu wollen, forderte er mit beispielloser Schärfe, Neurotiker hart und geringschätzig zu behandeln. Die Klassifizierung der psychisch Erkrankten als Patienten zweiter Klasse, die psychische Störung selbst als eine ungebührliche Reaktion auf ein minimales traumatisches Ereignis, stieß bei der Mehrzahl der deutschen Ärzte auf Zustimmung. Diese Minimalisierung des Ereignisses Krieg konnte sogar soweit gehen, dass nur noch innere Vorgänge und keine äußeren Ursachen für die Entstehung der Störungen verantwortlich gemacht wurden. Ärzte warnten davor, lediglich von den Erzählungen der Erkrankten auf einen traumatischen Vorgang zu schließen. Die mechanische oder seelische Erschütterung infolge eines Kriegsereignisses habe häufig gar nicht stattgefunden. »Der sogenannte ›Nervenshock‹, die Granatkontusion, die Verschüttung existiert oft nur in der Phantasie des Neurotikers«, berichtete der Arzt Raecke. »Die hysterischen Erscheinungen, die er bietet, sind oft von selbst entstanden oder aus dem Wunsch, auf irgendwelche Weise von der Front wegzukommen.«63 Die Traumatisierungen des Krieges wurden minimalisiert oder gänzlich negiert, die Krankheitsentstehung internalisiert und im gleichen Zuge individualisiert. Je stärker die Ärzte die Rolle der krankhaften Begehrungsvorstellungen betonten, je größer also die individualisierenden Krankheitszuschreibungen waren, desto weniger berücksichtigten sie die überwältigenden Eindrücke des Krieges in der Krankheitsentstehung. Im gleichen Maße, wie die Mediziner die endogenen gegenüber den exogenen Faktoren bei der Krankheitsentstehung betonten, stigmatisierten sie den Kriegsneurotiker als konstitutionsschwach oder charakterlich verwerflich. Der von Lewandowsky geforderten Geringschätzung der Erkrankten folgte eine Vielzahl von Ärzten, die den psychisch Erkrankten die Heldenehre verweigerten. Die Kriegssituation und der plötzliche Anstieg der männlichen Hysteriefälle hatte das Interesse am »hysterischen Charakter« wieder aufleben lassen. In einem Vortrag vor südwestdeutschen Psychiatern und Neurologen in Baden-Baden begrüßte der 62 Zum Folgenden vgl. Lewandowsky, M., Was kann in der Behandlung und Beurteilung der Kriegsneurosen erreicht werden?, in: MMW, 24. Juli 1917, Nr. 30, S. 989. 63 Rezension zu Raecke, Feldärztlicher Beitrag zum Kapitel »Kriegsneurosen«, in: DMW, 21. November 1918, Nr. 47, S. 1316.

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Karlsruher Mediziner und Psychologe Willy Hellpach diese Wendung, welche die deutsche Hysterieforschung in den letzten Jahren genommen hatte. Er erhoffte sich nun eine größere Berücksichtigung der einfachen Physiognomie der Hysterischen.64 Er ermunterte seine Kollegen zu deskriptiver Arbeit an dem vorliegenden hysterischen Krankenmaterial. Unter die typischen physiognomischen Merkmale zählte er beispielsweise den »Feminismus (Weibsamkeit)« als charakteristisch bei den männlichen Hysterikern. Auch das hysterische Lächeln sei zum Teil Bestandteil des »Feminismus« als ein »süssliches, mädchenhaftes Lächeln bei hysterischen Männern«. So explizit wie Hellpach in seiner physiognomischen Beschreibung des femininen männlichen Hysterikers wollten die meisten Ärzte den psychisch erkrankten Männern ihre Männlichkeit nicht streitig machen. Dennoch bezeichnete eine Vielzahl der Ärzte die im Krieg psychisch Erkrankten als verweichlicht, verzärtelt oder einfach nur als feige. Dass hysterische Erscheinungen sich bei jenen Personen am stärksten entwickelten, die zuhause am meisten verhätschelt worden waren, war eine gängig vertretene Ansicht.65 Besonders während einer langwierigen Lazarettbehandlung bestehe die Gefahr, so der Oberstabsarzt Bonne, dass sich bei bereits willensschwach veranlagten Soldaten eine Lazarettpsychose entwickeln könnte. Diese führe zu einer schwer zu bekämpfenden Neigung für hypochondrische und hysterische Vorstellungen und zu endlosen Lazarettaufenthalten.66 Folgende Gegenmittel wurden empfohlen: »Straffere militärische Disziplin, Hebung des militärischen Pflichtgefühls, leichtere, eiweißärmere Kost, Ablenkung der Gedanken durch Arbeiten, Turnen und Spiele, vor allen aber Geheimhaltung der ärztlichen Diagnose.« Den Ärzten missfiel es zunehmend, dass sie sich zwar untereinander über eine adäquate Behandlungsweise des Neurotikers verständigen konnten, außerhalb ihres Wirkungsbereiches denjenigen Erkrankten, die an die Grenze ihrer psychischen Belastbarkeit gestoßen waren, jedoch viel Aufsehen und Mitleid entgegengebracht wurde. Sie appellierten an das weibliche Pflegepersonal, die nichtspezialisierten Ärzte, das familiäre Umfeld sowie an die Öffentlichkeit, die Neurotiker zu ihrem eigenen Wohl nicht zu bemitleiden, ja, am besten regelrecht zu ignorieren. Mitleidsbezeugungen würden die Hysteriker nur in ihrer Krankheit bestätigen, ihn verweichlichen und damit den Heilungsprozess verlangsamen, wenn nicht gänzlich verhindern. Diesem Auf klärungsnotstand galt es abzuhelfen, indem, wie das Lewandowsky forderte, die »weitesten Kreise des Volkes«, insbesondere »der Arbeiter und seine Presse«, »über den Zusammen64 Hellpach, Die Physiognomie der Hysterischen. Vortrag auf der 17. Wanderversammlung der südwestdeutschen Neurologen und Psychiater in Baden-Baden, 2. und 3. Juni 1917, Protokoll Lilienstein, in: MMW, 31. Juli 1917, Nr. 31, S. 1014. 65 Wittermann, E., Kriegspsychiatrische Erfahrungen aus der Front, in: MMW, 24. August 1915, Nr. 34, S. 1165, der diese Beobachtung auf Karl Bonhoeffer zurückführt. 66 Bonne, Die Lazarettpsychose und ihre Verhütung, in: MMW, 15. August 1916, Nr. 33, S. 1191.

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hang der Nervenkrankheiten mit dem Kriege« aufgeklärt werden sollten: »Eine Geringschätzung der Neurotiker muss populär werden.«67 Am gleichen Strang zog sein Tübinger Kollege Robert Gaupp, der in einem Fortbildungsvortrag eingehend vor einer Gefahr der »Hysterisierung der heimkehrenden Männer und ihrer Familien« warnte. Er appellierte an die Ärzte, das deutsche Volk vor der großen Gefahr zu bewahren und zu verhüten, »dass zahllose Männer im besten Lebensalter in Weichlichkeit und Hypochondrie untergehen«.68 Diese redundanten Aufforderungen der Ärzte gegen eine Verweichlichung der Kriegsteilnehmer erfüllten nicht zuletzt den Zweck, von ärztlicher Warte aus Wege zu weisen, wie das Kriegsereignis kollektiv bewältigt werden könnte. Die Bewältigung der körperlichen Kriegsversehrtheit schien durch die Fortschritte in der Medizin, allem voran in der Prothesenentwicklung, wesentlich erleichtert. Der verstümmelte Soldat konnte und sollte dank dieser technischmedizinischen Entwicklungen seine Prothese wie ein Ehrenabzeichen tragen, das vor aller Augen nicht nur seine Kriegsteilnahme und seine Kriegsinvalidität, sondern im besonderen Maße auch seine eigene individuelle Kriegsbewältigung bestätigte. Der Historiker Gerd Krumeich weist in einigen knappen, aber aufschlussreichen Überlegungen darauf hin, wie sehr in der öffentliche Wahrnehmung eine Zensur und Verdrängung des Sterbens der Soldaten stattfand, wohingegen dem Problem der Kriegsinvalidenfürsorge, der Reintegration der verstümmelten Kriegsteilnehmer größtes öffentliches Interesse entgegengebracht wurde.69 Das decke aber nur die »mechanische Seite« der Kriegsbewältigung ab und sage noch nichts über die »gesellschaftliche Akzeptanz und [die] Behandlung der psychischen, geistigen und seelischen Verheerungen als Folge körperlicher Beschädigung« aus. Der Kriegsneurotiker bildete im ärztlichen Fachdiskurs die Negativ-Schablone einer erfolgreichen Kriegsbewältigung: Nicht nur, dass er aus eigenem Verschulden krank geworden war, auch sein Krankheitsbild, Geh- und Stehstörungen, Zittern, usw., legte offen an den Tag, wie wenig er seinen Körper durch seine Willenskraft kontrollieren konnte. Die individuelle Bewältigung der Kriegsversehrtheit rückte immer mehr in den Vordergrund. Der Soldat wie die gesamte Gesellschaft sollten daran teilhaben. Die Zeit, in der Kriegsversehrte zu »jenen unglücklichen Gestalten, jenen Gegenständen des allgemeinen Mitleids« verkümmerten, sei vorbei.70 Gaupp 67 Lewandowksy, M., Was kann in der Behandlung und Beurteilung der Kriegsneurosen erreicht werden?, in: MMW, 31. Juli 1917, Nr. 31, S. 1031. 68 Gaupp, R., Die Frage der Dienstbeschädigung bei den Neurosen. Fortbildungsvortrag gehalten am 3. März 1917, in: MCWÄL, 28. April 1917, Nr. 17, S. 187f. 69 Zum Folgenden siehe Krumeich, S. 97–102. 70 Buttersack, Die Suggestion und ihre Verwendung als Heilfaktor. Kriegsärztlicher Vortrag mit Demonstration gehalten am 29. September 1917 in Stuttgart, in: MCWÄL, 1. Dezember 1917, Nr. 48, S. 517.

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führte an anderer Stelle aus, dass in den Gliedamputierten dank der Prothesenentwicklung und dank »unser[s] feinere[n] menschliche[n] Empfinden[s] […] durch aufdringliches Mitleid oder andere unzarte Gefühlsäusserungen [keine] peinliche[n] und trübe[n] Gedanken« mehr erweckt werden.71 Ähnlich äußerte sich auch ein anderer Arzt: »Nicht wie in früheren Kriegen sollen die im Kampf für das deutsche Vaterland verstümmelten Soldaten als Leierkastenmänner etc. vom Mitleid ihrer Mitmenschen ein kärgliches Dasein fristen!«72 Das Mitleid, das den Kriegsversehrten an der »Heimatfront« zuteil wurde, verleitete demnach zur Übertreibung der Krankheitssymptome und zur Verweichlichung des Erkrankten. Es erschwerte die Überwindung der Krankheit durch das willensstarke Individuum, durch die der Soldat trotz seiner Kriegsversehrungen seine Männlichkeit beweisen konnte. Der Ort der Erkrankung verschob sich mehr und mehr weg vom Ort der Traumatisierung, dem Krieg als Gefahrenzone. Die eigentliche Hysterisierung der Männer fand, darin war sich die Mehrzahl der Ärzte einig, örtlich und zeitlich verschoben nicht im Krieg in Fühlung mit militärischen Vorgesetzten und Kameraden statt. Die Gefahr einer sich epidemisch ausbreitenden hysterischen Erkrankung der Männerwelt drohte vielmehr beim Genesungsurlaub in der Heimat durch weibliche Angehörige und während des Lazarettaufenthaltes durch das weibliche Pflegepersonal. Eine erstaunliche ärztliche Topographie der psychischen Auswirkungen des Krieges entwarf der Tübinger Internist Gustav Liebermeister. Wie eine Vielzahl seiner Kollegen konstruierte er die Krankheit nach einem epidemischen Modell, nach dem sich Kriegsneurosen wie Infektionen ausbreiten würden.73 An der »Kriegsfront«, wo Kameradschaft und eine »gesunde und derbe Konstitution«, die eigentliche Männerdomäne, vorherrschend seien, bestehe noch keine Ansteckungsgefahr, nähere man sich jedoch der »Heimatfront«, d.h. dem weiblichen Einflussbereich, steigere sie sich fast prozentual mit der zurückgelegten Strecke. Er verortete die stärkste Konzentration für den Ansteckungsstoff im Heimatgebiet, »wo wir nicht nur die Kriegsbeschädigten, sondern auch deren Angehörige, ferner einen grossen Teil der weiblichen Bevölkerung und sonst sehr viele Menschen haben, die als Krankheitsüberträger wirken«. Die Frau wurde zum Krankheitsüberträger und zur Gefahr für die Männerwelt erklärt. Der Beitrag Liebermeisters verband in bemerkenswerter Weise militärische (Front – Etappe – Heimat), medizinische (Konzentration des Neurosenansteckungsstoffes) und mentalitätsspezifische (männlicher und weiblicher Bereich) Topographien. Die Hysterisierung der Männerwelt fand nicht so sehr im 71 Gaupp, R., Die Frage der Verstümmelung bei den Nervenkranken und Nervenverletzten des Krieges. Militärärztlicher Fortbildungsvortrag in Stuttgart am 14. April 1917, in: MCWÄL, 23. Juni 1917, Nr. 25, S. 282f. 72 Kraus, Die Kriegsbeschädigtenfürsorge, in: MCWÄL, 4. Mai 1918, Nr. 18, S. 163. 73 Liebermeister, Verhütung von Kriegsneurosen. Kriegsärztlicher Vortrag gehalten in Stuttgart am 26. Januar 1918, in: MCWÄL, 31. August 1918, Nr. 35, S. 308.

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Krieg mit seinen überwältigenden und schrecklichen Eindrücken statt. Die eigentliche Gefahr drohte bei der Rückkehr und der Eingliederung dieser Männer in das Zivilleben in Berührung mit den Frauen. Ähnlich wie bei den Geschlechtskrankheiten wurden auch hier die Berührungspunkte zwischen »Heimat- und Kriegsfront«, zwischen weiblichem und männlichem Bereich, als Gefahrenzonen gesehen. Dem Zusammenspiel zwischen den beiden Fronten wurde kein positiver Sinn zugeschrieben.74 Als schlagkräftiger Beweis für die Wirksamkeit solcher Vorstellungen galten die viel zitierten Beobachtungen bei Kriegsgefangenen, Schwerverletzten und Offizieren. Bei diesen drei Kategorien kamen, nach ärztlichen Angaben, Kriegsneurosen nur selten vor. Für Kriegsgefangene und Schwerverletzte war der Krieg zu Ende, weshalb sie keinen Grund mehr hätten, Fluchtgedanken zu entwickeln. Bezüglich der dritten Kategorie, den Offizieren, vermuteten die Ärzte, dass ein außerordentliches Maß an Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein sowie patriotischer Gesinnung auch bei schweren psychischen Einwirkungen einer Erkrankung entgegenstünde.75 In klassenspezifischer Hinsicht war die Kriegsneurose die Erkrankung des einfachen Soldaten. Selbst wenn bei einem Offizier eine hysterische Störung diagnostiziert wurde, unterschied sie sich in den Krankheitserscheinungen, in Verlauf und in der Prognose wesentlich von der Neurose beim einfachen Soldaten.76 Rassemerkmale spielten in den ärztlichen Argumentationsmustern, beispielsweise in Bezug auf das multinationale Beobachtungsmaterial der Kriegsgefangenen, so gut wie keine Rolle. Im Gegenteil: Die Untersuchungen an Kriegsgefangenen entkräfteten vielmehr das Argument, ein Mangel an psychischer Stärke sei an bestimmte ethnische Abstammungsmerkmale gekoppelt. Da Kriegsneurosen bei diesen nur selten auftraten, hätten die Ärzte den deutschen Soldaten eine psychische Schwäche im Vergleich zu ihren europäischen Kameraden bescheinigen müssen. Auch fand sich in der deutschen veröffentlichten Debatte nicht ein einziger Nachweis, in dem Nervenschwäche mit Jüdischsein in Verbindung gebracht wurde. Die Unterscheidungskriterien richteten sich hauptsächlich nach Klasse und militärischem Rang. Ebenso floss mitunter ein, ob der betroffene Soldat ursprünglich Land- bzw. Stadtbewohner war. Das 74 Nelson, S. 91–107. 75 Zu den Kriegsgefangenen siehe: Mörchen, F., »Traumatische Neurosen« und Kriegsgefangene, in: MMW, 15. August 1916, Nr. 33, S. 1188–1191; zu den Schwerverletzten: Horstmann, Traumatische Neurose, Ärztliche Sachverständigen Zeitschrift, Nr. 22, 1915, rezensiert in: DMW, 21. Januar 1915, Nr. 4, S. 116; zu den Offizieren: Curschmann, Zur Kriegsneurose bei Offizieren, in: DMW, 8. März 1917, Nr. 10, S. 291–293. 76 Siehe Kemnitz, M., Funktionelle Erkrankungen infolge von Kriegsbeschädigung bei Offizieren, in: NeurZbl, 15. März 1917, Nr. 6, S. 230–233, rezensiert in: DMW, 19. April 1917, Nr. 16, S. 507; Curschmann, Zur Kriegsneurose bei Offizieren, in: DMW, 8. März 1917, Nr. 10, S. 291–293.

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muss vor dem Hintergrund der länger währenden Debatte über die Degeneration durch ein Übermaß oder ein Fehlen an Zivilisation verstanden werden. Letztlich war das einzige entscheidende Differenzmerkmal jedoch das Maß an Gesundungswillen, um die eigene Kriegsversehrtheit und damit das Kriegserlebnis zu überwinden. Diejenigen Ärzte, die ihre Bedenken gegenüber der wissenschaftlichen Stichhaltigkeit dieser Thesen äußerten, blieben in der Minderzahl. Im Großen und Ganzen handelte es sich dabei vor allem um Neurologen, die sich mit der introspektiv-psychologischen Entwicklung, die die Neurologie in den letzten Jahrzehnten genommen hatte, nicht abfinden konnten. Dem Befürworter der Begehrungsvorstellungen Wilhelm Fürnrohr entgegnete Niessl von Mayendorf in einem Schlagabtausch, dass es keine gesicherte Theorie für die krankheitsverursachende Wirkung von Vorstellungen gäbe.77 Gerade das Auftreten von neurotischen Störungen im Krieg widerlege diese These, bliebe doch für die Entstehung von Begehrungsvorstellungen im Kriegsgeschehen überhaupt keine Zeit. Es sei den Vertretern der ideogenen Entstehungsweise der neurotischen Störungen nicht gelungen, »nachzuweisen oder auch nur wahrscheinlich zu machen, dass ein von einer Granate verschütterter oder in die Luft geschleuderter Soldat, welcher schon während der Verletzung das Bewußtsein verliert, eben noch Zeit findet, Vorstellungen zu produzieren, die eine ihm später nützliche Krankheit erzeugen«.78 Die Euphorie der Heilerfolge dauerte jedoch nicht bis Kriegsende an, so dass sich auch skeptische Stimmen immer lauter zu Wort meldeten. Entkräftet wurden nach und nach die anfangs so schlagenden Argumente, nur eine bestimmte Personengruppe der Schwächlichen und Feigen, die sich dem Kriegsgeschehen entziehen wollte, sei von der Erkrankung betroffen. Friedrich Mörchen relativierte etwa seine Beobachtungen, bei Kriegsgefangenen kämen keine Neuroseformen vor.79 Zwar hielt er nach wie vor daran fest, dass für Kriegsgefangene der Krieg zu Ende sei und sie deshalb in der Mehrzahl keine solchen heilungshinderlichen und krankheitsverursachenden Vorstellungen entwickelten. Die neurotischen Störungen, die er nun gefunden hatte, wollte er dennoch nicht 77 Fürnrohr, W., Das ideogene Moment in der Entstehung des Zitterns bei Kriegsteilnehmern, in: DMW, 4. Januar 1917, Nr. 1, S. 10f; Niessl von Mayendorf, E., Das ideagene Moment in der Entstehung des Zittern bei Kriegsteilnehmern und die introspektiv-psychologische Richtung in der Neurologie überhaupt, in: DMW, 30. August 1917, Nr. 30, S. 1101; Fürnrohr, W., Das ideogene Moment in der Entstehung des Zitterns bei Kriegsteilnehmern, in: DMW, 28. Februar 1918, Nr. 9, S. 242. 78 Niessl von Mayendorf, E., Das ideagene Moment in der Entstehung des Zittern bei Kriegsteilnehmern und die interospektiv-psychologische Richtung in der Neurologie überhaupt, in: DMW, 30. August 1917, Nr. 30, S. 1101. 79 Mörchen, F., Hysteriebegriff bei den Kriegsneurosen, Auf Grund neuerer Gefangenenbeobachtungen, in: BklW, 17. Dezember 1917, Nr. 51, S. 1214f, rezensiert in: DMW, 17. Januar 1918, Nr. 3, S. 84.

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als eine Oppenheimsche traumatische Neurose, sondern nach Babinskis Reflexlähmung verstanden wissen. Die »troubles physiopathiques« oder »troubles réflexes« waren in Deutschland überhaupt nicht rezipiert worden. Sie hätten die Reichweite und das Ausmaß, das psychogene Störungen unter den deutschen Ärzten eingenommen hatten, wesentlich eingeschränkt. Dass Mörchen Ende 1917 auf den französischen Neurologen zurückgriff, ist einzigartig in der deutschen Debatte. Die Erfolgsgeschichte der Psychogenie, die wissenschaftlich so stichhaltig schien, zeigte dennoch erste Risse auf. In diesem Ausmaß konnte man die Begehrungsvorstellungen nicht mehr für die Nervenschwächen verantwortlich machen. Bereits im Juli 1917 stellte der Greifswalder Psychiater Georg Voss das gleiche bei den Schwerverletzten fest, die ihren subjektiven Beschwerden ebenso wie die leichter Verletzten Ausdruck verliehen.80 Gegen die Ansichten Lewandowskys stellten sich die Ärzte Paul Edel und Adolf Hoppe aus der Militärabteilung der psychiatrischen Klinik der Akademie für praktische Medizin in Köln.81 Die beiden Autoren, der eine ein landsturmpflichtiger ordinierender Arzt und Leiter der Neurotikerabteilung Ensen bei Köln, der andere Marinestabsarzt, brandmarkten auf das heftigste die kursierende Geringschätzung der Kriegsneurotiker. Sie bekräftigten zwar die Theorie der psychogenen Krankheitsentstehung, wie sie nach der Münchener Kriegstagung die Mehrheit der Psychiater und Neurologen gegen den »somatogenen« Weg Oppenheims vertrat. Sie wendeten sich jedoch gegen die unmittelbaren Auswüchse dieser Theorie innerhalb der deutschen Neurologie und Psychiatrie, von denen Lewandowsky beredtes Zeugnis ablegte. In dessen Darlegungen falle, so Edel und Hoppe, besonders »die misstrauische, […] seine, natürlich unbewusst, feindselige Einstellung gegenüber den Neurotikern« auf. Wenn Lewandowsky auch im Recht sei, vor einer »Verhätschelung und Verzärtelung der Kranken« zu warnen, zeugten doch seine Auslegungen und seine Behandlungsmethoden von einer Geringschätzung der Kranken. Edel und Hoppe formulierten hier zum ersten Mal grundsätzlich ihre Bedenken an der Ausrichtung, die die Neurologie und Psychiatrie in der Kriegszeit genommen hatte. Kritisch beleuchteten die beiden Autoren die vorherrschenden Theorien nicht auf ihre wissenschaftliche Gültigkeit hin, sondern beurteilten sie anhand der katastrophalen Folgen, die sich für die Erkrankten selbst ergaben. Es nimmt nicht wunder, dass der Artikel von Edel und Hoppe erst im Juli 1918 in der »Münchener Medizinischen Wochenschrift« abgedruckt wurde, ein ganzes Jahr, nachdem Lewandowsky seine schonungslosen Forderungen der Geringschätzung der Kriegsneurotiker an die ärztliche Ge80 Voss, G., Nervenärztliche Erfahrungen an 100 Schädelverletzten, in: MMW, 3. Juli 1917, Nr. 27, S. 881–885. 81 Edel, P. u. A. Hoppe, Zur Psychologie und Therapie der Kriegsneurosen, in: MMW, 30. Juli 1918, Nr. 31, S. 836–840.

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meinschaft gestellt hatte. Die euphorisch gefeierten Heilerfolge der Suggestivtherapie des Jahres 1917 verhinderten jegliche kritischen Töne. Es ist wohl der allgemeinen Kriegsmüdigkeit zuzuschreiben, dass auch die »Burgfriedenrhetorik« der deutschen Ärzteschaft langsam Risse aufzeigte. Im Gegensatz zu ihren Kollegen betonten Edel und Hoppe die ungeheuerlichen Kriegserlebnisse. Der Krieg vermag auch ohne Begehrungsvorstellungen Hysterie auslösen. »Wir wissen alle, dass der Mensch viel aushält, und wer Gelegenheit gehabt hat, zu beobachten, wie rasch sich eine arg mitgenommene Truppe bei Ruhe und guten Quartieren wieder erholen kann, wird nicht geneigt sein, die Macht der äusseren Eindrücke zu überschätzen. Hüllt sich doch selbst nach den Schilderungen unserer Kämpfer beim Trommelfeuer die Seele in einen wohltätigen fatalistischen Stupor ein und hält sich so das Übermass des Schreckens nach Möglichkeit fern. Aber auch dies hat eine Grenze: irgendwann einmal wird das Erlebnis mächtiger als das Subjekt, und die Folge ist die Neurose, ohne dass wir nun darum gleich von »schwächlichen« Reaktionen zu reden brauchten.«82

Nicht mehr das Individuum hatte nun die alleinige Verantwortung für den Ausbruch oder das Fortdauern der Krankheit zu tragen. Das traumatische Ereignis Krieg mit seinen beispiellosen psychischen Einwirkungen trug entscheidend zur Krankheitsentstehung und -dauer bei. Bereits ein Jahr zuvor hatte der Mediziner Schüller gegen die Begehrungsvorstellungen argumentiert. Über das Ausmaß und die Stärke der psychischen Insulte des Krieges könnten nur persönlich Betroffene urteilen. Angesichts dieser Tatsache war es Schüller völlig unverständlich, wie »auf der letzten Kriegstagung der Gesellschaft deutscher Nervenärzte von der Mehrzahl der Fachleuten von Defekten in dem Gesundheitsgewissen, von Zweckneurosen, von ungeahnter Vielseitigkeit der Begehrungsvorstellungen geredet wurde« − und das »in bezug auf Leute, die oft viele Monate lang im Schützengraben standgehalten und hunderte von Granaten hatten platzen sehen, bevor ihre ersten Krankheitserscheinungen auftraten«.83 Diese Stellungnahmen waren Ausnahmen und werden hier in dieser Ausführlichkeit zitiert, um darzustellen, dass es sich bei den »Kriegsneurosen« durchaus noch um ein offenes wissenschaftliches Feld handelte. Keine wissenschaftliche Zwangsläufigkeit leistete der Kriegsentwicklung, die das Fach genommen hatte, Vorschub. Trotz dieser kritischen Stimmen blieb die medi82 Ebd., S. 837. Ähnlich argumentiert Zange, Hysterische (psychogene) Funktionsstörungen des nervösen Ohrenapparates im Kriege, in: MMW, 13. Juli 1915, Nr. 28, S. 958, der zwar zunächst die »Rentenbegehrung« als die Wurzel der Störungen bezeichnete, die Schwere der seelischen Erschütterung jedoch mit in die Pathogenese einbezog. Viele der solcherart Kriegsgeschädigten zeigten den ausgesprochenen Wunsch und Willen, wiederhergestellt zu werden. 83 Schüller, L., Heilung der Erscheinung der Kriegshysterie in Wachsuggestion, in: DMW, 24. Mai 1917, Nr. 21, S. 652.

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zinische Ansicht unangefochten, dass in der krankhaften Vorstellungswelt der Soldaten das wesentlichste Moment in der Krankheitsentstehung zu erblicken sei. Psychische Krankheit im Krieg wurde nicht als »Schicksal«, sondern als individualisierende Selbstzuschreibung betrachtet. Je stärker die individuelle Disposition zur Krankheit in den Vordergrund gerückt wurde, desto stärker trat das eigentliche Ereignis Krieg mit seinen an Ausmaß und Vielgestaltigkeit überwältigenden Eindrücken zurück.

2. Hysterie und Simulation in Frankreich Ähnlich wie ihre deutschen Kollegen stellten französische Ärzte fest, dass es von der ursprünglichen organischen Verletzung zur hysterischen Fixierung derselben nur ein kleiner Schritt sei. Innerhalb dieses Vorganges nahm bei ihnen die pathogene Vorstellungswelt der Soldaten, ihre Rentenansprüche und Fluchtgedanken, eine eher untergeordnete Rolle ein. Es gab etwa keine analogen Untersuchungen wie diejenigen von Friedrich Mörchen bei Kriegsgefangenen oder von Cruschmann bei Offizieren, die aufgrund der Seltenheit neurotischer Störungen bei diesen beiden Personengruppen die Ansicht der pathogenen Vorstellungswelt als Krankheitsursache so trefflich zu untermauern schienen. Auch den beiden Autoren Georges Dumas und Henri Aimé, die sich mit den deutschen kriegspsychiatrischen Abhandlungen auseinandersetzten, fiel das auf.84 Sie fochten zwar nicht die Beobachtung an, dass Kriegsgefangene weniger neurotisch reagierten als die anderen Soldaten. Indes war ihnen unverständlich, diesen Umstand auf eine Art Sicherheitsgefühl zurückzuführen, das die Krankheitsdisposition verringere. Die deutschen Autoren hätten es vielmehr versäumt, die nervöse Widerstandskraft der französischen, britischen und russischen Soldaten als ein Rassemerkmal zu deuten. Diese Fragen, so die beiden Psychiater weiter, wurden in Deutschland schon im Voraus und zu Gunsten der deutschen Überlegenheit entschieden. In Frankreich wurde tendenziell seltener eine Analogie zwischen der Kriegshysterie und der Rentenhysterie nach Arbeitsunfällen gezogen. Dennoch war die Diagnose »Rentenhysterie« in Frankreich bekannt, wenn auch nicht in einem solchen Maße wie in Deutschland nach der Einführung der allgemeinen Unfall- und Krankenversicherungen. Das Gesetz vom 9. April 1898 sah eine Entschädigung von Arbeitsunfällen durch den Arbeitsgeber vor.85 Darauf hin hatte 1902 der französische Arzt Brissaud den Begriff »sinistrose« geprägt, der in etwa das gleiche bedeutete wie die deutsche »Rentenhysterie«. In einem me-

84 Dumas. u. Aimé, S. 42. 85 Siehe Kap. I.4. »Der französische médecin mutualiste« im ersten Teil dieser Arbeit.

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dizinischen Wörterbuch von 1924 findet sich folgende Erläuterung: Bei der »sinistrose« handele es sich um »einen psychischen Zustand mit der Vorstellung, Ansprüche und finanzielle Entschädigung erhalten zu müssen. Man beobachtet sie bei Verletzten von Arbeitsunfällen. Diese geben an, sie litten an physischer Schwäche, Schmerzen, die am häufigsten dort lokalisiert werden, wo auch die Unfallverletzung war, ohne dass jedoch objektive Läsionen, Kopfschmerzen oder Schlaflosigkeit vorhanden waren. Dieser Zustand verschwindet sobald der Verletzte seine finanziellen Entschädigungsleistungen, seine Rente erhalten hat«.86

Französische Ärzte diagnostizierten selten eine »sinistrose«. In den französischen medizinischen Wörterbüchern taucht der Begriff »sinistrose« nicht vor 1924 auf. War das die Folge eines im Krieg häufigeren Gebrauchs? Das lässt sich aus dem ärztlichen Fachdiskurs nur teilweise bestätigen. Gustave Roussy führte den Begriff »sinistrose de guerre« zwar bereits im November 1915 in die Debatte ein.87 In der Folgezeit nahmen nur wenige Ärzte darauf Bezug. Gilbert Ballet machte etwa seine Kollegen darauf aufmerksam, dass die »sinistroses de guerre« die militärische Entsprechung der zivilen »sinistrose d’accidents de travail« seien, und zwar bezüglich des klinischen Krankheitsbilds sowie der sozialen Implikationen: »Und was ist schon eine Verletzung oder Erschütterung auf dem Schlachtfeld, wenn nicht ein Arbeitsunfall in dieser gewaltigen Kriegsarbeit?« 88 Explizit auf die pathogenen Vorstellungen, d.h. auf den eigentlichen krankheitsfixierenden Faktor, ging Ballet nicht ein. Für ihn stand vielmehr das traumatisierende Moment, ob nun Schreck oder Explosion, im Mittelpunkt seines Interesses. Auf dieser Ebene zog er auch die Analogie zwischen den Unfall- und den Kriegsneurotikern. Bezüglich der psychischen Wiederverwendungsfähigkeit von Hirngeschädigten des Krieges zählte Laignel-Lavastine eine ganze Reihe unterschiedlichster organischer und psychischer Krankheitsbilder auf. Unter den fünfzehn verschiedenen Rubriken befanden sich etwa die Krankheitsbilder der Granatkontundierten, der Syphilitikern, der Verwirrten, der Melancholischen, der Hyperemotiven, der Hysterischen sowie der Geschwächten. Eine Kategorie unter vielen war auch diejenige der »sinistrose«, von der er sagt: »Die Unfallneurose des Krieges ist eher ein spezieller Geistes- als ein eigentlicher Krankheitszustand. Sie ist nicht auf das Kriegsereignis an sich, sondern auf seine sozialen Folgen zurückzuführen, die im wesentlichen darin bestehen, dass die Betroffenen die mehr oder weniger unabwendbare Erwartung hegen, materiell und moralisch 86 Siehe Dabout, S. 571. Der Begriff findet sich beispielsweise nicht im Wörterbuch von 1907 Bouchut u. Desprès oder 1908 Littré. 87 Roussy, G. u. J. Boisseau, Les «sinistrose de guerre». Accidents nerveux par éclatement d’obus à distance, in: PM, 11. November 1915, Nr. 55, S. 453. 88 Ballet, G. u. J. Rogues de Fursac, Les psychoses «commotionnelles» (psychoses par commotion nerveuse ou choc émotif ), in: PaM, Bd. 19, Nr. 1, 1916, S. 6f.

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entschädigt zu werden. Solche Bürger, die während ihres Militärdienstes verletzt oder erkrankt sind, halten sich nun für Gläubiger gegenüber dem Vaterland.« 89

Allerdings, so Laignel-Lavastine, greife die Analogie zwischen der kriegsbedingten »sinistrose« und derjenigen nach Arbeitsunfällen nur bedingt: Da die Angst, wieder in das Inferno zurückkehren zu müssen, das eigentliche krankheitsfixierende Element sei, bedeute eine psychische Wiederverwendungsfähigkeit zum Kriegsdienst einen Widerspruch in sich. Man könne versuchen, auf den Willen einzuwirken, so Laignel-Lavastine weiter, müsse sich aber wohl damit zufrieden geben, die Betroffenen soweit von der »sinistrose« zu befreien, dass eine Ansteckung verhindert werden könne. Die von Laignel-Lavastine aufgezählten Charakteristika ähnelten dem Konzept der deutschen Rentenhysterie: die Einwirkung auf den Willen des Erkrankten als einzige therapeutische Maßnahme mit Heilungsaussichten, die Konstruktion der Krankheit nach einem epidemiologischen Modell. Der französische Arzt hob jedoch die »negativen Begehrungsvorstellungen«, wie sie in Deutschland bezeichnet wurden, d.h. die Kriegsangst besonders hervor. Die Rolle der Rentenwünsche gewichtete er demgegenüber nicht so stark. Vor allem aber schränkte Laignel-Lavastine die Bedeutung der »sinistrose« dadurch ein, dass er sie nur als eine unter vielen Krankheitsfällen abhandelte und sie nicht, wie so viele Ärzte in Deutschland, als eine unweigerliche Folge der Entschädigungspraxis ansah. Woran mag es gelegen haben, dass die »idées de revendication«, die pathogene Vorstellungswelt der Soldaten, im Vergleich zu Deutschland nur ein geringes Interesse der französischen Ärzte auf sich zog? Sie standen in einer Reihe von verschiedenen psychischen Vorgängen, denen ein größeres Interesse der Ärzte gewidmet war. Ernest Dupré schilderte aufschlussreich den Ablauf der psychischen Mechanismen, wie sie bei den Unfall- und Kriegsverletzten auftraten, folgendermaßen: »commotion, émotion, suggestion, exagération [Übertreibung], simulation, revendication [Forderung].«90 Herrschte auch Uneinigkeit darüber, in welcher Reihenfolge, Zwangsläufigkeit und Gewichtung diese unterschiedlichen Stadien zusammenhingen, folgten doch etliche Ärzte diesem eingängigen Schema, innerhalb dessen die Akzente unterschiedlich gesetzt werden konnten. Der Zusammenhang zwischen den mechanischen und seelischen Erschütterungen zog, wie bereits im vorhergehenden Kapitel untersucht worden ist, ein starkes Interesse der Ärzte auf sich. Dupré selbst konzentrierte sich beispielsweise auf die zweite Etappe, die »émotion«, wohingegen viele seiner Kollegen sich mit der Frage des Übergangs zur Übertreibung (exagération) und zur Simulation beschäftigten. Gustave Roussy schilderte einen 89 Laignel-Lavastine, La réaptitude psychique à la guerre des malades et blessés de l’encéphale, in: PM, 27. Januar 1917, Nr. 5, S. 39. 90 Zitiert nach Sicard, J.-A., Simulateurs de création et simulateurs de fixation. Simulateurs sourds-muets, in: PaM, Bd. 17, Nr. 24–25, 1915, S. 424.

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solchen psychischen Mechanismus, der durch Heterosuggestion, beispielsweise die Beobachtung eines gelähmten Kameraden, oder durch Autosuggestion ausgelöst wurde. Es sei nur ein kleiner Schritt von einem einfach übermüdeten Gliedmaß zu seiner Bewegungsunfähigkeit, ein weiterer kleiner Schritt zu seiner kompletten Lähmung und Gefühllosigkeit. Dazu bräuchte es nicht viel, und man könne keineswegs von willentlich herbeigeführten, ja, simulierten Störungen sprechen, selbst wenn die geringe Begeisterung, die durch das Leben in den Schützengräben, den Emotionen und Risiken, ausgelöst wurde, zweifelsohne zum Krankheitsausbruch beigetragen hätte.91 Die französischen Ärzte betonten stets die schleichenden, ja, für den Arzt und den Betroffenen selbst kaum merklichen Übergänge von einem Zustand in den anderen. Ein wichtiges Problem bestand darin, zwischen den aufrichtigen Beschwerden und der bewusst herbeigeführten und mit besten Wissen und Gewissen ausgeführten Simulation zu unterscheiden.92 Der für seine harten therapeutischen Isolierungsmaßnahmen bekannt gewordene Psychiater Déjerine stellte den Mechanismus, der diese Störungen hervorrief, zwar anders als Roussy dar, zweifelte jedoch wie dieser nicht an der Aufrichtigkeit der Erkrankten: »Heißt das, dass es mit Ausnahme der Emotion keine »ehrlichen« funktionellen Erscheinungen gibt? Das glauben wir nicht und wir denken, dass der Mechanismus der Suggestion eine Rolle spielt. Aber was die Suggestion bestimmt und aufrechterhält, dass sind vor allem die »Begehrungsvorstellungen«. Der Soldat, der seine Pflicht getan hat und der, nachdem man ihm es zu Recht gesagt hat, nun glaubt, seine Verletzung gäbe ihm das Recht auf Erholung, auf Ausscheiden aus dem Militärdienst, auf Rente. Dies veranlasst ihn, seine Körperfunktionen zu untersuchen, was ihm, im besten Wissen und Gewissen, aufgepfropfte funktionelle Störungen einbringt. So gelingt es ihm, unwillentlich und auf suggestivem Wege rein künstliche Störungen zu erzeugen, aus der Angst heraus, seine wahren Rechte könnten nicht anerkannt werden.«93

Die Diagnose eines mangelnden Gesundheitsgewissens stellten französische Ärzte nicht so sehr in Bezug auf die unehrenhafte Vorstellungswelt der Soldaten, sondern hinsichtlich unehrlicher, vorgetäuschter oder auch selbst provozierter Erkrankungen und Verletzungen. Bereits zu Beginn des Jahres 1915 wurde die Simulationsfrage aufgeworfen und nahm in den folgenden Kriegsjahren einen ungleich größeren Raum in Anspruch als in der deutschen Fach-

91 Léri, A., A propos de l’hystérie. Sur un cas d’hémianesthésie organique presque pure, in: PaM, Bd. 19, Nr. 23, 1916, S. 532. 92 Laignel-Lavastine u. Courbon, Essai sur l’insincérité chez les accidentés de la guerre, in: PaM, Bd. 25, 1917, S. 14–19. 93 Déjerine, J. u. E. Gauckler, Le traitement par l’isolement et la psychothérapie des militaires atteints de troubles fonctionnels du système nerveux, in: PM, 30. Dezember 1915, Nr. 64, S. 521.

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debatte. Die Mitglieder der Société de Neurologie wiesen bereits im März 1915 die Militärregierung auf Fälle von Simulation oder Übertreibung hin.94 Es war durchaus nicht so, dass in der deutschen Fachdebatte die Simulationsfrage gänzlich ausgespart wurde. In der Augen- und Ohrenheilkunde beispielsweise berichteten die entsprechenden Fachärzte eingängig darüber, wie man eine echte von einer simulierten Taubheit, Schwerhörigkeit bzw. Blindheit unterscheiden könne.95 Auch in Ausführungen über psychisch-nervöse Störungen wurde das Thema kurz berührt. Trotz dieser gelegentlichen Streifzüge in das Gebiet der vorgetäuschten Erkrankungen wollte man im internen ärztlichen Austausch nicht den Anschein erwecken, als mangele es den deutschen Soldaten am nötigen Kampfeswillen. Auto- und Fremdzensur scheinen hier eine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Deutsche Ärzte deckten weniger Fälle von Simulation auf, als dass sie die psychischen Zusammenbrüche pathologisierten. Den französischen Ärzten lag offenbar eine solche Scheu fern. In separaten Ausführungen wurde den Lesern der Zeitschriften eine Handreichung gegeben, wie man simulierte Krankheiten erkennen oder wie man Selbstverstümmelungen von den normalen Kriegsverletzungen unterscheiden könne. Besonders der Mediziner am Militärkrankenhaus Val-de-Grâce Chavigny bemühte sich diese gerichtsärztlichen Herausforderungen in einer Artikelserie der Leserschaft des »Paris Médical« näher zu bringen.96 In diesen ärztlichen Publikationen über ein so schwieriges Thema zeigten sich Ärzte nicht nur von ihrer strengen Seite. Man sollte bei der Diagnosenstellung vorsichtig sein und im 94 Société de Neurologie, A propos des »blessés nerveux«, in: PM, 18. März 1915, Nr. 11, S. 86. Auf diese Sitzung der neurologischen Gesellschaft sowie auf den Umstand, dass in Frankreich die Simulation in der fachärztlichen Debatte eine weitaus größere Rolle spielte, machte auch in Deutschland Lewandowsky aufmerksam: Lewandowky, Was kann in der Behandlung und Beurteilung der Kriegsneurosen erreicht werden?, in: MMW, 24. Juli 1917, Nr. 30, S. 989. 95 Siehe etwa Weiss, K.E., Über Simulation. Referat am 4. kriegswissenschaftlichen Demonstrations-Abend am 22. Oktober 1914 in Stuttgart, in: MCWÄL, 14. November 1914, Nr. 46, S. 666–668; Auerbach, Der Nachweis der Simulation von Schwerhörigkeit mittels einfacher Gehörprüfung, in: DMW, 28. Dezember 1916, Nr. 52, S. 1600f; Nadoleczeny, Neues Verfahren zur Feststellung der Hörweite bei vorgetäuschter oder übertriebener Schwerhörigkeit bzw. Taubheit, in: MMW, 12. September 1916, Nr. 37, S. 1338; Berthold, B., Die Aufdeckung des wahren Hörvermögens bei funktioneller Schwerhörigkeit, in: MMW, 30. Juli 1918, Nr. 31, S. 847f. 96 Chavigny, P., Etude médico-legale sur le mutilations volontaires par coup de feu, in: PaM, Bd. 15, Nr. 44, 1914/1915, S. 390–394; ders., A Propos des mutilations volontaires doit-on le dire?, in: PaM, Bd. 17, Nr. 22, 1915, S. 384–387; ders., Maladies provoquées ou simulées en temps de guerre, in: PaM, Bd. 21, 1916, S. 150–152; ders., Psychiatrie aux armées. Thérapeutique et médecine légale, in: PaM, Bd. 19, Nr. 1, 1916, S. 8–13. Zur Simulationsfrage siehe ebenso: Bonnette, P., Difficultés du diagnostic des mutilations volontaires, in: PM, partie paramédicale, 10. Mai 1915, Nr. 20, S. 153–155; Roussy, G., A propos de quelques troubles nerveux psychiques observés à l’occasion de la guerre. Hystérie – Hystéro-traumatisme – simulation, in: PM, 8. April 1915, Nr. 15, S. 115–117.

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Umgang mit verdächtigen Kranken oder überführten Simulanten verständnisvolle Milde walten lassen.97 Bei den Simulanten handele es sich vorwiegend um »entmutigte Soldaten«, die dem Krieg körperlich nicht gewachsen wären. Die Ärzte sollten den Betroffenen menschlich begegnen, die im Grunde nichts gegen ihre physischen und psychischen Unzulänglichkeiten könnten. Eine Minderung des Tonus des Nervensystems und des Herzens beeinträchtige »den Kampfes- und den Edelmut der Seele«. Dennoch nahm die Frage der Simulation in mancherlei Hinsicht die Bedeutung ein, die in Deutschland den »Begehrungsvorstellungen« zukam. Wenn sie auch nicht gleichzusetzen sind, so erfüllten sie doch die gleiche Funktion: Sie standen beide für eine individualisierte Krankheitszuschreibung. Beide wurden als psychologische Mechanismen bewertet, die auf mangelndes Gesundheitsgewissen und patriotisches Pflichtgefühl zurückgingen.

3. Die »Willensmassage« – Suggestionstherapie in Deutschland und Frankreich Die deutschen und französischen Ärzte verfügten über ähnliche Therapiemöglichkeiten. Neben den »sanften Methoden« wie warmen Bädern und viel Schlaf, die erholsam auf die strapazierten Nerven wirken sollten, kamen auch in beiden Ländern zum Teil drastische und schmerzhafte Zwangsmaßnahmen zur Anwendung, etwa Elektrotherapie, Isolationshaft, militärische Zwangsexerzitien mit Appellen an das patriotische Pflichtgefühl und Strafandrohungen.98 In Frankreich wurden alle diese therapeutischen Maßnahmen unter dem schillernden Begriff der »Psychotherapie« zusammengefasst und zumeist der »Physiotherapie« entgegengesetzt. Der Arzt begnügte sich nicht damit, die erkrankten Soldaten in medizinischen Gewahrsam zu nehmen. Er sah sich auch in der Pflicht, auf den Genesungswillen des Patienten einzuwirken und seine Gesundungstendenzen zu stärken, die in Kriegszeiten, nach einhelliger Meinung der Ärzte, zu wünschen übrig ließen.99 Die hysterischen Symptome würden so lange nicht verschwinden, so lange der Erkrankte ein Interesse daran hätte, sie fortdauern zu lassen, so der Rechtsmediziner Delmas in der »Société de Médecine légale« im Juni 1918.100 Dem Arzt kam in dieser Hinsicht mehr 97 Audibert, V., La simulation dans l’armée, in: PaM, Bd. 19, Nr. 4, 1916, S. 103. 98 Für eine Übersicht der in Frankreich angewandten Therapiemöglichkeiten siehe Delaporte, Les réponses, S. 86–123. 99 Sollier, P., Mecanothérapie et rééducation motrice au point de vue psycho-physiologique et moral, in: PaM, 22. September 1917, Bd. 25, Nr. 38, S. 246–249, rezensiert in: PM, 29. November 1917, Nr. 66, S. 680. 100 Delmas, Les troubles persistants de l’hystérie de guerre. Société de Médecine légale, Juni 1918, in: PM, 18. Juli 1918, Nr. 40, S. 369.

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die Rolle eines Erziehers mit pädagogischer Schulung und psychologischem Geschick als die eines Therapeuten zu.101 Er sollte auf den Kriegsverletzten einwirken, um in ihm die zur Genesung unerlässlichen Gefühle zu wecken: den Wunsch, gesund zu werden, um sein Land weiterhin zu verteidigen. Dem Patienten müsste zudem die Angst vor bleibenden Schäden oder Bestrafung genommen werden, falls die Heilung nicht schnell eintrat.102 Ärztliche und erzieherische Autorität gingen hier Hand in Hand. Allerdings warnten manche französischen Ärzte vor einem Zurschaustellen von zuviel Autorität. Eine bessere Erfolgsquote sei demjenigen Psychotherapeuten beschienen, dem es gelänge, mit Geschick und nach einer sorgfältigen Studie der Mentalität des Betroffenen am besten »seine Sprache« zu sprechen und sich in dessen Haut zu versetzen.103 In der Diskussion um die beste Heilmethode trat das Bemühen um den Schulterschluss zwischen dem Arzt und dem erkrankten Soldaten deutlich hervor. Die Persönlichkeit des Erkrankten müsse psychologisch durchdrungen werden, um dann individuell auf ihn eingehen zu können. In Deutschland hingegen setzten die Ärzte gezielt auf ihre militärische Autorität, um die Suggestivkraft ihrer ärztlichen Persönlichkeit zu erhöhen und damit den Heilungserfolg herbeizuführen. Die offenbar so überragenden Erfolge der Suggestionstherapie stützten wesentlich die These der pathogenen Vorstellungen als krankheitsverursachenden Faktor.104 Die ärztlichen Beiträge des Kriegsjahres 1917 berichteten ausnahmslos über eine fast 100-prozentige Erfolgsquote. Allein durch suggestive Methoden könne man auf den Willen und damit auf das Gesundheitsgewissen des Soldaten einwirken. Dabei war es schließlich unerheblich, ob dies durch Starkstrom wie bei der KaufmannMethode geschah oder durch Hypnose, wie sie Max Nonne zur Anwendung gebracht hatte. Einzig und allein auf die Suggestivkraft kam es an, die von 101 Duprat, G.L., La psychothérapie en temps de guerre. Observations et conclusions, in: PrM, 14. April 1917, Nr. 15, S. 125. 102 Camus, J., Rééducation fonctionnelle et professionnelle, in: PaM, Bd. 21, Nr. 49, 1916, S. 471. 103 Léri, S. 177f. 104 Siehe zu den Therapieformen: Lerner, Hysterical Men, S. 86–123. Die Suggestionstherapie stützte sich auf die Annahme, allein durch Überredung und Überzeugung dem Erkrankten dazu zu verhelfen, wieder die Kontrolle über seinen Körper zu erlangen. Vor der Therapie wurde auf den Patienten eingeredet, dass er auf jeden Fall gesund werden würde. Die angewandten Methoden waren dann z.T. sehr schmerzhaft. Vom Elektroschock, der sogenannten KaufmannMethode, versprach man sich Heilung nicht etwa durch den Stromstoß. Vielmehr handelte es sich um eine »Überrumpelungsmethode« (Fritz Kaufmann). Wenn der Strom schnell am gelähmten Gliedmaß angebracht wurde und der Soldat zusammenzuckte, war dies der offensichtliche Beweis für den Patienten, dass er doch nicht gelähmt sei. Bei verstummten Soldaten hat der Arzt Otto Muck eine Kugel erfunden, die in den Hals eingeführt wurde. Die Todesangst vor dem Ersticken ließ die Patienten aufschreien – wiederum ein Beweis dafür, dass sie ja durchaus ihre Stimmbänder benutzen konnten.

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den Behandlungsinstrumenten und -bedingungen und nicht zuletzt von der Persönlichkeit des Arztes ausging. Nachrichten von »Wunderheilungen« überschwemmten die ärztlichen Publikationsorgane und ließen keinen Zweifel mehr an der Richtigkeit der vorherrschenden Meinungen. Selbst wenn nach Meinung der Spezialisten die Hypnose nur von wenigen charismatischen Ärzten mit Erfolg angewandt werden konnte, standen die Ärzte in ihrem Bann: »Das wesentliche Moment liegt in der Macht der Persönlichkeit des Arztes als Einzelindividuum: […] Der Name, der Ruf des Lazaretts kann von solcher Bedeutung sein, dass der Kranke schon gesund wird, wenn er nur in das betreffende Lazarett gelangt ist, und unwillkürlich fällt der Satz ins Gedächtnis: »Nimm dein Bett, stehe auf und wandle, dein Glaube hat dir geholfen.« Man muss diese Fälle und diese Behandlungserfolge miterlebt haben, um sie vollständig zu verstehen und zu – glauben.«105

Nichts war mehr übrig von den pessimistischen Ansichten eines Robert Gaupps zu Beginn des Krieges über die Heilungsaussichten der Kriegsneurotiker und dem Kampf des Arztes gegen den Kranken, den er nie gewinnen könne.106 Die deutschen Ärzte feierten überschwänglich die Erfolge der Suggestionstherapie. Die anfänglichen Bedenken waren einem erhöhten ärztlichen Selbstverständnis als Wunderheiler gewichen, der im Kampf gegen die hartnäckigen Kranken und gegen den Krieg als Sieger hervorging. Erst gegen Ende des Krieges traten erste Risse in der Erfolgsgeschichte der suggestiven Heilmethode zu Tage. Zögerlich wurde das Problem der Rückfälligkeit von bereits »geheilten« Kriegsneurotikern aufgeworfen.107 Die französischen Ärzte griffen ebenfalls auf Suggestionsmethoden, besonders auf die Elektroschocks, zurück, blieben allerdings der Hypnose gegenüber skeptisch. Der französische Internist Hippolyte Marie Bernheim hatte sie bereits Ende des 19. Jahrhunderts als therapeutisches Instrument zur wissenschaftlichen Anerkennung gebracht.108 Nach einer öffentlichen Diskussion um die gefährlichen Seiten der Hypnose rückten die Ärzte in Deutschland wie in Frankreich zunehmend von dieser Therapieform ab. Umso erstaunlicher ist der Rückgriff auf die Hypnose in Deutschland während der Kriegszeit. Die französischen Ärzte verblieben hingegen bei ihrer vorsichtigen Haltung der Vorkriegszeit. Patientenrechtliche Aspekte wurden mitberücksichtigt: Der Betroffene müsse in die Behandlung einwilligen und der Vorteil dieser thera105 Buttersack, Die Suggestion und ihre Verwendung als Heilfaktor. Kriegsärztlicher Vortrag mit Demonstrationen, gehalten am 29. September 1917 in Stuttgart, in: MCWÄL, 1. Dezember 1917, Nr. 48, S. 514. 106 Gaupp, R., Hysterie und Kriegsdienst, in: MMW, 16. März 1915, Nr. 11, S. 362: »[…] neuerdings bin ich so weit gekommen, dass ich häufig vor der hysterischen Psyche die Waffen strecke und mich für besiegt erkläre.« 107 Wagner, A., Die Rückfälle der Hysteriker, in: MMW, 1. Oktober 1918, Nr. 40, S. 1106f. 108 Bernheim.

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peutischen Maßnahme klar zutage treten, so etwa der Direktor des »Laboratoire de Psychologie expérimentale d‹Aix-en-Provence« Duprat.109 Auch der für seine psychotherapeutischen Heilerfolge bekannte Gustave Roussy lehnte die Hypnose kategorisch ab.110 Zum einen sprach er ihr jegliche Heilwirkung ab. Zum anderen wäre es von großem Nachteil, wenn man die Erkrankten oder Verletzten durch eine Methode behandle, die ihnen alle Kontrolle über sich selbst nähme. Außerdem, so schrieb Roussy in seinem 1919 publizierten Werk, würden nun nach mehr als vier Kriegsjahren etliche Kranke eine solche Therapie verweigern. Eine Euphorie über eine überdurchschnittliche Heilquote der Suggestionstherapie, wie sie weite Teile der deutschen Ärzteschaft ergriff, blieb in Frankreich aus. Im Gegenteil: Vorsicht und Skepsis waren geboten. Auch für den vehementen Verfechter psychotherapeutischer Maßnahmen Gustave Roussy sollte Physiotherapie immer auch Bestandteil der Behandlung sein. Das Bewusstsein über die körperliche Funktionstüchtigkeit musste genauso wieder hergestellt werden wie der mangelnde Genesungswille des Betroffenen. Das war schon deswegen ratsam, da man etwaige organische Verletzungen nie ganz ausschließen könne. Duprat setzte sich in einem engagierten Artikel dafür ein, Stationen psychotherapeutischer Rehabilitation zu schaffen, um die ganze zerrüttete Persönlichkeit der psychisch Erkrankten wiederherzustellen.111 Suggestionstherapie allein, so Duprat, sei nur der Anfangspunkt und garantiere keine vollkommene Heilung. Seine Einrichtungen seien mit den Gesundheitsstationen für Tuberkulöse zu vergleichen, die nach einer ersten Heilungsphase an die drei Monate Erholung und tiefer greifende therapeutische Maßnahmen bräuchten. Weniger die Akutmaßnahmen der Suggestivtherapie, sondern vielmehr eine eingehende psychologische Analyse eines jeden Patienten und darauf auf bauende psycho- und physiotherapeutische Maßnahmen würden echte Heilungserfolge garantieren. Die adäquate Willenserziehung sah Duprat da109 Duprat, G.L., La psychothérapie en temps de guerre. Observations et conclusions, in: PrM, 14. April 1917, Nr. 15, S. 125. In Deutschland wurde die Frage der erforderlichen Einwilligung des Patienten in die Behandlung weit weniger oft angeschnitten. Siehe beispielsweise Buttersack, Die Suggestion und ihre Verwendung als Heilfaktor. Kriegsärztlicher Vortrag mit Demonstrationen, gehalten am 29. September 1917 in Stuttgart, in: MCWÄL, 1. Dezember 1917, Nr. 48, S. 516: »Militärischerseits scheint mir die Sache sehr einfach zu liegen: nur für »erhebliche Eingriffe« ist die Einwilligung des Kranken Voraussetzung. Nach meinen Ausführungen kann die Hypnose nicht als erheblicher Eingriff angesehen werden. Ärztlicherseits wird es von vornherein schwer sein, einen widerspenstigen und böswilligen Menschen gegen seinen Willen zu hypnotisieren. Wo also der Arzt nach einer ruhigen, erklärenden Aussprache bei dem Kranken auf Widerstand stösst, wird er besser eine andere »aktive« Methode wählen.«. Siehe hierzu auch das Kap. II.2 »Das Individuum im Krieg: Patientenrechtliche Aspekte« im ersten Teil dieser Arbeit. 110 Roussy u.a, S. 58. 111 Duprat, G.L., La psychothérapie en temps de guerre. Observations et conclusions, in: PrM, 14. April 1917, Nr. 15, S. 125.

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durch gewährleistet, dass den Ärzten ein Hilfspersonal aus Grundschullehrern zur Seite gestellt werden sollte. Als mit anhaltender Kriegsdauer immer absehbarer wurde, welche seelischen Wunden der Krieg dem männlichen Teil der Bevölkerung geschlagen hatte, verstand sich in Frankreich die Suggestionstherapie als Akutmaßnahme, welche die psychischen Verheerungen nicht restlos und dauerhaft beseitigen könne. Eine tiefergreifende Wiederherstellung sollte den Akutmaßnahmen folgen.

4. Die militärische Beurteilung der Kriegsneurotiker Vom militärärztlichen Standpunkt aus betrachtet war die Sachlage eindeutig112: In Deutschland wie in Frankreich galt die Richtlinie, dass Ansprüche auf staatliche Versorgungsleistungen derjenige habe, dessen Leiden durch den Krieg verursacht oder aber verschlimmert wurde. Um dem Kriegsneurotiker eine finanzielle Entschädigung vorzuenthalten, müsste demnach der Nachweis erbracht werden, dass die Erkrankung auch ohne den Krieg und zwar in demselben Ausmaß ausgebrochen wäre. Angesichts der überwältigenden Kriegseindrücke konnten Ärzte − wenn sie auch nicht einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Krankheit und Krieg annehmen wollten − eine Verschlimmerung der Erkrankung nicht restlos ausschließen. Die militärärztlichen Bestimmungen stellten sich auch für die psychisch Erkrankten als überaus günstig heraus. So beurteilte Robert Gaupp mit einigem Bedauern: »[…] nach dem Gesetz ist auch nach jeder nachgewiesenen Verschlimmerung eines schon früher, vielleicht von Geburt bestehenden Leidens, das gesamte Zustandsbild und seine Wirkungen auf die Erwerbsfähigkeit als D.B. [Dienstbeschädigung] anzuerkennen. Wenn also ein schwächlicher und ängstlicher Psychopath am ersten Abend, an dem er in den Schützengraben kommt, ehe auch nur der erste Schuss fällt, in hysterische Krämpfe verfällt (eigene Beobachtung), so ist an diesem Gang der Dinge natürlich zu 99% die schwere Psychopathie schuld und nur zu 1% der Schützengraben, in den die andern alle ganz gesund bleiben. Aber dies eine Prozent genügt nach üblicher Auffassung, um dem Manne die K.D.B. [Kriegsdienstbeschädigung] zuzusprechen, und wenn er nun, vielleicht lange als Epileptiker behandelt, schliesslich seine hysterische Anfälle weiterbehält, so muss er ausgemustert werden, bekommt nicht selten eine hohe Rente und die Kriegszulage, obwohl er nichts für das Heer geleistet hat.«113

Die Beurteilung der Kriegsneurotiker entschied sich freilich nicht allein nach versorgungsrechtlichen Kriterien. Deutsche wie französische Ärzte argumentierten medizinisch und militärisch. Die militärischen Versorgungsansprüche 112 Siehe allgemein zur Frage der Dienstbeschädigung im Vergleich: Geyer, S. 230–277. 113 Gaupp, R., Die Frage der Dienstbeschädigung bei den Neurosen. Fortbildungsvortrag, gehalten am 3. März 1917, in: MCWÄL, 28. April 1917, Nr. 17, S. 186.

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und -leistungen waren schon an sich Teil der medizinischen Diagnose- und Prognosestellung. Der Wunsch nach einer angemessenen Entschädigung beeinflusste nach medizinischer Ansicht die Entstehung und den Verlauf der Erkrankungen. Die Kriegsrente stelle eine militärische Auszeichnung dar, die den Patienten »im Glauben« beließ, tatsächlich krank zu sein. Seine Heilung wurde dadurch wesentlich verzögert oder gar verhindert. Die Debatten über die Kriegsdienstbeschädigung bei psychisch Erkrankten entpuppten sich also als ein unentwirrbares Geflecht von medizinischen und militärischen Argumentationsmustern. In Frankreich differenzierten die Ärzte zwischen den hysterisch Erkrankten und denjenigen neurologischen Störungen, bei denen ein anatomisches lädiertes Substrat angenommen werden müsse. Es blieb nur offen, wie die Proportionen zwischen den beiden Krankheitszuständen zu gewichten seien. Diese differenzierte Sicht schlug sich auch in der Dienstbeschädigungsfrage nieder. Am 6. und 7. April 1916 kamen die Repräsentanten der im Krieg geschaffenen Centres neurologiques zusammen, um eine gemeinsame Richtlinie zu vereinbaren, wie man mit den Erkrankten in rechtsmedizinischer Hinsicht zu verfahren habe.114 Sie konnten sich darauf einigen, dass es auf der einen Seite die durch suggestive Gegenmaßnahmen schnell heilbaren Erkrankungen gebe, auf der anderen Seite diejenigen Erkrankungen, bei denen psychotherapeutische Maßnahmen keine Wirkung zeitigen würden. Es handelte sich im Grunde um die Babinskischen Krankheitseinteilungen in »troubles pithiatiques« und »troubles physiopathiques«. Babinski war zudem der Berichterstatter und Diskussionsleiter der Versammlung. Obwohl die zweite Kategorie von Störungen noch nicht genauer bestimmt werden könne, lägen doch physiologische Störungen vor. Der Erfolg oder Misserfolg der Psychotherapie war das wesentliche differentialdiagnostische Merkmal. Diesem pathogenetischen Schema entsprechend, schlug die Expertenrunde folgende Vorgehensweise vor: Nachdem alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft seien und sich immer noch kein Heilungserfolg eingestellt hatte, könnte man einem Genesungsurlaub und einer »réforme temporaire«, d.h. einem zeitweiligen Ausscheiden aus dem Militärdienst, zustimmen.115 114 Les caractères des troubles moteurs (paralysies, contracture, ect.) dits «fonctionels» et la conduite à tenir à leur égard, in: RNeur 1, 1916, S. 521–564, rezensiert in: Conclusion pratiques des réunions de la Société de Neurologie de Paris et des Centres neurologiques militaires de France et des pays alliés, in: PM, 13. Juli 1916, Nr. 39, S. 309. 115 Das französische Pensionssystem sah eine réforme Nr. 1 vor, bei der der Betroffene dienstuntauglich geschrieben wurde, da er sich bei der Ausübung seiner militärischen Dienstpflicht ein Leiden zugezogen oder aber ein bereits vorher bestandenes Leiden verschlimmert hat. Die Höhe der finanziellen Entschädigungsleistungen errechnete sich nach dem Prozentsatz der funktionsuntüchtigen Gliedmaßes oder Organs prozentual zu einer absoluten Funktionstüchtigkeit. Bei der réforme Nr. 2 wurde der Betroffenen dienstuntauglich ohne finanzielle Entschädigung

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Ähnliche Bestimmungen galten auch für die »commotionnés« des Krieges. Eine synoptische Gegenüberstellung der Pensionsgesetze von 1831, 1915 und 1919 zeigt die Veränderungen, welche die Entschädigungssätze mancher Erkrankungen und Verletzungen im Laufe der Kriegszeit erfahren hatten.116 Die »troubles commotionnels« wurden im Jahr 1915 noch überhaupt nicht entschädigt. Die Debatten in den medizinischen Kreisen um dieses Krankheitsbild verbesserten die Situation des Betroffenen: 1919 bekam er je nach Schwere des Falles und der Funktionsuntüchtigkeit der betroffenen Gliedmaßen oder Organe 20–50% des Gesamtsatzes. Eine diagnostizierte Hysterie wurde nicht als Kriegsschaden anerkannt. Die Ärzte waren sich über die sozialen, finanziellen und militärischen Implikationen erstaunlich einig. Auch auf einer Versammlung der »Société de Neurologie de Paris« und der Repräsentanten der »Centres neurologiques et psychiatriques militaires« stieß der Grundsatz, hysterische oder pithiatische Störungen nicht zu entschädigen, auf keine Gegenstimme.117 Hatten sich eventuelle organische Störungen auf die ursprünglich hysterischen aufgepfropft, sollte man von den letzteren bei der Evaluation der noch verbleibenden Funktionsfähigkeiten absehen. Des Weiteren wurden von dem Expertengremium diverse Krankheitsbilder, das Zittern, die Camptocormie,118 die Ticks, die Spasmen aufgezählt. In der Tendenz sollte auch hier keine »réforme« ausgeschrieben werden, wenn die Fälle auf keine organische Verletzung zurückgingen. Den Hysterikern seien irgendwelche Arten von Zuwendungen nicht zuträglich. Als Begründung dieser militärischen Entscheidungen dienten vor allem medizinische Argumente. Der ärztliche Grundsatz galt, dass es sich bei den »pithiatiques« um eine heilbare Erkrankung handele. Psychisch Erkrankte sollten möglichst schnell, am besten gleich hinter der Front und wirkungsvoll durch Suggestion behandelt werden, jede Verzögerung mache die Aussicht auf Heilung nur noch schlechter. In den Gesellschaften und Vereinen gab es in dieser Frage keinen Widerspruch, entsprachen doch, so die einhellige Meinung, die verschiedenen militärischen und medizinischen Behandlungsmethoden jeweils der Natur der Erkrankung. Nichts wäre ungünstiger für die Heilungsaussichten eines hysterisch Erkrankten als die Entscheidung höherer ärztlicher oder militärischer Stellen, ihn als geschrieben. Eine réforme temporaire wurde bei einer Verletzung oder Erkrankung festgestellt, die es dem Betroffenen zum jeweiligen Zeitpunkt unmöglich macht, seinen Dienst zu tun. Eine zukünftige Wehrdienstleistung war jedoch nicht ausgeschlossen. Siehe zu dem System und der praktischen Durchführung der Dienstbeschädigungsfrage Duco u. Blum. 116 Ministère de la Guerre, S. 64f. 117 Réunion de la Société de neurologie de Paris et des chefs des centres neurologiques et psychiatriques militaires, 15. Dezember 1916, La réforme, les incapacités et les gratifications dans les névroses et psychoses de guerre, in: RNeur 2, 1916, S. 750–890. 118 Bei der Camptocormie handelte es sich um sehr häufig beobachtetes hysterisches Erscheinungsbild, eine nicht zu lösende Beugung des Rumpfes nach vorne.

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dienstuntauglich und versorgungsberechtigt zu entlassen und ihm damit die Bestätigung seiner Krankheit zu geben. In harmonischer Weise verbanden sich im ärztlichen Fachdiskurs das militärische Interesse um eine rasche Wiederherstellung der psychischen Integrität der Soldaten und das ärztliche Bemühen um Heilung versprechende Behandlung. Der Chefarzt des Centre Neurologique der 16. Region, Maurice Villaret, lieferte unter anderem die Bestätigung dieser von den Experten ausgearbeiteten Richtlinie, in denen der Behandlungserfolg so entscheidend war. Er schilderte die hohe Heilquote der therapeutischen Maßnahmen, die in seiner Spezialabteilung durchgeführt wurden und durch die er die 16. Region nahezu von allen reinen Psychoneurosen »reinigen« konnte.119 Aber auch Villaret musste eine Kategorie von Erkrankten ausschließen, deren neurotische Verkrampfungen, Lähmungen oder sensitive Störungen gegen jegliche Therapieversuche resistent zu bleiben schienen. Im Laufe des Krieges sollten sich in der Tat die Grenzen der Babinskischen Theorie zeigen. Die französischen Ärzte tauften solche hartnäkkigen Fälle die »persévérateurs« [die Beharrlichen]. Über diese persévérateurs – ein unschöner Makel in der Erfolgsgeschichte seiner Behandlungsstation − wusste Villaret nichts anderes zu berichten, als dass es ihm als angebracht erschien, sie in die Spezialeinrichtungen in Frontnähe zurückzuschicken. Tatsächlich schuf dieser Schulterschluss von militärischen und medizinischen Instanzen zunächst einmal Übergangslösungen. Vor allem forcierte er den Ausbau von Einrichtungen für die medizinische Versorgung und militärische Auf bewahrung von Kriegsneurotikern, sowohl im Front- und Etappengebiet, wo neue Strukturen geschaffen werden mussten, als auch in der Heimat, wo auf alte Einrichtungen zurückgegriffen werden konnte. Damit bildeten sich Strukturen und erste ärztliche Erfahrungen mit einer Notfallmedizin für akut psychische Erkrankungen heraus mit dem Ziel, den betroffenen Soldaten möglichst unmittelbar nach der Traumatisierung in ärztliche Obhut zu bringen. Hier zeichnete sich eine analoge Entwicklung zu der medizinischen Versorgung körperlich Schwerstverletzter ab.120 Aber auch diese Übergangslösung stieß an ihre Grenzen: »Der »persévérateur« ist Opfer seiner Gewohnheiten. Er befindet sich in einem Zustand, in dem er unauf hörlich Entschädigung fordert. Das Krankheitsbild entspricht nun nicht mehr dem Kriterium des Herrn Babinskis, da in den Verlauf der »pithiatischen« Erkrankung Komplikationen eingetreten sind. Wenn nun alle therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, so auch die spezielle Behandlungsstationen für 119 Villaret, M., Rééducation psycho-physiothérapique des malades et blessés de guerre atteints de troubles psychonévrosiques purs ou associés. La cure d’isolement et de rééducation fonctionnelle au Centre neurologique de la XVIe région, in: PaM, Bd. 27, Nr. 25, 22. Juni 1918, S. 481–488. 120 Abadie, La neuro-psychiatrie d’urgence aux armées, in: PM, 18. November 1915, Nr. 56, S. 461; siehe hierzu auch Delaporte, Névroses, S. 357–365.

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Isolierungsmaßnahmen, so kann man annehmen, dass – biologisch der pithiatisme immer noch per Definition unter dem Einfluss von Überredung heilen kann – seine Heilung sich doch praktisch und soziologisch allen Methoden widersetzt. Schuld daran sind die aktuellen Bedingungen, d.h. der fiebrige und moralische Druck, die sich in einem Wort zusammenfassen lassen: der Krieg.«121

Mit seiner Ansicht eines Kampfes des Arztes nicht nur gegen den mangelnden Gesundungswillen des Erkrankten, sondern gegen den Krieg selbst stand der Pariser Psychiater Laignel-Lavastine in der französischen Ärzteschaft nicht allein da. So betonte etwa auch Gilbert Ballet, dass es sich bei den »commotionnés« um eine rein psychische Erkrankung handele und von daher dem Heilungsfortschritt ein wesentlicher psychischer Faktor entgegenstehe: die Aussicht, wieder an der Front die gleichen schrecklichen Szenen noch einmal erleben zu müssen, die ja für die Erkrankung verantwortlich zu machen seien.122 Nur der Friedensschluss oder die Bestätigung der Dienstuntauglichkeit könne diese »commotionnés« heilen, wenn auch die militärärztlichen Kommissionen an dieser Maßnahme keinen Gefallen finden mögen. Militärische und medizinische Interessen zögen nicht unweigerlich an einem Strang, so Ballet weiter, auch wenn es die Situation erfordere, die rein medizinischen Belange den militärischen unterzuordnen. War sich Ballet auch sicher, dass die seelisch und körperlich Erschütterten als dienstuntauglich ausgemustert werden sollten, konnte er sich doch nicht dafür entscheiden, ob mit (»réforme« Nr. 1) oder ohne finanzielle Entschädigungen (»réforme« Nr. 2).123 Es sei ungerecht, die Erkrankten ohne eine Kriegsinvalidenrente zu entlassen, da ihre Störungen durch den Krieg verursacht würden. Gewähre man aber die »réforme« Nr. 1, belaste man nur ungebührlich die Staatskassen, zumal es nach der Rückkehr in die Heimat wahrscheinlich sei, dass der Erkrankte wieder ganz gesund werden würde. Man müsse, so das Fazit Ballets, Zeit gewinnen und bis zur Beendigung der Kampf handlungen keine der beiden »réformes« gewähren. Laignel-Lavastine fasste in seinem Artikel über die militärärztlichen Maßnahmen gegenüber solchen »persévérateurs« die zwei unversöhnlichen Ansichten über die Anerkennung dieser Erkrankten als Kriegsinvaliden mit Versorgungsanspruch zusammen.124 Einige Ärzte wollten solchen Anspruch nicht anerkennen, da die Betroffenen gesund werden könnten. Die Gewährung schaffe Präzedenzfälle, die zur Nachahmung (»contagion du mauvais exemple«) anstifte und damit der Drückebergerei Vorschub leiste. Außerdem sei es unmoralisch, die »Bösen« vom Kriegsdienst zu befreien, wohingegen die »Gu121 Laignel-Lavastine, Les persévérateurs (Diagnostic, traitement, médecine légale), in: PaM, Bd. 29, Nr. 27, 1918, S. 10. 122 Ballet, G. u. J. Rogues de Fursac, Les psychoses « commotionnelles « (psychoses par commotion nerveuse ou choc émotif ), in: PaM, Bd. 19, Nr. 1, 1916, S. 7. 123 Ebd., S. 7. 124 Ebd., S. 10–11.

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ten« sich töten ließen.125 Laignel-Lavastine stellte sich selbst gegen eine solche strenge und unnachgiebige Haltung gegenüber den »persévérateurs«. In manchen Fällen sei die Gewährung eines Versorgungsanspruches durchaus gerechtfertigt. Dafür sprächen sowohl praktische Gründe: Ein auf unbestimmte Zeit angelegter Krankenhausaufenthalt sei ebenfalls kostspielig und platzraubend für andere Erkrankte. Hinzu käme, dass der Patient für seine heilungsresistente Erkrankung nicht allein verantwortlich sei. Auf Grund einer unangemessenen Therapie und Pflege hätten ihn Ärzte und Krankenschwestern im Glauben einer tatsächlichen Erkrankung belassen. Diese Heterosuggestion sei ebenso schuld daran, dass er nicht gesunden könne. Einig waren sich die Ärzte darüber, dass der Erkrankte nur zeitweilig dienstuntauglich und versorgungsberechtigt erklärt werden sollte.126 Eine aus jeweils einem Psychiater, Chirurgen und Neurologen zusammengesetzte Kommission sollte den Versorgungsberechtigten in regelmäßigen Abständen nachuntersuchen und nachbehandeln, so dass kein zwischenzeitlich Geheilter eine Kriegsrente in Anspruch nahm. Die Höhe des Versorgungsanspruches errechnete sich nach der Schwere und dem Grad der Invalidität. Laignel-Lavastine betonte, dass dieser bis zu 100% verringert werden könne, falls der betroffene Soldat eine ungefährliche Behandlung verweigern oder nichts zu seiner Gesundung beitragen würde.127 In einem »livret individuel de traitement« könnten Noten von 1 bis 5 vergeben werden, anhand derer der Invaliditätsgrad und damit die Rentenansprüche um ein Fünftel, zwei Fünftel, usw. bis zu fünf Fünftel vermindert werden könnten: »Nehmen wir einen persévérateur mit einer funktionellen beidseitigen Lähmung an. Der Invaliditätsgrad wäre damit bei 60%. Aber der mangelnde Wille, sich behandeln zu lassen, ist auf dem individuellen Behandlungsschein mit 3 benotet, der Invaliditätsgrad wird dementsprechend vermindert: 60 – (60 × 3) : 5 = 24.«128 Solche Überlegungen, die zwar von einem berechtigten Versorgungsanspruch ausgingen, diesen jedoch in einem ausgeklügelten System vom Genesungswillen abhängig machten, wurden indes eher selten angestellt. Im Allgemeinen taten sich die französischen Ärzte schwer damit, die finanziellen 125 Siehe hierzu auch den Beitrag mit anschließender Diskussion von Briand, M. u. Delmas, Des indemnités aux militaires »persévérateurs« atteints de troubles fonctionnels hystériques. Sitzung in der Société de Médecine légale, Oktober/November 1917, in: PM, 17. Dezember 1917, Nr. 70, S. 717. 126 Siehe auch Delmas, Les troubles persistants de l’hystérie de guerre. Sitzung in der Société de Médecine légale im Juni 1918, in: PM, 18. Juli 1918, Nr. 40, S. 369; Grasset, Le traitement des psychonévroses de guerre, in: PM, 28. Oktober 1915, Nr. 52, S. 452. 127 Siehe zum Patientenrecht, einen therapeutischen Eingriff zu verweigern Kap. II.2. »Das Individuum im Krieg: Patientenrechtliche Aspekte« im ersten Teil dieser Arbeit. 128 Laignel-Lavastine, Les persévérateurs (Diagnostic, traitement, médecine légale), in: PaM, Bd. 29, Nr. 27, 1918, S. 12.

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staatlichen Versorgungsansprüche auch auf das Gebiet der rein neurotischen Erkrankungen ohne organische Verletzung auszudehnen.129 Übergangslösungen, wie die mehrmalige Nachbehandlung in den frontnahen neurologischen Stationen, leisteten eine provisorische Abhilfe. In Deutschland teilten die Ärzte im ersten Kriegsjahr keineswegs die optimistischen Einschätzungen ihrer französischen Kollegen über eine rasche und unbedingte Heilbarkeit der Erkrankungen. Im Gegenteil: Robert Gaupp zeichnete in der ersten Kriegszeit sogar ein recht pessimistisches Bild vom Kampf zwischen Arzt und Hysteriker, in dem der Arzt fast immer der schwächere sei, solange der Krieg andauerte. »Als ich an die Behandlung der nervösen, namentlich der hysterischen Kriegsfolgen heranging, stand ich auf dem ärztlich-pädagogischen Standpunkt (den uns Neurologen namentlich die Erfahrungen mit der Unfallhysterie gebracht haben), dass ich mir sagte, es müsse mit allen Mitteln die Wiederkehr der Felddienstfähigkeit angestrebt werden. Nicht bloss der eigene Patriotismus, sondern auch die wissenschaftliche Auffassung vom Wesen der Hysterie liessen es mir wünschenswert erscheinen, die Wiederaufnahme des Dienstes tunlichst zu erzwingen. Ich scheute mich auch nicht, manchmal zu einem ernsten Appell an das Ehrgefühl und die soldatische Pflicht meine Zuflucht zu nehmen. Allmählich wurde ich weniger zuversichtlich und neuerdings bin ich so weit gekommen, dass ich häufig vor der hysterischen Psyche die Waffen strecke und mich für besiegt erkläre.«130

Die oberste Pflicht des Arztes sei es nun vielmehr, »das Reich vor einer Anhäufung von geistigen Invaliden und lebenslänglichen Kriegsrentenempfängern zu schützen«. Das konnte, so Gaupp, nur erreicht werden, indem man die neurotischen Erkrankten am besten gleich bei der ersten Tauglichkeitsprüfung bzw. nach dem ersten Zusammenbruch ausmusterte. Mit Bangen schauten die Ärzte auf den bevorstehenden Friedensschluss, wenn das »Heer der psychisch Erkrankten« nun Versorgungsansprüche an die durch die Kriegskosten sowieso schon hoch belasteten staatlichen Kassen stellen würde. Damit ähnelten sich die ärztlichen Argumentationsmuster, wie mit den psychischen Kriegsopfern umgegangen werden sollte, auf beiden Seiten der Grenze. Die Überzeugung der französischen Ärzte, dass es sich um eine heilbare Erkrankung handele, führte zum Ausbau frontnaher neurologischer Behandlungsstationen, wohingegen man in Deutschland eher dazu tendierte, die Erkrankten aus dem Frontbereich 129 Dies wird auch in Deutschland registriert: siehe Stier, E., Gesichtspunkte für die Beurteilung der Rentenversorgung bei Psychopathen und Neurotikern, Zentralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen in Preußen, Berlin, 27.5 bis 27.6.1918, in: DMW, 20. Juni 1918, Nr. 25, S. 702: »Auch die französischen Psychiater nehmen diese Stellung den Neurotikern gegenüber ein: dort werden Neurotiker bei der Feldarmee belassen; bei der eigentlichen Hysterie werden niemals Rentenansprüche anerkannt, alle pathologischen Reaktionen sollen durch Behandlung beseitigt werden; falls dies nach halb- bis einjähriger Behandlung nicht gelingt: 20% Rente.« 130 Gaupp, R., Hysterie und Kriegsdienst, in: MMW, 16. März 1915, Nr. 11, S. 362.

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zu entfernen. Erst im späteren Kriegsverlauf brachte die ansteigende Zahl der hartnäckigen Fälle (»persévérateurs«) den französischen Optimismus ins Wanken. Etwa zur gleichen Zeit schlug in Deutschland die Euphorie über die hohe Erfolgsquote der Therapiemöglichkeiten hohe Wellen. Damit kann man für die deutsche und französische Situation während der Kriegszeit geradezu von gegenläufigen Entwicklungen sprechen. Es gelang den deutschen Ärzten nicht immer, jeden Kriegsneurotiker von vorneherein oder frühzeitig auszumustern, um seine Erwerbsfähigkeit zu erhalten, was Gaupp zu Kriegsbeginn als die beste Lösung des Problems vorgeschlagen hatte. Auf Grund fehlender Übergangslösungen, wie der systematische Ausbau der frontnahen Nervenstationen in Frankreich, mussten die deutschen Ärzte viel eher die Frage nach der Dienstuntauglichkeit mit oder ohne Invalidenrente stellen. Es stand außer Zweifel, dass die deutschen Kriegsneurotiker nach den gültigen militärischen Bestimmungen Anspruch auf finanzielle Entschädigungsleistungen hatten, wenngleich unter der Bedingung, dass der ärztliche Gutachter einwandfrei feststellen konnte, dass die neurotischen Krankheitserscheinungen durch den Militärdienst hervorgerufen wurden oder sich verschlimmert hatten.131 Diese Bestimmung blieb im Grunde unberührt von der aktuellen Diskussion um die körperliche oder seelische Herkunft der Störungen. Ausdrücklich wurde in den Beratungen des »Wissenschaftlichen Senats der Kaiser Wilhelms-Akademie« hervorgehoben, dass das medizinische Argument, eine anerkannte Dienstbeschädigung verhindere suggestiv die Heilung, nicht ausschlaggebend für die Beurteilung sein dürfe. Für die Annahme von Dienstbeschädigung war demnach allein entscheidend, ob der Krieg bzw. Militärdienst als Ursache des Krankheitsausbruches oder -verschlimmerung anzusehen waren. Auch die Vertreter der psychogenen Krankheitsverursachung konnten nicht umhin, die seelischen Traumatisierungen durch anhaltendes Artilleriefeuer oder Verschüttungen in einen kausalen Zusammenhang, wenn auch nicht mit der Verursachung, so doch mit der Verschlimmerung seelischer Erkrankungen zu stellen. Das traf nicht auf die Gewährung von zusätzlichen finanziellen Leistungen zu, etwa der Verstümmelungszulage, deren Bedeutung für den Betroffenen erheblich sein konnte. Selbst die Anerkennung einer 100%en Erwerbsunfähigkeit und damit einer Vollrente für einfache Soldaten garantierte nur eine armselige Existenz.132 In dieser Hinsicht wurde der wissenschaftlich vorherrschenden Meinung einer psychogenen Krankheitsverursachung von Seiten des 131 Anhaltspunkte für die militärärztliche Beurteilung der Frage der Dienstbeschädigung oder Kriegsdienstbeschädigung bei den häufigsten psychischen und nervösen Erkrankungen der Heeresangehörigen. Auf Grund von Beratungen des Wissenschaftlichen Senats bei der Kaiser Wilhelms-Akademie, in: Deutsche Militärärztliche Zeitschrift. Zentralblatt für das gesamte Heeres- und Marine Sanitätswesen, November 1918, Nr. 21/22, S. 402–404. 132 Siehe hierzu Whalen, S. 83 ff.

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Staates Rechung getragen. Kurz nach der Münchener Tagung im September 1916 übernahm der Erlass des Preußischen Kriegsministeriums vom 12. Oktober 1916 den Begriff der psychogenen Krankheit bezüglich der Verstümmelungszulage, die zusätzlich zur Kriegsinvalidenrente bei Verlust eines Körperoder Sinnesorgans bewilligt wurde: »Die Gewährung von Verstümmelungszulagen kommt bei den unter Ziffer 131 b–g aufgeführten Zuständen nicht in Frage, sofern und solange die Gesundheitsstörungen lediglich durch krankhafte Vorstellungen bedingt werden (sog. psychogene Störungen, wie hysterische Lähmung, hysterische Stummheit u. dergl.). In diesen Fällen darf zur Vermeidung von Missverständnissen von einem »Verlust« der Sprache, des Gehörs, der Augen, von Gliedmassen oder von einer »Erblindung« in den ärztlichen Zeugnissen nicht gesprochen werden, da ein »Verlust« oder eine »Erblindung« im gesetzlichen Sinne nicht vorliegt. Diese Bestimmung ist auch bei den Nachuntersuchungen anzuwenden.«133

Wissenschaftler und Militärbehörden hatten in dieser Frage demnach eng zusammengearbeitet. Die ärztliche Unterscheidung zwischen einer organischen und einer psychogenen Erkrankung erlangte militärgesetzliche Kraft. Zu den finanziellen Entscheidungsleistungen kamen weitere militärische Anerkennungen wie Orden und Abzeichen. Auch hier machten die Ärzte keinen Hehl daraus, wem die Heldenehre und die staatlichen Entschädigungszahlungen gebührten. »Eine leichte körperliche Schädigung, sagen wir etwa eine leichte Versteifung des Schultergelenks, ist immer noch als schwerere Gesundheitsschädigung einzuschätzen als die anscheinend schwerste Neurose«, so Max Lewandowsky.134 Der ordinierende Nervenarzt in Allenstein E. Loewy warnte 133 Zitiert in Gaupp, Die Frage der Verstümmelung bei den Nervenkranken und Nervenverletzten des Krieges, Militärärztlicher Fortbildungsvortrag in Stuttgart am 14. April 1917, in: MCWÄL, 23. Juni 1917, 25, S. 281. Die Ziffer 131 bezieht sich auf die Dienstanweisung vom 9. Februar 1906, in der es heißt: »Unteroffiziere und Gemeine, die durch Dienstbeschädigung in der nachstehenden Weise an der Gesundheit schwer geschädigt sind, erhalten für die Dauer dieses Zustandes neben der Rente: a) beim Verluste je einer Hand oder je eines Fusses, b) beim Verluste der Sprache, c) beim Verluste des Gehörs auf beiden Ohren eine einfache Verstümmelungszulage, d) bei Verlust oder Erblindung beider Augen eine doppelte Verstümmelungszulage. Die Bewilligung je einer einfachen Verstümmelungszulage ist ferner zulässig: e) bei Störung der Bewegungs- und Gebrauchsfähigkeit einer Hand , eines Arms, eines Fusses oder eines Beines, wenn sie so hochgradig ist, dass sie dem Verlustes des Gliedes gleichzuachten ist, f ) bei Verlust oder Erblindung eines Auges im Falle nicht völliger Gebrauchsfähigkeit des andern Auges, g) bei andern schweren Gesundheitsstörungen, wenn sie fremde Hilfe und Wartung nötig machen. Die einfache Verstümmelungszulage kann bis zum doppelten Betrag erhöht werden: h) wenn durch eine der unter a bis c und e bis g angegebenen Gesundheitsstörungen gleichzeitig schweres Siechtum verursacht wird, wodurch der Kranke dauernd an das Krankenlager gefesselt ist – Siechtumszulage bei Siechtumspflegebedürfnis –, i) bei Geisteskrankheit.« Siehe hierzu auch: Flammer, Die wichtigsten Fragen der militärärztlichen Gutachtertätigkeit. Vortrag gehalten vor den Sanitätsoffizieren des XIII. Armeekorps, in: MCWÄL, 24. Februar 1917, Nr. 8, S. 73. 134 Lewandosky, Was kann in der Behandlung und Beurteilung der Kriegsneurosen erreicht werden?, in: MMW, 31. Juli 1917, Nr. 31, S. 1031

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davor, den dienstuntauglich entlassenen Kriegsneurotikern das Verwundetenabzeichen zu geben, obwohl sie darauf nach den militärischen Bestimmungen durchaus ein Recht hätten.135 Es sei unmoralisch, so Loewy weiter, dass der nach einem Schreck als dauerhaft kriegsunfähig entlassene Kriegszitterer sich das Recht erwerbe, als »Verwundeter« bemitleidet zu werden, wohingegen andere, die auf die traumatischen Ereignisse nicht pathologisch reagierten, leer ausgingen.

135 Loewy, E., Kriegsneurotiker und Verwundetenabzeichen, in: MMW, 1. Oktober 1918, Nr. 40, S. 1107. Die Ausführungsbestimmungen des preußischen Kriegsministeriums vom 1. April 1918 lauteten: »Den Verwundungen sind gleichzuachten: Alle sonstigen Gesundheitsbeschädigungen Angehöriger im Felde stehender oder vorübergehend ausserhalb des Kriegsgebiets verwendeter mobiler Verbände, vorausgesetzt, dass diese Gesundheitsbeschädigungen durch die besonderen Gefahren des Kriegsdienstes hervorgerufen oder verschlimmert sind und lediglich aus diese Gründen die Entlassung aus dem Heeresdienste zur Folge haben. – Als Unterlagen für die Verleihung haben die Eintragungen in die Kriegsranglisten und Kriegsstammrollen zu dienen, Voraussetzung ist jedoch, dass ärztliche Behandlung notwendig war.«

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III. Die Rolle der inneren Krankheitsdisposition Die deutschen und französischen Kriegsärzte standen vor einem großen wissenschaftlichen Problem: Wie konnte man die Lehre von der hereditären oder erworbenen Prädisposition von Geistes- und Nervenkrankheiten mit der Tatsache vereinbaren, dass eine so große Anzahl von Soldaten den Kriegsstrapazen und seinen überwältigenden Erlebnissen psychisch nicht standzuhalten schienen, ja, dass sogar Offiziere sich der größten Heldentaten rühmen konnten und ganz plötzlich in Zittern, Weinkrämpfen und Schüttellähmungen verfielen? Sollte man angesichts dieser unwiderlegbaren Tatsachen nicht den auf das Individuum einstürmenden Wirkungen des Krieges eine wichtigere Rolle zuschreiben als dem vor dem Krieg bereits vorgeformten Terrain, das zur Krankheit prädisponiere? So sehr der Krieg als großes wissenschaftliches Experiment auch geeignet schien, eine Antwort auf offene wissenschaftliche Fragen zu geben, so wenige Aufschlüsse waren von ihm in der Prädispositionsfrage zu erwarten. Durch die hohe geographische Mobilität kamen Patienten in die ärztlichen Behandlungsstationen, über deren sozial-biographischen und krankengeschichtlichen Hintergrund den Ärzten keine weiteren Informationen zur Verfügung standen. Eine sorgfältige Anamnese war bei einer Überbelastung der medizinischen Einrichtungen und ärztlichen Kapazitäten nicht immer so leicht durchführbar wie in Friedenszeiten. Trotzdem unterließen es Ärzte nicht, ihre Kollegen im Heimatort des Patienten, aber auch Geistliche und Angehörige anzuschreiben. Dies kann zumindest für Deutschland belegt werden.136 Für den französischen Psychiater Grasset stand eindeutig fest, dass das Ereignis Krieg alle bisher nur erdenklichen krankheitsauslösenden Faktoren, seien diese exogener oder endogener Natur, in den Schatten stellen würde: »Die Kriegstraumatisierungen […] finden unter den dramatischsten und eindrücklichsten Bedingungen statt und treffen auf psychisch und physisch überbelastete Organismen, die nur geringfügig oder überhaupt nicht mehr diesem Nervenschock widerstehen können. Sicherlich spielt unter diesen Bedingungen das schon vor dem Krieg prädisponierte Terrain eine nebensächliche und zweitrangige Rolle.«137

In Frankreich vertraten etliche Ärzte die Meinung, dass im Kriegsgeschehen die Gelegenheitsursachen für den Krankheitsausbruch so stark und so gehäuft auftraten, dass auch vormals gesunde Individuen diesen nicht standhielten. Viele der im Krieg Erkrankten wären unter den zivilen Lebensbedingungen höchst136 Gaupp, R., Der Begriff der »überstandenen oder noch bestehenden Geisteskrankheit« nach Anlage 1 U 15 und die Frage der Dienstbeschädigung und Versorgung der Geisteskranken im Heere, in: MCWÄL, 10. und 17. März 1917, Nr. 11, S. 110; Uhlmann, Über nervöse und psychische Erkrankungen bei Kriegsteilnehmern, in: MCWÄL, 12. August 1916, Nr. 33, S. 326. 137 Grasset, Les psychonévroses de guerre, in: PM, 1. April 1915, Nr. 14, S. 107.

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wahrscheinlich vor dem Ausbruch ihrer psychischen Störungen verschont geblieben, so der Militärarzt Chavigny. Hatte man noch in Friedenszeiten bei den Neuankömmlingen in der Irrenanstalt diagnostizieren müssen, dass der auslösende Faktor gering, hingegen die Prädisposition besonders ausgeprägt war, müsse diese Feststellung in Kriegszeiten quasi umgekehrt werden.138 Mit Grasset und Chavigny wurde hier von prominenter Stelle aus dafür optiert, die Rolle der Prädisposition, wenn schon nicht ganz aus der Diagnose zu streichen, so doch ihre Wirkung als krankheitsauslösendes Moment stark einzuschränken. Etliche Ärzte schlossen sich diesen Feststellungen an.139 Andere blieben unentschieden und verwiesen auf die Schwierigkeit, statistische Angaben über prädisponierende Faktoren zu machen, zumal man in Kriegszeiten nur geringe Informationen über die Patienten einholen könne. Im Zuge der auf kommenden Diskussion um die Kriegsdienstbeschädigung psychisch Kranker rückte die Frage der Prädisposition in Kriegszeiten verstärkt in den Mittelpunkt ärztlicher Betrachtungen. So führte der Chefarzt des Centre Psychiatrique der 11. Region in Nantes R. Benon aus, dass von militärärztlicher Warte aus fünf Umstände zu berücksichtigen seien, die auf den gesundheitlichen Vorkriegszustand der Psyche des Patienten zutreffen könnten140: 1. In der Familie hat es Fälle geistiger oder nervöser Erkrankungen gegeben, der im Krieg Erkrankte selbst war jedoch immer in vollkommenem Besitz seiner geistigen Fähigkeiten; 2. In der Familie hat es keine solche Fälle gegeben, aber der Erkrankte hatte bereits im Laufe seines Lebens Symptome von leichten Störungen und geistiger Degeneration (d.h. konstitutionelle Charakter- und Intelligenzstörungen) gezeigt; 3. In der Familie hat es solche Fälle geistiger und nervöser Erkrankungen gegeben und der Patient selbst leidet unter leichten labilen Störungen; 4. Der Patient ist an Syphilis oder an chronischen Alkoholismus erkrankt; 5. Er leidet an einer Geistes- oder Nervenkrankheit aus der Vorkriegszeit. In einem militärärztlichen Gutachten, worin der Arzt die Entschädigungsleistung festlegen sollte, kämen aber diese Umstände nur dann zum Tragen, wenn sich der Betroffene weniger als drei Monate an der Front aufgehalten hatte. War das nicht der Fall und hatte der erkrankte Soldat die Strapazen und Gefahren des Krieges über einen längeren Zeitraum erfahren müssen, dürften diese fünf Punkte keine Berücksichtigung finden. Benon schloss seine rechtsmedizinische Handreichung an den Allgemeinarzt mit einem grundlegenden 138 Chavigny, P., La psychiatrie aux armées, in: PaM, Bd. 17, Nr. 24–25, 1915, S. 415. 139 Duvernay, L., Des contractures post-traumatiques en chirurgie de guerre, in: PaM, Bd. 17, Nr. 24–25, 1915, S. 429; ebenso Lépine, S. 4: »Je länger der Krieg dauert, desto öfters müssen wir feststellen, dass die Prädisposition an Bedeutung verliert, wohingegen die Gelegenheitsursachen als der wahrhafte Faktor der Geistesstörungen hervortreten.« 140 Benon, R., Les maladies mentales et nerveuses et la loi sur les pensions militaires, in: PM, 18. April 1918, Nr. 22, S. 199.

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wissenschaftlichen Zweifel: »Die Doktrin der geistigen Degeneration – eine tendenziell fatalistische Doktrin – muss revidiert werden: es ist sicher, dass sie wissenschaftlich ungenügend ist.«141 Er sprach sich im Fachorgan der Neurologen, der »Revue neurologique«, dafür aus, den Krieg als den hauptsächlichsten ätiologischen Faktor in Betracht zu ziehen.142 Er wollte diese neue Sichtweise auch begrifflich unter dem Namen »psychoses ou névroses métapolémique«, vom griechischen polemikos, den Krieg betreffend, gefasst wissen. Eine solche sprachliche Neuschöpfung konnte sich allerdings nicht durchsetzen. Die Bedeutung der Prädisposition für die Entstehung der Krankheiten war aus dem Fachdiskurs freilich nicht ganz verschwunden. Man musste schließlich wissenschaftlich erklären, warum die einen erkrankten und die anderen nicht. Die Prädisposition blieb ein wegweisender Faktor, um über das epidemiologische Vorkommen der Erkrankung innerhalb der Militärbevölkerung Aufschluss zu gewinnen. Gilbert Ballet etwa beantwortete diese Frage dahingehend, dass der Emotionsschock nur auf prädisponierte Gehirne eine Wirkung entfalten könne.143 Diese Individuen reagierten im Krieg wie im Zivilleben, wenn auch auf viel intensivere Art und Weise, da ja der Reiz ebenfalls viel mächtiger wirke. Ausgelöst werde die Krankheit letztlich durch die Summierung von bereits vor dem Krieg vorhandenen hysterischen Stigmata und die im Krieg durch Erschöpfung, Erkrankung oder Verletzung erworbene Prädisponierung. Auch die Unterscheidung zwischen den »emotionnés« und den »commotionnés« des Krieges brachte es mit sich, dass eher den seelisch Erschütterten eine bereits vor dem Krieg bestehende Krankheitsanlage der »hyperémotivité« zugesprochen, wohingegen den mechanisch Erschütterten eine solche nicht unterstellt wurde.144 Dennoch geriet die Lehrmeinung über die erbliche und erworbene Veranlagung ins Wanken. Die ärztlichen Kriegserfahrungen beschleunigten diese Entwicklung. Bereits vor dem Krieg drifteten die Meinungen der wortführenden Neurologen und Psychiater auseinander, was die Einschätzung des prädisponierenden Faktors in der Entstehung hysterischer Störungen betraf. Auf der jährlichen Versammlung der Pariser neurologischen und psychiatrischen Gesellschaft im Dezember 1909 waren die Meinungen der Diskussionsteilnehmer geteilt.145 141 Ebd., S. 199. 142 Ders., Les Maladies Mentales et Nerveuse de la Guerre, in: RNeur 1, 1916, S. 211. 143 Ballet, G. u. J. Rogues de Fursac, Les psychoses « commotionnelles « (psychoses par commotion nerveuse ou choc émotif ), in: PaM, Bd. 19, Nr. 1, 1916, S. 4. 144 Mairet, A. u. H. Piéron, Le syndrome émotionnel, sa différenciation du syndrome commotionnel, in: AMédPsych, Bd. 8, April 1917, S. 183–206, rezensiert in: PM, 7. Juni 1917, Nr. 32, S. 336. 145 Réunion annuelle de la Société de Neurologie de Paris et de la Société de Psychiatrie de Paris, Séance du 9 décembre 1909, in: Encéphale, Nr. 1, 1910, S. 213–220.

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In Deutschland beantworteten Ärzte die Frage nach der Rolle der endogenen Veranlagung angesichts der hohen Erkrankungsrate unterschiedlich. Dass so viele offenbar ganz gesunde Menschen mit hochgradigen Erschöpfungs- und Dämmerzuständen und hysterieähnlichen Symptomen in die Lazarette eingeliefert wurden, veranlasste nicht wenige Ärzte, von den gängigen Lehrmeinungen über die Hysterie abzuweichen. So häuften sich die ärztlichen Stimmen, die der Wucht der psychischen Einwirkungen des Krieges auf die Männer mehr Aufmerksamkeit schenkten und ausdrücklich darauf hinwiesen, dass psychische Erkrankungen nicht nur auf einen kleineren Personenkreis der »Labilen« und »Minderwertigen« beschränkt blieben.146 Um die große Anzahl der »gesunden Kranken« zu erklären, wurden zumeist exogene und endogene Faktoren gegeneinander aufgewogen. Je mächtiger psychische Traumen und körperliche Erschöpfung wirkten, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass auch vormals Gesunde erkrankten. Der Oberarzt an der Königlichen Heilanstalt Winnental und zur Kriegszeit Bataillonsarzt an der Front, Wittermann, nahm gar an, dass »die Strapazen und Erregungen des Krieges als ein direkter Gradmesser der Gesundheit und Widerstandsfähigkeit des Nervensystems anzusehen« seien.147 Er ließ vorerst dahingestellt, wie die Frage zu beantworten sei, ob nur »präformierte Persönlichkeiten« von den nervösen Erkrankungen betroffen wären. Er gab indes zu, dass auch solche Leute akut erkrankten, denen »jeder Fachmann bei längerer Unterredung und oftmaligem Verkehr ein intaktes Nervensystem, eine intakte Psyche zubilligen wird«. Auch der Hamburger Arzt Weygandt, für den prinzipiell eine pathologische Disposition die Erkrankungen auszulösen vermochte, gestand im März 1915, dass es auch einwandfreie Fälle ohne eine disponierende Grundlage gebe.148 Oftmals sprachen die Ärzte nicht mehr von einer hereditären Prädisposition, etwa von hysterischen Stigmata, sondern von einer erworbenen Disponierung: »Ja, wie normale Charaktereigenschaften erworben werden können, so können 146 Siehe beispielsweise Edel, M., Neurosen und Psychosen, in: DMW, 1. Januar 1915, Nr. 1, S. 30; der Stationsarzt des Reservelazaretts in Gießen Kaess, 56 behandelte Fälle von hysterischer Stimmlosigkeit und Stummheit bei Soldaten, in: DMW, 21. Juni 1917, Nr. 25, S. 787; Schüller, Heilung der Erscheinungen der Kriegshysterie in Wachsuggestion, in: DMW, 24. Mai 1917, Nr. 21, S. 652; der Assistenzarzt am Reservelazarett III Hamburg-Altona Wachsner, F., Zur Behandlung funktioneller Störungen bei Soldaten nach modifiziertem Kaufmann-Verfahren, in: DMW, 30. August 1917, Nr. 35, S. 1104. 147 Wittermann, E., Kriegspsychiatrische Erfahrungen aus der Front. Vortrag gehalten auf der 40. Versammlung der südwestdeutschen Neurologen und Psychiater in Baden-Baden am 29. Mai 1915, in: MMW, 24. August 1915, Nr. 34, S. 1164f. Ein Ausbalancieren der exogenen gegen die endogenen Faktoren forderte auch Laudenheimer, Die Anamnese der sogenannten Kriegspsychoneurosen. Vortrag gehalten auf der Versammlung südwestdeutscher Neurologen und Psychiater, Baden-Baden, 29. Mai 1915, in: MMW, 21. September 1915, Nr. 38, S. 1302–1304. 148 Weygandt, Nervöse Erkrankungen im Kriege, Ärztlicher Verein Hamburg, 9.3.1915, in: DMW, 22. Juli 1915, Nr. 30, S. 902.

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auch psychopathologische Charaktereigenschaften erworben werden und mit ihnen natürlich auch die Disposition zu gehäuften hysterischen Reaktionen. Auch dafür bieten uns die Kriegserfahrungen reichlich Bestätigung«, befand etwa der Heidelberger Neurologe Franz Nissl.149 Die wissenschaftliche Grundlage der Hysterielehre werde von diesen neuen Erkenntnissen nicht grundsätzlich angetastet. Bereits früher hätten die Untersuchungen der heilbaren kindlichen und der traumatischen Hysterie gelehrt, dass »vorher ganz gesunde und normale Menschen unter bestimmten Voraussetzungen in typische hysterische Zustände verfallen können«. Um die epidemiologischen Muster des Auftretens der Erkrankung herauszufinden und letztlich die Frage zu beantworten, warum die einen erkrankten und die anderen nicht, wurde nicht nur die hereditäre Prädisposition herangezogen. Auf einer Versammlung südwestdeutscher Neurologen und Psychiater in Baden-Baden im Mai 1915 führte der Arzt Laudenheimer aus, dass auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsklasse als disponierendes Moment verstanden werden könne.150 Anhand seines Beobachtungsmaterials fand er heraus, dass Bauern und ungelernte Handarbeiter von den funktionellen Nervenerkrankungen überhaupt nicht betroffen waren. Bei den Handwerkern und Unterbeamten kann man eine Quote von 33% verzeichnen. Den höchsten Prozentsatz der Erkrankten bildeten die höheren Berufe der Geistesarbeiter, akademisch Gebildete, Kaufleute, Lehrer, Techniker und Künstler. Klassenspezifische Aufschlüsselungen sind dennoch eher die Ausnahme als die Regel. Es formierte sich schon bald eine Gegenströmung, die den endogenen Ursachen, einer vormaligen hysterischen Veranlagung, Konstitution und hereditären sowie erworbenen Prädisposition wieder mehr wissenschaftliche Geltung verschaffen wollte. Gegen Ende des Jahres 1916 machte sich der Leiter der psychiatrischen und nervenärztlichen Abteilung der Charité Karl Bonhoeffer für eine Rehabilitierung der Konstitutionslehre stark. Eine Kompromisslösung sollte der Bedeutung sowohl der exogenen als auch endogenen Faktoren bei der Krankheitsentstehung Rechnung tragen. Anhand von Beobachtungen an kriegsgefangenen Serben richtete Bonhoeffer zwar die Aufmerksamkeit der Neurologen und Psychiater auf die große Bedeutung, welche die exogenen Faktoren »Erschöpfung und Emotion« bei der Entstehung von Krankheiten 149 Nissl, F., Hysterielehre mit besonderer Berücksichtigung der Kriegshysterie, Naturhistorisch-medizinischer Verein Heidelberg, 18.1.1916, in: DMW, 4. Mai 1916, Nr. 18, S. 560. 150 Laudenheimer, Die Anamnese der sogenannten Kriegspsychoneurosen. Vortrag gehalten auf der Versammlung südwestdeutscher Neurologen und Psychiater, Baden-Baden, 29. Mai 1915, in: MMW, 21. September 1915, Nr. 38, S. 1302–1304. Dem widersprach Brückner, Psychiatrische Kriegserfahrungen, in: MMW, 6. Juni 1916, Nr. 23, S. 837: »Ich habe gerade Kranke aus ländlichen und Abreiterkreisen in grosser Anzahl gesehen, wie ich denn überhaupt die Auffassung für einen Irrtum halte, dass die Neurose auf dem Lande weniger heimisch wäre als in der Stadt.«

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spielten. So reagiere etwa ein durch körperliche Strapazen und seelische Erregungen erschöpftes Individuum krankheitsanfälliger beispielsweise gegenüber Infektionskrankheiten. Das gelte nicht in gleichem Maße für die Geisteskrankheiten: Erschöpfungs- und Emotionseinflüsse seien bei deren Entstehung eher unerheblich. Ein Gesunder, der diesen Einflüssen ausgesetzt war, leide lediglich unter einem vorübergehenden Zustand, der der »psychopathischen Konstitution in der Reaktionsweise gleichkommt und zu episodischen Störungen (pathologische Räusche, Affektkrisen, pathologische Verstimmung usw.) führen kann«.151 Der Gesamtüberblick über die Kriegserfahrungen zeige, so die abschließende Überlegung Bonhoeffers, eine große Widerstandsfähigkeit des gesunden Gehirns gegenüber den erschöpfenden Wirkungen des Krieges.152 Damit betonte Bonhoeffer die Bedeutung der Konstitution für die Pathogenese von Krankheiten. Beispielhaft ging hier auch Max Nonne auf der Kriegstagung der Neurologen und Psychiater in München 1916 voran. Ähnlich wie Bonhoeffer hielt Nonne an und für sich an der Meinung fest, dass auch der ganz Gesunde im Besitz eines vollwertigen Nervensystems nach schwerer somatischer und psychischer Schädigung, wenn auch nicht an Neurasthenie erkranke, so doch mit einem »neurasthenischen Symptomkomplex« reagiere. Trotzdem wollte er auch den Ärzten sachlich nicht widersprechen, die in einem solchen Fall den Betreffenden als einen latenten Neurastheniker betrachteten. »Wer dies behauptet, steht auf dem Standpunkt, dass das Nervensystem Vollwertiger eben alles aushalten kann, ohne zu erkranken, bei den viel tausendfachen Erfahrungen über fast unbegreifliche nervöse Unbeugsamkeit unserer Krieger lassen eine solche Auffassung begreiflich erscheinen.«153

Ein Teil der Erkrankten bestand demnach aus erblich vorbelasteten Geisteskranken, während der andere Teil lediglich an vorübergehenden Symptomen litt. Durch diese Zweiteilung des Krankenmaterials war der Weg von prominenter Warte aus freigegeben, um die Rolle der Konstitution bei den Kriegserkrankungen wieder aufzuwerten. Überdies verschärfte sie die Trennlinie zwischen Gesunden und Kranken, zwischen »Voll- und Minderwertigen«. Auch von Frontärzten wurde dieses Angebot aufgegriffen. Der Sanitätsoffizier Uffenheimer glaubte, »in bewusstem Gegensatz zu den meisten neueren 151 Bonhoeffer, K., Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie psychopathischer Zustände. Kriegstagung des Deutschen Vereins für Psychiatrie, München, 21. und 22.9.1916, in: DMW, 9. November 1916, Nr. 45, S. 1403. Die Kriegstagung ist nicht zu verwechseln mit der Kriegstagung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte, die ebenfalls in München zeitgleich am 22. und 23. September 1916 stattfand. 152 Ebd., S. 1403. An diesen Feststellungen hielt Bonhoeffer auch vier Jahre nach Kriegsende fest siehe Bonhoeffer, S. 3–44. 153 Max Nonne auf der 8. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte in München am 22. und 23. September 1916, in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde, Bd. 56, Nr. 1–4, S. 42–43.

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Autoren«, dass »eine hysterische Konstitution notwendig sei zur Entstehung der Krankheit, auch da wo es sich um schwerste Schockwirkungen des Krieges handle«.154

154 Uffenheimer, Hysteriefrage, Wissenschaftliche Abende der Sanitätsoffiziere der Garnison Passau, 15. und 29.3.1916, in: DMW, 24. August 1916, Nr. 34, S. 1056; auch Brückner, Psychiatrische Kriegserfahrungen, in: MMW, 6. Juni 1916, Nr. 23, S. 837 findet einen »ganz erstaunlichen Prozentsatz erblicher Belastung und angeborener psychopathischer Konstitution« unter seinen Patienten. Ebenso Uhlmann, Fr., Über nervöse und psychische Erkrankungen bei Kriegsteilnehmern, in: MCWÄL, 3. August 1916, Nr. 33, S. 326.

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IV. Erschöpfung und Emotion Ob nun ein körperlich verletztes Substrat, ein mangelndes Gesundheitsgewissen oder eine hysterische Veranlagung für den Krankheitsausbruch verantwortlich gemacht wurden, über einen Punkt waren sich französische wie deutsche Ärzte einig: Der Krieg bedeute für weite Teile der Bevölkerung eine einzigartige und beispiellose Erfahrung, welche alles überträfe, was man jemals im Frieden erfahren hatte. Der Krieg habe »große Teile der Bevölkerung plötzlich und dann durch Jahre hindurch Situationen« gegenübergestellt, »welche das Äußerste an gewaltsamen, optischen und akustischen Sinneseindrücken, depressiven Affektinhalten der Angst, des Schrecks, gespannter Todeserwartung, der Sorge, des Schmerzes und der Trauer enthielten«, resümierte Karl Bonhoeffer rückblickend die Kriegserfahrungen.155 Trotzdem zogen Ärzte Parallelen zu anderen traumatisch wirkenden Ereignissen, vor allem zu großen Naturkatastrophen wie etwa das Erdbeben von Messina. Auch auf den Untergang der Titanic als menschlich verursachtes technisches Unglück wurde verwiesen, um zu ermessen, wie überwältigend solche Eindrücke auf den Menschen wirken konnten. Um die Kriegserlebnisse in einen kriegerischen Erfahrungskontext einzubetten, zogen die Ärzte vorhergehende Kriege heran, namentlich den japanisch-russischen Krieg von 1905. Das lag vor allem daran, dass für diesen Krieg trotz seiner kurzen Dauer bereits Untersuchungen über neurotische Störungen vorlagen.156 Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 hingegen eignete sich als eine parallele Erfahrung offenbar nicht so gut. Auf ihn wurde sowohl in Deutschland als auch in Frankreich verschwindend gering aufmerksam gemacht. Trotz dieser gelegentlichen Verweise auf vergleichbare frühere Ereignisse bestanden die Ärzte letztlich doch auf der Beispiellosigkeit der aktuellen Erfahrungen. Der Krieg zeichnete sich eben nicht nur durch seinen Ereignischarakter aus. Er war weder vergleichbar mit punktuellen katastrophalen Naturereignissen noch mit dem kurzen Krieg von 1870/71 oder der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Russland und Japan. Die Besonderheit des Krieges von 1914/18 bestand gerade darin, dass er seinen unheilvollen Einfluss unauf haltsam und länger auf den Gesellschaftskörper ausübte als je zuvor. Darum 155 Bonhoeffer, S. 5. 156 Es handelt sich dabei um die Studien des russischen Psychiaters Awtokratow, die in Deutschland, weniger in Frankreich große Beachtung fanden und auf die auch in der Folgezeit von 1914 bis 1918 gelegentlich verwiesen wurde, siehe etwa Liepmann, H., Psychiatrisches aus dem russisch-japanischen Feldzuge, in: DMW, 1. Oktober 1914, Nr. 40, S. 1823; Bonhoeffer, K., Psychiatrie und Krieg, in: DMW, 24. September 1914, Nr. 39, S. 1778. Awtokratow hob die Bedeutung der psychopathischen Konstitution für den Krankheitsausbruch hervor, ohne jedoch Erscheinungen der körperlichen Überanstrengung gänzlich zu vernachlässigen.

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reagiere dieser auch ganz anders als bei akuten überwältigenden Eindrücken von Schmerz, Angst und Todesgefahr. Nicht nur die lange Dauer auch die sich wandelnde Kriegführung − vom Bewegungs- zum Stellungskrieg − ließen daran keinen Zweifel. Der Krieg als Ereignis ging nach den ersten Anfangsoffensiven rasch in den Krieg als Zustand über. Die Ärzte passten sich diesem Wandel des wissenschaftlichen Beobachtungsfeldes durchaus an. Der Krieg stellte für eine Vielzahl von Soldaten nicht nur ein traumatisches Ereignis dar, in dem engeren medizinischen Sinn eines akuten physischen oder psychischen Schocks. Die Begriffe der traumatischen Neurose und der Unfallneurose waren in diesem Zusammenhang vollkommen unpassend, da Militär- wie Zivilpersonen anhaltenden und nicht einmaligen Sinneseindrücken ausgesetzt waren. Den Ärzten erschloss sich somit ein neues wissenschaftliches Untersuchungsund Beobachtungsfeld über die Grenzen der Leistungsfähigkeit, etwa nach mehrmaligem Einsatz im Frontgebiet. Zunehmend rückten Untersuchungen über die körperlichen und psychischen Reaktionen nach jahrelangem Militärdienst in den Vordergrund der ärztlichen Betrachtungen. Ärzte beschrieben Prozesse der Gewöhnung und der Adaptation an die vorherrschenden ungewöhnlichen Lebensbedingungen. Alfred Hoche bezeichnete dies als »Gewöhnung, die schließlich auch das Ungeheure alltäglich werden lässt«, wodurch die psychischen Affekte eher abgemildert würden. Eine in wenigen Sekunden auf den Körper hereinbrechende Katastrophe, wie etwa die Verschüttung von Messina, habe »einen viel gewaltigeren Eindruck« als die »jetzigen Kriegsereignisse auf unsere Soldaten«.157 Und schließlich stand die eine große Frage im Raum: War allein von den Emotionen, die der Krieg hervorbrachte oder verstärkte, auf eine pathogene Wirkung zu schließen? »Wenn irgendwo, dann musste es sich in diesem Kriege zeigen, ob dem Affekt bei einer gewissen Höhe der Steigerung eine pathogene Bedeutung für die Psyche zukommt. […] Es ist verständlich, wenn man von solchen außerordentlichen Erlebnissen, deren starke Wirkung auf das Körperliche ersichtlich war, auch eine krankmachende Rückwirkung auf das seelische Befinden des Betroffenen erwartete.«158

Diese Überlegungen schlossen ebenfalls die Zivilbevölkerung mit ein, traten doch auch an der Heimatfront gehäuft Erschöpfungserscheinungen auf.

1. Konzeptionen der Erschöpfung Angesichts der ungeheuren Strapazen, die der Krieg den Soldaten abverlangte, bot sich den deutschen und französischen Ärzten die Gelegenheit, die Reaktionen des menschlichen Organismus auf die außergewöhnlichen Lebensumstän157 Hoche, S. 15. 158 Bonhoeffer, S. 5.

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de an der Front, in der Etappe und in der Heimat wissenschaftlich zu untersuchen. Wie belastbar war der Individual- bzw. Kollektivkörper gegenüber den Kriegsstrapazen? Inwieweit bereiteten diese außerordentlichen Anstrengungen den Boden für die Entstehung einer Reihe von Krankheiten, insbesondere psychischer und nervöser Erkrankungen? Die Ärzte betonten die Rolle der körperlichen Erschöpfung, die im Bewegungskrieg der ersten Kriegsmonate vorherrschend war, und griffen auf Konzepte der Ermüdung der Muskeltätigkeit in der Arbeitsphysiologie zurück. Bereits vor dem Krieg hatten Physiologen, wie in Frankreich Jules Amar, in Vermessungsexperimenten versucht, den Wirkungsgrad der kinetischen Energie des Körpers zu optimieren.159 Auch im »Larousse Médical de la guerre« von 1917 wurden die Einträge »Ermüdung« [»fatigue«] und »berufsbedingte Ermüdung bei Arbeitern, Künstlern und Soldaten« [»fatigue professionnelle«] unter diesem arbeitsphysiologischen Aspekt betrachtet: Jeder Arbeit ist eine bestimmte maximale Beanspruchung der Muskeln und Gelenke zuzuordnen, die durch geeignete, berufsspezifische Übungen gesteigert werden kann.160 Dieser aus der Arbeitsphysiologie stammende Diskurs fokussierte sich in der Kriegszeit auf den wohl wichtigsten Muskel des menschlichen Organismus: Die Ärzte sprachen vom Ermüdungsherz. Jules Amar setzte seine Untersuchungen in der Kriegszeit fort. Nun betrachtete er nicht mehr den Arbeiter als eine zu optimierende »Versuchsmaschine«. Er entwarf ein umfassendes Programm zur Rehabilitierung von Kriegsamputierten: Er bewertete den allgemeinen Zustand des Organismus (Herz, Puls, Tastempfinden) sowie die Bewegungsfreiheit und die verfügbare physische Kraft.161 Arbeitsphysiologische Aspekte kamen aber nicht nur beim Umerziehungsprogramm der Kriegsveteranen zum Tragen. Auch bei der Einstellung von Piloten, Radiofunkern, Lastkraftwagenfahrern und Maschinengewehrschützen entwarfen Physiologen jeweils auf die bestimmte Tätigkeit hin abgestimmte Eignungsverfahren. In Frankreich profilierten sich durch derartige Untersuchungen der Professor an der Pariser Medizinischen Fakultät Jean Camus oder der Physiologe Jean-Marie Lahy, in Deutschland die »Psychotechniker« Walther Moede und Curt Piorkowski.162 Als ebenso wichtig wie die körperliche Erschöpfung beurteilten Ärzte die Affekte des Krieges. Diese wirkten vor allem im Stellungskrieg, wie dies ein Arzt in einem von der Front etwa vier Kilometer entfernten Feldlazarett in den Vogesen beschrieb: Unter den zermürbenden psychischen Momente zählte 159 Siehe zu den arbeitsphysiologischen Arbeiten Jules Amars vor allem seine an der Faculté des sciences de Paris eingereichte Doktorarbeit: Le rendement de la machine humaine, Paris 1909; Siehe hierzu auch Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 313ff; Rabinbach, S. 277–311. 160 Galtier-Boissière (Hg.), S. 102f. 161 Amar, S. 730; ders., Physiopathologie de l’effort, in: PM, 16. August 1917, Nr. 46, S. 480; ders., La psychographe et ses applications, in: PM, 30. Mai 1918, Nr. 30, S. 280. 162 Siehe Rabinbach, S. 305ff.

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er »Briefe aus der Heimat«, »Aufregungen persönlicher Natur«, das »Einerlei« des Stellungskrieges mit »seinen dauernden akustischen Einwirkungen (Trommelfeuer, Fliegerbomben usw.), seinen vorübergehenden Anforderungen an die Wachsamkeit des Einzelnen (Schlafmangel und Erschöpfung)«.163 Gerade diese Faktoren, weniger die erregenden wie Angst und Schrecken, höhlten die Widerstandskraft aus und disponierten für eine Reihe von psychischen und nervösen Erkrankungen, allen voran die Hysterie und die genuine Erschöpfungskrankheit, die Neurasthenie. Die Ärzte trafen stets die Unterscheidung zwischen körperlichen und psychischen Erschöpfungszuständen, die sie jeweils dem Bewegungs- bzw. dem Stellungskrieg sowie den geschwächten Muskeln bzw. Nerven zuordneten.164 In der viel diskutierten Diagnose der »Herzneurose« verknüpften sich Muskel- und Nervendiskurs sowie deren jeweilige medizinischen Teilbereiche, auf der einen Seite die Physiologie, auf deren anderen Seite die Neurologie/Psychiatrie. Es blieb die Frage, was der Arzt dazu beitragen könnte, um die Leistungsfähigkeit des psychisch oder körperlich erschöpften Organismus zu steigern. Die Therapieangebote der Ärzte waren indes dürftig: Erholung, ausreichend und gehaltvolle Nahrung, eventuell Heimaturlaub, so lauteten die Vorschläge der Ärzte. Darin zeichnete sich auch eine generell unterschiedliche Deutung und Herangehensweise zwischen den Erschöpfungs- und den hysterischen Zuständen ab. In Frankreich war es zunächst oberstes Gebot, den hysterisch Erkrankten nahe der Frontlinie zu belassen. Es gehörte regelrecht zu den therapeutischen Maßnahmen, ihn nicht aus dem Bannkreis des Krieges zu entlassen. Dem Erschöpften stand hingegen eine Erholungsphase durchaus zu. Auf künstliche Aufputschmittel wurde im Allgemeinen verzichtet, selbst wenn man bereits die Wirkungen einiger Substanzen kannte. In seinem Vortrag vor dem medizinisch-naturwissenschaftlichen Verein in Tübingen unterschied Carl Jacobj zwischen Zuständen der Erschöpfung und der hochgradigen Ermüdung, welche unter unterschiedlichen physiologischen Bedingungen entstünden.165 In den seltenen Fällen von wirklicher Erschöpfung fände physiologisch eine tatsächliche Abnutzung der Muskelsubstanz statt, was eigentlich nur bei hochgradiger Unterernährung des Organismus vorkäme. Bei dem Zustand der hochgradigen Ermüdung handele es sich vielmehr um eine Zirkulationsstörung, eine Verengung der Gefäße, die nun den Organismus nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgen könnten. Auf der Grundlage dieser physiologischen Unterscheidung kam Jacobj zu dem Schluss, dass 163 Happich, Hysterie im Frontlazarett, in: DMW, 6. Juli 1916, Nr. 29, S. 839. 164 Gaupp, R., Über Neurosen und Psychosen des Kriegs, in: MMW, 30. April 1918, Nr. 18, S. 493. 165 Jacobj, C., Erschöpfung und Ermüdung. Vortrag im medizinisch-naturwissenschaftlichen Verein Tübingen am 27. Februar 1915, in: MMW, 6. April 1915, Nr. 14, S. 481–485.

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der Erschöpfte einer sofortigen vollkommenen Schonung bedarf. Der häufigeren hochgradigen Ermüdung könnten hingegen koffeinhaltige Substanzen wie Kaffee, Tee, Cola oder Kakao entgegenwirken. Jacobj besprach auch die Einnahme von künstlichen Mitteln (Xanthin, Suprarenin, Hypophysin), um die physische und psychische Leistungsfähigkeit der Truppen zu steigern. Da keine Vorversuche vorlagen, sollte von solchen praktischen Anwendungen im Bereich des Militärs vorerst noch einmal abgesehen werden. Bevor die Wissenschaft mit künstlichen Mitteln in die Leistungsfähigkeit des Menschen eingreifen könne, solle man, so Jacobj, auf die naturgegebenen stimulierenden Affektwirkungen vertrauen: »Die Möglichkeit zu einer Beeinflussung der Gefässe in dem von uns gedachten Sinne der Tonuserhöhung ist nun aber im Interesse seiner Erhaltung dem Organismus unter besonderen, ihn in schwere Gefahr für seine Existenz versetzenden Lebenskonstellationen in wunderbare Weise durch die Natur bereits gegeben. Es sind die gewaltigen psychischen Erregungen der Affekte, des Schreckens, der Angst, aber auch der Begeisterung, welche bekanntlich imstande sind, selbst ein schwer ermüdetes Individuum noch zu eventuell ganz ungewöhnlich hohen Energieleistungen und zwar auch für überraschend lange Zeit zu befähigen.«166

In der Diskussion im medizinisch-naturwissenschaftlichen Verein in Tübingen widersprach Robert Gaupp seinem Kollegen Jacobj: Willensenergie und Kriegsbegeisterung könnten zwar dazu beitragen, dass eine Truppe alle ihre Kräfte weit über das physiologisch zweckmäßige Maß auf bringen kann. Dadurch werde jedoch nicht der physiologische Ermüdungszustand außer Kraft gesetzt, sondern allenfalls die Müdigkeit als rein subjektive Empfindung über den augenblicklichen Kräftezustand. Die Ermüdung als objektiver Zustand des psychophysischen Organismus könne so nicht aufgehalten werden. Auch künstliche, chemische Mittel würden in diesem Sinne, nur »wie die Peitsche des Fuhrmanns« wirken, »der seine abgehetzten Pferde […] zu letzten verzweifelten Rennleistungen anspornt«.167

2. Das »Kriegsherz« Das wissenschaftliche Interesse der französischen und deutschen Ärzte fokussierte sich neben der Sorge um die nervöse Konstitution der Kriegsteilnehmer fast ebenso stark auf das Herz und die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit.168 Gerade dieser lebenswichtige Muskel und nicht nur die Nerven galten als Gradmesser für Leistungs-, Opferbereitschaft und Siegeswillen. Ärzte beobachte166 Ebd., S. 484. 167 Gaupp, Diskussionsbeitrag zu Jacobj, in: MCWÄL, 3. April 1915, Nr. 14, S. 141. 168 Siehe auch Eckart, Aesculap, S. 188–192.

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ten zunächst noch die regenerierende, ja, günstige Wirkung des Krieges auf vormals Herzkranke, die im Krieg Beträchtliches leisten konnten, ohne unter den starken Herzschmerzen übermäßig leiden zu müssen. Manche unter ihnen würden nach ihrem ersten Fronteinsatz ihr Herz gar nicht mehr spüren.169 Die seelischen Erregungen trügen eher zum Wohlbefinden der Herzkranken bei: Ein »heldenhafter Wille erhebt die Seelen, kräftigt die Nerven und stärkt die Energie der Herzkontraktionen«.170 Die Leistungen Herzkranker im Krieg reihten sich in die ärztlichen Vorstellungen über eine mögliche Überwindung von Krankheiten durch das Kriegsereignis ein. In Folge dessen dürfe nun nicht mehr die Sorge um das eigene Wohlergehen zählen, vielmehr müsse der Sinn auf das Volksganze gerichtet werden. Der Krieg wurde als durchaus gesundheitsfördernd angesehen. Das war sowohl in der deutschen als auch in der französischen Ärzteschaft wenigstens zu Kriegsbeginn, als noch mit einem kürzeren Krieg zu rechnen war, ein nicht seltenes Deutungsmuster. Wenn auch diese voreiligen Bewertungen über die günstige Wirkung des Krieges auf die Herzkranken mit zunehmender Kriegsdauer immer seltener wurden, blieb doch das Interesse am Herz bestehen. Herzuntersuchungen konnten darüber Aufschluss geben, welche physischen wie psychischen Leistungen noch von dem einzelnen Soldaten oder einem ganzen Truppenteil zu erwarten waren. In Frankreich mehrten sich die Herzuntersuchungen bei Kriegsteilnehmern, die sich seit längerem an der Front befanden, um auf ihre körperliche Widerstandsfähigkeit gegen die Kriegsstrapazen schließen zu können. De la Prade publizierte im Juni 1917 eine solche Untersuchung über Soldaten, die seit 20 bis 30 Monaten an der Front im Einsatz waren. Er lenkte die Aufmerksamkeit seiner Kollegen auf die Altersunterschiede der zum Einsatz kommenden Soldaten und auf die abnehmende körperliche Widerstandsfähigkeit bei zunehmendem Alter. Abschließend kam De la Prade zu dem »beruhigenden Ergebnis«, dass die große Mehrheit der Fronteinsatztruppen den Krieg im Schützengraben recht gut aushalten könne. Lediglich die über 40-jährigen Männer sollten geschont werden. Ab 43 Jahren wären die anhaltenden Kriegsstrapazen nicht mehr zu bewältigen, wenigstens nicht an der vordersten Kampfeslinie.171 Ähnliche Untersuchungen wurden von Léon Binet172 und Pierre Menard durchgeführt. Letzterer veröffentlichte seine Studie im »Bulletin de l’Académie de Médecine« sowie im »Journal de médecine et de chirurgie pratiques«.173 Darin beschrieb er 169 Martinet, A., Guerre et Névroses cardiaques, in: PM, 4. November 1915, Nr. 53, S. 434. 170 Fiessinger, Ch., Les maladies de coeurs aux armées. Sitzung in der Académie de Médecine vom 29. Dezember 1914, in: BAM, Bd. 72, 1914, S. 443f. 171 De La Prade, Rapports de la tension avec l’âge et la résistance des soldats au front. 10 mai 1917, in: PM, 4. Juni 1917, Nr. 31, S. 325. 172 Binet wird zitiert im Larousse Médicale de la Guerre: Galtier-Boissière (Hg.), S. 66f. 173 Menard, P., La pression artérielle et le pouls chez le soldat dans les tranchées. Sitzung in der Académie de Médecine am 17. Oktober 1916, in: BAM, Bd. 76, 1916, S. 301–304; in: Journal

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die Pulsschwankungen bei Soldaten, die sich 100 bis 150 Meter vom Feind entfernt an der Frontlinie befänden. Aus diesen Untersuchungen könnten durchaus auch praktische Konsequenzen gezogen werden: Für die Truppenkommandanten wären sie ein Indiz dafür, in welchem Erschöpfungszustand sich ein Bataillon befände und über welche Leistungsreserven es noch verfügte. Auch in Deutschland brachten die Ärzte der Leistungsfähigkeit des Herzens große Aufmerksamkeit entgegen. Eine Reihe von Studien untersuchte, ab welcher Herzgröße der Soldat den Anforderungen des Felddienstes gewachsen sei. Auch hier wurde im militärischen Sinne praktisch gedacht. Neue Erkenntnisse in diesem Bereich würden dazu beitragen, ein zukünftiges »Geschlecht an Männern heranzuziehen und auszubilden, das für den Zweck der Vaterlandsverteidigung unter allen Erfordernissen vor allem über ein leistungsfähiges Herz verfügt«. Wehrkraft und Herzgröße ständen in einer wichtigen Wechselbeziehung zueinander, erklärte der Arzt eines Reservelazaretts, Geigel, das noch »unerforschte« Gebiet.174 Angestoßen wurden solche Untersuchungsreihen in Deutschland wie in Frankreich durch die Publikationen des renommierten englischen Kardiologen James Mackenzie.175 Dieser hatte einen optimistischen Standpunkt eingenommen, was die Leistungsfähigkeit von Herzen gerade auch junger Rekruten betraf, selbst wenn bei diesen Geräusche oder Irregularitäten wie Arrhythmien zu beobachten waren. Anhand von Untersuchungen von 400 Soldaten, die bereits im Felde ihren Dienst getan hatten und wegen Herzleiden ausgemustert worden waren, kam der englische Herzspezialist zu dem Schluss, dass es sich dabei weniger um ein spezielles Herzleiden als um den Ausdruck allgemeiner Erschöpfung, einer Infektion oder beides zusammen handelte. Er bezeichnete den Zustand als »general exhaustion«, dem man therapeutisch mit körperlicher Ruhe und bald einsetzendem leichten Training begegnen müsse. In der deutschen Fachpresse rief die erste Publikation Mackenzies »Das Herz des Rekruten« beim Rezensenten einen leisen Zweifel bezüglich der Konsequenzen der Wiedereinstellung Herzkranker in den Militärdienst hervor: Die lebhafte Kontroverse in der englischen Fachpresse über die Ansichten Mackenzies sei aus den speziell englischen Verhältnissen erklärlich, so der Rezensent. Der allgemein ärztliche und der speziell militärärztliche Standpunkt würden nicht genügend auseinander gehalten: »Der Militärarzt, der aus eigener Erfahrung die Strapazen des Felddienstes kennt, wird sich immer scheuen, auch noch so

de médecine et de chirurgie pratiques, Bd. 88, 10. Februar 1917, S. 89–94, rezensiert in: PM, 16. August 1917, Nr. 46, S. 480. 174 Geigel, Herzgröße und Wehrkraft, in: MMW, 27. Juni 1916, Nr. 26, S. 953f. 175 Mackenzie, J., The Recruit’s Heart, in: British Medical Journal, 4. Dezember 1915, S. 807f; ders, The Soldier’s Heart. Lecturer on Cardiac Research at the London Hospital, in: British Medical Journal, 22. Januar 1916, S. 111–119.

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gut trainierte und kompensierte leichte Klappenfehler als felddiensttauglich zu bezeichnen, auch bezüglich der Frage der eventuellen Dienstbeschädigung.«176 Diese Bedenken waren bald verflogen. Die zweite Besprechung der Untersuchung Mackenzies über die »general exhaustion« fiel wohlwollend aus. Auch der französische Rezensent sah in den Ergebnissen Mackenzies eine Bestätigung der französischen Praxis der (Wieder-)Einstellung Herzkranker.177 Die Frage nach der Diensttauglichkeit von Soldaten mit subjektiven Herzbeschwerden oder auch mit objektiv feststellbaren Herzrhythmusanomalien stellte sich immer dringlicher. Mit zunehmender Kriegsdauer sahen sich Ärzte mit gehäuften Klagen über diffuse Herzbeschwerden, schnellen und unregelmäßigen Puls, Schmerzen und nervöses Herzklopfen konfrontiert. Der Prozentsatz der Herzkranken sei entschieden größer als im zivilen Krankenmaterial, da der »Krieg an das Herz weit grössere Anforderungen stellt, als der Zivilberuf, wo das Gefühl des »nicht mehr können« sich früher in Ruhe umsetzen darf und kann, abgesehen davon, dass noch andere Schädlichkeiten, Alkohol, Rauch, vielleicht im Felde eine grössere Rolle spielen und auf die dauernd überanstrengten Herzen noch ungünstiger einwirken als dies im Frieden der Fall ist«.178 Es sei nicht völlig verfehlt in diesem Zusammenhang von einem »Kriegsherzen« zu sprechen, so Paul Fürbringer, der sich als Sportmediziner an das »Sportherz« – eine Herzhypertrophie nach Sportanstrengungen – erinnerte.179 Die Beschwerden seien zu sehr mit »speziellen übermannenden Kriegsereignissen« verknüpft, etwa mit »dem furchtbaren Geschützdonner und der verheerenden Wirkung der Geschosse, dem massenhaften Fallen von Freund und Feind, den Todesqualen im Drahtverhau, dem Leichen- und Brandgeruch zusammengeschossener Ortschaften«. Laut Fürbinger unterhielten diese Erinnerungsbilder die Angstneurose mit ihren Entladungen auf das Herz. Die Zunahme der Herzbeschwerden sei alles in allem nicht einem allgemeinen Niedergang der Widerstandsfähigkeit des deutschen Volkes geschuldet. Das Schreckgespenst einer »degenerierten Generation« wollte Fürbringer nicht herauf beschwören. Auch die »beste[n] Autoren vertraten [vielmehr] die Überzeugung, dass der gute, durch und durch gesunde Stamm von heute nicht minder unverbraucht ist als vor 44 Jahren«. Die Feldzugteilnehmer würden durch die »Eigenart des gegenwärtigen rauen Krieges« jedoch besonders beansprucht. 176 DMW, 20. Januar 1916, Nr. 3, S. 89, Rezension zu Mackenzie, J., The Recruit’s Heart, in: British Medical Journal, 4. Dezember 1915, S. 807f. 177 DMW, 9. März 1916, Nr. 10, S. 303; PM, 13. März 1916, Nr. 15, S. 120. 178 Ehret, Zur Kenntnis der Herzschädigungen bei Kriegsteilnehmers, in: MMW, 18. Mai 1915, Nr. 20, S. 689. 179 Fürbringer, P., Zur Würdigung der Herzstörungen der Kriegsteilnehmer, in: DMW, 29. Juli 1915, Nr. 31, S. 906. Für Frankreich siehe auch Lian, C., Du surmenage cardiaque aux armées. Réunion Médicale de la Vème Armée, 2 juin 1916, in: PM, 24. Juli 1916, Nr. 41, S. 327; ders., Les troubles cardiaques aux armées. Société Médicale des hôpitaux, 13 octobre 1916 in: PM, 26. Oktober 1916, Nr. 69, S. 485.

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So milde fiel das Urteil nicht bei allen deutschen Ärzten aus. Ähnlich wie bei den Nervenkrankheiten war es ihr erstes Anliegen, eine organische, d.h. muskuläre Herzstörung von einer nervösen, funktionellen zu unterscheiden.180 Ein Unterscheidungskriterium war der negative organische Befund, der allerdings unter den Kriegsbedingungen nicht immer gefällt werden könne.181 Nur vereinzelt stützten sich die Untersuchungen auf Röntgenaufnahmen.182 Schließlich verließen sich die Ärzte auch auf reine Indizien: Wenn objektive Befunde nicht ausreichend vorhanden waren, wurde ein »nervöses Herz« selbst bei großen subjektiven Schmerzen diagnostiziert.183 Dieselben Deutungsmuster, die bereits bei den nervösen Mobilitäts- oder sensiblen Störungen zum Tragen kamen, finden sich auch bei den Herzkranken.184 So fielen etliche Herzbeschwerden unter die Rubrik »Kriegsneurosen«, die durch falsche oder unangemessene Vorstellungen ausgelöst, einzig und allein auf den mangelnden Willen zur Gesundheit hinwiesen. »Herzneurose«, »Kriegsneurose des Herzens«, »Neurasthenie cordis« waren die Begriffe, unter denen diese Beschwerden größtenteils subsumiert wurden. Es ging dabei immer um die Frage, inwieweit solche »nervösen« Herzkranken noch tauglich blieben. Die Meinungen der deutschen Ärzte drifteten in diesem Punkt auseinander. Für den Tübinger Internisten Liebermeister handelte es sich bei den Herzbeschwerden um nichts anderes als um eine Form von Kriegsneurosen. Die Tatsache, dass die Zahl der Herzbeschwerden drastisch angestiegen war, führte er darauf zurück, dass die Ärzte diesem Krankheitsbild zunächst hilflos gegenüberstanden. Sobald sich die medizinische Erkenntnis durchsetzen konnte, dass es sich um nervöse funktionelle Störungen bei an sich leistungsfähigen gesunden Herzen handelte, dass also bei solchen Soldaten keine verminderte Leistungsfähigkeit anzunehmen war, ging die Zahl der zur Beobachtung kommenden Fälle auch 180 Reiche, Die bei Soldaten beobachteten Herzaffektionen. Ärztlicher Verein Hamburg, 23.3.1915, in: DMW, 5. August 1915, Nr. 32, S. 963f. 181 Geigel, Nervöses Herz und Herzneurose, in: MMW, 2. Januar 1917, Nr. 1, S. 30–32, rezensiert in: DMW, 25. Januar 1917, Nr. 4, S. 118. 182 Reiche, Die bei Soldaten beobachteten Herzaffektionen. Ärztlicher Verein Hamburg, 23.3.1915, in: DMW, 5. August 1915, Nr. 32, S. 963. Röntgenologische Untersuchungen nahmen auch die Assistenten der Medizinischen Klinik der Charité vor: Maase, C. u. H. Zondek, Herzbefunde bei Kriegsteilnehmern, in: DMW, 25. März 1915, Nr. 13, S. 366f. 183 Diskussionsbeitrag Schottmüller zu Reiche, Die bei Soldaten beobachteten Herzaffektionen. Ärztlicher Verein Hamburg, 23.3.1915, in: DMW, 5. August 1915, Nr. 32, S. 964. 184 Müller, O., Die Veränderungen der Kreislauforgane im Krieg, in: MCWÄL, 8. September 1917, Nr. 36, S. 399, der ebenfalls eine Parallele zwischen den Herzerkrankungen und den nervösen, psychopathischen Erkrankungen zieht: »Ein gesundes Herz hypertrophiert allmählich unter den Anstrengungen des Krieges, aber es erkrankt nicht und wird nicht insuffizient, ein schon vorher geschädigtes Herz hingegen erkrankt leicht und wird leistungsunfähig. Es ergibt sich somit eine Analogie mit den Psychopathien; nervös ganz gesunde Leute halten den Krieg in der Regel durch, nervös Belastete brechen zusammen.«

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wieder außerordentlich zurück.185 Der Arzt Theodor Zahn stellte Fälle von nervöser Herzerkrankung Ende 1915 im Stuttgarter Verein vor.186 Er mahnte zur Zurückhaltung: Diese Herzneurotiker sollten nicht zu größeren Leistungen wie Exerzieren und Felddienst herangezogen werden. Zahns Anliegen war es zu zeigen, dass »die Ausführung körperlicher Arbeiten in solchen Fällen nicht bloss durch peinliche Empfindungen erschwert« würde, »sondern dass dabei auch trotz anatomischer Unversehrtheit des Herzmuskels der Blutumlauf und der Gasaustausch vorübergehend wirklich ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind«. Der Vorsicht seines Vorredners widersprach sein Kollege Koschella, der von diesem ängstlichen Umgang in der Beurteilung der Arbeits- und Dienstfähigkeit von Herzneurotikern nichts wissen wollte. Ein großer Teil von ihnen seien Psychopathen, denen es »an Selbstvertrauen mangelt«: »Wenn eine Leistung von ihnen verlangt wird, treten rasch anwachsende ängstliche Spannungs- und Erwartungsgefühle auf, die mit erheblichen motorischen und sensiblen Störungen der Zirkulation einhergehen; sie leiden an Funktionsangst. Gelingt es aber einmal diesen Affekt auszuschalten – und dazu bietet der Felddienst mit seinen starken Eindrücken und seinem »Muss« günstige Gelegenheit –, gelingt es, die Kranken von ihrer Leistungsfähigkeit zu überzeugen, dann sind sie oft in kurzer Zeit geheilt, und höchstens der durch jahrelange falschangebrachte Schonung hervorgerufene Mangel an Übung des Herzens macht noch einige Schwierigkeiten.«187

Die Unterscheidung zwischen organischen und nervösen Herzbeschwerden wurde in Frankreich so nicht vorgenommen. Hier verlief die Grenze vielmehr zwischen den »vrais« und den »faux cardiaques«, was wiederum stark an die Diskussion über die Simulationsfrage angelehnt war.188 Der Terminus »névroses cardiaques« findet sich nur vereinzelt.189 Nach dem Urteil eines Arztes einer Kommission, die zurückgestellte vermeintliche Herzkranke einer Nachuntersuchung unterzog, befänden sich gerade in umgekehrter Proportion eine große Anzahl von »echten Herzkranken« an der Front, wohingegen so manche

185 Liebermeister, Verhütung von Kriegsneurosen. Nach einem kriegsärztlichen Vortrag am 26. Januar 1918 in Stuttgart, in: MCWÄL, 31. August 1918, Nr. 35, S. 307. 186 Zahn, Th., Über die Arbeitsfähigkeit bei Herzneurosen und die Frage der nervösen Herzschwäche, in: MCWÄL, 8. und 15. April 1916, Nr. 15 und 16, S. 141–143 und 153–155; siehe auch ders., Arbeits- und Dienstfähigkeit bei Herzneurosen. Kriegsärztlicher Abend des Stuttgarter ärztlichen Vereins, am 3. Februar 1916, in: DMW, 17. August 1916, Nr. 33, S. 1022. 187 Diskussion nach einem Vortrag von Zahn, Th., Über die Arbeitsfähigkeit bei Herzneurosen und die Frage der nervösen Herzschwäche. Stuttgarter Verein im Dezember 1915, in: MCWÄL, 1. April 1916, Nr. 14, S. 136. 188 Aubertin, Ch., La récupération des faux cardiaques, in: PM, 28. Februar 1916, Nr. 12, S. 92f; Etienne, G., Les cardiopathies sur le front, in: Bulletin de la Société de médecine de Nancy, September/November 1916, Nr. 5, S. 197–207, rezensiert in: PM, 23. Juli 1917, Nr. 43, S. 431. 189 Etwa Martinet, A., Guerre et les névroses cardiaques, in: PM, 4. November 1915, Nr. 53, S. 433–435.

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»falsche Herzkranke« die Posten in der Heimat belagert hätten.190 Diese seien entweder im Hilfs- und Arbeitsdienst untergekommen oder wären gar ganz ausgemustert. Er schlug seinen Kollegen Untersuchungsmethoden vor, die es ermöglichten, genauestens zwischen den beiden Formen zu unterscheiden. Bei den Herzbeschwerden im Krieg glichen demnach die Deutungsmuster der beiden Ärzteschaften denjenigen der psycho-nervösen Störungen. Auf deutscher Seite dominierte die Unterscheidung zwischen organischen, »ehrenhaften« und den psychogen »unehrenhaften« Erkrankungen, wohingegen in Frankreich strikt zwischen den echten und den vorgetäuschten Beschwerden getrennt wurde.

3. Die erschöpften Nerven Die gesamte Breite der psychiatrischen Lehrmeinungen gab dem praktizierenden und forschenden Arzt eine Schablone zur Hand, um die im Krieg auftretenden Erschöpfungszustände in den zeitgenössischen Forschungsstand angemessen einbetten zu können. Der amerikanische Arzt George Miller Beard (1839–1883) entwarf bereits in den 1870er Jahren das Konzept einer genuinen Erschöpfungskrankheit, die er »Neurasthenie« nannte und die sich in Windeseile auch in europäischen medizinischen Kreisen eines hohen Bekanntheitsund Wirkungsgrads erfreuen konnte.191 Als eine Zivilisationskrankheit konzipiert, die sich auf dem Boden einer permanenten psychischen Überbelastung in einer lärmenden und rasanten Großstadt entwickelte, verdankte die Neurasthenie ihren Erfolgskurs auch den Degenerationstheoretikern, die den sozialen Problemen einer hoch technologisierten und industrialisierten Gesellschaft biologische Erklärungsmuster unterlegten. Das Konzept der »Kriegsneurasthenie« stieß in den deutschen psychiatrischneurologischen Kreisen auf mehr Resonanz als in den analogen spezialisierten französischen Gesellschaften.192 Georges Dumas und Henri Aimé schlossen in ihrer Arbeit über die deutsche Kriegspsychiatrie von der großen Anzahl der deutschen Abhandlungen über die Kriegsneurasthenie auf den Umstand, dass das Krankheitsbild der Neurasthenie wohl in Deutschland häufiger sei als in 190 Aubertin, Ch., La récupération des faux cardiaques, in: PM, 28. Februar 1916, Nr. 12, S. 92. Das Gesetz Dalbiez vom 17. August 1917 setzte solche Kommissionen ein, die alle Ausgemusterten der réforme Nr. 2, also ohne finanzielle Entschädigungsleistungen, drei Monate nach ihrer Entlassung aus dem Heeresdienst einer Nachuntersuchung unterzogen. Siehe Duco u. Blum, S. 23. 191 Zur Geschichte der Neurasthenie siehe Hofer, S. 45ff; Radkau. 192 Von einer Kriegsneurasthenie sprechen beispielsweise Benon, Guerre: facteur étiologique: commotion – émotion – surmenage, in: PM, 26. Juni 1919, Nr. 36, S. 352–354; Damaye, Les neurasthénies de guerre, in: PrM, 25. Mai 1918, Nr. 21, S. 182–186, rezensiert in: PM, 29. August 1918, Nr. 48, S. 447.

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Frankreich.193 Französische Ärzte sprachen vielmehr von einer »nervösen Erschöpfung« [»épuisement nerveux«] oder ganz einfach von »Überbelastung« [»surmenage«]. Die nachfolgenden Bemerkungen beziehen sich eher auf die deutsche als auf die französische Debatte, selbst wenn das Neurastheniekonzept nicht gänzlich aus den französischen Diskussionen ausgeklammert wurde. In Deutschland versuchte man, den neurasthenischen Symptomkomplex in Abgrenzung zu dem hysterischen bzw. der traumatischen Neurose zu etablieren.194 Max Lewandowsky vertrat die Meinung, dass die Grenze zwischen neurasthenischem und hysterischem Symptomkomplex willkürlich gezogen sei, da die Unterscheidung keinen wesentlichen und ätiologischen, sondern einen äußerlichen symptomatologischen Wert besäße.195 Zur Hysterie rechne man, so Lewandowksy, die mehr »massigen« Erkrankungen, die Kontrakturen, Lähmungen, Sprachstörungen, Taubheit, das grobe Zittern, die Anfälle von Krämpfen und Bewusstlosigkeit, zur Neurasthenie mehr die »weniger scharfen Formen mit der gesteigerten Erregbarkeit und Ermüdbarkeit, den mannigfachen nervösen Organbeschwerden von seiten des Herzens, des Magendarmkanals«: Die Unterscheidung sei aber »so bedeutungsvoll und so bedeutungslos, als wenn man etwa einen Gelenkrheumatismus der kleinen Gelenke von einem der grossen unterscheiden wollte«. Trotz dieser kritischen Töne hielt die Mehrzahl der deutschen Fachexperten an dieser Unterscheidung fest: Die Hysterie bzw. die traumatische Neurose bildete zwar das passende Erklärungsmuster, um die Folgen der akut wirkenden Schockwirkungen des Krieges zu fassen. Angesichts der unvorhergesehen langen Kriegsdauer entpuppten sich diese neuro-psychiatrischen Konzepte für die chronisch anhaltenden Ursachen indes als völlig unangemessen. Mit den zunehmenden Kriegsjahren werde die Kriegshysterie seltener, die Kriegsneurasthenie häufiger, fasste der Facharzt Willy Hellpach seine Kriegsbeobachtungen im naturhistorisch-medizinischen Heidelberger Verein zusammen.196 Die Hysterie habe sich stets als eine »neurotische Reaktion auf leidenschaftliches katastrophales Erleben, die neurasthenischen Reaktionen mehr als Folge von Zermürbung, Abspannung und Aufreibung der Psyche erwiesen«. Die stete Alarmbereitschaft, die Strapazen und das dauernde Beobachten des Gegners, berichtete ein Frontarzt, habe zu Zustandsbildern von »Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Empfindlichkeit für Geräusche und andere Sinnesreize, Ge193 Dumas u. Aimé, S. 47f. 194 Siehe etwa Wollenberg, R., Wesen und Behandlung der Kriegsneurosen, in: DMW, 11. Januar 1917, Nr. 2, S. 63, der zwei Gruppen von Psychoneurosen unterschied, diejenigen mit einem neurasthenischen und diejenigen mit einem hysterischen Symptomkomplex. 195 Lewandowsky, M., Was kann in der Behandlung und Beurteilung der Kriegsneurosen erreicht werden?, in: MMW, 24. Juli 1917, Nr. 30, S. 989. 196 Hellpach, Über die einfache Kriegsneurasthenie. Naturhistorisch-medizinischer Verein, Heidelberg, 9.10.1917, in: DMW, 27. Dezember 1917, Nr. 52, S. 1624.

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fühl der Schwäche und Leistungsunfähigkeit, Zittern, erregte Herzaktion, Magenverstimmungen« geführt.197 Dieses höchst diffuse Krankheitsbild war charakteristisch für die Neurasthenie. Im Grunde konnten alle nicht eindeutig lokalisier- oder bestimmbaren Beschwerden als ein Teil des neurasthenischen Symptomkomplexes gelten.198 Der Hamburger Psychiater Ernst Brückner diagnostizierte selbst den Senkfuß – eine schmerzhafte Empfindung in den Beinen, Hüften und Rücken ausgelöst durch die Erschlaffung der Bänder, der Fußwurzel- und der Mittelfußknochen – als ein neurasthenisches Symptom, das bereits latent vor dem Krieg bestanden hatte und nun durch die Kriegsstrapazen manifest geworden war.199 Meist trete es bei Leuten auf, die auch im bürgerlichen Leben ihre Beine wenig gebrauchen, etwa bei Kontoristen oder Kutschern. Darunter befanden sich ebenfalls Landleute, die zwar an schwere Landarbeit, jedoch nicht an das militärische Laufen gewöhnt seien, was Brückner als eine »Pflastermüdigkeit« bezeichnete. Dass solche eigentlich nervösen Störungen nicht erkannt würden, sei umso bedauerlicher, als sie leicht zu beheben wären, etwa durch Einlegesohlen. Das Konzept Neurasthenie, das ursprünglich als pathologische Reaktion auf das hektische und rasante Großstadtleben entwickelt worden war, gab nun auch das Muster vor, wie die krankhaften Reaktionen des Soldaten im Stellungs- und Ausharrungskrieg verstanden werden sollten. Dabei blieb der Zusammenhang zwischen Vorkriegs- und Kriegsneurasthenie oft unklar. Handelte es sich um ein Krankheitsbild, das durch die eigenartigen, strapaziösen Bedingungen der Kriegführung ausgelöst wurde, oder kam eine Kriegsneurasthenie lediglich bei bereits neurasthenisch Veranlagten zum Ausbruch? Eine ganze Reihe von Ausführungen behandelte denn auch die Bewährung der Neurastheniker angesichts der hohen Beanspruchung durch den Krieg, wobei darauf hingewiesen wurde, dass die Neurastheniker sich zum großen Teil sogar besser befunden hätten als im Frieden.200 Für andere wiederum war die Neurasthenie mit ihrem diffusen Krankheitsbild gerade die psychisch-nervöse Erkrankung, die auch bei sonst 197 Wittermann, E., Kriegspsychiatrische Erfahrungen aus der Front, in: MMW, 24. August 1915, Nr. 34, S. 1165. 198 Zu den nervösen Störungen des Magens als Teilerscheinung einer allgemeinen Nervosität oder Neurasthenie siehe Weiss, E., Beschwerden und Krankheiten des Magens in ihrer symptomatischen Bedeutung für Erkrankungen anderer Organe, in: MCWÄL, 13. Oktober 1917, Nr. 41, S. 448–450; zu den nervösen Störungen des Herzens, der sogenannten Herzneurasthenie oder Neurasthenia Cordis siehe Graul, G., Über Neurasthenia Cordis. Vortrag im Reservelazarett Neuenahr, in: DMW, 27. Mai 1915, Nr. 22, S. 645–648; Fürbringer, Zur Würdigung der Herzstörungen der Kriegsteilnehmer, in: DMW, 29. Juli 1915, Nr. 31, S. 905–908; Plehn, Zur Kenntnis des »nervösen Kriegsherzens«, in: MMW, 25. Dezember 1917, Nr. 52, S. 1654–1656; Hoffmann, F.A., Kordatonie und Herzneurasthenie, in: DMW, 29. November 1917, Nr. 48, S. 1500f. 199 Brückner, Psychiatrische Kriegserfahrungen, in: MMW, 6 Juni 1916, Nr. 23, S. 838. 200 Goldscheider, Gesundheitszustand unserer Truppen im Winterfeldzug 1914/15, in: MCWÄL, 23. Oktober 1915, Nr. 43, S. 420. Zu der Neurasthenie als eine Veranlagung siehe Wol-

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ganz gesunden Individuen aufzutreten vermochte. Sie war in diesem Fall eine erworbene Nervenschwäche und ein recht praktisches Etikett für zwar akute, aber vorübergehende Schwächemomente. »Es wird vielleicht kaum einen Mann geben, dessen Nervenkraft nicht zeitweise bei übermässigen körperlichen und seelischen Strapazen nachzulassen drohte.«201 Dieses Erklärungsmuster fügte sich dann auch recht gut ein in die Beobachtungen, dass eine neurasthenische Erkrankung gerade auch bei von Haus aus gesunden Individuen auftreten konnte.202 Trotz des Ausmaßes der körperlichen wie psychischen Strapazen, die der Krieg den Soldaten abverlangte, blieben die Konturen der Kriegsneurasthenie unscharf. Das mag zum einen an dem diffusen und kaum klar abgrenzbaren Krankheitsbild der Neurasthenie selbst liegen. Zum anderen schien auch eine genuine »Erschöpfungskrankheit« wie die Neurasthenie nicht ganz den Kern der Kriegsbeobachtungen zu treffen. Vor dem Ersten Weltkrieg blieb diese Krankheit vor allem auf das gebildete Bürgertum beschränkt. Sie wurde auch in der Kriegszeit sowohl auf deutscher als auch auf französischer Seite vor allem bei Offizieren diagnostiziert. Die Erschöpfung des Gros der Mannschaften wurde tendenziell eher als eine körperliche denn als eine psychische betrachtet. Wenn sich die Erschöpfungszustände beim einfachen Soldaten zu einem akuten Krankheitszustand entwickelten, dann wurden sie eher dem hysterischen als dem neurasthenischen Symptomenkomplex zugeordnet. »Die Neurasthenie hat sich auch im Kriege als die Neurose der Höherstehenden im Vergleich zu den hysterisch gefärbten Reaktionen der Primitiveren bewährt«, so bestätigte der Mediziner und Psychologe Willy Hellpach im naturhistorisch-medizinischen Verein in Heidelberg im Oktober 1917.203 Damit blieben die Ärzte der klassenspezifischen Zuordnung von Krankheiten der Vorkriegszeit verbunden. Die Argumentationsmuster waren in Frankreich wie in Deutschland dieselben: Der Offizier hatte zusätzlich zu den körperlichen Strapazen, die er zusammen mit seinen Mannschaften auszustehen hatte, auch noch die Verantwortung zu tragen. Bezüglich des häufigen Auftretens der Neurasthenie bei Offizieren wurde in Frankreich ebenfalls darauf hingewiesen, dass ein Großteil der Offiziere durch ihre langen Aufenthalte in den Kolonien bereits erschöpft in den Krieg gegangen war und schon sehr bald unter dem außergewöhnlichen Kraftaufwand zusammenbrach.204 lenberg, R. Lazarettbeschäftigung und Militärnervenheilstätte, in: DMW, 24. Juni 1915, Nr. 26, S. 757–760. 201 Gaupp, R., Die Frage der Dienstbeschädigung bei den Neurosen, in: MCWÄL, 28. April 1917, Nr. 17, S. 184. 202 Zu der Neurasthenie als eine erworbene Erkrankung bei vormals gesunden Individuen siehe ebenfalls: Brückner, Psychiatrische Kriegserfahrungen, in: MMW, 6 Juni 1916, Nr. 23, S. 837. 203 Hellpach, Über die einfache Kriegsneurasthenie. Naturhistorisch-medizinischer Verein, Heidelberg, 9.10.1917, in: DMW, 27. Dezember 1917, Nr. 52, S. 1624. 204 Régis, E., Les troubles psychiques et neuro-psychiques de la guerre, in: PM, 27. Mai 1915, Nr. 23, S. 177. Zu den neurasthenischen Erkrankungen bei Offizieren siehe ebenfalls: Witter-

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4. Die »Invaliden der Tapferkeit« – Konzeptionen der Kriegsangst In ihrem Bemühen, eine wissenschaftliche Deutung dessen zu geben, was die Kriegsgesellschaft an der Front und in der Heimat erleben musste, berücksichtigten die Ärzte nicht nur die erschöpfende Wirkung der Kriegsstrapazen. Unter den Affekterregungen, die auf die Bevölkerung einstürmten und vier ein halb Jahre lang andauerten, zählten die Ärzte auch die Kriegsangst. An der Front war diese Angst in Form einer ständig anwesenden Todesgefahr gut zu fassen, nicht so in der Heimat, wo die Ärzte eine Reihe von diffusen Symptomen zu diagnostizieren hatten. Zunächst sei auf einen grundlegenden Unterschied zwischen den deutschen und den französischen medizinischen Deutungsmustern hingewiesen. Im Verhältnis zu den vielseitigen und zahlreichen Berichten in den französischen medizinischen Gesellschaften über Angstzustände fällt das ärztliche Schweigen auf deutscher Seite über derartige »Ausfallserscheinungen« ins Auge. Wenn sie dennoch Beachtung fanden, dann zumeist als ein wesentlicher prädisponierender Grund dafür, dass es überhaupt zum Ausbruch von psychisch-nervösen Störungen kommen konnte. Die Kriegsangst als einzelne, für sich stehende, durch die Kriegsbedingungen ausgelöste pathologische Störung wurde nirgends eigens thematisiert. Um den massenhaften Zustrom von Kriegsneurotikern in die ärztliche Behandlung zu erklären, beschrieb etwa der Arzt Laudenheimer einen Teil dieser Kranken als »ängstlich befangene, pedantisch gewissenhafte, mit übertriebenen Verantwortungsgefühl ausgestattete Charaktere oder auch leicht verstimmbare, zum Pessimismus neigende Naturen«.205 Diese »ängstlichdepressive Konstitution« prädisponiere letztlich zum Ausbruch von nervös-psychischen Störungen wie etwa Herzbeschwerden, Magenschmerzen, Diarrhöen mann, E., Kriegspsychiatrische Erfahrungen aus der Front, in: MMW, 24. August 1915, Nr. 34, S. 1165; Meyer, E., Funktionelle Nervenstörungen bei Kriegsteilnehmern, nebst Bemerkungen zur traumatischen Neurose, in: DMW, 16. Dezember 1915, Nr. 51, S. 1509–1511; Tobias, E., Ergebnisse der bisherigen Kriegserfahrungen auf dem Gebiete des Nervensystems, in: DMW, 27. Januar 1916, Nr. 4, S. 109–112; Kemnitz, M., Funktionelle Erkrankungen infolge von Kriegsbeschädigung bei Offizieren, in: Neurologisches Zentralblatt, 15. März 1917, Nr. 6, S. 231; Hellpach, Über die einfach Kriegsneurasthenie, Naturhistorisch-medizinischer Verein, Heidelberg, 9.10.1917, in: DMW, 27. Dezember 1917, Nr. 52, S. 1624. Gegen eine solche klassenspezifische Zuordnung plädierte der Chefarzt des medizinischen Sektors von Amiens Damaye, in: Les neurasthénies de guerre, in: PrM, 25. Mai 1918, Nr. 21, S. 183, rezensiert in: PM, 29. August 1918, Nr. 48, S. 447. Damaye behauptete, dass der Unterschied zwischen den Erkrankungen der Friedens- und denjenigen der Kriegszeit gerade darin liege, dass nun nicht mehr nur die intellektuellen und bürgerlichen, sondern vielmehr alle Klassen von der Neurasthenie betroffen seien. Da es sich um eine vereinzelte Aussage handelt, kann man allerdings nicht auf einen grundlegenden Unterschied in den klassenspezifischen ärztlichen Deutungsmustern schließen. 205 Laudenheimer, Die Anamnese der sogenannten Kriegspsychoneurosen. Vortrag gehalten auf der Versammlung südwestdeutscher Neurologen und Psychiater, Baden-Baden, 29. Mai 1915, in: MMW, 21. September 1915, Nr. 38, S. 1303.

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und Blasenstörungen. Die Gruppe der Ängstlich-Depressiven setzte sich demnach aus Leuten zusammen, die vor dem Krieg schon Anzeichen von nervlicher Schwäche gezeigt hatten. Bereits eine geringfügige emotionelle Einwirkung löse bei diesen Fällen eine akute Nervenstörung aus. So wurde in den ärztlichen Fachdebatten die Kriegsangst, wenn überhaupt, nur als bereits individuell angelegter, zur Krankheit disponierender Faktor besprochen und nicht als ein dem Kriegsgeschehen wesentlicher Bestandteil und seine eventuellen physischen und psychischen Auswirkungen auf den Organismus. Die Bedeutung etwa der Todesangst als ein im Kriegsgeschehen »dauernd wirksame[r] Gemütsfaktor« auf die Soldaten wurde massiv eingeschränkt durch Beteuerungen, dass sich diese in ihrer Mehrzahl an diesen steten Begleiter gewöhnt und als »reife Persönlichkeiten […] sich in irgend einer Weise, sei es mit religiösen, sei es mit philosophischen Erwägungen, auf die Todesnähe eingestellt« hatten.206 Auch die Kameradschaft wirke dem Eindruck der Todesgefahr entgegen: Die »größere seelische Leistung, das größere Heldentum, ist bei den einsam auf dem Posten Sterbenden.« Für Frankreich wurde bereits untersucht, in welcher Beziehung die seelisch Erschütterten des Krieges, die »émotionnés« zu den mechanisch Erschütterten, den »commotionnés«, standen. Die »émotionnés« wurden aber nicht nur gesondert von den Explosionsopfern betrachtet. Ärzte klammerten sie ebenso aus dem Krankheitsbild der Hysterie aus. Im Gegensatz zu ihren deutschen Kollegen unternahmen die französischen Ärzte den Versuch, die Kriegsangst in ihren physischen und psychischen Erscheinungsformen zu fassen und ihre pathologische Wirkung auf den Gesamtorganismus zu bestimmen. So war es im Vergleich zu Deutschland eine französische Besonderheit, dass Ärzte ihren Kollegen während einer Vereinsversammlung Krankheitsfälle vorstellten, in denen nur der Angstzustand für sich allein bereits das ganze klinische Bild bestimmte: »Ohne erkennbaren Grund, oft sogar im Erholungsquartier, fällt ein Mann plötzlich in einen Angstzustand: er kommt beunruhigt ins Krankenhaus, weiß nicht warum; sein Gesicht und seine Haltung lassen ein seelisches Unbehagen erkennen, das er doch nicht weiter bestimmen kann; im Regiment geht alles gut, aber zu Hause quält ihn etwas, er fühlt sich »ganz komisch.«207

Traten diese Symptome wie in der Krankengeschichte des Psychiaters Raymond Mallet ohne erkennbaren Grund auf, beobachteten Ärzte dieses Krankheitsbild der Angst ebenso nach einem seelischen Schock mit oder ohne körperlicher Erschütterung oder Verwundung. Bei diesen ehemaligen »commotionnés«, wie sie von den französischen Ärzten bezeichnet wurden, kam nicht selten eine 206 Hoche, S. 17. 207 Mallet, R., Etats anxieux, Réunion Médicale de la IVème armée, 16 juin 1916, in: PM, 7. August 1916, Nr. 44, S. 351.

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»phobie de l’obus«, eine Granatenphobie vor, die es den Männern unmöglich machte, weiter ihren Frontdienst zu tun. Die Schüler des renommierten Neurologen Ernest Dupré, Logre und Devaux, beschrieben dies in ihrem Standardwerk über die »anxieux« des Krieges folgendermaßen: »Nach einem großen emotionellen Schock, der von einer körperlichen Erschütterung oder Verletzung begleitet werden kann oder nicht, wird ein vormals tapferer Mann zum Feigling. Sein kriegerischer Mut geht ihm verloren. Er bekommt bereits beim Lärm von Gefechtsfeuer Angst, fängt an zu zittern und kann seine Verwirrung weder verstecken noch beherrschen. Er leidet gewissermaßen unter einer emotionellen Überempfindlichkeit; er kann der Angst der Schlachtfelder nicht mehr siegreich widerstehen.« 208

So wurde der Angstzustand als ein Kontrollverlust über die körperlichen Funktionen und damit eng verbunden als ein Ausfall kriegerischer Fähigkeiten und Tugenden, insbesondere der Tapferkeit, beschrieben. Die Kriegsangst nach einem Emotionsschock mit oder ohne körperlicher Erschütterung bildete nur eine Erscheinungsform unter vielen. In ihrem Kapitel über die »anxiété de guerre« unterschieden die beiden Autoren Logre und Devaux scharf zwischen konstitutioneller und erworbener »anxiété«. Die anhaltende Kriegsgefahr, in der sich die Soldaten befänden, bedeutete ein einzigartiges psychologisches Experiment, das von einer maximalen Gewalt und Dauer getragen wurde und an Millionen von Individuen gleichzeitig verfolgt werden könnte. 209 Zunächst widmeten Logre und Devaux ihre Aufmerksamkeit denjenigen Soldaten, die sich trotz der furchtbaren und »übermenschlichen« Prüfungen eines unerschütterlichen Nervensystems rühmen könnten: »Man muss zugeben, dass der moralische Widerstand des ausgeglichenen Soldaten über den Kriegsemotionen, wenn nicht gar über all den Kriegserschütterungen steht […].« 210 Die vor dem Krieg bereits ängstlich Veranlagten entwickelten im Krieg keine eigene Krankheitseinheit, die man als Kriegsangst bezeichnen könnte. Die psychopathologischen Erscheinungsformen, wie etwa Verwirrung, Melancholie, Delirien, seien zwar nach den kriegerischen Erlebnissen eingefärbt, unterschieden sich aber in nichts von der zivilen Krankheitsform. 211 Die konstitutionellen »anxieux« waren ihrer Veranlagung durchaus nicht ausgeliefert. Einige unter ihnen könnten unter Auf bringung großer Kräfte ihre zumeist angeborene Charakteranlage überwinden und angesichts der Kriegsgefahren erfolgreich ihren Mann stehen. Hier spielten Adaptationsfähigkeiten die ausschlaggebende Rolle. Die Kriegspsychiatrie trage hier dazu bei, eine mehr oder weniger ausgeprägte Fähigkeit des Soldaten, sich psychisch anzupassen, 208 Devaux u. Logre, S. 297; Devaux und Logre werden ebenfalls zitiert von Charon, R. u. G. Halberstadt, Les troubles psychiques des commotionnés, in: PaM, Bd. 25, 1917, S. 30. 209 Siehe zum Folgenden Devaux u. Logre, S. 283–300. 210 Ebd., S. 285. 211 Ebd., S. 289.

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zu bemessen, was in die Untersuchungen über die »Pathologie des kriegerischen Muts« übergehe.212 Sowohl deutsche Spezialisten wie der bereits zitierte Laudenheimer als auch französische Ärzte hoben somit hervor, dass manche Soldaten auf Grund ihrer »ängstlich-depressiven« Konstitution bzw. ihrer »hyperémotivité« nicht kampfesfähig waren. Die französischen Psychiater gingen indes noch einen Schritt weiter: Durch die anhaltenden auf den Soldaten einstürmenden Kriegsaffekte konnte eine »anxiété« auch erworben werden. Die beiden Autoren Logre und Devaux beurteilten die Granatphobie eines Soldaten, der längere Zeit und mehrmals dem Granatenhagel ausgesetzt war, folgendermaßen: »Diese erworbene Feigheit ist das Ergebnis eines moralischen Kriegstraumas, das sich der Soldat während der Dienstzeit zugezogen hat. Wenn er körperlich betroffen ist, so hat er das Recht, gleich wie ein Verwundeter behandelt zu werden. Wenn er psychisch betroffen ist, so hat er in Wirklichkeit die gleichen Rechte. Er ist dann, im eigentlichen und militärischen Sinne, ein Invalide, aber ein moralischer Invalide, ein Invalide der Tapferkeit.«213 [Hervorhebung Logre und Devaux]

Es handelte sich bei der erworbenen »anxiété« also um eine durch den Krieg verursachte Erkrankung mit allen militärischen Vergünstigungen, die eine solche nach sich ziehen müsse. Die französische Ärzteschaft schenkte der militärischen Frage, wie mit solchen Angstzuständen und Ausfällen der kriegerischen Fähigkeiten zu verfahren sei, eingehend Beachtung. Besonders wichtig war es, die Grenze zwischen eigentlicher Hysterie und emotionellen Störungen zu ziehen. In einer Sitzung der Académie de Médecine hatte bereits Maurice de Fleury darauf aufmerksam gemacht, dass sich unter seinem Krankenmaterial am Service central psychiatrique des Militärkrankenhauses Val-de-Grâce von etwa 4300 Erkrankten im Jahr ein bedeutender Anteil sogenannter Emotionsneurosen (»névroses émotives«) befände.214 Diese Emotionsneurose, wie sie bereits Ernest Dupré 1911 beschrieben hatte215, sei nicht gleichzusetzen mit Hysterie. Sie trenne ein »tiefer Graben zwischen ehrlicher, wahrhaftiger und vorgetäuschter, vorgelogener Krankheit«.216 Die Hysteriker hätten eine pathologische Tendenz zur Lüge. Dass zwischen den beiden Krankheitsbildern in rechtsmedizinischer Hinsicht unbedingt unterschieden werden müsse, sollte das Beispiel eines psychisch er212 Ebd., S. 293. Zum kriegerischen Mut: Huot u. Voivenel, Le Courage. Die Unterscheidung zwischen konstitutioneller und erworbener Kriegsangst wird auch nach dem Krieg von Brousseau hervorgehoben. 213 Devaux u. Logre, S. 297. 214 Fleury, M., Deux cas de psychonévrose émotive. Sitzung in der Académie de Médecine am 26. Februar 1918, in: BAM, Bd. 79, 1918, S. 157–169. 215 Dupré, E., La Constitution émotive, in: PaM, Nr. 3, 1911, S. 403–408. 216 Fleury, M., Deux cas de psychonévrose émotive. Sitzung in der Académie de Médecine am 26. Februar 1918, in: BAM, Bd. 79, 1918, S. 167.

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krankten Offiziers aufzeigen, der bei einem gewaltigen Angriff plötzlich und in aller Öffentlichkeit zu zittern, mit den Zähnen zu klappern und stark zu schwitzen begann. Wie sollte seine Umgebung, vor allem auch seine Untergebenen, diese plötzlich auftretende geistige Verwirrung und den damit verbundenen Ausfall der Kampfesfähigkeit beurteilen? Wiederum wurde die Frage nach der Angst als Kehrseite des kriegerischen Muts aufgeworfen. Die neuen Erkenntnisse der Kriegspsychiatrie über die bedeutende Rolle der Emotionen gäben geeignete Mittel zur Hand, bei solchen diffizilen Fällen das Verhalten des Kriegsteilnehmers richtig einschätzen zu können: »Ist er ein Feigling oder ein Kranker, oder beides zugleich?…Sollte man angesichts eines solchen Verhaltens in der Gegenwart des Feindes sein Verhalten brandmarken oder ihm im Gegenteil nicht eher all die Hochachtung bezeugen, die demjenigen gebührt, der bis zu den Grenzen seiner Kräfte und sogar darüber hinaus gegangen ist? Nun ja, ich denke, dass die Psychiatrie uns nun Mittel auf den Weg gegeben hat, zum einen um die Hysterie von der »psychonévrose émotive«, zum anderen die Feigheit von einer wahrhaft kranken »Erregbarkeit« zu unterscheiden.«217

Diese Unterscheidung zwischen Emotionsneurosen und Hysterie, als unehrliche Störung, stieß auf Konsens innerhalb der französischen Ärzteschaft. Man dürfe emotionelle Störungen und hysterische Störungen nicht über einen Kamm scheren, so der Arzt André Léri in seinem Standardwerk zur »Commotion et émotion«.218 Zwar bestehe ein Zusammenhang zwischen den beiden, da die gewaltigen Emotionen das Terrain vorbereiteten und dem Entstehen hysterischer Störungen Vorschub leisteten, indem sie den kritischen Menschenverstand schwächten und die Suggestibilität erhöhten. Das müsse aber nicht zwangsläufig der Fall sein. Hysterische Störungen könnten ganz von alleine entstehen und wenn sie nach gewaltigen Emotionen auftraten, dann als ein mehr oder weniger unbewusstes Nebenprodukt, eine Art »Schnörkel« in dem physio-psychologischen klinischen Bild der »émotion-choc« oder der »névrose émotive«. Auch in der Dienstbeschädigungsfrage schlug sich diese wissenschaftliche Unterscheidung zwischen hysterischen und emotionellen Störungen nieder. Die synoptischen Gegenüberstellungen der Berechnung des Invalidenanspruchs im Jahr 1831, 1915 und 1919 veranschlagten das emotionelle Zittern [»tremblement émotionnel«] für das Jahr 1919 mit 10 bis 30% vom Gesamtsatz einer absoluten Funktionsunfähigkeit, wohingegen die von hysterischen und 217 Ebd., S. 168–169. 218 Léri, S. 124f. Ebenso argumentieren Mairet, A. u. H. Piéron, Le syndrome émotionnel, sa différenciation du syndrome commotionnel, in: AMédPsych, Bd. VIII, April 1917, S. 183–206, rezensiert in: PM, 7. Juni 1917, Nr. 32, S. 336: Das emotionelle Syndrom habe nichts zu tun mit dem »hysterischen Mechanismus [mécanisme pithiatique], da es keine theatralischen Störungen nach sich zieht, wie die Autosuggestion«.

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neurasthenischen Störungen Betroffenen leer ausgingen.219 Die militärischen Richtlinien von 1831 und von 1915 berücksichtigten diese »émotionnés« noch nicht. Die französische Debatte über die pathologischen Erscheinungsformen der Emotionen war alles andere als eine Kriegsschöpfung. Bereits im Dezember 1909 und im Januar 1910 fand eine gemeinsame Versammlung der Mitglieder der »Société de Neurologie de Paris« und der »Société de Psychiatrie« statt, welche die Koordinaten der Kriegsdebatte festlegten.220 Auf dieser jährlichen Vollversammlung waren diejenigen Neurologen und Psychiater vertreten, die sich auch in der Kriegszeit engagierten, darunter Gilbert Ballet, der den Vorsitz führte, Pierre Janet, Georges Dumas, Joseph Babinski, Paul Sollier, Henri Claude. Heftig diskutierten die renommierten Spezialisten darüber, welche Rolle die Emotionen bei der Entstehung neuropathischer Störungen wie Hysterie, Epilepsie, Neurasthenie und traumatische Neurose einnähmen und wie sie im Verhältnis zu anderen Faktoren wie Prädisposition oder Suggestion zu gewichten seien. Wenn auch die Meinungen in so manchen Punkten auseinander gingen, hielt doch eine Vielzahl der Neurologen und Psychiater daran fest, die Wirksamkeit der Auto- oder Heterosuggestion einzugrenzen. Insbesondere Déjerine und Pierre Janet traten damit gegen Babinski an, der in seiner Krankheitseinheit des »pithiatisme« genau diese morbide Macht der Vorstellungen und Ideen stark gemacht hatte. Den Emotionen, darin war sich die Mehrheit einig, müsste mehr Beachtung geschenkt werden. Kurze und heftige Affekterregungen, etwa beim »émotion-choc«, aber auch schwächere, dafür anhaltende Einwirkungen könnten nervöse Krankheitsbilder auslösen. Das große Interesse der französischen Ärzte am Krieg als einem immensen psychologischen Experiment und seiner Häufung an unterschiedlichsten Emotionen kann insbesondere auch auf diese Tagung zurückgeführt werden. Die unbedeutende Rolle, die Suggestion und krankmachende Ideen in der Krankheitsentstehung einnahmen, zeichnete sich bereits hier ab. Die Betonung lag vielmehr auf den emotionellen morbiden Faktoren. Die Pariser Tagung zeitigte große Wirkung: Die Emotionen fanden zunehmend wissenschaftliche Beachtung. Ernest Dupré entwickelte seine Theorie über die »Constitution émotive«.221 Seine Schüler Logre und Devaux bereiteten das bereits genannte Buch über die »anxieux« vor, das eigentlich noch vor Kriegsanfang hätte erscheinen sollen und schließlich, mit den Kriegsbeobachtungen angereichert, erst 1917 veröffentlicht wurde.

219 Ministère de la Guerre, S. 64f. Die »commotionnés« erhielten 20–50% des Gesamtsatzes. 220 Du Rôle de l’émotion dans la genèse des accidents névropathique et psychopathiques. Réunion annuelle de la Société de Neurologie de Paris et de la Société de Psychiatrie de Paris, Séance du 9 décembre 1909 et du 16 décembre 1909, Séance du 13 janvier 1910, in: Encéphale, Nr. 1, 1910, S. 207–256 und 354–392 und 471–500. 221 Dupré, E., La Constitution émotive, in: PaM, Nr. 3, 1911, S. 403–408.

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Den Psychiatern, welche die pathologische Wirkung der Angst in den Mittelpunkt gerückt hatten, standen diejenigen Ärzte gegenüber, welche die Angst als eine normale und natürliche Reaktion des Organismus auf eine lebensbedrohliche Situation verstanden wissen wollten, die nicht unbedingt ein eigenes Krankheitsbild hervorrufen könnte. Diese Ärzte interessierte die psychologische und nicht die pathologische Komponente der Angst. Diese Gegenreaktion war Ausdruck eines gewissen Unbehagens gegenüber den zahlreichen Ausführungen der pathologischen Wirkung der Angst. Die stetig anschwellende Literatur über Kriegsängste schien nicht ganz zu den Beteuerungen zu passen, dem Feind und dem Krieg physisch und psychisch die Stirn bieten zu können. Der durch seine Glossen in der »Presse Médicale« bekannte Arzt Helme kommentierte zwar das Buch von Logre und Devaux sowie den Aufsatz von Louis Rénon im »Bulletin général de thérapeutique« in wissenschaftlicher Hinsicht wohlwollend. Die Kriegswirklichkeit würden sie indessen nicht angemessen darstellen.222 Die medizinischen Beschreibungen über ängstliche, pessimistische und beunruhigte Soldaten könne Helme nicht in Einklang mit den Briefen von der Front bringen. In ihrer Feldpost legten die Soldaten Zeugnis über den »instinktiven kollektiven Selbsterhaltungstrieb der Rasse« ab, der die individuelle Gefahr abschwächen und geringer bewerten würde. Der Chefarzt einer neurologischen Behandlungsstation, Maurice Dide, betonte in seiner Arbeit »Les émotions et la guerre. Réactions des individus et des collectivités dans le conflit moderne« diese psychologische Seite der Kriegsangst. Es sei von essentieller Bedeutung, die Emotionen und Reaktionen derjenigen Männer zu studieren, die in einem eigenen »Mikrokosmos« von der Gesellschaft getrennt seien, die sie verteidigten. Das affektive Leben in den Armeen bliebe allerdings ein »unentzifferbares Geheimnis«, wenn man nur die Angst berücksichtigen würde. Neben den »depressiven« Reaktionen gäbe es gleichermaßen »expansive« Gefühle.223 Die individuell und kollektiv erlebte Angst habe auch eine stimulierende Wirkung auf das Kampfgeschehen. An ihre Seite stellte er unter anderem den Optimismus, den Patriotismus, die Religion, die Disziplin, den Korpsgeist, das Lachen und die Heiterkeit, die materielle Sicherheit sowie den Hass auf den Feind. Auch die beiden Kriegsärzte Paul Voivenel und Louis Huot traten in ihrem dreiteiligen Kriegswerk »Le courage«, »Le Cafard« und »La psychologie du soldat« mit diesem Anliegen an ihre Kollegen heran.224

222 Helme, F., les nerfs de la France, in: PM, partie paramédicale, 11. April 1918, Nr. 21, S. 245f. Rénon, L., L’angoisse de guerre et son traitement, in: Bulletins et mémoires de la Société de thérapeutique, 12 Januar 1916, Nr. 41, 44–50, rezensiert in: PaM, Bd. 19, Nr. 6, 1916, S. 177. Rénon entwickelte das Konzept der Kriegsangst eher bezüglich der Zivil- als der Militärbevölkerung. 223 Dide, S. 12f. 224 Huot u. Voivenel, Le Courage; dies., Le Cafard; dies., La psychologie du soldat.

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V. Psychische Kriegsfolgen an der Heimatfront Nicht nur die Soldaten waren von den Schockwirkungen des Krieges betroffen. Kriegsangst, Trauer und Erschöpfung begleiteten auch die Zivilbevölkerung die Kriegsjahre über und wurden zu festen Bestandteilen ihres Alltags. Selbst wenn die ärztliche Sorge sich zunächst und zuvorderst auf den Soldaten konzentrierte, der als Verteidiger des Vaterlandes über Sieg und Niederlage zu entscheiden hatte, rückte doch mit zunehmender Kriegsdauer der psychische Zustand der Zivilbevölkerung in den Blick der Ärzte. Allerdings beanspruchte sie nie den Raum wie das wissenschaftlich so hoch brisante Material der militärischen Kriegsneurotiker. Analog zu den Militärpersonen wurden auch die zivilen Reaktionen auf den Krieg pathologisiert. Der Krieg wurde als eine überdimensionale »Massensuggestion« gedeutet, die auf die gesamte Bevölkerung wirke und bei manchen Personen morbide Erscheinungsbildern hervorrufe. Gerade in den ersten Tagen der Mobilmachung setzte sich diese suggestive Wirkung in der »Spionenfurcht, alltäglich[en] phantastische[n], kritiklose[n] Gerüchte[n], Pseudologien, eine[r] ins Krankhafte sich steigernde[n] Dysharmonie zwischen dem Affektiven und dem Intellekt« um, wie das der Psychiater Karl Bonhoeffer beschrieb.225 Auch in Frankreich registrierte man mit Unbehagen die Reaktionen der Bevölkerung auf die Kriegsereignisse: Die »alarmistes«, also Personen, die pessimistische, die Kriegssolidarität schädigende Gerüchte über Verlauf und Ausgang des Krieges verbreiteten, zogen nicht nur die öffentliche, sondern auch die ärztliche Aufmerksamkeit auf sich. Bereits am 5. August 1914 wurde ein Gesetz erlassen, das eine Strafe vorsah für öffentliche Reden über den Fortgang der Kriegsereignisse, welche die Bevölkerung beunruhigen könnten. Die Strafen betrugen zwischen einem und fünf Jahren Gefängnis und Geldbußen von 1000 bis 5000 Francs. In der Académie de Médecine kamen solche Fälle zur Sprache, die keiner kriminellen Absicht, sondern einem Charakterfehler der Person oder einem pathologischen Zustand entsprangen.226 Der Gerichtsmediziner und Arzt der Psychiatrischen Anstalt Sainte-Anne, Vallon, schloss seine Ausführungen mit den Worten: »Man sollte den Alarmisten misstrauen, entwe225 Bonhoeffer, K., Psychiatrie und Krieg, in: DMW, 24. September 1914, Nr. 39, S. 1778; siehe auch Loewenfeld, L., Die Suggestion in ihrer Bedeutung für den Weltkrieg, Wiesbaden 1917, rezensiert in: DMW, 12. Juli 1917, Nr. 28, S. 885; Stelzner, H.F., Aktuelle Massensuggestionen, in: Archiv für Psychologie, Bd. 55, Nr. 2, 1915, rezensiert in: DMW, 22. April 1915, Nr. 17, S. 508; Gaupp, R., Wahn und Irrtum im Leben der Völker. Universität Tübingen. Rede des Rektors am Geburtstage des Königs 1916, Tübingen 1916, rezensiert in: DMW, 19. Oktober 1916, Nr. 42, S. 1301. 226 Vallon, Ch., Les Alarmistes. Etude médico-légale. Sitzung der Académie de Médecine am 16. April 1918, in: BAM, Bd. 79, 1918, S. 312–314, rezensiert in: PM, 18 April 1918, Nr. 22, S. 20. Zur Spionenfurcht in Frankreich siehe Bavendamm.

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der sind sie Übeltäter oder krank, vor allem gehirnkrank.«227 Diesen »unheilvollen Wirkungen des Krieges«228, die den Zusammenhalt der Nation zu zersetzen drohten, standen äußerst günstige, ja, »läuternde« Kriegsfolgen entgegen: Beide Ärzteschaften begrüßten ausdrücklich die einigende Kriegsanstrengung aller Bevölkerungsgruppen über Klassenschranken hinweg. Die pathologischen Fälle, beteuerten die Ärzte, seien Ausnahmen. Wie deuteten die Ärzte die ganze Bandbreite der psychischen Alterationen, die in der Zivilbevölkerung infolge des Kriegsereignisses auftraten? In Deutschland waren Ärzte über der Frage uneins, ob die psychiatrischen Anstalten im Krieg eine erhöhte Aufnahmeziffer zu verzeichnen hatten. Einige deutsche Fachärzte bestritten das ohne Umschweife: Von einer Zunahme der Geisteskrankheiten im Krieg könne keine Rede sein.229 Nicht alle teilten diese Meinung. So beschrieb etwa ein Arzt aus dem Stuttgarter Bürgerhospital, das zur Kriegszeit sowohl Militär- als auch Zivilpersonen aufnahm, wie »der jetzige Krieg eine Vermehrung an Psychisch-Erkrankten gebracht« hatte.230 Der Arzt betonte, dass während der Mobilisationsphase Ende Juli bis Ende August 1914 doppelt so viele Patienten aufgenommen wurden wie im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor, und gab folgende Erklärung: »Die Kriegsereignisse hatten auf die psychisch labilen Elemente somit rasch ihre Wirkung ausgeübt, so dass diese Individuen, die sich in normalen Zeitläuften vielleicht noch über Wasser hätten halten können, unter den sich vorbereitenden kriegerischen Ereignissen psychisch völlig zusammenbrachen.«231 Die kriegerisch eingefärbten Wahnideen der psychopathisch Disponierten wirkten vielleicht auf ein Laienpublikum eindrucksvoller, unterschieden sich aber in nichts von den Erkrankungen in der Friedenszeit. Ärzte stellten entschieden fest, dass seelisches Leiden nicht zwangsläufig aus seelischer Not stamme.232 Die endogene Veranlagung bleibe, das hätten auch die Kriegsbeobachtungen erwiesen, der wesentliche Faktor bei der Entstehung und im Verlauf der Nerven- und Geisteskrankheiten, so der Tübinger Psychiater Robert Gaupp. Obwohl zahlreiche Familien ihren Sohn verloren hätten, habe er es in den drei Kriegsjahren noch nie erlebt, dass aus seelischem Leid eine Melancholie entstanden wäre. Die Prädisposition spielte also auch bei den zivilen 227 Ebd., S. 314. 228 Binswanger, S. 26. 229 Hoche, S. 25; Binswanger, S. 7. 230 Schuhmacher, Kurze Übersicht über die Zahl und die einzelnen Formen der seit Kriegsbeginn bis Mitte Februar 1915 im Bürgerhospital aufgenommenen geisteskranken Militärpersonen. 12. Kriegsärztlicher Abend des Stuttgarter ärztlichen Vereins am 18. Februar 1915, in: MCWÄL, 29. Mai 1915, Nr. 22, S. 217ff. 231 Ebd., S. 217. 232 Gaupp, R., Seelisches Leid als Ursache der Melancholie, in: MCWÄL, 20. Oktober 1917, Nr. 42, S. 455.

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Erkrankungen die überragende Rolle. Die Widerstandskraft gegen seelische Einwirkungen sei ein Kennzeichen für eine gesunde Volksseele: »Den Schwachen wirft die seelische Erschütterung zu Boden, den Starken reißt sie empor!«233 Eines wurde von den deutschen »Seelenspezialisten« stets beteuert: Es gab keine schwerwiegenden psychischen Probleme in der Zivilbevölkerung zu verzeichnen. Krieg an sich mag zwar einen Einfluss auf bereits psychopathisch Veranlagte haben, aber eigentliche chronische Nerven- und Geisteskrankheiten könne er nicht erzeugen. Die »humane Laienmeinung«, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Krankheit und Krieg herstellte, so Gaupp weiter, erscheint erträglich, da für den Kranken daraus meist ein Vorteil entspringe. Der Arzt könne diesen Irrtum der Laien deswegen auch ohne lebhaften Widerspruch hinnehmen. Die »Würde der unbestechlichen Wissenschaft« gebiete es jedoch, dass die Erkenntnis, es handele sich dabei um einen Irrtum, nicht verloren gehen dürfe. Gemütsbewegungen treten in einem Krieg massenweise auf, so auch Kreuser, ein Stuttgarter Kollege Gaupps.234 Steigerten sich diese Gemütsbewegungen zu einer wahrhaften Gemütserkrankung, liege eine krankhafte Veranlagung des Erkrankten vor, die auch bei einem anderen Anlass zum Ausbruch gelangt wäre. Dem »volkstümliche[n] Erklärungsdrang«, der einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Krieg und krankhafter Störung zu erblicken meine, müsse man entschieden entgegentreten. Ärzte wollten sich hier als Wissenschaftler dezidiert von der öffentlich vorherrschenden Meinung absetzen. Die Eindringlichkeit und Häufigkeit, mit der die Ärzte den Kausalzusammenhang zwischen Krieg und Krankheit negierten, mag auch in der Diskrepanz zur öffentlichen Kriegswahrnehmung gelegen haben. Der Krankheitskeim sei nicht in den traumatisierenden Kriegserfahrungen, sondern im krankhaft veranlagten Individuum zu suchen, das dadurch als »psychisch labiles Element« stigmatisiert und in letzter Konsequenz aus einer Volksgemeinschaft ausgeschlossen wurde, in der die Wehrfähigkeit zu einem entscheidenden Kriterium geworden war. Bemerkenswert ist dabei, dass im Gegensatz zu den Störungen in der Militärbevölkerung kaum Einzelfälle von psychisch bedingten »Kriegskrankheiten« diskutiert wurden. Es herrschten vielmehr Kollektivvorstellungen von einer »gesunden seelischen Volkskraft« vor. Auch wird die Frage ausgespart, ob es eine Bevölkerungsgruppe gab, die der Suggestivkraft des Krieges weniger gut Widerstand leistete. Einzelne Ausfallerscheinungen bestätigten nur, dass in der Regel das deutsche Volk gegen solche Erkrankungen gefeit sei und nicht dazu neige, »das Erlebnis in Hysterie umzusetzen«. 235 233 Binswanger, S. 13. 234 Kreuser, Geistige Störungen zu Kriegszeiten. Nach einem Vortrag im Hilfsverein für rekonvaleszente Geisteskranke in Württemberg, in: MCWÄL, 24. Juni 1916, Nr. 26, S. 258. 235 Meyer, S., Kriegshysterie, in: DMW, 20 Januar 1916, Nr. 3, S. 70.

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Dem entsprach die von den Ärzten hervorgehobene positive, ja, geradezu läuternde Wirkung, die der Krieg auf vormals psychisch Kranke auszuüben vermochte. »Nach gewissen Richtungen ist sogar eine Besserung der nervösen Durchschnittsgesundheit festzustellen«, befand der Freiburger Psychiater Alfred Hoche.236 Um die Neurastheniker mit ihren sonstigen Klagen und Quengeleien sei es still geworden. Es gehöre »heute ein merkwürdiger Mut dazu, den glücklicherweise nur wenige Nervöse besitzen, um auch in diesen Tagen den Arzt wegen kleiner Beschwerden aufzusuchen, deren Gesamtsumme nicht den zehnten Teil dessen beträgt, was Soldaten im Felde täglich ertragen; und es gehört auch für den berufsmäßig an Nachsicht gewöhnten Arzt eine besondere Dosis Geduld dazu, die, wie ich für mich bekennen muß, nicht immer ausreicht, um solche Klagen in Ruhe mit anzuhören.« 237

Die große nationale Not überdecke das kleine persönliche Leiden. In Deutschland herrschte also große Einmütigkeit vor, die zivilen Reaktionen auf eine innere krankhafte Veranlagung zurückzuführen, die auch ohne den Krieg ausgebrochen wären. Darin bestand ein wesentlicher Unterschied zur Beobachtung von psychischen Erkrankungen bei Militärpersonen, da hier die Mediziner zwar die Rolle der Prädisposition ebenfalls stark gewichteten, jedoch ebenso exogene Faktoren in Betracht zogen.238 Psychische Erkrankungen an der Front, wo die Ursachen unumstritten von gewaltigem Ausmaß und Intensität waren, waren eher zu entschuldigen als diejenigen, die in der Heimat entstanden. Dafür sprach auch die ständige Angst einer Hysterisierung der Gesellschaft durch die Berührungspunkte von Front und Heimat. In Frankreich verlief analog zu den Beobachtungen an Militärpersonen die Deutung dessen, was die Zivilbevölkerung erleiden musste, etwas anders. Es war durchaus nicht so, dass französische Ärzte den Einfluss des Krieges auf die Entstehung eigentlicher Nerven- und Geisteskrankheiten bejahten. Auch hier finden sich die nimmermüden Beteuerungen, eine einheitliche, klinische Kriegskrankheit, die auf dem Boden der Kriegserfahrungen entsprießen könne, gäbe es nicht. In der Société de Médecine von Nancy stellte etwa ein Arzt seine Beobachtungen von fünfzig Frauen, die in der ersten Kriegszeit in die psychiatrische Anstalt von Maréville eingewiesen wurden, seinen Kollegen vor.239 Der Krieg sei hier die Gelegenheitsursache, nicht der eigentliche Grund für den Ausbruch der Erkrankung. Die Aufnahmezahlen hätten auch im Vergleich zum Vorkriegsjahr 1913 nicht merklich zugenommen. Das bestä236 Hoche, S. 26–27; ebenso Binswanger, S. 24. 237 Hoche, S. 26f. 238 Siehe hierzu Kap. III. »Die Rolle der inneren Krankheitsdisposition« in diesem Teil der Arbeit. 239 Paris, Les psychoses de la guerre. Société de Médecine de Nancy, 21 juillet 1915, in: PM, 30. Dezember 1915, Nr. 64, S. 526.

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tigte auch eine Doktorarbeit aus dem Jahr 1919, die innerhalb der französischen Ärzteschaft freilich nicht öffentlich zur Diskussion stand. 240 Der Doktorand resümierte in seiner Arbeit, dass »die Bombardierungen, die erzwungenen Evakuierungen der Frauen und Jugendlichen, die Deportationen der Arbeiter, die schikanösen Hausdurchsuchungen der Polizei, die fehlenden Nachrichten von der Front, die erzwungene Inaktivität den Ausbruch von Geistesstörungen durchaus begünstigen konnten«, wenn auch »alle diese Leiden auf konstitutionelle Krankheiten zurückgehen«.241 Von diesen Stellungnahmen auf eine generelle Überbewertung der konstitutionellen Veranlagung durch die französischen Ärzte zu schließen, lässt den Aspekt außer Acht, dass in Frankreich durchaus den kriegsbedingten Zwischenformen zwischen Geisteskrankheit und normaler, seelisch gesunder Konstitution eine größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde als in Deutschland. Drei Jahre nach dem Erscheinen der oben zitierten Doktorarbeit beschäftigte sich ein weiterer Doktorand an der Liller Medizinischen Fakultät mit den späten psychischen Folgen des Krieges für die Zivilbevölkerung; darunter zählte er nun auch die zurückkehrenden Militärpersonen, die ihre Uniformen bereits abgelegt hatten.242 Er richtete ebenfalls die Aufmerksamkeit auf die Fälle, bei denen der Krieg eine bereits vorher bestehende oder angelegte Erkrankung zum Ausbruch gebracht hatte. Die Mehrzahl der Fälle bestehe allerdings aus Zwischenformen geistiger Erkrankung: »Die Auswirkungen dieser schrecklichen fünf-jährigen Periode zeigen sich nicht in den Mauern der psychiatrischen Anstalten, sondern eher auf der Straße.«243 Der Doktorand lehnte sich unter anderem an die Arbeiten Jean Lépines an, der sich im Gegensatz zu der Mehrheit seiner Kollegen nicht damit abfinden konnte, dass keine eigentümliche psychische Kriegserkrankung zur Beobachtung käme. Bliebe das äußere symptomatische Erscheinungsbild auch das gleiche, seien doch der Entstehungsmechanismus sowie der Verlauf der Erkrankungen anders als die Erkrankungen der Friedenszeit: »Nie war es uns vergönnt, eine so große Anzahl von Zwischenzuständen von Vernunft und Wahnsinn zu untersuchen. Es handelt sich um ein immenses, nicht klar umrissenes Gebiet, in dem die Gehirntätigkeit gestört ist, ohne dass die Zukunft unwiederbringlich gefährdet ist.«244

Wenige Ärzte drückten diesen Umstand so unumwunden aus wie der Professor für Nervenkrankheiten an der Medizinischen Universitätsklinik von Lyon. Dennoch wurde in den ärztlichen Gesellschaften eine Vielzahl von Fäl240 241 242 243 244

Assoignion. Ebd., S. 82. Sougniez. Ebd., S. 68. Lépine, S. 5.

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len vorgestellt, bei denen der pathologischen Wirkung der Kriegsemotionen eine große Bedeutung beigemessen wurde, ohne dass diese in eine eigentliche Geisteskrankheit mündeten. In der »Société de Neurologie» stellten die Neurologen Dupré und Grimbert im Januar 1917 Fälle von konstitutioneller, aber auch durch die Kriegsereignisse, etwa beim Anblick vorbeiziehender Zeppeline, erworbener Emotivität bei Frauen vor.245 Die imposanten deutschen Luftschiffe bedeuteten für die französische Zivilbevölkerung tatsächlich eine todbringende Gefahr, wurden sie doch in der Anfangszeit dazu benutzt, französische Städte wie Nancy, Calais oder Paris zu bombardieren. In den französischen medizinischen Gesellschaften wurden Angstzustände beschrieben, die an sich bereits das ganze klinische Bild bestimmten. Analog zur Kriegsangst an der Front beanspruchte auch die Kriegsangst in der Heimat ein großes ärztliches Interesse.246 Die Kriegsangst diagnostizierten Ärzte bei Zivilpersonen, die in der Armee einen Familienangehörigen oder Freund hatten, oder bei denjenigen Personen, deren materielle und moralische Lebenssituation durch die aktuellen Ereignisse durcheinander gekommen war. Die Krankheit drückte sich in einer speziellen Ängstlichkeit aus, die sich beim kleinsten äußerlichen Eindruck verstärkte. Begleiterscheinungen waren eine unangenehme und hartnäckige Schlaflosigkeit, Charakterschwankungen, Appetitlosigkeit, häufig auch Abmagerung und Verstopfung. Der Verlauf der Erkrankung stehe in direkter Beziehung zu der militärischen und diplomatischen Situation. Ihren Höhepunkt habe sie während des Rückzugs von Charleroi, zur Zeit der Luftangriffe auf Paris, während der Marneschlacht und der Champagneoffensive erreicht.247 Analog zu der Kriegsangst bei Soldaten versuchte der Therapeut Louis Rénon, die Kriegsangst nicht mit Hysterie gleichzusetzen. Hier sei mehr der Allgemeinmediziner als der Psychiater gefragt. Er führte diese auf ein Ungleichgewicht der Nervenströmung auf den Sympathikus zurück und ordnete sie unter die funktionellen Störungen ein, über deren Ursprung man noch nicht genügend wisse. Psycho- und physiotherapeutische Maßnahmen könnten Abhilfe schaffen. Die zur Krankheit prädisponierenden Momente spielten in der Beschreibung solcher Krankheitszustände eine untergeordnete und zu vernachlässigende Rolle. In dieser neuen Kategorie von Erkrankungen, die weder voll ausgebildete Geistes- und Nervenkrankheiten noch mit der Hysterie gleichzusetzen waren, kamen gleiche Vorstellungsmuster wie bei der Kriegsangst der Militärbevölkerung zum Tragen. 245 Grimbert u. Dupré, Constitution émotive originelle et acquise. Société de Neurologie, 11 Januar 1917, in: PM, 22. Januar 1917, Nr. 5, S. 54. 246 Rénon, L., L’angoisse de guerre et son traitement, in: Bulletins et mémoires de la Société de thérapeutique, 12. Januar 1916, Nr. 41, S. 44–50, rezensiert in: PaM, Bd. 19, Nr. 6, 1916, S. 177; in: Bulletin Médical, 22. Januar 1916, S. 115–116; siehe ebenfalls den Lexikonartikel »Angoisse de guerre« in: Galtier-Boissière (Hg.), S. 12. 247 Rénon, L., L’angoisse de guerre et son traitement, in: Bulletins et mémoires de la Société de thérapeutique, 12. Januar 1916, Nr. 41, S. 46.

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Um die Wirkungen des Krieges auf die Zivilbevölkerung zu untersuchen, boten sich besonders diejenigen Städte an, die im Krieg mehrmaligen Bombardierungen ausgesetzt waren. Die analogen Erfahrungen, die hier die Zivilisten in der Heimat und die Soldaten an der Front machen mussten, veranlassten Ärzte, ihr Beobachtungsfeld auszuweiten und damit weitere Rückschlüsse auf den Zusammenhang zwischen äußeren Einwirkungen und der Entstehung psychisch-nervöser Störungen zu ziehen. Trotzdem waren solche Untersuchungen eher selten. Für Deutschland ist dieser Befund wenig überraschend. Obwohl Zivilpersonen den englischen Bombardierungen von deutschen Städten an Rhein und Ruhr zum Opfer fielen, war der Großteil der zivilen Verluste in Deutschland der extremen Mangelversorgung zuzuschreiben. Dass im Hungerwinter 1916/1917 viele Hunderttausende, gerade ältere und bereits gesundheitlich geschwächte Zivilpersonen starben, fand in der eindeutigen Schwerpunktsetzung auf ernährungsphysiologische Fragen eine Entsprechung in den ärztlichen Debatten.248 Umso erstaunlicher ist dieser Befund für die französische Ärzteschaft, die nur wenig über die Bevölkerung in den besetzten Gebieten zu berichten wusste oder konnte. Mit dem deutschen Einmarsch schien auch der ärztliche Austausch über die Feindesgrenze hinweg zum Stillstand gekommen zu sein. Erst ein Jahr nach Kriegsende veröffentlichten der Professor an der Medizinischen Klinik in Nancy Etienne und sein Kollege Richard eine Studie über die Zivilbevölkerung einer Stadt, die mehrmaligen Bombardierungen ausgesetzt gewesen war.249 Die beiden Mediziner stellten in das Zentrum ihrer Kriegsbeobachtungen Fragen, wie sie auch bei den Soldaten an der Front aufgeworfen wurden und deren Lösung in der wissenschaftlichen Forschung noch zu keinem endgültigen Abschluss gekommen war. Insbesondere interessierte sie die Bedeutung, die Emotionen wie Schreck und Angst auf den Organismus ausüben könnten. Um die Erkenntnisse der militärärztlichen Arbeiten über den Soldaten auf eine solidere wissenschaftliche Grundlage zu stellen, wurde nun der Blutdruck von Zivilpersonen in Krisensituationen, etwa bei einer Bombardierung, untersucht. Allein aus den Kriegsbeobachtungen von Soldaten könne man keinen vollständigen Aufschluss gewinnen, so die beiden Autoren, da ja die Untersuchungspersonen durch die militärische Rekrutierung zu den jüngeren und gesünderen Teilen der Bevölkerung gehörten. Gerade die physische Widerstandskraft sei ein entscheidender Faktor. In Deutschland liegt eine ähnlich Studie von dem Freiburger Psychiater Alfred Hoche vor, wenn sie auch ganz anders ausgerichtet war.250 Es handelt sich 248 Siehe hierzu Kap. II.3. »Der Gesundheitszustand der Zivilbevölkerung« im ersten Teil dieser Arbeit. 249 Etienne, G. u. G. Richard, La pression artérielle et les émotions de guerre. Etude dans une ville bombardée. Essai d’interprétation pathogénique, in: PaM, Bd. 33, 9. August 1919, Nr. 32, S. 109–115. 250 Hoche, A., Beobachtungen bei Fliegerangriffen, in: Mkl, 26. August 1917, Nr. 34, S. 905– 907, rezensiert in: DMW, 4. Oktober 1917, Nr. 40, S. 1275.

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dabei, wie der Autor selbst betonte, eher um eine zufällige Beobachtungsreihe sowie eine Befragung unter Kollegen als um ein klar umrissenes, systematisch bearbeitetes Forschungsfeld. Dementsprechend heftete sich das Augenmerk Hoches nicht nur auf medizinische Aspekte, sondern allgemeiner auf das menschliche Verhalten in Krisensituationen. Am bemerkenswertesten schien es dem Autor, dass nach den Bombenabwürfen auf Freiburg im April 1917 kein einziger Zugang zur psychiatrischen Klinik zu verzeichnen war, ein weiterer Beweis »für den verhältnismäßig geringen Einfluß äußerer Erlebnisse bei der Entstehung wirklicher Geisteskrankheiten«.251 Bei »nervös und psychisch vollwertigen« Individuen könne von einer länger dauernden Nachwirkung auf die Schockwirkungen des Krieges keine Rede sein. Für die Zivilbevölkerung galt demnach ebenso wie für die Militärbevölkerung, dass ein gesundes Nervensystem den Kriegsereignissen durchaus standzuhalten könnte. Dementsprechend günstig fiel auch die Gesamtbilanz aus, die Hoche über die »Freiburger Nerven« zog: »Die durchschnittliche seelische Widerstandskraft einer modernen Stadtbevölkerung«, so Hoche weiter, sei keineswegs so schlecht, »wie die ängstlichen Betrachtungen einzelner Ärzte über die »nervöse Degeneration« unseres Zeitalters erwarten lassen.«252 Stellt man die beiden Studien vergleichend gegenüber, so bestätigt sich der bereits herausgearbeitete Befund: In Deutschland wollte der Psychiater Hoche Aufschluss darüber gewinnen, inwieweit Konstitution und Veranlagung des Kollektivkörpers den Kriegsereignissen gewachsen waren. In Frankreich versuchte man hingegen wissenschaftlichen Aufschluss darüber zu bekommen, wie die anhaltenden Kriegsemotionen wie Schrecken und Angst auf den Individualkörper wirkten und wie sich diese konkret organisch umsetzten.

251 Ebd, S. 906. 252 Ebd., S. 907.

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VI. Zwischenbilanz und der französische Blick auf die deutsche Kriegspsychiatrie Die Gegenüberstellung der deutschen und der französischen Wahrnehmung, Ordnung und Deutung der kriegsbedingten psychisch-nervösen Störungen hat Licht auf einige Gemeinsamkeiten, jedoch auch auf etliche Unterschiede geworfen. In Frankreich ging die Debatte um die Frage, ob man aus der großen Gruppe der hysterischen Krankheitsbilder heraus eine eigenständige klinische Einheit, die organisch und nicht psychogen bedingt war, identifizieren könne. Babinskis »Reflexstörungen« oder »physiopathische Störungen« waren ein solcher Versuch, der innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft zwar auf geteilte Meinungen, aber auf keinen grundsätzlichen Widerspruch stieß. Damit war nicht zugleich impliziert, dass es psychogene Störungen nicht gäbe. Allein die Proportionen der beiden Arten von Krankheitsursachen zueinander waren ungewiss. Tendenziell wollten allerdings selbst diejenigen Ärzte, welche die Störungen größtenteils als hysterische ansahen, die Granatkontundierten, die »commotionnés« des Krieges gesondert betrachten. Es fehlte in der Kriegszeit die Gelegenheit, Forschungsergebnisse zusammenzutragen und zu bündeln, um daraus bereits während des Krieges gefestigte wissenschaftliche Erkenntnisse herzuleiten. Die Betroffenen waren damit Kriegsinvaliden und ebenso zu behandeln wie die Kriegsverletzten. Das schlug sich auch in der Dienstbeschädigungsfrage nieder. Den deutschen Ärzten lag eine solche Zurückhaltung fern. Die Kriegsdebatte knüpfte an das Krankheitsbild der Rentenhysteriker an. Das Nebeneinander von psychogener und somatogener Theorie der Vorkriegszeit wurde auf der Münchener Tagung deutscher Neurologen und Psychiater im September 1916 aufgebrochen. Die von nun an gültige Theorie der Psychogenie verdrängte den »wissenschaftlichen Irrweg« des organischen Ursprungs aus der Fachdiskussion. Damit wurde in Deutschland eine Homogenisierungstendenz eingeläutet, die bald einer Vielzahl von Krankheiten einen psychogenen Ursprung unterlegte. Aber auch die Vorstellung eines psychogenen Entstehungsmechanismus konnte innerhalb der deutschen Ärzteschaft unterschiedliche Schattierungen annehmen. Mehrheitlich machten die deutschen Fachexperten die krankhafte Vorstellungswelt des Soldaten für die Erkrankung verantwortlich. Sie verlegten damit den Entstehungsmechanismus der Erkrankung von den exogenen auf die endogenen Faktoren. Die positiven und negativen Begehrungsvorstellungen spielten hier eine entscheidende Rolle, selbst wenn nicht alle Ärzte eine Geringschätzung der Kriegsneurotiker vorantrieben, wie das in den Ausführungen Lewandowskys zu Tage trat. 268 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

Die pathogene Vorstellungswelt der Soldaten stieß in Frankreich auf weit weniger Resonanz. Hier wurde im Gegenzug die Simulationsfrage häufiger aufgeworfen, so dass die französischen Ärzte ihren deutschen Fachkollegen in nichts nachstanden, um einem Großteil der Erkrankten ein mangelndes Gesundheitsgewissen zu bescheinigen. Auch in Frankreich wollte man auf den Gesundheitswillen des Soldaten einwirken. Die internalisierende deutsche Tendenz setzte sich in den Debatten zur Rolle der Prädisposition fort, wenngleich nicht alle Ärzte die Rolle der inneren Veranlagung zur Krankheit überbewerteten. Die psychischen Insulte des Krieges waren von einer solchen Stärke, dass sie mit der inneren Disposition verrechnet werden sollten. Bezüglich der psychischen Erscheinungen in der Zivilbevölkerung wurde die innere Veranlagung wieder aufgewertet. An Militär- und Zivilbevölkerung sowie an ein Front- und ein Heimaterleben des Krieges wurden nicht die gleichen Maßstäbe angesetzt. In Frankreich kamen bezüglich der Militär- und Zivilbevölkerung ganz ähnliche Deutungsmuster zum Tragen. Disponierende Anlagen wurden diskutiert und zumeist angesichts der Dauer und Intensität der Kriegsemotionen auf den zweiten Platz verwiesen. Die französischen Versuche, die »émotions de guerre« bzw. die »émotionnés de la guerre« in einer klinischen Form zu fassen und von den organischen wie den hysterischen Beschwerden auszugrenzen, stellen eine Besonderheit dar, die es so in Deutschland nicht gegeben hat. Sie gibt zudem das Bemühen der Ärzte wieder, dem Kriegsgeschehen mit all seinem Schrecken, Trauer und Sorge sowie seiner permanenten Todesgefahr einen wissenschaftlichen Tribut zu zollen. Diese »émotions« übten nach ärztlicher Meinung ihre Wirkung sowohl auf Militär- als auch auf Zivilpersonen aus. Angesichts dieser recht unterschiedlichen Ordnungen und Wertungen der psychischen Kriegskranken polarisierten deutsche Ärzte stärker zwischen denjenigen Personen, die auf Grund ihrer vermeintlich psychisch robusten Konstitution dem Kriegsgeschehen gewachsen schienen und denjenigen, die dies nicht waren und erkrankten. Dass die Interpretationen der deutschen und französischen Ärzte tatsächlich ganz unterschiedliche Wege gegangen waren, belegt auch eine Schrift, die die Psychiater Georges Dumas und Henri Aimé im letzten Kriegsjahr veröffentlicht hatten.253 Die beiden Autoren setzten sich mit den deutschen wissenschaftlichen Abhandlungen auseinander. Die deutsche medizinische Fachpresse bildete die hauptsächlichste Informationsquelle. Verwiesen wurde unter anderem auf Autoren wie Karl Birnbaum 254, Karl Bon253 Dumas u. Aimé. 254 Birnbaum, K., Sammelbericht über Kriegsneurosen und -psychosen auf Grund der gegenwärtigen Kriegsbeobachtungen. Erste Zusammenstellung vom Kriegsbeginn bis Mitte März 1915, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Referate und Ergebnisse, Bd. 11, Nr. 5, 1915, S. 321–369; ders., Sammelbericht über Kriegsneurosen und -psychosen auf Grund der gegenwärtige Kriegsbeobachtungen. Zweite Zusammenstellung von Mitte März bis Mitte

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hoeffer255, Robert Wollenberg, Ernst Meyer, auf die verschiedenen kriegsärztlichen Abende und Versammlungen der Neurologen und Psychiater sowie auf die Schrift von Hoche über »Krieg und Seelenleben«256 und von Everth über die Seele des Soldaten.257 Es handelt sich dabei um breit zusammengetragenes Material, anhand dessen die deutschen Diskussionen durchaus nachvollzogen werden können. Die beiden Autoren taten sich jedoch schwer, die deutschen Diskussionen in ihr Wissenschaftsverständnis und ihren Kenntnishorizont einzuordnen, zumal entsprechende französische Bezeichnungen für die deutschen Begriffe gelegentlich schlicht und einfach fehlten. Gerade auch die Münchener Tagung im September 1916, auf der die psychogene Krankheitsverursachung einen entscheidenden Erfolg für sich verbuchen konnte, wurde nicht als ein schwerwiegender Einschnitt wahrgenommen. Der Fall Oppenheim wurde zwar erwähnt. Dass die traumatische Neurose mit einem angenommenen, wenn auch nicht verifizierbaren organischen lädierten Substrat ganz der psychogenen Krankheitstheorie weichen musste, begegneten die beiden Franzosen allerdings mit Verständnislosigkeit. Auch Bonhoeffers Definition der Hysterie als ein »Zusammenspiel nosophiler Tendenzen und eines zweckgerichteten Willens« [»une coopération des tendances nosophiles et la transparence d’une volonté directrice dans la détermination de la maladie«]258 erschien den beiden Franzosen als eine der komplexen Materie nicht angemessene Reduktion. Die umständliche wörtliche Übersetzung lässt zudem darauf schließen, dass die Übertragung in den französischen Wissenschaftsdiskurs erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Die beiden französischen Ärzte störten sich daran, dass ihre deutschen Kollegen einseitig die psychischen und suggestiven Wirkungen überbetonen würden: »Eine große Anzahl von Autoren – ich erwähne hier nur Nonne und Lewandowsky – hält in der Substanz – wenn ich sie nicht falsch verstanden habe – die traumatischen Kriegsneurosen für krankhafte hysterische Formen.« 259 Die nosologische Einheit sei aber viel zu »umfassend« und viel zu »unklar umrissen«, als dass sie in einer Anordnung zusammengefasst werden könnte:

August 1915, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Referate und Ergebnisse, Bd. 12, Nr. 1, 1916, S. 1–89; ders., Sammelbericht über Kriegsneurosen und -psychosen auf Grund der gegenwärtigen Kriegsbeobachtungen. Dritte Zusammenfassung von Mitte August 1915 bis Ende Januar 1916, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 13, Nr. 4, 1916, S. 317–388. 255 Bonhoeffer, K., Psychiatrie und Krieg, in: DMW, 24. Dezember 1914, Nr. 39, S. 1777– 1779. 256 Hoche. 257 Everth. 258 Dumas u. Aimé, S. 62. 259 Ebd., S. 236f.

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»Wenigstens gelte es dieses Gebiet bezüglich gewisser klinisch offensichtlicher Unterschiede in den besonderen Fällen noch auszudifferenzieren. Ein Kriegsziel, auf das man ruhig hinweisen könnte, wäre, mit Hilfe des angesammelten Materials Untergruppen der verschiedenen pathologischen Formen zu bilden, die jetzt unter dem einen Namen Hysterie zusammengefasst wurden.«260

Organische Gesichtspunkte, wie etwa, dass sich auch Emotionen und Erschöpfung im Körper organisch umsetzten, würden zu wenig berücksichtigt werden. Angesichts dieser starken Homogenisierungstendenzen innerhalb der deutschen wissenschaftlichen Diskussionen, forderten sie ihre deutschen Kollegen auf, die Materie differenzierter zu betrachten und das Kriegsmaterial nicht einseitig auszuwerten. So schlossen die beiden französischen Ärzte ihre Ausführungen mit den Worten: »Was den Deutschen in ihren zahlreichen Untersuchungen offenbar am meisten gefehlt hat, das ist die Lektüre der französischen Zeitschriften und Bücher, die ihnen nicht mehr so leicht zugänglich sind wie in Friedenszeiten. Der Krieg hat bei ihnen nicht nur viel mehr neuro-psychische Störungen ausgelöst als sie es zugeben wollen, er hat auch dazu geführt, dass die wissenschaftliche Erklärung dieser Erkrankungen auf den eigenen [d.h. nationalen] Erkenntnisstand reduziert wurde.«261

Auch wenn die abschließende Beurteilung Dumas’ und Aimés nicht frei von Nationalstolz ist, so hatte sie doch eine gewisse Berechtigung: Eine eingehende Auseinandersetzung der deutschen Psychiater mit Kriegsabhandlungen aus Frankreich oder aus anderen Ländern hatte in der Tat nicht stattgefunden.

260 Ebd., S. 237. 261 Ebd., S. 242.

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Krieg, Gesellschaft und ärztliche Deutungsmacht: Eine Bilanz

Im ersten Kriegsjahr umrissen Ärzte diesseits und jenseits der Grenze ein überdimensioniertes Aufgabenfeld. Sie seien »berufen […], am Wiederauf bau der in ihrer Zusammensetzung ernstlich betroffenen Gesellschaft zu arbeiten«, so der Aufruf eines deutschen Mediziners.1 Ähnlich äußert sich sein französischer Kollege2: Der Platz des Arztes sei nicht nur am Krankenbett in Sorge um die individuelle Gesundheit. Nein, der Arzt müsse sich nun auch verstärkt um die »Gesundheit der Nation« und der »Rasse« kümmern. Die Arbeit am »Volkskörper« schwebte beiden Ärzteschaften als die dringlichste Aufgabe vor, die der Krieg ihnen gestellt hatte. Der Vergleich der Debatten von 1914 bis 1918 zeigt jedoch, dass deutsche und französische Ärzte diesen neu entstandenen Gestaltungsraum und den Platz, den sie darin einzunehmen gedachten, unterschiedlich wahrnahmen. Abschließend soll der deutsch-französische Vergleich in fünf Punkten bilanziert werden. 1. Der Arzt im Krieg: Die Ärzte beider Länder stellten sich in den Dienst der gesundheitlichen Mobilisierung der Gesellschaft. In ihrem eigenen Selbstverständnis waren sie die unangefochtenen Gesundheitsexperten, was sie nun in besonderem Maße befähigte, ihren Teil zur Mobilmachung beizutragen: Für den Krieg musste nicht nur ausreichend Waffenmaterial bereitgestellt werden, die »Ressource Mensch« galt es ebenfalls optimal auszuschöpfen. In Deutschland engagierten sich die Ärzte besonders stark im Dienst der nationalen Sache. Die Protagonisten einzelner Teilbereiche der Medizin bauten sich systematisch ein kriegsspezifisches Arbeitsfeld auf. Der Krieg bestimmte in hohem Maße das wissenschaftliche wie praktische Arbeiten beispielsweise der Pathologen, der Hygieniker und Psychiater. Selbst Fachspezialisten wie die Gynäkologen, die nicht direkt in das Kampfgeschehen an Front und Etappe involviert waren, beteiligten sich an dieser ärztlichen Mobilisierung. Alle diese Fachspezialisten versuchten, den Kriegseinfluss auf den Männer- und Frauenkörper sowie die Beeinträchtigung für die zukünftigen Generationen zu 1 Gottstein, A., Krieg und Gesundheitsfürsorge, in: DMW, 21. Oktober 1915, Nr. 43, S. 1284. 2 Chauffard, La guerre et la santé de la race, in: La Guerre et la vie de demain, hrsg. von der Alliance de l’hygiène sociale, Bd. I: Enfance et jeunesse, Paris 1916, S. 42. Der Vortrag, den Chauffard im Musée sociale hielt, wird ebenfalls erwähnt in: AHPML, Bd. 23, Nr. 5, 1915, S. 110–111.

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bestimmen. Die medizinische Fachpresse bündelte diese verschiedenen Richtungen und lieferte dem Allgemeinpraktiker eine Handreichung, wie er seine Tätigkeit im Krieg fortsetzen und ausbauen konnte. Die neue »Kriegsidentität« der Ärzte wurde problemlos inkorporiert. Fragen nach Grenzen dieses Zuwachses an Autorität wurden kaum aufgeworfen. Der Arzt eignete sich eine militärische Autorität gegenüber seinen Patienten diskussionslos an und legte ihnen die militärische und moralische Pflicht zur Gesundherhaltung auf. Denjenigen Soldaten, die an die Grenze ihrer psychischen Leistungsfähigkeit gestoßen waren, traten Ärzte nicht nur als Heilpersonen, sondern auch als militärische Vorgesetzte und Erzieher gegenüber. Da der Krieg nach einhelliger Meinung der ärztlichen Experten wie eine außerordentlich große Massensuggestion wirke, ließe sich die suggestive Stimmung auch im Arzt-Patienten-Verhältnis Erfolg versprechend umsetzen. Der Rückgriff auf hypnotische Behandlungsformen veranschaulicht am besten die Wirkung der ärztlichen Suggestionskraft. Die Therapien bauten auf dieser wissenschaftlichen Meinung auf, indem sie suggestiv auf den Willen des Patienten nach Gesundung einwirkten. Der hypnotisierende Arzt trat hier als eine Art Wunderheiler auf. Der Krieg hatte demnach eine Entwicklung beschleunigt, im Zuge derer der Arzt sich nicht nur als Heilperson, sondern als Gesundheitserzieher der Nation sah. Die französischen Ärzte konnten ein Kriegsarbeitsfeld nicht in dem Maße entwerfen wie ihre deutschen Kollegen. Der innerärztliche Dialog, ob nun regional oder national, kam sogar zeitweise zum Erliegen. Das Erscheinen der allgemeinmedizinischen Publikationsorgane wurde in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn eingestellt. Auch die verschiedenen medizinischen Teildisziplinen konnten sich nicht ebenso Gehör verschaffen wie in Deutschland. Das hatte mehrere Gründe: Zum einen verhinderte die Mobilisierung eines Großteils der Ärzte einen kontinuierlichen innerärztlichen Dialog. Die deutsche Ärzteschaft konnte hingegen über die personellen Brüche hinweg erstaunlich rasch eine Kriegsaktivität gestalten. In Frankreich blieb eine Bündelung von ärztlichen Gestaltungs- und Ordnungsvorstellungen aus. Das lag auch im zivilen Selbstverständnis begründet. Der französische Zivilarzt positionierte sich nicht ebenso mühelos wie sein deutscher Kollege im Geflecht von militärischen Instanzen. Ein Großteil der Kriegsdebatten befasste sich mit dem Inhalt und den Grenzen der zivilärztlichen Kompetenzen im neuen militärischen Umfeld. So druckte beispielsweise die medizinische Fachpresse keine Handlungsrichtlinien für die militärischen Tauglichkeitsprüfungen ab, obwohl der französische Zivilarzt ebenfalls zu diesen Untersuchungen hinzugezogen wurde. In ihrem Selbstverständnis fielen diese nicht in den Aufgabenbereich des Zivilarztes. Zwar beugte sich die Mehrheit der Ärzte den neuen militärischen Bedingungen, etwa in der Debatte um die patientenrechtlichen Aspekte: Das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper war im Krieg aufgehoben, der verletzte oder erkrankte Soldat durfte eine Behandlung nicht 274 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

verweigern. Dennoch wollte der Arzt seine vormalige Position im individuellen Arzt-Patienten-Verhältnis nicht angetastet wissen. Zwangsmaßnahmen sollten nicht vom Arzt, sondern von den militärischen Vorgesetzten ausgehen. Schließlich lässt auch die Debatte um die sexualhygienische Erziehung auf eine Befangenheit der Ärzte schließen. Wollte der Zivilarzt auch im persönlichen Arzt-Patienten-Verhältnis erzieherisch wirken, behagte es ihm nicht, dass nun diese Beziehung unter militärische Vorzeichen gesetzt wurde. Zwar erblickte er eine einmalige Gelegenheit, seine Autorität zu erweitern; die Grenzen einer solchen ausgeweiteten Kompetenzzuschreibung standen allerdings heftig zur Diskussion. Einige Ärzte, so die Akademiemitglieder Adolphe Pinard und Charles Richet, wagten jedoch Vorstöße und wiesen ihre Kollegen darauf hin, die Gunst der Stunde nicht ungenützt verstreichen zu lassen. Sie betonten die Rolle des Arztes als eine moralische Instanz, nicht nur im individuellen ArztPatienten-Verhältnis, sondern auch im öffentlichen Bereich. Doch gerade die Widerstände, die diesen beiden Ärzten entgegengebracht wurden, zeigen, dass der französische Zivilarzt nur ungern aus seiner genuin therapeutischen Patientenbeziehung hinaustrat. 2. Der Blick über die Grenze: Die nationalen allgemeinmedizinischen Publikationsorgane fanden ihre Leser nicht nur im eigenen Land. Sie bildeten auch die Grundlage eines grenzübergreifenden Dialogs, der in der Kriegszeit hauptsächlich darin bestand, sich vom professionellen Selbstverständnis der anderen Ärzteschaft abzugrenzen. Besonders französische Ärzte verfolgten die Kriegsdebatten ihrer deutschen Kollegen. Es wurde genau registriert, wie sich die deutschen Ärzte zu den verschiedenen kriegsrelevanten Themen äußerten. Umgekehrt blieb die deutsche Ärzteschaft dem nationalen Austausch verhaftet. Nur in Ausnahmefällen flossen ärztliche Stellungnahmen in den Fachdiskurs ein, die nicht aus dem deutschsprachigen Raum stammten. In diesem Abgrenzungsbemühen der französischen Ärzte trat ihr Selbstverständnis als unabhängige Profession hervor. Sie sahen in den deutschen Kollegen das Gegenbild einer staatlich gesteuerten, im höchsten Maße militarisierten Ärzteschaft. Sie versuchten damit auch das vorrangige Modell deutscher Wissenschaft und des ärztlichen Ausbildungssystems zu untergraben. Im gleichen Maße wie sie sich von dem deutschen Vorbild abwandten, näherten sie sich den alliierten Ärzten an, insbesondere den Amerikanern. Französische Ärzte begrüßten die amerikanischen Bemühungen um eine gesundheitlich erstarkende französische Nation. Die effizient durchgeführten Gesundheitskampagnen der Amerikaner, die im Falle der geschlechtskranken Kriegsteilnehmer auch mit Strafen einhergingen, wenn der Betroffene unverantwortlich mit der eigenen Gesundheit umging, übten eine große Anziehungskraft auf die französischen Ärzte aus. Gerade weil dieses amerikanische Modell in vielen Punkten den französischen Vorstellungen entgegenstand, veranschaulicht 275 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

die französisch-amerikanische Annäherung Brüche im ärztlichen Selbstverständnis einer liberalen Profession. Es versprach Breitenwirksamkeit, erweiterte Kontrollmöglichkeiten über den kranken oder gefährdeten Kollektivkörper sowie die Einbindung des Allgemeinarztes als moralische Instanz in allen öffentlichen Gesundheitsfragen. 3. Der Arzt und Kriegsgesellschaft: Der Krieg hatte die Ärzte vor neuen Herausforderungen gestellt. Die ganze Gesellschaft befand sich geographisch, in der Aufteilung der Geschlechterrollen sowie bezüglich ihrer Altersstruktur im Umbruch. Das Verhältnis von kranken zu gesunden Bevölkerungsteilen hatte sich erheblich verschoben. Wie sahen die Ärzte in den beiden Ländern diese Umbrüche und wie wollten sie steuernd darauf einwirken? In Deutschland begünstigte die Kriegssituation die ärztliche Vision einer möglichst ganzheitlichen Erfassung der Gesellschaft, ihrer morbiden wie konstitutiven Merkmale. Die Tauglichkeitsprüfungen waren nun auch in den zivilärztlichen Bereich gefallen, so dass Aufschluss über die gesundheitliche Verfassung der männlichen Bevölkerung gegeben werden konnte. Die katastrophalen Ernährungsbedingungen warf das Problem einer Ressourcenverteilung auf und forcierte letztlich das Aufstellen einer Konstitutionsstatistik der gesamten Bevölkerung. Ärzte als die unangefochtenen Experten waren daran maßgeblich beteiligt. Sie konnten genauestens bestimmen, aus welchen Konstitutionsmerkmalen sich die Bevölkerung zusammensetzte. In diesem Klassifizierungsbemühen trat das Kriterium der Wehrtüchtigkeit bzw. Erwerbsfähigkeit hervor. Zwar sahen Ärzte etwa bei der Lebensmittelrationierung in den kranken und schwachen Personen ihre ursprünglichen Schutzbefohlenen, aber auch hier war es oberstes Ziel der Ärzte, sie wieder als nützliche, arbeitsfähige Teile in die Gesellschaft einzugliedern. Somit trug die Kriegssituation erheblich dazu bei, die Brisanz im Verhältnis von kranken, schwachen zu den gesunden, robusten Bevölkerungsteilen zu erhöhen. Trotzdem blieben Ordnungsvorstellungen von Eugenikern der Kriegsdebatte fern. Ärzte diskutierten kaum deren Ideen einer vermeintlichen kontraselektorische Wirkung des Krieges an der Front, d.h. das Überleben der »untauglichen« Männer in der Heimat und das Sterben der »tauglichen« Soldaten an der Front. Ebenso fand die selektorische Wirkung des Krieges in der Heimat keine maßgebliche Beachtung. In eugenischen Kreisen hatte die Lebensmittelrationierung Vorstellungen über den Krieg als ein »reinigendes Gewitter«, der die Kräftigen leben und die Schwachen sterben ließ, verstärkt. Diese Positionen wurden in den allgemeinmedizinischen Fachorganen allerdings nicht rezipiert, sieht man von vereinzelten Stellungnahmen ab. Den französischen Ärzten lag die Absicht fern, die Kriegssituation für eine statistische Erfassung der gesamten Bevölkerung zu nutzen. Im Gegenteil: Nur wenig sorgte man sich um die Gesundheit der Zivilbevölkerung und die Kriegseinflüsse, denen sie ausgesetzt waren. In einer solchen Situation waren 276 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

die Ärzte weit von den Entwürfen ihrer deutschen Kollegen entfernt, die konstitutiven Merkmale der gesamten Bevölkerung, ihrer kranken und gesunden Teile, zu erheben. Das mag auch daran liegen, dass der Arzt in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge mit einem rationalisierten System an Meldeinstanzen, wie etwa die Krankenkassen in Deutschland, noch über keine weitreichenden Kompetenzen verfügte. War der französische Arzt zwar ebenfalls in ein nationales Geflecht an Fürsorgeeinrichtungen oder privaten Versicherungsanstalten eingebunden, fühlte er sich doch in seinem Selbstverständnis der Privatklientel immer noch stärker verpflichtet als der vermeintlichen Stärkung einer kollektiven Gesundheit. 4. Krankheit und Krieg: Die Kriegsärzte von 1914/18 waren buchstäblich »hautnah« mit den körperlichen und seelischen Kriegsverheerungen konfrontiert. Sie beobachteten die grausamsten körperlichen Entstellungen und Traumatisierungen nach den Materialschlachten und die chronischen psychischen und physischen Leiden im zermürbenden Schützengrabenkrieg. Angesichts der gewaltigen Zerstörungskraft des Krieges bezeichneten deutsche Ärzte eine Vielzahl von kriegsbedingten Leiden als »vermeidbare« Erkrankungen. Der Patient konnte sich durch ein adäquates Gesundheitsverhalten gegen sie immunisieren bzw. selbst zu deren Heilung entscheidend beitragen. Sowohl bei den Geschlechtskranken als auch bei den psychisch Erkrankten verschob sich der Krankheitskeim weg vom eigentlichen Kriegsgeschehen hin zum Individuum selbst, das nun zunehmend in die Verantwortung um die eigene Gesundheit gezogen wurde. Die Frage nach kollektivem Sieg oder Niederlage wurde mehr und mehr zu einer Frage des individuellen Kampfes gegen die eigenen körperlichen wie psychischen Unzulänglichkeiten. Die Immunisierung gegen die psychischen Erkrankungen stellte sich als ein Kampf des Einzelnen gegen pathogene Vorstellungen, d.h. den Wunsch, sich dem Kampf zu entziehen sowie finanziell entschädigt zu werden, dar. Damit gaben die Ärzte auch ein Muster der Kriegsverarbeitung vor, das auf die körperliche Leistungsfähigkeit und die psychische Willenstätigkeit fokussiert war. Wiederum lag es am einzelnen Soldaten, seine Kriegserlebnisse und eventuelle Kriegsversehrungen zu überwinden. Diese individuelle Kriegsverarbeitung war eine rein männliche Angelegenheit. Kontakte mit der »weiblichen Heimatfront« konnten dafür sogar hinderlich sein. Je weiter man von der Kampfeszone in die Heimat kam, desto unentschuldbarer wurde es, seine und die Gesundheit anderer zu riskieren. So führten deutsche Ärzte zivile psychische Beschwerden auf eine degenerative Veranlagung zurück. Sie waren pathologische Reaktionen von kranken Individuen auf das Kriegserlebnis. Ärzte entwarfen so auch das Gegenbild: Diejenigen Zivilisten, die den Bombardierungen, den Affekten, wie Trauer und Angst, erfolgreich widerstanden, bildeten nun den Kern des gesunden »Volkskörpers«. 277 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

Unter den französischen Psychiatern trat die Tendenz einer individualisierenden Krankheitszuschreibung und damit verbunden einer Stigmatisierung der psychisch erkrankten Bevölkerungsteile nicht so stark hervor wie unter ihren deutschen Kollegen. Der psychogene Krankheitsmechanismus, der in Deutschland die ganze ärztliche Aufmerksamkeit auf sich zog, wurde nicht in einem solchen Ausmaß in die ätiologischen Ordnungen des beobachteten »Krankenmaterials« übernommen. In Deutschland hatte die Rentenhysterie das Muster vorgegeben, nach dem die Kriegserkrankungen diagnostisch eingeteilt wurden. In Frankreich gab es zwar auch die Krankheitseinheit der »sinistrose«, sie nahm dennoch nicht die Bedeutung ein wie in Deutschland. Dieser Befund darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass französische Ärzte einigen ihrer Patienten ebenfalls ein mangelndes Gesundheitsgewissen bescheinigten und auf den Gesundungswillen einzuwirken versuchten. Sie bezichtigten ihre Soldaten der Simulation, der sie mehr oder weniger Verständnis entgegenbrachten. Die Grenze zwischen Hysterie und Simulation verschwamm zunehmend, so dass häufig von einer »unehrlichen« Hysterie gesprochen wurde. Unterschieden deutsche Ärzte zwischen »ehrenhaftem« und »unehrenhaftem« Verhalten, verlief in Frankreich die Trennlinie zwischen den »ehrlichen« und den »unehrlichen« Kriegsstörungen. Charakteristisch für die französische Kriegspsychiatrie waren die Versuche zahlreicher Ärzte, die Einheitlichkeit der Erkrankung »Hysterie« in Frage zu stellen. Verschiedene Symptomatiken sollten aus dieser heterogenen Krankheitseinheit ausgeklammert werden, etwa die körperlichen Erschütterungen der »commotionnés« oder auch die Babinskischen »troubles physiopathiques«. Diese Erkrankten galten somit als körperliche Kriegsversehrte. Therapievorschläge sowie militärische Versorgungsansprüche richteten sich nach diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Eine weitere Besonderheit der französischen »Seelenspezialisten« war zudem, die »Kriegsangst« und die »émotionnés« als eine klinische Einheit zu fassen und sie sowohl von der »unehrlichen« Hysterie als auch von den organischen Leiden abzugrenzen. Dieses Bemühen um Trennschärfe innerhalb der Masse der beobachteten Störungen führte dazu, dass nun durchaus weiten Teilen der Bevölkerung Nervenschwächen zugestanden wurden. Ärzte hatten eine Kategorie geschaffen, die zum einen das individuelle Kriegserlebnis, das von Angst und Schrecken geprägt war, und die ungeheuerlichen Kriegseinwirkungen berücksichtigte. Zum anderen bedeutete diese Ausdifferenzierung letztlich auch, dass, anders als in Deutschland, kein Anlass gegeben wurde, diejenigen Personen, die an ihre psychischen Grenzen stießen, zu stigmatisieren, und diejenigen Personen, die dem Krieg standzuhalten schienen, als ein erfolgsreiches Beispiel willensstarker, individueller Kriegsbewältigung herauszustellen. Den »Invaliden der Tapferkeit« gebührte ebenso der Respekt wie den körperlich Versehrten. Die Krankheitseinheit der Neurasthenie hatte zwar auch in der deutschen Kriegsdebatte eine solche Möglich278 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

keit geschaffen, vorübergehende psychische Beschwerden zu diagnostizieren. Die Diagnose »Neurasthenie« wurde jedoch für das Gros der Truppen nicht gestellt, da sie vor allem den Offizieren vorbehalten war. Sie blieb auch die Kriegszeit über ein Leiden des Bürgertums. Das gehäufte Auftreten der psychischen Erkrankungen, so lässt sich abschließend feststellen, hat die Brisanz im Verhältnis von kranken und gesunden Bevölkerungsteilen in Frankreich nicht wesentlich erhöht. Zudem wurden die gleichen Maßstäbe für die Zivilwie für die Militärbevölkerung angelegt. Die »Kriegsangst« wurde als militärisches und ziviles Leiden entworfen. Auch gegenüber den geschlechtskranken Soldaten machten die französischen Ärzte die Ausnahmesituation des Krieges geltend. Der Soldat war den bürgerlichen Moralvorstellungen und den Wirkungsbereich des Zivilarztes für die Kriegsdauer enthoben. Damit integrierten die Ärzte den Entstehungskontext der Erkrankungen in ihre Deutungsmuster und übertrugen dem Frontarzt die Aufgabe, auf das Gesundheitsverhalten der Soldaten einzuwirken. Krankheits- und Gesundheitsverständnis im Krieg, das hat der Vergleich der kriegspsychiatrischen Debatten gezeigt, wiesen in Deutschland und Frankreich ganz unterschiedliche Merkmale auf. Dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen: Beide Ärzteschaften machten innerhalb der Militär- wie Zivilbevölkerung keine besonderen Risikogruppen aus. Weder der jüdische Soldat noch der Kolonialsoldat wurden als etwaige Krankheitsträger und »Feinde im eigenen Land« thematisiert. Zwar differenzierten Ärzte durchaus das beobachtete »Krankenmaterial« nach Berufsgruppen, Alterstrukturen und geographischer Abstammung aus. Doch wurde keine Bevölkerungsgruppe besonders ins Visier der Spezialisten genommen. Deutsche wie französische Ärzte trennten strikt die »männliche Frontzone« von der »weiblichen Heimatzone« ab. Diese kriegsbedingte Topographie war sowohl eine militärische als auch eine geschlechtsspezifische. Die Schnittpunkte, die sich zwischen den beiden Zonen ergaben, stellten in der Kriegszeit eine besondere Gefahr dar. Bezüglich der emporschnellenden Rate der Geschlechtskranken lag dies auf der Hand. Aber auch die psychischen Erkrankungen breiteten sich durch ihre suggestive Wirkung wie eine ansteckende Seuche aus. 5. Der ärztliche Blick auf den Frauenkörper: Die Sorge der Ärzte galt in beiden Ländern denjenigen Bevölkerungsgruppen, die den Fortbestand der Nation garantieren sollten. Der Blick war auf die Männer an der Front sowie auf die Frauen in der Heimat gerichtet. Der Krieg hatte den bevölkerungsstrategischen Überlegungen wieder Aufschwung gegeben. Ärzte wollten sich maßgeblich an der quantitative Aufstockung der Bevölkerung nach dem Krieg beteiligen. In beiden Ländern stand zudem fest, dass der Fortbestand der Nation nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ gesichert werden müsse. Die Frau als potenziell Gebärende wurde 279 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

als Garantin der zukünftigen Generationen vereinnahmt. Sie hatte mit den Worten Adolphe Pinards für den »zweiten Sieg« an der Heimatfront zu kämpfen. Die Gesundheit der schwangeren Frau galt es in Kriegszeiten besonders zu bewahren. In Frankreich fokussierte sich diese Sorge auf die Folgen der ungewohnt schweren Arbeit der Frau in der Rüstungsindustrie. Befürworteten einige renommierte Ärzte, wie Pinard, ein Arbeitsverbot für alle schwangeren Frauen, zollte die Mehrheit der Ärzte der aktuellen Situation und damit auch der umgekehrten Geschlechterordnung, die der Krieg mit sich gebracht und verstärkt hatte, ihren Tribut. Ausnahmslos jeder französische Bürger und somit auch die Frau sollte sich an den Kriegsanstrengungen beteiligen. In Deutschland rief diese Situation größere Bedenken hervor. Die natürliche Geschlechterordnung sollte auch in einer Ausnahmesituation bewahrt werden. In hohem Maße engagierten sich in Deutschland die Gynäkologen, die anhand ihrer Expertise die Kriegseinflüsse auf die weibliche Genitalfunktion feststellten. Weite Teile dieser Debatten drehten sich um die Frage, inwieweit der Krieg die weibliche Konzeptionsfähigkeit eingeschränkt hatte. Diese deutsche Sorge um die schwangere und potenziell gebärende Frau blieb auch bei den französischen Ärzten nicht unbemerkt. Sie grenzten sich vom Frauenbild ihrer deutschen Kollegen ab, welche die deutsche Frau als »Gebärmaschine« auf ihre biologische Funktion reduzieren würden. Vor dem Hintergrund dieser Unterschiede erstaunt es, wie sehr sich die Debatten der deutschen und französischen Venerologen ähnelten. Die Frau stellte diesseits und jenseits der Grenze eine erhöhte Gefahr für den Mann dar, der seine ganze Kraft und Gesundheit der Verteidigung des Vaterlandes widmen sollte. Analoge Maßnahmen schwebten den Ärzten beider Länder vor, wie die weibliche Bevölkerung saniert werden könnte. Zwangsmaßnahmen bis hin zu Zwangsinternierungen wurden sowohl für die offizielle Prostituierte als auch für alle verdächtigen Personen vorgeschlagen. Es machte im deutschen Fall zudem keinen Unterschied, ob es sich um die eigene Bevölkerung oder um die Frauen in den besetzten Gebieten handelte. Die Gefahr für die Kampfesfähigkeit des Soldaten konnte von jeder Frau ausgehen, sei sie nun deutsch oder französisch, sei sie eine offizielle oder eine heimliche Prostituierte. Sicherlich wurden bezüglich des feindlichen Frauenkörpers wesentlich drastischere Maßnahmen in Erwägung gezogen. Renommierte Venerologen wie Alfred Blaschko und Albert Neisser stellten eine Analogie zwischen der französischen Frau und den Kriegsgefangenen her und befürworteten ein Wegsperren aller verdächtigen Personen. Doch stellte sich zunehmend heraus, dass der Hebel für einen effizienten Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten mehr im eigenen als im Feindesland angesetzt werden müsse. Die biologischen Ängste einer »Verseuchung der Truppe« waren auf beiden Seiten der Grenze virulent. Das zeigt auch das Unbehagen der französischen 280 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

Ärzten gegenüber der weiblichen Präsenz im Operationsgebiet. Die Zugangsberechtigung jeder Frau zur »männlichen Kampfeszone« müsse eingehend überprüft werden, da jede Frau eine vermeintliche Gefahr für die Gesundheit der Truppe darstellen könnte. Auf ein generelles Verbot konnten sich die Ärzte allerdings nicht einigen. Die deutschen Zwangsmaßnahmen auf französischem Boden erwähnten die Ärzte mit keinem Wort. Für die Ärzte beider Länder stand fest, dass sexuelle Ausschweifungen geahndet werden müssten. Die Debatte um die Kriegsvergewaltigungen trägt in beiden Ländern ganz ähnliche Züge. Hier herrschte Misstrauen gegenüber den Frauen vor. Den Status eines »Kriegsopfers« konnten sie nicht ohne weiteres für sich in Anspruch nehmen. Bevölkerungsstrategische Bedenken führten letztlich dazu, dass sowohl deutsche als auch französische Ärzte sich gegen eine straflose Abtreibung solcher ungewollter Schwangerschaften aussprachen. In vielen Bereichen – Professionsverständnis, Wissenschaftspraxis und Gesellschaftsanalyse – beschleunigte der Krieg die Entwicklung, welche die Profession in der Vorkriegszeit genommen hatte, erheblich. Der Krieg schuf gestalterische Möglichkeiten für einen Arztberuf, der in der Gesellschaft als Gesundheits- und Körperexperte fungieren wollte. Deutsche Ärzte nahmen diese Gelegenheit weitaus häufiger und intensiver wahr als ihre französischen Kollegen. In Deutschland war damit eine Kontinuität zur Vorkriegszeit gewährleistet. Das zivile Professionsverständnis fügte sich bruchlos in die neuen Kriegsbedingungen ein sowie auch Ärzte den Übergang von einer Zivilin eine Kriegsgesellschaft ohne Schwierigkeiten nach- und mitvollzogen. In Frankreich wies der Krieg den Zivilarzt viel eher in seine Grenzen, als dass er professionsspezifische Gestaltungspotenziale freisetzte. Französische Ärzte betrachteten den Krieg zumeist als eine Extrem- und Ausnahmesituation, die gängige Wahrnehmungs-, Ordnungs- und Wissenskategorien erheblich beeinträchtigte und deren Wirkungsgrad einschränkte.

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Abkürzungen

ADS Af DS AGMF AHPML AMédPsych AMG AMV BAM BklW CCHP DMW DZN GG HZ JCH MCWÄL MKl MMW NeurZbl PM PaM PrM RNeur UGSM ZBG ZblGyn ZfG

Annales de dermatologie et de syphiligraphie Archiv für Dermatologie und Syphilis Association Générale des Médecins de France Annales d’hygiène publique de médecine légale Annales médico-psychologiques Assistance Médicale Gratuite Annales des Maladies vénériennes Bulletin de l’Académie de Médecine Berliner klinische Wochenschrift Comité consultatif d’Hygiène publique Deutsche Medizinische Wochenschrift Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde Geschichte und Gesellschaft Historische Zeitschrift Journal of Contemporary History Medicinisches Correspondenz-Blatt des Württembergischen Ärztlichen Landesvereins Medizinische Klinik Münchener Medizinische Wochenschrift, Organ für amtliche und praktische Ärzte Neurologisches Zentralblatt La Presse Médicale Paris Médical. La Semaine du clinicien Le Progrès Médical Revue de neurologie Union générale des syndicats médicaux de France Zeitschrift für die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Zentralblatt für Gynäkologie Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

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Ausgewertete französische Zeitschriften Annales de dermatologie et de syphiligraphie Annales d’hygiène publique de médecine légale Annales médico-psychologiques Annales des Maladies vénériennes Bulletin de l’Académie de Médecine La Presse Médicale, hg. von der Association des médecins de langue française Paris Médical. La Semaine du clinicien Le Progrès Médical Revue de neurologie

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Register Personenregister Abadie, Jean 225 Abderhalden, Emil 100 Aereboe, Friedrich 86 Aimé, Henri 213, 249, 269–271 Althoff, Friedrich 48 Amar, Jules 241 Anton, Gabriel 104 Apert, Eugène 64 Ascher 87 Aschoff, Ludwig 59f. Assoignion, Paul 264 Aubertin, Charles 248 Audibert, Victor 218 Audoin-Rouzeau, Stéphane 17 Auerbach 217 Awtokratow, P.M. 239 Babinski, Joseph 193f., 197–200, 211, 223, 225, 258, 268, 278 Ballet, Gilbert 25, 63, 194, 214, 226, 234, 258 Ballod, Karl 86 Balzer, Felix 118, 131, 133f., 135, 143, 151 Barrier 107, 109, 167 Bauchwitz 168 Beard, Miller Georges 249 Bendig 141 Benon, R. 233, 249 Bernheim, Hippolyte Marie 220 Bert, Paul 43 Berthold, Balthasar 217 Bettmann, Siegfried 141 Beyschlag, Franz 86 Binet, Léon 244 Binswanger, Otto 55, 66, 261–263 Birnbaum, Karl 269 Birk, Walter 101 Bissing, Moritz von 128

Bizard, Léon 155f. Blanchard, Raphael 134f. Blaschko, Alfred 114–116, 120, 129, 140f., 144, 148, 151, 153, 159, 160f., 280 Blencke, August 192 Bloch, Marc 22 Blum, E. 69, 224, 249 Boisseau, Jean 194, 200, 214 Bonnaire, Erasme 98 Bonne 206 Bonnette, P. 217 Bonhoeffer, Karl 72f., 188, 236f., 239f., 260, 269f. Borne, Georges 161 Bory, Louis 126 Boucher, Maurice 173 Boule, Marcellin 64 Bouquet 94, 130 Bourgeois, Léon 105 Bory, Louis 133 Brewitt 80 Briand, Marcel 227 Brisac, Jules 165 Brissac 134 Broca, Pierre 62, 63 Brocq, Louis 120 Brouardel, Paul 45f. Brousseau, Albert 256 Brückner, Ernst 236, 238, 251f. Bruhns, Carl 128 Bumke, Oswald 65 Bumm, Ernst 40 Burnier 150 Buschke, Abraham 142 Buttersack, Felix Eberhard 207, 220 Camus, Jean 69, 219, 221 Capitan, Louis Joseph 65

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Carle, Marius 118, 146, 152f., 157 Caspari, Wilhelm 86 Cézilly, Auguste 33 Cimbal, Walter 187 Charcot, Jean-Martin 192f. Charle, Christophe 27f. Charon, René 194, 255 Chartier, M. 196 Chauffard, Anatole 77, 105, 273 Chavigny, Paul 69, 198, 217, 233 Cheinisse, L. 94 Chéron, Henri 121, 125 Chevandier, Antoine 34, 36, 43f. Christian 69, 71 Claude, Henri 258 Clemenceau, Georges 43 Clovis, Vincent 76, 200 Combes, Emile 43 Cornil, Victor 43f. Coupon, Henri 167, 176 Courbon, Paul 216 Crämer 190 Crile, George Washington 195 Curschmann, Hans 209, 213 Czerwenka, K. 171 Damaye, Henri 249, 253 Déjerine, Jules 194, 216, 258 Delaporte, Sophie 17 Delherm, Louis Charles 195 Delmas, Marsalet 77, 79f., 218, 227 Descamps 76 Desfosses, Paul 86 Devaux, A. 255–259 Dezwarte 57 Dide, Maurice 259 Dienemann 90 D’Oelsnitz 61, 200 Drigalski, Wilhelm von 124, 148, 162 Dubois, R. 164 Dubois-Havenith, Emile 114 Duco, A. 69, 224, 249 Dumas, Georges 196, 213, 249, 258, 269–271 Duprat, G.L. 219, 221 Dupré, Ernest 194, 215, 255f., 258, 265 Duvernay, L. 233 Ebeler, F. 172 Ebermayer, Ludwig

154, 169f.

Eckart, Wolfgang U. 17 Edel, Max 235 Edel, Paul 211f. Ehret, H. 246 Ellis, Jack D. 44 Eltzbacher, Paul 86 Engelhorn 101 Erichson, Eric John 188 Espagne, Michel 23 Etienne, Georges 248, 266f. Everth, E. 55, 270 Falret, Jean-Pierre 57 Fauser, August 185 Fehling, Hermann 174 Ferrand, Jean 199 Fiaux, Louis 115 Fiessinger, Charles 67f., 244 Finger, Ernst 117f. Fischer-Homberger, Esther 181 Fischler 90 Fleury, Maurice de 256 Flexner, Abraham 38, 113 Förster, Adolf 48 Foucault, Michel 19 Fournier, Alfred 114 Fournier, Edmond 114 Franqué, Otto von 171 Franz, Th. 175 Froment, J. 197–200 Fürbringer, Paul 246, 251 Fürnrohr, Wilhelm 210 Galippe, Victor 167 Gans, Oscar 155 Garnaud 69 Gaucher, Ernest 118, 134, 145–148, 150, 152, 155f., 157, 167 Gauckler, Edouard 216 Gaupp, Robert 70f., 75f., 186, 188, 207f., 220, 228f., 232, 242f., 252, 260f., 263 Geigel, Richard 245, 247 Genil-Perrin, Georges 63 Gessner, W. 176 Giesecke, August 171 Godart, Justin 121, 123 Godlewski, Henri 58f., 67 Goldscheider, Alfred 67, 251 Gottstein, Adolf 27, 88f., 100–102, 104, 273

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Gougerot, Henri 118, 121–123, 144, 152 Gradmann, Christoph 17 Grasset, Joseph 77, 185, 227, 232f. Graul, G. 251 Griesbach, Hermann 88 Grimbert 265 Gruber, Max von 74, 102, 104f. Guéniot, Alexandre 109 Guillain, Georges 194f. Hälsen, G. 89 Halberstadt, G. 194, 255 Halberstaedter, Ludwig 145 Hansen, Karl 56 Happich 242 Hayem, Georges 108 Heil, Karl 176 Hellpach, Willy 206, 250, 252f. Helme, François 41, 78–80, 85, 105, 136, 176f., 259 Henrot, Henri 138, 149, 157f., 166 Hesse, Erich 59 Heyl, Hedwig 86 Hirschfeld, Magnus 140 His, Wilhelm 54f. Hoche, Alfred 61, 66, 204, 240, 254, 263, 266f., 270 Hoeflmayr, Ludwig 92 Hoffa, Theodor 102 Hoffmann, Adolf 30 Hoffmann, Friedrich Albin 251 Hoffman, Geza von 75 Hoppe, Adolf 211f. Horstmann, Wilhelm 209 Huerkamp, Claudia 35, 50f. Huot, Louis 55, 256, 259 Jacobj, Carl 242f. Janet, Pierre 258 Jannin 57 Jayle, Félix 107, 109f. Kaess 235 Kaiserling, Carl 60 Kaminer, Siegfried 69, 72 Kater, Michael H. 31 Kaufmann, C. 203 Kaufmann, Fritz 219 Kaufmann, Paul 128 Kaup, Ignaz 95

Kemnitz, Mathilde von 209, 253 Kettner, Arthur 88 Kirchner, Martin 48 Kißkalt, Karl 89 Klein, R. 132, 144, 147, 163 Klewitz, Felix 60 Koch, Robert 47f. Koschella 248 Kraus 208 Krehl, Ludolf von 11, 14, 56, 58f. Kreuser, Heinrich 261 Krumeich, Gerd 207 Krusch, Paul 86 Kruse, Walther 66 Kuczynski, Robert 86 Kühl, Stefan 73, 91 Kuttner, L. 90 Labisch, Alfons 49 Lahy, Jean-Marie 241 Laignel-Lavastine, Maxime 214f., 226f. La Prade, A.de 61, 244 Laquerrière 69 Larger, René 63 Latour, Amédée 33 Laudenheimer, Albert 235, 253, 256 Legrain 63 Lehmann, Kurt 86 Lemmermann, Otto 86 Léonard, Jacques 28, 32f., 34, 41, 74 Lépine, Jean 233, 264 Léri, André 181, 193, 196, 216, 219, 257 Lesage 98 Letulle, Maurice 134f. Levy-Bing 146 Lewandowsky, Max 172, 189f., 205–207, 211, 217, 230, 250, 268, 270 Lian, Camille 246 Liebermeister, Gustav 190, 192, 208f., 247f. Liepmann, Hugo 239 Lieske, Hans 168f. Linossier, Georges 98, 106 Linser, Paul 133, 150, 161 Lipp, Anne 16 Loewenfeld, Leopold 260 Loewy, Adolf 89 Loewy, Erwin 230f. Logre, J.B. 255–259 Lommel, Felix 88 Lublinski, W. 90

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Maase, Carl 247 Mackenzie, James 245f. Magnan, Valentin 63 Mairet, Albert 196, 234, 257 Mallet, Raymond 254 Malloizel 196 Malvy, Louis 121 Mamlock 96 Mandry 81 March, Lucien 73 Marcuse, Max 96, 140 Marie, Pierre 181, 193 Martinet, Alfred 130, 143, 244, 248 Maurel, Edouard 94, 176 Mayer, August 133, 172, 176 Meisner, H. 62 Menard, Pierre 244 Mendel, Kurt 142 Meyer, Ernst 66, 93, 253, 270 Meyer, Semi 261 Micale, Mark 193 Milian, Gaston 150 Moede, Walther 241 Möglich, O. 175 Mörchen, Friedrich 72, 209–211, 213 Mössmer 175 Morel, Bénédict Augustin 62f. Mosse, Max 62 Muck, Otto 219 Müller, Otfried 68, 90, 247 Murard, Lion 46, 48, 68, 83f., 123 Nadoleczeny, Max 217 Neisser, Albert 127, 139, 142f., 145, 154, 160f., 280 Niemann, Albert 104 Niessl von Mayendorf, Erwin Gustav 210 Nissl, Franz 236 Nobécourt, Pierre André 62 Nocht, Bernhard 89 Nonne, Max 188, 237, 270 Nordau, Max 65 Nürnberger, Ludwig 175 Opitz, Erich 101–103 Oppenheim, Hermann 188f., 211, 270 Oppenheimer, Karl 86 Orchansky, J. 75 Pankow, Otto

172f.

Pannwitz, Karl 132 Paris 263 Pautrier, Lucien 121, 152 Peller, Sigismund 88 Perier, Casimir 105 Perrin, Maurice 121 Pesl 104 Piéron, Henri 196, 234, 257 Pinard, Adolphe 96f., 99, 105, 111, 136, 149, 165f., 275, 280 Piorkowski, Curt 241 Plehn, Albert 251 Ploetz, Alfred 91 Prinzing, Friedrich 100, 176 Prochownik, Ludwig 175 Quénu, Edouard 78f., 136 Raether, Max 191 Ravaut, Paul 194f. Régis, Emmanuel 252 Reiche 247 Reinicke, Elisabeth 40 Reiter, Hans Conrad Julius 145 Rénon, Louis 259, 265 Reynier, Paul 78 Ribouleau, Charles 53 Richard, G. 266f. Richet, Charles 97, 99, 106f., 275 Richter 66, 102 Ritter, Julius 88 Rogues de Fursac, Joseph 194, 214, 226, 234 Rougier, P. 51 Roussy, Gustav 194, 200, 214, 216, 221 Rubner, Max 86f. Rümker, Kurt von 86 Ruge, Carl 175 Sabourand, Raimond 124f. Schanz, Alfred 191 Schjerning, Otto von 25 Schmiedebach, Heinz-Peter 41 Schmidt, Adolf 89 Scholtz, Walther 145 Schottmüller, Hugo 247 Schreiber, Georges 74 Schrumpf 157 Schülein 173, 176f. Schüller, L. 212, 235

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Schuhmacher 261 Schwalbe, Julius 40, 55, 71, 73, 88, 177, 191 Sellheim, Hugo 95, 104 Sicard, Jean-Athanase 215 Siegel, Paul Willy 172, 174 Silva Mella, A. 69, 72 Sollier, Paul 193, 196, 218, 258 Spier-Irving, Isaak 147, 160 Spranger 68 Stelzner, Helene Fredericke 260 Stern, Carl 127, 140, 145 Stickel, Max 171 Stier, Ewald 228 Strauss, Hermann 90 Strauss, Paul 44, 97, 158 Strümpell, Adolf 202 Sougniez, Jean-Jules Alfred 264 Tacke, Bruno 86 Thibierge, Georges 120 Tissier 165 Tobias, Ernst 253 Tschirch 175 Tugendreich, Gustav 62 Uffenheimer 238 Uhlmann 232, 238 Vaerting 75

Vaillard, Louis 120, 134 Vallin, Emile Arthur 134 Vallon, Charles 260 Villaret, Maurice 225 Voivenel, Paul 55, 256, 259 Vorberg, G. 147 Voss, Georg 211 Wachsner, F. 235 Wagner, Albert 220 Walz, Kurz 88 Warmbold, Hermann 86 Warnekros, Kurt 175 Weber, Ludwig Wilhelm 192 Weiss, E. 251 Weiss, Karl Erhard 217 Weisz, Georges 41 Weygandt, Wilhelm 68, 203f., 235 Wittermann, Ernst 206, 235, 251 Wolf, Julius 66, 100 Wollenberg, Robert 250f., 270 Zahn, Theodor 248 Zange, Johannes 212 Zeller, A. 185 Zieler, Karl 127 Ziemann, H. 103 Zondek, Hermann 247 Zuntz, Nathan 86, 90 Zylberman, Patrick 46, 48, 68, 83f., 123

304 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

Sach- und Ortsregister Académie de Médecine 41f., 44, 63, 65, 77– 79, 86, 94, 96, 106–110, 134–138, 147–150, 152, 156–159, 166f., 179, 195, 197, 244, 256, 260 Adaptation 61, 240, 255 Alkohol 82, 98, 103, 109, 134, 233, 246 Alliance de l’hygiène sociale 44, 105, 273 Ärztekammer 30 Ärztinnen 40 Ärztliche Gewerkschaft 33–35, 45, 53 Ärztlicher Verein Hamburg 89, 235, 247 Ärztlicher Verein Köln 129 Ärztlicher Verein München 75, 90, 95f., 104, 175 Ärztlicher Verein Stuttgart 185, 248, 261 Arzt als Erzieher 13, 27, 39, 51, 80, 84– 86, 103, 124f., 133, 141–143, 178, 203, 219–222, 274f. Arzt als parlamentarischer Abgeordneter 41–44 Assistance Médicale Gratuite 34, 43, 45f., 83f., 122 Association Générale des Médecins de France 33–35, 43, 46 Bakteriologie 37, 40, 44, 47, 56 Belgien 83, 128, 143, 161, 168, 170 Beratungsstellen für Geschlechtskranke 127–130, 150, 178 Berlin 47, 50, 54, 59f., 69, 74f., 87, 89f., 100, 104, 126, 154, 175, 205, 228 Berliner Abkommen 50f. Berufsgeheimnis 46, 92, 119, 130 Brüssel 114f., 124, 132 Bund für Mutterschutz 169 Cabinet prophylactique 123–126, 178 Calais 265 Centres de dermatologie et de vénéréologie 121f., 152f., 157 Centres neurologiques militaires 76, 199, 223–225, 233 Charité 54, 69f., 72, 236, 247 Charlatan s. Kurpfuscher Comité consultatif d’Hygiène public 44f.

Commotion 186, 192–197, 214f., 224, 226, 234, 254, 257, 268, 278 Degeneration 62–68, 75, 102, 107, 210, 233f., 246, 249, 267 Deutscher Ärztevereinsbund 29–32 Deutscher Verein für Psychiatrie 237 Dienstbeschädigung s. Kriegsrente Eklampsie 175f. Elektrotherapie 76, 78, 191, 218–220 Emotion 184, 186, 192–197, 215, 234, 237, 239–259, 269f. England 45, 93, 99, 114, 134, 147, 170, 175, 182, 188, 197, 213, 245, 266 Enthaltsamkeit 137f., 140–143, 160 Ernährung 48, 83, 86–94, 101, 112, 171– 175, 266, 276 Erschöpfung 184, 192, 234f., 237, 239– 252 Eugenik 39, 46, 63, 73–75, 91f., 104, 108, 112 Gaseinwirkungen 186 Geburtenrückgang, Geburtenpolitik 48, 95, 99–110, 145, 166, 173–177, 180 Geschlechtskrankheiten 48f., 77, 82,84, 98, 101, 103, 109, 113–163, 178–180, 209, 214, 233, 275, 280f. Gesellschaft Deutscher Nervenärzte 237 Granatkontusion 185, 197, 205, 210 Gynäkologie 75, 95, 101–103, 109f., 164, 171–177, 180, 273, 280 Herz 60f., 68, 190, 218, 241–249 Holland 45 Hospitalmedizin 37 Hypnose 219–221, 274 Ischias 186, 190 Italien 83, 117f., 133–135 Jüdische Soldaten 58, 205, 279 Kolonialsoldaten 59, 146f., 170, 279 Konstitution 11, 58f., 65, 86f., 93, 112, 205f., 208, 233, 236–256, 264f., 267, 269, 276

305 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

Kreisärzte 47f. Kriegsamenorrhoe 171–173 Kriegsangst 253–259, 265f., 278 Kriegsgefangene 160f., 209f., 213, 236 Kriegsindustrie 82, 94–99, 150, 171 Kriegsorden 230 Kriegsrente 72, 222–231, 233, 257f. Kriegsschwangerschaften 174–177 Kriegsvergewaltigung 83, 163–171, 180 Kurpfuscher 36f., 48, 191 Laboratoire de psychologie expérimentale d’Aix-en-Provence 221 Laienmediziner s. Kurpfuscher Laizität 43 Leipziger Verband 31 Lille 158f., 173 Loi Chevandier 34, 36, 43f., 45 Loi sur les accidents de travail, 1898 (Arbeitsunfälle) 43, 52f., 76 Medikalisierung 32, 50, 123, 147 Medizinische Ausbildung 36–40, 130 Medizinisch-naturwissenschaftlicher Verein Tübingen 133, 150, 242f. Meldepflicht 45f., 118, 129 Mézière 160 Nancy 126, 248, 263, 265f. Naturhistorisch-medizinischer Verein Heidelberg 236, 250, 252f. Neurasthenie 89, 242, 247, 249–252, 263, 278f Notapprobationen 36 Officiat de santé 32f., 34 Offiziere 147–149, 209, 213, 232, 279 Ordre des Médecins 35 Paris 24, 37, 41, 46, 97f., 105, 121, 161, 165f., 193, 199, 223f., 226, 234, 241, 258, 265 Pariser Medizinische Fakultät 24, 38, 105, 121, 241 Pathologie 37, 59f., 88, 273 Persévérateurs 225–227, 229 Pithiatisme 193, 199, 223f., 226, 258 Polen 83 Prädisposition 183, 192, 232–238, 261– 264, 267

Preußen 18, 29f., 46–48, 69, 96, 163, 168, 177, 228, 230f. Preußisches Kriegsministerium 69, 230f. Prostitution 115f., 132, 150–162, 179f., 280f. Psychologie 55, 57, 70f., 108, 193, 206, 219, 221, 255, 258–260 Rasse, Rassenkonzepte, Rassenhygiene 18, 24, 58, 64f., 73f., 89, 91, 104–106, 164– 167, 169f., 176, 209, 213, 259, 273 Reflexstörungen 197–200, 211, 223, 268, 278 Rekrutierung 55, 62, 68–75, 111, 228 Rentenhysterie 189, 202–204, 212–216 Rheumatismus 186, 190f. Russland, russisch 99, 104, 163, 168f., 213, 239 Rockefeller Foundation 84–86, 124 Säuglingssterblichkeit/-pflege 49, 84f., 88, 95 Salpêtrière 192 Schwangerschaftsabbruch 48, 94, 164– 170, 180, 281 Sedan 160 Selbstverstümmelung 217 Service annexe des hôpitaux 121–123, 126, 178 Service de santé militaire 25, 60, 120f., 148, 155 Seuchenpolitik, -gesetze 41, 45, 47f., 76, 78, 118 Simulation 78, 92, 190, 193f., 196, 213, 215–218, 248f., 269, 278 Skandinavien 117f. Société d’anthropologie de Paris 166 Société de médecine légale 165f., 218, 227 Société de médecine publique et d’hygiène professionnelle 44f. Société de neurologie de Paris 193, 200, 217, 223f., 234, 257f., 265 Société de Psychiatrie de Paris 193, 234, 257f. Société de secours mutuels 51f. Société française d’eugénique 74 Société Médicale des Hôpitaux 61f., 246 Städtebombardierungen 83, 264, 266f., 277 Suggestion 76, 193, 212, 215, 218–222, 229, 258, 262, 274

306 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

Tourcoing 160 Tuberkulose 48, 71, 82, 84, 95, 98, 103, 109, 121 Val-de-Grâce 217, 256 Verein für wissenschaftliche Heilkunde in Königsberg 60, 66, 102 Vereinigte Staaten von Amerika 38, 84– 86, 113, 124–126, 178, 249, 275f. Vererbung 166, 175, 232, 235 Versicherungswesen 31, 49–53 Verstümmelungszulage 229f. Wille 67, 89, 141, 183, 189, 193, 198, 201, 204, 207f., 210, 217f., 219, 221, 226f., 243f., 247, 274, 277f.

Wissenschaftlicher Senat der Kaiser Wilhelms-Akademie 229 Württembergischer Ärztlicher Landesverein 24, 36, 40, 67, 69f., 71, 81, 88f., 92, 104, 132f., 141, 150, 161, 174, 185, 190, 207f., 217, 220–222, 230, 232, 238, 243, 247f., 251f., 261f. Württembergischer Frauenverein des Roten Kreuzes 104 YMCA (Young Men’s Christian Association) 124f. Zwangsbehandlung 47, 78–82, 87, 117f., 119, 121, 126, 128, 138, 142, 148, 152– 155, 158–162, 178, 180, 218, 275, 280f.

307 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-37000-2

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 178: Christine Schreiber Natürlich künstliche Befruchtung? Eine Geschichte der In-vitro-Fertilisation von 1878 bis 1950 2007. 288 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35159-8

176: Peter Walkenhorst Nation – Volk – Rasse Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914 2007. 400 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35157-4

175: Benjamin Ziemann Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975 2007. 396 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35156-7

174: Regula Argast Staatsbürgerschaft und Nation Ausschließungs- und Integrationsprozesse in der Schweiz 1848–1928 2007. 384 Seiten, kartoniert ISBN 1978-3-525-35155-0

172: Ulrike von Hirschhausen Die Grenzen der Gemeinsamkeit Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914 2006. 430 Seiten mit 12 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35153-6

171: Christopher Dowe Auch Bildungsbürger Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich 2006. 384 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35152-9

170: Sonja Levsen Elite, Männlichkeit und Krieg Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929 2006. 411 Seiten mit 10 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35151-2

169: Wolfgang Hardtwig Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters 2005. 387 Seiten mit 23 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35146-8

173: Thomas Kühne Kameradschaft

168: Cornelius Torp Die Herausforderung der Globalisierung

Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert 2006. 327 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35154-3

Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914 2005. 430 Seiten mit 11 Grafiken und 21 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-35150-5

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