Im Dazwischen von Individuum und Gesellschaft: Topologie eines blinden Flecks der Soziologie [1. Aufl.] 9783839414736

Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft befindet sich im »blinden Fleck« einer Soziologie, die sich auf den Gesel

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Im Dazwischen von Individuum und Gesellschaft: Topologie eines blinden Flecks der Soziologie [1. Aufl.]
 9783839414736

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1 Von der Paradoxie
2 . . . zum emergenten Dazwischen
Begriffs(re)konstruktion
3 Gesellschaft
3.1 Selbstbeschreibung der Gesellschaft
3.2 Gesellschaft als Tatbestand
3.3 Gegenposition zu Durkheim
3.4 Paradoxie der Soziologie
3.5 Wieviel Sinn macht der Begriff?
4 Individuum
4.1 VomTod des Subjekts
4.2 Bedeutungsveränderungen
4.3 Soziales Individuum
4.4 Soziologische Bedeutung
4.5 Subjekt oder Individuum?
5 Sinn und Bedeutung
5.1 Zur Etymologie der Begriffe
5.2 Sprachphilosophische Unterscheidung
5.3 MaxWeber: Sinnhaftes Handeln
5.4 Jeffrey Alexander:Meaning-Making
5.5 Sinn oder Bedeutung?
Verhältnisse
6 Soziologie des Individuums
6.1 Philosophie der Anerkennung
6.2 Exkurs zur Sozialisation
6.3 Zwischen Subjekt und Individuum
6.4 Soziologie oder Philosophie?
7 Individualisierung
7.1 Umgang mit dem Individuum
7.2 Arrangement derModerne
7.3 Exkurs zu Rolle,Wert und Norm
7.4 Kritische Bemerkung
8 Spannungsverhältnisse
8.1 Emanzipation des Individuums
8.2 Exkurs zur Komplexität als Ursache
8.3 Zwischen Individuum und Gesellschaft
8.4 Wozu Philosophie?
Umgänge
9 Umgang I: Muster der Ambivalenz
9.1 Georg Simmel:Wechselwirkung
9.2 Norbert Elias: Figuration
9.3 Niklas Luhmann: Sinn
10 Umgang II: Vom Individuum zur Gesellschaft
10.1 Gabriel Tarde: Interpsychologie
10.2 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft
10.3 Peter Sloterdijk: Sphären
Emergentes Handeln
11 Strukturelle Handlungstheorie
12 Zugänge: Technik, Leben, Moral
12.1 Mobiltechnologie
12.2 Gemeinschaft 2.0
12.3 Religion
13 Dazwischen als Topos
Schluss
14 Blinder Fleck der Soziologie
15 Im Dazwischen
Literatur

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Stefan Bertschi Im Dazwischen von Individuum und Gesellschaft

Stefan Bertschi ist in der Strategie- und Kommunikationsberatung tätig und forscht zu Bedeutungs- und Sozialtheorie.

Stefan Bertschi

Im Dazwischen von Individuum und Gesellschaft Topologie eines blinden Flecks der Soziologie

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2008 auf Antrag von Prof. Dr. Peter-Ulrich Merz-Benz und Prof. Dr. Kurt Imhof als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: René Magritte, Golconde (Golconda), 1953 © VG Bild-Kunst, Bonn 2010. Fotografie: Hickey-Robertson, Houston, mit freundlicher Genehmigung von The Menil Collection, Houston. Lektorat & Satz: Stefan Bertschi Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1473-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

»[D]ie Verwunderung über die Tatsache, dass Menschen miteinander leben, ist unser erster Schritt auf dem Weg zur Soziologie.« Hans Peter Henecka (2000, 11)

»Die Menschen sind die Zusammenseienden, die von den Gründen ihres Zusammenseins meistens nicht richtig reden können. Was nämlich ist das Zusammensein? Wenn es niemand von mir erfragt, weiss ich es, soll ich es einem Fragenden erklären, weiss ich es nicht.« Peter Sloterdijk (2004, 261)

»In der allgemeinsamen Menschenwelt bewegt sich der Soziologe da, wo die Menschen diese ihre Welt Wirklichkeit nennen. Die Kategorien seiner Analysen sind nur Verfeinerungen jener Einteilungen, mit deren Hilfe andere Menschen ihr Leben bewältigen [. . . ].« Peter L. Berger (1971, 31)

»If sociology could speak, it would say ›I am tired.‹« Jeffrey C. Alexander (1982, xiii)

Inhalt

Einleitung 1 Von der Paradoxie . . .

11

2 . . . zum emergenten Dazwischen

13

Begriffs(re)konstruktion 3 Gesellschaft 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Selbstbeschreibung der Gesellschaft Gesellschaft als Tatbestand Gegenposition zu Durkheim Paradoxie der Soziologie Wieviel Sinn macht der Begriff?

4 Individuum 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Vom Tod des Subjekts Bedeutungsveränderungen Soziales Individuum Soziologische Bedeutung Subjekt oder Individuum?

5 Sinn und Bedeutung 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Zur Etymologie der Begriffe Sprachphilosophische Unterscheidung Max Weber: Sinnhaftes Handeln Jeffrey Alexander: Meaning-Making Sinn oder Bedeutung?

21 28 36 43 48 53

55 55 64 67 71 78

83 83 88 96 108 115

Verhältnisse 6 Soziologie des Individuums 6.1 6.2 6.3 6.4

Philosophie der Anerkennung Exkurs zur Sozialisation Zwischen Subjekt und Individuum Soziologie oder Philosophie?

131 132 141 142 147

7 Individualisierung 7.1 7.2 7.3 7.4

Umgang mit dem Individuum Arrangement der Moderne Exkurs zu Rolle, Wert und Norm Kritische Bemerkung

8 Spannungsverhältnisse 8.1 8.2 8.3 8.4

Emanzipation des Individuums Exkurs zur Komplexität als Ursache Zwischen Individuum und Gesellschaft Wozu Philosophie?

149 149 153 156 163

167 167 180 187 197

Umgänge 9 Umgang I: Muster der Ambivalenz 9.1 9.2 9.3

Georg Simmel: Wechselwirkung Norbert Elias: Figuration Niklas Luhmann: Sinn

10 Umgang II: Vom Individuum zur Gesellschaft 10.1 Gabriel Tarde: Interpsychologie 10.2 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft 10.3 Peter Sloterdijk: Sphären

207 207 223 233

249 249 265 277

Emergentes Handeln 11 Strukturelle Handlungstheorie

295

12 Zugänge: Technik, Leben, Moral

317

12.1 Mobiltechnologie 12.2 Gemeinschaft 2.0 12.3 Religion

13 Dazwischen als Topos

317 323 330

339

Schluss 14 Blinder Fleck der Soziologie

353

15 Im Dazwischen

357

Literatur

367

Einleitung

1 Von der Paradoxie . . . Die Soziologie gründet in einer Paradoxie, die nach Entfaltung verlangt. Sie besteht, weil gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als eine »Unterscheidung« konzipiert wurde. Seit der Institutionalisierung der Soziologie durch Emile Durkheim wird dieses Verhältnis als solche gehandhabt. Die damit einhergehende, einseitige Verlagerung zum Gegenstand »Gesellschaft« ist eine logische Folge des Anspruchs der Einzelwissenschaft und damit der Abgrenzung massgeblich gegenüber Philosophie und Psychologie: »Soziologen [haben] immer wieder geglaubt, die Eigenständigkeit ihrer Disziplin nur dadurch retten zu können, dass sie der Gesellschaft eine vom Einzelnen unabhängige Wirklichkeit zusprachen.« (Francis 1965, 27) Diese Verlagerung hat allerdings zum »Kardinalproblem der Soziologie« (Norbert Elias), zu einem problematischen Umgang mit Individuum und Gesellschaft und insbesondere zu einem vernachlässigten Umgang mit ihrem Verhältnis geführt. Die daraus hervorgehende Debatte um Struktur und Handlung wie jene um Mikro- und Makrosoziologie durchziehen die Soziologie grundlegend und sind sichtbares Zeichen einer Diskrepanz mit weitreichenden Folgen. Der historischen Sachlage ist es geschuldet, dass sich die Soziologie weitgehend mit dem »was« beschäftigt, den sozialen Sachverhalten oder »soziologischen Tatbeständen« (Emile Durkheim). Das »wie«, ein theoriegeleitetes Verstehen der einzelnen Bestände und ihres Zusammenhangs, wird wenig beleuchtet. Die zweifache Diskrepanz – zwischen Individuum und Gesellschaft einerseits und zwischen »wie« und »was« andererseits – ist deshalb von Belang, weil sie Ausdruck des eigentlich interessierenden Problembereichs ist. Von Seiten des »wie« soll in der Rekonstruktion und im Umgang mit existierender Soziologie (und geringfügig darüber hinaus) eine Antwort geboten werden. Die Notwendigkeit dafür, die Paradoxie zu entfalten, wird in dem gesehen, was als »blinder Fleck« der Soziologie bezeichnet werden soll: dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Der Vorwurf, welcher als Ausgangspunkt und Ausdruck des Problems angenommen und gesetzt wird, lautet übermässig zugespitzt: Die Soziologie sieht immer nur die eine Seite der geöffneten Unterscheidung; sie sieht Gesellschaft oder Individuum. Die Reihenfolge ist hier – im Gegensatz zur durchgehenden Verwendung in der Arbeit – verdreht, weil sie

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Von der Paradoxie . . .

auf die historische Entwicklung einer strukturbezogenen Soziologie abstellt, die sich gegenüber dem Individuum und damit gegenüber dem Verhältnis blind stellt. Der enthaltene Widerspruch besagt, dass die Soziologie nicht sieht, was sie sehen und beschreiben müsste: das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft jenseits der Unterscheidung. In eine realistische Formulierung gefasst, besagt der erhobene Vorwurf, dass in der Soziologie und in ihrem »Umgang« mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft Prioritäten eindeutig gesetzt wurden. Das Verhältnis wird jeweils von der einen oder der anderen Seite her thematisiert. Die Soziologie, so wird sich zeigen, ist nicht bloss Bestandteil ihres eigenen Untersuchungsgegenstands »Gesellschaft«, sondern sie ist ihm noch immer dermassen verschrieben, dass die soziologische Beschreibung der Selbstbeschreibungen der enthaltenen Individuen durch die vorherrschende, strukturelle Unterscheidung schwierig wird. Weil die Soziologie als Teil der Gesellschaft ihren Untersuchungsgegenstand immer zusammen mit dem Individuum, gemeinsam mit ihm hervorbringt (und hervorbringen muss), stellt die Vernachlässigung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft ein Problem dar. Ein erklärendes Verstehen, wie es sich in der Frage nach dem »wie« ausdrückt, erweist sich als wenig zugänglich. Das Problem des blinden Flecks wird, wie sichtbar gemacht werden soll, durch (diese) zwei Paradoxien festgestellt: durch das im Gegenstandsbereich enthalten sein und durch die Beschreibung, die auf eine Unterscheidung angewiesen zu sein scheint.

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2 . . . zum emergenten Dazwischen Im Gegensatz zur vorherrschenden Fassung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft als einer verdeckenden »Unterscheidung«, plädiert die vorliegende Arbeit dafür, dieses Verhältnis als wechselseitige »Relation« zu fassen und zu (re)konzipieren. Damit stellt sie sich in eine Tradition, die in der deutschsprachigen Soziologie durch Georg Simmel vertreten wurde. Die Beschränkung auf eine äusserst spezifische Vorgehensweise ist deshalb notwendig, weil die zu behandelnde, grundlegende Problematik die Soziologie als Ganze betrifft. Die Arbeit ist hauptsächlich mit Rekonstruktion beschäftigt. Sie rekonstruiert den Pfad an der Linie zwischen Individuum und Gesellschaft (über Begriffs- und Textarbeit in den ersten drei Teilen: »Begriffs(re)konstruktion«, »Verhältnisse« und »Umgänge«). In dieser Problemerkundung ist bereits angelegt, wie eine Antwort aussehen könnte. Diese ist bei Gabriel Tarde, Georg Simmel und Norbert Elias vorgezeichnet und dennoch kaum zur Kenntnis genommen worden. Aus diesem Grund wird eine zweite, eine eigene Antwort gegen die kritisierte Unterscheidung gegeben. Diese setzt den klassischen Erkenntnissen drei weitere Komponenten hinzu: die ergänzenden Umgänge bei Ferdinand Tönnies, Niklas Luhmann und Peter Sloterdijk, ein emergentes Handeln (als strukturelle Handlungstheorie und ergänzt um drei vignettenhafte, fallrekonstruktive Zugänge) und ein Dazwischen verstanden als Topos, welcher Sinn und Bedeutung eingeschrieben hat. Dabei entsteht eine problemgeleitete Hinführung zu einem spezifischen Aspekt der soziologischen Theorie und einem grundlegenden Problem der Soziologie. Logik und Methodik dieser Hinführung werden im Folgenden geschildert. Obschon in der Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft »das« grundlegende Problem der Soziologie gesehen wird, geht es nicht um eine Kritik der daran anschliessenden und daraus hergeleiteten Unterscheidungen – nochmals problematisiert: Entgegensetzungen – von Struktur und Handlung bzw. Mikro- und Makrosoziologie; es geht demzufolge nicht um eine »Soziologie der Soziologie«. Eine MetaSicht mit dem Ziel einer blossen Zusammenführung der jeweiligen zwei Seiten scheint genauso wenig aussichtsreich zu sein, wie jene der anfänglichen zwei Seiten: Individuum und Gesellschaft. Die vorliegende Arbeit will deshalb einen »dritten« Zugang anbieten. Dieser verfährt

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. . . zum emergenten Dazwischen

über eine Relation von Individuum und Gesellschaft und versucht, diese durch eine Relation von Sinn und Bedeutung aufzuschliessen. Parallel dazu wird nach einem »Dazwischen« von Individuum und Gesellschaft als mutmassliche Lösung gesucht. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist es, dieses »Dazwischen« mittels Rekonstruktion und Übertragung soziologischer Kategorien greifbar werden zu lassen. Rekonstruktion meint dabei die historische Aufarbeitung bestehender sozialtheoretischer Ansätze; Übertragung meint die Ineinandersetzung oder Rekombination dieser Ansätze. Die Tatsache, dass das »Dazwischen« dennoch immer wieder aus dem Blick gerät, liegt im eigenen Umgang mit dieser Zielsetzung begründet. Dieser Umgang besagt, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nicht mehr bloss von der einen oder der anderen Seite her thematisiert wird. Während die kritisierte Logik der unterscheidenden Herangehensweise bereits impliziert, dass es ein »Dazwischen« geben muss, wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in der hier vorgeschlagenen Logik zugleich von beiden Seiten her adressiert. Oder präziser: Es wird eine Sichtweise »von der Mitte her«, »vom Dazwischen her« eingenommen. Durch diese beidseitige Zugangsweise ist auch gegeben, dass es immer »um alles« geht. Dies erklärt einerseits die umfangreiche Ausarbeitung, die sich sowohl mit Individuum und Gesellschaft als auch mit dem »Dazwischen« auseinandersetzen muss. Das Streben nach einem sinnreichen Gesamtbild ergibt andererseits die empfohlene Herangehensweise einer integralen Lektüre dieser Ausarbeitung. Bereits in der anfänglichen Begriffsarbeit werden Konstrukte herausgearbeitet, werden die Begriffe (re)konstruiert und auf die spätere Verwendung zugeschnitten. Dabei zeigt sich die soziologische Bestrebung, der »Gesellschaft« von Anbeginn eine eigenständige, vom Individuum unabhängige Wirklichkeit zuzusprechen. Ausgehend von einem subjektiv gemeinten Sinn und der weitgehend vernachlässigten Kategorie der »Bedeutung«, zeigt sich eine mögliche Gegenstrategie (in Kapitel 5). Im Anschluss daran wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft durch Textarbeit beleuchtet; dies geschieht zum einen anhand von drei Themenbereichen (im Teil »Verhältnisse«) und zum anderen durch sechs theoretische »Umgänge« mit diesem Verhältnis. Der konstruierte Plural von »Umgang« ist bewusst gewählt und meint zugleich verschiedene Varianten des Problemumgangs wie das schreitende oder umkreisende Herantasten an das Problem, das als »Umschreitung« oder »Umgehung« und damit als versuchsweise Überwindung des Problems gelesen werden kann. Themenbereiche wie Umgänge wurden darauf hin ausgewählt, je für sich einen aufschlussreichen Zugang zu ermöglichen und in Ergän-

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. . . zum emergenten Dazwischen

zung zueinander ein sinnreiches Bild abzugeben. Die ausgewählten Theorien werden darauf hin gelesen, wie sie mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft umgehen. Diese Auswahl soll dazu dienen, ein wie auch immer geartetes »Dazwischen« von Individuum und Gesellschaft aufzufinden. Sie ist sowohl problem- als auch interessengeleitet bzw. subjektiv geprägt. Gerade darin wird ein Vorteil gesehen, denn die spezifische Wahl ermöglicht ein Herangehen, welches sich durch eine eigene Logik abhebt und dadurch eine Bereicherung für die Disziplin wie für die Leserin/den Leser darstellen soll. Die Bezeichnung des »Dazwischen« wurde gewählt, weil damit von Anbeginn zwei Momente miteinbezogen sind: ein mediales und ein räumliches. Das erste Moment schliesst an die Relation von Sinn und Bedeutung an und verweist auf die »Vermittlung« (Relation) von Individuum und Gesellschaft; es leitet zum zweiten Moment hin, zum »Ort«, an welchem die Vermittlung stattfindet. In einem letzten Schritt – gleichsam als Lehre aus den Verhältnissen und Umgängen – wird eine strukturelle Handlungstheorie diskutiert und ein Konzept des emergenten Handelns wird vorgelegt (in Kapitel 11). In diesem emergenten Handeln wird ein »Drittes« neben Struktur und Handlung, neben Individuum und Gesellschaft, gesehen, welches sich gleichsam zwischen diesen bewegt. In ihm wird ein Konzept vermutet, welches die Unterscheidung überwinden kann und das Verhältnis in einer verorteten Vermittlung sichtbar macht. Zur Veranschaulichung dessen sind drei praxisbezogene »Vignetten« in diesen Teil der Arbeit eingefügt. Sie thematisieren je eine eigene »soziale Topologie« und leiten zum Dazwischen hin. Mit ihnen ist ebenfalls »ein analytisch-rekonstruktionslogisches Verstehen von Bedeutungs- und Sinnstrukturen verbunden« (Kraimer 2000, 29). Diese illustrativen Zugänge (in Kapitel 12) fragen: Welche Bedeutungszuweisung zwischen Individuum und Gesellschaft eröffnet das Mobiltelefon als mobile Technologie, eröffnen die Siedlungsform der Gated Communities und die Religion als sinnstiftende Moral? Abschliessend wird zwischen einem Medienbegriff und einem Toposverständnis ein eigentliches Dazwischen skizziert (in Kapitel 13), das sich zur Aufgabe stellt, den vermeintlichen blinden Fleck im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu thematisieren und zugleich versucht, diesen zu umgehen. Es muss in Hinblick auf den Anspruch der vorliegenden Arbeit hervorgehoben werden, dass es sich um einen Versuch handelt, der nicht zwangsläufig zu dem erwünschten Resultat einer vollständigen Auflösung führt. Eine »Topologie«, wie sie hier angestrebt wird, kann den Mechanismus des angenommenen blinden Flecks der Soziologie zwar verräumlichen und damit abbilden und anschaulich machen; sie kann jedoch keine umfassende Entfaltung zentraler Paradoxien bieten.

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. . . zum emergenten Dazwischen

Es war von Anbeginn bloss eine Vermutung, dass es ein Dazwischen geben muss, dass ein »Mittler« dafür zuständig sein muss, Individuum und Gesellschaft zu verbinden und das Verhältnis herzustellen. Die hauptsächlichen Teile der vorliegenden Arbeit begeben sich deshalb auf die Suche nach diesem Dazwischen. Weshalb sich diese Suche gelohnt hat, zeigen vor allem die sechs theoretischen »Umgänge« (im gleichnamigen Teil der Arbeit). Diese sechs Dazwischen, die nicht zwangsläufig diese Bezeichnung tragen müssen, aber als solche kenntlich gemacht werden, dienen allesamt der Vermittlung und damit der in der Arbeit angestrebten Überwindung der Unterscheidung (mit Ausnahme von Niklas Luhmann, der aufgrund der systemtheoretischen »Differenz« bewusst als Gegenbeispiel herangezogen und fruchtbar gemacht wird). Daran anschliessend werden Individuum und Gesellschaft, als nicht mehr »unterschiedene« Komponenten, durch einen strukturellen Handlungsbegriff zueinander in Beziehung gesetzt und in einem »Raum« zusammengeführt. Selbst dieser Raum – darin unterscheidet sich die vorliegende Konzeption von anderen – wird als »wie« und nicht als »was« gedacht und im Dazwischen liegend aufgefasst. Damit will die Arbeit eine Topologie des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft tastend umschreiten und beschreiben. Methodisch beschränkt sich die Arbeit auf die Lektüre und Rekonstruktion eines soziologischen Sachverhalts, und damit nicht auf »soziologische Tatbestände« im Sinne Emile Durkheims und ein »was« der Soziologie. Sie beschränkt sich vielmehr auf das »wie«, den Umgang mit Individuum und Gesellschaft und ihrem Verhältnis zueinander innerhalb der Soziologie und in einem ausgewählten Bereich der soziologischen Theorie zwischen Struktur und Handeln. Die Auswahl beschränkt sich weitgehend auf den deutschsprachigen Raum. Dies erklärt sich durch die gedankliche Nähe (einer Debatte, die in anderen Kontexten andere Wendungen findet) wie durch die vielversprechenden Hilfestellungen, die aus dieser Richtung und vor allem von den Gründervätern Georg Simmel und Max Weber zu erwarten waren. Dazu zählt der Vorwurf an Simmel, dieser opfere »lieber den Gesellschaftsbegriff als das soziologische Interesse an Individuen« (Luhmann 1998, 26). Dazu zählt auch die zentrale Bedeutung von Webers »sinnhaftem Handeln«, das den Ausschlag für die Verwendung von Sinn und Bedeutung gab. Wo es adäquat schien, wurde aus diesem Kontext herausgegriffen; insbesondere betrifft das die individualistische Soziologie des Franzosen Gabriel Tarde und die bedeutungsorientierte Kultursoziologie des US-Amerikaners Jeffrey Alexander. Dies betrifft auch die verschiedenen Ausgriffe in andere Disziplinen, vor allem in die Philosophie (insbesondere im Teil »Verhältnisse« und im Kapitel zu Peter Sloterdijks Sphären), die im soziologischen Umgang bereits

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. . . zum emergenten Dazwischen

angelegt sind. Schliesslich sollte, wo immer möglich, Anschlussfähigkeit für weitere, naheliegende Explorationen gewährleistet werden. Der diskursive Charakter der Arbeit, in welcher mit der Soziologie in der Soziologie auf die Soziologie geantwortet wird, legte dies nahe. Dieses Vorgehen meint demnach nicht nur die (Re-)Lektüre und Rekonstruktion ausgewählter Ansätze und Varianten des Problemumgangs, sondern auch die Ineinandersetzung und Rekombination dieser Ansätze und die Konstruktion dafür notwendiger Übergänge und Übertragungen von einer Variante zur anderen. Das Ziel ist ein »neuer« Versuch einer Antwort, der jedoch aus »alten«, in der soziologischen Tradition bestehenden Ansätzen zusammengesetzt ist. Die Vorgehensweise, sich auf das »wie« anstelle des »was« der Bedeutung (des sozialen Handelns) zu verlagern, ist in der Semiologie Paul de Mans angelegt und wurde von dort entliehen (vgl. de Man 1988, 34). Es handelt sich dabei um eine gemässigte dekonstruktive Lektüre oder »Leseweise« (Derrida 1983, 37), die im vorliegenden Kontext für die Rekonstruktionen und den Aufschluss eines möglichen Dazwischen fruchtbar gemacht wurde. Sie half dabei, konsequent vom »was« zum »wie« vorzudringen und das »was«, wenn nicht auszuschliessen, so doch als solches »von innen her« zu identifizieren (vgl. Derrida 1983, 45). In dieser Identifikation liegt auch der Vorschlag einer ungewöhnlichen Antwort begründet: Die Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft und damit der vermutete blinde Fleck der Soziologie sollen durch ein emergentes Handeln aufgehoben werden, das über Sinn und Bedeutung funktioniert und in einer imaginären Topologie und damit im Dazwischen stattfindet. Dieses Dazwischen wird derart zusammengesetzt, dass einzelne Theoreme ineinander eingesetzt, von dem einen sozialtheoretischen Ansatz in einen anderen übertragen werden. Inwiefern dieses Vorgehen einer verbindenden und erweiternden Lektüre tatsächlich weitere Einsichten bietet, zeigt sich erst in seinem Verlauf und wird insbesondere im Schlussteil diskutiert. Weiter könnte dieses »wie« an ein »was« (die soziologische Empirie) angebunden werden; doch dies führt nicht nur an den Eingang des Problemaufrisses zurück, sondern gleichsam schon über den Anspruch der vorliegenden Arbeit hinaus. Ein solcher Anspruch, die Soziologie um einen (re)konstruktiven, theoretischen Zugang zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu bereichern, kann ohne äussere Unterstützung nicht adressiert werden. Zuvorderst danke ich den Professoren Peter-Ulrich MerzBenz und Kurt Imhof, die sich auf ein solches Unterfangen eingelassen haben. Die Arbeit verdankt sich weiterhin den hilfreichen Kommentaren von Noah Bubenhofer, Till Heilmann, Ingo Starz und Urban Truffer. Für die persönliche Unterstützung bin ich meinen Familien

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. . . zum emergenten Dazwischen

in England und der Schweiz, Cheryl und Shai Konigstein und Ruth und Martin Bertschi, zum Äussersten verbunden. Sie haben möglich gemacht, was an der Universität Zürich verfasst wurde und gedanklich weit in mein Studium an der Universität Basel zurück reicht. Ich widme diese Auseinandersetzung meinem Vater, Walter Bertschi, der ihr Entstehen nicht mehr miterleben durfte.

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Begriffs(re)konstruktion

3 Gesellschaft »Der einzelwissenschaftlichen, systematischen Soziologie als Erfahrungswissenschaft ist nicht aufgegeben noch erlaubt, ihren Gegenstand in Frage zu ziehen. Sie hat die sozialen Erscheinungen als Befunde hinzunehmen und zu analysieren. ›Was ist das Wesen der Gesellschaft?‹, ›Wie entstand Gesellschaft überhaupt?‹, ›Wie ist Gesellschaft möglich?‹ das sind vor-soziologische Präliminarfragen.« Theodor Geiger (1931, 209)

Gesellschaft ist ein problematischer Begriff, weil er anscheinend die ihm innewohnende Komplexität nicht zu fassen vermag. Der Begriff schien zuerst hauptsächlich der Problembekämpfung zu dienen, kam er doch zeitgleich mit der ansteigenden sozialen Komplexität auf. Durch die fragmentierte und niemals umfassende, disziplinäre Beschäftigung mit ihm wird auch eine begriffliche Auseinandersetzung problematisch.1 Nach einer Annäherung an den Begriff »Gesellschaft«, will ich mich der zweiten »Paradoxie der Soziologie« zuwenden. Sie besagt, so meine Ausgangsthese, dass sich die Eigentümerin des Grundbegriffs in diesen »eingeschlossen« hat. Wie es dazu kam, sollen die folgenden Ausführungen zeigen. Ein Blick in verbreitete Wörterbücher führt zu gemischten Erkenntnissen.2 Der Gesellschaftsbegriff, heisst es dort, sei »ein in der Alltagsund Wissenschaftssprache vieldeutig benutzter Begriff« und »zu einem zentralen, sehr komplexen und zunehmend umstrittenen Grundbegriff der Soziologie geworden« (Hillmann 1994, 284 f.). Er sei »ein vieldeutiger, intensional wie extensional gleichermassen diffuser Begriff« (Büschges 2002, 195), »einer der komplexesten Begriffe der Soziologie« (Schäfers 2001, 109) und werde »in ganz disparaten Anwendungen 1 | Der Grund für das gewählte Vorgehen einer selektiven Annäherung liegt nicht nur im problematischen Begriff, sondern auch im vielfältigen wie problematischen, theoretischen wie praktischen Umgang mit ihm innerhalb der Soziologie. 2 | Für einen entsprechenden Überblick vgl. Ritsert (1988, 11–22; 2000, 23– 34), der die Definitionen nach folgenden inhaltlichen Kriterien einteilt: 1. Organisation (Struktur), 2. Menschliche Vergesellschaftung (Zusammenleben, Prozess), 3. Gesellschaftliche Reproduktion (Bedürfnisse, Kultur etc.), 4. Historische Gesellschaftsformationen, 5. Organisation als Zweckverband (Zweckrationalität), 6. Leben in der Gruppe (Geselligkeit, Gemeinschaft) und 7. konkreter gesellschaftlicher Lebensprozess.

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Gesellschaft

gebraucht« (Geiger 1931, 203). Auf den Punkt gebracht hat dies Niklas Luhmann: »Gesellschaft, das jeweils umfassendste System menschlichen Zusammenlebens. Über weitere einschränkende Merkmale besteht kein Einverständnis.« (Luhmann et al. 1994, 235) Die Ursache dafür wäre: »Über die Entstehung und Entwicklung bzw. die Evolution von Gesellschaft gibt es ähnlich viele Theorien wie über ihre Struktur (in älterer Terminologie: ihr Wesen).« (Schäfers 2001, 112) Eine vorläufige Definition dieses Wesens wird Theodor W. Adorno zugeschrieben: »Mit Gesellschaft im prägnanten Sinn meint man eine Art Gefüge zwischen Menschen, in dem alles und alle von allen abhängen; in dem das Ganze sich erhält nur durch die Einheit der von sämtlichen Mitgliedern erfüllten Funktionen, und in dem jedem Einzelnen grundsätzlich eine solche Funktion zufällt, während zugleich jeder Einzelne durch seine Zugehörigkeit zu dem totalen Gefüge in weitem Masse bestimmt wird.« (Institut für Sozialforschung 1956a, 22; Hervorhebung S. B.)

Obgleich Gesellschaft hier »im prägnanten Sinn« beschrieben wird, handelt es sich bloss um »eine Art Gefüge«, um eine höchst unbestimmte funktionale Einheit sozialen Zusammenlebens. Damit sind wir nicht weit von einer generellen Definition der Disziplin entfernt, gemäss welcher die Soziologie »auf das soziale Bedingungsgefüge des Handelns konzentriert« sei (Hillmann 1994, 813). Es mag ob dieser Unbestimmtheit nicht erstaunen, dass kaum Standardwerke zum Gesellschaftsbegriff vorliegen.3 Meines Wissens gibt es nur zwei relevante und zugleich aktuelle, deutschsprachigen Bücher, die »Gesellschaft« als Haupttitel tragen.4 Die beiden Monographien über den soziologischen Grundbegriff »Gesellschaft« stammen von Jürgen Ritsert (1988; 2000). Dabei handelt es sich bei dem neueren Buch um die popularisierte und aktualisierte Neufassung des Vorläuferwerks. Indem Ritsert (2000, 13) den Gesellschaftsbegriff auf eine Achse mit den Polen »Individualismus« und »Holismus« abträgt, weist er 3 | Die Komplexität des Begriffs, auf seine Unbestimmtheit zurückzuführen, bleibt erhalten, wenn ein spezifisch soziologischer Kontext verlassen und der Begriff einem allgemeineren Verständnis zugeführt wird (vgl. Krause 1973; Kaupp 1974). 4 | Ein weiteres Buch mit dem Titel »Gesellschaft« ist durch seinen humangeographischen Schwerpunkt für den vorliegenden Kontext nicht relevant (vgl. Zierhofer 2002). Unter dem Titel Gesellschaft – Was ist das? finden sich zudem journalistische »Szenen [d. h. Miniaturen] aus dem zeitgenössischen Leben« versammelt (Iden 1985), die dadurch hervortreten, dass sie durchwegs einen starken Bezug zu »Sinn« enthalten. Als Ausnahme, da Gesellschaft bloss Teil des Titels ist, soll Lorenz von Stein (1956) erwähnt sein. Er vertritt eine Definition der Gesellschaft als »Organisation«, jedoch unter Ablehnung des »Organizismus« (vgl. Geiger 1931, 209). Erwähnt seien zudem die Bände von Oppenheimer/Salomon (1926a; 1926b) und Nikles/Weiß (1975), wobei es sich um reine Textsammlungen handelt.

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Gesellschaft

auf den zentralen Aspekt des Umgangs mit ihm hin. Dies gilt auch für die vorliegende Arbeit (siehe Seite 27). Während an dem einen »Pol« Kollektive und ihre Handlungen auf Individuen und deren Handlungen zurückgeführt werden, herrscht am anderen »Pol« die Sicht vor, dass jeder soziale Ausdruck durch Gesellschaft determiniert sei.5 Hervorzuheben sind zudem jene Aspekte, die in beiden Büchern an prominenter Stelle behandelt werden und dadurch besonderes Gewicht erhalten: Georg Simmels Frage »Wie ist Gesellschaft möglich?« und Emile Durkheims soziologische Tatbestände (vgl. Ritsert 1988, 24– 68; 2000, 35–67). Schliesslich fällt im Vergleich auf, dass Max Webers »sinnhaftes Handeln« nur in dem früheren, wissenschaftlicheren Buch abgehandelt wird, während Niklas Luhmann und die Systemtheorie auch in der popularisierten Neufassung ausgedehnte Aufmerksamkeit erhalten (vgl. Ritsert 1988, 93–116; 2000, 69–95). Hinsichtlich dieser beiden »Paare« fällt auf, dass sich jedes auf die genannten Pole aufteilen lässt: Simmel und Weber vertreten eher eine individualistische Sicht, Durkheim und Luhmann eher eine holistische.6 Ritserts Darstellung verharrt jedoch darin, die einzelnen Umgänge mit Gesellschaft aufzuzeigen. Wahrscheinlich ist dies auch die beste Weise, mit dem ansonsten unbestimmten Konzept umzugehen. Diese Auseinandersetzung mit Gesellschaft zeigt zudem, wie nahe ein solches Unterfangen bei der Suche nach einem Dazwischen von Individuum und Gesellschaft liegt. Hinzuweisen ist auch auf ein älteres Werk mit dem Titel Die Gesellschaft: Einführung in den Grundbegriff der Soziologie (Steinbacher 1971), welches einen anderen Berührungspunkt mit der vorliegenden Arbeit aufweist. Diese Einführung zieht eine »Vergleichende Verhaltensforschung« hinzu und will dadurch »neue Akzente hinsichtlich des Phänomens ›Gesellschaft‹ [. . . ] setzen, über dessen terminologische Bestimmung bis heute noch nicht einmal unter den Soziologen eine einheitliche Meinung besteht.« (Steinbacher 1971, 9) Ich schliesse 5 | Ein mit Individualismus/Holismus verbundener Aspekt stellt das Begriffspaar »Reduzibel/Emergent« dar. Während (methodologische) Individualisten für ein reduktionistisches Verfahren eintreten, d. h. Aussagen über gesellschaftliche Phänomene sollten sich »auf Aussagen über Individuen und ihre Interaktionen [. . . ] reduzieren lassen«, beharren Holisten auf emergenten Phänomenen, auf »Gegebenheiten, die sich nicht restlos auf einen tiefer liegenden individualistischen Grund zurückführen lassen« (Ritsert 2000, 19 f.). Die darin aufscheinende Emergenz wird an anderer Stelle thematisiert (siehe Seite 309 der vorliegenden Arbeit). Nicht berücksichtigt werden die von Ritsert (1988, 194–326; 2000, 95–185) ausführlich behandelten inhaltlichen Bestimmungen, wie beispielsweise »Kapitalistische Klassengesellschaft«, »Erlebnisgesellschaft« und »Postmoderne Gesellschaft«. 6 | Simmel und Luhmann erhalten in der vorliegenden Arbeit je ein eigenes Kapitel; Durkheim wird im Rahmen dieses Kapitels behandelt, Weber im Kapitel zu Sinn und Bedeutung.

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mich einem solchen Vorgehen an und bin davon überzeugt, dass neue Zugänge zum »Phänomen« – sei es durch die Verhaltensforschung, sei es durch ein konstruiertes »Dazwischen« – zu seiner Klärung beitragen können. Ein Ansatz über die Verhaltensforschung an der Schnittstelle von Bio- und Humansoziologie verlangt beispielsweise danach, dass »wir immer die rein natürlichen Bedingungen des Menschen zu sozialem Verhalten berücksichtigen« (Steinbacher 1971, 14). Er sieht eine natürliche Ursache hinter der Interaktion, dem sinnhaften Handeln und schliesslich der Gesellschaft. Das Gesellschaftsphänomen beruht daher auf folgender Logik: »Der Mensch ist sowohl von Natur aus zur Sozietät veranlagt, so wie er auch auf Grund einer verhältnismässig spät erworbenen Veranlagung auf Kultur hin ausgerichtet ist.« (Steinbacher 1971, 15) In dieser Logik wird von zwei Stufen ausgegangen: erstens, einer natürlichen Veranlagung zur Mitmenschlichkeit und zweitens, der Gestaltung dieser Veranlagung auf künstliche, d. h. kulturelle Weise (vgl. Steinbacher 1971, 16 f.). Obgleich die vorliegende Arbeit und ihre Suche nach einem Dazwischen von Individuum und Gesellschaft auf der zweiten Stufe einsetzt, hat auch die erste Stufe ihre Berechtigung.7 Sie trägt allerdings nur einseitig zu der Debatte um Individualismus und Holismus bei: »Mit hinreichender Begründung lässt sich die These vertreten, dass die Gesellschaft ›früher‹ ist als das Individuum.« (Steinbacher 1971, 18) Eine solche Aussage wird jedoch erst plausibel vor dem Hintergrund des Begriffs »Individuum« (siehe Kapitel 4). Für ein Konzept von Gesellschaft bedeutet dies: »Die Selbstentfaltung des Menschen wird erst durch die Gesellschaft ermöglicht, weil das Wesen des Menschen auf Sozietät hin angelegt ist.« (Steinbacher 1971, 40) Zudem ergibt sich das eigentliche Problem erst an der Schwelle von erster zu zweiter Stufe: »Die Abgrenzung der Individualität von der Sozietät ist [. . . ] nicht so leicht zu treffen, wie manche glauben wollen.« (Steinbacher 1971, 40) Das führt schliesslich dazu, dass die »Trennung von Individuum und Gesellschaft [. . . ] nur in der abstrahierenden Theorie möglich« wird (Steinbacher 1971, 42). Bereits der Wortursprung weist in die Richtung dieser mangelhaften Unterscheidbarkeit: Gesellschaft geht etymologisch zurück auf das althochdeutsche gisello bzw. das mittelhochdeutsche geselle, d. h. »›jmd., der im gleichen Haus (Saal) wohnt‹, dann verallgemeinert zu ›Gefährte‹ [. . . ]. Die alte Bedeutung ist erhalten in gesellig und dem Kollektivum Gesellschaft« (Kluge 2002, 352). Der räumliche Bezug, welcher dem Wort »Gesellschaft« mitgegeben wurde, schlägt sich auch in vielen der historischen Belegstellen nieder 7 | »Soziabilität, also Gesellschaftsbezogenheit, ist eine schicksalhafte Vorbedingung menschlicher Existenz. Was vom Menschen ausgeht und was ihn betrifft, hat immer Bezüge zu seiner sozialen Bestimmung. Jedenfalls ist eine charakteristische Eigenschaft des Menschen die soziale.« (Steinbacher 1971, 24)

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(vgl. Grimm/Grimm 1873). Dabei zeigt sich schon im Wortursprung eine problembehaftete »Verortung« zwischen den »Polen« Individualismus und Holismus. Mehr jedoch als die etymologische Herleitung interessiert die Verwendung des Gesellschaftsbegriffs in der Soziologie. Eine prominente Definition besagt: Der soziologische Grundbegriff bezeichnet »die umfassende Ganzheit eines dauerhaft geordneten, strukturierten Zusammenlebens von Menschen innerhalb eines bestimmten räumlichen Bereichs.« (Hillmann 1994, 285; Hervorhebung S. B.) Diese Definition ist stark dem etymologischen Ursprung des Wortes verhaftet und – gemessen an der historischen Linie (vgl. Geiger 1931, 202 f.; Wagner 2000, 150 f.) – als räumliche Definition der heutigen Zeit ungemäss. Schliesslich wurde dieses Verständnis auch als »historisches Gesellschaftsgefüge« bezeichnet. Und weiter: »Gesellschaft kann ein zeitlich und räumlich bestimmtes und begrenztes Lebensgefüge bedeuten.« (Geiger 1931, 205) Allerdings ist hier mit dem vorsichtigen »kann« bereits das Feld für die Vielfalt geöffnet. Die Öffnung zur Vielfalt führt paradoxerweise zur Abstraktion im Umgang und schlägt sich unmittelbar im Begriff nieder: »In der Regel wird der Begriff ›Gesellschaft‹ derart abstrakt abgehandelt, dass es nur unter Schwierigkeiten möglich ist, mit ihm konkrete Zusammenhänge und Gesetzmässigkeiten zu beschreiben.« (Claessens/Tyradellis 1997, 13) Die Soziologie behilft sich deshalb in neuerer Zeit gerne vielfältiger Metaphern, um Prozesse und Erscheinungen vereinfacht darzustellen. Die Risiko-, Bürger-, Single-, Multioptions-, Erlebnis-, Medien-, Informations-, Verantwortungs-, Dienstleistungs- oder Spassgesellschaft ist in den wenigsten Fällen eine eingeschränkt geographisch lokalisierbare und will es auch nicht sein; sie ist vielmehr Zeitdiagnose und soziologische Selbstbeschreibung (vgl. Kieserling 2000, 75 f.).8 Die Frage »In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?« (Pongs 1999; 2000), die uns umtreibt, ist ein aktuelles Paradebeispiel dieser Entwicklung von der Übersichtlichkeit hin zur Unübersichtlichkeit.9 Kurz, das fraglos hingenommene und umfassende System ist dermassen fragmentiert, dass der Umgang damit erschwert wird (vgl. Ritsert 2000, 159 f.). Diese vielfach feuilletonistischen Bindestrich-Gesellschaften kratzen vielmehr an der Oberfläche des Problems und sind Ausdruck einer grundlegenden Desorientierung. Es zeigt sich in ihnen der Anspruch, 8 | Was bleibt, so wurde polemisch festgestellt, ist eine Gesellschaft, »die keinen Begriff von sich selber hat. [. . . ] Griffige Wortschöpfungen von Soziologen wie Kommunikationsgesellschaft, Risikogesellschaft, Zivilgesellschaft oder Erlebnisgesellschaft erinnern eher an Telekom, Tippgemeinschaft, Wehrdienstverweigerung oder Robinson Club.« (Claussen 1995, 39 f.) 9 | Dies ist eine Feststellung, die ich schon früher getroffen habe (Bertschi 2002, 68 f.), die aber in den vorliegenden, gereiften Überlegungen bloss noch eine Marginalie zum Problem des Gesellschaftsbegriffs darstellt.

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mit Begriffen zu beschreiben, was nicht begrifflich ist. Dabei wird ein Begriff für den Gegenstand genommen (d. h. anstelle des Gegenstands), der bezeichnet werden soll. Was im Zuge seiner Entdeckung beobachtet wird, lässt sich nicht problemlos in Kategorien einpassen,10 denn diese müssten laufend angepasst werden. Hier greifen jedoch die eng begrenzten Begriffe von Gesellschaft, »die eine einzelne, ihrer Struktur und ihrem intentionalen Gehalt nach bestimmte Vereinigung von Menschen zum Gegenstand haben: eine Familie, ein Verein, ein Staat, eine Sekte usw.« Obgleich traditionsreich und in der Umgangssprache verhaftet, wurde dieser Begriff erst durch die Soziologie hervorgehoben: »Vielheiten von Menschen, die gesellig verbunden sind, Gesamtheiten vergesellschafteter Menschen, sind ›Gesellschaften‹.« (Geiger 1931, 206) Doch ist dieser wissenschaftliche Gesellschaftsbegriff zu nahe an das Alltagsverständnis gelegt und bezeichnet Gegenstände, die eine heutige Soziologie nicht mehr mit diesem Begriff bezeichnen würde. In der inhaltlichen Bestimmung zeigt sich, dass der Gesellschaftsbegriff kaum mehr funktional ist. Entgegen Theodor Geiger (1931, 209) plädiert die vorliegende Arbeit dafür, dass es vordergründige Aufgabe der Soziologie sei, »ihren Gegenstand in Frage zu ziehen«. In Bezug auf das Eingangszitat, wende ich mich mit Geigers Worten gegen seine Intention. Eine inhaltliche Ausprägung des Gesellschaftsbegriffs – analog zum »Gesellschaftstyp« (vgl. Hillmann 1994, 286 f.; Büschges 2002, 198 f.) – besagt, er sei »immer Teil einer Theorie des menschlichen Zusammenlebens, [und] als theoretischer Begriff immer abhängig von der sozialen Realität der Gesellschaft als seiner Praxis« (Luhmann et al. 1994, 235 f.). Gemeint ist damit beispielsweise die »bürgerliche Gesellschaft« im Nachgang zur »Ständegesellschaft«. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging die Soziologie davon aus, »dass im Verstehen der Gesellschaft als einer letztlich natürlichen Ordnung nicht die Gesellschaft selbst problematisierbar ist«, vielmehr sind es nur noch die Abweichungen und pathologischen Auswüchse (Luhmann et al. 1994, 236).11 Eine deutliche Abweichung tritt mit dem Anwachsen des Proletariats ein, als »bürgerliche Gesellschaft« und Gesellschaft nicht

10 | »›Gesellschaft‹, wir gebrauchen den Begriff, ungeachtet der vielfältig veränderten Zusammenhänge, die wir darunter subsumieren, noch immer so selbstverständlich, als fasse er mit einiger Verbindlichkeit eine jederzeit verifizierbare Realität.« (Iden 1985, 9) 11 | Die Gesellschaft wird demzufolge »ex negativo« definiert, eigentlich als Abwesenheit einer Ordnung jedwelcher Art. Diese Abweichungen und Auswüchse legitimieren bis zu einem gewissen Grad die genannten Bindestrich-Gesellschaften. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sie im Zeichen der Problemlösung gebildet werden. Ihre heuristische Kraft zur nachhaltigen Klärung des Grundbegriffs »Gesellschaft« als solchem darf dennoch bestritten werden.

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mehr in eins gesetzt werden konnten (vgl. Lichtblau 2005, 73).12 In der Folge »wird die Gesellschaft nun als weitestgehend unbeeinflussbar durch ihre Mitglieder interpretiert«; sie wird als »sozialer Körper« zu einem eigenständigen »Lebewesen«, welches »unabhängig von seinen Teilen entscheidet« (Luhmann et al. 1994, 236; vgl. Tenbruck 1989, 197 f.; Merz-Benz/Wagner 2007). Gleichzeitig endet das Verständnis, die Gesellschaft habe einen identischen Zweck wie ihre Teile, die Individuen.13 Eine strenge inhaltliche Verankerung des Begriffs ist immer schwieriger zu erlangen: »Mit der Abschwächung des bisher vorherrschenden Gesellschaftsverständnisses, das unter Ausrichtung auf eine anzustrebende Identität von Volk, Kultur, Nation, Volkswirtschaft und Staat dem Zeitalter der National- und Territorialstaaten entstammt, wird der Gesellschaftsbegriff komplexer, diffuser und speziell in der Soziologie schwerer anwendbar.« (Hillmann 1994, 287; Hervorhebung S. B.)

Daher ist zu vermuten, dass der Zugang über den wissenschaftlichen Umgang mit dem Begriff besser für die Exploration geeignet ist als eine rein inhaltliche Bestimmung, wie sie beispielsweise von den Bindestrich-Gesellschaften angestrebt wird oder von jenen Begriffen, die zu nahe an das Alltagsverständnis gelegt sind. Die Soziologie kennt »zwei Grundannahmen, die auf unterschiedlichen Vorannahmen bezüglich des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft« beruhen (Büschges 2002, 196): 1. wird davon ausgegangen, dass Individuen in eine existierende Gesellschaft hineingeboren werden, dann wird diese als »vorgegebene Wirklichkeit« betrachtet, als eigenständiger Objektbereich, der ohne Rückgriff auf die Individuen auskommt. Die Gesellschaft wird als eigener, fest bestimmter Gegenstand angenommen, das Individuum heuristisch negiert; 2. wird davon ausgegangen, dass es Gesellschaft als »eindeutig abgrenzbaren und real [d. h. empirisch] erfahrbaren Objektbereich« nicht gibt, dann wird dieser jedes selbstständige, von den »konstituierenden Individuen unabhängige« Wesen abgesprochen. Das individuelle Handeln wird als konstitutives Element angenommen, die Gesellschaft heuristisch negiert. 12 | »Die Soziologie verdankte sich [. . . ] der Entdeckung einer grundsätzlich unberechenbaren sozialen Wirklichkeit. Ihr fiel somit die seltsame Aufgabe zu, eine Gesellschaft, die auf die Dauerregelung ihrer Ordnung verzichtet hatte, berechenbar zu machen.« (Tenbruck 1989, 195) 13 | Damit gelangen wir thematisch bei Emile Durkheim und seinem Verständnis der Gesellschaft als »sozialem Tatbestand« an (siehe Seite 36).

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Obwohl diese beiden Grundannahmen unvereinbar scheinen, sind vermittelnde Gesellschaftsbegriffe denkbar, »in denen die Gesellschaft zwar als spezifisches Ganzheitsgebilde erscheint, doch so, dass der Mensch in diese Ganzheit nicht als Glied oder Teil eingeht, sondern ihr in einem Wirkungsverhältnis gegenübersteht.« (Geiger 1931, 208) Die Gesellschaft als »Entität höherer Ordnung« wird dann durch gesellschaftliche Beziehungen, Handlungen und Wechselwirkungen abgelöst (Büschges 2002, 197). Was erstmalig gut klingt, erweist sich bei näherer Betrachtung als schwierig umsetzbar: »Die einzelwissenschaftliche Soziologie fragt als empirische Kulturwissenschaft nicht nach der Wesenheit der Gesellschaft, noch sucht sie für deren Überhaupt-Vorhandensein eine kausale Erklärung. Sie nimmt die Tatsache der Gesellschaftlichkeit des Menschen als ihrer Erfahrung gegeben hin und bemüht sich, die einzelnen gesellschaftlichen Erscheinungen ordnend zu verstehen. [. . . ] Sie definiert ihren Begriff nur umschreibend« (Geiger 1931, 207).

Was hier zum Ausdruck kommt, ist das Verbot aus der Soziologie an die Soziologie, »ihren Gegenstand in Frage zu ziehen«. Weder Ontologie (»Wesenheit der Gesellschaft«) noch Kausalität (»Verursachtheit oder Entstehung der Gesellschaft«) darf ihr Interesse sein bei der Bestimmung des Grundbegriffs (vgl. Geiger 1931, 207 f.). Weil jedoch die »Selbstbeschreibung der Gesellschaft« (vgl. Luhmann 1992; 2005e, 286 ff.) und die Analyse ihrer »Wesenheit« zusammen gehören und nicht getrennt werden können, stellt sich eine Paradoxie ein (vgl. Luhmann 1987c; Bühl 2000).

3.1 Selbstbeschreibung der Gesellschaft Gemäss Niklas Luhmann ist selbst Kritik an der Gesellschaft Teil der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, weil die gesamte »Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft« statt findet (Luhmann 1998, 1128).14 Es lässt sich kein Punkt ausserhalb der Gesellschaft denken, der ihre Beschreibung von dorther zuliesse (vgl. Luhmann 1998, 875; Wagner 2005). Die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft können nicht von der Struktur der Gesellschaft gelöst werden,15 denn »es beste14 | »Beschreibung« meint etwas Gefügtes, das Bestand haben kann und übertragbar ist: »Unter einer ›Beschreibung‹ verstehe ich im Unterschied zu einer blossen ›Beobachtung‹ etwas, was nicht nur im Moment geschieht, sondern was zum Beispiel in einem weiten Sinne zu einem Text wird, oder eine Identität produziert, die auch in anderen Zusammenhängen wiederverwendet werden kann.« (Luhmann 2005e, 286) 15 | Luhmanns Arbeiten zu »Gesellschaftsstruktur und Semantik« wollen gerade diese Zusammenhänge herausarbeiten (vgl. Stäheli 1998). Bei Emile Durkheim (1984, 92) findet sich noch die Feststellung, es gebe den »Tatbestand, der sei-

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hen Zusammenhänge zwischen dem, was jeweils plausibel gemacht werden kann und evident ist, einerseits und den Sozialstrukturen, vor allem den Differenzierungsformen, andererseits.« (Luhmann 2005e, 20) Allerdings weist Luhmann darauf hin, dass es noch keine »definitive Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft« gebe. Was vorläge, sei höchstens eine »Übergangssemantik«, eine »transitorische Semantik«,16 die darauf reagiert, »dass man schon nicht mehr in der alten Welt ist, also die alten Ordnungsbegriffe nicht mehr brauchen kann, aber noch nicht weiss, in welcher Gesellschaft man jetzt lebt.« (Luhmann 2005e, 310) Hier handelt es sich weniger um eine Paradoxie, als vielmehr um das (kaum verwunderliche) Verschulden einer Disziplin, der die Erklärungsmittel unbemerkt ausgegangen sind. Erschwerend tritt hinzu, und damit schliesst sich der Kreis zur Unbestimmtheit des Gesellschaftsbegriffs, dass die Semantik gesellschaftlicher Selbstbeschreibung auseinander fällt. Dabei stehe noch aus, inwieweit die künftigen Selbstbeschreibungen füreinander anschlussfähig sein werden (vgl. Luhmann 2005e, 330 f.). Trefflich ist zudem die Art und Weise, wie Luhmann Paradoxie definiert: »Ein Paradox ist die in sich selbst enthaltene Form ohne Hinweis auf einen externen Standpunkt, von dem aus es betrachtet werden könnte.« (Luhmann 1993a, 201) Das »in sich selbst enthalten sein« ohne externen Standpunkt schlägt sich schliesslich auch auf die Soziologie durch. Generell gilt, zumindest in den Augen der Systemtheorie, dass jede Beschreibung der Gesellschaft nur in der Gesellschaft geschehen kann.17 Selbstbeschreibung meint, »in der Gesellschaft zwar nicht mit der Gesellschaft, aber über die Gesellschaft zu kommunizieren.« (Luhmann 1998, 867, vgl. 880) Selbst eine wissenschaftliche Beschreibung ist immer eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft, welche sich als Bestandteil der Gesellschaft zwangsläufig auflöst. Dieses als »Autologie« bezeichnete Vorgehen bedeutet: »es vollzieht selbst die Differenz, die es bemerkt.« (Luhmann 1998, 871) Bezogen auf die Beschreibung bedeutet dies: sie vollzieht selbst die Differenz, die sie beschreibt. Für den entstehenden Begriff bedeutet das: »er gilt dann auch für sich selbst«; er wird »autologisch« (Luhmann 1998, 892). Daraus resultiert die Tatsache und zugleich das Problem, nerseits von aussen [und durch ›äussere Kriterien‹] untersucht werden muss, um einigermassen bestimmt werden zu können.« Bei Luhmann schliesslich sind sowohl ein solches »von aussen« als auch »äussere Kriterien« nicht mehr problemlos denkbar. 16 | Dieses »Transitorische« findet sich in Richtung beider Seiten, Gesellschaft wie Individuum (siehe auch das Eingangszitat in Kapitel 4). 17 | Dies führt schliesslich soweit, dass Kultur als jener »Platz [bezeichnet werden kann; S. B.], an dem Selbstbeschreibungen reflektiert werden.« (Luhmann 1998, 880)

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»dass gesellschaftliche Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen, da sie ja nur als Kommunikation überhaupt vorkommen können, sich ihrerseits der Beobachtung und Beschreibung aussetzen. Das führt zu einer ständigen Neubeschreibung bereits vorliegender Beschreibungen und damit zur laufenden Erzeugung inkongruenter Perspektiven.« (Luhmann 1998, 876)

Um überhaupt sinnvoll beobachten und beschreiben zu können, muss sich die Soziologie dieser erkenntnistheoretischen Autologie bewusst sein und sie reflektieren (vgl. Luhmann 1998, 877). Dabei muss besonders berücksichtigt werden: »bei einer Selbstbeschreibung ist die Beschreibung immer ein Teil dessen, was sie beschreibt« (Luhmann 1998, 884). Dies macht jede Selbstbeschreibung zu einer »Konstruktion«, die gerade dann besonders problematisch wird und eine Paradoxie darstellt, wenn sie durch die Soziologie erfolgt (vgl. Luhmann 1998, 886; 1993b, 250).18 Denn: »Es gibt für sie [d. h. für die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft] keine externen Kriterien, nach denen sie beurteilt werden könnten.« (Luhmann 1998, 890) Es sei dadurch, so fährt Luhmann fort, »keineswegs ausgeschlossen, dass [wissenschaftliche, vormals: religiöse; S. B.] Kriterien für Selbstbeschreibungen entwickelt werden.« Doch gilt: »Selbstbeschreibungen können [. . . ] nur zirkulär begründet werden, und wenn sie ihren Begründungszirkel durch Externalisierung zu unterbrechen suchen, dann geschieht eben dies als Komponente des Textes, als Teil des Vollzugs der Selbstbeschreibung.« (Luhmann 1998, 890)

Damit sollte der zirkuläre Charakter der Selbstbeschreibung hinlänglich dargelegt sein; er wird uns im Zusammenhang mit der Paradoxie der Soziologie nochmals begegnen (siehe Kapitel 3.4). Einen anderen Aspekt stellt der komplexe Charakter dieser Beschreibung dar. Ursprünglich auf Komplexität bezogen, d. h. auf das »Instrument des Beobachtens und Beschreibens« (Luhmann 1998, 138), liesse sich auch für Gesellschaft fragen, »weshalb ein vielfältiger Sachverhalt überhaupt durch einen Begriff erfasst werden soll, der seine Einheit voraussetzt.« (Luhmann 1998, 136) Es lässt sich fortfahren, wobei »Komplexität« jeweils durch »Gesellschaft« ersetzt ist: »Die [Gesellschaft] konstituierende Unterscheidung hat dann die Form einer Paradoxie: [Gesellschaft] ist die Einheit einer Vielheit.« Jede durch eine Selbstbeschreibung angepeilte Einheit des Begriffs verheimlicht, dieser Logik folgend (vgl. Luhmann 1998, 144), die Vielfalt des Phänomens. Das heisst dann: »Autologie, die der Methodik des Beobachtens zweiter Ordnung zugrundeliegt, [sei] nämlich die Einsicht, dass auch dies nur 18 | Was passiert, »wenn wir in der Soziologie über die Soziologie kommunizieren«, zeigt Kieserling (2000, 65) in einem Artikel zur »Selbstbeschreibung der Soziologie«.

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ein Beobachten ist« (Luhmann 1998, 144). Jede Beschreibung einer Beschreibung ist selbst eine Beschreibung (vgl. Luhmann 1998, 874). Dies führt jedoch, in Erweiterung der Beschreibung von Beschreibung, zu einem blinden Fleck: »Die Beschreibung kann operieren, sie kann sich aber im Vollzug nicht selbst beschreiben, denn dies würde eine andere Operation, eine andere unterscheidende Bezeichnung erfordern. Sie kann nur im nachhinein wiederbeschrieben werden.« (Luhmann 1998, 882)

Bislang wurde die Selbstbeschreibung in einem generellen Kontext betrachtet. Die geschilderten Probleme werden jedoch grösser, wenn eine »reflektierte Autologie« hinzutritt, d. h. eine »soziologische Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft«. Dieses Beschreibungsangebot wird dann als Kern der Gesellschaftstheorie angesehen. Er kommt aber zu dem Preis, dass »die Soziologie unter dem Druck [steht], das, was die öffentliche Meinung bewegt [. . . ] sofort zu kommentieren« und damit »selbst zum Ereignis« zu werden (Luhmann 1998, 1128). Dies steht jedoch im Widerspruch dazu, dass die Soziologie auf »Wissenschaftlichkeit« zu achten hat und leitet wiederum hin zur Paradoxie der Soziologie. Denn damit wird die »Selbstbeschreibung [. . . ] zum Thema der Selbstbeschreibung.« (Luhmann 1998, 1132) Die Konsequenz könnte lauten: »Eine Soziologie, die sich als Beitrag zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft reflektiert, wird dem angepasste erkenntnistheoretische und methodologische Vorstellungen entwickeln müssen. Ihre Aufgabe kann dann nicht mehr sein, ein vorgegebenes Objekt [. . . ] abzubilden[,] [. . . ] [sondern Theorien zu bilden; S. B.], die eine Distanz zu den Selbstverständlichkeiten des Alltags in Kauf nehmen, ja bewusst erzeugen, um ein abstrakter gesichertes Konsistenzniveau zu erreichen.« (Luhmann 1998, 1133)

Es ist unter dem Vorzeichen der Selbstbeschreibung nicht mehr ausreichend, zu beschreiben und diese Beschreibung als »einfach« hinzunehmen. Die Gesellschaft ist »dieselbe – und nicht dieselbe insofern, als sie je nach der Unterscheidung, von der man ausgeht, anders gespalten und daher in anderer Weise zum Paradox wird.« Dies heisst in der Folge einfach: es gibt keine einheitliche Möglichkeit der Beschreibung in der Selbstbeschreibung. Die Konsequenz daraus ist, »dass die Konstruktionen der Soziologie ihre eigene Dekonstruierbarkeit mitreflektieren müssen.« (Luhmann 1998, 1135) Die historische Quintessenz lautet: Während sich die vormodernen Gesellschaften durch Begriffe wie Sein, Wesen und Natur »als Objekte beschrieben« hatten und diese Beschreibung an der Oberfläche blieb, »beschreibt sich [die moderne Gesellschaft] als Beschreiber« und es kommt zur eigentli-

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chen »Selbstbeschreibung«, da erst jetzt »das ›Selbst‹ der Beschreibung der Beschreiber selbst« ist (Luhmann 1998, 1142). Damit wächst die Kritik an einer Gesellschaftstheorie, die gezwungen ist, Selbstbeschreibung und das heisst »autologische« Beschreibung zu betreiben (und damit letztendlich zu beschreiben). Der Begriff »Gesellschaft« weiss trotz seines diffusen Charakters bis in die neue Zeit zu faszinieren (vgl. Outhwaite 2006). Zugleich wurde ein Unbehagen ihm gegenüber immer wieder zum Ausdruck gebracht. Dabei stand auch die Frage im Raum, »ob es die Gesellschaft, von der die Soziologie mehrheitlich redet, überhaupt gibt« (Tenbruck 1989, 205; vgl. Müller-Doohm 1991; Touraine 2003) und falls ja, der Begriff überhaupt Sinn macht. Ende der 1970er Jahre kam der Gesellschaftsbegriff aus besonderem Anlass in die Kritik. Im Rahmen des Versuchs, eine deutschsprachige Kultursoziologie zu etablieren, hatte Friedrich H. Tenbruck (1979, 399) darauf hingewiesen, dass die Kultursoziologie »die Soziologie aus der reduktiven Verkümmerung ihres Gesellschaftsbegriffes« befreien müsse.19 Dies ist eine deutliche Kritik am Umgang mit »Gesellschaft«, die nicht auf die Vielteilung, sondern auf die Verengung des Begriffs und damit der Disziplin abzielt. Der Gesellschaftsbegriff habe deshalb hinter denjenigen der »Kultur« zurückzutreten, weil »ihm die wesentliche Eigenschaft eines Begriffs [fehle], nämlich Kriterien zur Identifizierung seiner Objekte« (Tenbruck 1979, 416).20 Die streng getrennten Einheiten der Vormoderne (Stämme, Völker, Staaten), die der veraltete Begriff der Gesellschaft zu umschreiben versucht, existieren – was die westliche Gesellschaft anbelangt – in dieser Form nicht mehr.21 19 | Der Umstand, dass die Soziologie in dem struktur-zentrierten Begriff gefangen ist, sei auf verschiedene Gründe, Motive und Traditionen zurückzuführen (vgl. Lipp/Tenbruck 1979, 394 f.). Es liesse sich übrigens auch davon sprechen, dass eine Kultursoziologie re-etabliert werden sollte, allerdings nur dann, wenn Alfred Weber (1997a) die notwendige Aufmerksamkeit zugekommen wäre und sich Tenbruck (1979, 409) tatsächlich auf ihn beziehen würde. Dass der Kulturbegriff hier vielmehr – wie im weiteren Verlauf dieses Kapitels ausgeführt – als ein Platzhalter verstanden werden könnte, zeigt die damit verbundene, m. E. sinnreiche Forderung nach einer Kultursoziologie als allgemeine Soziologie (vgl. Tenbruck 1979, 400). 20 | Problematisch nur, dass die Kultursoziologie bis heute nicht in der Lage war, ihr Versprechen umfassend einzulösen, denn um den Kulturbegriff ist es inhaltlich ungefähr gleich bestellt wie um den Gesellschaftsbegriff (vgl. Francis 1965, 39 f.; Eagleton 2001). 21 | »›Westliche Gesellschaft‹ ist selbst eher ein Notausdruck als ein Begriff. Man wählt eine geographische Bezeichnung, um einen gesellschaftsgeschichtlichen und zugleich geschichtsphilosophischen Sachverhalt zu benennen, der aber in letzter Instanz vage bleibt. Als avancierteste ›westliche‹ Gesellschaft erscheint – geographisch und geschichtlich absurd – Japan.« (Claussen 1995, 39) Allerdings würde ich nicht so weit gehen, um mit Margaret Archer zu behaupten: »The globalisation of society means that societies are no longer the prime units of sociology«

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Tenbrucks programmatischer Ansatz ist deshalb von Interesse, weil er die Kritik am Gesellschaftsbegriff bereits eingeschrieben hat.22 In ihm findet sich sowohl der Hinweis, »dass die soziale Wirklichkeit nun einmal Struktur und Kultur [. . . ] enthält« (Tenbruck 1979, 399; Hervorhebung S. B.) als auch die Anzeige, wie »in dem Begriff ›Gesellschaft‹ eine Zeitlage festgeschrieben [wurde], nämlich das Selbstverständnis der auf [. . . ] staatliche Selbständigkeit bedachten Nationen des 19. Jahrhunderts [. . . ] [und der] Identität von Volk, Kultur, Nation und Staat« (Tenbruck 1989, 206).

Gerade weil diese strukturelle »Grundlage« nicht mehr existiert, sei die »zur alltäglichen Selbstverständlichkeit geronnene Annahme, die Soziologie habe es mit ›Gesellschaften‹ zu tun, [. . . ] zu einer gefahrlichen Behinderung ihrer Arbeit geworden.« (Tenbruck 1989, 205) Trotzdem herrsche weiterhin »die Auffassung, dass die Gesellschaft durch jene äusseren Gliederungen bestimmbar sei, die [. . . ] summarisch als Struktur bezeichnet werden.« (Tenbruck 1979, 399) Tenbruck schliesst daraus: »Eine Soziologie, die sich grundsätzlich auf die Untersuchungen von Strukturtatsachen beschränkt und sonstige Erscheinungen aus ihnen abzuleiten trachtet, treibt deshalb in die Gefahr unwirklicher Theorien hinein.« (Tenbruck 1979, 399) Diese Kritik gründet vor allem in Emile Durkheim, der die Soziologie prominent zur »Wissenschaft von der Gesellschaft« gemacht hat, jedoch »die Bezeichnung der Gesellschaft als Objekt wie eine leere Selbstverständlichkeit« erscheinen liess (Tenbruck 1989, 190, vgl. 193). Das kritisierte Vorgehen, das im Anschluss detailliert beschrieben wird, kann wie folgt skizziert werden: »[A]us der Soziologie wird die Gesellschaft als eine eigene gegenständliche Ordnung geboren, die sich aus ihrer eigenen ›Natur‹ bestimmt. [. . . ] Seine [d. h. Durkheims] Methode folgt aus Annahmen über die Struktur der Wirklichkeit; sie elaboriert eigentlich nur den vorgefassten Begriff der Gesellschaft als eines eigenen Gegenstandes.« (Tenbruck 1989, 201)

(zit. in Wagner 1996, 540). Dies liegt darin begründet, dass es problematisch scheint, überhaupt von Gesellschaft im Plural, geschweige denn einer »Weltgesellschaft« (siehe Seite 264), zu sprechen. Das folgende Zitat ist im Gegenzug besonders interessant: »Wir werden den Realitäten in dem Masse näherkommen, wie wir wieder von benennbaren Staaten, Nationen, Kulturen, Stämmen, Völkern, Religionen, Verbänden, Parteien, Ideologien, Wirtschaften, Publika und dergleichen mehr als von so vielen eigenen Vergesellschaftungen zu sprechen lernen, ohne darum das trügerische Band der ›Gesellschaft‹ zu schlingen.« (Tenbruck 1989, 207) 22 | »Erst wenn die Gesellschaft wieder als Kultur sichtbar wird, vermöchte die Soziologie auch neuartige Tatsachen und Veränderungen zu entdecken, die durch ihre bloss strukturellen Raster durchfallen.« (Tenbruck 1979, 416)

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Darin liegt das Verständnis verborgen, dass sich soziale Einheiten »aus sich selbst heraus entwickelten« und dass sie »aus sich selbst heraus zu begreifen« seien (Tenbruck 1989, 203). Kommt die Feststellung hinzu, »die sozialen Vorgänge vollziehen sich [bei Durkheim] wie von aussen« (Tenbruck 1989, 202), offenbart sich dieser Ansatz schliesslich als reduktionistisch, selbstbezogen und blind gegenüber seiner Selbstbeschreibung. Tenbrucks Kritik gründet denn vor allem in Durkheims Umgang mit dem Gesellschaftsbegriff, der dazu geführt habe, dass sich die Soziologie in ihn eingeschlossen hat. Es laufe »darauf hinaus, dass die Gesellschaft mit ihrer Struktur gleichgesetzt, die Soziologie folglich auf deren Analyse eingeengt wird.« (Tenbruck 1979, 399) Sich einschliessen heisst auch: »Die Gewöhnung an das strukturelle Konzept der Gesellschaft ist so umfassend, dass dessen reduktiver Charakter kaum noch empfunden wird.« (Tenbruck 1979, 405) Die Genese dieser Struktur (vgl. Tenbruck 1979, 410) und damit des Einschlusses erinnert an etwas anderes: »Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts verengte sich der Gesellschaftsbegriff auf bestimmte Erscheinungen, die nun vorzüglich als das eigentlich Gesellschaftliche an der Gesellschaft galten und dann zum Gegenstand einer eigenen Wissenschaft wurden. Dieses nähere Objekt, das sich wesentlich an die gesellschaftliche Gliederung und Organisation hielt, also an Beziehungen, Gruppen und Institutionen mit ihren äusseren und inneren Über-, Unter- und Zuordnungen, wurde dann in einem weiteren Abstraktionsprozess mittels einer generellen Analytik aufbereitet. Der soziologische Gesellschaftsbegriff ist also ein mittels doppelter Abstraktion gewonnenes Konstrukt, auch wenn er unter Soziologen wie eine unmittelbare Wirklichkeit gehandelt wird.« (Tenbruck 1979, 405 f.)

Diese Abstraktion, die zugleich zur Selbstbeschreibung zurückführt, sei jedoch nur dann zielführend, wenn ihr Gegenstandsbereich »relativ geordnet, zusammenhängend und autonom ist« (Tenbruck 1979, 406), und gerade diese Eigenschaften seien bei »Gesellschaft« nicht zwangsläufig gegeben, eher sogar zu bezweifeln. Problematischer noch, »mit der konsequenten Radikalisierung des doppelten Abstraktionsprozesses tendierte das Konstrukt soziologischer Arbeit – ›die Gesellschaft‹ – dazu, zur eigentlichen und einzigen Wirklichkeit zu werden.« (Tenbruck 1979, 406) In alledem zeigt sich, »dass die Soziologie den Begriff, der sie trägt, erst selbst aufgebaut hat.« (Tenbruck 1989, 205) Diese Konstruktionsleistung leitet zurück zu der Aussage, die Soziologie hätte sich in ihren Grundbegriff eingeschlossen. Mit anderen Worten: »Die Soziologie hat sich und uns in die Mauern der Welt als Gesellschaft eingesperrt.« (Tenbruck 1979, 406) Dabei erfolgt auch ein kritischer Verweis auf die vielfältigen Bindestrich-Soziologien (vgl. Tenbruck 1979, 406 f.), die den genannten Bindestrich-Gesellschaften im Grad

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3.1

Selbstbeschreibung der Gesellschaft

ihrer Unkenntlichkeit in nichts nachstehen. Es ist darin aber auch ein Vorgriff auf die später zu beschreibende Paradoxie der Soziologie enthalten, denn schliesslich werde »die Wirklichkeit durch den Begriff ›Gesellschaft‹ bereits vorstrukturiert. Es wird unter der Hand bereits ein Konzept eingeführt, das ein Ziel vorschreibt.« (Tenbruck 1989, 190) Diese »Vorannahmen«, die keine expliziten Hypothesen darstellen, seien »zu einer Hypothek geworden, die wir abtragen, also erst einmal aufdecken müssen.« (Tenbruck 1989, 193) Auch hier werden wir an die Selbstbeschreibung erinnert, die in gleicher Weise bewusst gemacht werden muss. Indem Tenbruck durch Kultur ein »Anderes« in den Blick nimmt,23 soll die strukturelle Soziologie ergänzt und damit sowohl die Disziplin aus der »Verkümmerung ihres Gesellschaftsbegriffes« befreit als auch der »Wirklichkeitsgehalt« ihrer Theorien gesteigert werden. Damit zeigt sich bei Tenbruck ein Rückgriff auf Georg Simmel und Max Weber, die dasselbe Ziel verfolgten, auch wenn die Mittel jeweils geringfügig andere waren (vgl. Homann 2001). Durkheim, so stellt Tenbruck (1989, 199) fest, »zweifelt nicht einen Moment daran, dass das Objekt [d. h. Gesellschaft] ›wissenschaftsfähig‹ ist, also jene Struktur und Natur besitzt, auf welche sein Wissenschaftskonzept rechnet«, und deshalb werde installiert, was in der Folge unhinterfragt weiterverwendet wird. Allerdings geschehe dies zu einem hohen Preis: »Die bloss durch Strukturen festgestellte und wiederum aus ihnen erklärte Gesellschaft ist deshalb kein hinreichend selbständiger, aus sich selbst bestimmter und alles Übrige bestimmender, und sie ist deshalb auch kein hinreichend wissenschaftsfähiger Gegenstand.« (Tenbruck 1979, 399)

In weiterer Konsequenz fordert Tenbruck (1989, 207) gar den »Verzicht« auf den Begriff »Gesellschaft«, wo immer dieser nicht bloss »als unbestimmte[r] Hinweis auf irgendein soziales Feld« verwendet wird (Tenbruck 1989, 192).24 Dieser Begriff versperre den Blick auf die soziologisch entscheidenden Tatsachen, die grossen Veränderungen 23 | Es spielt dabei für die vorliegende Arbeit keine Rolle, um was es sich bei diesem »Anderen« handelt, solange eine fruchtbare Auseinandersetzung möglich ist. Es interessiert hier nicht, ob es sich dabei um Kultur handelt, obgleich diese durch ihren Bezug zur symbolischen und sozialen Bedeutung ausserordentlich fruchtbar erscheint (vgl. Tenbruck 1979, 401 ff.). 24 | Gerade letzteres sei bei Simmel und Weber der Fall (siehe dazu Seite 43). Daraus folge: »Es wird höchste Zeit, wieder zu den Vorstellungen Simmels und Webers zurückzukehren, für die sich nicht nur innerhalb einer Gesellschaft verschiedene Vergesellschaftungen in- und übereinander schoben, sondern grundsätzlich verschiedene Einheiten bestanden, die nicht zur Deckung gebracht werden konnten, also kulturelle, politische, staatliche, ethnische usw. Vergesellschaftungen durcheinanderliefen, welche die Soziologie im Spiel halten oder je nach Fragestellung auswählen muss.« (Tenbruck 1979, 421)

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3

Gesellschaft

und Fraglichkeiten unserer Zeit. Deshalb könnte ein Verzicht auf den spezifisch-strukturellen Gesellschaftsbegriff dazu führen, dass die Soziologie sich neuen Orientierungen, Mächten, Prozessen, Vorgängen und Zentren zuwenden kann (vgl. Tenbruck 1989, 206). Im Anschluss an die Betrachtungen zur Selbstbeschreibung und zur Kritik am Gesellschaftsbegriff lässt sich tautologisch schliessen: Die Paradoxie der Selbstbeschreibung – besonders in der nomologischen wie blinden Theorie Durkheims – scheint massgeblich dafür verantwortlich, dass sich der Gegenstand der Soziologie nicht eindeutig definieren lässt. Sie ist, und gerade darin liegt das Paradoxe, seit dem ersten Umgang mit dem Gesellschaftsbegriff im 19. Jahrhundert erhalten geblieben.25 Wie damals, als eine Einzelwissenschaft begründet werden sollte, erleben wir heute den Effekt, dass sich Beobachtungen der sozialen Wirklichkeit nicht problemlos und nachhaltig in Kategorien einpassen lassen.

3.2 Gesellschaft als Tatbestand Gemäss einem ihrer frühen Exponenten soll es basale Aufgabe der Soziologie sein, die Gesellschaft aus sich heraus oder durch sich selbst zu erklären. Das Soziale wird damit als kollektive Repräsentation verstanden: »Jedesmal, wenn irgendwelche Elemente eine Verbindung eingehen und damit neue Erscheinungen hervorbringen, lässt sich wohl einsehen, dass diese Erscheinungen ihren Sitz nicht in den Elementen, sondern in dem durch deren Vereinigung hervorgebrachten Ganzen haben.« (Durkheim 1984, 93)

In den Regeln der soziologischen Methode versucht Emile Durkheim ein Prinzip zu formulieren, das Ordnung und Entwicklung der soziologischen Tatbestände erklären und beschreiben kann (vgl. Bender 1994, 265).26 Er hat diese Bestimmung des Sozialen und damit der 25 | Die Lektüre der vierten Sitzung der Lehre Saint-Simons von 1829 zeigt das m. E. für die damalige Zeit auf (vgl. Salomon-Delatour 1962, 82–93), retrospektiv interpretiert und unter Berücksichtigung, dass die Saint-Simonisten den religiösen Aspekt der Gedanken Saint-Simons überbetonen (vgl. Petermann 1979, 188). 26 | Dennoch ist Durkheim nicht der »Erfinder« der sozialen Tatsachen (oder Tatbestände; vgl. König 1978, 157); diese finden sich bereits bei Comte (in seiner Soziologie), dessen Positivismus naturgemäss auf Tatsachen ruht. Schliesslich war es schon Marie Jean Antoine de Condorcets »soziale Mathematik«, die ihre Erkenntnis an positiven Tatsachen und nicht an Sinngehalten gewann und ihre Interpretation daran orientierte. Damit legte Condorcet die wissenschaftliche Basis für ein individuelles Verhalten, das den Menschen befähigt, die instinktiven Formen des Denkens und Handelns zu ersetzen. Um gesellschaftliche Phänomene zu beobachten, stellt sich schon hier eine bewusste Vernachlässigung der individuellen Tatsachen ein (vgl. Baker 1975, 344 ff.). Comte baute seine Konzeption unter anderen auf jene von Condorcet auf. Er benannte seine »soziale Physik« – von

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3.2

Gesellschaft als Tatbestand

Gesellschaft in Abgrenzung zum Individuum erstellt und wird als bedeutender Vertreter einer Vorherrschaft der Gesellschaft vor dem Individuum gesehen: »Wir finden also besondere Arten des Handelns, Denkens, Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit darin besteht, dass sie ausserhalb des individuellen Bewusstseins existieren« (Durkheim 1984, 106, vgl. 183). Als Gegenstand der Soziologie soll gelten: »Ein soziologischer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äusseren Zwang auszuüben [. . . ] [und die ein von] individuellen Äusserungen unabhängiges Eigenleben besitzt.« (Durkheim 1984, 114)

Das Soziale wird zu einem eigenen Gegenstand; die Soziologie soll Soziales durch Soziales erklären (Durkheim 1984, 193; vgl. König 1978, 125). Durkheim beharrt auf einer Gesellschaft eigener Art, die als synthetische Realität mit eigenem Erfahrungswert aufgefasst wird. Mit anderen Worten: »Die Gesellschaft kann nicht warten, bis ihre Probleme wissenschaftlich gelöst sind; sie muss entscheiden, was getan werden soll, und dazu muss sie sich eine Vorstellung von sich selbst machen.« (Durkheim 1987, 149) Die »Gesellschaft« muss sich selbst verstehen und deshalb eine Selbstbeschreibung anfertigen.27 Diese Vorstellung oder Selbstbeschreibung muss von Seiten der Sozialwissenschaft kommen, denn sie »bringt zum Ausdruck, was die Gesellschaft an sich ist, und nicht, was sie in den Augen des Subjekts, das sie denkt, ist.« (Durkheim 1987, 144) Die »Gesellschaft an sich« verdrängt jedoch ihre Urheber und erzeugt einen Widerspruch zur Beschreibung der Beschreibung.28 Die wissenschaftlichen Vorstellungen müssen daDurkheim (1985, 82) in der Nachfolge als »soziologischen Naturalismus« bezeichnet – im Jahr 1838 als »Soziologie« und gilt seither als deren Namensschöpfer (vgl. König 1978, 52; Wagner 2000, 132). Neue Entdeckungen zu Emmanuel Joseph Sieyès und Condorcet »mettent le projecteur sur des conceptions de la sociologie qui paradoxalement échappent à la fois au reproche du déterminisme sociologique mais surtout, dans le cas de Sieyès, à celui de l’individualisme méthodologique.« (Morgenthaler 2007) Die Lektüre von bislang uneditiertem Material von Sieyès hat beiläufig gezeigt, dass dieser den Begriff »Soziologie« vor Comte verwendet hat und als Namensschöpfer gelten darf. 27 | Dies weist zurück auf die »Selbstbeschreibung der Gesellschaft« (siehe Kapitel 3.1) sowie hin auf die daraus folgende Paradoxie der Soziologie (siehe Kapitel 3.4). 28 | Gerade dies ist der Grundanlage der vorliegenden Arbeit, d. h. der Suche nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, entgegengesetzt (siehe Kapitel 7.4). Die Gesellschaft muss sich eine Vorstellung von sich selbst machen (in einem späteren Verständnis auch: eine Aussage über sich selbst; siehe Seite 41); die Soziologie muss sich eine Vorstellung dieser Vorstellung machen (später: eine Aussage über die Aussage). Dabei müssen diese Vorstellungen in einem kollektiven Rahmen ablaufen, um von Durkheim als Methode anerkannt zu werden. Ähnlich wie später bei Max Webers verstehender Soziologie, zeigen sich bereits hier die zwei Perspektiven Akteur und Beobachter (vgl. König 1978, 161).

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Gesellschaft

her in dieser strukturellen Logik gleichsam kollektiven Vorstellungen entsprechen. Durkheims »Institutionalismus«,29 der gemäss Theodor Geiger eine Sonderstellung einnimmt, legte den Grund für den soziologischen Gesellschaftsbegriff: »Die ›faits sociaux‹ oder gesellschaftlichen Institutionen (= Schöpfungen im weitesten Sinn) werden als objektive Realitäten betrachtet, deren zwingender Wirkung der Mensch ausgesetzt ist.« (Geiger 1931, 209) Gesellschaft ist bei Durkheim als »Einheit eigenständiger sozialer Tatsachen« zu lesen, »Tatsachen, welche sich nicht auf Bewusstseinsinhalte und Bewusstseinsäusserungen von Individuen [. . . ] zurückführen lassen« (Ritsert 1988, 59). Die konstituierenden soziologischen Tatbestände und somit auch die Gesellschaft geniessen »Exteriorität gegenüber dem Handelnden« (König 1978, 169). Damit tritt Durkheim – der durchaus eingesteht, dass sich »die Gesellschaft aus Individuen [und ›Sachen‹] zusammensetzt«, aber eine »andere Grundlage als das individuelle Bewusstsein« habe (Durkheim 1984, 93) – für eine antireduktionistische und holistische Position ein. In dieser gilt, dass »neue Erscheinungen [. . . ] ihren Sitz nicht in den Elementen [d. h. den Individuen, oder genauer: deren je individuellem Bewusstsein; S. B.], sondern in dem durch deren Vereinigung hervorgebrachten Ganzen haben.« (Durkheim 1984, 93) Mit anderen Worten: »Das Substrat [d. h. die Grundlage; S. B.] der Gesellschaft ist die Gesamtheit der assoziierten Individuen. [. . . ] Die Vorstellungen, welche die Fäden des sozialen Lebens sind, lösen sich von den Beziehungen los, die sich zwischen den derart vereinigten Individuen oder auch den sekundären Gruppen, die sich zwischen das Individuum und die Gesamtgesellschaft schieben, herstellen« (Durkheim 1985, 71).

Eine derart ausgeprägte soziologische Methode will, um »die Vorstellung der Gesellschaft über sich selbst und ihre Umwelt zu verstehen, [. . . ] die Natur der Gesellschaft und nicht die der Einzelnen betrachten.« (Durkheim 1984, 94 f.) Weil die »spezifischen Erscheinungen [für welche sich die Einzelwissenschaft Soziologie interessieren soll; S. B.] in der Gesellschaft selbst ihren Sitz haben und nicht in ihren Teilen, d. h. ihren Gliedern«, soll die Gesellschaft – wie jede soziale Erscheinung – als Ding behandelt werden (Durkheim 1984, 94, vgl. 125, 220 f.).30 Die »Erklärung des sozialen Lebens« muss demzufolge, da 29 | »Institutionalismus« wie zugehörige Haltung zeigen sich vor allem in seinem Versuch der Definition von Soziologie, wonach wir »ohne den Sinn dieses Ausdrucks zu entstellen, alle Glaubensvorstellungen und durch die Gesellschaft festgesetzten Verhaltensweisen Institutionen nennen; die Soziologie kann also definiert werden als die Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart.« (Durkheim 1984, 100) 30 | »Kraft dieses Prinzipes ist die Gesellschaft nicht bloss eine Summe von Individuen, sondern das durch deren Verbindung gebildete System stellt eine

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3.2

Gesellschaft als Tatbestand

»das Individuum [dafür] nicht in Betracht« kommt, »in der Natur der Gesellschaft selbst« gesucht werden (Durkheim 1984, 186). Im Vorwort zur zweiten Auflage der Regeln wird darauf aufmerksam gemacht, dass der »Grundsatz, demzufolge die soziologischen Tatbestände wie Dinge behandelt werden sollen [. . . ] am meisten Widerspruch hervorgerufen« habe (Durkheim 1984, 89, vgl. 115). Seine Antwort scheint jedoch kaum in der Lage, auftretende Widersprüche aufzufangen: »Das Ding verhält sich zur Idee wie etwas, das man von aussen kennt, zu etwas, das man von innen kennt. Ein Ding ist jeder Gegenstand der Erkenntnis, der der Vernunft nicht von Natur aus zugänglich ist« (Durkheim 1984, 89). Von diesem »Ding« wie von jedem sozialen Tatbestand lässt sich keine angemessene Vorstellung bilden.31 Gesellschaftliche Objektivität soll demzufolge durch Objekte erlangt werden, indem Tatbestände – d. h. Gegebenheiten der sozialen Welt – als solche gefasst werden.32 Tatbestände als Dinge meint eben nicht materielle Gegenstände, »denn sie gehören ja zum Bereich der Ideen« (Ritsert 2000, 55) und »sind vielmehr [selbst als Bestandteil der materiellen Kultur; S. B.] von ausgesprochen normativem Charakter« (König 1978, 180). Dies führt zur folgenden These: These 3–A Die soziologischen Tatbestände sind zu lesen als Vorstellungen der Individuen, die sich in Wechselwirkung verselbstständigt haben und ausserhalb des Individuums – in der Gesellschaft – bestehen bleiben.

Um diese These zu stützen, bedarf es eines näheren Blicks auf die Konzeption dieser Tatbestände und damit der Gesellschaft insgesamt. Zuerst handelt es sich dabei um das Verständnis von »Vorstellungen«: »Der eigentliche Träger der Ideen und Vorstellungen im Leben der menschlichen Gattung ist das Kollektiv. Alle kollektiven Vorstellungen [. . . ] haben eine grössere psychologische Energie als Vorstellungen, die vom Individuum ausgehen.« (Durkheim 1987, 139)

spezifische Realität dar, die einen eigenen Charakter hat.« (Durkheim 1984, 187; Hervorhebung S. B.) 31 | Damit wird allerdings das Verhältnis von »Ding« und »Idee« nicht geklärt (wie auch das anschliessende Zitat Ritserts zeigt). Ich muss es dabei belassen, da eine Erörterung den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. Dasselbe gilt für den Aspekt des »Wertes«, der nicht nur in Max Webers verstehender Soziologie zentral ist für die Bestimmung von »Bedeutung«, sondern auch bei Durkheim auftritt: »Wir vollziehen bestimmte Handlungen nicht nur, weil sie geboten sind, unangesehen ihres Inhalts; sondern sie müssen uns auch noch erstrebenswert erscheinen, also als ein Wert.« (König 1978, 179; vgl. Durkheim 1985, 111 ff.) 32 | »Ein objectum bedeutet ganz allgemein etwas, was uns als Einzelnen gegenüber- oder entgegensteht.« (Ritsert 2000, 55)

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Gesellschaft

Indem das Kollektiv ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird, erhält dieses das Primat vor dem Individuum. Es kennzeichnet die in Durkheims Ansatz betonte Emergenz, d. h. das alleinige Entstehen des Sozialen aus dem Sozialen, letztlich auch: das Entstehen der wissenschaftlichen Beobachtung aus der Beobachtung der Tatbestände, die ein von individuellen Äusserungen unabhängiges Eigenleben führen: »Sobald also der Soziologe die Erforschung irgendeiner Gattung soziologischer Tatbestände in Angriff nimmt, muss er sich bestreben, sie an einem Punkte zu betrachten, wo sie sich von ihren individuellen Manifestationen losgelöst zeigen.« (Durkheim 1984, 139)

Um die Tatbestände ideal erfassen zu können, müssen diese gelöst werden von den individuellen Handlungen, die sie in erster Instanz hervorbringen. Dies beruhe auf einer methodischen Beschränkung, denn: »Jedes Individuum ist etwas Unendliches, und das Unendliche kann nicht erschöpft werden.« (Durkheim 1984, 167) Da die individuellen Vorstellungen nicht erschliessbar scheinen, werden sie von einer Entität (einer problematisch zu erschliessenden kollektiven Vorstellung) abgelöst. Damit wird das Problem offensichtlich auf eine andere, für die Soziologie als typisch erachtete Einheit verschoben (vgl. Durkheim 1984, 183 f.). Vor diesem Hintergrund leuchtet auch ein, weshalb »die Gesellschaft, wenn sie erst einmal ausgebildet ist, auf die Individuen zurückwirkt« (Durkheim 1984, 184 f.) und weshalb die Definition des soziologischen Tatbestands und letztlich der Gesellschaft derart ausformuliert wurde: »Da ihre wesentlichste Eigentümlichkeit in ihrer Fähigkeit besteht, von aussen her einen Druck auf das individuelle Bewusstsein auszuüben, so bedeutet das, dass sie sich nicht von diesem herleiten und daher die Soziologie keine Abzweigung der Psychologie ist.« (Durkheim 1984, 185 f.; Hervorhebung S. B.)

Das Verlangen nach einer Einzelwissenschaft mit eigenständigem Gegenstand und die zwanghafte Abgrenzung gegenüber der Psychologie (vgl. König 1978, 67 f., 78) führen zu Widersprüchen innerhalb der Theorie, wie zu weiterführenden Problemen, die im Anschluss thematisiert werden.33 Ein solcher Widerspruch scheint sich in das Vorwort zur zweiten Auflage der Regeln eingeschlichen zu haben, wenn dort Referenzen zum Individuum auftreten: »Tatbestände einer bestimmten Ordnung wie Dinge zu behandeln, bedeutet also nicht, sie in diese oder jene Kategorie des Seienden einzureihen; es bedeutet nur, dass man ihnen gegenüber eine bestimmte geistige Haltung einnimmt.« (Durkheim 1984, 90; Hervorhebung S. B.) 33 | Zur Abgrenzung gegenüber der Philosophie vgl. Durkheim (1984, 218 f.); zur Einzelwissenschaft vgl. Durkheim (1984, 221).

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3.2

Gesellschaft als Tatbestand

In dieser Aussage kann ein Widerspruch zu jener objektiv-empirischen Realität erspürt werden, die Durkheim um jeden Preis etablieren und dem Primat Gesellschaft zuschreiben will. Wenn die Tatbestände keiner Seinskategorie zuzuordnen sind, dann macht es den Anschein, als ob er das konzeptuelle, individuelle Denken in den Vordergrund rückt (vgl. Durkheim 1984, 94) und ihm ein höchst widersprüchliches, von mir heuristisch unterstelltes Primat einräumt. Schon im Werk selbst nahm Durkheim auf diesen Aspekt Bezug: »Tatsächlich werden soziale Verhältnisse nur durch Menschen verwirklicht. Sie sind ein Erzeugnis menschlicher Tätigkeit. Sie scheinen also nichts anderes zu sein als die Verwirklichung von Ideen [. . . ] und deren Anwendung auf die verschiedenen Umstände, welche die Beziehungen der Menschen untereinander begleiten.« (Durkheim 1984, 117 f.)

Die Funktion des Menschen wird durchaus anerkannt, jedoch nicht als Einzelner, als Individuum, sondern im Verbund, als beziehungsreiche Ideen-Lieferanten, die gemeinsam ein Ganzes bilden: »Die kollektiven Vorstellungen, Emotionen und Triebe haben ihre erzeugenden Ursachen nicht etwa in gewissen Zuständen des individuellen Bewusstseins, sondern in den Verhältnissen, in denen sich der soziale Organismus als Ganzes befindet.« (Durkheim 1984, 189)

Folgen wir der neueren Übersetzung von Durkheims Regeln, in der nicht mehr nur von »sozialen Tatsachen«, sondern auch von »soziologischen Tatbeständen« die Rede ist, dann gilt: »Ein soziologischer Tatbestand ist also eine Aussage und kein Phänomen; er ist eine Aussage über ein oder mehrere Phänomene.« (König 1978, 157) In diesem Verständnis sind soziologische Tatbestände »als theorieabhängige Aussagen (Sätze) über Sachverhalte zu deuten« (Ritsert 1988, 48); es handelt sich also, vereinfacht gesagt, um Vorstellungen über die soziale Wirklichkeit.34 Wenn Durkheim (1984, 125) darauf drängt, dass wir die »sozialen Erscheinungen in sich selbst betrachten [müssen], losgelöst von den bewussten Subjekten, die sie sich vorstellen«, dann spricht er doch von Vorstellungen (vgl. Durkheim 1984, 95 f.; 1985, 45–83). Diese kollektiven Vorstellungen – als »Dinge der Aussenwelt« zu verstehen, die sich uns wissenschaftlich bloss in ihrer Eigenschaft als »ideelle [. . . ] Momente« anbieten (vgl. Ritsert 1988, 54 ff.) – haben einen Einfluss auf das individuelle Denken (es liesse sich beinahe sagen: das »Sein«) und erschaffen die soziale Wirklichkeit bzw. die Gesellschaft (ana34 | Siehe dazu bereits Fussnote 28. Dabei wird deutlich, dass sich Durkheim, wobei es sich hier um meine eigene Einschätzung handelt, geschickt zwischen den Sphären von Individuum und Gesellschaft bewegt (vgl. auch König 1978, 7 f.); das zweite dabei allerdings als »richtige« soziologische Methode vor das erste hebt.

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log: die »Welt«).35 In Durkheims Logik sind die »Inhalte eines Kollektivbewusstseins [. . . ] von den Inhalten des empirischen Bewusstseins einzelner Subjekte abzugrenzen.« (Ritsert 2000, 51) Das individuelle Bewusstsein geht damit in einer kollektiven Vorstellung von Gesellschaft auf (vgl. König 1978, 69), und die »sozialen Phänomene [sind nur] vermeintlich unser Werk« (Durkheim 1984, 91; Hervorhebung S. B.). Durkheim verwehrt sich deshalb dagegen, »dass wir [zu deren Klärung] nur unser selbst bewusst zu werden brauchen, um zu wissen, was wir in sie hineingelegt und wie wir sie gestaltet haben.«36 Es zeigt sich ein Gegensatz zu jenen Ansätzen, die »Sinngehalte für einen wesentlichen [. . . ] Bestandteil sozialwissenschaftlicher Theorien« halten, wie beispielsweise zu Max Webers Ansatz (Ritsert 1988, 57).37 In Durkheims Abhandlungen zu Soziologie und Philosophie findet sich eine Äusserung, welche die holistische Sicht in Richtung Wechselwirkung aufbricht: »Dass man in gewisser Hinsicht sagen kann, die kollektiven Vorstellungen lägen ausserhalb des individuellen Bewusstseins, gründet darin, dass sie nicht von den isolierten Individuen herrühren, sondern von ihrem Zusammenwirken; was etwas ganz anderes ist.« (Durkheim 1985, 73)

Dieses »in gewisser Hinsicht« deutet darauf hin, dass sich Durkheim darüber selbst nicht ganz sicher zu sein scheint. Die folgende Aussage, »die privaten Gefühle werden erst dann zu sozialen«, wenn sie sich in »Assoziation« entwickeln, vereinigen und damit »etwas anderes« werden (Durkheim 1985, 73; vgl. 1984, 187), zeigt jedoch, wie er trotz dieser »wechselseitigen Veränderung« an dem Primat der Gesellschaft festhält.38 So auch in der anschliessenden Formulierung: 35 | »Das Denken schafft die Realität, und die wichtigste Funktion der kollektiven Vorstellungen liegt darin, jene übergeordnete Realität, die Gesellschaft nämlich, hervorzubringen.« (Durkheim 1987, 139 f.) In den Jahren 1913/14, rund zwanzig Jahre nach Erscheinen seiner Regeln, hält Durkheim eine Vorlesung mit dem Titel »Pragmatismus und Soziologie«, in welcher er seine Position in Abgrenzung zum Pragmatismus nochmals verdeutlicht (vgl. Durkheim 1987, 71, 83, 92 f., 96, 101, 107, 112 f., 143, 160). 36 | Er behält zwar Recht, wenn er einwendet: »Schon wenn es sich nur um unsere privaten Unternehmungen handelt, wissen wir über die verhältnismässig einfachen Motive, die uns leiteten, recht schlecht Bescheid« (Durkheim 1984, 91), verdeutlicht damit jedoch, dass er das bewusste Handeln weitgehend bezweifelt. 37 | Hier tritt eine Abgrenzung erstmals auf, die auf meine spätere Auseinandersetzung mit Sinn und Bedeutung hinleitet, insbesondere auf Gottlob Freges Unterscheidung von Vorstellung und Sinn (siehe Seite 90) und Max Webers sinnhaftes Handeln (siehe Kapitel 5.3). Diese »Vorstellung« von Gesellschaft leitet zudem hin zu einem avisierten »Dazwischen« als Topos (siehe Kapitel 13). 38 | Dies zeigt sich beispielsweise wie folgt: »Die Gesellschaft ist aber etwas anderes; sie ist vor allem eine Gesamtheit von Ideen, Überzeugungen und Gefühlen aller Art, die durch die Individuen Wirklichkeit werden [. . . ], so dass wir sie [die Gesellschaft] zuweilen lieber als materielle Entität verschwinden sähen, als dem

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3.3

Gegenposition zu Durkheim

»Sicher befindet sich in jedem von uns etwas von ihr [d. h. der Resultanten dieser Synthese; S. B.]; keiner jedoch enthält sie ganz.« Durch diese, aus heutiger Sicht banalen Feststellung – das Individuum sei nicht die Gesellschaft – gelangt Durkheim zum Schluss, dass »man das Aggregat in seiner Totalität betrachten« müsse (Durkheim 1985, 73). Daher entwickelt er in seinem Frühwerk eine Methode, die jenen von Georg Simmel und Max Weber, aber auch jener seines Landsmanns und Zeitgenossen Gabriel Tarde diametral entgegen steht.39 Eine neuere und »aufgeräumte« Lesart, die auch das Spätwerk (vor allem zur Religion) berücksichtigt, sieht Durkheim nicht mehr als blossen Realisten, der sich Kategorien wie Handlung und Bedeutung gegenüber verschliesst, wie dies lange Zeit der Fall war. In einer tiefgehenden Analyse zeigte sich, dass sich Durkheim der symbolischen Dimension des sozialen Lebens durchaus bewusst war (vgl. Stedman Jones 2001; Tiryakian 1981). Eine mögliche Interpretation von Durkheims Ansatz könnte lauten, dass er mit seinem Gesellschaftsbegriff (als einer den sozialen Tatbeständen übergeordneten Einheit) einen sinnstiftenden Rahmen definiert hat, ohne sich allerdings die tragende Bedeutung der Bedeutung und ihrer Zuweisung einzugestehen (vgl. Esser 2001, 30 f.; Ritsert 2000, 66).

3.3 Gegenposition zu Durkheim Sowohl Durkheims Ansatz wie auch Georg Simmels formale Soziologie und Max Webers verstehende Soziologie werden »durch das Verhältnis Individuum und Gesellschaft zentral bestimmt« (Richter 1995, 32).40 Im Fall der deutschen Soziologen war aber das Vorgehen ein anderes. Entgegen der französischen Tradition der Totalität einer Ideal abzuschwören, das sie verkörpert.« (Durkheim 1985, 113) Damit wendet er sich gleichzeitig gegen eine »individualistische Soziologie« (vgl. Durkheim 1985, 77). 39 | So beispielsweise die folgende Regel Durkheims: »Die bestimmende Ursache eines soziologischen Tatbestands muss in den sozialen Phänomenen, die ihm zeitlich vorangehen, und nicht in den Zuständen des individuellen Bewusstseins gesucht werden.« Diese Regel wird dann mit dem folgenden Zusatz versehen: »Die Funktion eines sozialen Phänomens muss immer in Beziehung auf einen sozialen Zweck untersucht werden.« (Durkheim 1984, 193) Dieser Zusatz rückt Durkheim nur vermeintlich in Webers Nähe; er kommt vielmehr einer doppelten Versicherung gegen jede individualistische Soziologie gleich. 40 | Für einen direkten Vergleich der Ansätze von Weber und Durkheim vgl. Balog (2001, 31–58). Ein solcher Vergleich zeigt beispielsweise, dass Durkheims Soziologie Konzepte wie Bedeutung und Handlung nicht einfach fehlen, sondern dass sie in anderer Weise kodiert und artikuliert sind (vgl. Berger 1971, 142; Raub/Voss 1981, 36). René König (1978, 325) hat darauf aufmerksam gemacht, dass man aus heutiger Sicht beide Soziologen »Deparsonsieren« müsse, d. h. Talcott Parsons’ Tendenz, sie zu enthistorisieren, sei entgegenzuwirken.

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»neuen« Struktur, hat die deutsche Soziologietradition einen anderen Ausgangspunkt gewählt, um der Disziplin eine Identität zuzuweisen: Sie konzentrierte ihre Betrachtung auf die dynamische Herstellung oder Hervorbringung der Sozialität. Gesellschaft wird dann zu einem »abwesenden Konzept« (vgl. Frisby/Sayer 1986). Die Ursache dafür ist eine historische und gründet in der Entgegensetzung und Abgrenzung des Gesellschaftsbegriffs gegenüber jenem des Staats. Im deutschen Sprachraum wurde bis Ende des 18. Jahrhunderts nicht zwischen den Sphären des Staats und der Gesellschaft unterschieden (vgl. Lichtblau 2005, 70; Wagner 2000, 145). Lorenz von Stein und Robert von Mohl waren seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestrebt, »dass der Begriff der ›Gesellschaft‹ [. . . ] zum Schlüsselbegriff der modernen Gesellschafts- und Staatswissenschaften avanciert« (Lichtblau 2005, 75). Die begriffliche Trennung von »Gesellschaft« und »Staat« führte jedoch zu Missverständnissen und zu grossem akademischem Widerstand gegenüber der Gesellschaftslehre. Dieser Widerstand kam unter anderem von Wilhelm Dilthey, welcher die »Trennung von Staat und Gesellschaft grundsätzlich in Frage« stellte (Lichtblau 2005, 77; vgl. Köhnke 1996, 382 ff., 390 f.). Eine weitere mögliche Erklärung für den Konflikt liegt darin, »dass die Gesellschaft sich nicht in vorgegebene Staatsgrenzen einbinden lässt« (Lichtblau 2005, 76) und eine politische Vereinnahmung wie Instrumentalisierung wahrscheinlich schien.41 Es galt deshalb, sich von der ideologischen Aufladung zu distanzieren, den Begriff der »Gesellschaft« nicht in Anspruch zu nehmen und durch denjenigen der »Vergesellschaftung« zu ersetzen. Schliesslich kam hinzu, dass die deutsche Tradition im 19. Jahrhundert zu einer generellen »Abwehr des ursprünglich von England und Frankreich ausgehenden modernen Gesellschaftsverständnisses« ansetzte (Lichtblau 2005, 70). Aus diesen Gründen sahen sich Georg Simmel und Max Weber um 1900 gezwungen, »die Soziologie in Deutschland unter weitgehendem Verzicht auf den Gesellschaftsbegriff noch einmal völlig neu zu begründen« (Lichtblau 2005, 75). Während sich Simmel und Weber der Kritik an der Gesellschaftslehre beugten, »konnte Ferdinand Tönnies die damit verbundene Aufregung jedoch nicht nachvollziehen« (Lichtblau 2005, 78) und konzipierte seinen dissidenten Ansatz von »Gemeinschaft und Gesellschaft« (siehe Kapitel 10.2). Obschon sich unterstellen liesse, dass Simmel und Weber bloss in Abwehr der »Krise des Gesellschaftsbegriffs« reagierten (Lichtblau 2005, 80), ist es wahrscheinlicher, dass dieses Vorgehen ein in höchstem Masse bewusstes war: »Simmel weigerte sich ausdrücklich, in der Gesellschaft etwas 41 | Aus der Kritik am Gesellschaftsbegriff formuliert Tenbruck (1989, 205) hinsichtlich dieser Veränderung: »So begann die Gesellschaft, die durch Ausgliederung aus dem ›verfassten‹ Staat entstanden war, ihrerseits den Staat zu bestimmen.«

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3.3

Gegenposition zu Durkheim

anderes zu sehen als eine Vielzahl verschiedener Vergesellschaftungen. Das war auch Max Webers Auffassung.« (Tenbruck 1979, 420; vgl. 1989, 192; Tyrell 1994, 408 f.) Beide sahen in »Gesellschaft« keine letzte Entität, die nicht mehr zu überschreiten wäre. Vielmehr zeigt sich bei beiden die Einsicht, dass sich soziale Tatsachen nicht aus sich selbst heraus erschliessen, sondern kontinuierlich von Individuen gedeutet werden. Darin manifestiert sich die Auffassung,42 »dass wir nicht darauf angewiesen sind, durch den Aufweis eines eigenen, ›Gesellschaft‹ genannten Gegenstandes die Berechtigung von Soziologie als Wissenschaft darzutun.« (Büschges 2002, 197) Kurz: Durkheim beschäftigte sich mit der »Vorstellung« der Gesellschaft und damit eines selbstkonstituierenden wie aus sich selbst zu erklärenden, mehr oder minder statischen, sozialen Ganzen; Simmel und Weber ging es um die dynamische Konstitution des Sozialen und damit um das soziale Wirken bzw. Handeln. Dieses und nicht etwa ein abstrakter Gegenstand bestimmte die Soziologie bei ihrer Begründung im deutschsprachigen Raum. Während Simmels Vorgehen an anderer Stelle behandelt wird, lässt sich für Max Weber festhalten, dass dieser weitgehend Simmels Empfehlung gefolgt ist, das Kollektivsubjekt Gesellschaft zu vermeiden. Mit anderen Worten: Er »hat den Gesellschaftsbegriff [. . . ], vom ›sozialen Handeln‹ ausgehend, als soziologischen Grundbegriff nicht einmal mehr dementiert.« (Tyrell 1994, 402) Der Ersatzbegriff »Vergesellschaftung« ist bei Weber enger gefasst und verweist – in Anlehnung an die Begrifflichkeit von Tönnies – auf »bestimmte Erscheinungsformen einer Rationalisierung und Versachlichung des sozialen Lebens« (Lichtblau 2005, 83). Simmel und Weber können keinesfalls als Gesellschaftstheoretiker gesehen werden (vgl. Lichtblau 2005, 84), vielmehr haben sie Ansätze hinterlassen, welche für die soziologische Theorie von entscheidendem Nutzen sind. Während bei Durkheim das Individuum »Produkt gesellschaftlicher Prozesse« bleibt, haben Simmel und Weber den Versuch unternommen, »die Relation von Individuum und Gesellschaft theoretisch ausgewogen darzustellen.« (Di Fabio 1991, 63, vgl. 69 f.) Der weitgehende Ausschluss des Gesellschaftsbegriffs darf deshalb als Vorteil gewertet werden, weil damit »Gesellschaft«, so beispielsweise bei Weber, nicht mehr »als Oppositionsbegriff gegen den des Individuums« vorkommt (Tyrell 1994, 390). Das heisst:

42 | Hierzu lässt sich sagen: »nicht zufällig auch haben Simmel und Max Weber einen solchen schematisch reifizierten Gesellschaftsbegriff [wie er sich bei Durkheim findet; S. B.] abgelehnt, weil sie die verschiedenen Dimensionen der Vergesellschaftung, und folglich die Überschneidungen und Verwerfungen sozialer Gebilde, die nur in Sonderfällen eine Zerlegung in getrennte Einheiten erlaubt, klar vor Augen hielten.« (Tenbruck 1979, 416)

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3

Gesellschaft

»Der Dualismus von Individuum und Gesellschaft spielt in der Weberschen Soziologie keine Rolle; das ›soziale Handeln‹ fungiert hier als Grundbegriff, womit dann auch ›das Individuum‹ aus der soziologischen ›Kernzone‹ herausgerückt ist.« (Tyrell 1994, 391 f.)

Dabei wird »das Soziale« nicht mit einem makrotheoretischen oder strukturellen Verständnis von Gesellschaft gleichgesetzt. Das war bei Durkheim der Fall, dessen Verständnis geradezu nach der Absetzung der Gesellschaft vom Individuum verlangte. Simmel und Weber gingen jedoch davon aus, dass sich fern dieser gedanklich verfestigten Struktur »tieferliegende Formgleichheiten« finden liessen (Tyrell 1994, 395). Bei Simmel wurde Gesellschaft als »soziale Wechselwirkung« verstanden (vgl. Tyrell 1994, 401 f.), die das Individuum dynamisch »einschloss« und damit zugleich strukturell »herausrückte«.43 Die Beziehung wird zu einer selbstverständlichen. Gerade darauf will die vorliegende Arbeit aufmerksam machen und antworten. Im Gegensatz zu Durkheims Ansatz sind die Theorien von Simmel und Weber deshalb anschlussfähiger, nicht bloss im Sinne einer kritischen, sondern auch einer weiterführenden Auseinandersetzung. Wie sich jedoch durch eine genauere Betrachtung von Durkheims Ansatz zeigt, finden sich auch dort vor allem »Vorstellungen«, auch wenn diese verborgen bleiben, um das Primat der Gesellschaft nicht zu gefährden. Wie sich zeigen wird, kann gerade dieses Primat für eine Paradoxie verantwortlich gemacht werden. Durch ihren Verzicht gelingt es Simmel und Weber, auf diese Paradoxie der Soziologie einzutreten, darauf, »dass der Soziologe als Erkenntnissubjekt, geprägt von der sozialen Umwelt, seinem Erkenntnisobjekt, der Gesellschaft, selbst angehört, d. h. die Wissenschaft Soziologie in besonderer Weise Teil ihres eigenen Forschungsgegenstandes ist.« (Hillmann 1994, 849)

Eine Konzeption, die von Vergesellschaftung ausgeht, hat hinsichtlich einer notwendigen Selbstbeschreibung einen besseren Zugang als jene, die über soziale Tatbestände und über Gesellschaft verfährt. Dies liegt daran, dass das Individuum in Webers Weiterentwicklung »herausgerückt« ist und daher gilt: »das Insgesamt der (aller) ›sozialen Beziehungen‹ kann als solches nicht selbst ›soziale Beziehung‹ sein: es kommt als orientierende ›Adresse‹ oder Bezugspunkt von Handlungssinn eben nicht in Frage.« (Tyrell 1994, 403) Diese Betrachtungsweise dürfte für eine wissenschaftliche Beschreibung mehr Erfolg zeigen und führt zu folgender These: 43 | Ungleich Weber, der sie nicht als Oppositionsbegriffe verwendet, setzt Simmel beide Begriffe explizit zusammen, um daraus neue Einsichten zu gewinnen (siehe Kapitel 9.1).

46

3.3

Gegenposition zu Durkheim

These 3–B Das (dichotome) Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, welches von den genannten Autoren je unterschiedlich angegangen wird, ist Ursache einer (ersten) Paradoxie: Die Soziologie kann nicht gleichzeitig Bestandteil der Gesellschaft sein und diese »von aussen« beschreiben.

Für diese Paradoxie zeichnet vor allem die Herangehensweise an eine Dichotomie verantwortlich, die sich schon an der Entgegensetzung von Individualismus und Holismus im Gesellschaftsbegriff, d. h. dem hauptsächlichen Konzept des Sozialen, gezeigt hat. Als Antwort darauf wurde deshalb auch mehrfach ein »End of the Social« proklamiert. Seit der Gründung der Soziologie wurde ihr Gegenstandsbereich und dessen Wesenheit hinterfragt (vgl. Wernick 2000, 62). Während für Comte und Durkheim das »Ende des Sozialen« in direktem Zusammenhang stand mit der »anxiety about a primal social dissolution« (Wernick 2000, 69), wurde es später (bei Jean Baudrillard beispielsweise) mit einem Ende/Verschwinden des generellen Umgangs mit dem Konzept des Sozialen verbunden: »where the ›social‹ is given a ›sociological‹ death.« (Wernick 2000, 67; vgl. Zima 2000, 50 f.) Schliesslich wird sogar vom »Fall einer Illusion« gesprochen, weil es dieses Soziale vielleicht nie gegeben hat (Wernick 2000, 69; vgl. Castoriadis 1997; Kamper 1986).44 Weniger drastisch liest sich die folgende, wie44 | So wie Jean-Luc Nancy (1988, 26 f., vgl. 31, 63) Gemeinschaft (und damit die Idee eines literarischen Kommunismus; vgl. Nancy 1988, 11 f., 144 ff.) als undarstellbar oder im französischen Original als »entwerkt« dargestellt hat, mag es auch Gesellschaft ergehen. Gesellschaft scheint heute als Antwort auf und Ursache der Komplexität genauso undarstellbar. Zudem mag es auch Gemeinschaft vielleicht nie gegeben haben; sie habe zumindest »nicht so stattgefunden, wie wir sie uns vorstellen« (Nancy 1988, 30). Gemeinschaft kann »nicht dem Bereich des Werkes angehören. Man kann sie nicht herstellen, man erfährt sie [. . . ] [bloss; S. B.] als Erfahrung der Endlichkeit«, weil ansonsten »das gemeinsame Sein als solches (in Orten, Personen, Gesellschaftsordnungen, Diskursen, Institutionen, Symbolen, kurz: in Subjekten) objektivierbar und herstellbar« sein müsste (Nancy 1988, 69). Folglich garantiert Gemeinschaft »die Unmöglichkeit eines gemeinschaftlichen Seins als Subjekt. Die Gemeinschaft [. . . ] markiert in gewisser Weise die Unmöglichkeit der Gemeinschaft« (Nancy 1988, 38). Zu ihrer Wesenheit lässt sich anmerken: »Es gibt die Gemeinschaft, deren Mit-Teilung und die Darbietung dieser Grenze.« (Nancy 1988, 86) Zu jener des »Mit-Teilen«: »Das Mitteilen teilt mit und teilt sich mit: es ist gemeinsam sein. Man kann es nicht erzählen, man kann sein Wesen nicht bestimmen« (Nancy 1988, 137). Das führt schliesslich zur »Literatur«, d. h. zur »unendlich wiederholte[n] und unendlich in der Schwebe gehaltene[n] Geste, die Grenze zu berühren, auf sie zu deuten und sie einzuschreiben, ohne sie jedoch zu überschreiten« (Nancy 1988, 142), und zu der folgenden, zentralen Aussage: »Wenn das Werk dergestalt der Kommunikation dargeboten wird, dann geht es keineswegs in einen gemeinsamen Raum über. Ich betone noch einmal: einzig die Grenze ist gemeinsam und die Grenze ist kein Ort, sondern die Mit-Teilung der Orte, ihre Streuung im Raum. Es gibt keinen gemeinsamen Ort. Das Werk kann zwar als Werk ein gemeinsames Werk sein [. . . ], aber wenn es in seiner Entwerkung dargeboten wird, dann geht es nicht in

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3

Gesellschaft

derum auf Gesellschaft bezogene Frage: »If there was neither ›word‹ nor ›thought‹ in the proper form, could it be that ›society‹ did not really exist before sociology?« (Wagner 2000, 148) Obgleich es mir fern läge, in der vorliegenden Arbeit ein »Ende« zu proklamieren, da das angestrebte »Dazwischen« ja gerade das Soziale per se wäre, interessiert die gestellte Frage. Als Antwort auf die These muss deshalb vorläufig angenommen werden, dass diese »zwei Soziologien«45 in ihrer Entgegensetzung (durch die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft) unbeabsichtigt zu einer Paradoxie geführt haben (zur Logik dieses Ausgangs siehe Seite 190).

3.4 Paradoxie der Soziologie Was ist die (zweite) Paradoxie der Soziologie? Eine mögliche Antwort könnte lauten: »Die Soziologie beginnt mit einer Paradoxie: Ihr Gegenstand – die Gesellschaft – ist beständig mit dem Versuch seiner eigenen Fundierung beschäftigt und muss doch auch immer wieder daran scheitern.«46 Damit rückt die paradoxe wie problematische Konstruktion der Gesellschaft in den Mittelpunkt. Seit Emile Durkheim »auf Zusammenhänge zwischen Vorstellung, Bewusstsein und Denken einerseits und Gesellschaft andererseits hingewiesen« hatte (Steinbacher 1971, 53), wird der künstliche Charakter dieser »Konstruktion« wenig hinterfragt (siehe die Ausführungen zu eine gemeinsame Substanz ein, es zirkuliert nicht innerhalb eines gemeinsamen Austausches.« (Nancy 1988, 156) Darin scheint sich vieles zu wiederholen, was oben zur Gesellschaft gesagt wurde, und einiges ist vorweggenommen, das weiterhin zur Relation von Individuum und Gesellschaft sowie zu einem möglichen Dazwischen gesagt werden wird (für den Hinweis auf Nancys Buch bin ich Till Heilmann zu Dank verpflichtet). 45 | Als »zwei Soziologien« oder »two sociologies« (Dawe 1970, 214) wird jene Erscheinung bezeichnet, in der die Soziologie bereits bei ihrer Gründung in zwei Lager zerfiel und sich in diesen parallel weiterentwickelte: ein Lager, das sein Augenmerk auf die soziale Gesamtstruktur und demzufolge auf die Gesellschaft legte (repräsentiert durch Emile Durkheim) und eines, das sich den sozial eingebetteten Individuen und dem Handeln sozialer Akteuren zuwandte (repräsentiert durch Georg Simmel und Max Weber). Während das erste Lager der holistischen, sozialen Tatsachen lange Zeit die Disziplin dominierte, begann seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine allmähliche Verschiebung hin zur Handlungstheorie und zur sozialen wie kulturellen Wechselwirkung (vgl. Sztompka 1999, 1 ff.). 46 | Die Quellenlage für eine Beschäftigung mit dieser Paradoxie ist schwierig. Das Zitat entstammt dem Profil des Instituts für Soziologie an der Universität Basel (http://soziologie.unibas.ch/index.php?id=54, 11. Mai 2010), welches unter anderem die Beschäftigung mit der »Unmöglichkeit von Gesellschaft« enthält. Dort wird jedoch ein anderer Lösungsansatz verfolgt, massgeblich derjenige über »poststrukturalistische Soziologien« (vgl. Stäheli 2000a). Ein anderer Ansatz, der Ähnlichkeit mit einer Annäherung über ein »Dazwischen« hat, findet sich bei Spreen (2004). Für einen ähnlichen Zugang über Selbstbeschreibung vgl. Wagner (2005, 44 f.).

48

3.4

Paradoxie der Soziologie

Kognition und Sprache auf Seite 116). Der Einfluss des »Zusammenleben[s] vom Ganzen her und auf das Ganze hin« kann auch als soziales Leitbild bezeichnet werden und befindet sich im »kulturellen Traditionszusammenhang«, hat sich also von der Natur entfernt. Das Endprodukt Gesellschaft wird dann als ein kulturelles wie wissenschaftliches Konstrukt gesehen, eben weil die sozialen Leitbilder, die es konstituieren, »durch ihre Künstlichkeit auffallen«, d. h. nicht natürlich oder automatisch weitergereicht werden (Steinbacher 1971, 54 f.). Da es zunehmend problematisch wird, vom Primat einer historisch relativ spät konstruierten Einheit auszugehen, liesse sich – mit Bezug auf die Selbstbeschreibung – von einer »diskursiven Konstruktion der Gesellschaft« sprechen. Eine solche Konstruktion besagt: »we perform the social by defining it« (Bowers/Iwi 1993, 364); wir »vollziehen« Gesellschaft, indem wir sie »festlegen« und dadurch gleichsam konstruieren wie konstituieren. Gesellschaft wird somit soziologisch bestimmt, bevor sie vollzogen wird und damit, so die Paradoxie, überhaupt existiert – oder besser: vorzufinden ist. Mit anderen Worten: »Die Soziologie findet das, was sie an sozialer Realität vor sich sieht und zu beschreiben versucht, immer schon von anderen Beschreibungen umstellt. Sie bezieht sich auf eine immer schon beschriebene Realität« (Kieserling 2000, 65). Die Gesellschaftstheorie als wissenschaftliche Disziplin ist somit ein Konstrukt, das sich mit einem selbst erstellten Konstrukt (dem Begriff Gesellschaft) beschäftigt, das wiederum als Konstrukt (als Objekt Gesellschaft) in der alltäglichen Praxis entsteht. Mit anderen Worten: »Die Wissenschaft muss ihre Konstruktion auf die Rekonstruktion jener Konstruktion richten, die sich als Gesellschaft realiter in den Handlungen und Kommunikationen der Gesellschaftsmitglieder gebildet hat. [. . . ] Die Theorie der Gesellschaft ist als Rekonstruktion eine Rekonstruktion der Konstruktion aus den Bedingungen, unter denen letztere sich hat bilden können.« (Dux 2003, 241)

Die Differenz zwischen der »realen« und der »wissenschaftlichen« Gesellschaft, vor allem aber das Bewusstsein über diese Differenz werden damit konstitutiv für die soziologische Gesellschaftstheorie. Deshalb muss sie angeben können, wie sich diese Beschreibungen – die primäre Selbstbeschreibung und die soziologische Beschreibung dieser Selbstbeschreibung als Rekonstruktion – zueinander verhalten.47 Wäh47 | Darin findet sich zugleich die Legitimationsnot der Soziologie, weil sie auf anderen Beschreibungen aufbauen muss und nur problembehaftet einen eigenen, einzelwissenschaftlichen Charakter und notwendige, spezifisch soziologische Begriffe entwickeln kann (vgl. Kieserling 2000, 69 f.). In diesem Problembereich widerspiegelt sich ausserdem Durkheims Begehren, sich von Psychologie und Philosophie abzugrenzen.

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3

Gesellschaft

rend es schon den primären Beschreibungen an »Unabhängigkeit vom Gegenstand der Beschreibung« fehlt (Kieserling 2000, 65), trifft dies auch auf die soziologische Beschreibung zu; schliesslich ist auch die Soziologie Teil der und nimmt Teil an den primären Selbstbeschreibungen (vgl. Kieserling 2000, 67). Zudem verändert, d. h. konstruiert und re-konstruiert, die Beschreibung fortlaufend den Gegenstand, den sie beschreibt. Es handelt sich bei der vorliegenden Paradoxie jedoch nicht um eine »soziale Konstruktion der Wirklichkeit« (Berger/Luckmann 1966), sondern um die »soziale Konstruktion der Gesellschaft« durch jedermann (vgl. Bowers/Iwi 1993), vor allem aber durch die Soziologie. Die Tatsache, dass die Soziologie selbst Bestandteil ihres Gegenstands ist, würde nicht so schwer wiegen, wenn Einigkeit über diesen Gegenstand herrschte. Der Blick auf den Gesellschaftsbegriff wie auf die dagegen geäusserte Kritik legt dies nahe. Die Paradoxie beinhaltet zudem den starken Bezug unserer Disziplin auf diesen Begriff. Zuweilen könnte man vermuten, dass seine Destruktion die Soziologie als Ganzes angreifen könnte.48 In jedem Fall muss »Gesellschaft« als ein gesellschaftliches Konstrukt verstanden werden. Folgende Passage beschreibt eine mögliche Ursache der Paradoxie: »Die Strategie, den Erkenntnisprozess ganz und gar aus der Position des erkennenden Subjekts zu begründen, bewirkt, dass [Max] Weber dem Betrachter/Forscher auch in den Sozialwissenschaften die Rolle zuschreibt, das sozialwissenschaftliche Objekt allererst nach seinen eigenen Sinnbezügen zu gestalten. Das ist exakt die These, die Weber seinen Lesern einzuhämmern sucht: Es sind erst wir, wir die Betrachter/Forscher, die den Gegenstand nach dem, was für uns Interesse und Bedeutung erlangt, formen. Es gibt, erklärt Weber explizit, keinerlei in den Dingen selbst liegendes Merkmal, nach denen der Gegenstand für den sozialwissenschaftlichen Betrachter/Forscher zu formen wäre« (Dux 1994, 666).

Max Weber bringt zum Ausdruck, dass »die Frage, was zum Gegenstand der gattungsmässigen Begriffsbildung gemacht werden soll« nicht voraussetzungslos sei, sondern »im Hinblick auf die Bedeutung entschieden« werde, die einzelne Bestandteile unzähliger Wahrnehmungen für die Kultur (und das heisst letztlich: für die sie konstituierenden wie zugleich von ihr betroffenen Individuen) besitzen. Denn, so fährt Weber (1988c, 177) fort, »der Versuch eines ernstlich ›voraussetzungslosen‹ Erkennens der Wirklichkeit« werde zu keinem sinnvollen 48 | Der Umgang fachfremder Personen mit dem Grundbegriff Gesellschaft bewegt sich zwischen Kritik (siehe Peter Sloterdijk in Kapitel 10.3) und wohlwollender Hilfeleistung (vgl. Lüdemann 2004). Darauf, dass bei solcher Hilfeleistung wichtige fachinterne Nuancen nicht beachtet werden, haben beispielsweise Steinmann (2005, 5 f.) und Merz-Benz/Wagner (2007, 89) aufmerksam gemacht.

50

3.4

Paradoxie der Soziologie

Gesamtresultat führen.49 Eng damit verbunden ist die so genannte »doppelte Hermeneutik« (vgl. Giddens 1984). Sie besagt, dass sich die Sozialwissenschaften dadurch von den Naturwissenschaften unterscheiden, dass sie einen hermeneutischen »Gegenstand« interpretieren, welcher sich bereits selbst interpretiert (vgl. Kurtz 2007). Eine mögliche Antwort besteht darin, »Gesellschaft« als Prozess zu lesen (vgl. Ritsert 2000, 123). Dann wären die laufenden Prozesse der Beschreibung und Interpretation die logische Folge der vorhergehenden Wechselwirkungen: »fortwährend knüpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fliessen und Pulsieren, das die Individuen verkettet« (Simmel 1992b, 33). Georg Simmel war jedoch nicht der einzige, der darauf aufmerksam machte, »dass gesellschaftliches Existieren immer etwas Prozessuales darstellt«, d. h. Bewegung und Verlauf einschliesst (Steinbacher 1971, 68), und sich daher auch seine Beschreibung mit dem Prozessualen befassen muss. Dies lässt sich auch auf zentrale Aspekte der vorliegenden Arbeit anwenden: »Aller Sinn, jedwelche Bedeutung wird vermittelt über gesellschaftliche Prozesse.« (Berger 1971, 163) Gesellschaft als Prozess, das heisst, dass Strukturmerkmale sich in einem Prozess von fortlaufenden Wechselwirkungen entwickelt haben – genau so wie sich die entsprechenden Beschreibungen in einem fortlaufenden Prozess der Beschreibung entwickeln. Eine mögliche Nähe zu Gesellschaft »als System« zeigt sich, wenn Systeme als »Netzwerke von Prozessen [verstanden werden; S. B.], die ihre Bestandteile erzeugen, die das Netzwerk erzeugen.« (Dux 2003, 256) Damit zeigt sich vielmehr, dass wir den Systembegriff vernachlässigen können. Zum einen ist der Erklärungsgehalt des übergeordneten Systems im Vergleich zu den Prozessen geringer, zum anderen steht System der Struktur näher als dem Prozess. Im ersten Fall gilt: »der Formbildungsprozess der Gesellschaft vollzieht sich im Innern der Gesellschaft« (Dux 2003, 256); im zweiten Fall hilft die Etymologie des Begriffs, gemäss der das aus dem lateinischen entlehnte Wort »Zusammenstellung« bedeutet (Kluge 2002, 901). Als System interessiert allerdings meist das Ganze des entstandenen Produkts und weniger, wie dieses auf- oder zusammengestellt wurde (vgl. Grimm/Grimm 1942b, 1433 f.). Gesellschaft als Prozess – d. h. was in anderer Konzeption als System bezeichnet wird – zeichnet darüber hinaus aus, dass ihre Organisation vor allem »ein erst medial ermöglichtes Konstrukt« ist (Dux 2003, 256), und gerade auf dieses »Mediale« des Konstrukts wird zurückzukommen sein (siehe Kapitel 13).

49 | Dabei muss nochmals betont werden, dass Weber Gesellschaft nicht im verbreiteten Sinne als Grundbegriff kennt (vgl. Lichtblau 2005, 84).

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3

Gesellschaft

Paradoxie der Soziologie meint, dass die Disziplin den Gegenstand, den sie untersucht, die Gesellschaft, zuerst selbst erschafft. Die Soziologie wäre demzufolge »ständig an der Produktion von sozialem Sinn beteiligt, indem sie Bilder und Vorstellungen von ›Gesellschaft‹ formt und in Umlauf bringt.« (Steinmann 2005, 2) Der Soziologie des 20. Jahrhunderts, so lässt sich im Anschluss an die Selbstbeschreibung formulieren, ist »keine Gesellschaftstheorie gelungen, denn dazu hätte sie ihre Logik, ihren Kausalbegriff, ihre Methodologie auf Autologie, also auf Selbstimplikation einstellen müssen.« Dies hätte von ihr verlangt, »sich selbst in ihren Gegenstand einzubringen« und »alle Festpunkte, Geschichte und Werte eingeschlossen, aufzugeben.« (Luhmann 1998, 1132) Selbst wenn dies nach Niklas Luhmanns Ansicht bislang nicht gelungen ist, liegt die beste Annäherung darin, »die Theoriemittel [und dies meint zuallererst Begriffe; S. B.] möglichst deutlich zu explizieren und der Beobachtung auszusetzen.« (Luhmann 1998, 1133) Dabei verwendet die Soziologie mit »Gesellschaft« einen Begriff, der nicht nur problematisch ist, sondern zunehmend inhaltsleer wird (vgl. Wagner 2000, 156 f.). Erneut stellt sich die Frage, die bereits in Friedrich Tenbrucks Kritik am soziologischen Grundbegriff aufschien: Macht ein Gesellschaftsbegriff überhaupt (noch) Sinn? Vorläufig lässt sich darauf antworten: Ein Begriff der Gesellschaft macht hinsichtlich der bisherigen Darlegung – und der generellen »Unmöglichkeit einer Totalisierung des Gegenstandes« (Steinmann 2005, 8) in der Beschreibung – kaum mehr Sinn, weshalb ich eher von einem Konzept von Gesellschaft ausgehen will.50 Konzept weist stärker in Richtung der »Hervorbringung« von Gesellschaft im Sinne Simmels und Webers, als dies ein Begriff leisten kann; letzterer wird eher auf Seiten Durkheims verortet. Der Soziologie wurde aus den eigenen Reihen bereits vorgeworfen, sie wolle sich eventuell »davonstehlen aus einem Gegenstand, der sich von der Art und Weise, wie er beschrieben wird, nicht mehr unterscheiden lässt und daher gar nicht mehr erfassen lässt«. Die Ursache dafür sei »die Dekonstruktion der Unterscheidung zwischen der Gesellschaft einerseits und ihrer Beschreibung andererseits.« (Baecker 1996, 13) 50 | Während »Begriff« auf eine Vorstellung verweist, welche die Eigenschaft des bezeichneten »Gegenstands« beschreibt (d. h. meinem Verständnis von Freges »Sinn« entspricht, nicht zwangsläufig jedoch seinem eigenen; siehe Fussnote 10 auf Seite 90), meint »Konzept« eine übergelagerte, abstrakte Beschreibung des bereits abstrahierten Gegenstands (seines inhärenten Bauplans), welche nicht bloss auf Eigenschaften aufbaut (und m. E. Freges »Bedeutung« entspricht; vgl. Kauppi 1971). In »Konzept« (wie auch in »Konzeption«) scheint zudem ein stärkerer Bezug zu »Konstrukt« (»Konstruktion«) enthalten zu sein als in »Begriff«. Während ein Konzept von Gesellschaft im internationalen Wissenschaftsbetrieb noch immer von Bedeutung zu sein scheint (vgl. Outhwaite 2006, 125 f.), darf Talcott Parsons (2003) wohl als sein prominentester Vertreter angesehen werden.

52

3.5

Wieviel Sinn macht der Begriff?

Die geschilderte Paradoxie mündet in eine gewisse Unkenntlichkeit und führt zudem zur Überlegung, ob die Soziologie ohne Objekt auszukommen hat (vgl. Latour 2001a; Touraine 1998, 132; Wagner 2000). Obschon ich vorläufig dafür plädiere, dass Gesellschaft, zumindest als Konzept und massgeblich als Negativfolie verwendet, weiterhin Sinn macht, ergeben sich daraus Überlegungen zum verbleibenden Objekt der Soziologie. Die Hinwendung zu einem Konzept von Gesellschaft darf nicht so verstanden werden, als sollte der Gegenstand, das Objekt Gesellschaft aufgegeben werden. Vielmehr soll dieser Gegenstand gerade in der erwähnten Funktion fruchtbar genutzt werden. Dabei stellt sich »die Frage nach der soziologischen Repräsentation und Repräsentierbarkeit ihres Gegenstandes. Repräsentation ist dann zu denken als konstitutive rhetorische Herstellung des Gegenstandes. Die Frage ist hier: Wie schafft sich die Soziologie ihren Gegenstand?« (Steinmann 2005, 7)

Die vorgeschlagenen Elemente »Prozess« und »Konzept« sollen dazu dienen, »to characterize the broadest possible space of a sociology, i. e., to offer a conceptualization that allows for the possibility that ›society‹ exists but does not presuppose its existence.« (Wagner 2000, 153) Wenn dadurch erste Ansätze sichtbar werden, wie die Paradoxie überwunden werden kann, soll uns dies nicht darüber hinweg täuschen: Weder die Frage nach dem, was Gesellschaft ist, noch jene danach, wie Gesellschaft sowie ihr Begriff konstituiert werden, konnten hier auch nur annähernd beantwortet werden. Es ist zudem fraglich, ob solche Antworten überhaupt gefunden werden können (vgl. Boudon 1972, 111). Solange dies nicht der Fall ist, sind zumindest Annäherungen erstrebenswert.

3.5 Wieviel Sinn macht der Begriff? Zum Abschluss dieses Kapitels soll eine eigene, vorläufige Definition von Gesellschaft versucht werden. Sie lautet: Definition 3–1 Gesellschaft, im aktuellen Sinn des vieldeutigen Wortes, umfasst die Gesamtheit der Sozialstrukturen und Kulturfelder, denen ein Individuum zugehört und in denen Individuen zusammengefügt sind, und das soziale Handeln, das ein Individuum betrifft – genauer: für dieses Sinn und Bedeutung hat – sowie das eigene soziale Handeln dieses Individuums. Über die genaue sowie allgemeine Bedeutung des Begriffs besteht in der Soziologie keine Einigkeit, weshalb die Bezeichnung »Konzept von Gesellschaft« vorgezogen wird.

53

3

Gesellschaft

Diese integrierte Definition verbindet die strukturellen und handlungstheoretischen Aspekte der zwei Soziologiestränge (»Holismus« und »Individualismus«).51 Sie will zudem erneut auf das Definitionsproblem als solches aufmerksam machen und verstärkt einer Selbstbeschreibung zudienen. Folge der Unbestimmtheit wie der Selbstbeschreibung ist, »dass eine nähere Bestimmung dessen, was mit Gesellschaft jeweils gemeint ist, nur im Lichte der obwaltenden theoretischen Perspektive und ihrer Grundannahmen geschehen kann.« (Büschges 2002, 196) Es muss also situativ bestimmt werden, welcher Gesellschaftsbegriff gerade Sinn macht und dieser muss dann vielfach noch auf die aktuellen Bedürfnisse zugeschnitten werden. Dies macht die Soziologie zu einer Disziplin ohne Systematik, mit einem Grundbegriff ohne spezifische Wesenheit. Es muss nicht sonderlich betont werden, welche Auswirkung dies auf die Soziologie hat (vgl. Boudon 1972). Die vorliegende Arbeit will erste Strategien angeben, wie dieser begegnet werden kann. Deshalb wendet sich die Aufmerksamkeit nun der anderen Seite des Verhältnisses zu.

51 | Sozialstruktur bezeichnet in der vorliegenden Arbeit nicht die ansonsten unter diesem Begriff eng definierte, systematische Gruppierung gesellschaftlicher Eigenschaften, wie beispielsweise der sozialen Schichtung (vgl. Hillmann 1994, 814; Klein 2005). Dieser engen Bestimmung wird eine weite Definition vorgezogen, wie beispielsweise: »Die Sozialstruktur bezeichnet den durch das Netzwerk der Beziehungen zwischen den sozialen Elementen vermittelten bzw. bewirkten Zusammenhang des gesellschaftlichen Ganzen.« (Mayntz 1975, 2415; vgl. Hillmann 1994, 815) Der Begriff bezeichnet dann vielmehr alle strukturellen Komponenten des menschlichen Zusammenlebens. – Das Kulturfeld – in eigenem Verständnis aus einem spezifischen Kulturbegriff und einer soziologischen Feldtheorie zusammengesetzt – meint eine Konfiguration, »die klar und trennscharf zu gliedern und in ihrer Beschaffenheit [d. h. ihrer Dimensionen] zu definieren ist«, die »keine Entität beschreibt, sondern vielmehr eine Wesensart der Wahrnehmung, eine neue Lesart der sozialen und kulturellen Zusammenhänge« (wie skizziert in Bertschi 2002, 84 f.). Als möglicher Ersatz dem Gesellschaftsbegriff entgegen gesetzt, dient dieser Ansatz nun vielmehr dazu, den für heutige Verhältnisse unzureichenden Begriff der »Gruppe« zu umgehen: »Die ›Gruppe‹ ist das Element der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist ein Inbegriff von Gruppen, die zueinander in Wechselbeziehung stehen.« (Oppenheimer in Oppenheimer/Salomon 1926a, 208; vgl. Geiger 1927; Tyrell 1983) – Das eigene Handeln ist zusätzlich zu dem betreffenden Handeln genannt, um den Aspekt der Wechselwirkung als Konstituens der Vergesellschaftung deutlich hervorzuheben (vgl. Ritsert 1988, 12). – Die Begründung im letzten Satz erinnert an Niklas Luhmanns Definition von Gesellschaft (siehe Seite 22), der Einschub im ersten Satz hingegen an Max Webers Definition von Soziologie (siehe Seite 96). Beide Aspekte verweisen auf dasselbe Problem der Unkenntlichkeit.

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4 Individuum »Nimmt man die Rede vom Tod des Subjekts nicht als modische Floskel, sondern als Symptom, das etwas über unsere Zeit aussagt, dann löst sie Beunruhigung aus. Der Rahmen, in dem die Moderne seit Descartes ein Bild von sich entworfen hat, scheint ins Wanken geraten, ohne dass ein anderer in Sicht wäre.« Peter Bürger (2001, 13)

Es mag erstaunen, dass ein Beitrag zum Individuum seinen Einstieg beim Subjekt findet. Dieses Vorgehen liegt darin begründet, dass sich das Individuum ohne Subjekt wohl nur schwer denken lässt.1 Dennoch sind die folgenden Seiten nicht darauf ausgelegt, umfänglich die Theorie oder die »Geschichte des Subjekts zu erzählen« (Bürger 2001, 223), sondern sie sollen hinleiten auf das, was in der vorliegenden Arbeit unter »Individuum« verstanden werden soll. Die folgende Auseinandersetzung wendet sich zuerst dem Subjekt, dann einem Übergang und dem Individuum und schliesslich kursorisch der Bedeutung in der Soziologie zu, bevor abschliessend eine eigene Definition von Individuum versucht wird.

4.1 Vom Tod des Subjekts Das Subjekt hat Mitte des 20. Jahrhunderts neue Aufmerksamkeit erhalten, als es für »tot« erklärt wurde. Die Debatte über den Tod des Subjekts hat eine poetologische Vorgeschichte, die deren Verlauf erhellt. Während noch die klassisch-romantische Kunstauffassung das »Werk als Resultat des Ausdruckswillens eines Subjekts« begriffen hatte, löst sich diese Voraussetzung in der modernen Dichtung auf: das Subjekt drücke sich nicht aus, sondern schaffe »Gebilde, in denen andere Ausdruck erkennen.« (Bürger 2001, 203 f.) Karl Marx, Sigmund 1 | Ein verbindendes Element könnte sein, dass sich das »Transitorische« des Eingangszitats in Richtung beider Seiten findet, jener des Individuums wie jener der Gesellschaft (siehe auch Seite 29). Diese Abhängigkeit mag auch darin begründet sein, dass das Subjekt immer wieder prominent thematisiert wurde und wird, das Individuum hingegen weniger oder dann soziologisch meist in Abgrenzung zur Gesellschaft (siehe Seite 71 und Kapitel 6). Umso mehr scheint es deshalb sinnvoll, einen auf meine Bedürfnisse zugeschnittenen, soziologischen Begriff des Individuums zu entwickeln.

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4

Individuum

Freud und die strukturalistische Sprachwissenschaft – im Zeichen des »Paradigmawechsel[s] vom Primat des Subjekts zu dem der Sprache« (Bürger 2001, 19) – sind dann angetreten, »die Bastion des Subjekts zu schleifen, das nun nicht mehr als Grundlage des Wissens gilt« (Bürger 2001, 210). Schliesslich erschien der Philosoph Michel Foucault, kündigte dem neuzeitlichen Subjekt das Verschwinden an und sagte eine Krise des Konzepts Mensch voraus: »Eines ist auf jeden Fall gewiss: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Wenn man eine ziemlich kurze Zeitspanne und einen begrenzten geographischen Ausschnitt herausnimmt – die europäische Kultur seit dem sechzehnten Jahrhundert –, kann man sicher sein, dass der Mensch eine junge Erfindung ist. [. . . ] Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheissung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Foucault 1971, 462; Hervorhebung S. B.)

In dem Zitat zeigen sich nicht nur die Zeitbezüge, in welchen »Subjekt« – darin mit Mensch bezeichnet – als Wort aus der lateinischen Sprache entlehnt wurde,2 sondern auch eine verbreitete Verkürzung in der Lektüre. Die »schon fast hysterische Reaktion auf den Schlusssatz [. . . ], der ja trotz seiner Vieldeutigkeit in seinem sachlichen Gehalt nicht ernsthaft zu bestreiten ist«, erkläre sich auch durch jene »Ironie seines unmittelbaren Kontextes«, welcher selten vermerkt werde (Hörisch 1994, 361). Dieser besagt, dass es sich dabei nicht um eine Feststellung, sondern um eine Wette handelt, die wie viele Wetten auf die Zukunft gerichtet ist. Foucault spricht von einem hypothetischen Ereignis; er spricht in seiner Wette »von einer Verheissung, einem Versprechen«, das durch die gewählte Metapher keine Rückkehr erlaubt, da keine Spur und keine Erinnerung verbleiben würde (Bürger 2001, 19 f.). Die 2 | Wobei »sujet« in der französischen Sprache früher auftritt als »Subject« in der deutschen, z. B. um 1370 bei Nikolaus von Oresme: »ce dont on parle, ce qui est soumis à la réflexion et constitue le support de qualités, de caractères«, ähnlich 1580 bei Michel de Montaigne: »ce à propos de quoi s’exerce la pensée, la réflexion« und einige Jahre später, jedoch prägnanter, bei Pierre de Ronsard: »être individuel, personne considérée comme le support d’une action, d’une influence«, der bereits 1555 diesem »être« Motivation vorgelagert hatte: »ce qui fournit un motif ou prétexte à une action, un comportement, un sentiment«, schliesslich um 1820 bei Pierre Maine de Biran: »être pensant dans la mesure où il se saisit comme connaissant par une intuition interne« (zit. im Portail lexical des CNRTL: http://www.cnrtl.fr/etymologie/sujet, 11. Mai 2010).

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berechtigte Frage lautet: »Wer kann, wer soll, wer wird diese Wette gewinnen?« (Hörisch 1994, 361) Die bedeutende Frage ist schliesslich vielmehr, ob Foucault diese Wette eingehen oder vielmehr aushalten würde. Es steht zu bezweifeln, wie auch das folgende Zitat belegen mag: »In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raumes, in dem es schliesslich möglich ist, zu denken.« (Foucault 1971, 412)

Gedacht wird zwar nur noch in der Leere eines Menschen, der verschwunden ist, dessen »Verlust« aber nicht schwer wiegt, weil ein Denken – gerade in diesem Raum – immer noch stattfindet. Das von Foucault proklamierte »Verschwinden des Menschen« verweist wohl eher auf diskursive Dispositionen oder »Diskursordnungen« in den (Geistes-)Wissenschaften (vgl. Foucault 2003, 15 f.). Deshalb bleibt zu vermuten, dass es ihm nicht um den Menschen als solchen ging, sondern um das Wissen über das Konzept »Mensch« bzw. das Subjekt (vgl. Bürger 2001, 21 f.). Da sein Buch zur Ordnung der Dinge mit der provokativen Aussage zum verschwindenden Menschen schliesst, steht eine direkte Erläuterung aus. Wenn schon diese »Grundlegung« umfassend missinterpretiert wurde, wie steht es dann um den Tod des Subjekts aus der poststrukturalistischen Feder? Wahrscheinlich nicht so schlecht, wie vermutet, denn selbst der Anti-Ödipus von Gilles Deleuze und Félix Guattari leugne nicht, »dass Subjektivität vorhanden sei: am Rande der Maschine freilich und nicht im Zentrum von Seins-, Sinn-, Bedeutungs- und Bewusstseinskonstitution überhaupt.« (Hörisch 1988, 144; vgl. Bruder 1993) Das Subjekt wird nicht für tot erklärt, sondern vielmehr dezentralisiert; wir erfahren die »Deplacierung des in jeder Weise selbstbewussten Subjekts« allerdings im Anschluss an Immanuel Kant bereits bei G. W. F. Hegel (Hörisch 1988, 147). Diese Auseinandersetzung setzt voraus, »dass es kein prädiskursives Sein gibt« (Hörisch 1988, 153), das Subjekt sich also selbst grammatisch formt: aus einer Ontologie wird eine Semiologie. Hinsichtlich der im vorherigen Kapitel genannten Selbstbeschreibung erhält der folgende Satz neue Bedeutung und schliesst dort an: »Das Subjekt des Lesens fällt aus, wenn es mit dem Subjekt des Gelesenen ineins fällt« (Hörisch 1988, 145). Diese »Konzeption vom Übergreifen des Produkts auf seine Produktion« innerhalb der philosophischen Subjekt-Genese (Hörisch 1988, 156) erinnert sehr an die soziologische »Konstruktion« der Gesellschaft: »Wohl ist ›Seyn‹ die Voraussetzung

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von Denken und Sprache, aber so, dass Denken und Sprache es sich vorausgesetzt haben.« (Hörisch 1988, 158) Dies mündet schliesslich darin, von einer gedoppelten Subjektivität auszugehen: »sie zugleich als Element einer ihr in jeder Weise vorausgehenden Struktur und als in jedem Wortsinn selbstbewusster und ereignishafter Schauplatz eben dieser Struktur zu begreifen.« (Hörisch 1988, 159) Es ist deshalb von einem oszillierenden Platz des Subjekts auszugehen und nicht von seinem Tod (Regel 1).3 Kannte sich das »Ich« in Descartes cogito noch »im Akt des Denkens als der unverrückbare Punkt, von dem aus sich das Universum dem Zugriff des Menschen unterwerfen lässt«, zeigte sich bei Maurice Blanchot, dass es »[n]icht Subjekt seines Denkens ist [. . . ], sondern dessen Medium.« (Bürger 2001, 203) Damit setzt eine Destruktion der Selbstgewissheit ein, die zu der fälschlichen Aussage eines Todes des Subjekts geführt hat. Das heisst nicht, dass diese Destruktion und eine Identität, die sich zusehends als prekär erweist (vgl. Bürger 2001, 118), zwangsläufig schlecht sind; darin manifestieren sich vielmehr die »Erfahrung des Zusammenbruchs der eigenen Handlungsfähigkeit« und die »Grenze des uns Denkbaren, die zugleich eine unserer Handlungsmöglichkeiten ist.« (Bürger 2001, 243 f.) Es werden dann aus unterschiedlicher Richtung Gründe angeführt, weshalb der Subjektbegriff erhalten und stabilisiert werden sollte (vgl. Bürger 2001, 15).4 Als Beispiel sei der folgende Grund genannt: »Welt erschliesst sich im offenen Raum inter-individueller Interaktion, deren Subjekte selbstbewusste Einzelwesen mit jeweils singulärer Motivation sind.« (Frank 1988, 23) Während jedoch das Sprachparadigma, als Auslöser am Tod des Subjekts mitverantwortlich, »Welt immer schon durch Sprache erschlossen« sieht und den »handelnden Menschen in der Sprache verschwinden« lässt, beharrt das Subjektparadigma, wie es sich in der Verteidigung zeigt,5 »auf der welterschliessenden Kraft menschlichen Handelns und sieht in der Sprache nur dessen Medi3 | Die im Text durchnummerierten Regeln arbeiten auf die Definition von Individuum hin und sind im Schlussteil je auf eine einfache Formel gebracht (siehe Seite 79). 4 | Erwähnenswert sind an dieser Stelle auch Alain Touraine, der in einer Soziologie des Subjekts aufzuzeigen versucht, wie unentbehrlich das Subjekt im Rahmen einer »Verknüpfung der individuellen mit der kollektiven Subjektivität sozialer Bewegungen« ist (Zima 2000, 51), und Claus Daniel (1981), der eine Soziologie des Individuums entwickelt (siehe Seite 142). 5 | In seiner Diskussion des Zitats von Manfred Frank gelangt Peter Bürger (2001, 16) zu folgenden Überlegungen: »Aber stimmt es, dass sich ›Welt erschliesst im offenen Raum inter-individueller Interaktion‹? Ist nicht die Welt, in die wir eintreten, immer schon sprachlich erschlossen? Und was heisst, Welt erschliesse sich ›im offenen Raum‹? Die Interaktion der selbstbewussten Individuen schafft, so lese ich den Text, einen Raum, in dem sich dann Welt erschliesst. Bei diesem Vorgang sollen die singulären Motivationen des einzelnen eine Rolle spielen. Wird da den Individuen nicht zu viel zugemutet? Bilden sich Motivationen nicht erst in einer bereits erschlossenen Welt, insofern diese mir zeigt, was ich begehren

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Vom Tod des Subjekts

um.« (Bürger 2001, 17) Jedes Paradigma zeigt eine je eigene Sicht auf die Welt, und sie müssten nicht komparativ, sondern komplementär behandelt werden. Im Folgenden interessiert deshalb, was zu Grabe getragen werden oder verschwinden sollte und wie Komplementarität darin angelegt ist. Im allgemeinen Verständnis bezeichnet »Subjekt« jenen Menschen, der zur freien Selbstbestimmung befähigt, d. h. »Handlungs-Subjekt und Träger von Bewusstsein oder Intentionalität« ist (Krieger 2000, 1070). Erst der derart definierte Mensch scheint zur sozialen Handlung und zur Interpretation fähig (siehe Kapitel 5.3 und Seite 123), denn er kennt die »Möglichkeit diskursiver Konfliktlösung« (Anacker 1974, 1446). Zu einer Handlung wird dann Stellung bezogen, wenn sie der Interpretation bedarf, wenn ihre Bedeutungen und Interpretationen auseinander gehen (vgl. Anacker 1974, 1445). Subjekt bezeichnet somit die Teilnehmer einer anschliessenden Aushandlung, die sich gegenseitig anerkennen und der Handlung eine Bedeutung zumessen.6 Das Subjekt verlangt Bedeutung und umgekehrt verlangt die Bedeutung nach einem Subjekt. Handlungszusammenhänge sind deshalb Anerkennung von Sinn, welcher – wie ich später zeigen werde – über Bedeutung zum Ausdruck kommt. Mit anderen Worten: »Die Bedingung eines Handlungszusammenhanges ist ein Zusammenhang von Bedeutungen, die von den Subjekten gleich interpretiert werden.« (Anacker 1974, 1446) In dem allgemeinen Verständnis ist deshalb ein äusserst modernes, reflexives Subjekt bezeichnet. Der Begriff »Subjekt« existierte seit seiner Übernahme in die deutsche Sprache im 16. Jahrhundert nicht alleine in dieser Festlegung (vgl. Grimm/Grimm 1942a, 812). Das Substantiv ist aus dem lateinischen subiectum entlehnt, einer Partizipialbildung zu subicere, welches soviel bedeutet wie »unterlegen, unterstellen, darreichen«, eigentlich »unterwerfen«. Gemeint ist damit »das Vorgegebene«, beispielsweise im Sinne eines Entwurfs (Kluge 2002, 896). Das Grimmsche Wörterbuch listet sechs Bedeutungen von »Subject«,7 wovon zwei hauptsächlich interessieren: Subjekt bezeichnet vordergründig und »seit dem ende kann?« Hier fragt der Literaturwissenschaftler in erstaunlich soziologischer Manier und weist in entsprechende Richtung. 6 | Dies erinnert an die Arbeiten von Jürgen Habermas zur kommunikativen Kompetenz und zur Lebenswelt, die allerdings nicht näher behandelt werden (vgl. Schrape 1977). 7 | Es sind dies: 1. Substanz, Stoff (auch: Unterlage, Substrat, und damit dem Ursprung am nächsten), 2. Objekt einer Tätigkeit, z. B. einer Wissenschaft (im Anschluss an 1., aber nur im 18./19. Jahrhundert nachgewiesen), 3. »persönlicher träger bestimmter zustände, die der eigentliche gegenstand einer wissenschaftlichen betrachtung sind« (schliesst an 2. an, v. a. in der Medizin; Grimm/Grimm 1942a, 812), 4. im Sinne der Grammatik, als »grundbegriff eines urteils« (z. B. in Subjekt, Prädikat und Objekt; Grimm/Grimm 1942a, 813; vgl. Hörisch 1988, 149 ff.; zu 1.–4. auch Krieger 2000, 1071), sowie 5. und 6., die anschliessend genannt

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des 17. jh. eine person« (Grimm/Grimm 1942a, 813). Es erlangte im 18. Jahrhundert ausserdem die folgende Bedeutung: »seit KANT wird subject im psychologisch-erkenntnistheoretischen verstande gebraucht, im neueren sinne bedeutet es dann auch das erlebende, vorstellende, erkennende, fühlende, wollende wesen im gegensatz zu den objecten des erlebens, erkennens, handelns« (Grimm/Grimm 1942a, 813).

Damit sind wir bei der zentralen neuzeitlichen Bestimmung des Subjekts angelangt, das zwar als Begriff schon im 16. Jahrhundert in die deutsche Sprache aufgenommen, aber erst im 18. Jahrhundert nachhaltig geprägt wurde. Zu dieser Zeit findet der Mensch Ausgang aus der Unmündigkeit des Denkens (vgl. Wagner 2006b, 165; Di Fabio 1991, 26 f.), und in der Folge wird das Subjekt zur »zentrale[n] Kategorie der Moderne« (Bürger 2001, 18). Subjektivität wird dann als »Autoreflexivität des Vorstellens« beschrieben (Frank 1988, 10), durch welche Selbstbewusstsein und Autonomie ins Spiel treten. Die Konstruktion des neuzeitlichen Subjekts nimmt mit diesem Ausgang des Menschen seinen Ursprung; die Abkehr vom Feudalismus hat das ihrige zur Hervorbringung der Individualität beigetragen. Subjekt wird dann – d. h. nach Ende der feudalen Abhängigkeit und bei der Ankunft in der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Wagner 2006b) – als selbst bestimmter und souveräner Mensch definiert. Doch hat sich diese Souveränität oder Autonomie als Illusion herausgestellt, und das hiesse, dass es sie vielleicht – wie vielleicht schon im Fall der Gesellschaft – nie gegeben hat. Wie sich später zeigen wird, wurde das Individuum, das Einzelne als Einzelnes, aus der Gesellschaft »geboren«. Dasselbe geschah auch mit dem Subjekt, welches nicht in einen leeren Raum hinein entworfen wurde, sondern in einen historischen, immer schon durch Regeln jedwelcher Art durchsetzten, gesellschaftlichen Raum. Deshalb lässt sich sagen: »Regeln [. . . ] definieren gesellschaftliche Institutionen, Konventionen und soziales Handeln.« Es resultiert »regelgemässes Handeln von Akteuren, die ihr Tun und Lassen eben (häufig implizit, empraktisch) an bestimmten Regeln orientieren«, wobei – die Klammer bringt dies zum Ausdruck – die Akteure Regeln nicht »in jedem Fall selbst anzugeben, also zu explizieren vermögen.« (Straub 2006, 59) Gerade weil die gesellschaftlichen Regeln nur teilweise »diskursivierbar« sind (Giddens 1988, 36), wird diese Form der Struktur nur beschränkt wahrgenommen und hat Auswirkungen auf eigentlich zugerechnete Autonomie. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich ein Handlungsbegriff, der subjektivistische Vorstellungen umgeht und der zu jeder Zeit vorhanden war, obgleich er sind, wobei die Bedeutung »Person« nochmals unterschieden werden kann (vgl. Grimm/Grimm 1942a, 813 f.).

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Vom Tod des Subjekts

erst mit Aufkommen eines Begriffs für das Subjekt identifiziert werden konnte. »Wer, wenn er handelt, Regeln folgt, wird als Subjekt in seiner unhintergehbaren Prägung durch andere und in seiner Abhängigkeit von anderen, nicht zuletzt von mehr oder weniger verfestigten sozialen (einschliesslich sprachlichen) Strukturen und Institutionen, erkennbar. Demgemäss wird man allenfalls noch von einer limitierten, partiellen Autonomie des Subjekts sprechen können.« (Straub 2006, 60)

In dieser Einschränkung der Autonomie zeigt sich die Verbindung des Subjekts zum Sozialen (Regel 2). Diese beiden prägen sich gegenseitig und verweisen auf die »gemeinsamen Glaubens- und Wertvorstellungen einer Gesellschaft« (König 1978, 159). Damit wären wir neuerlich gewissermassen bei einem »Verschwinden des Subjekts« angelangt und bei der Frage, ob der Mensch nicht immer schon von Strukturen bestimmt wurde, auf die er, falls überhaupt, nur begrenzt Einfluss nehmen konnte.8 Damit sei die »Verknüpfung des Subjektbegriffs mit einem Autonomiepostulat problematisch geworden.« (Wagner 2006b, 173) In dieser Problematik zeigt sich, was als »Spannung im Verständnis der individuellen Moderne« oder wie zuvor als gedoppelte Subjektivität bezeichnet werden könnte. Während die Konstruktion des Subjekts (d. h. »ich« als mein »eigenes«) ereignisoffen sein muss, um als autonom verstanden zu werden, muss zugleich das autonome Subjekt als Resultat dieser Konstruktion genommen werden, und damit ist das Ergebnis teilweise vorbestimmt (vgl. Wagner 2006b, 171). Diese Vorbestimmung ergibt sich einerseits durch die Definition der Moderne – gleichwohl, ob diese über die »Herausbildung von Subjekten« bestimmt wird oder ob damit eine »historische Situation« bezeichnet wird, die autonome Subjekte erst entstehen liess (Wagner 2006b, 172) – und andererseits durch die moderne Vorgabe der Sozialität, die sich von der bekannten, traditionellen Sozialität unterschied (z. B. in der Tönniesschen Verschiebung von Gemeinschaft zu Gesellschaft). Daraus leitet sich die Frage ab, »wo überhaupt im Handeln von Menschen innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Strukturen jene Momente liegen, die zur Reproduktion dieser Strukturen führen, und wo Spielräume individueller Autonomie bleiben« (Bolte 1983, 29). Diese

8 | Historisch würden dann sogar Durkheims »soziale Tatsachen« in einem streng strukturalistischen Verständnis als Tatsachen Sinn machen. Allgemein lässt sich festhalten, dass Kultur und Gesellschaft dem Menschen nicht äusserlich sind, sondern als Struktur wiederum dessen »Struktur« prägen. Allerdings ist der Mensch als Subjekt und Individuum kein passives Wesen, sondern beeinflusst diese Strukturen. Eine weitere Erörterung dieser Problematik müsste an anderer Stelle stattfinden (vgl. Giddens 1988).

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Individuum

Spannung im Verständnis der individuellen Moderne zeigt sich schon in der Semantik: das Subjekt ist auch das »Unterworfene«. Es ergibt sich vor allem im Umgang mit der Bedeutung seit Kant, d. h. seit dem sich selbst bewussten Subjekt, ein Problem in der Begrifflichkeit. Eine der erst ausgeschlossenen Bedeutungen, diejenige des Subjekts als »Substrat«, muss deshalb beigezogen werden, weil sich scheinbar ein Widerspruch zur entlehnten Bedeutung ergibt. Subjekt sei »etymologisch betrachtet, ein zweideutiges Wort«, das sowohl »Zugrunde liegendes« als auch »Unterworfenes« bedeute, so dass mitunter im selben Diskurs – z. B. bei Hegel – beide Bedeutungen vorkommen (Zima 2000, 3). Dies ist beispielsweise in seiner Rechtsphilosophie der Fall: »In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts« (zit. in Bürger 2001, 140). Neben den zugrunde liegenden Zweck tritt die Unlust, welche zugleich die Unterworfenheit unter diesen Zustand anzeigt. Das Subjekt ist in der Tat ein Gespaltenes, weil es mit sich auskommen muss und »weil es seine Zwecke einzig mit Hilfe anderer befriedigen kann.« Diese Unlust wird somit aufgefasst »als die Befindlichkeit des modernen Subjekts«, welches nicht mehr gemeinschaftlich kollektiv gebunden ist, sondern nur noch über die »Verflechtung wechselseitiger Bedürfnisse« und die Mittel ihrer Befriedigung (Bürger 2001, 141). Sie zeigt sich »als Angst vor der möglichen Selbstauflösung und als Sehnsucht nach ihr.« (Bürger 2001, 24) Diese Verschiebung weg vom Kollektiv zeigt jedoch, dass der proklamierte Widerspruch der Bedeutungen »Zugrunde liegendes« und »Unterworfenes« keiner ist, denn sie gehören zwangsläufig zusammen und können historisch nicht mehr getrennt werden (Regel 3a). Im Lauf der Entwicklung fand eine Verschiebung der Bedeutungen statt, von René Descartes und dem deutschen Idealismus bis hin zu Michel Foucault. In der nachmodernen Sicht tritt demzufolge die Bedeutung des Subjekts als etwas Unterworfenes-Zerfallendes in den Vordergrund, entweder im Gegensatz oder in Wechselbeziehung zu dem Zugrundeliegenden (vgl. Zima 2000, 88 ff.). Es lässt sich, gleichsam den weiteren Überlegungen vorgreifend, anschliessen: »Das individuelle Subjekt ist weder etwas Souverän-Fundamentales noch Unterworfenes, sondern eine sich wandelnde, semantisch-narrative und dialogische Einheit, die von der Auseinandersetzung mit dem Anderen, dem ihr Fremden, lebt.« (Zima 2000, 88)

Dieser Aussage kann dahin gehend widersprochen werden, als das Subjekt sowohl souverän-fundamental als auch unterworfen ist (d. h. die exakte Umkehrung des Weder-noch angewiesen wird) und deshalb in Auseinandersetzung tritt, sprich: sozial wird (Regel 3b). Bevor ich zur Genese des »individuellen Subjekts« gelange, zeigt sich erneut

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4.1

Vom Tod des Subjekts

der soziale Charakter dieses Subjekts. Daher wird es in den Sozialwissenschaften meist als »gesellschaftliche[r], geschichtlich-konkrete[r] und in sozialen Beziehungen geistig und körperlich tätige[r] Mensch« aufgefasst (Hillmann 1994, 849). Damit wird aber dieses sozialwissenschaftliche Subjekt bereits in die Richtung einer späteren Definition des Individuums aufgelöst (Regel 4a). Schliesslich sollten, so haben meine Ausführungen nahe gelegt, beide Aspekte zusammen gedacht werden, das Zugrunde liegende des Subjektparadigmas und das Unterworfene des Sprachparadigmas. Dies spricht für Wechselbeziehung anstelle von Gegensatz und damit für eine Empfehlung, die sich in der vorliegenden Arbeit auch auf andere Bereiche erstreckt. Besonders zentral ist sie für alle Aspekte des Sozialen; der Hinweis zur Autonomie im Anschluss an Kant hatte bereits in diese Richtung gewiesen. Auf Seiten der Wechselbeziehung findet sich auch einer der Gründe, weshalb Subjekt später durch Individuum abgelöst wird. Das Subjekt als »Konstrukteur« der Gesellschaft (Dux 2003, 245), als jene Entität, welche Gesellschaft »bildet« oder initial »bewirkt« und sich bis hin zur »kompetente[n] Lebensführung« erstreckt, ist für den vorliegenden Kontext einer Betrachtung des Dazwischen von Individuum und Gesellschaft nicht interessant. Hinzu kommt, dass die vorausgehende, selbstbewusste Bildung der »Innenwelt des Subjekts«, die als die umstrittene Hauptkomponente des Begriffs identifiziert werden kann (Dux 2003, 246 f.), mehr stört, als dass sie zu einer Lösung beiträgt. Mit anderen Worten: Das Subjekt befindet sich in dauernder Selbstkonstitution – wobei auch das ansonsten nicht thematisierte »Selbst« als zweite Bedeutung hinzutritt (vgl. Bohn 2006, 49 ff., 62 ff.) –,9 das Individuum ist bereits konstituiert (Regel 5). Es braucht ergänzend noch einen Hinweis zum Wesen des Subjekts, der dieses anscheinend an den Kontext der vorliegenden Arbeit anschlussfähig macht und zugleich auf die Ablösung durch »Individuum« hinarbeitet. Das Subjekt unterliegt in seiner philosophischen Charakterisierung zwei bedeutsamen Einschränkungen: 1. ist es ihm nicht möglich, »in theoretischer Hinsicht selbst Gegenstand einer empirischen Erkenntnis und damit Resultat der (im Erkennen erfolgenden) Setzung« zu sein, 2. kann es sich selbst nicht »in praktischer Hinsicht, d. h. unter der Differenz von gut und böse, zum Gegenstand machen 9 | Eine Definition der Subjekte als jene, »die sich unter der Bedingung einer Gesellschaft in einer Weise bilden, dass sie die Bedingungen ihres Daseins reflexiv und sinnhaft verarbeiten« (Dux 2003, 258), weist in diese Richtung. Darin zeigt sich aber auch das nach »aussen« gerichtete Handeln des Subjekts, das für die abschliessende Definition von Individuum übernommen wird. Das Bild des Subjekts »in der Grenze der Gesellschaft« wäre deshalb ein verheissungsvolles (vgl. Dux 2003, 259, 263 f.).

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Individuum

und über sich als Mittel verfügen.« (Krieger 2000, 1070) Das denkende Subjekt kann nicht Objekt seiner eigenen Betrachtung werden, weil es das »bestimmende Subjekt« ist; es wendet sich reflexiv der Vernunft als »Faktum« zu. Subjektivität ist deshalb nicht gesetzt, sondern gegeben, weshalb sie vom Handlungs-Subjekt nicht adressiert und angeeignet werden kann. An diesen zwei Festlegungen Immanuel Kants (zit. in Krieger 2000, 1070) zeigt sich, dass nicht bloss »Sinn« als »Symptom der anthropologischen Wende« (siehe Seite 84) gewertet werden kann, sondern dass auch das Subjekt – als »neuzeitliche ›Erfindung‹« (Frank 1986, 26) – hier seinen Anfang nahm (Regel 6).

4.2 Bedeutungsveränderungen Subjekt und Individuum werden vielfach synonym verwendet. Damit wird die Auseinandersetzung zwar vereinfacht, doch greift ein solches Vorgehen zu kurz (vgl. Riedel 1989). Dazu zählt beispielsweise die Behauptung, »dass Individuen Subjekte sind [. . . ], dass sie unmittelbar selbstbewusst sind in dem Sinne, dass sie ihre Welt im Lichte von Deutungen erschliessen, die ohne Bewusstsein unverständlich blieben« (Frank 1991, 43). In Gleichsetzungen dieser Art werde übersehen, »dass Individuen zunächst Natur sind«, die erst durch Bewusstsein und auf »Basis der kulturell und sprachlich formierten Subjektivität« zu Subjekten werden, und die zudem eine »kontingente und äusserst prekäre Grundlage« dafür bilden (Zima 2000, 9). Entgegen des üblichen Vorgehens, die Begriffe Individuum und Subjekt synonym zu verwenden, scheint es sinnvoll, das soziale Individuum vom naturwüchsigen individuellen Subjekt zu unterscheiden,10 d. h. mit Individuum »die biologische, aber gesellschaftlich stets vermittelte Grundlage individueller Subjektivität« zu bezeichnen (Zima 2000, 8). Dies lässt sich darin begründen, »dass die Alteuropäer das individuelle Element als Subjekt fassen. Ein Individuum ist insoweit Subjekt, wie es des Wissens um sich selbst (Selbstbewusstsein) und selbst bestimmter (autonomer) Handlungen fähig ist.« (Ritsert 2000, 72) Subjektivität steht dann »als Ausdruck für die Möglichkeit des je einzelnen Subjekts, selbstbewusstes und selbstbestimmtes Handeln auszubilden und einzusetzen« (Ritsert 1988, 40; vgl. Frank 1988, 8), und sie ergänzt die grundlegende Bestimmung explizit um den Aspekt des Handelns. Dasselbe zeigt sich auch in der Eigenart Georg Simmels, Prozesse der Vergesellschaftung als »seelische Vorgänge« zu bezeichnen. Damit wird »von einer grundsätzlichen Unterscheidbarkeit der überindividu10 | Beachtenswert ist die subtile Verschiebung zwischen Natur und Konstrukt, die bald nicht mehr unterscheiden lässt, welches genau welche Charakterisierung erhält und deshalb eine vermeintliche Synonymität anzeigt.

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4.2

Bedeutungsveränderungen

ell ›geistigen‹ (›seelischen‹) Formbestimmungen der Gesellschaft von der psychischen Materie bei den einzelnen Subjekten« ausgegangen (Ritsert 1988, 39).11 Dabei tritt ein ähnliches Problem auf, wie es im Zusammenhang mit Gesellschaft geschildert wurde, denn »Nachdenken über Menschen findet unter Menschen statt« (Baecker 1994, 57), genau so wie die Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft stattfindet. »Das Denken über den Menschen unter den Menschen hat es demnach mit der Kalamität zu tun, dass die Bedingungen, unter denen es seinen Gegenstand zu fassen sucht, selbst dieser Gegenstand sind, ohne dass erkennbar wäre, wie sich die Bedingung zum Gegenstand in ein Verhältnis entweder der Kausalität oder der Transzendentalität bringen liesse.« (Baecker 1994, 57)

Die Paradoxie der Soziologie wird auch von Seiten des Individuums eingeholt. Eine mögliche Antwort liegt in einer Konzeption, in welcher die Individuen als Akteure die »Synthesis zur Einheit einer Gesellschaft bewerkstelligen«, denn damit »bedarf es hier gar nicht des äusseren Beobachters, der diese Synthesis mit formbestimmten Erkenntnisoperationen vollzieht.« (Ritsert 1988, 41) Georg Simmel vermittelt zwischen Akteursstandpunkt und Beobachterstandpunkt, und dies wäre auf beiden Seiten anzuwenden, sowohl auf derjenigen des Individuums wie auf jener der Gesellschaft (Regel 7a). Es mag erstaunen, wie nahe sich ein solches Vorgehen und die neuere soziologische Systemtheorie stehen: »An die Stelle der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt [. . . ] tritt die Entdeckung selbstreferentieller Systeme, die sich auf sich beziehen, dadurch überhaupt erst etwas bestimmbar werden lassen und dazu vermutlich erheblich mehr Werte brauchen, als die klassische Logik konzedierte« (Baecker 1994, 60).

Durch diesen Selbstbezug verbinden sich zwei in ihrer äusseren Natur höchst unterschiedliche Ansätze. Über das erwähnte »Werte« wird zugleich ein Bezug zu Max Webers Begriff der »Bedeutung« geschaffen, welcher sich über »Wert« bestimmt (siehe Seite 100). Selbstbezug wird dazu verwendet, in den gegenwärtigen Kontext der Unterscheidung von Subjekt und Individuum zurückzukehren. »Der Einzelne, der uns anonym auf der Strasse oder in offener Landschaft begegnet, wird von uns als Individuum, nicht jedoch als Subjekt erkannt. Erst wenn er sich durch Wort und Tat zu erkennen gibt, nehmen wir ihn als Subjekt wahr.« (Zima 2000, 8; Hervorhebung S. B.) 11 | In diesen Vorgängen liegt auch verborgen, was als »sozial-strukturelle Momente« (auch: Mechanismen) bezeichnet werden kann (siehe Fussnote 23 auf Seite 310).

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Individuum

Wie wichtig die Unterscheidung zwischen Individuum und Subjekt ist, zeigt der Fall unmündiger Menschen (wie Kleinkinder, Behinderte, Sterbende), die moralisch und rechtlich geschützte Individuen sind, aber nicht als argumentationsfähige Subjekte wahrgenommen werden (vgl. Zima 2000, 21). Es braucht eine notwendige Form der Identifikation des Anderen mit sich (mir) selbst, wie abstrakt diese auch sein mag, um diesen Anderen als Subjekt anzuerkennen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass das so bestimmte Subjekt in jedem Fall Individuum bleibt. Die beiden Begriffe liessen sich über folgende Abstrakta trennen: »Individualität als Körperlichkeit und Subjektivität als Diskurs bzw. narratives Programm« (Zima 2000, 48). Damit wäre nicht nur das vorhergehende Subjektverständnis als diskursives gespiegelt, sondern auf jenen Aspekt aufmerksam gemacht, der »Individuum« als Entgegenstellung zu »Gesellschaft« interessant erscheinen lässt: seine Körperlichkeit (Regel 4b). Relativ oberflächlich liesse sich deshalb sagen: Subjekt meint ein Allgemeines, Person ein Besonderes und Individuum ein Einzelnes (vgl. Frank 1986, 25). Die definierende Subjektivität ist ein »Phänomen, das jedes bewusste Wesen mit allen anderen seinesgleichen gemein hat.« (Frank 1988, 15) Daneben zählt der Sachverhalt, »dass der Einzelne in einen kommunikativen Zusammenhang eingebettet ist, in dem er sich als Subjekt konstituiert. In diesem Zusammenhang interagiert er als individuelles Subjekt« (Zima 2000, 15). Dieser Einzelne wird damit zu einem einzelnen Allgemeinen, welches sich vertieft als Besonderes manifestiert (vgl. Bohn 2006, 49 ff.).12 Der Begriff des Subjekts setzt bereits voraus, dass »eine Einheit der Person erreicht wird«; es ist aber die »Konstruktion durch den einzelnen Menschen unter gegebenen Interaktionskontexten und sozialen Umständen«, welche darüber entscheidet, wie diese Einheit letztlich aussieht.13 Somit ist es »das für die Moderne typische Individuum, das handlungs-, kommunikationsund interaktionsfähig ist, welches im Prozess der Subjektbildung entsteht« (Wagner 2006b, 171 f.). Daher ist der »Modus des aposteriorischen Gegebenseins [. . . ] konstitutiv für den Begriff ›Individuum‹, [. . . ] als etwas, das allererst hergestellt werden soll« (Pieper 1973, 734 f.). Das Subjekt wird damit zur Grundlage des Individuums (Regel 8); Indi12 | Der Begriff der Person, welchem hier keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, steht »für den einzelnen als Träger gesellschaftlicher Rollen« (Scherr 2001, 134). Diese Auslassung ist dadurch begründet, dass die »Rolle« – als potentieller Vermittler zwischen Individuum und Gesellschaft – mit Vorsicht betrachtet wird (siehe dazu Kapitel 7.3). 13 | Darin zeigt sich erneut das als doppelte Subjektivität bezeichnete Phänomen, welches das Subjekt zwischen einem Einzelnen und einem Allgemeinen oszillieren lässt, und dieses für eine Bestimmung im Sinne der vorliegenden Arbeit unzureichend macht.

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4.3

Soziales Individuum

vidualität ist dann die »Seinsweise eines einzelnen Subjekts« (Frank 1988, 16). Die Auswirkungen sind allerdings weitgreifender: »Bedeutungsveränderungen [sind dann; S. B.] dem Wesen zuzuschreiben, das sich, eingefügt in einen intersubjektiven Verständigungsrahmen, sprechend auf den Sinn seiner Welt hin entwirft; dieses Wesen könnte, wenn es nicht das Allgemeine selbst ist, nur das Individuum sein.« (Frank 1988, 23)

Es geschieht hier, im intersubjektiven – d. h. sozialen – Verständigungsrahmen, dass das individuelle Subjekt in Gegensatz zur Gesellschaft tritt und damit begrifflich zum Individuum wird (vgl. Elias 2001, 217). Der Zusammenhang, in welchem dies geschieht, wird uns noch ausführlich beschäftigen (siehe Kapitel 5). Vorerst soll diesbezüglich gelten: »Deutungen werden nur als Bedeutungen [. . . ] fassbar [. . . ], deren Träger Individuen sind.« (Frank 1988, 23) Dies liegt daran, dass einzig Individualität dazu in der Lage ist, Deutungen und »letztlich überhaupt all jene Prozesse verständlich zu machen, in denen die Kategorie ›Sinn‹ notwendig, d. h. in unersetzbarer Weise, auftaucht.« (Frank 1988, 27) Darin zeichnet sich bereits ab, dass anscheinend nur das Individuum an einen weiteren Komplex von Sinn und Bedeutung anschliesst (Regel 9). Dieser Charakter des Oppositionsbegriffs zur Gesellschaft übergab dem Individuum eine »Höchstwertposition«; zugleich wurde es in Abgrenzung zur alteuropäischen Sichtweise aus der Gesellschaft exkludiert, weil diese »nicht aus Individuen besteht und sich so auch nicht mehr beschreiben lässt, sondern den Individuen als körperlichmentalen Existenzen eine externe Stellung zuweisen muss.« (Luhmann 1998, 1066; Hervorhebung S. B.) In der Spannung zweier Aussagen Niklas Luhmanns – »Soziales ist vom Subjekt aus nicht zu begreifen« und »Schliesslich lebt das Subjekt als Teilnehmer an Kommunikation fort« (Luhmann 1998, 1030 f.; vgl. Weber 2005) – definiert sich das Subjekt als erkennendes, denkendes und handelndes Individuum.

4.3 Soziales Individuum Das Individuum schliesst, so zeigt die aktuelle soziologische Bestimmung des Begriffs, die moderne Definition des Subjekts ein: »Als menschliches Individuum ein selbständiges, vernunfts- und willenfähiges Wesen, das sich durch eine spezifische Gesamtheit strukturierter und gegenüber anderen Individuen abgrenzbarer Merkmale der Denk- und Verhaltensweise sowie der körperlichen, geistigen, kulturellen und sittlichen Eigenschaften auszeichnet.« (Hillmann 1994, 360)

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Individuum

Während die geeigneten Eigenschaften der Beschreibung »Subjekt« durch die geschilderte Genese in »Individuum« schon übernommen sind, zeigt sich, dass spätestens im Kontext von Sinn und Bedeutung das Subjekt (neben dem Objekt) verworfen werden muss, weil es als generischer und kategorialer Begriff keinen Zusatznutzen aufweist (siehe Seite 94). Denn »das Individuum [. . . ] erfährt sich [. . . ] nur im dialogischen Verhältnis zu einem anderen« (Pieper 1973, 736), und dies ist eine Entgegensetzung, die durch die Subjekt-Objekt-Relation nicht zufriedenstellend geleistet werden kann (Regel 10a). Das Wort »Individuum« wurde im 16. Jahrhundert als Neubildung zu lateinisch ind¯ıviduum, d. h. »das Unteilbare«, in die deutsche Sprache übernommen (Kluge 2002, 438). Während das Deutsche Wörterbuch der Grimms das Wort nicht führt und deshalb auch keine Belegstellen liefert, erklärt es der Eintrag im Etymologischen Wörterbuch folgendermassen: »Das lateinische Wort selbst [d. h. ind¯ıviduum] ist eine Lehnübersetzung zu griechisch átomos m. ›das Unteilbare‹ (Atom). Zunächst in der Philosophie der Stoa Bezeichnung eines Existierenden, das nicht weiter zerteilt werden kann, ohne seine Eigenart zu verlieren; dann in Renaissance und Humanismus Bezeichnung eines menschlichen Einzelwesens; schliesslich das Einzelwesen im Gegensatz zur Gesellschaft.« (Kluge 2002, 438)

Aufgrund dieses Eintrags ist nur ansatzweise ersichtlich, dass sich die Bedeutung von »Individuum« mehrfach gewandelt hat und die »semantische Einheit des Terms« deshalb nicht gewährleistet ist (Frank 1986, 20). Das spielt im Kontext der vorliegenden Arbeit auch keine Rolle, weil eine eigene Definition resultieren soll und weil die semantische Einheit kein ausschlaggebendes Kriterium für den Wechsel von Subjekt zu Individuum darstellt. Individuum kommt zeitlich, jedoch nicht etymologisch, nach dem Subjekt, so wie das Individuum zeitlich der Gesellschaft nachzustehen scheint (siehe Seite 24): »Der Individualismus ist eine relativ späte und zudem zweifelhafte Entdeckung der Kulturgeschichte.« (Steinbacher 1971, 18) Die zugrunde liegende »Form des Selbstbewusstseins und des Menschenbildes [taucht] erst spät in der Geschichte der Menschheit« auf (Elias 2001, 131). In der mittelalterlichen Philosophie wurde die »Unsagbarkeit des Individuums« behauptet, weil »das Individuum seiner ontologischen oder logischen Struktur nach als Einzelnes gedacht« wurde und deshalb »nur als abstraktes Einzelnes überhaupt, nicht aber als konkretes ›Dieses-da‹ begriffen« werden konnte. Damit konnte das – schon durch den Subjektbegriff angezeigte – »Substrat nicht als ganzes mitgeteilt werden« und galt als unsagbar (Pieper 1973, 729). Das heutige Verständnis unterscheidet sich davon und erklärt die »späte« Heraufkunft des Individuums.

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4.3

Soziales Individuum

Seit den primitiven Gesellschaften mit ihrem Kollektivbewusstsein waren die Menschen nicht Individuen, sondern Mitglieder einer Gruppe. Das Individuum als individuelles Subjekt, »das eigene Meinungen äussert, Verantwortung trägt, Dissens anmeldet und autonom handelt« (Zima 2000, 4), ist eine relativ neue Erscheinung. Gemäss Norbert Elias (2001, 212 ff.) gab es in den antiken Sprachen keine Entsprechung zum Begriff »Individuum«, welcher die »Einzigartigkeit jedes Menschen« und deren Wertschätzung bezeichnet. Dieser wurde erst sehr viel später durch die moderne Marktgesellschaft eingesetzt. In der »gesellschaftlichen Praxis der antiken Welt« spielte die »Gruppenidentität des einzelnen Menschen [. . . ] eine viel zu grosse Rolle, als dass das Bedürfnis nach einem Universalbegriff für den einzelnen Menschen als ein quasi gruppenloses Wesen hätte aufkommen können.« (Elias 2001, 213) Diese Einschätzung wurde auch von Durkheim, Max Weber, Tönnies und Simmel geteilt, die eben diese Wandlung und die Freisetzung aus der vormals gemeinschaftlichen Sphäre in die »Gesellschaft« (historisch genauer: den gesellschaftlichen Kapitalismus) im Blick hatten. Der Begriff »Individuum«, als das Unteilbare, verweist zuerst auf die natürliche, kleinste Einheit des Sozialen und damit der Gesellschaft. »Aber das Individuum ist nur das, was bei der Erfahrung der Auflösung der Gemeinschaft übrigbleibt. Seiner Natur nach erweist sich das Individuum – das, wie sein Name schon sagt, das Atom, das Unteilbare, ist – als das abstrakte Ergebnis einer Zerlegung. Es ist eine weitere, eine symmetrische Figur der Immanenz: das absolut losgelöste Für-Sich als Ursprung und Gewissheit.« (Nancy 1988, 15)

Dieser Anschauung setzt sich eine Definition entgegen, die sich vom früheren »Atomismus« abgrenzt. Im Anschluss an eine Sprachregelung, die sich vermutlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hat, ist »unter ›Individuum‹ nicht mehr ein unspaltbar kleines Einzelding, sondern ein Einzelsubjekt zu verstehen« (Frank 1988, 7). Die etymologische Herleitung hatte das bereits gezeigt. Das Individuum ist also, wie Theodor Geiger (1931, 210) bemerkt, kein »isolierte[r] Mensch«, sondern vielmehr ein geeigneter »Gegenstand« der Gegenüberstellung zu Gesellschaft. Stärker noch als beim Subjekt, zeigt sich die soziale Komponente des Individuums, denn dieses lässt sich nur in Bezug auf andere Individuen konzipieren: »Ich kann mich nicht als Individuum denken, ohne ein anderes Individuum mir entgegenzusetzen« (Fichte zit. in Pieper 1973, 733). Damit ist das Trugbild des Individuums als striktes Einzelnes, als Atom, aufgelöst (Regel 11a). Ausgangspunkt einer Beschäftigung mit dem Individuum wäre demzufolge der Mensch als körperlich-mentale Einheit. Davon ausgehend zeigt sich jedoch: »Eine Definition des Menschen vermag heute – oh-

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Individuum

ne die Miteinbeziehung seiner partiellen Künstlichkeit – nicht mehr überzeugend zu gelingen. Der rein ›natürliche Mensch‹ ist eigentlich zu einem gedanklichen Modell geworden« (Steinbacher 1971, 34 f.), welches – so muss hinzugefügt werden – bloss noch einen heuristischen Wert besitzt. Die körperlich-mentale Einheit Mensch ist, so lässt sich folgern, durch kulturelle Einwirkung beeinflusst: »Das individuelle Schicksal des Menschen, welches sich von dem seiner jeweiligen Gemeinschaft [im Sinne Ferdinand Tönnies’, siehe Kapitel 10.2; S. B.] nicht gänzlich trennen lässt, ist – wie das Schicksal seiner Gemeinschaft selbst – weitgehend kulturbestimmt. Kulturbestimmt oder kulturbezogen sind fast alle Interaktionen im sozialen Raum überhaupt.« (Steinbacher 1971, 35)

Dies macht das Individuum selbst, wie schon die Gesellschaft (siehe Seite 49), zu einem »künstlichen Konstrukt«. Die »Grenze von [. . . ] Individuum und Begriff ist nicht naturaliter antreffbar, sondern selber Leistung des Begriffs.« Das Einzelne ist »immer ein bereits vermitteltes, verallgemeinertes Einzelnes, dessen wirkliche Genesis ihm verborgen bleibt.« (Pieper 1973, 730) Die »Unsagbarkeit des Individuums«, wie sie sich in der mittelalterlichen Philosophie gezeigt hat, wirkt weiter fort. Damit in Zusammenhang steht auch »die allgemeine Feststellung [. . . ], dass individuelles Schicksal niemals ganz von dem der Gesellschaft getrennt werden kann.« (Steinbacher 1971, 39) Die historischen Auswirkungen sind absehbar: »Die Tatsache, dass in einer modernen Grossveranstaltung der Gesellschaftlichkeit die Lebensschicksale der einzelnen immer abhängiger von der Funktionsfähigkeit der Gesamtgesellschaft werden, vermag deutlich die zunehmende Schicksalhaftigkeit der sozialen Komponenten menschlicher Existenz zu demonstrieren.« (Steinbacher 1971, 94)

Unter dieser Prämisse wird auch sichtbar, weshalb den Konzepten »Individuum« wie »Subjekt« zunehmend die Daseinsberechtigung abgesprochen wird. Dagegen stellen sich all jene Betrachtungen, die von einer »Individualisierung« ausgehen. Individualisierung meint die »Herauslösung des Menschen aus traditionell gewachsenen Bindungen, Glaubenssystemen, Sozialbeziehungen« durch die zunehmende »Emanzipation« des Individuums (Beck-Gernsheim 1993, 125, 143). Das Individualisierungskonzept kennzeichnet sich dadurch, dass es »aus einer subjektbezogenen Perspektive argumentiert« und danach fragt, »was der Wegfall traditioneller Bindungen für das Individuum bedeutet«, was der »Verlust von Lebenszusammenhängen [. . . ] und Sinnhorizonte[n]« bedeutet (Beck-Gernsheim 1993, 141 ff.). Dieses Konzept bleibt in der vorliegenden Arbeit jedoch weitgehend ausgeblendet, weil es sich dabei um eigenständige, empirische Erklärungs-

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4.4

Soziologische Bedeutung

ansätze handelt und weil historische Individualisierungsprozesse als Epiphänomen nicht interessieren (siehe Seite 149). In diesen Verbund gehört beispielsweise auch der Rollenbegriff, welcher immer wieder »in den Vordergrund soziologischer Auseinandersetzungen getreten« ist (Steinbacher 1971, 39). Doch auch der Rollenbegriff ist eher ein Hilfsinstrument, um die Nebenerscheinungen einer Individualisierung begrifflich zu fassen (siehe dazu Kapitel 7.3). Dieser Hinweis auf zwei typische Herangehensweisen an das Individuum leitet weiter zur Bedeutung innerhalb der Soziologie.

4.4 Soziologische Bedeutung Die Auseinandersetzung mit »Gesellschaft« hatte gezeigt, dass das Individuum in der Soziologie schon früher für »tot« erklärt oder zumindest an den Rand gedrängt wurde. Im folgenden Zitat tritt die Vernächlässigung des Individuums (als Entgegensetzung zur Sozialstruktur) nochmals deutlich hervor: »Von Anfang an war der Mensch als Person in der Soziologie durch die Erfindung der ›Gesellschaft‹ ausgeschaltet, die für sein Handeln so wenig Raum liess, dass er sich selbst nur noch als technische Aufgabe verstehen konnte, die durch die Einrichtung der ›Gesellschaft‹ zu lösen war.« (Tenbruck 1984, 230)

Das vorherige Kapitel hatte bereits darauf hingewiesen: die Vorherrschaft des Gesellschaftsbegriffs im positiv-naturalistischen Soziologieverständnis hat zur Abgrenzung vom Individuum geführt. Wie bereits ersichtlich wurde, tritt eine Abgrenzung neuerdings wieder in der Systemtheorie Luhmanns hervor. Dort wird vermerkt: »Wir können damit auch den Subjektbegriff aufgeben.« (Luhmann 1987b, 111; vgl. Ritsert 1988, 190 f.; Schmid 2000) Doch der Mensch, so scheint es zumindest, ist nicht bloss Gesellschaftswesen (vgl. Tenbruck 1979, 415). Durch die fokussierten Diskurse über das »Subjekt des cartesianischen, kantianischen oder hegelianischen Idealismus« sei übersehen worden, »dass dieses Subjekt nicht nur in konkreten materiellen Verhältnissen entstand, dachte und agierte [. . . ], sondern sich in ständiger Wechselbeziehung zu kollektiven, abstrakten oder mythischen Subjekten konstituierte: zu Nation, Staat und Klasse, zu Geist, Weltgeist und Geschichte. Vor allem die Interaktion zwischen dem abstrakten individuellen Subjekt der Philosophie und den Kollektivsubjekten (Gruppen, Organisationen, Bewegungen) der Gesellschaft verschwand aus dem Blickfeld« (Zima 2000, 1).

Es wäre Aufgabe der Soziologie, dies zu beheben. Doch hat sie diese Aufgabe nach Durkheim und Weber mit wenigen Ausnahmen (v. a.

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Individuum

französischer Provenienz) ziemlich schnell aufgegeben. Aus diesem Grund scheint das »Subjektproblem [. . . ] in der Soziologie weniger wichtig zu sein als in der Philosophie, und es scheint in der französischen Soziologie wichtiger zu sein als in der deutschen.« (Zima 2000, 43) An der vor allem im Teilkapitel zum Subjekt verwendeten Arbeit von Peter Bürger (2001) liesse sich kritisieren, dass dieser »mit keinem Wort auf die Entstehung der deutschen und französischen Soziologien (Durkheims, A. Webers, M. Webers, Tönnies’, Simmels) aus der Krise der individuellen Subjektivität eingeht« (Zima 2000, 84). Diese Kritik an einem Literaturwissenschaftler, der die Geschichte des Subjekts an literarischen Texten aufarbeitet, ist kaum berechtigt; sie zeigt aber jenen generellen Mangel an fundierter soziologischer Auseinandersetzung mit dem Subjekt an, welche die oberflächliche Entgegensetzung zum Objekt überschreitet (vgl. Wagner 2006b, 174).14 Zu bewahren gilt es sich ferner vor der möglichen »Erkenntnis, dass das individuelle Subjekt der Moderne monologisch aufgefasst wird: als Einzelsubjekt ohne Beziehung zum Du, zum anderen« (Zima 2000, 84; vgl. Bürger 2001, 228). Eine solche Vorstellung ist nicht zeitgemäss. Die Auseinandersetzung mit dem Individuum zeigt, dass eine solche Erkenntnis oder Vorstellung auch dort in keiner Weise angebracht ist. Es ist zudem nicht einsichtig, weshalb Aspekte wie die Spannung im Verständnis der individuellen Moderne oder die gedoppelte Subjektivität nur eingeschränkt behandelt wurden. Zumal dies anscheinend als »Subjekt-Objekt-Problem [. . . ] zum zentralen Grundlagenproblem der Soziologie geworden« ist. Dieses Problem entsteht, weil der individuelle Mensch »auf die materielle und soziale Umwelt einwirkt«, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Dadurch verändert er nicht nur die Umwelt, sondern sich selbst und damit wiederum die eigenen Bedürfnisse (Hillmann 1994, 849). Dieser zirkuläre Einfluss, vielmehr die gegenseitige Prägung, wird für eine strukturalistisch orientierte Soziologie zu einem substanziellen Problem. Mehr als bei der Beschreibung der Selbstbeschreibung der Gesellschaft (siehe Kapitel 3.1), ist hier die Struktur-Konstruktion schon eindringlich durch individuelles Handeln vorgeprägt (Regel 7b, Regel 10b). Als m. E. alleinige deutschsprachige Arbeit zur expliziten Rekonstruktion sozialwissenschaftlicher, individualistischer Ansätze gilt In14 | Als Ausnahmen gelten vor allem die Münchner »Subjektorientierte Soziologie«, die das »wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Mensch und Gesellschaft besonders ins Blickfeld« rücken will (Bolte 1983, 15; vgl. Voß/Pongratz 1997), ferner Dux (2003), Wagner (2006b), Weede (1992), Daniel (1981) und Ritsert (1991); nicht mitgemeint sind hier die Individualisierungs- und die Sozialisationstheorie sowie die soziologische Biographieforschung (z. B. Beck/Beck-Gernsheim 1994; Geulen 1977; 2005; Scherr 2001, 138 f.); um eine frühe kulturphilosophische Eingliederung des Menschen in die Soziologie bemüht sich Behrendt (1962).

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4.4

Soziologische Bedeutung

dividuelles Handeln und gesellschaftliche Folgen (Raub/Voss 1981). Wie der Titel bereits vermuten lässt, geht es um eine verhaltenstheoretische Soziologie, die mit wenigen Ausnahmen angelsächsischen Ursprungs ist (z. B. George C. Homans, James S. Coleman und Peter M. Blau).15 Die Auseinandersetzung mit einer Theorie des sozialen Austauschs zwischen individuellem Verhalten und kollektiven Folgen, die von »rational choice« und ökonomischen Theorien ausgeht, muss hier nicht nacherzählt werden (vgl. Becker 1976; Frey/Stutzer 2007). Interessant seien diese Ansätze, weil »die Struktur individualistischer Erklärungen sozialer Phänomene selbst analysiert und geklärt« werde und weil »die Anwendung von Theorien rationalen Handelns für die Erklärung von Makrophänomenen« in den Vordergrund trete (Raub/Voss 1981, 11). Es sind vielmehr einige andere Aspekte, die beachtenswert scheinen. So fällt beispielsweise auf, dass für ein solches Unterfangen auf Ansätze aus dem Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie verzichtet wird (vgl. Raub/Voss 1981, 12). Dies mag darin begründet liegen, dass die herangezogenen Vertreter einen Theoriebegriff kritisieren (v. a. jenen Talcott Parsons’), mit dem aufgrund mangelnder Hypothesen »soziologisch interessante Tatbestände lediglich beschrieben und klassifiziert, nicht aber erklärt werden können« (Raub/Voss 1981, 34).16 Generell wird darauf hingewiesen, »dass das individualistische Programm als ein sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm zu verstehen ist, welches mit einem [holistischen oder kollektivistischen] Programm [. . . ] konkurriert« (Raub/Voss 1981, 35). Es ist dann allerdings wenig einsichtig, weshalb »bewusst auf den Versuch verzichtet [wurde], das individualistische Programm in Kontrastierung mit einem holistischen Konkurrenten zu entwickeln.« (Raub/Voss 1981, 36) Wahrscheinlich liegt dieser Vorbehalt darin begründet, dass ein solches Unterfangen durch die historische Bedeutsamkeit nur schwierig durchzuführen ist (siehe Kapitel 6 der vorliegenden Arbeit; vgl. ferner Raub/Voss 1981, 36 ff.; Bohnen 1975). Das ökonomische Programm schiene deshalb verheissungsvoll, weil es rationales Handeln als Repräsentation »generelle[r] Regelmässigkeiten menschlichen Verhaltens« betrachtet, d. h. als »voluntary actions of individuals [wobei diese Einschränkung wie jene auf blosses rationales Handeln problematisch scheinen; S. B.] that are motivated by the returns they are expected to bring and typically do in fact 15 | Zu diesen Ausnahmen gehört beispielsweise Vanberg (1975), der sich mit den in anderem Zusammenhang genannten »zwei Soziologien« des Individualismus und Kollektivismus auseinandersetzt. 16 | Hier sei vor allem auf die Arbeiten von Karl-Dieter Opp verwiesen, insbesondere zur verhaltenstheoretischen Soziologie, zur Rollentheorie und zu sozialen Normen.

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bring from others« (Blau zit. in Raub/Voss 1981, 44). Ein solches individualistisches Programm erstrebt »die Erklärung sozialer Sachverhalte unter Rückgriff auf Hypothesen über Verhalten und Interaktion von Individuen« und will zugleich dem »Dilemma reduktionistischer Strategien« entgegenwirken (Raub/Voss 1981, 88). Es erstrebt daher die Vermittlung zwischen Mikro- und Makroebene und hat damit einen ähnlichen Anspruch wie mein eigener Ansatz (siehe Kapitel 11–13). Dabei interessiert, »wie (kollektive) output-Strukturen (faits sociaux [d. h. im Sinne von Durkheims soziologischen Tatbeständen; S. B.]) durch bestimmte Prozess-Strukturen hervorgebracht werden, wenn bestimmte (individuelle) Parameter-Strukturen und weitere Bedingungen vorliegen.« (Raub/Voss 1981, 133) Mit anderen Worten: Es interessieren die Ausflüsse oder Effekte aus der Gesellschaft aufgrund individuellen Handelns. Es wird auch angefragt, ob eine individualistische Perspektive an strukturalistische Ansätze anknüpfen kann (vgl. Raub/Voss 1981, 142 ff.). Diese Frage wird dann für die gewählte ökonomische Perspektive bejaht: »Die statische individualistische Erklärung kann eine statische strukturalistische Erklärung [. . . ] enthalten.« (Raub/Voss 1981, 158) Die Beschränkungen, zumal hinsichtlich eines »nur rationalen« Handelns, sind allerdings offensichtlich (vgl. Hernes 1976). Die Soziologie kann es sich nicht leisten, sowohl ein »Ende des Sozialen« wie auch einen »Tod des Subjekts« hinzunehmen; sie braucht beide Seiten der (vermeintlichen) Entgegensetzung. Es sei »Aufgabe einer Theorie des Subjekts [. . . ], die Standpunkte der rationalistischen Semiotik (Wiederholung als Sinnkonstitution) und der Dekonstruktion (Wiederholung als Sinnzerfall) dialektisch zusammenzudenken« (Zima 2000, 216). Diese Aufgabe müsste dann auf die Soziologie übertragen werden. Entgegen der Tatsache, dass die zweite Komponente alleinstehend vielfach postuliert wurde, ist der Subjektbegriff »noch lange nicht verschwunden, weil er sich in einer Semiotik oder Soziologie des Handelns auch auf kollektive Subjekt[e] bezieht« (d. h. kollektive Selbstbestimmung) und weil dadurch nur derjenige den Subjektbegriff verabschieden kann, der »meint, mit gutem Gewissen auf Gesellschaftskritik verzichten zu können« (Zima 2000, 225; vgl. Raub/Voss 1981, 176 f.). Das Problem liegt nicht nur in einem Verlust der Kritik, sondern in einem Verlust der gesamten Grundlage/Grundlegung einer Disziplin. Für die abschliessende Definition von Individuum soll allerdings gelten, dass »kollektive Subjekte« ausgeschlossen werden, weil die Annahme einer »Kommunikations-, Interaktionsund Handlungsfähigkeit von Kollektiven« (Wagner 2006b, 181) zu weit greift. Damit soll keinesfalls das individuelle Subjekt als Primat gesetzt werden; die elementaren Austauschverhältnisse werden nicht

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4.4

Soziologische Bedeutung

bestritten. Das Konzept eines kollektiven Subjekts wird deshalb nicht benötigt, weil ein spezifischer Begriff des Individuums verwendet werden soll.17 Dieser schliesst zwar Züge des Subjekts ein, versucht dies aber kontrolliert zu leisten, um die Probleme des Subjektkonzepts abzufedern. Die wie auch immer gelagerten kollektiven Subjekte, seien es »Gruppen, Organisationen, Bewegungen« (Zima 2000, 1), werden aus ersichtlichen heuristischen Gründen auf »Gesellschaft« verkürzt (Regel 12). Zur Bedeutung von Individuum und Subjekt in der gegenwärtigen Soziologie äusserte sich Michel Wieviorka (2006), Präsident der International Sociological Association, folgendermassen: »On the other hand [im Gegensatz zu den Impulsen, welche die Soziologie zum Verständnis der Globalisierung einbringen kann; S. B.], many of us consider individualism to be important in our analyses, and use the Subject and subjective aspects as important conceptual tools. This does not make us abandon the views focussed onto collective action, because we realize that increasing numbers of collective entities, such as cultural, social or religious movements, can only be explained through individual personal involvement full of powerful subjective contribution of their members. The Subject appears in most attempts to study human body, sports, use of new technologies, religious phenomena, relationships at work, etc.«

In seinem Schreiben an die Mitglieder betont Wieviorka die Bedeutung individueller Handlung für eine integrierte Sicht innerhalb der Soziologie. Besonders auffällig ist die zeitdiagnostische Komponente, die zu diesem Schritt drängt. So hat gerade die Debatte um die Globalisierung dazu geführt, diese »als eine selbsttätige Entwicklung [zu begreifen], deren befreiende Wirkungen die Menschheit geniessen kann, sofern es ihr gelingt, sich von dem Prozess nicht überrollen zu lassen.« (Wagner 2006b, 182) Es gilt demzufolge, das Prozessuale vertieft zusammen mit dem Individuellen zu denken, d. h. beide Perspektiven zusammen zu setzen und zu denken. Deutlich kritischer hat Theodor Geiger diesen Gegenstand der Soziologie charakterisiert. Er war davon überzeugt, dass »›[d]as Individuum‹ im Sinne ›der isolierte Mensch‹ [. . . ] eine Fiktion« ist, und daher folgt für ihn: »Nicht die Fiktion des ›Individuums‹, sondern der Mensch in seiner Eigenschaft als geselliges Wesen ist konkretes Objekt der Sozio17 | Somit muss ich mich jener Anschuldigung stellen, gemäss der »interaktionistische Soziologen und Sozialpsychologen, denen das individuelle Subjekt wichtig ist, häufig vor der analogen Konzeptualisierung eines kollektiven Subjekts zurück[scheuen] – durchaus nicht zu Unrecht, denn weder haben Kollektive eine Biographie noch interagieren sie in einer den einzelnen Menschen auch nur annähernd vergleichbaren Weise.« Als Nachteil gilt, dass damit die »grundlegende Parallelität der Problematiken« verkannt werde, die in dem Subjektbegriff enthalten sind (Wagner 2006b, 181).

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Individuum

logie.« (Geiger 1931, 209 f.) Daraus folgt die Ansicht, dass »der Begriff des ›Individuums‹ [. . . ] zu dem der menschlichen Person korrigiert« werden soll (Geiger 1931, 207). Sie wurde auch von anderen geteilt, insbesondere von Norbert Elias, der darauf hinwies, dass dieses Individuum der Mensch ist (Regel 11b). Daraus liesse sich folgender Schluss ziehen: »Am sogenannten atomistischen Individualismus ist richtig: die Gesellschaft muss in und zwischen den Menschen, nicht ›über‹ ihnen gesucht werden. Immer ist der Mensch, sind Menschen die Träger des gesellschaftlichen Geschehens.« (Geiger 1931, 210)

Diese Zustimmung zu Aspekten eines methodologischen Individualismus liegt auch darin begründet, dass Gesellschaft dabei als »Funktion, nicht Ding« identifiziert wird und als »eigentliche[r] Gegenstand soziologischer Untersuchung nur die Sozialvorgänge« adäquat seien. »Der eigentliche Gegenstand der Soziologie«, so fährt Geiger (1931, 210) fort, »sind Lebenszusammenhänge von Menschen, nicht Plurale von ›Mensch‹.« Er verweist – und ich zitiere erneut jene Stelle, die schon beim Gesellschaftsbegriff Erwähnung fand – auf die Möglichkeit vermittelnder Gesellschaftsbegriffe, »in denen die Gesellschaft zwar als spezifisches Ganzheitsgebilde erscheint, doch so, dass der Mensch in diese Ganzheit nicht als Glied oder Teil eingeht, sondern ihr in einem Wirkungsverhältnis gegenübersteht.« (Geiger 1931, 208; Hervorhebung S. B.) Ungeachtet seiner Suche nach einem rationalen Zugang und der Ablehnung »vor-soziologischen« Räsonierens, die zur kritischen Auseinandersetzung im Zusammenhang mit Gesellschaft geführt hat, stützt Geiger den Begriff der »Wechselbeziehung«, verwehrt sich allerdings dagegen, dass diesem eine »notwendig kausale Einstellung« zugeschrieben wird; vielmehr meine der Begriff »circumscriptive [umschreibende] Bestimmungen, die keinerlei kausalerklärendes [. . . ] Urteil« enthalten (Geiger 1931, 209).18 Im Dilemma des Gesellschaftsbegriffs zwischen Individualismus und Holismus liegt auch das Dilemma des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Es erstaunt nicht, dass auch die US-amerikanische Soziologie zu ähnlichen Schlüssen gelangte: 18 | Damit lässt sich das folgende in Beziehung setzen: »So muss es [. . . ] unbestreitbar bleiben, dass [. . . ] das Prinzip des Zusammenwirkens schliesslich notwendig vorherrscht.« Es ist kein geringerer als Auguste Comte, der hier äussert, was gleich zurückgenommen wird: Die metaphysische Philosophie habe jedoch den Fehler begangen, »dass sie diesem Prinzipe sogar die Erschaffung des sozialen Zustandes zuschrieb, da es doch im Gegenteil offenbar ist, dass das Zusammenwirken, weit entfernt die Gesellschaft haben schaffen zu können, vielmehr notwendig ihre vorherige spontane Begründung voraussetzt.« (Comte in Oppenheimer/Salomon 1926a, 23)

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4.4

Soziologische Bedeutung

»Aber Vergesellschaftung ist ein Akt und eine bestimmte Gesellschaft ist das Ergebnis des Aktes der Vergesellschaftung. Sie ist eine Beziehung unter Individuen. Nun ist eine Beziehung nicht ein konkretes Objekt, sondern ein abstrakter Begriff. Nichts als das Individuum ist konkret.« (Lester F. Ward in Oppenheimer/Salomon 1926a, 98, vgl. 100 ff.)

In diesen Beispielen zeigt sich das frühe Unbehagen, den Menschen als konstitutiv, sogar als kausal anzusehen. Obgleich heute vermerkt wird, dass diese »begriffliche Entgegensetzung« von einer »anthropologischen Prämisse« abgelöst wurde, die besagt, »dass das Individuum im sozialen Sinne erst durch die Gesellschaft zu dem werden kann, was es [. . . ] als Persönlichkeit darstellt« (Hillmann 1994, 360), widerspiegelt sich darin zum einen (noch immer) ein strukturalistischer Blick, und zeigt sich zum anderen, dass eine solche Vorstellung alleine (noch immer) nicht zur Erklärung ausreicht.19 Gemässigter scheint da die folgende Aussage – als mögliche Antwort auf »[a]lle Richtungen der Gegenwartssoziologie«, da sie angeblich alle von dieser anthropologischen Prämisse ausgehen (Hillmann 1994, 360) – nur vordergründig: »The elementary unit of social life is the individual human action. To explain social institutions and social change is to show how they arise as the result of the actions and interaction of individuals. This view, often referred to as methodological individualism, is in my view trivially true.« (Elster 1989, 13)

Es ist durchaus ein mutiger Akt, sich dermassen offen zum methodologischen Individualismus zu bekennen. Obgleich Geigers Kritik am Begriff des Individuums in eine ähnliche Richtung zielt, hätte er diese Erklärung kaum unterschrieben. Eine ähnliche, allerdings differenziertere Ansicht hat Max Weber vertreten.20 Es sei »die verstehende Soziologie (in unserem Sinne)«, welche »das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste Einheit« behandle. Das nicht-sinnhafte Verhalten komme für die Soziologie nur »als Bedingung oder subjektiver Bezogenheitsgegenstand« des »sinnhaft deutbaren Sichverhaltens [. . . ] in Betracht«. Deshalb sei »für diese Betrachtungsweise der Einzelne auch nach oben zu die Grenze und der einzige Träger sinnhaften Sichverhaltens.« (Weber 1988a, 439) Zudem wird von ihm unterstrichen, 19 | Richtig ist hingegen: »Die entwickelten Individuen, deren gesellschaftlichen Verhältnisse, als ihre eigenen, einer gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind, sind kein Produkt der Natur, sondern ein Produkt der Gesellschaft und damit der Geschichte.« (Jaeggi/Fassler 1982, 34) Dies stützt auch meine Aussage, dass die »entwickelten Individuen« interessieren (siehe Regel 8 auf Seite 80). 20 | Darauf weist bereits – als Vorgriff auf die spätere Erörterung (siehe Kapitel 5.3) – der folgende Auszug hin: »Die kausale Analyse liefert absolut keine Werturteile, und ein Werturteil ist absolut keine kausale Erklärung. Und eben deshalb bewegt sich die Bewertung eines Vorganges [. . . ] in einer andern Sphäre als seine kausale Erklärung« (Weber 1988d, 225).

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»dass die Bildung des ›historischen Individuums‹ durch ›Wertbeziehung‹ bedingt werde« (Weber 1988d, 252). Doch würde es zu kurz greifen, Webers Ansatz »nur« einem meist negativ konnotierten methodologischen Individualismus zuzuschreiben. Die »Ansicht, dass die Soziologie sich in ihrer Begriffs- und Theoriebildung selbst auf den Standpunkt des modernen Individualismus zu stellen habe«, und zwar ohne »Kollektivbegriffe zu hypostasieren« oder »gesellschaftlichen Ordnungen eine überindividuelle Geltung zuzuschreiben« (Weiß 2002, 231), antwortet auf die Spannung im Verständnis der individuellen Moderne, auf die gedoppelte Subjektivität sowie auf das SubjektObjekt-Problem. In strikter Abgrenzung hiesse dies: »Was immer ›Individualität‹ sonst noch meinen mag, sie ist auf jeden Fall als der direkte Widersacher des Gedankens der Einheit und Abgeschlossenheit der Struktur (und der Identität der von ihr zu einem Ganzen ausdifferenzierten Ausdrücke mit sich) zu denken.« (Frank 1988, 24)

Erst eine Sichtweise, welche diese Abgrenzung von Seiten der Individualität angeht und der leicht der Vorwurf der Einseitigkeit gemacht werden kann, die sie bei reflektierter Anwendung jedoch nicht hat, erlaubt in Entgrenzung zur strukturellen Sichtweise einen integrierten Blick auf »Person« und »Struktur«, um zwei, je für sich genommen für die Soziologie in gleicher Weise problematische Begriffe anzuführen. Das entstehende, problematische Verhältnis von Gesellschaft und Individuum und eine nicht absehbare Lösung dieses Problems »zwing[e] die Soziologie zu einer Wiederaufnahme der vergleichsweise komplexeren Denkmodelle der klassischen Theorien.« (Scherr 2001, 139) Diese Feststellung ist ein weiterer Beleg dafür,21 dass gerade eine Arbeit mit den zugrunde liegenden Begriffen, zumal auch früherer Prägung, einen fruchtbaren Ansatz darzustellen vermag. Ein zweiter Ansatz findet sich schliesslich in der rekonstruktiven Annäherung an klassische wie auch aktuelle Denkmodelle.

4.5 Subjekt oder Individuum? Zum Abschluss soll eine eigene Definition versucht werden. Anschliessend werden jene Regeln konzentriert vorgestellt, die den Umgang mit Subjekt und Individuum anleiten. Die Definition lautet wie folgt: 21 | Diese nicht absehbare Lösung zeigt sich zum Beispiel an der Sozialisationstheorie, denn »[d]ie Konzeption eines umfassenden Zusammenhangs zwischen Sozialisations- und Gesellschaftstheorie wird auf absehbare Zeit wohl nicht mit einem umfassenden Entwurf gelingen können«, da »verschiedene Disziplinen aus unterschiedlichen Perspektiven auf unterschiedlichen Ebenen« das Thema bearbeiten (Sutter 2003, 49).

78

4.5

Subjekt oder Individuum?

Definition 4–1 Das »Individuum«, im hier verstandenen Sinne, ist das Subjekt als körperliche (biologische) und mentale (kognitive) Einheit.

Es zeigt sich schnell: Falls nur Terminologie von Subjekt zu Individuum verschoben wird, ist nichts gewonnen. Ferner fehlt der Definition die soziologische Eigenart. Deswegen soll sie um folgenden Zusatz ergänzt werden: Zusatz zu Definition 4–1 Es braucht zwei Bedingungen, damit das »Individuum« zum soziologischen Gegenstand wird: 1. muss es im Sinne des »Menschen in der Mehrzahl« vorkommen (Adam 2007) und 2. in Interaktion zu anderen Individuen treten, d. h. sozial handelndes Individuum sein.

Damit wird nicht nur das Subjekt begrifflich durch das Individuum abgelöst, sondern das Individuum hört heuristisch und definitorisch auf, Individuum zu sein; es wird zum Bestandteil vergesellschafteter Individuen, letztlich zu einem Akteur. Anstelle von einem »individuellen Subjekt« spreche ich deshalb von einem (erst subjektiven dann) sozialen Individuum; dieses wird mit dem Begriff »Individuum« bezeichnet und als handelndes Indviduum (d. h. als individueller Akteur) verstanden. Der Mehrwert von Individuum gegenüber dem Subjekt wird in der folgenden Liste aufgezeigt, indem die Regeln aus der früheren Argumentation abgeleitet und auf eine kurze Formel gebracht werden: Regel 1 Das Subjekt besitzt einen oszillierenden Platz im Gefüge des Sozialen und kann deshalb nicht festgestellt werden. Regel 2 Das Subjekt – und damit das Individuum – ist durch Regeln bestimmt, die jenes nur zum Teil bestimmen kann und die das Subjekt – und damit das Individuum – als soziales Wesen definieren. Regel 3 Das Subjekt ist ein Gespaltenes, weil es sowohl historisch wie etymologisch »zugrunde liegt« und »unterworfen ist«. Dadurch ist es zwar nach wie vor sozial bestimmt, kann aber nicht festgestellt werden und ist für eine stabile Verwendung nicht geeignet. Regel 4 Das Subjekt wird sozialwissenschaftlich – oder genauer: soziologisch – als Mensch bestimmt und erhält eine körperliche Wesenheit; deshalb kann es im Individuum aufgelöst werden. Regel 5 Das Subjekt ist ein Werdendes – es befindet sich in dauernder Selbstkonstitution – und kann deshalb (in Ergänzung zu Regel 3)

79

4

Individuum

nicht festgestellt werden. Das Individuum liegt jeweils schon konstituiert vor und kann sinnvoll verwendet werden (d. h. das nach aussen gerichtete Handeln kann beschreibungstechnisch stabilisiert werden). Regel 6 Das Subjekt setzt sich nicht selbst, sondern ist sich als Bestimmendes immer schon gegeben; es kann sich selbst in zentraler Instanz nicht zum Gegenstand machen und nicht als Mittel aneignen. Dies besagt jedoch nicht, dass das Individuum ausnahmslos Objekt seiner eigenen Betrachtung ist; es besteht vielmehr die Wahrscheinlichkeit, dass es sich als Handelndes adressieren kann, vor allem aber adressiert werden kann. Regel 7 Das Subjekt produziert eine ähnliche Paradoxie, wie sie bereits bei Gesellschaft auftrat: die Bedingungen, den Gegenstand zu fassen, sind selbst dieser Gegenstand. Der Umweg über ein als Akteur definiertes Individuum hilft, zwischen Akteursstandpunkt und Beobachterstandpunkt zu vermitteln. Regel 8 Das handlungs-, kommunikations- und interaktionsfähige Individuum, welches hier interessiert, entsteht im Prozess der Subjektbildung. Als Entstandenes kann es festgestellt und beschrieben werden. Regel 9 Das Individuum tritt als Träger von Bedeutungen in den sozialen Verständigungsrahmen und damit in Gegensatz zur Gesellschaft. Damit ist nur das Individuum an einen weiteren Komplex von Sinn und Bedeutung anschlussfähig. Weiter gilt, dass die Entgegensetzung zur Gesellschaft heuristisch beibehalten werden kann und das Verhältnis (bzw. die Problematik) von Individuum und Gesellschaft dadurch deutlicher hervortritt. Regel 10 Durch den Ersatz des Subjekts durch das soziale Individuum kann die Entgegensetzung zum Objekt aufgehoben und damit die Subjekt/Objekt-Problematik umgangen werden. Regel 11 Der Begriff Individuum markiert in heutigem Verständnis kein isoliertes, sondern ein sozial eingebundenes Wesen und definiert diesen sozialen Menschen (im Anschluss an Regel 9) als geeigneten Gegenstand der Gegenüberstellung zu Gesellschaft. Regel 12 Der Begriff des kollektiven Subjekts wird nicht nur auf Gesellschaft verkürzt, durch die Ablösung des Subjekts durch das Individuum wird die Problematik des Subjektbegriffs vielmehr gänzlich umgangen.

80

4.5

Subjekt oder Individuum?

Daraus resultiert, was aus der Warte der getroffenen Begriffsunterscheidung als Konzept von Individuum bezeichnet werden soll. Individuum wird heuristisch als »festgestellt« hingenommen, was das Subjekt als Methode und Resultat selbstbewusster Selbstkonstitution per Definition nicht sein kann. Während Gesellschaft landläufig als Struktur verstanden wird, wird Subjekt als etwas Werdendes gesehen. Indem an seiner Stelle das Individuum als festgestellt (allerdings nicht als Struktur) gefasst wird und Gesellschaft bereits als Prozess gefasst wurde (siehe Seite 51), wird diese Logik umgekehrt. Gerade diese Umkehrung soll die Klärung der Frage nach einem Dazwischen von Individuum und Gesellschaft erlauben. Nur durch ein »Etwas«, das der Gesellschaft »gegenübergestellt« werden kann, dürfte es die vorliegende Arbeit leisten, ein mögliches Dazwischen aufzufinden und zu adressieren. Deshalb wird ein Individuum gewählt, das sich in dieser Position bereits in anderen Zusammenhängen bewährt hat (siehe dazu Kapitel 6). Das bedeutet abschliessend, dass in der Arbeit von »diesem« Individuum die Rede ist. Ausgenommen sind nur jene Stellen, an welchen auf das Subjekt in Entgegensetzung zum Objekt verwiesen wird. Zu Beginn des geschilderten Verlaufs lag »der schritt vom object zum denkenden subject« (Grimm/Grimm 1942a, 813). Dieses Subjekt existiert jedoch nur deshalb, weil Innen- und Aussenwelt nicht mehr zueinander stehen, sondern »jetzt das Subjekt dem Objekt gegenüber[steht] als selbständiges, das die rein mechanische Ordnung der Natur erforscht, um die so erkannten Kräfte für seine Zwecke zu nutzen.« (Bürger 2001, 225) Dieses »aus dem Subjekt gewordene« ist das Individuum, wobei erneut die »Frage nach dem Verhältnis von individuellen und kollektiven Akteuren« aufgeworfen wird (Zima 2000, 7). Die beiden Konzepte »Gesellschaft« und »Individuum« weisen für sich genommen schon Probleme auf. Werden sie zueinander gestellt, wie dies durch eine klassisch-holistische Dichotomie (und ebenfalls durch eine Dichotomie in individualistischer Umkehrung) der Fall ist, dann interessiert das komplexe Zwischenspiel zwischen den Konzepten. Zu sagen, die Gesellschaft sei Gegenstand der Soziologie ist ebenso nur »halb wahr«, wie zu sagen, der Mensch (oder das soziale Individuum) sei dieser Gegenstand. Am Ende dürfte sich herausstellen, dass das »Dazwischen« der beiden der ganze Gegenstand ist. Was sich dazwischen befinden könnte, wird im Folgenden anhand einer weiteren Relation eingeführt und näher erläutert.

81

5 Sinn und Bedeutung »Es würde die Bedeutung von ›Abendstern‹ und ›Morgenstern‹ dieselbe sein, aber nicht der Sinn.« Gottlob Frege (1892, 27)

Die vorliegende Arbeit nimmt eine Sichtweise ein, die Sinn und Bedeutung an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft aufschlüsseln will. Dabei geht es in erster Linie um die Einführung eines Sinnbegriffs als »Mittler« zwischen Individuum und Gesellschaft. Weil zugleich das Dazwischen von Individuum und Gesellschaft als Vermittlungsfeld für Bedeutungszuweisungen angenommen wird, liegt auf diesen beiden Begriffen grosses Gewicht.1 Die nachfolgende Betrachtung widmet sich dem Begriffspaar von drei Seiten – etymologisch, sprachphilosophisch und soziologisch – und schärft auf diese Weise eine Arbeitshypothese, die fortlaufend präzisiert wird.

5.1 Zur Etymologie der Begriffe Etymologisch geht »Sinn« auf das althochdeutsche sin zurück (vgl. Kluge 2002, 849), das bereits mehr oder weniger gleichbedeutend mit der heutige Verwendung war. Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1905, 1103) wird die These vertreten, Sinn sei »wahrscheinlich eine nominalbildung zu dem verbum ahd. ags. sinnan«. Das Substantiv »Sinn« wird zurückgeführt auf das althochdeutsche (ahd.) Verb sinnan für »reisen, sich begeben, trachten nach«, das altfriesische Verb sinna für »sinnen, beabsichtigen« und das altenglische (ags.) Verb sinnan für »wandeln, beachten« (Kluge 2002, 849). In der Bedeutung dieser Verben weist Sinn – so stelle ich nicht alleine aufgrund der Wortklasse fest – einen starken Bezug zum Handelnden auf, auch wenn die Einzelheiten, wie im etymologischen Wörterbuch von Kluge (2002, 849) nachzuschlagen ist, klärungsbedürftig sind. Auch für den aussergermanischen Ursprung gilt, dass die etymologischen Verhältnisse unklar sind, obgleich sich Kluge hier deutlich vorsichtiger ausdrückt als die Grimms. Aussergermanisch findet sich einerseits das lateini1 | Die Grundannahme, dass »Sinn« für diese Konzeption fruchtbar sei, geht auf Max Webers »sinnhaftes Handeln« zurück, das dabei eine wichtige Rolle einnimmt.

83

5

Sinn und Bedeutung

sche sent¯ıre für »empfinden, wahrnehmen« und andererseits das altirische sét und das walisische hynt für »Weg« (vgl. Kluge 2002, 849). Die Verbindung zu »sich auf den Weg begeben« (aus althochdeutsch und walisisch) würde die Annahme des Bezugs zur handelnden Person bestätigen. Während bis ins 12. Jahrhundert die Bedeutung »reisen, sich begeben« im Sinne einer Ortsbewegung vorherrschend war, ergab sich eine Abschwächung zu dem blossen »Wollen« und eine »Übertragung in die rein geistige Sphäre als ein Streben und Trachten.« Dennoch findet sich – und dies wird für die spätere Verwendung bei Max Weber zentral sein – »als älteste Bedeutungskomponente [. . . ] die eines zielgerichteten Handelns.« (Bornet 1996, 155) In dieser Bedeutung steht der »Sinn einer Handlung oder Sache [für] die Absicht, die mit ihr verfolgt wird« (Bornet 1996, 156; Hervorhebung S. B.). Hier zeigt sich die Heraufkunft der neuzeitlichen Kategorie »Sinn« als »Symptom der anthropologischen Wende« (Greisch 2000, 619). Weiter kann auf eine Dreiteilung hingewiesen werden, dergestalt dass sich nicht nur die »Sinnfrage« (beispielsweise nach dem Sinn des Lebens) stellen lässt (vgl. Döring/Kaufmann 1981), sondern dass sich auch eine »Sinngebung« vollziehen lässt, indem Sinn selbst hineingebracht wird, oder dass sich ein bereits vorhandener »Sinn erkennen« lässt (vgl. Bornet 1996, 157). Sinngebung wie Sinndeutung (als Folge des Sinn erkennen) werden uns weiterhin beschäftigen. Zudem weist die zweite Komponente über »Deutung« bereits eine gewisse Nähe zu Bedeutung auf. Die Anzahl der Belegstellen weist auf die Bedeutsamkeit des Wortes hin. So erstreckt sich der Eintrag »Sinn« im Grimmschen Wörterbuch über beachtliche 49 Spalten und »unterscheidet nicht weniger als 24 Bedeutungen« (Greisch 2000, 619). Auf die vielfältigen Bedeutungen und Verwendungen kann im einzelnen hier nicht eingegangen werden (vgl. Grimm/Grimm 1905, 1105). Neben einem Rückbezug zu der bereits erwähnten Wortbedeutung, sollen einige Beispiele herausgegriffen werden. »die ursprüngliche bedeutung der wurzel war augenscheinlich die einer ortsbewegung. sie liegt unverkennbar vor in den vertretern des alten subst[antivs], in dem ahd. sinnan und in dem germanischen causativ senden. daneben findet sich die übertragung in die geistige sphäre, so ousschlieszlich im lat. und auch im germanischen bei ags. sinnan (sich worum kümmern, worauf achten) und mhd. nhd. sinnen [. . . ]. dem neugebildeten subst[antiv] sin(n) scheint sie von vorn herein eigen zu sein.« (Grimm/Grimm 1905, 1103)

Die bei Grimm gewählten Belegstellen reichen von »alle der menschen wissenschafft, kommt durch die fünf sinnen; . . . wie nun die sinne; also auch die wissenschaft« (aus Butschkys Pathmos von 1676) über »sind es unsre innerlichen sinnen? was sind diese anders als das

84

5.1

Zur Etymologie der Begriffe

vermögen der einbildungskraft die erscheinungen der äussern sinne nachzuäffen?« (aus Wielands Agathon von 1766) bis hin zum Alsfelder Passionsspiel (von 1874): »hebe en uff und cruczige en! / das ist unser aller sinne« (zit. in Grimm/Grimm 1905, 1104 f.). Die Wortbedeutungen reichen in den genannten Belegen von der Wahrnehmung bis zur Absicht. Das Substantiv »sin(n)« und seine möglichen Formen stehen nach Grimm: 1. »allgemein für das innere wesen eines menschen, unbestimmter als seele.« (Bsp. »was soltu tun ˚ mensche, der mit rede und mit sinne bist begriffen? SCHÖNBACH altd. pred.«) 2. »individualisierend bezeichnet der sinn die einem jeden eigenthümliche geistig-seelische veranlagung, die seine sonderart ausmacht« (Bsp. »viel köpff viel sinn. KIRCHHOF mil. discipl.«, »hetten wir alle einen sinn, wir lieffen alle einen weg. SCHOTTEL«, »lasset nicht spaltung unter euch sein, sondern haltet fest an einander in einem sinne, und in einerley meinung. 1 Cor. 1, 10«) 3. »der sinn ist zunächst das organ und der sitz alles strebens, wollens, verlangen« (Bsp. »von mir soll nie weichen der sinn, der den menschen vorwärts treibt [. . . ] SCHLEIERMACHER« [bemerkenswert hier: »der sinn als die treibende macht zum handeln«], »etwas im sinne haben, sinnes seyn etwas zu thun. [. . . ] KRAMER dict.«, »er hat nichts gutes im sinn [. . . ] STIELER«) (Grimm/Grimm 1905, 1105 ff.)

Weitere Abteilungen des Eintrags vertiefen diese Bedeutung der »Absicht«, wobei auch der »wille in bezug auf das handeln andrer« enthalten ist und in dem genannten Beispiel aus dem Alsfelder Passionsspiel aufscheint. Gemeinsamer Nenner ist dabei »der sinn einer handlung u. a., die absicht, die man damit verfolgt« (und damit Anzeichen der Nähe zum Begriff der Bedeutung), aber »mhd. auch geradezu für das, was man vorhat, die ausführung einer absicht, vorhaben, unternehmen« (Grimm/Grimm 1905, 1111). Enthalten ist also sowohl der Zweck als auch die Ausführung dieses Zwecks (vgl. Grimm/Grimm 1905, 1113). Weiterhin erwähnenswert erscheint die Verbindung zu Verstand und Gedanke, beispielsweise in: »wir wissen aber, das der son gottes komen ist, und hat uns einen sinn gegeben, das wir erkennen den warhafftigen. 1 Joh. 5, 20.« (Grimm/Grimm 1905, 1120) Denn: »am häufigsten geht indessen sinn auf die geistige, intellectuelle, verstandesmäszige seite des menschen« (Grimm/Grimm 1905, 1119), und damit beschäftigen sich demzufolge eine grosse Zahl der Abteilungen des Eintrags im Grimmschen Wörterbuch.2 2 | Dies sind: 6. Wille, Neigung (Grimm/Grimm 1905, 1114 f., im Folgenden nur noch die Spalten); 7. Gesinnung, Charakter (1115 ff.); 8. Sitz des Gefühls (1117 ff.); 9. Verstand (1119 f.) und 10. Spezialfälle (1120 ff.); 11. Bewusstsein (1123 ff.); 12.

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5

Sinn und Bedeutung

Besonders hinzuweisen ist schliesslich auf die Nähe zu Bedeutung, beispielsweise in: »die gegenstände waren nicht so auffallend, nicht so mannigfaltig; aber desto einladender den tiefen stillen sinn derselben zu erforschen« (Goethe zit. in Grimm/Grimm 1905, 1148). Siehe zum »Sinn einer Handlung« auch die nachfolgenden, an gleicher Stelle angegebenen Belege von Wieland: »Plato verstand den stillschweigenden sinn dieser zumuthung« und Schleiermacher: »aber wenige dringen ein in die tiefsinnige allegorie, und verstehen den sinn der vielfach wiederkehrenden aufforderung.« Diese Belege, so das Grimmsche Wörterbuch, weisen darauf hin, dass »Sinn« gewöhnlich auch in der Bedeutung von »Bedeutung« verwendet wird (siehe dazu Punkt 22 in Fussnote 2), der ich mich nun zuwende. Bedenklich steht es um den Begriff der Bedeutung, der in Kluges etymologischem Wörterbuch nicht einmal Erwähnung findet. Dagegen findet sich ein entsprechender Eintrag im Grimmschen Wörterbuch. »Bedeutung« hat darin – abgehandelt in weit weniger als einer halben Spalte – drei Bedeutungen, wovon ich eine ausschliessen kann. 3 Die zwei anderen Bedeutungen nach Grimm lauten: 1. »interpretatio: und es treumet inen beiden in éiner nacht, einem iglichen ein eigen traum und eines iglichen traum hatte seine bedeutung. 1 Mos. 40, 5; nach der bedeutung der wort . . . so thu˚ t es dem menschen weh. KEISERSB. sünden des munds 36a. dafür heute deutung.« 2. »significatio, vis, auctoritas, sinn, gehalt, gewicht, nachdruck: zu bedeutung der herlichkeit des päpstlichen stuls. FISCHART bienenk. 211b; den kategorien beziehung auf objecte, mithin bedeutung zu verschaffen. KANT 2, 163; [. . . ] die sache ist nicht von der bedeutung, versetzte Charlotte, dasz man sich deshalb durch einen rechtshandel beunruhigen sollte. [GÖTHE] 17, 203; er dringt in die bedeutung des gehaltes Verstand, positiv konnotiert (1125 ff.); 13. schöpferischer Verstand (1128 f.); 14. »daneben aber und jetzt häufiger bezeichnet sinn das geistesleben nach seiner receptiven seite, die empfänglichkeit für eindrücke, das auffassungsvermögen« (1129 ff.); 15. »ort und behälter für gedanken, vorstellungen, erinnerungsbilder « (1131 ff.); 16. Gedanke, Meinung, Ansicht (1134 ff.); 17. Plural, ohne genaue Bestimmung (1137 f.); 18. Wahrnehmung: »weiterhin wird sinn auf die körperlichen organe der wahrnehmung, wie das gesicht, gehör u. s. w. angewendet«, wobei zwischen äusserem und innerem Sinn unterschieden wird (1138 ff.); 19. Empfindung, Lust (1144 ff.); 20. Begabung (1146); 21. »viel häufiger nimmt sinn eine objective bedeutung an, indem es etwas gedachtes, vorgestelltes (als für sich bestehend) bezeichnet« (1146 f.); 22. Bedeutung: »in neuerer zeit ist sinn nur noch üblich und sehr gewöhnlich von der bedeutung, meinung, dem geistigen gehalte, der tendenz einer äuszerung, eines werkes oder (seltner) einer handlung im gegensatze zu ihrem wortlaut bezw. ihrer äuszern erscheinung« (1147 ff.); 23. »verwendungen, die ein stufenweises verblassen der bedeutung von sinn zeigen« (1150 f.); 24. Abweichende Verwendungen (1151 f.). 3 | Es handelt sich dabei um die dritte Bedeutung von »Bedeutung«: jemandem bedeuten, etwas zu tun, d. h. jemanden anzuweisen bzw. zu ermahnen, etwas zu tun.

86

5.1

Zur Etymologie der Begriffe

ein. 46, 233; es ist schon längst mit grund und bedeutung ausgesprochen. 48, 63. die eigentliche und uneigentliche bedeutung eines worts; die verschiednen bedeutungen aus der grundbedeutung entwickeln.« (Grimm/Grimm 1854)

Die erste Bedeutung von »Bedeutung« meint die Deutung eines Ereignisses (im Sinne einer Interpretation, etwa von Träumen). Die zweite Bedeutung von »Bedeutung« meint die Bedeutsamkeit eines Ereignisses (im Sinne von »das ist von grosser Bedeutung!«). Während die Wortsippe des Ausdrucks »Sinn« ursprünglich im Bedeutungsbereich »Absicht, Wille, Streben« wurzelte, erweiterte sie sich hin zu »Bewusstsein, Verstand, Denken«, wobei sich der »geistige Gehalt« als eigenes Gebiet ausbildete: »Von ihm aus kann die Brücke zur Wortsippe des Ausdrucks ›Bedeutung‹ geschlagen werden.« (Bornet 1996, 147) Sinn steht dann »für die Bedeutung, die ausgedrückte Meinung oder den geistigen Gehalt einer Aussage oder eines Werkes« (Bornet 1996, 165). Dabei wurde früh bemerkt, dass Sinn schon in der mittelhochdeutschen Sprache einsteht für »›Bedeutung‹, ›was mit einer Äusserung gemeint ist‹« (Paul zit. in Bornet 1996, 168). Bedeutung wird schliesslich dadurch erlangt, »dass das Deuten eines Zeichens oder Wortes die Angabe dessen ist, was es bedeutet.« (Bornet 1996, 182) Dies führt zu folgender These: These 5–A1 Während »Sinn« mehr auf die Seite des (geistigen Gehalts des) Handelnden gerückt ist, findet sich »Bedeutung« eher auf Seiten des bezeichneten Ereignisses oder Gegenstands.

Die Bezeichnung oder genauer die »Deutung (als Auslegung)« zielt ab »auf den Sinn, Grund oder Zweck der Sache oder des in Frage stehenden Vorganges [. . . ] oder (unbestimmter) darauf, was dahinter steckt.« (Bornet 1996, 182) Es wird also mehr nach dem »wie« als nach dem »was« gefragt. Etwas anderes lässt sich ausserdem feststellen: Abgesehen von der heuristischen Aufteilung in der These stehen sich Sinn und Bedeutung doch relativ nahe. Eine tatsächliche Synonymität von Sinn und Bedeutung muss allerdings verneint werden, »weil beispielsweise die Ableitungen ›sinnlos‹ und ›bedeutungslos‹ nicht synonym sind.« (Bornet 1996, 189) Eine sinnlose Handlung kann Auswirkungen zeigen und muss deshalb nicht bedeutungslos sein; eine sinnvolle Einrichtung kann unbekannt und deshalb bedeutungslos bleiben. Aus diesem Grund bietet sich ein »Umweg« über die Sprachphilosophie an, da dort »Sinn« metaphorisch (als Übertragung) verwendet wird und »Bedeutung« durch eine zweifache Ableitung – von deuten über bedeuten zu Bedeutung – geprägt ist (vgl. Bornet 1996, 191 f.). In Vorbereitung auf die spätere Arbeitshypothese

87

5

Sinn und Bedeutung

sei bemerkt: Der Begriff der Bedeutung scheint deshalb besonders interessant, weil er mit »deuten« verbunden ist und daher auf Handlung wie auf die Beobachterposition verweist.

5.2 Sprachphilosophische Unterscheidung Sprachphilosophisch steht in Frage, »wie die Praxis sprachlicher Verständigung und damit das Phänomen sprachlicher Bedeutung hinsichtlich ihrer sozialen Struktur zu verstehen sind« (Liptow 1999, 1). Obgleich es also umstritten ist, »wie sich die Begriffe des sprachlichen Subjekts, der Intersubjektivität sprachlicher Praxis und der Objektivität der sprachlich erschlossenen Welt zueinander verhalten«, will ich hier die Ansicht vertreten, dass es Bedeutung nur durch Sprache geben kann.4 Paul de Man (1988, 43) hatte darauf aufmerksam gemacht, dass das Verstehen – im Sinne einer lesenden Aneignung eines Textes – zur »Repräsentation einer aussersprachlichen Bedeutung« wird: »in Freges Begriffen: Bedeutung wird zu Sinn.«5 Dabei stellt sich die Frage, ob uns Gottlob Freges Unterscheidung dienlich sein kann: »In der Sinntheorie Freges wird zwischen dem Sinn eines Ausdrucks und seiner Bedeutung, d. h. seiner Referenz, unterschieden. Die Bedeutung des Zeichens ist der bezeichnete Gegenstand, während der Sinn des Zeichens die Art des Gegebenseins betrifft. So haben z. B. Morgenstern und Abendstern dieselbe Bedeutung [beide bezeichnen bzw. verweisen auf den Planeten Venus; S. B.], nicht aber denselben Sinn.« (Hügli/Lübcke 2005, 580)

Auf einen einfachen Nenner gebracht, lautet die von Frege eingebrachte Unterscheidung von Sinn und Bedeutung: »The sense of a word, phrase, or symbol [or generally ›expression‹] is just the concept [or thought] it expresses, while its reference is the object it represents.« (Kemerling 2001; vgl. Frege 1892, 26) Frege unterscheidet also zwischen Sinn (sense) und Bedeutung (reference) einer jeden linguistischen Bedeutungseinheit.6 Der Sinn von Morgenstern und Abendstern hat unterschiedliche Inhalte; nicht nur diesbezüglich, wie man 4 | Schliesslich bleibt immer die Frage, was zuerst kommt oder was Vorrang hat: Sprache oder Gesellschaft/Kultur: »Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke besteht in den sozialen Normen, die ihren Gebrauch regeln.« (Liptow 1999, 4) 5 | Der vollständige Auszug lautet: »Lesend gelangen wir, wie wir sagen, in einen Text hinein, der uns zunächst fremd gegenüberstand und den wir uns nun durch einen Akt des Verstehens aneigenen. Doch dieses Verstehen wird sogleich zur Repräsentation einer aussersprachlichen Bedeutung; in Austins Begriffen: der illokutive Sprechakt wird zu einem perlokutiven wirklichen Akt –, in Freges Begriffen: Bedeutung wird zu Sinn.« (de Man 1988, 43) 6 | Als Vergleich sei die Diskussion des folgenden Ansatzes eingefügt: »Diese Polarität [d. h. Sinn/Bedeutung bzw. sense/reference; S. B.] versteht [Paul] Ricœur in dem Sinn, dass Sprechen soviel heisst wie ›etwas über etwas sagen.‹ Besser wäre noch: über etwas (=Referenz) etwas (=Sinn) sagen. (Ricœur fasst ›Sinn‹

88

5.2

Sprachphilosophische Unterscheidung

den Planeten sieht (am Morgen oder Abend), sondern jeder Sinn (Ausdruck) ist mit sozialen wie kulturellen Assoziationen verbunden: »Die Sprache gliedert also nicht nur die Welt in Teile, die man dann benennen kann; sie schliesst auch die Beziehung ein, die die Menschen zu dieser Welt haben, sowie kulturelle und menschliche Sinngebungen, die die Sprache zum Teil schafft und zum Teil widerspiegelt.« (Hawthorn 1994, 290)

Dies heisst vor allem: Derselbe Gegenstand wird aus verschiedenen Perspektiven betrachtet.7 Frege selbst fasste die Beziehung folgendermassen: »Die regelmässige Verknüpfung zwischen dem Zeichen, dessen Sinn und dessen Bedeutung ist derart, dass dem Zeichen ein bestimmter Sinn und diesem wieder eine bestimmte Bedeutung entspricht, während zu einer Bedeutung (einem Gegenstande) nicht nur ein Zeichen zugehört.« (Frege 1892, 27)

Nochmals weiter vereinfacht, liesse sich sagen: die Bedeutung einer sprachlichen Bedeutungseinheit ist das Objekt (der Gegenstand), auf das sie verweist (oder sich bezieht) und ihr Sinn ist die Art und Weise, in der sie auf dieses Objekt verweist (oder sich darauf bezieht).8 Der »Sinn« ist die soziale Bedeutsamkeit oder Darstellungsweise der »Bedeutung«. Soziale Bedeutung ist nicht gleichzusetzen mit individueller Vorstellung: »Von der Bedeutung und dem Sinne eines Zeichens ist die mit ihm verknüpfte Vorstellung zu unterscheiden. Wenn die Bedeutung eines Zeichens ein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand ist, so ist meine Vorstellung davon ein aus Erinnerungen von Sinneseindrücken [. . . ] und von Tätigkeiten [. . . ] entstandehier als ›Prädikation‹ auf, nicht so wie Frege als Art des Gegebenseins eines Redegegenstandes.) Die obige Polarität spielt in Ricœurs Überlegungen dort eine Rolle, wo er versucht, ›das Problem der Erklärung mit der Dimension des ›Sinns‹, d. h. der immanenten Absicht der Rede, und die Probleme der Interpretation mit der Dimension der ›Referenz‹ zu verbinden, wobei unter ›Referenz‹ die Anwendbarkeit der Rede auf eine aussersprachliche Wirklichkeit zu verstehen ist, über die sie das sagt, was sie sagt.‹« (Rolf 2005, 197) 7 | »The way we perceive things is inevitably affected by how we are mentally positioned relative to them (that is, by the particular perspective from which we ›view‹ them). And since there is always more than just a single mental stance from which something can be ›seen,‹ the same object is very often perceived somewhat differently by different people« (Zerubavel 1997, 30). Das heisst im vorliegenden Kontext: »Diese Perspektiven zu erfassen, ist nach Frege jedem Sprecher einer Sprache möglich, da der Sinn im Gegensatz zu den subjektiven Vorstellungen [. . . ] öffentlich und in diesem Verständnis objektiv ist. Hingegen wird es einem Sprecher nie möglich sein, über alle Perspektiven eines Gegenstands zu verfügen.« (Thürnau 1995, 809) Es zeigt sich schon an, dass dieses »objektiv« einer wichtigen Einschränkung unterliegt (siehe Fussnote 10). 8 | Von Seiten der so genannten Konstruktionsgrammatik würde eingewendet, die »Art und Weise« sei die Bedeutungseinheit (vgl. Fischer/Stefanowitsch 2007).

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5

Sinn und Bedeutung

nes inneres Bild. [. . . ] Die Vorstellung ist subjektiv: die Vorstellung des einen ist nicht die des anderen.« (Frege 1892, 29)

Der Sinn eines Ausdrucks, so macht Frege deutlich, darf nicht mit einer »Vorstellung« verwechselt werden. Eine Vorstellung ist etwas Subjektives, während der Sinn »gemeinsames Eigentum von vielen sein kann« (Frege 1892, 29). Sinn ist ein erkenntnistheoretischer Begriff, der nicht als »linguistic meaning« (d. h. sprachliche Bedeutung) ausgewiesen oder mit dieser gleichgesetzt werden darf (vgl. Carl 1994, 177). Veranschaulicht wird dies anhand des sprachlichen Zeichens, und Frege setzt es in folgende Wendung: »Wir drücken mit einem Zeichen dessen Sinn aus und bezeichnen mit ihm dessen Bedeutung.« (Frege 1892, 31) An dieser Stelle wird offensichtlich, dass Frege Bedeutung über »bezeichnen« einführt und damit eine gleichwertige Alternative zu »bedeuten« anzeigt (vgl. Bornet 1996, 205; Long/White 1980, 197). Während nun in dieser Logik der Sinn (des Zeichens) weitgehend abhängig ist von der »Art des Gegebenseins« des Gegenstandes (Frege 1892, 26), ist die Bedeutung (als der bezeichnete Gegenstand) unabhängig von ihrer Relation zu den wahrnehmenden Subjekten (vgl. Sent 2002, 27). Diese Konstellation wird dann kompliziert, wenn ein Wechsel hin zum wahrnehmenden Subjekt erfolgt: »Dadurch also, dass man einen Sinn auffasst, hat man noch nicht mit Sicherheit eine Bedeutung. Wenn man in der gewöhnlichen Weise Worte gebraucht, so ist das, wovon man sprechen will, deren Bedeutung. Es kann aber auch vorkommen, dass man von den Worten selbst oder von ihrem Sinne reden will.« (Frege 1892, 28)

Der »Sinn«, bezogen auf »Bedeutung« als Gegenstand, ist nicht die Bedeutung (als Gegenstand), sondern die Art und Weise, wie sich die Bedeutung (als Gegenstand) dem wahrnehmenden Subjekt präsentiert. Hier wird erstmals die Frage aufgeworfen, ob dieser Prozess (die Art und Weise) kognitiv oder sprachlich abläuft.9 In der gegenwärtigen Diskussion kann Intersubjektivität erreicht werden, indem mehrere Subjekte einen Gegenstand aus derselben Perspektive betrachten.10 9 | Diese Unterscheidung ist zugegebenermassen höchst problematisch und wird deshalb an anderer Stelle eingehend behandelt (siehe Seite 116). 10 | »Verschiedene Beobachter legen verschiedene Schnitte in die Welt, unterscheiden verschieden, benutzen verschiedene Formen, konstruieren also die Welt nicht als Universum, sondern als Multiversum.« (Luhmann 1993a, 203 f.) Obgleich dies unmittelbar einleuchten mag, sind »Perspektive« wie »Schnitte« problematische Begriffe: Sind sie kognitives Konstrukt oder objektiv fixierbare Grösse? Wie verhalten sie sich zur Unterstellung einer Unmöglichkeit von Intersubjektivität? Während die erste Frage nur kontextuell behandelt wird, muss die zweite ganz ausgeklammert bleiben (vgl. Luhmann 1998, 874 f.). Schliesslich sei auf jenen Aspekt verwiesen, welcher die beiden Fragen verbindet, darauf, »dass die Objektivität des Sinns lediglich in der Verwendung von ›intersubjektiv zugänglich‹

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5.2

Sprachphilosophische Unterscheidung

Sie können daher mit »einem Zeichen nicht nur dieselbe Bedeutung, sondern auch denselben Sinn verbinden« (Sent 2002, 10). Entfällt in einer solchen Konstellation der Gegenstand (die Bedeutung eines Zeichens), dann bleibt »als Bezugspunkt nur noch die Vorstellung« und diese ist für Frege intersubjektiv nicht zugänglich.11 Neben dem verheissungsvollen »Dreisprung« (subjektive) Vorstellung, (gemeinsamer) Sinn, (referentielle) Bedeutung, macht Freges Text auf einen weiteren Sachverhalt aufmerksam: eine Abweichung in den Termini bei der Übersetzung ins Englische. Während Bedeutung im Alltagsverständnis üblicherweise mit »meaning« übersetzt wird (vgl. Bornet 1996, 204), hat sich im Falle Freges die abweichende Bezeichnung »reference« eingebürgert, die dann als »Referenz« ins Deutsche rückübertragen wurde (vgl. Bornet 1996, 199 f.; Thürnau 1995, 812).12 Diese Abweichung hat damit zu tun, »dass in der Fachliteratur vor allem der technische Sinn von ›Bedeutung‹ zählt und der ist mit dem Ausdruck ›Referenzgegenstand‹ unmissverständlicher ausgedrückt.« (Bornet 1996, 201) In Hinblick auf die spätere Verwendung des so genannten »meaning-making« in der angelsächsischen Kultursoziologie, ist es bedeutsam, dass neuerdings für die Übersetzung von Freges »Bedeutung« bewusst »meaning« verwendet wird. Der Grund dafür ist, dass »the English ›meaning‹ and its cognates correspond almost exactly to the German ›Bedeutung‹ and its cognates.« (Long/White 1980, 196) In diesem Zusammenhang erfolgt auch der Hinweis, dass Frege seine Terminologie mit Bedacht bestimmt und »Bedeutung« als verstanden werden darf, nicht jedoch – und das auch evtl. gegen Frege – als eine Hypostasierung der Existenz abstrakter Gegenstände.« (Thürnau 1995, 813) Diesem Verständnis folgt auch die vorliegende Arbeit. 11 | Obgleich sich durch die referentielle Dimension der Sprache (im propositionalen Sprechakt) sagen liesse, dass sprachliche Zeichen auf die Welt verweisen und eine Referenz in der Welt haben, lässt sich auch behaupten, dass Zeichen eben gerade nicht auf Dinge in der Welt verweisen (vgl. Kockelman 2005) – so beispielsweise von Umberto Eco (1972, 77) unternommen: Da jedes Zeichen selbst wieder durch ein Zeichen definiert werden muss, entsteht eine so genannte »unendliche Semiose«. Daraus entsteht ein System von Zeichen, »das sich aus sich selbst heraus durch aufeinanderfolgende Systeme von Konventionen klärt, die sich gegenseitig erklären« (für diesen klärenden Hinweis bin ich Noah Bubenhofer zu Dank verpflichtet), also die »Dinge in der Welt« gar nicht erreicht. Was augenscheinlich als eine Paradoxie daherkommt, soll uns im vorliegenden, soziologischen Kontext nicht stören. Zu den Problemen der linguistischen Gegenstandskonstitution am Erkenntnisobjekt Sprache vgl. Jäger (2003). 12 | Neben der Rückübertragung von »reference« als »Referenzgegenstand« oder »Bezug(sgegenstand)« (Bornet 1996, 199) entsteht ein Widerspruch zur so genannten »Extension«: Sie ist die Menge aller Gegenstände, auf die sich ein singulärer Ausdruck bezieht. Weil andererseits die »Intension« eines singulären Ausdrucks der Begriff ist, den er ausdrückt, stellt die Unterscheidung zwischen Intension und Extension eine Annäherung an Freges Unterscheidung dar (vgl. den Eintrag zu »Extension/Intension« in Hügli/Lübcke 2005). Da es mir um den Begriff der Bedeutung geht, wird darauf nicht weiter eingegangen.

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5

Sinn und Bedeutung

einen »term of art« verwendet habe. Ferner wurde darauf aufmerksam gemacht, dass Frege »bedeuten« (oder eben »mean«) transitiv gebraucht und mit »bezeichnen« gleichsetzt: »In the context of the Sinn-Bedeutung distinction the meaning or Bedeutung of an expression is what that expression means (bedeuten)« (Long/White 1980, 197). Den Umstand, dass Frege einen Kunstbegriff verwendet, spiegelt Ludwig Wittgenstein, wenn er bemerkt: »Frege would say that the object is the meaning. But ›meaning‹ is not used in any such fashion« (zit. in Long/White 1980, 202). Für den vorliegenden Kontext spielt dies jedoch keine Rolle, da der Bedeutungsbegriff trotzdem (oder vielmehr gerade deswegen) fruchtbar bleibt. Abbildung 1: »Bedeutung« zwischen Subjekt und Objekt

Indem der Versuch unternommen wurde, »meaning« und »Bedeutung« auf einer Subjekt-Objekt-Achse abzubilden, lässt sich »grob sagen, dass die Verbformen ›deuten‹ bzw. ›mean‹ zwar dieselbe Relation beinhalten«, dass sich jedoch Freges »Bedeutung« auf die Objektseite, das englische »meaning« auf die Subjektseite bezieht (siehe Abbildung 1, übernommen aus Bornet 1996, 210). Der Grund für diese Ungleichverteilung lässt sich darin orten, dass sich »›meaning‹ über die äusserliche (lautliche) Verbindung mit ›mind‹« auf die Seite des Subjekts schlägt (Bornet 1996, 210). Dabei ist von besonderem Interesse, dass Albion W. Small in seiner Übersetzung von Georg Simmels »Wie ist Gesellschaft möglich?« den Subjektbegriff als »mind« überträgt (vgl. Simmel 1910, 373).13 Im Original lautet der Ausschnitt, welcher in Abgrenzung zur Gesellschaft steht: »Welcher Bezirk des äusserlich-anschaulichen Seins zu einer Einheit zusammenzufassen ist, das ergibt sich nicht aus seinem unmittelbaren und schlechthin objektiven Inhalt, sondern wird durch die Kategorien des Subjekts und von seinen Erkenntnisbedürfnissen her bestimmt.« (Simmel 1992b, 44)

13 | »Whatever be the tract of externally observable being which is to be comprehended as a unity, the consummation occurs not merely by virtue of its immediate and strictly objective content, but it is determined by the categories of the mind (Subject) and from its cognitive requirements.« (Simmel 1910, 374 f.)

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5.2

Sprachphilosophische Unterscheidung

Das Subjekt wird damit über Simmels »Erkenntnisbedürfnisse« dem Geist, Verstand oder Bewusstsein gleichgesetzt.14 In ähnlicher Weise hat Max Weber (1988f, 76) auf die problematische Annahme hingewiesen, das »›erfahrende‹ Subjekt (dasjenige also, welches der objektivierten Welt gegenübersteht) sei das wirkliche Subjekt«, welcher er den »theoretischen Begriff des nur gedachten ›erkenntnistheoretischen Subjektes‹, dessen Grenzfall das vielverlästerte ›Bewusstsein überhaupt‹ bildet«, entgegenstellt. »Bewusstsein/mind« weist dann in Richtung Kognition, die an anderer Stelle in Erscheinung tritt (siehe Seite 116). Abbildung 2: »Bedeutung« zwischen Sinn und Objekt

Im Weiteren macht Gérard Bornet (1996, 210), der für diesen initialen Darstellungsversuch verantwortlich zeichnet, darauf aufmerksam, dass »Bedeutung« und »meaning« dann gerechtfertigt zusammenfallen, wenn sie »›Sinn‹ im Sinne von Geist« bezeichnen. Wenn demzufolge das »Subjekt« der vorherigen Relation (aus Abbildung 1) durch »mind/Sinn« ersetzt wird, dann rückt »Bedeutung« von ihrem bei Frege angestammten Platz weg und verschiebt sich hin zu »meaning« und zum neu repräsentierten »Subjekt« (siehe Abbildung 2, übernommen aus Bornet 1996, 211).15 Während das »Subjekt« mit »deuten« verbun14 | Das englische mind hat natürlich nicht die Bedeutung »Bewusstsein« (wohl aber die Bedeutung »Sinn« und »Sinn« wiederum hat die Bedeutung »Bewusstsein«; siehe Fussnote 2; vgl. Zeman 2001, 1266). In Vorbereitung auf spätere Betrachtungen erlaube ich mir eine heuristische Verschiebung in Richtung Kognition und Sprache. Eine etwas verquere Formulierung dazu aus der Reihe der Kybernetik lautet: »Denken [als Tätigkeit im Umfeld Geist/Verstand/Bewusstsein eingesetzt; S. B.] wäre dann die Verschärfung zugleich der Differenz jeder Sprache gegenüber dem Bewusstsein und jeder Wahrnehmung gegenüber der Kommunikation. Denken wäre Bewusstsein und Kommunikation von Grenzziehungen. Denken wäre der aussichtslose Versuch, sich sprachlich auf Wahrnehmung zu beziehen und zugleich das Produkt aller Kommunikationen, in denen dies als dennoch gelungen, und aller Vorstellungen, in denen dies als dennoch möglich erscheint.« (Baecker 1994, 66) 15 | Als selbstkritischer Einwand kann vorgebracht werden, dass das »Dazwischen« kein »Raum« ist, jedenfalls nie in dieser Form intendiert wurde. Deshalb kann nichts zwischen Subjekt und Objekt verschoben werden und auch von Ferne und Nähe lässt sich nicht sprechen. Dies wird in einem späteren Schritt durch ein Verständnis des Dazwischen als Topos überwunden (siehe Seite 346).

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5

Sinn und Bedeutung

den ist, drängt die Ersetzung durch »mind« hin zu »meinen«. Dabei handelt es sich jedoch bei beiden um verweisende Tätigkeiten. Wenigstens zwei Einwände lassen sich gegen diesen Darstellungsversuch vorbringen: 1. Die Verwendung von Subjekt und Objekt ist problematisch und nicht angebracht, da sie als generische und kategoriale Begriffe keinen Zusatznutzen aufweisen. Deswegen werden sie in meiner Weiterentwicklung durch Individuum und Gesellschaft ersetzt (siehe Abbildung 3).16 2. Obgleich diese graphische Erörterung »recht unbestimmt oder hypothetisch geblieben« ist (Bornet 1996, 211), kann der Ersetzung wie der Verschiebung gefolgt werden, jedoch nur mit der notwendigen Vorsicht und einigen Anpassungen. Darauf aufbauend wird eine eigene Darstellung vorgeschlagen, die ebenfalls hypothetisch bleibt. Abbildung 3: Zwischen Individuum und Gesellschaft

Sinn Individuum

Dazwischen

Gesellschaft Bedeutung

Um den Einwänden zu begegnen, wurde einerseits die Terminologie dem vorliegenden Kontext angepasst; andererseits verweisen die Zuordnung von »Sinn« und »Bedeutung« wie das eingefügte Dazwischen als Medium und Ort der Vermittlung durch »mean/deuten« bereits auf die zu entwickelnde Konzeption. Schliesslich wurde auch die mögliche Laufrichtung der »Deutung« erweitert. Zugleich kann damit die bisherige These (siehe Seite 87) weiter präzisiert werden: These 5–A2 Während »Sinn« auf Seiten des handelnden Individuums zu verorten ist, findet sich »Bedeutung« auf Seiten des »Gegenstands« (Gesellschaft) bzw. ist (im Sinne einer Deutung/Zuweisung) auf diesen gerichtet.

Es handelt sich bei dieser These nicht um eine Argumentation gegen Frege und die Intersubjektivität, sondern vielmehr um eine verstärkte Entgegensetzung, die später wieder aufgehoben wird.17 Während 16 | Bestärkt wird dieses Vorgehen durch die folgende Aussage: Sinn lasse sich auf der Seite des »Menschen« – in der vorliegenden Arbeit als Individuum bezeichnet (siehe Kapitel 4) – verorten, wohingegen die Gesellschaft »nur der lehrende Vermittler des sinnhaften Handelns« sei (Tenbruck 1986, 110, 115). 17 | Ginge es hier um eine linguistische und nicht um eine soziologische Herangehensweise, dann wäre in Erwägung zu ziehen, »Bedeutung« durch »Extension«

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5.2

Sprachphilosophische Unterscheidung

diese Darstellungen und die resultierende These auf die Vorbereitung der späteren Diskussion von »Bedeutung« abzielen, weist das folgende Zitat zurück auf die etymologische Auseinandersetzung mit Sinn und Bedeutung: »›Sinn‹ [bei Frege] meint eben den Weg, die Richtung der Erkenntnis einer Sache [. . . ]. Die übliche sprachphilosophische Auffassung, dass der Sinn eines Ausdrucks darin besteht, seine Bedeutung zu bestimmen, ist damit nichts anderes als eine semantische Reformulierung des ursprünglich erkenntnistheoretischen Gedankens, dass der Weg das Ziel, nämlich den Gegenstand der Erkenntnis erkennen lässt.« (Gabriel 1989, xvi)

Bezüglich Sinn führt uns Frege zur Metapher des »sich auf den Weg begeben« zurück und damit sogar vor die Übertragung des Sinnbegriffs in den geistigen Bereich (vgl. Thürnau 1995, 810 f.). Im Fall der Bedeutung führt er den Begriff dermassen nahe an das Objekt (den Gegenstand) heran, dass der »geistige Vorgang des Deutens« keine Rolle mehr spielt (Bornet 1996, 214). Seine Bedeutungstheorie, die eben keine Sinntheorie ist, setzt den Schwerpunkt deshalb nicht auf den Weg, sondern auf das Ziel. Kurz: Sinn ist der Weg, Bedeutung das Ziel.18 Diese Zuordnung findet sich auch in der Formulierung, wonach wir »sinnen«, um Bedeutung zu konstruieren. Gerade dieser »geistige Vorgang« des gerichteten Handelns, so wird zu zeigen sein, ist in der soziologischen Betrachtungsweise von zentraler Bedeutung. Aufgrund der präzisierten These lässt sich nun eine vorläufige Arbeitshypothese formulieren: Hypothese 5–1 »Sinn« ist das »Medium« der Bedeutungszuweisung (Deutung).

Obgleich sich die bisherigen Ausführungen mit der etymologischen Herleitung und mit Teilen von Freges Sprachphilosophie befasst haben, weisen These wie Hypothese in eine zunehmend sozialwissenschaftliche Richtung. Die Arbeitshypothese wird im Folgenden durch zwei soziologische Beispiele angegangen und weiter geschärft: Max Webers sinnhaftes Handeln ([1922] 1980) und Jeffrey Alexanders Meaning-Making (2003).

zu ersetzen (vgl. Thürnau 1995, 812). Damit bestünde ein Konstrukt, auf welches sich das Zeichen im strengen Sinne seiner Disziplin anwenden liesse. 18 | Sowohl der Nachweis, »dass für Frege ›Bedeutung‹ im Sinne von ›Wichtigkeit‹ eine nicht vernachlässigbare Rolle spielte« (Bornet 1996, 219), wie die »Tatsache, dass [in der Bedeutungstheorie] eine zentrale Argumentation von Frege aus logischer Sicht fehlerhaft ist« (Bornet 1996, 228), können im vorliegenden Kontext vernachlässigt werden.

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5

Sinn und Bedeutung

5.3 Max Weber: Sinnhaftes Handeln Durch die folgende, vielfach zitierte Aussage hat Max Weber den bedeutsamen Grundstein für den Umgang mit »Sinn« innerhalb der Soziologie gelegt. »Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heissen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.19 ›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äusseres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heissen, wenn und insoweit als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heissen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.« (Weber 1980, 1)

Darin legte Weber nicht nur eine grundsätzliche Bestimmung der »verstehenden Erfassung der im sinnhaften Handeln der Menschen konstituierten sozialen Wirklichkeit« vor (Merz[-Benz] 1990, 7),20 sondern prägte die Soziologie als Ganzes. Seiner Definition »sozialen Handelns« oder auch »sinnhaften Handelns« (sie werden synonym verwendet) kommt aus folgendem Grund eine zentrale Bedeutung zu: »Diese Definition schreibt die Emergenz des Sozialen in den gemeinten Sinn ein. Damit wird aber die Handlungsstruktur individualisiert und das Soziale instrumentalisiert, und das heisst: das Soziale weist somit keine eigendynamische Potentialität auf. Soziologien, die dieser Definition Webers gefolgt sind, gründen auf einem methodologischen Individualismus.« (Bender 1994, 268)

Was in dieser Einschätzung negativ anklingt – eine auf individuelle Handelnde bezogene soziale Organisation –, lässt sich auf eine verkürzte Lesart der verstehenden Soziologie zurückführen. Diese Lesart weist Webers Definition eine zu starke Komponente sozialer Konstruktion zu, die so nicht in ihr angelegt ist. Die Bedeutung gemeinsamer Deutungen und die Tatsache, dass bei Weber soziales Handeln »bloss« Grundlage der sozialen Beziehung ist, werden schlicht unterschlagen:

19 | Die eingeklammerte Stelle zeigt sehr schön, wie die Soziologie Probleme mit ihren Begriffen hat und wie sie damit, unter Verwendung des Sinnbegriffs, umgeht. 20 | »Verstehen« bei Weber meint – in einer bloss analytischen Trennung – einerseits das »Vorgehen innerhalb des durch den methodologischen Rahmen gesetzten Spektrums an Möglichkeiten zur Begriffsbildung« und andererseits die »besondere Variante der substantiellen Erschliessung von Wirklichkeit« (Merz[-Benz] 1990, 45).

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5.3

Max Weber: Sinnhaftes Handeln

»Soziale ›Beziehung‹ soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heissen. [. . . ] Ein Mindestmass von Beziehung des beiderseitigen Handelns aufeinander soll also Begriffsmerkmal sein.« (Weber 1980, 13)

Obgleich »Mindestmass« nicht eine vollständige »eigendynamische Potentialität« beinhalten mag, sollte genug »Soziales« in Webers Ansatz vernehmbar sein. Desweiteren fällt die Häufung des Begriffs Sinn in den beiden Zitaten Webers auf (wie »subjektiver Sinn« oder »Sinngehalt«). Sie zeigt an, dass der Begriff eine zentrale Stellung in der Soziologie einnehmen und als einer ihrer Grundbegriffe gelten darf (vgl. Schützeichel 2003, 30).21 Max Weber kommt dabei die Ehre zu, eine wichtige Grundlage dafür gelegt zu haben. Für ihn beruht Sinn auf der subjektiven Möglichkeit, zur Welt Stellung zu nehmen. Bereits 1904 vermerkte er, der »Kulturmensch« sei »begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen« (Weber 1988c, 180). Sinn verbleibt jedoch nicht nur in der individuellen Sphäre, sondern schlägt sich durch auf die soziale Beziehung. Diese Beziehung ist mehr als gegenseitiges soziales Handeln; ein »aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten« legt dies nahe und zeigt den besonderen Umgang mit Sinn. Heinrich Rickert, der in vielerlei Hinsicht als der geistige Vorvater Max Webers gilt, hatte die Geschichtswissenschaft als die »eigentliche Wirklichkeitswissenschaft« bezeichnet und diesen Begriff wohl von Georg Simmel übernommen, der ihn in gleicher Weise verwendet hatte (Merz[-Benz] 1990, 178; vgl. Freyer 1930). Obgleich nicht als Soziologie bezeichnet (er meinte eigentlich Geschichte), interessierte sich Rickert für jene Wissenschaft, deren Objekt »das menschliche Geistesleben (ist), wie es sich in der Gesellschaft gestaltet« (zit. in Merz[-Benz] 1990, 213). Diesem Programm schliesst sich Max Weber mit seiner »Konzeption einer wirklichkeitswissenschaftlichen Sozialwissenschaft« an, richtet sie jedoch an der »gegenwärtigen [nicht der vergangenen] Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens« aus (Merz[-Benz] 1990, 214). Damit sich ein »Erlebnis« in dieser Wirklichkeit verorten lässt, braucht es ein »Denken über das Erlebnis« (Weber 1988f, 110). Dieses Denken vollzieht sich nicht über blosse »›Abbildung‹ der Wirklichkeit« (Weber 1988f, 92), sondern es verwendet Allgemeinbegriffe oder Wortbedeutungen, um das Erlebnis in eine intersubjektiv nachvollziehbare »Gestalt« zu bringen, beispielswei21 | Nicht erst meine vorhergehenden Betrachtungen zeigen auf, dass der Begriff als Grundbegriff deutliche Unschärfen aufweist. So wurde als Antwort und in Bezug auf Weber schon angemerkt, »Sinn« solle die Eignung als Grundbegriff abgesprochen werden (vgl. Hollis 1991, 17).

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5

Sinn und Bedeutung

se in die Gestalt »der wissenschaftlichen Darstellung von Tatsachen« (Weber 1988f, 89, 110; vgl. Merz[-Benz] 1990, 254). Diese Herangehensweise hat Ähnlichkeit mit dem erwähnten »Dreisprung« bei Frege (siehe Seite 91), denn es ist die Rede vom »Erlebten« als von »›Stellungnahmen‹ [. . . ], die wir in jedem Augenblick vollziehen und deren wir uns in dem betreffenden Augenblick in sehr verschiedenen Grade und ›Sinn‹ bewusst werden« (Weber 1988f, 103). Wirklichkeitswissenschaft meint gleichfalls das »Bestreben, sich im Erkennen der Wirklichkeit anzunähern« (Merz[-Benz] 1990, 278) und sich dem »Erlebten« wissenschaftlich zuzuwenden. Der Vorsatz Webers, dass »nicht Logik getrieben, sondern [. . . ] bekannte Ergebnisse der modernen Logik für uns nutzbar gemacht, Probleme nicht gelöst, sondern [. . . ] [in] ihre[r] Bedeutung veranschaulicht werden« (Weber 1988c, 146; vgl. Merz[-Benz] 1990, 21), wurde in ähnlicher Form auch von Georg Simmel und Ferdinand Tönnies geteilt.22 Doch im Gegensatz zu diesen war Weber kein Philosoph. Darauf mag zurückzuführen sein, dass er von zwei Seiten kritisiert wurde. Zum einen wurde bereits angemerkt, dass das Soziale hinter das Individuelle zurücktreten würde, zum anderen habe Weber zwar die Grundlegung der Disziplin auf subjektiv gemeintem Sinn vollzogen, sie sei jedoch von ihm unmittelbar wieder objektiviert worden (vgl. Frisby 1990a, 58).23 Hier mag es nicht nur zum Vorteil gereichen, dass Weber seine verstehende Soziologie als »Wirklichkeitswissenschaft« konzipiert hat (vgl. Weber 1988c, 170). Sehr schnell, so der zweite Vorwurf, würden diesem Anspruch subjektive Elemente geopfert.24 Dass dieser zweite Kritikpunkt ebenfalls keinen Bestand hat, geht aus der nachfolgenden Betrachtung hervor und grundlegend aus der verstehenden Soziologie selbst, die »das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste Einheit [. . . ] behandelt.« (Weber 1988a, 439) Der erste Kritikpunkt und damit die Antwort auf den zweiten wird von dieser Soziologie selbst »gestützt«, indem sie den »Ausgangspunkt 22 | Würde Max Weber in der vorliegenden Arbeit über den Gesellschafts- und den Sinnbegriff hinaus beigezogen, dann wären Vergleiche unter anderem mit Simmel (Tyrell 1994), Elias (Breuer 1996), Luhmann (Schwinn 2006) und Tönnies (Weber 1980, 22) angebracht. Dann liesse sich auch vertieft zeigen, dass Weber zwischen »sozialem Handeln« und »sozialer Beziehung« unterscheidet, diese aber zugleich verbindet und operativ zusammenführt (vgl. Greshoff 2006). 23 | David Frisby gelangt wohl über den »Idealtypus« und die damit verbundene Rationalität und Objektivität zu seiner Aussage (vgl. Merz[-Benz] 1990, 414 f.; Weber 1988f, 89, 79). 24 | Die soziologischen Tatbestände Emile Durkheims kommen in den Sinn oder der positive Wissenschaftsanspruch Auguste Comtes (siehe Fussnote 26 auf Seite 36). Zudem zeigen sich allgemeine Schwächen, weil Webers verstehende Soziologie in Ansätzen verharrt und seine »Arbeiten zur Wissenschaftslehre keineswegs den Eindruck von Geschlossenheit« vermitteln (Merz[-Benz] 1990, 227).

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5.3

Max Weber: Sinnhaftes Handeln

des sozialwissenschaftlichen Interesses« definiert als »die wirkliche, also individuelle Gestaltung des uns umgebenden sozialen Kulturlebens« (Weber 1988c, 172). Das Individuelle wird hier als das Wirkliche dargestellt. Im Spektrum der Kritik an Webers Ansatz zeigt sich erneut die Paradoxie der Soziologie, d. h. als objektive Wissenschaft subjektive Zustände beschreiben zu wollen, die bereits beschrieben sind und zuerst als Konzeption überhaupt aufgesetzt werden müssen (siehe Kapitel 3.4). Mit anderen Worten: »Die Idee einer Wissenschaft, welche denselben Gegenstand besitzt wie der Mensch in seinem alltäglichen Denken und Handeln und welche diesen Gegenstand zudem zu erkennen sucht in dessen eigenartigem Gewordensein, soll gemäss den Intentionen Webers realisiert werden in Form einer empirischen Fachwissenschaft.« (Merz[-Benz] 1990, 17)

Damit wird der Soziologie der Charakter einer eigenen Disziplin oder Einzelwissenschaft zugesprochen, und es stellt sich eine Abkehr von der »enzyklopädischen Auffassung der Sozialwissenschaft« ein, die alle anderen mit »Aspekten des sozialen Lebens befassten Wissenschaften« in sich aufnehmen wollte (Merz[-Benz] 1990, 18).25 Es kann kaum bestritten werden, dass die seit ihrer Gründungszeit bestehende, »erkenntnistheoretische Problematik, die Bewältigung der komplexen Struktur des Verhältnisses von Wissenschaft und Gegenstand, als noch unerledigte Hypothek auf ihr lastet.« (Merz[-Benz] 1990, 22, vgl. 225) Der beobachtende Soziologe ist also mit dem »Problem« konfrontiert, dass er dem sozial Handelnden einen subjektiv gemeinten Sinn unterstellen muss. Das »aktuelle Verstehen des gemeinten Sinnes einer Handlung« fragt dabei nach dem »was«, das erklärende Verstehen fragt nach dem »warum« und weist auf den »Sinnzusammenhang« hin (Weber 1980, 3 f.). Kurz: Der beobachtende Soziologe vollzieht eine »deutende Erfassung« qua Verstehen des Sinngehalts (vgl. Weber 1988a, 443 f.). In den »Soziologischen Grundbegriffen« bemerkt Weber (1980, 14), dass der »Sinngehalt einer sozialen Beziehung« wechseln kann und lenkt damit den Blick auf die Zuweisung von Bedeutung (jedenfalls kann seine Aussage in diese Richtung gelesen werden). Neben diese Zuweisung müsste dann das Verstehen treten, und er spricht denn auch vom »gegenseitigen Verstehen, also der Stiftung aller sozialen Beziehungen« (Weber 1980, 23). Dieses Verstehen bezieht sich auf

25 | Ferdinand Tönnies’ Konzeption einer »Allgemeinen Soziologie« und Georg Simmels frühes Verständnis der Soziologie als einer »eklektischen Wissenschaft« fallen noch unter diese enzyklopädische Auffassung (vgl. Merz[-Benz] 1990, 18).

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5

Sinn und Bedeutung

den gemeinten Sinn einer Handlung, auf den Sinn von Handlungen sozialer Beziehungen: »Der Sinngehalt, welcher eine soziale Beziehung perennierend konstituiert, kann in ›Maximen‹ formulierbar sein, deren durchschnittliche oder sinnhaft annähernde Innehaltung die Beteiligten von dem oder den Partnern erwarten und an denen sie ihrerseits (durchschnittlich und annähernd) ihr Handeln orientieren.« (Weber 1980, 14)

Das antiquierte »perennierend« für »ausdauernd« würde heute wohl mit »nachhaltig« umschrieben. Es geht dabei um feststehende, an Einstellung und Erwartung orientierte Beziehungen, die vor allem der Orientierung dienen. Orientierung meint auch die »Auswahl« von Teilen der »unendlichen Mannigfaltigkeit« der Wirklichkeit als bedeutungsvoll (vgl. Weber 1988f, 86; 1988c, 177). Schliesslich weisen die von Weber erwähnten »Maximen« deutlich in eine bestimmte Richtung. Die für das »Verstehen« der verstehenden Soziologie wichtigen Begriffe »Bedeutung«, »Sinn« und »Deutung« werden von Weber über den Begriff des »Wertes« oder genauer der »Wertbeziehung« bestimmt (vgl. Weber 1988f, 91). »In allen diesen [von Weber geschilderten, vielfältigen; S. B.] Fällen ist vielmehr der Sinn, den wir den Erscheinungen beilegen, d. h. die Beziehungen auf ›Werte‹, die wir vollziehen, dasjenige, was der ›Ableitung‹ aus den ›Elementen‹ als prinzipiell heterogenes und disparates Moment die Pfade kreuzt. Diese ›unsere‹ Beziehung ›psychischer‹ Hergänge auf Werte, – gleichviel, ob sie als undifferenziertes ›Wertgefühl‹ oder als rationales ›Werturteil‹ auftritt, – vollzieht eben die ›schöpferische Synthese‹. [. . . ] Der Begriff des ›Schöpferischen‹ kann erst da in Funktion treten, wo wir individuelle Bestandteile jener ›an sich‹ durchaus indifferenten Veränderungsreihen auf Werte zu beziehen beginnen.« (Weber 1988f, 54, 63)

Schöpferisch wird Sinn auf Wert bezogen;26 dieses Schöpferische liegt gerade im Umgang mit »Wert«, der andauernd mitschwingt. Dabei ist jede Deutung kultureller Vorgänge für Weber eine »an ›Kulturwerten‹ verankerte« Deutung (Weber 1988f, 54). Insbesondere der Begriff der 26 | Natürlich liesse sich auch »Wert« etymologisch aufschlüsseln; ich verzichte jedoch darauf, weil aus dem Folgenden klar genug hervortritt, was gemeint sein soll: »Denn im Gegensatz zum blossen ›Gefühlsinhalt‹ bezeichnen wir als ›Wert‹ ja eben gerade das und nur das, was fähig ist, Inhalt einer Stellungnahme: eines artikuliert-bewussten positiven und negativen ›Urteils‹ zu werden, etwas, was ›Geltung heischend‹ an uns herantritt, und dessen ›Geltung‹ als ›Wert‹ ›für‹ uns demgemäss nun ›von‹ uns anerkannt, abgelehnt oder in den mannigfachsten Verschlingungen ›wertend beurteilt‹ wird. Die ›Zumutung‹ eines ethischen oder ästhetischen ›Wertes‹ enthält ausnahmslos die Fällung eines ›Werturteils‹. [. . . ] [S]o ist für unsere Betrachtungen das eine jedenfalls festzustellen: dass die Bestimmtheit des [Urteils-]Inhaltes es ist, welche das Objekt, auf welches sie sich beziehen, aus der Sphäre des nur ›Gefühlten‹ heraushebt.« (Weber 1988f, 123)

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5.3

Max Weber: Sinnhaftes Handeln

Deutung wird an den Begriff des Wertes angebunden und als »wertbeziehende Interpretation« verstanden (Weber 1988f, 122).27 Daneben gilt, dass die Begriffe der Bedeutung und des Sinns ebenfalls »am Wertbegriff verankert« sind (Henrich 1952, 48). Besonders fruchtbar scheint der Begriff der Bedeutung, der in dem Wertebegriff versteckt ist und hinter dem bekannten »sinnhaften Handeln« verborgen bleibt. Denn im Gegensatz zum sinnhaften Handeln erstreckt sich Webers Auseinandersetzung mit »Bedeutung« nicht bloss über zwei Texte (vgl. Weber 1988a; 1980), sondern über weite Teile der Wissenschaftslehre. Dort beschäftigt er sich mit der »unendlichen Mannigfaltigkeit« und damit, dass die »durch individualisierende Abstraktion« getroffene Auswahl als bedeutungsvoll erscheint. Diese Auswahl muss folglich »etwas enthalten, das für uns einen ›Wert‹ darstellt.« (Merz[-Benz] 1990, 281) Das »Prinzip der Auswahl« dieses »Wesentlichen« beruht demzufolge auf der »Beziehung auf Werte« und setzt die »›Objektivierung‹ und Analysis der Wirklichkeit« voraus (Weber 1988f, 86). Diese Objektivierung erinnert nochmals an den zweiten Kritikpunkt, der jedoch Webers heuristisches Vorgehen verkennt. Obschon »Wertbeziehung« zunächst nur »die philosophische Deutung desjenigen spezifisch wissenschaftlichen ›Interesses‹ meint, welches die Auslese und Formung des Objektes einer empirischen Untersuchung beherrscht« (Weber 1988b, 511), stellt sie zugleich »den ›logischen Kern‹ einer bereits die vorwissenschaftliche, alltägliche Einstellung prägenden Zuwendungsform zur Wirklichkeit« dar (Merz[-Benz] 1990, 281).28 Durch »›praktische‹ Bewertungen« erhalten die »durch unser Handeln beeinflussbaren Erscheinung[en]«, d. h. gewisse Objekte und Vorgänge, für uns eine Bedeutung (Weber 1988b, 489). Obgleich bei Weber der wissenschaftliche Umgang im Vordergrund steht, geht dieser doch aus dem vorwissenschaftlichen Modus hervor.

27 | Erläuternd dazu: »Die Kategorie der ›Deutung‹ zeigt ein doppeltes Gesicht: sie kann 1. eine Anregung zu einer bestimmten gefühlsmässigen Stellungnahme sein wollen – so die ›Suggestion‹ eines Kunstwerks oder einer ›Naturschönheit‹: dann bedeutet sie die Zumutung zum Vollzug einer Wertung bestimmter Qualität. Oder sie kann 2. Zumutung eines Urteils im Sinn der Bejahung eines realen Zusammenhanges als eines gültig ›verstandenen‹ sein: dann ist sie das, was wir hier allein behandeln: kausal erkennende ›Deutung‹.« Schliesslich weist Weber darauf hin, »dass zwischen beiden Kategorien eine dritte liegt: die ›Deutung‹ im Sinn einer nicht kausalen, und auch nicht wertenden, sondern einer die Wertung durch Analyse möglicher Wertbeziehungen eines Objektes (etwa des ›Faust‹) vorbereitenden ›Interpretation‹.« (Weber 1988f, 89) 28 | Hier scheint mir die Formulierung »Auslese und Formung des Objekts« hervorhebenswert, da darin erneut die Paradoxie der Soziologie aufscheint (siehe Kapitel 3.4). Die »vorwissenschaftliche Einstellung« verweist zudem zurück auf die Selbstbeschreibung des Gesellschaftsbegriffs.

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5

Sinn und Bedeutung

»Die Sozialwissenschaft ist demnach auf einer Begriffsbildung zweiter Ordnung aufgebaut. Um Phänomene zu identifizieren, die von ›Kulturbedeutung‹ sind, müssen zunächst die Sichtweisen der Gesellschaftsangehörigen verstanden und rekonstruiert werden. Die ›unendliche Mannigfaltigkeit‹ wird nicht erst von der Sozialwissenschaft, sondern von den Gesellschaftsangehörigen selber in einer für sie sinnvollen Weise strukturiert.« (Balog 2001, 33 f.)

Dies hiesse in einfachen Worten: Die Soziologie funktioniert in dieser Weise, d. h. über Be-werten und Be-deuten, weil das beobachtete soziale Individuum ebenfalls schon so funktioniert.29 Das »Bewerten« hängt vom betreffenden Objekt ab und ist unabhängig vom äusseren Inhalt, »nach dem uns ein Objekt etwas bedeutet« oder davon, »ob es uns als ›Zweck‹ oder ›Mittel‹ gilt« (Merz[-Benz] 1990, 281); entscheidend ist nur die Differenzierung in »bedeutend« und »unbedeutend«. Erkenntnis ist deshalb nur denkbar »auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat.« (Weber 1988c, 180) Dieses Zitat, das uns im weiteren Verlauf nochmals begegnen wird, weist auf die grundlegende Bedeutung Max Webers für einen soziologischen Zugang über »Bedeutung« hin und weist bereits auch über Weber hinaus. Die Gegenüberstellung von wissenschaftlichem und vorwissenschaftlichem Modus legt nahe, »dass im täglichen Leben trotz des laufenden Vollzugs von Bewertungen nur in den seltensten Fällen Bewusstheit hinsichtlich dieses Vorgangs herrscht« (Merz[-Benz] 1990, 282); er im vorwissenschaftlichen Modus also weitgehend verborgen bleibt (vgl. Weber 1980, 10). Aufgabe der Soziologie ist es deshalb, das »individuelle Bewerten« zu überwinden, um den dabei entstandenen, zugleich überindividuellen und belassenen »Erkenntnisgegenstand« deutend zu verstehen und ursächlich zu erklären (vgl. Weber 1988c, 184). Die Soziologie hat daher »die charakteristische Bedeutung einzelner konkreter Kulturelemente in ihren konkreten, der ›inneren Erfahrung‹ verständlichen Ursachen und Wirkungen bewusst werden zu lassen.« (Weber 1988f, 14) Das soziale Handeln liesse sich dabei als Verbindung oder Mittler zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen lesen: den allgemeinen, intersubjektiv verbindlichen Wertbeziehungen stehen die besonderen, je konstituierten, bedeutungsvollen

29 | »Die Deutung des sprachlichen ›Sinns‹ eines literarischen Objekts und die ›Deutung‹ seines ›geistigen Gehalts‹, seines ›Sinns‹ in dieser, an Werten orientierten Bedeutung des Wortes, [. . . ] sind [. . . ] logisch grundverschiedene Vorgänge, der eine, die sprachliche ›Deutung‹ ist die [. . . ] elementare Vorarbeit für alle Arten der wissenschaftlichen Bearbeitung und Verwertung« (Weber 1988d, 247 f.).

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5.3

Max Weber: Sinnhaftes Handeln

Wirklichkeiten gegenüber (vgl. Merz[-Benz] 1990, 292 f.).30 Die wissenschaftliche Erkenntnis hängt demzufolge von dieser Verbindung oder diesem Medium ab. Daraus lässt sich eine weitere These ableiten: These 5–B Das soziale Handeln als Akt der Bedeutungszuweisung dürfte einem angenommenen Dazwischen von Individuum und Gesellschaft als Medium nahe kommen (siehe Kapitel 13), diesem sogar entsprechen.

Noch losgelöst von einem möglichen Dazwischen verbinden sich hier die »Arten menschlichen Zusammenhandelns« und die soziologische »Aufgabe, sie auf ›verständliches‹ Handeln, und das heisst ausnahmslos: auf Handeln der beteiligten Einzelmenschen, zu reduzieren.« (Weber 1988a, 439) Daraus schliesst Weber, dass der Einzelne »der einzige Träger sinnhaften Sichverhaltens« ist. Dennoch bleibt festzuhalten, dass »sich das Verstehen gerade nicht allein auf das subjektive Meinen« bezieht, »der subjektiv gemeinte Sinn [demnach] nur der Ansatzpunkt des Verstehens« ist und sich in ihm die »Bedeutung von Sinnhaftigkeit« keinesfalls erschöpft (Merz[-Benz] 1990, 359). Jedes »soziale Gebilde«, sei es Erscheinung oder Artefakt, wird als mehr oder minder fest gefügter Sinngehalt und einer daraus resultierenden Handlung gelesen (vgl. Weber 1980, 13). Das Sinnverstehen erhält dadurch seine methodologische Bedeutung, und die Sozialwissenschaft begründet sich nach Weber auf »dem Konstituiertsein der sozialen Wirklichkeit im Handeln der Menschen« (Merz[-Benz] 1990, 370), durch das eine gegenseitige Orientierung erst möglich wird. Eine solche Wissenschaft gesteht daher ein, dass Wirklichkeit »als soziale einzig im gegenseitigen verstehensorientierten Handeln der Menschen konstituiert ist« und hat, gemäss Alfred Schütz (vgl. Merz[-Benz] 1990, 440 f., 454 f.; Endreß 2006, 29–37), die Problematik ihres rekonstruktiven Vorgehens – d. h. der »wissenschaftliche[n] Interpretation von bereits in alltäglichen Verstehensprozessen vor-interpretierten Sachverhalten« – zu berücksichtigen (Merz[-Benz] 1990, 371; vgl. Hillmann 1994, 783). Das spezifische Merkmal der »subjektivierenden« Wissenschaften, und diese können über die Geschichtswissenschaft hinaus auf die Soziologie ausgedehnt werden, ist nach Weber (1988f, 88 f.) das »Ziel des [. . . ] ›deutenden Verstehens‹.« Schliesslich handelt es sich dabei erneut um die Deutung des mutmasslich Gedeuteten, wobei wissenschaftliche Deutung auch als »Nachbildung« der Sinnzusammenhänge (Weber 1988f, 70, 102) und damit als Beschreibung der Selbstbeschreibung gelesen werden kann. 30 | Diese Aussage erinnert erneut an Freges Unterscheidung von »Vorstellung« und »Sinn« (siehe Seite 90).

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5

Sinn und Bedeutung

Die als sinnhaft bezeichnete Wirklichkeit entspricht nicht bloss der »grundsätzlich in gleicher Art ›gegeben[en]‹ [Erfahrung]«, sondern wird der »Deutung« zugänglich; sie wird über die besondere Methode einer sinnverstehenden Erschliessung zum Objekt des »Verstehens« (Weber 1988f, 12 f.; vgl. Merz[-Benz] 1990, 318). Die »richtige kausale Deutung eines konkreten Handelns« ist Methode der verstehenden Soziologie und bedeutet: »dass der äussere Ablauf und das Motiv zutreffend und zugleich in ihrem Zusammenhang sinnhaft verständlich erkannt sind.« (Weber 1980, 5) Damit sind wir zu dem zurückgekehrt, was als »aktuelles« und »erklärendes« Verstehen unterschieden wird, wobei das erste die unmittelbare Sinnhaftigkeit feststellt, das zweite den subjektiv gemeinten Sinn des Handelns erschliesst. Eine derartige Wissenschaft hat sich aber mit weit mehr zu beschäftigen: »Gefordert ist eine differenziertere Darstellung der dem Menschen aufgegebenen Mittler-Tätigkeit zwischen Überwirklichem und Wirklichem [zwischen Wertidee und Wirklichkeit; S. B.], sprich: die Entschlüsselung der Herstellung realer Handlungs- und Sinnzusammenhänge als eines Prozesses, der gleichzeitig eine Wertverwirklichung darstellt – als eines Prozesses, in dem Wertgehalte eine Besonderung und dabei nach ihrer Ausdrucksfähigkeit auch eine Übertragung in die Sphäre des Sinnhaften erfahren.« (Merz[-Benz] 1990, 451)

Der Reflexionsgegenstand besteht demzufolge »im real sich darstellenden Handeln der Menschen und insbesondere dem diesem Handeln eigenen Verbundensein von Wertverwirklichung und Sinnverleihung.« (Merz[-Benz] 1990, 451) Obgleich das »Innere« des Individuums nicht Erkenntnisgegenstand der verstehenden Soziologie ist, neige ich dazu, den früher erwähnten Mittler zwischen Allgemeinem und Besonderem auf Seiten des Individuums zu verorten, weil in ihm die Wertgehalte erst hervortreten (vgl. Merz[-Benz] 1990, 452). Dies beinhaltet die erkannte Komplexität der gegenseitigen Orientierung, da »(aufgrund des ›Chaos‹ unter den konkreten Erscheinungen) in jedem Fall nur ein Teil der individuellen Wirklichkeit für uns Interesse und Bedeutung hat, weil nur er in Beziehung steht zu den Kulturwertideen, mit welchen wir an die Wirklichkeit herantreten.« (Weber 1988c, 178, vgl. 175 ff.)

Interessant hierbei ist, dass dieses Kriterium – das »bedeutsam machen« bzw. »bedeutsam werden« (Weber 1988c, 181, 175) – wohl nicht nur auf den wissenschaftlichen Umgang zutrifft, sondern auf jede beliebige Annäherung an die Wirklichkeit (vgl. Merz[-Benz] 1990, 334, 337). Kurz: Nur ein Teil der Wirklichkeit »hat Bedeutung für uns« (Weber 1988c, 175), weil das Interesse von Wertideen durchsetzt und bestimmt ist. Generell ist – dies wurde bereits erwähnt – jeder Kulturmensch dazu fähig, »bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und

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5.3

Max Weber: Sinnhaftes Handeln

ihr einen Sinn zu verleihen«, zu »Erscheinungen des menschlichen Zusammenseins [. . . ] als bedeutsam (positiv oder negativ) Stellung [zu] nehmen.« (Weber 1988c, 180 f.) Das dazu notwendige Werturteil heisst, »dass ich zu ihm [d. h. einem konkreten Objekt oder der theoretischen Aufstellung ›möglicher‹ Wertbeziehungen desselben; S. B.] in seiner konkreten Eigenart in bestimmter konkreter Art ›Stellung nehme‹« (Weber 1988d, 252). Im Objektivitäts-Aufsatz definiert Weber Kultur als »ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.« (Weber 1988c, 180) Anschliessend verbindet er den Bedeutungsbegriff mit jenem der Kultur zu »Kulturbedeutung« (vgl. Weber 1988c, 182 ff.).31 »Erst dadurch, dass im Stellungnehmen mit der Bedeutungskonstitution eine Sinnverleihung einhergeht, wird die im Handeln geschaffene Wirklichkeit in ihrer formalen Einzigartigkeit auch zum verständlichen Sein. Erst die zu der Verwirklichung von Werten hinzutretende Verwirklichung von Sinn hebt die Geschichte [und damit die soziale Wirklichkeit; S. B.] [. . . ] über die Stufe des in der Erfahrung gleichermassen ›Gegebenen‹ hinaus und macht sie der ›sinnvollen Deutung‹, d. h. dem Verstehen zugänglich.« (Merz[-Benz] 1990, 340; vgl. Weber 1988f, 12 f.)

Von dieser methodischen Seite, dem »zugänglich sein«, bezieht Weber seine Definition des Handelns in Abgrenzung zum blossen Verhalten: Handeln sei »stets ein verständliches, und das heisst ein durch irgendeinen, sei es auch mehr oder minder unbemerkt, ›gehabten‹ oder ›gemeinten‹ (subjektiven) Sinn spezifiziertes Sichverhalten zu ›Objekten‹.« (Weber 1988a, 429) Dabei wird dieses Handeln zum Objekt der verstehenden Soziologie. Sie ist in besonderer Weise eine »Wirklichkeitswissenschaft, die in sinnverstehender Absicht geschieht«, und das heisst: »[D]as Erkenntnisobjekt der Sozialwissenschaft ist aufgrund seines Konstituiertseins im menschlichen Handeln nicht bloss ›gegeben‹, und dergestalt allen anderen Objekten der Erfahrung gleichgestellt, sondern es besteht bei ihm [bei Max Weber] darüberhinaus die spezifische Möglichkeit der Sinn-Deutung.« (Merz[-Benz] 1990, 362)

Weber umschreibt »Sinnzusammenhang« mit Bezug auf »Abläufe des Handelns« und »zusammenhängend ablaufendes Verhalten« (Weber 1980, 4 f.). Wie »soziales Handeln (in seinem Ablauf)« ist der »Sinnzusammenhang« Hauptgegenstand seiner Soziologie: »Für die Soziologie [. . . ] ist [. . . ] gerade der Sinnzusammenhang des Handelns Objekt der 31 | Diese weite Definition von Kultur (ebenfalls in der Wortverbindung mit Bedeutung) zeigt bereits, dass nicht diese im Mittelpunkt steht, sondern vielmehr die sie konstituierenden Einheiten Sinn und Bedeutung.

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Sinn und Bedeutung

Erfassung« (Weber 1980, 6). Sinnzusammenhang meint die subjektivsinnhaften Gründe, die dem sozialen Handeln zugrunde liegen und verweist auf die Motive, an denen sich der Handelnde orientiert. Sinnzusammenhang ist der Zusammenhang von Motiv und Handeln, im weitesten Sinne also die Bedeutung, welche dem Handeln beigemessen und mitgegeben wird. »Auch eine sozialistische Wirtschaft müsste soziologisch [. . . ] ›individualistisch‹, d. h.: aus dem Handeln der Einzelnen [. . . ] heraus deutend verstanden werden [. . . ]. Denn stets beginnt auch dort die entscheidende empirischsoziologische Arbeit erst mit der Frage: welche Motive bestimmten und bestimmen die einzelnen [. . . ] Glieder dieser ›Gemeinschaft‹, sich so zu verhalten, dass sie entstand und fortbesteht?« (Weber 1980, 9)

Dabei zeigt sich deutlich, dass für Weber soziales Handeln nur als »Handeln [. . . ] von einer oder mehreren einzelnen Personen« existiert, denn nur sie sind »verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln« (Weber 1980, 6). Der Ausgangspunkt von Webers verstehender Soziologie ist demzufolge methodischer oder auch formaler Natur. Er versteht das Soziale als Sinnzusammenhang, wobei die soziale Wirklichkeit aus den Einzelnen heraus sozial konstituiert wird. So wurde beispielsweise darauf hingewiesen, dass gesellschaftliche Ordnung von Weber nicht über ihre gesellschaftliche Funktion beschreiben wird, sondern »über den spezifischen Sinn, den die Handelnden ihrem Sich-aneinander-Orientieren zugrunde legen« (Schwinn 2001, 47). Diese Auslegung ermittelt einen Einfluss Georg Simmels vor allem in der berühmten »Zwischenbetrachtung« (Weber 1920). Dort fänden sich in Ergänzung zu den »Soziologischen Grundbegriffen« (Weber 1980) die »Möglichkeiten des Sich-Orientierens-aneinander, gemäss Simmels Feststellung, dass es nie irgendwelche sozialen Beziehungen (Formen) ausgelöst von bestimmten Inhalten gibt« (Schwinn 2001, 421). Simmels Einfluss auf Weber ist, wie sich bereits im Zusammenhang mit dem Gesellschaftsbegriff gezeigt hat, nicht zu unterschätzen: »Dies wird in seinem berühmten Terminus des ›subjektiven gemeinten Sinns‹ von Handlungen deutlich, den Weber auf Anregung von Simmel von einem ›objektiven Sinn‹ abgrenzt. Der ›subjektive Sinn‹ ist der Sinn, den der Handelnde mit seinem Tun verbindet. Der ›objektive Sinn‹ ist derjenige Sinn der Handlung, wie er unter einer normativen Betrachtungsweise als richtig oder gültig herausgestellt werden kann.« (Schützeichel 2003, 30)

In der Weiterentwicklung hegte er den »Wunsch, den subjektiv gemeinten Sinn von dem objektiv gültigen scharf zu scheiden (darin teilweise abweichend von Simmels Methode).« (Weber 1988a, 427; vgl. 1980, 1) Durch den subjektiven Sinn wird das »einfache«, wenig zielgerichtete Verhalten zu Handeln, genauer: zu sozialem Handeln,

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5.3

Max Weber: Sinnhaftes Handeln

das sinngeladen sich an ein Gegenüber richtet. Somit liesse sich hier eine Analogie zu dem erwähnten »Dreisprung« Vorstellung, Sinn, Bedeutung bei Frege ziehen (siehe Seite 91). Erschwert wird ein solcher Rückschluss durch den vor allem von Alfred Schütz bemerkten Definitionsmangel bei Weber. In seinem Werk zum »sinnhaften Aufbau der sozialen Welt« liefert Schütz eine philosophische Begründung des Weberschen Sinnverstehens nach und legt das Schwergewicht darauf, wie der Handelnde selbst Sinn erzeugt (vgl. Schütz 1981; Gess 2005). Die Tatsache, dass uns Weber in den »Soziologischen Grundbegriffen« eine abschliessende Antwort schuldig bleibt, liegt wohl zu grossen Teilen in der Editionsgeschichte von Wirtschaft und Gesellschaft begründet (vgl. Schluchter 1998). Die »Grundbegriffe«, jener Bestandteil des Werkes von dem meine Betrachtung ausging,32 hat keinen Abschluss in Sinne einer Schlussbetrachtung. Ein solcher hätte allenfalls Webers Beitrag zum grossangelegten Sammelwerk Grundriss der Sozialökonomik abgeschlossen – wenn die weiteren Teilabschnitte je von ihm vollendet worden wären.33 Abschliessend soll der Hinweis erfolgen, dass Weber »seine soziologischen Grundbegriffe [zu denen in besonderer Weise das ›soziale Handeln‹ zählt; S. B.] als Beitrag zur ›allgemeinen Soziologie‹ verstanden« hatte (Lichtblau 2006, 254).34 Die fragmentarische Form, in der uns das durch Webers frühen Tod unabgeschlossene Werk vorliegt, verbirgt nicht die grundlegende und nachhaltige Qualität dieser Begriffe – vor allem aber des wertbezogenen Begriffs »Bedeutung« noch vor jenem des »sinnhaften Handelns«.35 Die fruchtbare Betrachtung von Webers Ansatz reicht von Sinn über Werte zu Bedeutung, wobei Webers »Bedeutung« an Freges Konzeption anschlussfähig scheint. Kurz: Bei Weber erlangt »Etwas« Bedeutung, weil ihm ein Wert zugewiesen wird. Damit wäre Wert gleichbedeutend mit Freges Sinn, und Bedeutung verbliebe bei dem »Etwas« (dem Gegenstand). Der Vorstellung bei Frege würde dann Webers Meinen entsprechen. 32 | Wobei deutlich wurde, dass auch andere Schriften (wie beispielsweise Weber 1988f) berücksichtigt werden müssen, um ein für den vorliegenden Zweck notwendigerweise vollständiges Bild zu erhalten. An Schütz (1981) liesse sich zeigen, dass eine auf die »Soziologischen Grundbegriffe« verkürzte Betrachtung mit Problemen verbunden ist (vgl. Merz[-Benz] 1990, 347). 33 | Zu der »schuldig gebliebenen« Auseinandersetzung Webers mit dem Kulturbegriff bzw. mit Georg Simmel vgl. Lichtblau (2000, 440 f.). 34 | Bei den frühen Vertretern des Fachs wie später bei Friedrich H. Tenbruck wird ersichtlich, dass sie sich um eine »allgemeine Soziologie« bemühen, also um einen integrierten Ansatz, der die zentralen Elemente des Sozialen erklären kann (weitgehend unabhängig davon, ob diese mit Wirtschaft (Ökonomie), Religion oder Kultur bezeichnet werden). 35 | Alle wichtigen Übersetzungen der »Soziologischen Grundbegriffe« ins Englische, verwenden »subjective meaning« für »subjektiven Sinn« (vgl. Tribe 2006, 362 f.).

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5

Sinn und Bedeutung

Bevor ich die Betrachtung nochmals erweitere, soll die Arbeitshypothese (siehe Seite 95) mit Weber in Verbindung gebracht und präzisiert werden. Als das bedeutungskonstituierende Element anerkenne ich das sinnhafte soziale Handeln (die Figur des Pleonasmus wird hier zum Zweck der Hervorhebung verwendet) und nicht den blossen »Sinn« dieses sinnhaften Handelns. Die Arbeitshypothese lautet nun: Hypothese 5–2 »Sinn« ist das »Medium« der gegenseitigen Bedeutungszuweisung (Deutung), die im Rahmen sozialen Handelns ausgeführt wird.

Unklar bleibt hier vor allem die Bedeutungszuweisung, auf die deshalb im Folgenden eingegangen werden soll.

5.4 Jeffrey Alexander: Meaning-Making In das soziologische Bewusstsein – wenn auch nur beschränkt – dürfte das so genannte »meaning-making« wohl um das Jahr 2000 getreten sein. Der programmatische Artikel »Meaning-Making in Cultural Sociology« (Lamont 2000) wollte zur Ausweitung der Forschungsagenda beitragen. Während es sich vordergründig um eine »neue«, spezifisch angelsächsische Ausprägung der Kultursoziologie handelt, kann sie die Behandlung von »meaning« nicht als eigentliche Neuheit beanspruchen.36 Bereits Anfang der 1990er Jahre wurde festgestellt: »in the recent period, culture has been taken to be above all a matter of meaning« (Hannerz 1992, 3; vgl. Griswold 1992, 324 f.). Doch schon früher wurde in einem kulturtheoretischen Rundumblick ein ähnliches Verständnis festgestellt: »The concept of culture comes into play to the degree that meaning is conceived as ordered [. . . ]. Culture is the ›order‹ corresponding to meaningful action.« (Alexander 1990, 1 f.) Schliesslich war es schon Max Weber, der festgestellt hatte, dass »keine Erkenntnis von Kulturvorgängen anders denkbar ist, als auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat. In welchem Sinn und in welchen Beziehungen dies der Fall ist, enthüllt uns aber kein Gesetz, denn das entscheidet sich nach den Wertideen, unter denen wir die ›Kultur‹ jeweils im einzelnen Falle betrachten. ›Kultur‹ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.« (Weber 1988c, 180) 36 | Vgl. für einen psychologischen Ansatz Bruner (1997); desweiteren hat das Konzept in der Pädagogik Verwendung gefunden (vgl. Hayes/Wilson 2003). Eine mögliche soziologische Anwendung zeigt Zerubavel (2006; ursprünglich 1991); so genannte »Carrier« von Bedeutung zwischen Individuum und Gesellschaft hat Moghaddam (2002) eingeführt (siehe Seite 192 ff. der vorliegenden Arbeit).

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5.4

Jeffrey Alexander: Meaning-Making

Die Erkenntnis, dass sich Kultur über Sinnbezüge überhaupt erst formt, ist hierin bereits dargelegt.37 Weiter getragen wurde sie im »cultural turn« in der Soziologie (vgl. Alexander/Smith 2003; zuerst 1998), allerdings mit der Einschränkung, dass diese neue Kultursoziologie nicht viel weiter zurück reicht als zu Talcott Parsons’ normativfunktionaler Soziologie (vgl. Emirbayer 2004, 7; Alexander/Smith 2003, 16).38 Darin widerspiegelt sich die generelle Abstinenz von einer »poststrukturalistischen«, genuin soziologischen Kulturtheorie im Nachgang zu Georg Simmel und Max Weber. Nach der Feststellung, dass sich ein derartiger Umgang mit »meaning« (Bedeutung) direkt, aber nicht bis zur letzten Konsequenz, auf Weber beruft, bedarf es einer kurzen Darstellung seiner prominentesten Ausformung. Wirkliche Beachtung fand dieser Ansatz von »meaning(-making)« mit Erscheinen des Buches The Meanings of Social Life von Jeffrey Alexander (2003).39 Der im Titel verwendete Plural von »meaning« weist bereits auf die Fruchtbarkeit dieser Auseinandersetzung hin: Hier kann es sich nur um »Bedeutungen« des sozialen Lebens handeln und keineswegs um »Sinn« (in einem kontextuell inexistenten Plural). Der Auftakt des Buches lautet denn auch: »Modern men and women go about their lives without really knowing why. Why do we work for such a long time every day? Why do we finish one war only to fight another? Why are we so obsessed with technology?« (Alexander 2003, 3) Es ist dieses »warum«, das nicht nur Jeffrey Alexander zu interessieren scheint. Es sei Aufgabe und Ziel »to bring the unconscious cultural structures that regulate society into the light of the mind.« (Alexander 2003, 3 f.) Der Grund für das Einverständnis der Menschen, auch ohne zu wissen warum, liege in Bedeutung: 37 | »Kultur«, so wird immer deutlicher sichtbar, dürfte durch Gemeinsamkeiten mit einem angenommenen »Dazwischen« verbunden sein. Kultur ist hierbei aber nur eine Kategorie unter vielen und sollte nicht als Paradigma gehandelt werden. In meiner Arbeit vertrete ich deshalb eine (Kultur-)Soziologie unter weitgehendem Ausschluss des Kulturbegriffs, d. h. eine Kultursoziologie, die im Sinne von Friedrich H. Tenbruck verstanden wird als allgemeine Soziologie. 38 | Das verbindende Element zurück zu den Klassikern und insbesondere zu Max Weber bilden freilich Parsons bzw. Jeffrey Alexander als bekannter Vertreter des Neofunktionalismus (vgl. Schmid 1994; Turner 1994, 320 ff.). Im Versteckten zeigt sich eine weitere Reihe, bestehend aus Weber, Parsons und Alexander, jedoch mit der Ausnahme, dass Parsons – als Quelle der Auslassung – nicht gesondert behandelt wird. 39 | In den folgenden Ausführungen beziehe ich mich nicht auf Alexanders empirische Studien, die vom Watergate-Skandal bis zur Rezeptionsanalyse des Holocaust in amerikanischen Medien reichen, sondern auf die konzeptuelle Ebene einer Kultursoziologie, die »Bedeutung« ins Zentrum rückt. Im weitesten Sinne geht es in seinen Studien um das Auffinden einer »general grammar on which historically specific traditions draw to create particular configurations of meanings, ideology and belief.« (Alexander 2003, 125; vgl. Hess 2005, 160) Zu einem verwandten »sense-making« vgl. Merz-Benz (2005a, 65 ff.) und Allard-Poesi (2005).

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Sinn und Bedeutung

»The secret to the compulsive power of social structures is that they have an inside. They are not only external to actors but internal to them. They are meaningful. These meanings are structured and socially produced, even if they are invisible. We must learn how to make them visible.« (Alexander 2003, 4)

Zu diesem Zweck will Alexander eine eigenständige »Kultursoziologie« (cultural sociology) etablieren. In der Unterscheidung zu einer konventionellen »Soziologie der Kultur« (sociology of culture), welche die interpretative Rekonstruktion der Bedeutung marginalisiert, geht es ihm um den autonomen Status der Kultur, welcher sich in ihren Bedeutungsgeflechten und deren Interpretation ausdrückt (vgl. Alexander/Smith 2003, 11).40 Die Soziologie der Kultur und die Kultursoziologie weisen zwar Gemeinsamkeiten auf – sowohl vergleichbare Konzepte (wie Werte und Diskurse), als auch die Betonung der Bedeutung der Kultur für die Gesellschaft – unterscheiden sich aber in der Strenge des Umgangs. Während die erste Kultur als eine abhängige Variable ansieht, behandelt die von Alexander vorgeschlagene Kultursoziologie Kultur (und Bedeutung) als eine unabhängige Variable »that possesses a relative autonomy in shaping actions and institutions« (Alexander/Smith 2003, 12), vergleichbar mit den Auswirkungen materieller oder instrumenteller Kräfte. Diese Kultursoziolgie plädiert für ein »strong program« im Herangehen an Kultur. Dieses Programm entkoppelt Kultur und damit Bedeutung analytisch von der Sozialstruktur (vgl. Swidler 1986, 284) und baut auf drei Axiome, die zwingend erfüllt sein müssen: die Textualität des sozialen Lebens, die Autonomie kultureller Formen und die Identifikation konkreter kultureller Mechanismen oder Kausalität (vgl. Alexander/Smith 2003, 23, 13 f.). Dabei ist es in erster Linie das mittlere Axiom, die Autonomie, welches dieses Programm als »strong« markiert. Gemäss dieser Logik ist Kultur »not a thing but a dimension, not an object to be studied as a dependent variable but a thread that runs through, one that can be teased out of, every conceivable social form.« (Alexander 2003, 7) Es erstaunt, dass Alexander soziologische Klassiker wie Durkheim und Weber eher dem »weak program« zurechnet (Alexander/Smith 2003, 15; vgl. Alexander 2003, 8 f.). Während dies für Durkheim, zumindest den frühen, sicherlich zutreffen mag, sollten meine Ausführungen

40 | Diese angelsächsische Unterscheidung gibt es in der deutschsprachigen Soziologie nicht in derart ausgeprägter und ausführlich thematisierter Weise. Neben der eher theoretischen Kultursoziologie besteht aber auch hier eine Soziologie der Kultur, die sich mit angewandten Themen wie Religion, Wissen und Wissenschaft, Kunst oder Literatur beschäftigt (vgl. Tenbruck 1979; Thurn 1976).

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5.4

Jeffrey Alexander: Meaning-Making

gezeigt haben, dass Weber durchaus einem »strong program« zugerechnet werden darf.41 Mit anderen Worten: »Weber sah die Kultur vielmehr als einen Grundzug eines jeden Handelns, weil jedes Handeln und jeder soziale Prozess mit ›Sinn‹ versehen ist und weil das Handeln und die sozialen Prozesse nur dann auch als ›erklärt‹ gelten können, wenn dieser Sinn rekonstruiert ist.« (Esser 2001, 4)

Dies könnte die Aussage widerlegen, es handle sich um »a new and specifically cultural approach to sociology [. . . ] [which] never existed before – not in the discipline’s first hundred and fifty years.« (Alexander 2003, 5) Zu einer möglichen Verteidigung bringt Alexander vor, dass sich zwar viele Soziologen um »significant effects of collective meanings« gekümmert hätten, bloss hätten diese »sociologists of culture« sich nicht hauptsächlich mit der Interpretation dieser Bedeutungen auseinandergesetzt, »much less with tracing the moral textures and delicate emotional pathways by which individuals and groups come to be influenced by them.« (Alexander 2003, 5) Im Zentrum des Interesses stand die Überlegung, was – und das heisst: welche anderen Strukturen ausserhalb der »domain of meaning« (Alexander/Smith 2003, 12 f.) – diese Bedeutungen erschaffen hat; jene Bedeutungen, die zudem als »the ideal structures of culture« verstanden wurden (Alexander 2003, 5; vgl. Emirbayer 2004, 11). Kultur oder vielmehr Bedeutung – im Sinne von: »defining culture as the publicly available symbolic forms through which people experience and express meaning« (Swidler 1986, 273) – hat hier einen schwachen Stand und wird als eine von materiellen Kräften abhängige Variable gesehen. Mit dem Wechsel von einer Soziologie der Kultur zu einer diese Schwachstellen überwindenden Kultursoziologie soll zugleich die Soziologie als Ganzes erneuert werden.42 Das heisst: »Cultural sociology makes collective emotions and ideas central to its methods and theories precisely because it is such subjective and internal feelings that so often seem to rule the world. Socially constructed subjectivity forms the will of collectivities; shapes the rules of organizations; defines the moral substance of law; and provides the meaning and motivation for technologies, economies, and military machines.« (Alexander 2003, 5)

In der Folge einer anthropologischen Wissenschaftstradition, die Kultur als einen Komplex von Bedeutungen hervorhebt (namentlich bei 41 | In gewisser Weise trifft dies auch auf Georg Simmel zu, der solche Auflagen bereits durch seine soziologischen Apriori erfüllt (siehe Kapitel 9.1). 42 | Damit kann dieser Anspruch mit jenem von Friedrich H. Tenbrucks Kultursoziologie verglichen werden (siehe Seite 32), die explizit als allgemeine Soziologie verstanden werden wollte.

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5

Sinn und Bedeutung

Clifford Geertz),43 wird deutlich, dass die Beziehung zwischen der Definition über Werte, Normen und Glauben einerseits und über die Semiotik andrerseits zunehmend problematisch wird (vgl. Swidler 1986, 273; Alexander 2003, 158). Auf andere Weise stellt sich erneut die Frage nach der Unterscheidung in kognitiv und sprachlich (siehe Seiten 90 und 116). Dieser Bezug ergibt sich durch zwei Aspekte: sowohl durch die Aussage »meanings are arbitrary and are generated from within the sign system« (Alexander/Smith 2003, 24; vgl. Swidler 1986) als auch durch die Forderung nach einem »radical uncoupling of cognitive content from natural determination.« (Alexander/Smith 2003, 13) Während Bedeutungen ohne Sprache kaum denkbar scheinen, handelt es sich dennoch um kognitive Inhalte, die analytisch von natürlicher Bestimmung entkoppelt sind und in den Bedeutungen zum Ausdruck gelangen. Die Verbindung zu Sprache – und damit auch zu Kommunikation und Medien – zeigt sich in dem Interesse dieser Kultursoziologie an dem »who says what, why, and to what effect«, durch welches die Kulturanalyse – und das heisst eben: Analyse der Bedeutungen – »can become plausible according to the criteria of a social science.« (Alexander/Smith 2003, 14) Es lässt sich deshalb die Frage stellen, warum ein Buch über die »Bedeutungen des sozialen Lebens« und über eine »neue« Kultursoziologie sich noch mit den antiquierten und verworfenen weil ideologisierten Normen und Werten beschäftigt, und warum es sich nicht vielmehr mit der Analyse beschäftigt, was für die Menschen Sinn macht und was Bedeutung erhält (vgl. Daloz 2003, 830).44 Da hilft es wenig, dass Alexander »seinen« Durkheim und Weber gelesen hat; sie zu überschreiten und einen neuen Ansatz zu begründen, scheint doch schwieriger zu sein. Deshalb stellt sich die vorliegende Arbeit der Frage an der Schnittstelle von Werten und 43 | Seine »dichte Beschreibung« enthält immer auch die Rekonstruktion von Bedeutungs- und Sinnzusammenhängen: »Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft erscheinen.« (Geertz 1987, 9; Hervorhebung S. B.) 44 | Diese Kritik übersieht, dass bereits Max Weber Sinn und Bedeutung über den Wert bestimmte (siehe Seite 100) und sich diese Aspekte zudem nicht trennen lassen (vgl. Hillmann 1994, 782). Dies gilt dann sogar für die resultierende Forderung: »Cultural sociologists investigate how meaning-making happens, why meanings vary, how meanings influence human action, and the ways meaningmaking is important in social cohesion, domination, and resistance.« (Spillman 2002, 1) Obgleich Vorwürfe unterschiedlicher Art gegen Alexanders Arbeit vorgebracht wurden (vgl. McLennan 2004; 2005), sind die gewählten Argumente sachdienlich.

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5.4

Jeffrey Alexander: Meaning-Making

Bedeutungen (vgl. Swidler 1986), von Kognition und Sprache, indem sie eine Relation von Sinn und Bedeutung einführt. Wir lernen in Alexanders Konzeption, dass der Ansatz von Clifford Geertz, obgleich er »a compelling vision of culture as webs of significance that guide action« vermittelt und interessiert ist an den »mechanisms through which webs of meaning influence action on the ground«, reichlich unbestimmt bleibt. Immerhin zeige Geertz »the need for the explication of meaning to be at the center of the intellectual agenda« (Alexander/Smith 2003, 22). Vielleicht – und obgleich es nicht Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein kann, diesen Aspekt zu klären – sollte die Soziologie doch näher an eine derartige Anthropologie heranrücken, um so den von Alexander selbst eingebrachten Anspruch nach einem »theoretischen Pluralismus« in der Soziologie einzulösen (vgl. Alexander/Smith 2003, 25 f.). Während Alexander (2003, 3 f.) darauf hinwies, dass Gesellschaft kulturelle Strukturen, gesehen als Bedeutungen, genauso braucht wie materielle und soziale Strukturen, war es Geertz (1987, 253), der zum Ausdruck brachte, dass »man sich [in der Analyse was ein soziales Phänomen bedeutet; S. B.] nicht einem Problem der gesellschaftlichen Mechanik, sondern der gesellschaftlichen Semantik gegenüber [sieht].« Es mag deshalb nicht erstaunen, dass die von Alexander proklamierte Kultursoziologie ein »textual understanding of social life« befürwortet und sich gegenüber entsprechenden Entwicklungen in Philosophie und Literaturwissenschaft offen zeigt (vgl. Alexander/Smith 2003, 25). Was kulturelle Strukturen heraushebt, ist ihre nicht notwendige Sichtbarkeit. Ziel der (noch nicht preisgegebenen) Soziologie ist es dann, dieses »sozial Unbewusste« sichtbar zu machen und den Urhebern zu erlauben, dass sie dessen Bedeutungen verstehen können (vgl. Alexander 2003, 4; Melrose 2003, 143 f., 168 f.; Esser 2001, 1, 30). Solch ein Ansatz »recognize[s] the autonomy and the centrality of meaning, but does not develop a hermeneutics of the particular at the expense of a hermeneutics of the universal.« (Alexander/Smith 2003, 23) Um den Ansatz von Geertz in Richtung einer generellen Theorie auszubauen, soll die Hermeneutik des Besonderen durch jene des Allgemeinen ergänzt werden. Dieser Anspruch erinnert an Webers »Mittler« zwischen Allgemeinem und Besonderem (siehe Seite 102). Anschluss findet die skizzierte Kultursoziologie, weil es ihr nicht darum geht, »to see how social life and identities constrain potential meanings«, sondern darum, »to uncover the impact of meaning on social life and identity formation« (Alexander/Smith 2003, 20). Das Interesse an den Bedeutungen des sozialen Lebens berücksichtigt sowohl individuelle wie kollektive Bedeutungen (inklusive der »Vorstellungen« im Sinne Durkheims), die auf eine wie auch im-

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5

Sinn und Bedeutung

mer geartete Sozialstruktur gerichtet sind.45 Sinn wird nicht von einer Instanz einseitig zugewiesen, sondern ergibt sich im kulturellen Zusammenspiel. Dabei zählen jegliche Aspekte, die als bedeutungsvoll erkannt werden, weil ihnen durch Individuum und/oder Gruppe – ausweichend als »attention to institutions and actors as causal intermediaries« beschrieben (Alexander/Smith 2003, 26) – Bedeutung zugewiesen wurde, wobei dies nicht immer bewusst stattfinden muss. Diese Kultursoziologie ist in hohem Masse anschlussfähig an den deutschsprachigen Ursprung der Soziologie, auch wenn dies den Urhebern nicht ganz bewusst zu sein scheint und sie die Vorarbeiten kaum überschreiten. Das »strong program« – »alt« (Simmel, Weber) wie »neu« (Alexander) – versucht »to anchor causality in proximate actors and agencies, specifying in detail just how culture interferes with and directs what really happens.« (Alexander/Smith 2003, 14) Der Wunsch nach einer Verbindung von »institutions« und »actors« wird spürbar,46 »i.e. the study of meaningful action would be contextualized by also taking into account the more general drift of society.« (Hess 2005, 159) Der Konzeption dieser dynamischen Relation kann jedoch »a lack of attention to how cultural formations themselves emerge in dynamic relation with other such configurations« attestiert werden (Emirbayer 2004, 10). Obgleich also Kultur und damit Bedeutung analytisch von der Sozialstruktur entkoppelt wurde, müssen die beiden »Strukturen« zusammen gedacht und analysiert werden (vgl. Mohr 1998). Auf diese Weise scheint eine Gesamtsicht möglich, die zugleich einem hinderlichen Reduktionismus entgegen steht. Das hiesse in letzter Instanz – d. h. der Rückkoppelung von »neu« zu »alt«, vor dem Hintergrund der unausgereiften wie komplexen Konzeption –, den Kulturbegriff durch einen Bedeutungsbegriff zu ersetzen.47 Die Verbindung von Sinn und Kultur ist in der Literatur hinlänglich bekannt, und Kultur wird verbreitet als »meaning-making practices« beschrieben (Bennett 2007, 34; vgl. Demerath 2002). Mit anderen Worten: »Die Kultur ist, sozusagen, der Vorrat, aus dem die Akteure schöpfen 45 | Dies würde zu der Frage führen, ob Gesellschaft »schon« durch die kollektiven Bedeutungen gegeben ist oder ob es notwendigerweise eine Sozialstruktur zu ihrer Bestimmung braucht (siehe schon Fussnote 51 auf Seite 54). Obgleich sich anführen lässt, »without a system common to the members of a community social order itself cannot be accounted for« (Parsons 1934, 230 f.), scheint diese Frage schwierig zu beantworten. Gesellschaft (System) und Sozialstruktur (Ordnung) müssen wohl als analytische Kategorien verstanden werden, die sich zudem gegenseitig bedingen; sie entstehen dynamisch wie gemeinsam. 46 | »Alexander contests the object/subject dichotomy that forms the basis of objectivist knowledge claims, with their positing of a world of things that exists independently of our perceptions and understandings of it.« (Kurasawa 2004, 55) 47 | Darin widerspiegelt sich nochmals der Anspruch einer Kultur soziologie unter weitgehendem Ausschluss des Kulturbegriffs (und zudem ein Anschluss an frühere Überlegungen; siehe ebenfalls Fussnote 51 auf Seite 54).

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5.5

Sinn oder Bedeutung?

können (und müssen), wenn sie ihr Handeln mit Sinn versehen und ›verstanden‹ werden wollen.« (Esser 2001, 2, vgl. 3 ff.) Kultur wird dann als jene Bedeutung verstanden, die in vielfältiger Weise Sinn stiftet. Im Anschluss an die geschilderte Bedeutungszuweisung und vor einer abschliessenden Würdigung der Begriffskonstruktion Sinn/Bedeutung soll die Arbeitshypothese (siehe Seite 108) entsprechend angepasst werden. Als das bedeutungskonstituierende Element wird das »sinnhafte soziale Handeln« durch einen als Kultur verschlüsselten Bedeutungsbegriff ersetzt. Die Arbeitshypothese lautet nun: Hypothese 5–3 »Sinn« ist das »Medium« der gegenseitigen Bedeutungszuweisung, die zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt.

Die Arbeitshypothese soll durch folgenden Zusatz ergänzt werden, der die Zuweisung charakterisiert und auf die weiteren Ausführungen vorbereitet: Zusatz zu Hypothese 5–3 Von einer Bedeutungszuweisung kann dort im konkreten Fall gesprochen werden, wo der kognitive (und damit weitgehend individuelle, d. h. nicht-intersubjektive) Sinnzusammenhang sich in einer sprachlichen oder symbolischen Handlung als Zuweisung auf einen »Gegenstand« manifestiert, welche wahrgenommen und interpretiert werden kann, allerdings nicht von »aussen«, sondern als Beschreibung der Selbstbeschreibung (siehe Kapitel 3.1).

Der Zwiespalt zwischen Sinn und Bedeutung wie zwischen Kognition und Sprache tritt damit in den Mittelpunkt.

5.5 Sinn oder Bedeutung? In diesem Teilkapitel folgen schliesslich eine Annäherung an die Relation von Sinn und Bedeutung sowie Thesen hinsichtlich der Entscheidung, welcher der beiden Begriffe heuristisch vorzuziehen ist. Die Vorstellung im Sinne Freges ist das »Individuelle«, das keine intersubjektive Geltung beanspruchen kann. Damit korrespondieren Webers »überwirkliche« oder »unwirkliche«48 Wertgehalte und Jeffrey 48 | Laut ihm ist es naheliegend, dass wir die »vorgefundenen ›Bedingungen‹ abstrahierend isolieren und zum Gegenstande von ›Möglichkeitsurteilen‹ machen, um so an der Hand von Erfahrungsregeln Einsicht in die kausale ›Bedeutung‹ der einzelnen Bestandteile des Geschehens zu gewinnen. Um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir unwirkliche.« (Weber 1988d, 287)

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5

Sinn und Bedeutung

Alexanders Umgang mit Bedeutungszuweisung im Rahmen der Kultursoziologie. Diese Seite der Relation umfasst das Individuum. In allen drei Konstellationen ist »Sinn« bereits intersubjektiv geladen und darf deshalb die Rolle des Mittlers (im Dazwischen) beanspruchen. »Bedeutung«, als die andere Seite der Relation, betrifft den Gegenstand Gesellschaft, der ge-deutet oder be-deutet wird. Die soziologische Frage soll sich folglich mit dem Sinn beschäftigen, den etwas macht und mit der Bedeutung, die etwas zugewiesen wird. Dies würde, da von einer Kritik der Gesellschaft und ihres Begriffs ausgegangen wird, für die vorgezogene Verwendung von »Bedeutung« sprechen. Der zweite Schwerpunkt, die Konstruktion eines Dazwischen von Individuum und Gesellschaft, wäre dann als Sinn gerichtet auf Bedeutung zu verstehen. Während die vorliegende Arbeit also die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft abbauen will, kann sie das nur um den Preis der Einführung einer Relation von Sinn und Bedeutung erlangen. Es ist im Sinne der Gesamtanlage der Arbeit, dass diese Relation dem »wie« und nicht dem »was« verschrieben ist. Der bevorzugte Begriff wäre »Bedeutung«, und dieser würde den Sinnbegriff von Seiten der Gesellschaft in sich aufnehmen. Es sei vermerkt, dass die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung mehr Aufmerksamkeit verdient, als ihr gemeinhin zukommt. Nur eben handelt es sich nicht um eine Unterscheidung, sondern um eine Relation. Dies wird anhand der folgenden zwei Aussagen sichtbar und lenkt die Aufmerksamkeit zu einem früheren Punkt zurück: »Den ›Sinn‹ eines Handelns, so wollen wir festhalten, machen die in objektive soziale Kontexte eingebetteten und dadurch strukturierten subjektiven Erwartungen und Bewertungen aus, die die Akteure mit ihrem Tun verbinden.« (Esser 1999, 140) »[M]eanings are not in the head but depend on references in the environment. Meaning is always the meaning of something, and there cannot be the meaning of anything that does not exist somewhere. [. . . ] Without any kind of reference the risk is to collapse in a solipsistic abyss where there is no room for meaning.« (Anolli 2005, 31)

Während Sinn mit einem Handeln »verbunden« werden muss, finden sich Bedeutungen nicht »in the head«, sondern sind mit »Etwas« verbunden, das nicht alleine dem Handeln entsprechen kann. Die Unterscheidung von Sinn (verstanden als subjektives Medium) und Bedeutung (verstanden als Ausdruck und Zuweisung dieses Sinns auf einen Gegenstand) führt zurück zur Frage, ob dieser zweiteilige Prozess kognitiv oder sprachlich abläuft (siehe schon Seite 90). Wenn also »meanings« nicht einfach »in the head« sind oder zumindest dort nicht verbleiben sollten, um Wirkung zu entfalten, dann kommt als

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5.5

Sinn oder Bedeutung?

Ausdruck nur die Sprache in Frage. Wobei es scheint, als sei die Sprache nicht bloss Medium der Bedeutung: »Die Menschen mit ihrer Weltoffenheit benötigen die Sprache zur Erzeugung von Sinn, weil sie sich auf die Festigkeit der Instinkte bekanntlich nicht verlassen können.« (Esser 2001, 104) Hinzu kommt, dass nicht nur die Instinkte kein festes Gewähr bieten: »The world around us is chaotic. In order to live in that world, we must find ways to grasp it, establish some sort of order in it. [. . . ] Others face the same problem. [. . . ] That contact [with others] helps us talk about the world, order things, bring order into the chaos. We do that by naming things [. . . ] through signs. The most familiar and complex system of signs is language.« (Bal 1994, 4; Hervorhebung S. B.)

Aufgrund dieser Komplexität können menschliche Gemeinschaften ohne Sprache nicht bestehen; sie ist das höchst entwickelte Zeichensystem »which allows the conveyance of the most complex observations, views, thoughts.« Wir nutzen Zeichen, um etwas auszudrücken und verfügen über »an immense degree of competence in using various phenomena as signs by giving them meaning.« (Bal 1994, 4) Kurz: Der Mensch ist durch und durch ein semiotisches, ein sprachliches Wesen. Um der Komplexität, auch bekannt als (kultur-)systemische Selbstbeschleunigung und Kontingenz, entgegen zu wirken, wird deshalb zurückgegriffen auf »die Symbolsprache (mittels derer nicht nur gesprochen, sondern auch gedacht wird), optische Medien (Zeichenund Schriftsysteme) sowie die Imitationsmöglichkeiten des kultursozialen Kontaktes ganz allgemein.« (Steinbacher 1971, 33; Hervorhebung S. B.) Diese Symbol- oder Zeichenhaftigkeit, die auch als Verbindung zwischen Kognition und Sprache dient,49 verlangt nach einer entsprechenden Herangehensweise: 49 | Die Gefahr, welche die Unterscheidung von Kognition und Sprache mit sich bringt, ist bekannt. Sie fusst darauf, dass diese sich nicht abschliessend treffen lässt: so laufen auch kognitive Prozesse durchaus sprachlich ab und sprachlicher Ausdruck ist ohne Kognition nicht denkbar. Eine solche Unterscheidung dürfte vor allem von den Sprachwissenschaften angefochten werden. Es bedarf deshalb einer begrifflichen Richtigstellung: Der Kognition müsste eigentlich der »sprachliche Ausdruck« und nicht die Sprache entgegen gestellt werden. Mit Noam Chomsky liesse sich auch von »Kompetenz« (anstelle von Kognition) und »Performanz« (anstelle von Sprache) sprechen, in der von ihm »postulierte[n] Dichotomie zwischen einer allgemeinen Sprachfähigkeit und der individuellen Sprachverwendung« verfahren (Bußmann 2002, 357). Während Kompetenz als eine psychologische oder mentale Eigenschaft oder Funktion angesehen wird (vgl. Lyons 1996), wird Performanz als »ein Erzeugungsmechanismus zur unendlichen Produktion von Sprache« verstanden (Bußmann 2002, 357) und verweist auf eine tatsächliche Begebenheit. Der Performanz-Begriff, neuerlich von den Sprach- und Kulturwissenschaften wieder entdeckt (vgl. Wirth 2002), würde denn auch Erklärungspotential bieten. Er müsste allerdings ausserhalb der vorliegenden Arbeit behandelt werden.

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5

Sinn und Bedeutung

»Semiotics studies culture as processes of communication which are possible thanks to the system of signs that underlie them. [. . . ] The communication effectuated by signs is the link between each individual or group and other individuals and groups; it is what makes life possible.« (Bal 1994, 5)

Ein Aspekt, der nicht deutlich genug hervorgehoben werden kann, ist in diesem Zusammenhang der folgende: »signs are socially active forces, and so is interpretation.« Aber: »Signs are not things, but the result of acts carried out by individuals belonging to social groups.« (Bal 1994, 7) Ein Zeichen ist einfach gesagt, etwas, das für etwas anderes steht oder präziser: auf etwas anderes verweist (siehe Fussnote 11). Ein weiteres Aber besagt: Ein Zeichen »can only have that [its specific] meaning, it can only function as a sign, if somebody sees [or perceives] and understands [or interprets] it as such.« (Bal 1994, 9; Hervorhebung S. B.) Weil die Interpretation eine subjekt-gebundene Aktivität ist, lässt sich festhalten: »meaning, the result of interpretation, is no more than the sign itself, not a fixed, objectified thing, but a complex process.« (Bal 1994, 11) Von Seiten der Rezeption bleibt festzuhalten: »The interpretation of signs requires the activation of various rules of correlation between signs and meanings.« (Bal 1994, 17) Geringfügig anders offenbart sich das Bild, wenn wir von der Rezeption auf die Seite der Äusserung wechseln: »Conversely, we have to conceive meaning as the semantic expression of our experience.« (Anolli 2005, 40) Dies hiesse demzufolge auch, dass Bedeutung im Rahmen der Erwartungen, Vorstellungen und Ziele des Handelnden angepasst, erweitert oder reduziert werden kann. Hier zeigen sich die »Zusammenhänge zwischen Vorstellung, Bewusstsein und Denken einerseits und Gesellschaft andererseits« (Steinbacher 1971, 53; Hervorhebung S. B.).50 In der Zusammenschau lässt sich festhalten: »[M]eaning is referred to as a mental and cultural pattern that involves an inference process from the interlocutors, since it shows a specific point of view about reality.« (Anolli 2005, 39) Ausführlicher lässt sich dieser prozessuale Zusammenhang der folgenden Aussage entnehmen: »Der Schlüssel zu diesem Verstehen sind einerseits die Intentionen und Interessen, der ›subjektive‹ Sinn also, den die Menschen mit ihrem Tun verbunden haben. Andererseits dann aber vor allem die jeweils besondere ›Definition der Situation‹, die die Sicht der Akteure auf die Situation mit einem oft unverrückbar festen ›Rahmen‹ versieht. Ein zentraler Bestandteil der ›Definition‹ der 50 | In diesen Bereich gehörte auch der Ansatz von Jürgen Ritsert (1988, 69– 92), mit Wittgenstein »Gesellschaft« als ein Sprachspiel zu lesen. Zudem lohnt ein Blick auf das folgende Zitat: »Heute wissen wir, aus welcher Vielzahl von Elementen jener Mechanismus sich gebildet hat, vermöge dessen wir unsere Vorstellungen von der sinnlich wahrnehmbaren Welt konstruieren, nach aussen projizieren und im Raum lokalisieren.« (Durkheim/Mauss 1987, 171)

118

5.5

Sinn oder Bedeutung?

Situation ist die Orientierung der Akteure an gewissen, auch mit Emotionen verbundenen, Vorstellungen und gedanklichen ›Modellen‹, die sie als ›Muster‹ in ihrem Kopf haben und die durch gewisse Objekte in der Situation, den Symbolen, mit denen sie gedanklich und auch emotional assoziiert sind, aktiviert werden.« (Esser 2001, IX)

Diese Aussage korrespondiert mit »Vorstellung, Bewusstsein und Denken«, also mit jenem Bereich, der dem Menschen konsequent eingeschrieben ist und eine Unterscheidung in kognitiv und sprachlich unsinnig erscheinen lässt (vgl. Jaeggi/Fassler 1982, 47 ff.).51 Die so genannte »Soziale Kognition« beschäftigt sich als Forschungsgebiet daher mit der Frage »wie wir andere und uns selbst verstehen« (Pendry 2007, 112), vor allem in jener komplexen sozialen Welt, in welcher wir leben und interagieren. »Because social structures are negotiated and redefined through individual action and interaction, models that facilitate connections between micro and macro levels of analysis are necessary in turn for a comprehensive account of social stability and change.« (Howard 1994, 210)

Ziel einer solchen Forschung an der Schnittstelle von Mikro- und Makroebene ist demzufolge das »Verständnis der mentalen Prozesse, die dem sozialen Verhalten des Menschen zugrunde liegen« bzw. das »Verständnis für die Mechanismen des sozialen Denkens« (Pendry 2007, 112 f.). Von besonderem Interesse ist dabei ein Aspekt, der auch in der vorliegenden Arbeit immer wieder aufschien: die Frage des Einflusses unbewusster (d. h. unabsichtlicher) und bewusster (d.h. absichtlicher) Prozesse im Denken und Handeln der Menschen. Schemata, die den unbewussten Prozessen zugrunde liegen, »stellen eine funktionstüchtige Methode dar, unsere soziale Umwelt zu analysieren«, und sie gewährleisten Stabilität sowie Vorhersagbarkeit (Pendry 2007, 141). 51 | Kognition meint im Wortsinne »Erkennen« und ist Sammelbegriff für jene mentalen Prozesse, die mit Wahrnehmung, Denken und Erkennen zusammenhängen. »Kognitive Systeme entkoppeln im Unterschied zu Reiz-Reaktions-Systemen den Sinnesreiz von der motorischen Reaktion. Sie wirken zwischen dem für die Perzeption verantwortlichen Wahrnehmungsapparat und dem Handlungsmechanismus (Aktor).« (Glossar in Knoll/Christaller 2003) Die Kognitionswissenschaften interessieren sich für die kognitiven Phänomene und Kategorien (wie beispielsweise Abbildung von Umwelt, Repräsentation und Verarbeitungsstrukturen), die jedoch immer auch sprachlich ablaufen, z. B. als bewusster oder unbewusster innerer »Monolog« (siehe auch Fussnote 14). Zu den Bezügen zwischen »Handeln, Denken, Sprechen« (v. a. erklärt anhand von Alfred Schütz, George Herbert Mead und Jean Piaget) vgl. auch Srubar (2003). Ein mögliches Verhältnis zur Unterscheidung in »Bewusstsein« als Operationsmodus psychischer Systeme und »Kommunikation« als Operationsmodus sozialer Systeme (als »Essenz des Sozialen«) würde ein eigenes Kapitel aufschlagen (vgl. Luhmann 1987a, 39 ff., 54); in der vorliegenden Arbeit wird sie deshalb auf Luhmanns Sinnbegriff reduziert (siehe Kapitel 9.3).

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5

Sinn und Bedeutung

Im Rahmen dieser Forschung wird debattiert, ob wir, »weil soziale Informationen [z. B. Stereotypen] automatisch aktiviert werden können [. . . ] notwendigerweise [. . . ] im Einklang mit diesen Informationen handeln werden« (Pendry 2007, 127). Obgleich das Mass des notwendigen Bewusstseins nach wie vor experimentell hinterfragt wird, kann aus ersten Erkenntnissen geschlossen werden, dass die »Verknüpfung von sozialer Wahrnehmung und sozialem Verhalten [. . . ] nicht unvermeidlich« ist (Pendry 2007, 139). Zumindest in beschränktem Rahmen bleibt eine Wahl der kognitiven und schliesslich sozialen Reaktion: »Social cognition is particularly qualified to address these questions. It is also the micro theory least acknowledged by sociologists.« (Howard 1994, 210; Hervorhebung S. B.) Daher ist es zu begrüssen, dass eine »kognitiven Soziologie« entsteht (vgl. Cicourel 1973), 52 welche zunehmend individuelle Konstruktionsprozesse auf der Mikroebene erforschen will. Eine kognitive Soziologie analysiert vordringlich den Zusammenhang von Sprache und Handeln (vgl. Srubar 2003); dabei verwendet sie interpretative Verfahren, über welche den Interaktionen und Situationen und damit schliesslich der sinnvollen Kommunikation eine soziale Bedeutung zugeordnet werden kann (vgl. Luckmann 1989). Sie zeigt »how social structure is represented, sustained, and transformed by the cognitive systems of human actors.« (Howard 1994, 210) Die Sozialstruktur wird kontinuierlich in individuellem Handeln und in Wechselwirkung verhandelt und umdefiniert; Individuum und Gesellschaft konstituieren sich gegenseitig: »Die Gesellschaft ›definiert‹ den Menschen und wird ihrerseits umgekehrt vom Menschen ›definiert‹.« (Berger 1971, 169; vgl. Dux 2003, 255) Das in Anführungszeichen gesetzte »definiert« weist bereits auf ein notwendiges interpretatives Paradigma, welches anschliessend zur Anwendung gelangt. Zuvor soll auf ein interessantes, dorthin verbindendes Element der kognitiven Soziologie aufmerksam gemacht werden. In Social Mindscapes zeigt Eviatar Zerubavel (1997, 5), wie eine neue »Soziologie des Denkens« aussehen könnte.53 Eine solche Soziologie will die soziale Dimension der Wahrnehmung (cognition) berücksichtigen. Die spezi52 | Es ist auffällig wie klärend, dass der Originaltitel von Cicourels Buch – Cognitive Sociology: Language and Meaning in Social Interaction – bei der deutschen Übersetzung deutlich verkürzt wurde zu Sprache in der sozialen Interaktion (Cicourel 1975). Für den Zusammenhang von Kognition und sozialer Interaktion vgl. Cicourel (2006) und weitere Artikel an derselben Stelle. 53 | Diese Bezeichnung wurde 1936 von dem soziologisch wenig erschlossenen Ludwik Fleck (1983) eingeführt. Neben der dominanten Wissenssoziologie konnte sich die »Soziologie des Denkens« schwerlich entwickeln (vgl. Geiger 1959; Engelmann 1974). »Neu« sei der Ansatz aus zwei Gründen: Erstens unterscheide er sich von jenem Cicourels, der den Begriff »cognitive sociology« zuerst einführte, und zweitens sei er »not be confused with what psychologists call ›social

120

5.5

Sinn oder Bedeutung?

fische Übersetzung weist in Richtung einer »sociology of perception«, die vordergründiger Bestandteil einer kognitiven Soziologie sein soll (vgl. Zerubavel 1997, 23). Darin ist zugleich eine zentrale Bedeutung von »Sinn« enthalten: »our social environment plays a major role in how we actually interpret things. The way we mentally process what we perceive through our senses is to a large extent socially mediated.« (Zerubavel 1997, 24) Dabei ist bedeutsam, dass davon nicht nur die alltägliche Wahrnehmung, sondern auch die wissenschaftliche Beschreibung dieser Wahrnehmung betroffen ist. Die »mindscapes« zeigen zusätzlich, wie viel unserer Wahrnehmung nicht über unsere individuellen Augen vermittelt wird, sondern über »sociomental lenses« (Zerubavel 1997, 31). Was wir interpretativ durch unsere Sinne aufnehmen, ruht auf mentalen Strukturen und diese ruhen vielfach auf intersubjektiven und das heisst gesellschaftlichen Vorbildungen (typifications). Den Rückbezug zur Bedeutung findet sich in folgender Aussage: »Like perception, the process of classification clearly underscores the role of meaning in human cognition.« (Zerubavel 1997, 68; Hervorhebung S. B.) Aus der Funktion (auch: Bedeutung) der Bedeutung ergibt sich die Notwendigkeit symbolischen Handelns (siehe Seite 115). Dieser Typus des Handelns ist unausweichlich, denn »it is their absolutely artificial, conventional nature that distinguishes symbols from all other signs.« (Zerubavel 1997, 72) Ins Zentrum der Aufmerksamkeit tritt jener »social process of meaning attribution that, through unmistakably conventional rules of mental association, actually links symbolic signifiers to the particular signifieds they come to represent to us. In other words, we need to recognize the cognitive role of society as a critical mediator between reality and our minds. [. . . ] The meaning of symbols, thus, is a property of the way they are socially used.« (Zerubavel 1997, 78)

Der Zusammenhang von Denken, Sprache und Handeln versucht zu erklären, weshalb das einzelne Individuum sowohl gleich als auch verschieden denkt wie andere. Dazu können drei Analyseebenen unterschieden werden, nach denen wir denken: »(a) as individuals, (b) as social beings, and (c) as human beings.« (Zerubavel 1997, 5) Während sich ein kognitiver Individualismus der ersten Ebene zuwendet, widmet sich der kognitive Universalismus der dritten Ebene. In dem einen wie dem anderen »Reduktionismus« geht jedoch die wichtige Nuance der mittleren Ebene vergessen, jener Ebene im analytischen Dazwischen der beiden bekannten Pole Individualismus und Holismus, die diese beiden verbindet. Vergessen geht kurz: das genuin cognition,‹ since it deals not only with the cognition of social objects but with the social foundations of cognition in general.« (Zerubavel 1997, 115 f.)

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5

Sinn und Bedeutung

Soziale im Denken. Wir denken auch als »social beings, products of particular social environments that affect as well as constrain the way we cognitively interact with the world.« (Zerubavel 1997, 6) Intuitiv befremdet die getroffene Unterscheidung in drei Ebenen nicht zuletzt deshalb, weil die Ebene des »sozialen Wesens« (b) ebenso reduktionistisch scheint wie die Ebene des »Menschen« (c). In dem eher skizzenhaften Vorgehen zeigt sich neben dem unmittelbaren Drängen nach einem synthetisierenden kultursoziologischen Ansatz (vgl. Brekhus 2007) wohl auch Zerubavels Kritik an einer strukturalistischen Soziologie, die zuviel Gewicht auf die spezifischen sozialen Umwelten legt und dadurch das »soziale Wesen« nicht ausreichend und nicht als denkendes Wesen betrachtet. Eine »sociology of perception« habe deshalb die Integration dieser Ebene zu leisten. Neben die Wahrnehmung tritt die Sprache, welche den alltäglichen Umgang wie die integrative Beschreibung erst zulässt: »language allows me to process reality conceptually and thereby also bypass my senses.« (Zerubavel 1997, 7) Dieses »Umgehen der Sinne« wiederum verweist auf den intersubjektiven – d. h. sozialen – Charakter der Sprache, die beinahe vollkommen entpersonalisiert ist. In eine »Soziologie des Denkens« sind »[t]he transcendence of subjectivity and the social construction of intersubjectivity« eingeschrieben (Zerubavel 1997, 8).54 Darin zeigt sich erneut die integrative, dazwischenliegende Perspektive wie ihr eigener Charakter: »Between the purely subjective inner world of the individual and the absolutely objective physical world ›out there‹ [d. h. ›the objective world of nature and logic‹] lies an intersubjective, social world that is quite distinct from both of them.« (Zerubavel 1997, 9; vgl. Berger/Luckmann 1966) Die soziale Abhängigkeit des menschlichen Denkens, die im Verlauf der Arbeit an verschiedenen Stellen wieder auftritt, wird durch einen solchen Ansatz zum Ausdruck gebracht. Im Zentrum stehen die sozial angeeigneten Erkenntnisse, durch welche Bedeutung zugewiesen wird. Es soll dargelegt werden, was Gesellschaft im Rahmen der intersubjektiven Objektivität und der Konstruktion gemeinsamer Welten möglich macht. Für den vorliegenden Kontext lässt sich also formulieren: Einerseits existieren kognitive Prozesse, andererseits werden diese durch Sprache oder Symbole »fest-geschrieben« – was nicht notwendig in Schrift kodifiziert sein muss, wie Werte oder Regeln anzeigen (vgl. Fox 2004) – und damit dem Inventar der Gesellschaft zugerechnet, welches dann auf die kognitiven Prozesse zurück wirkt. 54 | Dabei war es Alfred Schütz, der das phänomenologische Konzept der Intersubjektivität in die Soziologie einführte (vgl. Zerubavel 1997, 116; siehe bereits Fussnote 10).

122

5.5

Sinn oder Bedeutung?

»Dass Wissen, Bewusstsein und Vorstellung zum überwiegenden Teil sozial bedingt sind, dies ergibt sich ohne weiteres aus der anthropologischen Situation des Menschen: Das jeweilige System objektiver Kultur, das geschichtlich immer im menschlichen Miteinander erwachsen ist, wird von der Sozietät getragen und weitergereicht. Ohne dieses – seinem Wesen entsprechend – künstliche System,55 das sich zwischen dem rein natürlich Menschlichen und dem Naturzusammenhang etabliert hat, wäre der Mensch ausgeschlossen von dem, was er als den Bereich des ›Geistigen‹ zu nennen gewohnt ist.« (Steinbacher 1971, 53)

Gerade in diesem »Geistigen« finden sich Sinn (als Sinnzusammenhang) und Bedeutung (als Bedeutungszuweisung), die dermassen zentral scheinen, dass sie hier als Grundbegriffe der Soziologie schlechthin gehandelt werden. Die Antwort darauf, welcher Begriff mehr Gewicht erhält, könnte schliesslich in einem Rückbezug zum verstehenden Ansatz Max Webers liegen und damit in einer Verbindung der kognitiven Sinn- und sprachlichen Bedeutungskomponente. Das entscheidende Element findet sich dann in einem interpretativen Paradigma, welches das Thema um Sinn und Bedeutung durchzieht.56 Es geht um ein gerichtetes Handeln, das sich an einem »erkennbaren sozialen Sinn [. . . ] orientiert.« (Esser 2001, 86; vgl. Hitzler 2002) Das interpretative Paradigma, welches zur Anwendung gelangt, besagt, »dass Menschen ›Dingen‹ gegenüber auf der Grundlage von Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen« und »dass die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht.« (Blumer 1973, 81) Diese »Dinge« sind der Wahrnehmung zugängliche Gegenstände, Menschen oder Handlungen, die jedoch keine objektiven Gegebenheiten bezeichnen, sondern auf etwas anderes verweisen, selbst »Objekte von Verweisungen« sind: »Dies liegt daran, dass Menschen niemals in einer ›objektiven‹ Umgebung, sondern immer nur in einer subjektiven Sinnwelt leben, die sich aus der Bedeutung der Dinge für sie ergibt.« (Esser 2001, 86) Da sich dies erst im Handeln qua spezifischer Symbole manifestiert, ginge es darum, »die Beziehungen zwischen [. . . ] den Symbolen und den dadurch angezeigten Bedeutungen zu erkennen« (Esser 2001, 87) und – bewusst oder unbewusst – in die eigene Wahrnehmung einzubinden: »Bedeutungen sind nicht 55 | Wir erinnern uns, dass bereits Gesellschaft und Individuum als »künstliche Konstrukte« beschrieben wurden (siehe Seiten 49 und 70). 56 | Anzumerken bleibt, dass ich mich dem interpretativen Paradigma nicht vollständig anschliesse, sondern nur einzelne Aspekte des »Symbolischen Interaktionismus« herausgreife (vgl. Snow 2001). Obgleich der zweifache interpretative Prozess – also jener des Handelnden (oder Laien) wie jener des Soziologen – interessiert, handelt es sich m. E. nur im zweiten ausschliesslich um »eine von den Akteuren bewusst reflektierte Entscheidung« (Esser 2001, 85).

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5

Sinn und Bedeutung

einfach durch einen semantischen Code fixiert; sie beruhen auf individuellen Interpretationen.« (Frank 1988, 22) Bedeutung liegt hier nahe bei Sinn (als individuelle Verständlichkeit und Relevanz verstanden). Es scheint deshalb sinnvoll, Sinn als Medium der Bedeutung zu fassen. Die ursächliche symbolische Interaktion wird als Prozess verstanden und »erklärt, wie eine bestimmte, ›bedeutungsvolle‹ Situation als kollektives Phänomen entsteht« (Esser 2001, 88). Gerade dadurch fühle ich mich in meiner Aussage bestärkt, dass durch individuellen Sinn letztlich gesellschaftliche Bedeutung entstehe (siehe Abbildung 4).57 Dieses interpretative Paradigma – darin liegt der Nutzen seiner Anwendung für die vorliegende Arbeit – pflegt einen besonderen Umgang mit Bedeutungen, da diese weder vom Gegenstand ausgehen und diesem eigen sind, noch in »assozierten psychischen Empfindungen« und »fixen psychischen Dispositionen« sich erschöpfen (Esser 2001, 89). Vielmehr sind Bedeutungen »soziale Produkte [. . . ], die in den und durch die definierenden Aktivitäten miteinander interagierender Personen hervorgebracht werden.« (Blumer 1973, 83 f.) Mit anderen Worten und geringfügig von anderer Seite: Bedeutungen bauen sich deshalb auf, »weil die Dinge im Erlebnis ihrer sozialen Zusammenhänge Sinn erwerben.« (Tenbruck 1986, 126) Dass sich dennoch ein Rückbezug zur Kognition findet, zeigt die zentrale Funktion der Akte der Interpretation, Orientierung und Bedeutungszuweisung durch die Akteure, welche dem sozialen Handeln vorausgehen (vgl. Esser 2001, 89). Abbildung 4: Interpretation zwischen Sinn und Bedeutung Interaktion Bedeutung Interpretation Handlung Sinn Bedeutung

Dem verwendeten interpretativen Paradigma wurde vorgeworfen, es könne Handlungen nicht erklären, weil die Bedeutung von Objekten und Situationen (aus der Interaktion) in »unpersönliche[r] Weise das Handeln auslösen« (Balog 2001, 95). Eine Theorie, die entstehende Handlungen erklären will, muss entweder vorgegebene Bedeutungen voraussetzen und den Akteur als bloss reaktiv beschreiben oder in »implizite[r] Weise auf Wünsche und Motive von Akteuren Bezug« 57 | Die nachgezeichnete Darstellung zum Symbolischen Interaktionismus (Balog 2001, 93) wurde um den Rahmen und das ihn bezeichnende »Sinn« ergänzt.

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5.5

Sinn oder Bedeutung?

nehmen. Die bevorzugte, zweite Variante zeigt, »dass der Rekurs auf Bedeutungen nur dann Erklärungskraft besitzt, wenn darin Wünsche oder Absichten der Person zum Ausdruck kommen, also diese in der Erwähnung der Bedeutungen mitgemeint sind.« (Balog 2001, 95) In Abbildung 4 wurden »Bedeutung« und »Interpretation« deshalb gerahmt und als »Sinn« bezeichnet. Damit reagiere ich auf die Forderung, implizit persönliche Aspekte der Handlungsabsichten beizuziehen. Eine Beschränkung bleibt allerdings: Bedeutungen bringen zwar Handlungen hervor, können aber anscheinend nicht erklären, wie diese Handlungen hervorgebracht werden. Dies liege daran, dass Wünsche und Absichten nicht auf jene Bedeutungen zurückzuführen sind, in denen sie geäussert werden (vgl. Balog 2001, 95). Es erstaunt deshalb nicht, dass hinsichtlich einer handlungs- und akteurtheoretischen Soziologie geäussert wurde, sie befasse sich mit »sozialen Erscheinungen, die sich zwar aus ›sinnhaften‹ Handlungen zusammensetzen, die aber als ganze nicht aus dem ›Sinn‹ der Einzelnen zu erklären sind.« (Bahrdt 2003, 31) Dieser Sinn ist schwierig aufzuschlüsseln, weil die ursächlichen Wünsche und Absichten in den Bedeutungen bereits kodiert vorkommen und für die Soziologie als Soziologie nur problembehaftet direkt erschlossen werden können. Weil ihr als Soziologie das psychische Geschehen im Sinnbildungsprozess nicht zugänglich ist, müsse der Einzelne auf einer emergenten Sozialebene entstehen: »Es handelt sich um Kunstgriffe von Beobachtern, mit denen Nichtbeobachtbares gedeutet und auf die emergente Ebene des Zwischensystemkontaktes überführt wird« (Luhmann 1987b, 159, vgl. 429 f.; siehe Seite 309 der vorliegenden Arbeit). Wenn in der Folge von Gottlob Freges Unterscheidung Sinn als »Art des Gegebenseins« eines Gegenstands (d. h. der Bedeutung) beschrieben wird, dann zeigen sich darin sowohl die individuelle Verfassung als auch erste Ausläufer zur Intersubjektivität. Bei Wilhelm Dilthey markiert Sinn das »geisteswissenschaftliche Verstehen gegenüber dem naturwissenschaftlichen Erklären« und verweist nicht mehr nur auf Texte, sondern auf »Verstehensprozesse insgesamt [. . . ], die innerseelische Vorgänge, geschichtliche Ereignisse, soziale Interaktionen oder Handlungsabläufe betreffen.« (Greisch 2000, 620) Die Frage lautet daher: Können wir Sinn bereits verstehen oder zeigt sich dieser vielmehr erst bei der Zuweisung von Bedeutung im Handeln? Die Bedeutungszuweisungen wie das Handeln sind emergent und kontingent, d. h. sie befinden sich in einem dauernden Prozess, der auch anders verlaufen könnte. Sie sind also nicht ein für alle mal individuell festgelegt, obwohl sich dort, als subjektive Konstruktion, ihr Ursprung befindet. Sprache dient in dieser Konzeption letztlich dazu, den Kognitionen eine angebliche Stabilität im Kampf gegen

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Sinn und Bedeutung

die Komplexität zu verleihen (vgl. Esser 2001, 90). Im Anschluss lässt sich die Arbeitshypothese (siehe Seite 115) durch die folgende These ergänzen, welche die weitere Auseinandersetzung anleitet: These 5–C »Bedeutung« wird zum tragenden Begriff der vorliegenden Arbeit und zu dem heuristischen »Dazwischen«, das in/mit dem Medium »Sinn« funktioniert.

Die Umgänge (in Kapitel 9 und 10) und Zugänge (in Kapitel 12) dienen der weiteren Veranschaulichung; die dortigen »Texte« werden allerdings unabhängig von dieser These gelesen. Im Anschluss an das interpretative Paradigma und in Rückkehr zum »vielverlästerte[n] ›Bewusstsein überhaupt‹« (Weber 1988f, 76), dem Zusammenhang von Kognition und Kultur, liesse sich folgende Aussage hinzuziehen: »Inzwischen gibt es beispielsweise eine deutliche Konvergenz des ›Begriffs‹ der Kultur in der neueren Kulturanthropologie und dem Konzept des gedanklichen Modells in der neueren kognitiven (Sozial-)Psychologie. Die Kultur ist in dieser Sicht beispielsweise nichts anderes als ›an extensive and heterogeneous collection of models, models that exist both as public artifacts in the world and as cognitive constructs in the mind of members of a community.‹« (Esser 2001, 7)

Was oben als »in the head« bezeichnet wurde, findet sich hier nun als »in the mind« der individuellen Teilnehmer sozialer Interaktion wieder. Dies verweist darüber hinaus auf eine Annäherung von Sozialund Kognitionswissenschaften (z. B. im Zusammenschluss von Kognitionspsychologie und Neurowissenschaften zur kognitiven Neurowissenschaft oder schliesslich im Zusammenschluss von kognitiver Neurowissenschaft und Sozialpsychologie zur »Social Cognitive Neuroscience«; vgl. Azar 2002; Blakemore/Frith 2004; Amodio/Frith 2006; Reichertz/Zaboura 2006). Selbst ohne den unmittelbaren Bedarf, in diesem relativ jungen Feld weiter in die Tiefe zu gehe, lässt sich auf den vorliegenden Kontext angewandt schliessen: Sinn sei »in the head/ mind« und Bedeutung sei »in society«, wobei Gesellschaft schlicht als Konzeption des »Menschen in der Mehrzahl« verstanden wird (Adam 2007). Diese Aussage wird in je eigener Weise durch die Ausführungen zur Etymologie und zur sprachphilosophischen Unterscheidung von Sinn und Bedeutung gestützt (siehe vor allem Seite 92). Eingangs dieses Kapitels war vermerkt, dass das Dazwischen von Individuum und Gesellschaft als Vermittlungsfeld für Bedeutungszuweisungen angenommen wird. Vorläufig lässt sich diese Aussage dahingehend präzisieren, dass es sich um ein Vermittlungsfeld für Sinn handelt, welches sich auf Bedeutung ausrichtet. Daraus folgt:

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5.5

Sinn oder Bedeutung?

These 5–D »Sinn« wird zum »Metamedium« des Mediums »Bedeutung«; dieses dient als »Dazwischen« von Individuum und Gesellschaft.

Ohne bereits auf die aufscheinende mediale Komponente einzutreten, wird eine solche These durch die grundlegende Begrifflichkeit gestützt. So bezieht sich Sinn sprachwissenschaftlich auf den »Zusammenhang zwischen dem Bedeutungsinhalt [. . . ] und den bezeichneten Phänomenen« und soziologisch auf die »Tatsache, dass für Angehörige eines Kollektivs und für einzelne Individuen bestimmte Gegebenheiten wertund bedeutungsvoll [. . . ] und dementsprechend sinnvoll sind.« (Hillmann 1994, 782) Bedeutung hingegen ist »der ›Sinn‹ eines Zeichens« und bezeichnet, was dieses »zum Ausdruck bringt« (Hillmann 1994, 74). Obwohl sich Sprachphilosophie und Semantik zur Einführung der Unterscheidung bewährt haben, beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit der semiotisch-pragmatischen Beziehung zwischen dem Handelnden und seiner Umwelt. Dabei drängt sich ein sehr weites Verständnis der zweiten Seite als »Gesamtheit der vorhandenen sozialen Beziehungen« auf (Tenbruck 1986, 196).58 In der These zeigt sich zudem, dass die Bedeutung nicht der Gegenstand ist, sondern dass sie vielmehr beinhaltet, was mit ihm gemacht wird und welche Bedeutung ihm zugewiesen wird. Die Auseinandersetzung mit dem »Dazwischen« findet an anderer Stelle statt, wobei dort auch die getroffene Aussage zu Medium und Metamedium weiter vertieft wird (siehe Kapitel 13). Die Ausweitung hin zum Medium scheint durch den performativen Charakters des sozialen Handelns und der inhärenten Bedeutungszuweisungen sinnvoll.

58 | Weshalb die vorhandenen Beziehungen zur Erklärung allerdings nicht ausreichen, wird an anderer Stelle aufgezeigt (siehe Seite 311).

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Verhältnisse

6 Soziologie des Individuums Es scheint nicht möglich, einen umfassenden Überblick über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu geben. Dazu führt nicht nur das Wesen dieses Verhältnisses als das zentrale – und damit wohl das älteste wie aktuellste – »Problem der Soziologie«, sondern eine Vorgeschichte, die, was die intellektuelle Auseinandersetzung anbelangt, mindestens bis zur Polis zurück reicht (vgl. Di Fabio 1991, 17 ff.; Inglis/Robertson 2004). Selbst wenn nur schon bis zur Begründung der Soziologie im 19. Jahrhundert zurück gegangen würde – was in Ansätzen geleistet wird –, wäre die Breite des Materials unüberschaubar. Denn: »Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft hat als Problem immer wieder im Zentrum soziologischer Diskussionen gestanden.« (Steinbacher 1971, 39; vgl. Luhmann 1984, 4; Ebers 1995, 14, 22 f.) Da es nicht Ziel sein kann, Soziologiegeschichte neu zu schreiben, sondern allenfalls in anderer Weise zu rekonstruieren, muss ein Gesamtüberlick ausserhalb des Unterfangens bleiben. Aus diesem Grund darf sich dieser Teil der Arbeit auch nicht die Überschrift »Forschungsstand« geben; er heisst einfach »Verhältnisse«, und das kann er leisten: einen selektiven Blick auf jene Themen, die Individuum und Gesellschaft mit ihrem Verhältnis aufspannen. Die an anderer Stelle behandelten Umgänge gehören ebenfalls zur Sammlung möglicher Verhältnisse (siehe Kapitel 9 und 10) und nehmen darin eine zentrale Funktion ein. Innerhalb des vorliegenden Teils werden jene zusätzlichen (zumeist deutschsprachigen) Ansätze behandelt, die sich mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft – und damit mit einem grundsätzlichen Konstruktionsprinzip von Gesellschaftstheorie (vgl. Di Fabio 1991, 5) – auseinandersetzen. Die Analyse beschränkt sich auf eine Soziologie des Individuums, auf Individualisierung und auf diverse Spannungsverhältnisse, die durch das Verhältnis auftreten. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts und damit in einem ersten Schritt der Soziologie beschränkte sich die Auseinandersetzung auf Holismus/Organismus einerseits und Individualismus/Sozialpsyche andererseits, mit Gemeinschaft als Zwischenstufe: »Individuum und Gesellschaft, das ist eigentlich das Hauptproblem der Soziologie und die Ursache der Trennung einer individualpsychologischen von einer sozialpsychologischen Richtung gewesen.« (Salomon in Oppenheimer/Salomon 1926c, 1; vgl. Francis 1965, 10) Während sich die

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6

Soziologie des Individuums

frühe Auseinandersetzung auf jene Konzepte aufteilte, die den sozialwissenschaftlichen Dualismus von Individuum und Gesellschaft eröffneten, hat sich dies hin zu einer reflektierenden Betrachtung verschoben, einsetzend bei Berthold Thorsch (1907) und Leopold von Wiese (1933).1 Erst mit der Reflexion offenbart sich, »dass soziologische Theorien immer, entweder ausdrücklich oder stillschweigend, von ganz bestimmten Vorstellungen über die Natur seelischer Vorgänge ausgehen.« (Francis 1965, 31) Die Auseinandersetzung mit den grundlegenden Begriffen hat dann in eine bestimmte Richtung gewiesen, welche für die Soziologie anscheinend zu gelten hat: »Für sie gibt es nur vergesellschaftete Individuen, oder sich im Verhalten von Menschen äussernde soziale Vorgänge. Weder die Vorstellung eines völlig einsamen Individuums noch die einer vom Handeln einzelner Menschen losgelösten Gesellschaft entspricht den beobachtbaren Tatsachen.« (Francis 1965, 28)

Selbstverständlich gibt es nach wie vor jene, die an ihrer Position festhalten. Es zeigte sich jedoch ein zweiter Schritt hin zu einer skeptischen Generation, die einen ersten Blick zurück wirft. Dazu zählen vor allem Helmut Schelsky und Friedrich H. Tenbruck. Die folgenden Materialbesprechungen vertiefen diesen Aspekt unter Berücksichtigung neuerer Literatur in einem weiteren Schritt und damit auch auf weiteren Ebenen. Dieses Kapitel füllt somit eine Lücke hin zur Gegenwart, die interessanterweise bei Peter Sloterdijk kulminiert (siehe Kapitel 10.3) und damit (wieder) bei einem Philosophen und nicht bei einem Soziologen. Der Soziologie müsste eigentlich eine »Soziologie des Individuums« – als Gegensatz zur Gesellschaft – nahe stehen: Während die Trennung von Individuum und Gesellschaft nur theoretisch möglich scheint, »ist der einzelne ein konstitutives Element der Gesellschaft« (Steinbacher 1971, 42). Es ist zwar kein sehr verbreiteter Anspruch, sich mit einer solchen Soziologie auseinanderzusetzen, aber immerhin wird ein derartiges Unterfangen explizit als Soziologie gekennzeichnet. Was sich allerdings in Realität dahinter verbirgt, zeigen insbesondere die gewählten Ansätze von Jürgen Ritsert (2001) und Claus Daniel (1981).

6.1 Philosophie der Anerkennung Jürgen Ritsert hat in den frühen 1990er Jahren begonnen, eine Soziologie des Individuums zu skizzieren, die vor kürzerer Zeit in einem Ein1 | Für den angelsächsischen Raum sind diesbezüglich Charles Horton Cooley und George Herbert Mead besonders erwähnenswert; für den ersten sind »Individuum und Gesellschaft [. . . ] wie die beiden Seiten derselben Medaille« (Francis 1965, 33).

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6.1

Philosophie der Anerkennung

führungswerk wieder aufgenommen wurde. Die Anlagen der beiden Werke sind ähnlich; sie unterscheiden sich jedoch in der Umsetzung. Ritsert (1991) betrachtet Ansätze von Kant, Fichte, Hegel und Georg Herbert Mead und spannt einige von ihm so genannte »Soziologische Exkurse« auf, um dadurch die Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft abzutasten. In dem neueren Werk (Ritsert 2001) wird auf Kant weitgehend verzichtet, dafür sind die Textteile zu Adorno und Simmel geringfügig erweitert. Der Grund für den Beizug philosophischer Texte liege in einem »Schlüsselproblem der theoretischen Soziologie«, welches bei weitem noch nicht gelöst sei. Dieses offenbare sich »in all jenen ebenso verschiedenartigen wie kontroversen Versuchen, eine stichhaltige Verhältnisbestimmung der allgemeinsten Merkmale gesellschaftlicher Synthesis, Dynamis und Praxis einerseits zu Mustern der Interaktionen zwischen Individuen, andererseits zu deren Chancen einer Individuierung zu Subjekten zu geben.« (Ritsert 1991, 5)

Ritsert bezeichnet diese Grundfragestellung als »Vermittlungsproblem« und gelangt zur folgenden philosophiegeschichtlichen Annahme: »[D]ie mit dem Anerkennungsbegriff und der Anerkennungsethik verbundenen Themen und Thesen bieten die besten Aussichten, mit dem Vermittlungsproblem von Struktur (Prozess), Interaktion und Individuierung im Rahmen einer dialektischen Theorie der Gesellschaft zurechtzukommen.« (Ritsert 1991, 5)

Dabei steht das als Prozess verstandene Vermittlungsproblem für die »Bedingungen und Erscheinungsformen gesamtgesellschaftlicher Synthesis, Dynamis und Praxis« (Ritsert 1991, 7). Nur diese, gänzlich gegen Ritsert vollzogene Lesart scheint hier Sinn zu machen, da Struktur und Prozess m. E. nicht in eins gesetzt werden können. Da das hinzugesetzte »Prozess« in der ursprünglichen Formulierung keinen Zusatznutzen stiftet, könnte es auch einfach weggelassen werden. Als Prozessuales, so hat schon die Auseinandersetzung mit dem Gesellschaftsbegriff gezeigt, hat dieses »Problem« allerdings den Nutzen, auf die genannten Zusammenhänge aufmerksam zu machen und die Soziologie dafür zu sensibilisieren. Dieser Umgang mit dem »aktuellen Vermittlungsproblem in der theoretischen Soziologie«, in welchem die Gesellschaft den »Muster[n] der Interaktion und Chancen zur Individuierung« entgegengesetzt wird (Ritsert 1991, 7), erklärt zugleich die für ein soziologisches Unterfangen auf den ersten Blick abwegige Wahl von drei Philosophen und einem Sozialpsychologen. Es ist also zu weiten Teilen die Entge-

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Soziologie des Individuums

gensetzung von Struktur einerseits und Interaktion/Individuierung andererseits, welche die Soziologie zu überfordern scheint und die Hilfe anderer Disziplinen einfordert. Mit dem folgenden Zitat wird zudem eine Figur bemüht, die zwischen Soziologie und Philosophie steht. Es gibt den groben Umriss des Vermittlungsproblems an und verdeutlicht dessen Nähe zur Problemstellung der vorliegenden Arbeit: »Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft lässt sich aber auch nicht trennen von dem zur Natur. Die Konstellation zwischen den drei Momenten ist dynamisch. Es genügt nicht, bei der Einsicht in ihre perennierende Wechselwirkung sich zu beruhigen, sondern eine Wissenschaft von der Gesellschaft hätte wesentlich die Aufgabe, die Gesetze zu erforschen, nach denen jene Wechselwirkung sich entfaltet, und die wechselnden Gestalten abzuleiten, die Individuum, Gesellschaft und Natur in ihrer geschichtlichen Dynamik annehmen.« (Institut für Sozialforschung 1956c, 43)

Letztlich sind es aber genuin philosophische Ansätze, die Ritsert seinen Ausführungen zugrunde legt, welche bei dem Philosophen und Sozialpsychologen Georg Herbert Mead ein vorübergehendes Ende finden (vgl. Athens 2005). Bei Ritsert wie in der vorliegenden Arbeit wird zudem nicht gesondert auf die von Adorno geforderte »Natur« eingetreten (vgl. Ritsert 1988, 197). Schliesslich gilt bei Adorno: »Noch die biographische Einzelperson ist eine soziale Kategorie. Sie bestimmt sich einzig innerhalb eines Lebenszusammenhanges mit anderen, der ihren Sozialcharakter bildet« (Institut für Sozialforschung 1956c, 43). Mead beispielsweise, dem im Folgenden besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, definiert das Individuum gesellschaftlich und umgeht somit den gleichfalls interessanten Gegensatz von Natur und Gesellschaft (vgl. Mead 1968, 273). Im Umgang mit Kant wird auf den Anerkennungsbegriff hingewiesen und der Zusammenhang von Vermittlungsproblem und Anerkennungsethik wird bei Fichte, Hegel und Mead dargelegt. Es lässt sich gleich vorweg nehmen: Obwohl sich in dieser Hinführung auf eine »Soziologie des Individuums« interessante Gedanken finden lassen, weicht das eigentliche Ziel – massgeblich aber der Umgang mit der Materie – entscheidend von dem vorliegenden Ansatz ab: Während in der Auseinandersetzung mit Kant und Fichte das »Verhältnis von Anerkennung (als Interaktionsmodus!) zum Werden und Bestehen der Autonomie des Subjekts« den Schwerpunkt bildet und das Vermittlungsproblem von der einen Seite, der des selbstständigen Individuums, angegangen wird, findet in der Auseinandersetzung mit Hegel eine Verlagerung auf die Seite der »Organisationsprinzipien des gesellschaftlichen Ganzen« statt (Ritsert 1991, 126). Das Spannungsverhältnis zwischen »Bestimmung« und »Selbstbestimmung« bildet »jene[n] Katalog mehr oder minder stabiler Eigenschaften, Haltun-

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6.1

Philosophie der Anerkennung

gen und Kompetenzen der Individuen, welcher mit dem geläufigen Ausdruck Sozialcharakter überschrieben wird.« (Ritsert 2001, 41; vgl. Daniel 1981, 89 ff.) So lehrte bereits Hegel, »dass sich Individuen nur als gesellschaftliche zu sich selbst frei verhalten und nur in wechselseitiger Anerkennung Rechtsverhältnisse begründen« (Ritsert 2001, 64). Damit ist nicht nur die in der Überschrift dieses Teilkapitels genannte »Anerkennung« eingeholt (vgl. Heck 2003), sondern das Verhältnis von Bestimmung (Bestimmtsein) und Selbstbestimmung markiert damit zugleich das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum sowie dessen grundlegendes Problem (vgl. Ritsert 2001, 78). Hinsichtlich der Anerkennung als Interaktionsmodus scheint das Bedürfnis nach Motivationshypothesen interessant, d. h. »nach wohlbegründeten Vermutungen darüber, was wohl die geneigten Individuen veranlassen könnte, sittliche Gebote zu achten und zu beachten.« (Ritsert 1991, 36 f.; vgl. 2001, 6 ff., 20 f.) Die Motivation zur Sittlichkeit interessiert hier nicht weiter; es soll jedoch auf die Nähe zu der an anderer Stelle behandelten Religion hingewiesen werden (siehe Kapitel 12.3). Ist es hier die Sittlichkeit, die zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt, so ist es dort die Moral. In Ritserts Kontext und mit anderen Worten lautet dies folgendermassen: »Insofern steckt in den Grundformeln des kategorischen Imperativs allemal eine inhaltliche Grundvorstellung von einem sittlichen Vermittlungsverhältnis zwischen Individuen und Gesellschaft.« (Ritsert 1991, 42 f.) Doch welche Ausprägung kann ein solches Vermittlungsverhältnis annehmen? Für Adorno beispielsweise sind Gesellschaft und Natur vorgängige Daseinsgründe aller Individuierungsprozesse, sind materielle Existenzbedingungen der Autonomie der Subjekte: »Gesellschaft ist vor dem Subjekt. Dass es sich verkennt als vor der Gesellschaft Seiendes, ist seine notwendige Täuschung« und werfe ein schlechtes Licht auf die moderne, individualistisch geprägte Gesellschaft (Adorno 1966, 130). Die »höchst reale Trennung« des Individuums von der Gesellschaft ist gemäss Adorno (1966, 216) nicht zu leugnen und mag damit zusammenhängen, dass die Subjekte (eben doch) die »Produzenten der gesellschaftlichen Verhältnisse [sind], die ihre Autonomie ermöglichen – oder [auch] nicht.« (Ritsert 1991, 59) Einschluss und Ausschluss zwischen Individuum und Gesellschaft finden zugleich statt und führen zu einem fruchtbaren Widerspruch. In Adornos Worten: »Das Individuum ragt über den blinden Zusammenhang der Gesellschaft temporär hinaus, hilft aber in seiner fensterlosen Isoliertheit jenen Zusammenhang erst recht reproduzieren.« (Adorno 1966, 217) Hier wird anscheinend versucht, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen wenigstens zeitweise erhobenem und selbstbestimmtem Individuum und der Gesellschaft als blindem Wirkungszu-

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Soziologie des Individuums

sammenhang, der erst noch von dem Individuum reproduziert wird. Damit zeigt sich erneut die Paradoxie der Soziologie und darüber hinaus eine Doppeldeutigkeit, die in der Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft immer wieder aufscheint: »Zum Vermittlungsproblem in der Soziologie gehört auch die Frage, wie sich die Umrisse des dialektischen Grundverhältnisses zwischen Individuum (als Einheit von Person und Subjekt), Interaktion und Gesellschaft (samt ihren Naturverhältnissen) mit konkretisierten und empirischen Aussagen vermitteln lassen.« (Ritsert 1991, 203)

In weiteren Teilen der vorliegenden Arbeit soll dem Thema deshalb mit konkretisierten, theoretischen und illustrativen Aussagen begegnet werden (siehe die Kapitel 9–12). Generell soll dadurch die Vielfalt möglicher Umgänge mit dem Thema aufgezeigt werden, die bei Ritsert eine andere Wendung nimmt. Die Antwort auf die Frage nach dem dialektischen Zusammenhang, die der Soziologie zudem näher steht, versucht er bei Georg Herbert Mead zu finden; dafür brauche es jedoch eine Lesart, »die Meads Werk nicht nur als einen Beitrag zur Sozialpsychologie versteht.« (Ritsert 1991, 203) Dem kommt entgegen, dass sich Meads Sozialbehaviorismus gegenüber der klassischen Verhaltenstheorie abgrenzt. Ein Grund dafür ist sicherlich jenes Problem, das sich durch »eine Situation mangelhafter Anpassung zwischen dem Individuum und seiner Welt« ergibt (Mead 1969, 106). Die Abgrenzung zur Verhaltenstheorie tritt ausserdem ins Spiel, weil »wir das Verhalten des Individuums im Hinblick auf das organisierte Verhalten der gesellschaftlichen Gruppe erklären, anstatt das organisierte Verhalten der gesellschaftlichen Gruppe aus der Sicht des Verhaltens der einzelnen Mitglieder erklären zu wollen. Für die Sozialpsychologie ist das Ganze (die Gesellschaft) wichtiger als der Teil (das Individuum)« (Mead 1968, 45).

Ein solcher Sozialbehaviorismus geht vom gesellschaftlichen Ganzen aus, um darin das Verhalten des einzelnen Individuums zu analysieren und zu erklären (vgl. Ritsert 2001, 89 f.). Die gesellschaftliche Handlung ist dann organischer Prozess, und der erklärende Ansatz »will weder die ›innere Erfahrung‹ des Individuums in ihrem Rang leugnen, noch die Tathandlung als eigenständigen Reflexionsgrund ignorieren.« Mead setzt sich vielmehr für »eine Forschungs- und Darstellungsweise [ein], die von aussen nach innen, anstatt von innen nach aussen fortschreitet.« (Ritsert 1991, 205) Dieses »von aussen nach innen« bezeichnet die Bewegung von der Gesellschaft hin zum Individuum; dabei erlangt das gesellschaftliche Ganze eine prägende Wirkung auf das einzelne Individuum. Dieses Vorgehen erinnert denn auch stark an Emile Durkheims soziologische Tatbestände, wobei es hier auf die

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6.1

Philosophie der Anerkennung

Forschung beschränkt bleibt und nicht auf »Dinge« sui generis ausgedehnt wird. Diese Forschungs- und Darstellungsweise schlägt sich folgerichtig in Meads Bestimmung einer sozialen Handlung nieder: »Eine soziale Handlung kann als eine Handlung definiert werden, bei der der Anlass oder der Reiz, welcher einen Handlungsimpuls auslöst, in der Eigenart oder in dem Verhalten eines Lebewesens zu suchen ist, welches zur spezifischen Umwelt des Lebewesens gehört, in dem dieser Handlungsimpuls ausgelöst wird.« (Mead 1980a, 314)

Von Max Webers Definition abweichend, schränkt Mead das Konzept des sozialen Handelns weitgehend ein auf »die Klasse von Handlungen [. . . ], die die Kooperation von mehr als einem Individuum involvieren und deren Objekt – als im Sinne von Bergson durch die Handlung definiertes Objekt – ein soziales Objekt ist.« (Mead 1980a, 314) Mit letzterem sind jene Gegenstände und Gegebenheiten bezeichnet, welche mit der gesamten Interaktion zwischen Individuen in Verbindung stehen. Es ist die »Entdeckung oder Konstruktion solcher Objekte, die unsere konfligierenden und blockierten Aktivitäten vermitteln und es ermöglichen, dass das Verhalten weitergeht« (Mead 1969, 299). Und obwohl eine »soziale Rolle« die Bedeutung eines sozialen Objekts darstellen kann, bleibt dieses Konzept diffus. Unter einem sozialen Objekt lässt sich der psychische Inhalt einer Situation verstehen. Zwei Individuen sind durch ein gemeinsames soziales Objekt aufeinander bezogen und haben ein gemeinsames Verständnis der Situation (vgl. Mead 1980b). Erklärungsbedarf zeigt sich dann vor allem »in der Genese der von den Kommunikanten geteilten Bedeutungsgehalte der Sinnwelt.« Weiter auf die Interaktion bezogen, heisst dies: »Denn wenn man unterstellen muss, dass beide [d. h. zwei interagierende Akteure] in einer gemeinsamen Sinnwelt leben, weil anders die Kommunikation weder in Gang käme noch fortgesetzt werden könnte, so ist man dem nahe, was seit Mead als Wechsel der Perspektiven als Kompetenz eines reflexiv operierenden Selbst verstanden wird.« (Dux 2003, 262; vgl. Mead 1968)

In dieser Logik liegt »das Ziel (objective) der Handlung [. . . ] also in dem Lebensprozess der Gruppe und nicht allein in dem der einzelnen Individuen.« (Mead 1980a, 314) Hier lässt sich ein Rückbezug zur Thematik um Sinn und Bedeutung anstellen, als dessen Resultat »Bedeutung« – im vorliegenden Fall: Bedeutungsgehalte der Sinnwelt – das Primat vor »Sinn« hielte. Der Handlungsakt stellt in seiner Gänze eine Verhaltensabfolge oder einen Prozess dar, der bei Mead vor allem als Kooperation charakterisiert wird (vgl. Ritsert 1991, 216). Dieser Prozess basiert zu weiten Teilen auf Symbolen oder Gesten als Ausdrucksmittel, schliesslich auf so genannten »signifikanten Symbolen«

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Soziologie des Individuums

mit motivationaler Bedeutung. Diese Symbole »sind nach der einen Seite hin an die Motive und Bedürfnisse [. . . ] der menschlichen Lebewesen angeschlossen« und beziehen sich nach der anderen Seite »auf die faktischen Probleme in einer Situation mit ›sozialen Objekten‹, vor allem aber: auf die Bedingungen und Folgen der Interaktion mit ›bedeutsamen Anderen‹ (significant others) in der Situation.« (Ritsert 1991, 221) Sie finden deshalb Anschluss sowohl an die sprachliche Seite der Relation Sinn/Bedeutung als auch an Webers wertgeladene Bedeutung. Weil »signifikante Symbole« für Mead (1968, 115) Gesten darstellen, »die einen Sinn haben«, gelangt der Sinnbegriff – in einem weiten Verständnis als »szenischer Begriff« (Ritsert 2001, 100) – ins Zentrum seiner Darstellung menschlicher Interaktion (vgl. Mead 1968, 115 ff.). Im Beispiel der Dyade liegt Sinn »in der dreiseitigen Beziehung zwischen der Geste eines Individuums, einer Reaktion auf diese Geste durch ein zweites Individuum und der Vollendung der jeweiligen Handlung, die durch die Geste des ersten Individuums eingeleitet wurde.« (Mead 1968, 121)

Diese Konstellation erinnert nicht ohne Grund an das früher erwähnte interpretative Paradigma. Auf einen einfachen Nenner gebracht lässt sich also sagen: »Wir sind, was wir sind, durch unser Verhältnis zu anderen.« (Mead 1968, 430) Das Individuum ist gesellschaftlich bestimmt – wobei dies eben nur eine Seite der Medaille darstellt. In der Verwendung des Theoriekonstrukts des »verallgemeinerten Anderen« (generalized other) zeigen sich die Hauptpositionen: Auf dem Weg von aussen nach innen meint dieses Andere »die organisierte Gemeinschaft oder gesellschaftliche Gruppe, die dem Einzelnen seine einheitliche Identität gibt« (Mead 1968, 196); es meint gleichfalls die Einwirkung auf das Individuum durch bedeutsame Andere. Als Resultat ergibt sich eine Verallgemeinerung, denn »[d]ie Haltung dieses verallgemeinerten Anderen ist die der ganzen Gesellschaft.« Auf dem Weg von innen nach aussen fällt dieses Andere schliesslich mit der gesellschaftlichen Totalität zusammen; das menschliche Wesen muss auch »die Haltungen anderer Individuen [. . . ] gegenüber den verschiedenen Phasen oder Aspekten der gemeinsamen gesellschaftlichen Tätigkeit oder der gesellschaftlichen Aufgaben übernehmen« und verallgemeinern (Mead 1968, 197). Diese Spannungen des »hin und her« haben ihren Ursprung in den »›äusseren‹ Gegensätze[n] in der Gesellschaft und/oder Interaktion«, und ihre Auswirkungen zeigen sich als »Veränderungen gesellschaftlicher Gegebenheiten« (Ritsert 1991, 240). Doch zeigt sich auch Kritik am Konzept des »generalisierten Anderen«, denn es werde beim Weg von innen nach aussen »über die gesamte Spannbreite zwischen besonderen gesellschaftlichen Gruppen und ge-

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6.1

Philosophie der Anerkennung

sellschaftlicher Totalität zerdehnt« (Ritsert 1991, 241). Weil sich dieses Andere kontinuierlich zwischen klein/bestimmt (Gruppe) und gross/ unbestimmt (Gesellschaft) bewegt, erscheint es institutionen-theoretisch unterbestimmt. In gleicher Weise unterbestimmt bleibt aber auch eine mögliche »Soziologie des Individuums«. In Anlehnung an diese ersten Überlegungen hat Jürgen Ritsert rund zehn Jahre danach ein Einführungswerk mit denselben »Grundannahmen über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft« vorgelegt. Eine Soziologie des Individuums muss anscheinend (sozial-)philosophisch rekonstruiert und begründet werden. Anstelle einer erneuten, breiten Diskussion seiner Gewährsansätze, die über »eine weit über ihren Ursprungsort hinaus reichende Aussagekraft« verfügen (Ritsert 2001, 1), werden diese anhand aktueller Diskussionen erläutert. Das Programm wird folgendermassen erklärt: »Bei Hegel wird der von Immanuel Kant begründete Begriff ›konkreter Freiheit‹ auf eine für Gesellschaftstheorien und Politik nach meiner Auffassung sehr tragfähige Weise ausgebreitet, bei Fichte findet sich die pointierteste Darstellung autonomer Subjektivität, bei Mead der Zusammenschluss vieler dieser Motive zu einer gross angelegten Soziologie des Subjekts.« (Ritsert 2001, 3, vgl. 15)

Simmel und Adorno dienen dabei als soziologisches »Beispiel« und sollen zeigen, wie verbreitet die Grundgedanken und Probleme schliesslich sind (vgl. Ritsert 2001, 2). Es ist nicht nötig, im Einzelnen mit Ritserts Ansichten übereinzustimmen; es zeigt sich vielmehr, dass das Herangehen (im Gegensatz zum Vorgängerwerk) Ähnlichkeit mit meinem eigenen aufweist. Es erschien in dieser Hinsicht sinnvoll, die Betrachtung dieses Ansatzes auf Adorno und Mead zu fokussieren, die einer Soziologie nahe stehen. Interessant scheint gerade die Besonderheit an der Schnittstelle zur Sozialpsychologie und dem Verständnis der Philosophie als Mittler (vgl. Ritsert 2001, 5). Mittler heisst eben auch Wechselwirkung und diese bedeutet, »dass aus den individuellen Trägern jener veranlassenden Triebe und Zwecke eine Einheit, eben eine ›Gesellschaft‹ wird.« (Simmel 1992b, 18) Und gerade eine Wirkung dieser Art ist auch in anderen Konzepten auffindbar, allen voran bei Mead, der sich besonders um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bemühte (vgl. Ritsert 2001, 118). Ein früher Vorläufer, der die gegenläufigen »Tendenz[en] zur Selbstbestimmung und des Bestimmtwerdens« aufnahm (Ritsert 2001, 176), war Johann Gottlieb Fichte. Seine Antwort lag darin, »ein Bestimmtsein des Subjekts zur Selbstbestimmung« zu denken (Fichte zit. in Ritsert 2001, 176). Die Bedeutung dieser Aussage darf nicht unterschätzt werden, nimmt sie doch alle Aspekte einer integrierten Sicht auf das gegenseitige Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bereits im Jahre

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Soziologie des Individuums

1796 vorweg. Die »Erkenntnis des einen Individuums vom andern« ist geprägt von gegenseitiger Anerkennung und bedingt »durch die Handelsweise des ersten gegen das andere; diese durch die Handelsweise, und durch die Erkenntnis des andern und so ins unendliche fort.« Das Verhältnis ist deshalb das einer »Wechselwirkung« (Fichte zit. in Ritsert 2001, 177). Damit reichen auch die Vorläufer eines interpretativen Paradigmas mit gegenseitiger (Bedeutungs-)Zuweisung der Akteure weit in die Geschichte zurück. Die in der Weiterentwicklung kritisch werdende Perspektive kulminiert bei Adorno in der »Entsubjektivierung der Subjekte« (Ritsert 2001, 185). Für eine Soziologie des Individuums soll gelten: »Wenn wir nach soziologischen Theorien des Individuums suchen, bei denen die Aussagen über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft tatsächlich der Figur der ›Vermittlung‹ folgen, dann drängen sich Argumente von Georg Simmel einerseits, Theodor W. Adorno andererseits auf.« (Ritsert 2001, 129)

Da es mir im Gegensatz zu Ritsert nicht um eine gewissermassen kritische Theorie geht und Adorno bereits aufschien, soll die abschliessende Betrachtung Georg Simmel gelten. Schliesslich wird er herangezogen, um dem genannten Problem der Spannung von »innen und aussen« entgegenzuwirken. Simmels Ansatz binde »die vielfältigen Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft in eine Argumentationsfigur ein, die [. . . ] die Überschrift ›Vermittlung‹ verdient.« Und zwar erlangt er dies durch »Typisierung der Erscheinungsformen und des Verhaltens anderer Personen«. (Es geht also erneut um Anerkennung.) Diese Formen als Orientierungsmuster sind die »unhintergehbare Bedingung der Möglichkeit« von Beziehungsaufnahme und Beziehungspflege (Ritsert 2001, 130). Bereits die Sozialisationsprozesse tragen dazu bei, dass uns das Gegenüber als Vertreter eines bestimmten Typs erscheint und erlaubt »die Herstellung einer gesellschaftlichen Einheit aus den Individuen« (Simmel 1992b, 46). Es ist dann die »Individualität und Einzigkeit unser selbst, die wie mit ideellen Linien gezeichnet unsre wahrnehmbare Wirklichkeit umgibt.« (Simmel 1992b, 49) Da es sich hier – von der Gegenseite betrachtet, also von innen nach aussen – um »[d]ie Frage nach dem Verhältnis von ›Individualismus‹ als moderne Lebensform und ›Individuierung‹ als Lebensprinzip« dreht (Ritsert 1991, 253), macht die folgende Unterscheidung Simmels Sinn: Individualität ist ein »nicht weiter ableitbares Verhalten«; sie bedeutet »auf der einen Seite ein Verhältnis zur – grösseren oder kleineren – Welt [. . . ]; andererseits aber besagt sie, dass dieses Wesen eine Welt für sich ist, in sich selbst zentriert, irgendwie in sich selbst geschlossen und selbstgenügsam.« (Simmel 1992a, 268) Er bezeichnet Individualität als »die Form, in der diese Doppelbedeutung

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6.2

Exkurs zur Sozialisation

der menschlichen Existenz sich zur Einheit zu bringen vermag oder versucht.« Individualismus dagegen wird von Simmel als Subjektivitätsform verstanden, deren Prinzip das »sich abhebende Verhältnis zu einem Ganzen« darstellt; er ist »Trieb zu Absonderung« (Simmel 1992a, 269) und bietet keine Handhabe für ein Verhältnis zur – grösseren oder kleineren – Welt. Als These liesse sich deshalb die folgende Formulierung übernehmen: »Für die Gesellschaftswissenschaften ist die Idee des seiner selbst bewussten und selbstbestimmter Handlungen fähigen Individuums trotz allem gleichzeitigem Bestimmtstein des Denkens und Handelns unverzichtbar.« (Ritsert 2001, 142) Darin zeigen sich erneut die zwei Seiten der Medaille, die beide zugleich berücksichtigt werden müss(t)en. Die aus Simmels Unterscheidung resultierende Individualisierung als sozialer Prozess hin zum Individualismus interessiert hier nicht; dasselbe gilt für Sozialisation als Weg hin zu Individuierung und zur Konstitution von Gesellschaft (vgl. Sutter 2003, 47 f.). Es mag deshalb erstaunen, dass ein Kapitel mit »Individualisierung« überschrieben und der Sozialisation ein anschliessender Exkurs gewidmet ist. Dies liegt daran, dass diesen beiden Vermittlungskonzepten durchaus Funktion zugeschrieben werden kann, allerdings nur insofern sie als Idee und nicht als Gegenstand verstanden werden.

6.2 Exkurs zur Sozialisation Einen neuen Ansatz in der Sozialisationstheorie, der eine genuin soziologische Rekonstruktion und Typologie der Selbstbeschreibungen des Menschen im 20. Jahrhundert leisten und entwickeln will, hat Hermann Veith (2001) vorgelegt. Dabei wird ganz bewusst nach dem ansonsten eher vernachlässigten begrifflichen (Selbst-)Verständnis des sozialisierten Menschen gefragt. Eine solche Ausrichtung der Sozialisationstheorie wendet sich gegen die vorherrschende Vorstellung des vergesellschafteten Menschen, welcher als Rollenträger und -akteur aus einem bereits vorkonstruierten funktionalistischen Gesellschaftsmodell abgeleitet wurde (vgl. Veith 2001, 74 ff.). Die geschilderte Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert folgt in etwa jener, wie sie sich in der vorliegenden Arbeit im Kapitel zum Individuum dargestellt fand (vgl. Veith 2001, 25 ff.). Von der Erfahrung »wirklichkeitskonstituierende[r] Kraft sozialen Handelns« und bedingungsloser »Vernunft der Subjekte« zu Ausgang des 18. Jahrhunderts spannt sich die Betrachtung zur »nüchternen Feststellung der gesellschaftlichen Bedingtheit der Individuen« zu Ende des 19. Jahrhunderts (Veith 2001, 63; Hervorhebung wurde weggelassen). Dies führt dazu, »dass die Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die handelnde Gestaltung ihres individu-

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Soziologie des Individuums

ellen Lebens als existentielles Problem im Schatten einer übermächtig erscheinenden Gesellschaft begriffen« (Veith 2001, 64). Mehr noch: »die Einzelnen [erfuhren] die ubiquitäre Präsenz einer entpersonalisierten Gesellschaft, die nach eigenen Gesetzen zu funktionieren schien.« (Veith 2001, 99 f.) Die Typisierungen des 20. Jahrhunderts reichen vom »rationalen Handlungsmensch« über den »affirmativen Realisten« bis hin zu »polyzentrischen Identitäten« (vgl. Veith 2001, 103, 224, 305). Dabei fällt vor allem der letzte Typ auf: »Der dissoziierte Individualist begreift Sozialisation nicht mehr als individualisierende Vergesellschaftung, sondern als selbstreferenziellen Konstruktionsprozess durch Nutzung und Anwendung sozio-kultureller und subjektiver Potentiale« (Veith 2001, 386).

Hier haben wir es anscheinend mit einem selbstreferentiellen Individuum zu tun. Weitere Erscheinungen, die festgehalten werden, sind eine Hinbewegung zur Differenz anstelle des Konsens und zur Affektivität anstelle des Verstands (vgl. Veith 2001, 338 ff.). An der »sozialisationstheoretische[n] Frage, wie autonomes Handeln unter Bedingungen zunehmender gesellschaftlicher Komplexität möglich ist« (Veith 2001, 353), ändert sich nur, dass sich die Umstände ändern: »Vergesellschaftung bedeutet zwar weiterhin Sozialwerdung, dennoch sehen sich die sozialisierten Individuen, anders als vor 100 Jahren, in viel radikalerer Weise auf sich selbst zurück geworfen.« (Veith 2001, 351) Dadurch zeigt ein solcher Ansatz die individuelle Selbstbeschreibung im Verhältnis zu der ihr eigenen Gesellschaft.

6.3 Zwischen Subjekt und Individuum Die bisherigen Ausführungen zu einer (kritischen) Soziologie des Individuums haben bereits gezeigt, dass das Spannungsfeld von Subjekt und Individuum zwar umgangen werden kann, aber immer auch gestreift werden muss. Dies hängt am Faktor der Selbstbestimmung (gegenüber der Gesellschaft), welche dem Einzelnen zugesprochen wird oder eben nicht. Ebenfalls um eine Soziologie des Individuums geht es in Claus Daniels Theorien der Subjektivität. Anliegen dieses Umgangs ist es, einen »Überblick über verschiedene Theorien zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft« zu geben. Der Grund dafür läge nahe, denn »[v]om Individuum und seinen unmittelbaren Bedürfnissen [. . . ] auszugehen, gilt zur Zeit in zahlreichen soziologischen Lehrveranstaltungen als eine Selbstverständlichkeit«, ausgelöst durch die Erfahrung, dass »Gesellschaft ›Individualität‹, ›Subjektivität‹ immer weniger möglich macht.« (Daniel 1981, 7) Mit Peter F. Strawson lässt sich dann der

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6.3

Zwischen Subjekt und Individuum

Bogen zurück schlagen von dieser Erkenntnis hin zu Bestimmung und Selbstbestimmung: »Jeder einzelne von uns macht einen Unterschied zwischen sich selbst und seinen Zuständen auf der einen Seite und dem, was nicht er selbst oder einer seiner Zustände ist, auf der anderen.« (zit. in Daniel 1981, 9) Damit sind zum einen Typen gemeint, vor allem aber der schon früher genannte Sozialcharakter (vgl. Daniel 1981, 17). In der Erfüllung bedient sich dieser Ansatz meist sozialpsychologischer Ansätze und gibt dabei einen knappen Überblick über die Theorien des Subjekts von Fichte über Goffman bis zu Foucault. Aus diesem Grund scheint diese Arbeit mehr durch die vergleichbare Herangehensweise und die begrifflichen Zusammenhänge interessant, denn durch die eigentlichen Inhalte.2 Das Vorgehen, sich über tragende Autoren an das Thema heranzutasten, verbindet diesen Ansatz sowohl mit dem oben beschriebenen wie mit dem vorliegenden. Die Fülle dieser Grundlagen verlangt nach einer erneuten Auswahl; diese ergibt sich massgeblich aufgrund der Nähe zur Soziologie. Auch hier wird das Problem zwischen individueller Selbstbestimmung und Einfluss durch gesellschaftliche Strukturen und Prozesse identifiziert. Da dieses Problem eine soziologische Theorie des Individuums massgeblich beeinflusst, wird Hegels Begriff der »Vermittlung« bemüht (vgl. Daniel 1981, 17 f.). Wir haben diesen schon in der vorherigen Auseinandersetzung angetroffen, und fortgesetzt findet sich dieser Beziehungsbegriff auch in dem oben stehenden Strawson-Zitat wieder. Dieses Vermittlungsproblem lässt sich folgendermassen in eine Frageform fassen: »Wie kann man sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft denken, das ein gegensätzliches (widersprüchliches) sein kann und bei dem dennoch der eine Pol jeweils vom anderen auf eine bestimmte (vermittelnde) Weise abhängig bleibt?« (Daniel 1981, 20)

Es sei vorweggenommen, dass wir auf diese Frage keine direkte Antwort erhalten; wie schon Ritsert (2001) verzichtet Daniel (1981) darauf, seine Soziologie des Individuums abschliessend festzulegen. Im Folgenden soll auf einige gemeinsame Aspekte verwiesen werden. 2 | Das Buch gliedert sich in die folgenden Inhalte, wobei die Inhaltsangaben teils an die ursprüngliche Formulierung angelehnt sind, teils von mir gesetzt wurden: 1. Einfluss kapitalistischer Lebensbedingungen, 2. Autonomie und Selbstbewahrung, 3. Grundbegriffe der Psychoanalyse, 4. Furcht vor zuviel Freiheit (und Dilemma der Anthropologie), 5. Auflösung des selbstständigen Subjekts (im Spiegel der kritischen Theorie), 6. Innen-Lenkung und aussengeleiteter Mensch, 7. Bürgerliche Sozialcharaktere, 8. »Ich-Fassade« und Selbstarbeit der sozialen Identität, 9. Narzissmus und neuer Sozialcharakter (Selbstfindung und Therapie), 10. Subjekttheorie oder Antihumanismus als Ideologie (über subjektlose Strukturen).

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Soziologie des Individuums

In beiden Auseinandersetzungen nimmt ein Philosoph die zentrale Position ein: Johann Gottlieb Fichte. Die Unterscheidung oder genauer die Zusammenlegung von Bestimmung und Selbstbestimmung machen ihn zum Ausgangspunkt einer Soziologie des Individuums: »Seine ›soziologischen‹ Überlegungen halten sich im Rahmen politischer Philosophie.« (Daniel 1981, 40 ff.) Es sei Fichte, welcher der Frage nach dem Vermittlungsproblem »eine logische Struktur geben« wollte und zu folgender Aussage Anlass gibt: »Die Gesellschaft bildet einen Zusammenhang, der sich nach [. . . ] eigentümlichen Mechanismen oder Prozessen als eine (widersprüchliche) Einheit erhält. [. . . ] Wenn d[ies]er Apparat um der Menschen willen da ist, dann kann er immer daraufhin untersucht werden, von daher kritisiert werden, was er an Selbstbestimmung im Verhältnis zum Bestimmtsein zulässt.« (Daniel 1981, 62 f.)

Schnell wird allerdings ersichtlich, dass die Frage nicht beantwortet, sondern vielmehr in leicht veränderter Weise zurückgespielt wurde. Es bleibt zu vermuten, dass deshalb (und angegeben durch das hervorgehobene »kritisiert«) auch in diesem Ansatz die kritische Theorie bemüht wird. Mit der Absicht, dem Verfall der Individualität und damit dem »Negativen ins Angesicht zu schauen« (Adorno 1966, 342), ist Adornos Werk geprägt durch das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Die Veränderungen im Spätkapitalismus haben eine Negative Dialektik zur Folge: »Der Prozess der Verselbständigung des Individuums, Funktion der Tauschgesellschaft, terminiert in dessen Abschaffung durch Integration.« (Adorno 1966, 259) Ob aller Negativität erstaune es nicht, »dass die Beziehungen von Individuum und Gesellschaft geradezu [das] Kernthema [der Soziologie] darstellen und dass die Tiefe und Fruchtbarkeit aller soziologischen Theorien sich daran misst, wie weit sie jene Beziehungen zu durchdringen verstanden.« (Institut für Sozialforschung 1956c, 42)

Die Antwort lautet auch hier folgendermassen: »Menschliches Leben ist wesentlich, nicht bloss zufällig Zusammenleben.« Doch damit werde »der Begriff des Individuums als der der letzten sozialen Einheit fragwürdig«, denn der Mensch »verhält sich zu anderen, ehe er sich ausdrücklich zu sich selbst verhält; er ist ein Moment der Verhältnisse, in denen er lebt, ehe er sich vielleicht einmal selbst bestimmen kann.« (Institut für Sozialforschung 1956c, 42) Damit erstellt sich nicht nur ein Rückbezug zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft und dem vergleichbaren, bereits im Zusammenhang mit dem Individuum beschriebenen Problem, sondern ein Vorgriff zu demselben Problem in der Vermittlung als solcher. Denn die Antwort darauf finde sich

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6.3

Zwischen Subjekt und Individuum

»nicht in generalisierenden Bestimmungen [. . . ], sondern nur durch die Analyse konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse und der konkreten Gestalt des Individuums in solchen Verhältnissen.« (Institut für Sozialforschung 1956c, 48) Die negative Kritik lässt sich in einer These formulieren, die stark umstritten ist: »Das soziale System, die gesellschaftliche Totalität [als Kybernetik und Materialismus; S. B.], organisiert sich über Prozesse, Mechanismen, die dem gesellschaftlichen Ganzen als Ganzem eigentümlich sind, sich also nicht auf den Willen, das Denken, die Pläne und Handlungen der Individuen zurückführen lassen.« (Daniel 1981, 169)

Es lässt sich deshalb – vorläufig davon ausgenommen, ob diese These gestützt wird oder nicht – auf die Rollentheorie vorgreifen (siehe Kapitel 7.3) und von jenen Vorgaben, Verhaltensmustern und Grundannahmen sprechen, die unserem Umgang, der Situation und dem Handeln in der Vermittlung letztlich Sinn und Bedeutung zu verleihen scheinen (vgl. Daniel 1981, 172). Darin spiegelt sich »die Welt der konkreten Konstitution der Sozialcharaktere [. . . ]; die empirische Ebene der Vermittlung des einzelnen Handelns mit den Anforderungen, die von der Totalität ausgehen« (Daniel 1981, 173, vgl. 199). Hinzuweisen sei deshalb noch auf die so genannte »soziale Identität«, die zur Anwendung gelangt und auf Mead zurückgeht. Die Mehrzahl der von Daniel (1981, 188) bemühten Autoren ist der Meinung, »ein Subjekt sei mehr als die Summe der gesellschaftlichen Einflüsse und Anforderungen, die sich in seiner sozialen Identität ausdrücken.« Dem widerspricht ein so genannter Antihumanismus (hier v. a. in der Ausprägung Foucaults), der die »Selbstbestimmung des einzelnen« leugne (Daniel 1981, 218). Interessanterweise beziehen sich Fichte wie der Antihumanismus »auf die gesellschaftlichen [im zweiten Fall eher auf die strukturell-diskursiven; S. B.] Voraussetzungen der Selbstbestimmung.« (Daniel 1981, 219, vgl. 223 f.) Schliesslich bleibt eine Alternative, auf welche diese Soziologie des Individuums »eindeutig Stellung« beziehen wollte: Entweder ist der Antihumanismus eine »inhumane Ideologie«, weil er »theoretisch untermauert, was die strukturierten Verhältnisse den Individuen ohnehin antun«, oder die Subjekttheorie ist Ideologie, weil ihr Gegenstand in einem mit »bürgerlichen Machtverhältnissen verschränkten Diskurs[. . . ] [verfangen] ist und bleibt.« (Daniel 1981, 229) Obgleich keinesfalls so eindeutig Stellung bezogen wird und eine eigentliche, zusammenfassende Konzeption dieser Soziologie (wie schon bei Ritsert) fehlt, ist eine Tendenz feststellbar. An einer Stelle erinnert Daniels Argumentation an den ansonsten abwesenden Alain Touraine: »Heute, wo Reflexivität als Lebensprinzip selbst bedroht ist, zeichnen sich auch soziale Bewegungen etwa in der Form von Alternativbewegungen ab, die

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Soziologie des Individuums

unmittelbar den Kampf um technisch bedrohte Lebensformen, schliesslich die Chancen des Selbstseins – wie immer auch widersprüchlich – aufnehmen.« (Daniel 1981, 125)

Dieser »Zusammenhang zwischen individueller Emanzipation und sozialer Bewegung [. . . ] [sei] für eine nachmoderne Gesellschaft charakteristisch« (Zima 2000, 51), reagiere aber vor allem auf eine Zeitdiagnose (vgl. King 2006, 874 ff., 886 ff.). Die Abwesenheit von Alain Touraine in diesen Soziologien des Individuums erstaunt, ist dieser doch dafür bekannt, sich für eine Soziologie in diesem Sinne stark zu machen. In weiteren Ansätzen einer Berufung des Subjekts/Individuums, die zumindest erwähnenswert scheinen, zeigen sich starke Bezüge zu der Forderung nach einer personen-zentrierten Sozialtheorie (z. B. bei Jean-Paul Sartre und André Gorz; vgl. Bowring 2000, x; Knöbl 1999) oder einer »Soziologie des Subjekts« (Touraine 1996; vgl. McDonald 1994; Fine 1998; Bowring 2000, 153 ff.; Tucker 2005). Es ist Alain Touraines »sociologie de l’action«, die »von der spätmodernen (nicht postmodernen) Hoffnung getragen wird, dass die individuelle Subjektivität von den diversen sozialen Bewegungen gestärkt oder gar neu strukturiert wird.« (Zima 2000, 281, vgl. 360 ff.) Eine weitere, sinnigerweise mit »Ego« überschriebene Abhandlung wurde von Jean-Claude Kaufmann (2001) vorgelegt. Um abschliessend in den deutschsprachigen Raum zurückzukehren, soll auf die Münchner »Subjektorientierte Soziologie« hingewiesen werden, die das »wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Mensch und Gesellschaft besonders ins Blickfeld« rückt. Diese Soziologie will, so die Definition, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft dadurch aufschlüsseln, »dass gesellschaftliche Strukturen oder Strukturelemente (z. B. Arbeit in Form von Berufen, Berufstypen bestimmter Art, Arbeitsmarktstrukturen, bestimmte Familienformen usw.) daraufhin analysiert werden, (1) in welcher speziellen Weise sie menschliches Denken und Handeln prägen, (2) wie Menschen bestimmter sozio-historisch geformter Individualität innerhalb dieses strukturellen Rahmens agieren und so u. a. zu seiner Verfestigung oder Veränderung beitragen und (3) wie schliesslich die betrachteten Strukturen selbst einmal aus menschlichen Interessen, Denk- und Verhaltensweisen hervorgegangen sind« (Bolte 1983, 15 f.).

Damit wird auf das Grundproblem der Vermittlung von Handlung und Struktur, wie jener zwischen Mikro- und Makroebene hingewiesen. Eine subjektorientierte Soziologie fragt deshalb nach »den ›Verbindungsstellen‹ von Mensch und Gesellschaft« (Bolte 1983, 33), die auch als »soziale Mechanismen« bezeichnet werden und an diesen theoretischen Schnittstellen (den unterschiedlichen Konstitutions- und

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6.4

Soziologie oder Philosophie?

Analyseebenen sozialer Realität) eine bedeutende Rolle spielen. Als solche konkrete gesellschaftliche Vermittlungsinstanzen wurden beispielsweise »Beruf« oder »alltägliche Lebensführung« identifiziert (vgl. Voß/Pongratz 1997). Als eine solche Instanz kann auch der Rollenbegriff gelesen werden (siehe Kapitel 7.3).

6.4 Soziologie oder Philosophie? Die Frage, weshalb es eine Soziologie des Individuums überhaupt braucht, führt zurück zur Begriffs(re)konstruktion. Dort hat sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in vielfältiger Weise als Spannungsverhältnis gezeigt. Eine Soziologie des Individuums kann dabei als eine Antwortmöglichkeit gesehen werden, die zudem in eine spezifische Richtung weist: Ritserts Ausführungen – und nicht nur seine – werfen generell die Frage auf, weshalb eine Soziologie des Individuums mit philosophischen Mitteln konstruiert werden muss. Trifft es wirklich zu, dass die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft ein philosophisches und gar kein soziologisches Problem darstellt? Zumindest erscheint nun deutlicher, dass sich hinter dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft »eine abstrakte Begriffsbildung von Geisteswissenschaftlern« verbirgt (Di Fabio 1991, 178; Hervorhebung S. B.). Die Auseinandersetzung um Philosophie und Soziologie soll jedoch vorerst hinausgeschoben werden und wird uns später (in Kapitel 8.4) wieder beschäftigen. In diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass das »Vermittlungsproblem« als gemeinsamer Nenner solcher Herangehensweisen auftritt; dieses soll daher weiterführend und mit der Perspektive auf das Individuum adressiert werden.

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7 Individualisierung Es wurde bereits darauf verwiesen, dass Individualisierung als Epiphänomen nicht interessiert (siehe Seite 71). Gänzlich kann aber nicht auf diese soziologische Theorie verzichtet werden. Erstens, weil die zeitgenössische Individualisierungtheorie zeigen will, dass sich in der Folge der Nachkriegszeit eine »neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft« abgezeichnet hat (Beck zit. in Scherr 2001, 139). Zweitens und daran anschliessend, weil aus ihrer Warte für die Gesellschaftstheorie gelten soll, »dass sie die Subjektivität handelnder Akteure stärker als bisher üblich berücksichtigen und einen angemessenen Subjekt- und Subjektivitätsbegriff entwickeln muss, die Aufgabe besteht in der Entwicklung einer ›Soziologie des Individuums‹« (Beck/Beck-Gernsheim 1994, 30).

Die von Ulrich Beck Mitte der 1980er Jahre ausgelöste Individualisierungsdebatte in der deutschen Soziologie führte zu einem »Konzept, das eine strukturelle Transformation sozialer Institutionen und der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft beschreibt«. Die Geschichte zeige, »dass die europäische Moderne die Individuen freigesetzt hat aus historisch vorgegebenen und zugewiesenen Rollen.« (Beck 2002, 227) Gerade weil einer Subjektivierung der Disziplin noch immer mit Skepsis entgegen getreten wird, ist Individualisierung als »Idee« ein vielversprechendes Konzept. Es steht zudem in direktem Bezug zu einer Soziologie des Individuums. Dabei spielt es im vorliegenden Kontext keine Rolle, dass die Theorie »Individualisierung als realgeschichtliche[n] Prozess« sieht und »nicht die Ideengeschichte des Individualismus« meint (Beck 2002, 227). Das kommt äusserst gelegen, denn dieser Individualismus wurde im vorhergehenden Kapitel bereits thematisiert.

7.1 Umgang mit dem Individuum In diesem Themenkreis tritt ein teilweise vergleichbares Werk hervor, welches eine historische Analyse der Individualisierungstheorien anstrebt. Obwohl das Hauptanliegen darin liegt, diese Theorien synchron und diachron zu vergleichen und sich deshalb vom vorliegenden Ansatz massgeblich unterscheidet, treten inhaltliche Überschneidungen auf: Georg Simmel und Norbert Elias (sowie Niklas Luhmann) spielen

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Individualisierung

ebenfalls eine zentrale Rolle (vgl. Schroer 2001, 10 f.). Was hier vornehmlich interessiert, ist der intendierte Umgang mit dem Individuum, denn ein solcher liesse sich »auch als Beitrag zur Ideengeschichte der Irritation der Gesellschaft durch ›Individuen‹, also letztlich durch sich selbst, verstehen.« (Krumm 2002) Es werden »drei Hauptstränge in der Diskussion um Individualisierung« unterschieden. In der Perspektive der ersten »Traditionslinie« (mit Max Weber, Theodor W. Adorno und Michel Foucault) wird das Individuum durch Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesse als ein »gefährdete[s]« angesehen, weshalb von einer »negative[n] Individualisierung« gesprochen werden kann. Dieser entgegengesetzt findet sich eine zweite Traditionslinie (mit Emile Durkheim, Talcott Parsons und Niklas Luhmann), in welcher das Individuum aus »traditionalen Bindungen befreit und auf sich selbst gestellt« scheint und die Gesellschaft »immer stärkere Anstrengungen unternehmen [muss], um die Individuen überhaupt noch zu erreichen«, bis hin zur Anomie und Bedrohung sozialer Ordnung. Deshalb könnte das Individuum als ein »gefährliche[s]« beschrieben und in dieser Perspektive von einer »positiven Individualisierung« die Rede sein. Schliesslich wird in einer dritten Traditionslinie (mit Georg Simmel, Norbert Elias und Ulrich Beck) eine Position zwischen den beiden Extremen vertreten; sie versteht »Individualisierung vielmehr als einen Prozess, der zu komplex, vieldeutig und ambivalent ist, um ihn ausschliesslich als Atomisierungs- oder Disziplinierungsvorgang zu interpretieren.« Diese Perspektive würde wohl von einer »ambivalente[n] Individualisierung« sprechen, die ein »Risiko-Individuum« des Sowohl-als-auch hervorbringt (Schroer 2001, 11 ff.). Dem Zugang über Traditionslinien ist sicherlich zuzustimmen, wenngleich sich diese vielfach über eine verwandte Sicht auf das Problem ergeben und weniger durch eine stringente und unmittelbare Verbindung (vgl. Schroer 2001, 53 f., 124, 223). Die frühe Soziologie vor und um die vorletzte Jahrhundertwende beschreibt eine erste »Phase des Übergangs« (Schroer 2001, 137). Das trifft in hohem Masse auf den zum Gesellschaftsbegriff skizzierten Emile Durkheim zu. In dieser Übergangslogik gilt, so möchte ich es bezeichnen, folgendes: Eine Aussage über das Individuum ist immer auch eine Aussage über Gesellschaft. Dies gilt vor allem für historische »Leerstellen«, wie sie diese Phase markierte. Um Durkheim nochmals zu bemühen, liesse sich sagen, das Soziale – qua den soziologischen Tatbeständen – sei alles, was sich nicht »im Bewusstsein des Einzelnen erschöpft«, sondern was (als soziales Leben) »unmittelbar aus dem kollektiven Sein abzuleiten ist, das an sich ein Wesen sui generis darstellt« (Durkheim 1984, 107, 203). Das Soziale begründet demzufolge »eine

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7.1

Umgang mit dem Individuum

eigenständige Sphäre, eine emergente Ebene« (Schroer 2001, 158). Damit sind Gedanken und Bestrebungen nicht mehr alleine unser Werk, sondern kommen von aussen auf den Menschen zu. Es stellt sich hier deutlich die Frage nach einer »Sozialintegration von Individualität« (Frank zit. in Ebers 1995, 25). Wir haben es also mit dem klassischen Vermittlungsproblem in Reinform zu tun, weil Durkheim (1984, 202) den »Zwang zum Kriterium jedes soziologischen Tatbestands« erhebt. Abgeschwächt aber vergleichbar findet sich dies in anderer Tradition und in folgender Form wieder: »[D]ie gesellschaftliche Kontrolle [tendiert] keineswegs dazu, das menschliche Individuum zu unterdrücken [. . . ], sie ist in Wirklichkeit für diese Individualität von entscheidender Bedeutung und untrennbar mit ihr verbunden. Der Einzelne ist das, was er ist, als bewusste und individuelle Persönlichkeit nur insoweit, als er ein Mitglied der Gesellschaft, in den gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozess eingeschaltet und dadurch in seinem Verhalten gesellschaftlich kontrolliert ist.« (Mead 1968, 302)

Nicht erst im daraus hervorgehenden Symbolischen Interaktionismus wurde dies erkannt; bereits die Bezüge zwischen Ferdinand Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft und Durkheims mechanischer und organischer Solidarität deuten auf Bemühungen, eine Zeitanalyse dieses Zusammenhangs vorzubringen (vgl. Schroer 2001, 182). Ferner gibt es die Verbindung in den Ansätzen von Durkheim, Max Weber und Georg Simmel, die sich trotzdem je in ihrer Weise mit der verursachenden oder einhergehenden »Modernität« auseinandersetzten und diesen Wandel über Themen wie Religion und Rolle der Moral, Stadt und Urbanisierung, Bedeutung von Arbeit und Beruf sowie über den »Gegensatz zwischen ethisch-moralischen und ästhetischen Lebensorientierungen« zu greifen versuchten (Schroer 2001, 327). Dabei nimmt Simmel eine Zwischenposition ein, »wenn er die ambivalenten Folgen der Modernisierung und Individualisierung betont [. . . ], die seines Erachtens mit der Etablierung der modernen Gesellschaft einhergehen.« (Schroer 2001, 330 f.) Er darf als Ausgangspunkt gesehen werden »für Ansätze, die sich dadurch auszeichnen, dass sie einen theoretischen Zugang zum Sozialen wählen, der weder bei ›dem‹ Individuum noch bei ›der‹ Gesellschaft ansetzt.« (Schroer 2001, 334) Dazu dürfen Norbert Elias und Pierre Bourdieu gerechnet werden, die mit ihren Konzepten (Figuration und Feld/Habitus) an diese Idee anschlossen. Sie alle wollten die Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft überwinden. Deutlich wurde dieses Begehren von Elias (2001, 204 f.) geäussert, der sich »mit dem grundsätzlichen Pro-

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blem des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum überhaupt auseinandersetzen« wollte.1 Dabei liesse sich schliessen, die Gesellschaft führe ein vom »einzelnen und seinen Beiträgen unabhängiges Eigenleben, obwohl sie andererseits ohne diesen Beitrag nicht existieren würde.« (Schroer 2001, 381) Am Ende gelangt diese vergleichende Betrachtung bei der Zeitdiagnose Ulrich Becks an und damit bei der eigentlichen Individualisierungstheorie und der »subjektorientierten Soziologie« (vgl. Schroer 2001, 382 f.). Von Beck stammt auch die Bezeichnung »Zweite Moderne«, eine mit »Nachmoderne« oder »Spätmoderne« vergleichbare Charakterisierung (vgl. Schroer 2001, 387 f.). Zentral ist dabei immer: »Der oder die einzelne selbst wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen.« (Beck zit. in Schroer 2001, 402) Darin steckt, was ich Individualisierung als Epiphänomen nenne, wobei es mir nicht darum geht, ob der Einzelne in seiner sozialen Ausprägung immer individueller wird oder werden muss (vgl. Ebers 1995, 34 ff.), sondern um die generelle Aussage, dass eine solche Aussage überhaupt notwendig wird. Obgleich also von einer »Bastelbiographie« gesprochen werden könnte (vgl. Schroer 2001, 414), interessiert hier nur, dass ein Verhältnis von Individuum und Gesellschaft überhaupt zum Ausdruck kommt. Die Feststellung, dass Biographien »selbstreflexiv« werden (Schroer 2001, 415), wurde bereits im Exkurs zur Sozialisation erwähnt, wobei bereits der Weg hin zur Biographie (der selbstredend heute ein immerwährender ist) als selbstreferentieller Konstruktionsprozess gelesen werden kann: »Sozialisation ist immer Selbstsozialisation« (Luhmann 1987b, 327). Damit werden nicht mehr Sinnmuster übertragen, sondern selbst (re)produziert. Während es in der besprochenen Abhandlung um einen vergleichenden Zugang zur Individualisierung und nur am Rande um die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft geht, kommt zum Ausdruck, dass diese Individualisierung nicht mehr im Gegensatzpaar von Autonomie und Anomie aufgeht (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1994, 19; Ebers 1995, 43 ff.). Dennoch weist der intendierte Umgang mit dem Individuum und seinem Verhältnis zur Gesellschaft vor allem auf Simmel und Elias zurück.2 Diese beiden Auseinandersetzungen scheinen durch ihre Ambivalenz am interessantesten, und sie sind 1 | Durch die Wahl des Zitats entsteht eine Betonung des Wortes »überhaupt«, die bei Elias wohl so nicht intendiert ist, für den vorliegenden Kontext aber passend scheint. 2 | Für eine weitere vergleichende Arbeit, die sich mit den Individualisierungstheorien von Georg Simmel, Norbert Elias und Ulrich Beck – wobei nur beim letzten, als einem der »exponierteste[n] Vertreter des Individualisierungstheorems« (Ebers 1995, 30), namentlich von einer solchen gesprochen werden darf – vgl. Ebers (1995). Zur generellen Thematik der Individualisierung vgl. auch den Sammelband von Kron (2000).

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Arrangement der Moderne

deshalb auch in der vorliegenden Arbeit zentral vertreten. Trotz meinem Beharren auf der geringen Aussagekraft einer Zeitdiagnose oder eines Epiphänomens als solchem, soll nicht geleugnet werden, dass absolut gesehen eine Verschiebung von Gesellschaft hin zu Individuum stattgefunden hat (vgl. Schroer 2001, 417 f.). Doch stimmt diese Aussage auch in relativer Hinsicht? Eine mögliche Antwort gibt dabei die folgende Feststellung: »Nach wie vor können Menschen nur in sozialen Zusammenhängen leben, und in der modernen Gesellschaft gilt dies nicht weniger als früher – vielleicht mit mehr Alternativen und Wahlmöglichkeiten des Einzelnen, aber auch mit einer immensen Vermehrung der Hinsichten, in denen man abhängig ist.« (Luhmann zit. in Schroer 2001, 455)

Relativ gesehen sind wir, die Menschen, noch immer bestimmt vom Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Individualisierung bedeutet deshalb »nicht eine Auflösung, sondern eine Veränderung der Sozialstruktur« (Ebers 1995, 27; vgl. Merz-Benz 2004, 171). Die »soziologisch relevante Frage muss [so lässt sich schliessen; S. B.] der Art dieser sozialen Zusammenhänge gelten« (Schroer 2001, 455) und letztlich dem, was als Arrangement zwischen diesen zwei Polen bezeichnet werden kann.

7.2 Arrangement der Moderne Über die bereits aufgeworfene These, dass Individualisierung »riskante Freiheiten« (Beck/Beck-Gernsheim 1994) und schliesslich ein »RisikoIndividuum« schaffe (Schroer 2001, 429), ergibt sich, was schon als Individuum-Gesellschaft-Arrangement der Moderne bezeichnet wurde. Dieses »immer schon prekäre Verhältnis« werde durch Individualisierungstendenzen innerhalb der Moderne verschärft (Schimank 2002, 8). Auf Seiten des Individuums, in diese Richtung weisen die Befunde einer Individualisierungstheorie, nehmen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zu und es können Orientierungs- und Sinnkrisen sowie Bindungsverluste entstehen. Auf Seiten der Gesellschaft sei zwar positiv zu vermerken, »dass nur individualisierte Personen die hohe gesellschaftliche Komplexität und Dynamik aushalten und mittragen können« (Schimank 2002, 7), doch seien auch die Ansprüche an den Einzelnen laufend gestiegen. Dabei scheint es mitunter schwierig, die Balance zu halten, sowohl auf Seiten des Individuums wie auf Seiten der Gesellschaft und letztlich im Verhältnis zwischen den beiden. Während die Reaktion des Individuums zwischen Konformität und Devianz schwanke und eine »Domestizierung« des Individuums durch

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die Gesellschaft laufend stattfinden würde, zeige sich das Bild auf der anderen Seite folgendermassen: »Die gesellschaftliche Ordnung kann dem Individuum zum einen zu wenig sinnstiftende Bindungen bieten, so dass es keinen Halt findet und in Anomie verfällt. Zum anderen kann die gesellschaftliche Ordnung den Einzelnen umgekehrt so sehr einzwängen, dass ihm keinerlei Entfaltungsspielräume für eigene Sinnfindung bleiben.« (Schimank 2002, 8)

So abstrakt und letztlich »zwiespältig« diese Anforderungen auch sind, zeigt sich durch sie dennoch, dass es Sinn macht, wenn Individuum und Gesellschaft sich arrangieren. Denn unbestritten ist Individualität ein »funktionales Erfordernis der modernen Gesellschaft« (Schimank 2002, 9). Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft hat ihr übriges dazu beigetragen: Verlust der religiösen Weltdeutung und individuelle Sinnsuche werden so zu tragenden Argumenten in diesen Ausführungen. Eine weitere analytische Facette zeigt die Reaktion des Individuums und führt »ästhetische Sinnlichkeit« und »dialogische Sozialität« als Modi des Austauschs mit der Umwelt ein (vgl. Schimank 2002, 11).3 Um das Verhältnis von Individuum/Person und Gesellschaft/Sozialität zu analysieren, bietet sich eine systemtheoretische Herangehensweise an, die »Personen auf der einen, Sozialzusammenhänge auf der anderen Seite als unterschiedliche Arten sinnverarbeitender Systeme [begreift], die für einander wechselseitig Umwelten bilden.« (Schimank 2002, 15) Werte, Normen und Rollenerwartungen bilden die Struktur sozialer Systeme, welche zwar von den Persönlichkeitsstrukturen der Individuen getrennt sind, aber an diese gekoppelt bleiben.4 Den Zwangscharakter, der durch die Koppelung auftreten kann und Handlungsmöglichkeiten einschränkt, hat Gesellschaft »keineswegs erst mit der neuzeitlichen Individualisierung von Personen angenommen« oder eben zugewiesen bekommen: Individuen lassen sich »immer auch nur in der Gesellschaft, als durch die Gesellschaft konstituierte vorstellen.« (Schimank 2002, 16) Persönliche Entwicklung und Handlungsfreiheit ist auf soziale Reglementierung angewiesen, da diese als Vorbedingung grundlegende Komplexität reduziert. Um in einer komplexen Umwelt zu bestehen, muss das soziale System selbst hinreichend komplex sein; es erreicht dies durch die Komplexi3 | Die übrigen Facetten wie Selbstdarstellung, Identität, Biographie oder die »Selbstgefährdung der Moderne« interessieren hier nicht und werden weitgehend ausgeklammert. 4 | Diese Zweiseitigkeit ist einem systemtheoretischen Ansatz generell eingeschrieben, denn »[e]in selbstreferentielles System bezieht sich auf seine Umwelt, indem es sich auf sich selbst bezieht« und es »bezieht sich auf sich selbst, indem es sich auf seine Umwelt bezieht.« (Schimank 2002, 54)

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Arrangement der Moderne

tät sozialer Handlungszusammenhänge, die wiederum das psychische System einbringt (vgl. Luhmann 1977). Die Komplexität des Individuums ist Bestehensbedingung der sozialen Systeme gegenüber ihrer Umwelt. Individuen und Sozialsysteme, so scheint es zumindest, sind gegenseitig aufeinander angewiesen. Aus anderer Warte zeigt sich darin der übersteigerte Ausdruck »des in der Erfahrung oft harmonisierten, im Prinzip aber unversöhnlichen und tragischen Dualismus zwischen dem Eigenleben des Individuums und dem des gesellschaftlichen Ganzen.« (Simmel 1992b, 228) Sie stellen füreinander »sowohl Stabilitätsbedrohungen als auch Konstitutionsbedingungen« dar; sie stellen sowohl Einschränkung als auch Sicherheit dar (Schimank 2002, 55; vgl. Coburn-Staege 1973, 65). Die Summe aller aktiven und latenten Rollen eines Individuums macht seine soziale Identität aus. Da das Handlungspotential durch die eingenommene Rolle in einem sozialen System definiert wird, »abstrahiert die soziale Identität [. . . ] und hält die Fiktion eines vollig sozial determinierten ›homo sociologicus‹ aufrecht.« (Schimank 2002, 23; vgl. Dahrendorf 1958a; 1958b) Entgegen eines vorschnellen Urteils muss bedacht werden, dass Individuen »über Rollen hinaus[weisen], [sie] sind aber nicht ohne Rollen zu denken« (Schimank 2002, 23), weil soziales Handeln in diesen stattfindet, und sich Individuen durch soziale Rollen erst konstituieren. Mit anderen Worten: »die Ausklammerung des Verhältnisses eines Individuums zu seiner Rolle [scheint] an der Wirklichkeit vorbeizugehen.« (Coburn-Staege 1973, 56) Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft ist diesbezüglich komplexer als ihre Vorgängerinnen; die Anforderungen an das Individuum steigen, denn es »muss sich als einzigartiges und autonomes Individuum begreifen, darstellen und bestätigt finden.« (Schimank 2002, 28) Die Anzahl der notwendigen Rollen, die jemand einnehmen muss, nimmt zu; der moderne Individualismus ist damit »sozialstrukturell generiert und ein funktionales Erfordernis der Stabilisierung hochkomplexer Gesellschaften.« (Schimank 2002, 28) Mit der Zunahme der Rollen nehmen auch die möglichen Kombinationen und Konflikte zu, denn schliesslich sind »die meisten Rollen in immer geringerem Mass gesellschaftsstrukturell vordefiniert« (Schimank 2002, 239). Daher scheint die funktional differenzierte Gesellschaft nicht mehr in der Lage, die verschiedenen Rollendarstellungen (oder Individualismen) zu koordinieren und zu integrieren, vor allem aber zu regulieren; sie wälzt diese Funktionen in hohem Grad auf die Individuen ab (vgl. Schimank 2002, 32). Abschliessende soziale Regelungen können nur noch unter Schwierigkeiten gebildet, geschweige denn auf einzelfallspezifische Problemkonstellationen angewandt werden. In der soziologischen Analyse zeigt sich, dass der »Rollenhandelnde« in der struktur-funktio-

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Individualisierung

nalistischen Theorie nur die Erwartungen relevanter Bezugsgruppen bedient.5 Im Gegensatz dazu haben der Symbolische Interaktionismus, die phänomenologische Soziologie und die Ethnomethodologie »nicht bloss [dessen] ausführenden, sondern gestalterischen Beitrag [. . . ] für die Produktion und Reproduktion sozialer Ordnung herausgestellt.« (Schimank 2002, 55 f.) Dann nämlich stellen soziale Systeme interpretationsbedürftige Kontexte dar, die von Individuen in jeweils konkreten Handlungen erzeugt werden. Soziale Ordnung wird nun als aktiver Prozess verstanden. Dabei zeigt sich, dass keine dieser drei »Spezialsoziologien« gänzlich aus einer Betrachtung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft ausgeschlossen werden kann.

7.3 Exkurs zu Rolle, Wert und Norm Obschon darauf hingewiesen wurde, dass auch der Rollenbegriff eher ein Hilfsinstrument ist, um die Nebenerscheinung einer Individualisierung begrifflich zu fassen, kann er nicht vollständig ausgeschlossen werden. Die generelle Feststellung, »die soziale Rolle [sei] der Umschlagplatz von individuellen Emotionen in gesellschaftsbezogene Aktivitäten«, lädt ein zu einem Exkurs in diesen Themenbereich. Dies wird in der folgenden Aussage noch deutlicher: »Mit der Übernahme solcher Rollen mündet Individuelles in das Regelsystem der Gesellschaft.« (Steinbacher 1971, 40; Hervorhebung S. B.) Die Nennung des Regelsystems lädt zudem ein, in diesem Kontext die Aspekte der Werte und Normen zu streifen. Die Relevanz zeigt sich darin, dass Werke zum Rollenbegriff teilweise bereits im Titel explizit zwischen Individuum und Gesellschaft vermitteln. Eine dieser Arbeiten beschäftigt sich theoretisch und in besonders ergiebiger Weise mit dem Rollenbegriff, wie er hauptsächlich in Soziologie und Sozialpsychologie angewendet wird (vgl. CoburnStaege 1973, 7).6 Abgeleitet wird ein dynamischer Rollenbegriff als Interaktionsbegriff, um soziales Handeln zu erfassen, d. h. der »Begriff der Rolle wird zum Grundbegriff sozialen Handelns, zur Vermittlung zwischen Handelndem und Situation, zwischen Individuum und Gesellschaft.« (Coburn-Staege 1973, 5, vgl. 11) Die Rolle wird von Grund 5 | Dies zeigt sich bereits in der zugehörigen Gesellschaftsform: »Eine funktional differenzierte Gesellschaft setzt einerseits die Person als Individuum frei, wie seit Durkheim und Simmel herausgearbeitet worden ist; andererseits lässt die Gesellschaft die Individuen dann mit ihren Sinnbedürfnissen allein.« (Schimank 2002, 283) 6 | Ein weiterer Aspekt ist der Zusammenhang zwischen Rolle und Macht, auf den allerdings im Rahmen dieses Exkurses nicht eingetreten wird. Obschon als Studienbuch konzipiert, soll für ein verwandtes Werk auf Griese et al. (1977) hingewiesen werden.

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Exkurs zu Rolle, Wert und Norm

auf als Vermittlung von Individuum und Gesellschaft verstanden (vgl. Tenbruck 1961, 30). Soziologisch wird der Rollenbegriff, der auf die (missverständliche) Rolle des Schauspielers und ins 16. Jahrhundert zurück geht (Kluge 2002, 770; vgl. Tenbruck 1961, 8 f.), schon von Emile Durkheim angedacht. Sein Ansatz legte die Basis für einen normativen Rollenbegriff und für die Bedeutung von Verhaltenserwartungen. Der Rollenbegriff wird bei Durkheim, wie schon die Ausführungen zum Gesellschaftsbegriff nahe legen, eindimensional vorgeprägt: »Die Spannung zwischen Gesellschaft und Individuum wird geleugnet, Gesellschaft verabsolutiert.« (Coburn-Staege 1973, 5) So zugespitzt, wie er sich in diesem Zitat zeigt, ist Durkheims Umgang allerdings nicht. Es darf jedoch gelten, dass die »normative« Soziologie nur die »gegebenen Strukturen und Prozesse« des Sozialen untersucht und die »individuelle Handlungsmotivation« nicht berücksichtigt (Coburn-Staege 1973, 64). Zur vorletzten Jahrhundertwende nahmen Äusserungen zum »Problem« des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu (vgl. Coburn-Staege 1973, 17). Die Auffassung, dass sie sich gegenüber stehen, wurde durch eine komplementäre Sicht abgelöst: »In Deutschland«, so wird vermerkt,7 »taucht der Begriff der Rolle zuerst bei Georg Simmel auf.« (Coburn-Staege 1973, 18) Dort heisst es: »Wir sehen den andern nicht schlechthin als Individuum, sondern als Kollegen oder Kameraden oder Parteigenossen, kurz als Mitbewohner derselben besonderen Welt und diese unvermeidliche, ganz automatisch wirksame Voraussetzung ist eines der Mittel, seine Persönlichkeit und Wirklichkeit in der Vorstellung des andern auf die von seiner Soziabilität erforderte Qualität und Form zu bringen.« (Simmel 1992b, 50)

Was bereits oben als »Typisierung« bei Simmel bezeichnet wurde, findet sich auch im Rahmen so genannter »sozialer Kreise«, der Zusammenschlüsse gleichartiger Typen. Simmel konzipiert diesen Ansatz durch die Analyse der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Individuum, denn das Individuum ist sowohl für sich selbst als auch für andere; es ist zentraler Bezugspunkt für sich selbst und die Gesellschaft.8 Wobei an dieser »Wende« insbesondere für die Soziologie festgehalten werden kann, »der Mensch [bleibe] auch in seinem gesellschaftlichen Tun durchaus bei sich selbst.« (Tenbruck 1961, 35) Es findet eine Umkehrung statt, wobei nicht mehr wie weiter oben von »aussen« und »innen« gesprochen werden kann; vielmehr tritt eine 7 | Dies darf gelten, auch wenn »Rollentheorie und Simmelsche Sozialphilosophie nicht so nahtlos ineinanderpassen, wie dies neuerdings von verschiedenen Autoren behauptet wird.« (Gerhardt 1976, 71) 8 | Dabei bleibt fraglich, wie hilfreich eine solche Formulierung wirklich ist (vgl. Merz-Benz 2004, 172).

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gleichzeitige Vermischung ein sowie eine Wendung hin zur komplementären Berücksichtigung von Individuum und Gesellschaft. Obgleich bestimmt werden kann, dass Simmel keinen eigenen Rollenbegriff entwickelt hat (vgl. Tenbruck 1958, 604), weisen gewisse seiner Ausführungen in eine solche Richtung. Es zeigt sich darüber hinaus eine zentrale Unterscheidung zu anderen soziologischen Theorien: Die Annahme, Gesellschaft und Individuum seien getrennt, verwirft Simmel, indem er Wechselwirkungen betrachtet und Vergesellschaftung anstelle der Gesellschaft einsetzt (siehe Kapitel 9.1). Individuelle Motive oder Inhalte sind für ihn zudem noch keine soziale Wirklichkeit, erst durch Wechselwirkung entstehen soziale Formen und somit entsteht soziale Wirklichkeit. Als Schlussfolgerung gilt: Soziales Handeln (im Sinne Max Webers) wird reglementiert und vermittelt einen Sinnzusammenhang (vgl. Coburn-Staege 1973, 6). Die Reziprozität von Gesellschaft und Individuum rückt ins Zentrum. Doch woran zeigt sich, »dass die Rolle ein Verbindungsglied zwischen individuellem Verhalten und sozialer Struktur ist«? (CoburnStaege 1973, 23) Das handelnde Subjekt erscheint als Rollenträger und übt Funktionen aus, »die durch soziale Strukturen bestimmt sind. Das soziale Verhalten ist strukturiert und organisiert, die verschiedenen Verhaltenselemente sind miteinander verbunden und koordiniert. Eine Kombination von aufeinander bezogenen Verhaltensmustern, die sich auf eine bestimmte soziale Funktion beziehen, wird eine soziale Rolle genannt.« (Coburn-Staege 1973, 15)

Damit ist eine weite Definition gegeben, die Rolle als bestimmte Verhaltensmuster auffasst und »das allgemeine Funktionieren einer Gesellschaft als eines Ensembles von Rollen greifbar« werden lässt (Tenbruck 1961, 2). In einem engen Rollenbegriff allerdings, der Rolle »als Bündel normativer Erwartungen« fasst, »wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nur unter dem Aspekt der Vergesellschaftung, d. h. der Anpassung an die bestehende soziale Ordnung (Verhaltensnormen) gesehen.« (Coburn-Staege 1973, 98 f.) An diesem Zitat muss die unglückliche Wahl des Begriffs »Vergesellschaftung« kritisiert werden, da dieser beinahe untrennbar mit Georg Simmel verbunden ist, und die Aussage dann eine falsche ist. Mehr auf die Struktur bezogen, darf gelten: Normen bestimmen das Verhalten bestimmter Gruppen oder Gesellschaften und regeln das Rollenverhalten (vgl. Coburn-Staege 1973, 45). Typisierungen »werden gegenüber der Fülle der möglichen subjektiven Situationserlebnisse und Handlungen des Individuums abgehoben.« (Coburn-Staege 1973, 46) Diese beiden Aspekte verweisen unweigerlich auf Ralf Dahrendorfs bekannten Umgang mit dem Rollenbegriff. Dieser besagt: »Der Einzelne und

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Exkurs zu Rolle, Wert und Norm

die Gesellschaft sind vermittelt, indem der Einzelne als Träger gesellschaftlich vorgeformter Attribute und Verhaltensweisen erscheint.« (Dahrendorf 1958a, 187) Gerade dieser Umgang mit dem Rollenbegriff kam jedoch unter harte Kritik. Das liegt vor allem daran, dass diese Konzeption einem strukturellen Paradigma verhaftet bleibt und weder Kultur noch Person hinreichend berücksichtigt (vgl. Tenbruck 1961, 7).9 Im Gegensatz dazu müssten Rollen und ihre Träger in ihrer »wechselseitigen Orientierung«, und damit ein »konkretes Wechselverhältnis betreffen[d]«, betrachtet werden (Tenbruck 1961, 20 ff.). »Wo von den Begriffen der Rollentheorie gefordert wird, dass sie uns vollgültig die gesellschaftliche Wirklichkeit erklären, zeigen sie eine eigene Enge und Starre. Die Entfremdung von Mensch und Gesellschaft scheint uns ein Produkt dieser Einseitigkeit.« (Tenbruck 1961, 8)

Damit einher geht der Hinweis auf Dahrendorfs falsch verstandenes Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, da bei ihm die Rolle von der Gesellschaft diktiert und die blosse Reaktion zur alleinigen Bedeutungskonstitution des Handelnden werde (vgl. Tenbruck 1961, 11; Coburn-Staege 1973, 32; Homann 2001). Es bleibe deshalb »einzig ein rationales Wahlhandeln übrig«, während die »Gesellschaft [. . . ] zu einer Zwangsanstalt [wird]« (Tenbruck 1961, 13). Daher werde »ein trügerisches Licht mechanischer Rechenhaftigkeit über die gesellschaftlichen Tatbestände ausgegossen.« (Tenbruck 1961, 15 f.) Neben der äusseren Kontrolle, so fordert Tenbruck, müsse auch die innere Kontrolle berücksichtigt werden, weil die erste für sich allein genommen einen gesellschaftlichen Widerspruch erzeugt: »Das Problem des [durch diese Einseitigkeit erzeugten; S. B.] homo sociologicus ergibt sich aus dem Gegensatz von Individuum und Gesellschaft.« Das Verhältnis »von individuellen Motiven und Absichten einerseits und den gesellschaftlichen Forderungen andererseits« würde nicht gelöst; die ersten »entpuppen sich bei näherem Zusehen gewöhnlich [so auch bei Dahrendorf; S. B.] als sozial gesteuert.« (Tenbruck 1961, 17) Darin scheint bereits jene Kritik an Durkheims Umgang mit dem Gesellschaftsbegriff auf, die von Tenbruck ([1981] 1989) zwanzig Jahre später geäussert wurde (und weiter oben vorgestellt ist). Bereits dort, im Ursprung des strukturellen Verständnisses, und jetzt wiederum im Zusammenhang mit der Rolle, würde nicht anerkannt, dass »verschiedene eigene Erwartungen, Gefühle, Dispositionen, Einverständnisse, 9 | »Der Strukturbegriff der Gesellschaft abstrahiert deshalb von einer Seite der gesellschaftlichen Wirklichkeit, nämlich der Bedeutung, die das Tun für den Handelnden kraft einer Beziehung auf jene gemeinsamen Ideen und Werte hat, die zusammen mit den Techniken die Kultur einer Gesellschaft in sensu sociologico ausmachen.« (Tenbruck 1961, 6)

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Orientierungen, Werte und anderes voraus[ge]setzt« werde (Tenbruck 1961, 21). Schliesslich zeigt sich erneut das dort beschriebene Problem, denn Dahrendorfs »Definition [von Rolle und Rollenträger] setzt [. . . ] schon voraus, was durch sie in seiner eigentlichen Realität festgelegt werden soll.« (Tenbruck 1961, 22) Damit werden wir an die Paradoxie der Soziologie erinnert: Wenn darauf beharrt wird, »dass es sich bei wissenschaftlichen und insbesondere soziologischen Begriffen um eine Konstruktion des Verstandes handele, dass Wissenschaft allemalen eine zweite Wirklichkeit errichte«, dann müsse zugleich akzeptiert werden, dass es »unter diesen Voraussetzungen nicht mehr möglich ist [. . . ] [zu fragen], wie sich diese Begriffe zum ganzen Menschen oder gar dieser Mensch zu jenen Begriffen verhält.« (Tenbruck 1961, 36) Die Beschreibung der Selbstbeschreibung wird damit erneut zum Problem, zumal in der deutschsprachigen Tradition, welche »Gesellschaft und Individuum trennt und im gesellschaftlichen Sein eine Entfremdung erblickt« (Tenbruck 1961, 37). Tenbruck will die Rolle hingegen »als ein lebendiges Wechselverhältnis eingeführt [sehen], das sich in der Aktualität des gesellschaftlichen Handelns erweist und erneuert.« (Tenbruck 1961, 3) Als Antwort ginge es darum, einerseits »die strukturelle Erfassung der Gesellschaft als eine Abstraktion von der gesellschaftlichen Wirklichkeit« anzusehen und andererseits »[n]icht die einzelne Rolle, sondern Rollen in ihrer Komplementarität« als Untersuchungsgegenstand aufzufassen (Tenbruck 1961, 6). Doch reiche es nicht aus, bloss aufzulösen, »wie aus individuellen Handlungen die Ordnung einer Gesellschaft werden kann«, ohne aufzulösen, wie es zum Rollenhandeln kommt, welche Bedeutungen dahinter stecken – »und wie überhaupt das Getriebe des sozialen Handelns zustande kommt.« (Tenbruck 1961, 10) Hierher gehört auch, dass »Rollen irgendeine Art der Identifikation [erfordern], also eine Disposition der Gefühle, Vorstellungen und Strebungen«, die sich in spezifischen Situationen spontan durchsetzen und das Handeln ermöglichen (Tenbruck 1961, 14). Grundsätzlich werden vom Rollenhandelnden jene »Zwecke und Bedeutungen mit[verstanden], durch die sich Rollen in Bedingungszusammenhängen verschlingen.« (Tenbruck 1961, 33) Es wird also immer das grössere Ganze mitberücksichtigt und daraus resultiert, dass auch die Soziologie die Gesamtzusammenhänge berücksichtigen muss. Alle Subjekte soziologischer Aussage, sei es Struktur oder Rolle, liessen sich »in Aussagen über das Subjekt Mensch verwandeln und müssen sich darein verwandeln lassen können«, weil nur er, dieser Mensch, »Handlungen nach den Momenten der Bedeutung und Bedingung versteht« (Tenbruck 1961, 33 f.). Damit tritt auf den Plan, was diese Rollen steuert und Handlungshorizonte erzeugt.

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Exkurs zu Rolle, Wert und Norm

Gerade durch die Nähe zu Werten und Normen werde die Rolle »sinnvollerweise als Orientierungskategorie des Verhaltens [besser wohl, weil konkreter: des sozialen Handelns; S. B.] verstanden.« (Coburn-Staege 1973, 64) Hinzu kommt ein Spezifikum der Soziologie, denn sie »geht von der Grundannahme aus, dass die Menschen, die in der Gesellschaft leben, ähnlich, d. h. nach bestimmten ›Mustern‹ denken und handeln.« (Coburn-Staege 1973, 11) Als »historische« Mittler zwischen Individuum und Gesellschaft, die es in der einen oder anderen Form schon immer gab, lassen sich deshalb – analog zum Rollenbegriff und in enger Verbindung zu diesem – auch Werte und Normen heranziehen (vgl. Tenbruck 1961, 6). Soziale Werte und Normen bilden eine »anthropologische Voraussetzung für Handeln« (Alfred Bellebaum zit. in Henecka 2000, 68). Prozesse der Sozialisation spielen dabei eine nicht unbedeutende Rolle: »Ein Mensch hat also insofern an einer Sozialordnung teil, als er die Grundregeln, auf denen sie beruht, so verinnerlicht hat, [. . . ] dass er aus einem inneren Zwang heraus nach ihnen sein Verhalten den Gefährten gegenüber ausrichtet. [. . . ] Die [soziale] Stellung [innerhalb einer Gesellschaft; S. B.] bezieht sich auf die Tatsache, dass jeder [. . . ] bestimmte Rechte und Pflichten besitzt, d. h. dass bei ihm bestimmte Verhaltensweisen von anderen vorausgesetzt werden.« (Francis 1965, 37)

Damit ergibt sich zwangsläufig ein Spannungsverhältnis unter diesen Gefährten, und es zeigen sich Spannungen oder Dissonanzen im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Dies gilt besonders hinsichtlich einer Gesellschaft, »die in sehr vielen Fragen des Daseins durchaus unterschiedliche Werthaltungen anerkennt, und in der es eben darum besonders schwierig ist, sich zurechtzufinden.« (Hofstätter 1973, 8) Ein möglicher Begegnungsansatz könnte an die historisch überlieferte Vernunftbegabung des Menschen appellieren und sich von einem Psychologismus in der »Orientierung über die gesellschaftlichen Bedingungen des menschlichen Verhaltens« distanzieren, d. h. von der Tatsache, »dass unser Leben in irgendwelchen Formen abläuft, die gesellschaftlich entstanden sind, und dass es solcher Formen dauernd bedarf.« (Hofstätter 1973, 27, vgl. 14 f.) Vermieden werden soll dabei aber auch die andere Tendenz: »Dabei hätte es offenbar wenig Sinn, zuerst einen abstrakten ›homo psychologicus‹ zu konstruieren und mit bestimmten Bewusstseinsinhalten und Tendenzen auszustatten, um ihn dann nachträglich mit einem konkreten Gesellschaftssystem zu konfrontieren.« (Hofstätter 1973, 28)

Die individuelle Gestaltung des Lebens geht aus den Erfahrungen im zwischenmenschlichen Umgang hervor; es handelt sich hier also um

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eine Darstellungsweise, die von aussen nach innen, anstatt von innen nach aussen fortschreitet. Doch mit einem zeitlichen Rückschritt um etwa zweihundert Jahre gelangen wir zu einer auf den ersten Blick erstaunlichen Aussage hinsichtlich des Individuums und den sozialen Werten und Normen: »›Handle nicht nach Beispielen, sondern nach der Stimme deiner Vernunft und des Gewissens‹, heisst es in einem Anleitungsbuch für junge Menschen von Anfang des vorigen Jahrhunderts [. . . ]. Aufgefordert wird hier zur Besinnung auf das eigene Selbst und zu dessen Verwirklichung auch dort, wo der Weg aus dem durch Beispiele gekennzeichneten Rahmen herausführt. Das Kriterium für die Richtigkeit des Verhaltens liegt in der Persönlichkeit, nicht in allgemeinen Regeln der Kultur. Was sie vorschreiben, kann für dieses oder jenes Einzelindividuum bedeutungslos sein.« (Hofstätter 1973, 71)

Während der Zeitpunkt eines solchen Aufrufs zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum erstaunt, erreicht dies vielmehr die Tatsache, dass die »Stimme der Vernunft« stillschweigend mit der Persönlichkeit gleichgesetzt wird, obwohl diese nicht identisch sind. Ein Aufruf wie dieser vernachlässigt zwar nicht, dass Vorbilder schon immer wirksame und auch wichtige Mittler der Verhaltenssteuerung gewesen sind (siehe Kapitel 10.1), doch selbst wenn ein Betrachter nach identifikatorischen Beispielen oder gegebenen Modellen handle, geschehe dies »unter der Bedingung, dass er selbst darüber entscheidet, welche Beispiele oder Modelle wirksam werden sollen.« Die Nachahmung ist tiefer fundiert als gedacht, intensiviert sich »in Phasen des schnellen Wandels der gesellschaftlichen Lebensformen« und verweist auf Abweichungen von der gegebenen Norm der getroffenen Entscheidung (Hofstätter 1973, 72). Irrationalitäten in der Unterscheidung, Entscheidung und Regelung sind bei Einzelindividuen zu beobachten, aber eine Gesellschaft kann sich diese nicht leisten, oder dann, wie die Geschichte zeigt, nur zu einem hohen Preis (vgl. Dahmer 2001). Eine Möglichkeit der Prävention stellt die gegenseitige Kontrolle dar: »Zu erwarten sind daher Absprachen innerhalb einzelner Gruppen, die durch ›Bestimmungsleistungen‹ in ihrem Wirkungskreis spezielle Ordnungen und Stile etablieren. Die Zugehörigkeit zu dieser oder jener Gruppe stellt damit eine gewisse Garantie für eine konsistente Bewertung des eigenen Verhaltens dar.« (Hofstätter 1973, 91)

Damit ist allerdings nicht gewährleistet, dass diese »Kontrolle« auch funktioniert. Es stellt sich allenfalls die Frage, ob die Gruppe als Mittler (oder als Medium) aufgefasst werden darf (vgl. Institut für Sozialforschung 1956b, 55). Da meine Fragestellung Individuum und Gesellschaft jedoch als »Formen« auffasst, die in einem »Prozess« verbunden werden, bleibt eine Beschäftigung mit dem Begriff der Gruppe ausge-

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Kritische Bemerkung

klammert. Bleiben wir deshalb im Rahmen der Werte und Normen, die auch als »Fundament der Gesellschaft« bezeichnet wurden (vgl. Maurer 2003) und die andauernd ausgehandelt werden müssen: »Den Bereich, innerhalb dessen sich Individuen nach ihrem eigenen Ermessen für diese oder jene Alternative entscheiden und demgemäss verhalten können, begrenzen Gesellschaften in der Regel auf der einen Seite durch SollVorschriften von abgestufter Dringlichkeit (Moden, Bräuche und absolute Selbstverständlichkeiten) sowie auf der anderen Seite durch die Kennzeichnung tabuierter Verhaltensweisen, die im Idealfall überhaupt nicht vorkommen sollten. Unterschieden wird dabei meist zwischen ›kriminellen‹ und ›pathologischen‹ Abweichungen von den Normen, obwohl sich die Trennungslinie zwischen diesen beiden Kategorien gewiss nicht ganz scharf ziehen lässt.« (Hofstätter 1973, 131)

Während im Beispiel des Anleitungsbuches noch von Werten gesprochen wurde, zu denen eine bestimmte Einstellung wahrgenommen werden muss, bewegt sich diese Aussage hin zur Norm. Dabei leuchtet unmittelbar ein, dass Normen für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft schlechthin zentral sind. Dadurch ergibt sich die Frage, ob Normen – analog zu der weiter oben geschilderten Rolle – als Mittler (oder eben als Dazwischen) von Individuum und Gesellschaft aufgefasst werden dürfen und sollen. »Jede Gesellschaft bedarf daher gewisser Einrichtungen, um dem Individuum in der Krise seines persönlichen Lebens die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern. Als ›Philosophie‹ dürfte man sie heute kaum mehr bezeichnen, jedoch geht es im ursprünglichen Sinne des Wortes dabei um eine Bindung (›re-ligio‹), wie sie in kultischer Form der Gläubige auf sich nimmt.« (Hofstätter 1973, 135; vgl. Eliade 1958)

Solche Fragestellungen nach Werten und Normen können in diesem Exkurs bloss aufgeworfen und in die Reihe der Verhältnisse aufgenommen werden. Sie begegnen uns jedoch in der »re-ligio« wieder (siehe Kapitel 12.3).

7.4 Kritische Bemerkung Die Auseinandersetzung mit der Individualisierung zeigt an, dass dem Individuum zunehmend Aufmerksamkeit zukommt. Es wird aber auch deutlich, dass dies vor einem strukturellen Hintergrund geschieht: die Frage, wie soziale Ordnung aufrechterhalten werden kann, scheint das Interesse am Individuum als solchem zu verdrängen. Individualisierung wird deshalb als Epiphänomen des Spannungsverhältnisses von Individuum und Gesellschaft bezeichnet und interessiert nicht. Was hingegen interessiert, ist die Frage, was an diesem Konzept sicht-

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Individualisierung

bar wird: und zwar das »Phänomen der Entkopplung von Individuum und Gesellschaft« (Di Fabio 1991, 205) und damit das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Der Begriff weist aber deutliche Unschärfen auf; er hat nie eine einheitlich gültige Charakterisierung erhalten und entspricht deshalb auch nicht den »Anforderungen einer wissenschaftlichen Kategorie« (Merz-Benz 2004, 167). Was der vielfältig umschriebene Prozess hingegen sichtbar macht, leistet einen Beitrag zum Verständnis dieses Verhältnisses. Es handelt sich dabei vordergründig um die Modernisierung, wie sie sich auch in Ferdinand Tönnies’ Theorem von Gemeinschaft und Gesellschaft zeigt: »die Zurichtung des Menschen zu einem Gesellschaftsmenschen« (Merz-Benz 2004, 169).10 Trotzdem bleibt die Individualisierungsthese der bereits genannten Beschränkung verhaftet: »Dass soziale Phänomene, Sozialgebilde oder [. . . ] soziale Tatsachen, wie sie konstituiert sind im Zusammenhandeln, in Handlungsmustern, in Interaktionssystemen, gedacht werden als eigenständige Entitäten – dies ist es, was letztlich die Widersprüchlichkeit der [. . . ] Individualisierung[sthese]11 ausmacht.« (Merz-Benz 2004, 170)

Wenn also die sozialen Strukturen als »eigenständige Grössen« angenommen werden, »welche dem menschlichen Handeln gleichsam gegenüberstehen«, dann ist es von dort ein kleiner Schritt zur Wirklichkeitsbehauptung: »Wer nichts anderes tut, als der Wirklichkeit der Systeme [oder Strukturen jenseits der Individuen] [. . . ] die Wirklichkeit der Individuen [. . . ] entgegenzuhalten, verbunden mit der Aussage, jene löse sich in dieser auf, der bestätigt gerade die Ausgangswirklichkeit; [. . . ] jede [Wirklichkeitsbehauptung] ist verantwortlich für den Bestand der anderen.« (Merz-Benz 2004, 170 f.)

Auf diese Weise wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft immer als Entgegensetzung aufgefasst, eine Vermittlung scheint nicht möglich. Die Individuen sind dann nur insofern in der Soziologie enthalten, als sie den Bestand der Strukturen gewährleisten, sich Individuen und Strukturen gegenseitig bedingen. Dieselbe Kritik lässt sich auf die subjektorientierte Soziologie anwenden (siehe Seite 146). Auch dort »erscheinen gesellschaftliche Strukturen [. . . ] als eine Wirklichkeit, die der Wirklichkeit des menschlichen Handelns gegenübersteht.« Durch das bestehende, gegenseitige Wirkungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft und den daran ersichtlichen, wechselseitigen 10 | Die Verschiebung hin zur Gesellschaft steht deshalb auch im Zentrum eines späteren Umgangs mit dem Thema (siehe Kapitel 10). 11 | Die »analytischen Dimensionen der Individualisierung« (vgl. Merz-Benz 2004, 167) werden von mir unter der Bezeichnung Individualisierungsthese zusammengefasst.

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7.4

Kritische Bemerkung

Konstitutionsprozess, die nicht bloss von der subjektorientierten Soziologie konstatiert würden, werde, »[w]as als Erkenntnisgrund [d. h. logisches Deutungsmittel; S. B.] vorausgesetzt ist, [. . . ] durch empirische Forschung [. . . ] als Konstitutionsbedingung des zu erforschenden Gegenstandsbereichs freigelegt.« (Merz-Benz 2004, 171 f.) Die Ursache für die Wirkung (sachliche Realität, Realgrund) wird gleichgesetzt mit dem logischen Grund für die Behauptung (gedankliche Erkenntnis, Erkenntnisgrund). Heisst: Die Soziologie baut selbst, was sie untersuchen will, nimmt diese Konstruktion aber gleichzeitig als bestehende Realität an. Die kategoriale Bestimmung wird als Wirklichkeitsbehauptung angenommen. Damit ist die Reinform der Paradoxie der Soziologie freigelegt. Was dabei ausgeblendet bleibt – und darauf läuft diese kritische Bemerkung letztlich hinaus – ist der »Handlungsgrund«, d. h. das Motiv für die eigentlich zugrundeliegende Handlung. Der Grund für diesen verstellten Blick (für diesen blinden Fleck) liesse sich darin verorten, dass die Soziologie das Verhältnis oder, prägnanter formuliert, den »Gegensatz« von Individuum und Gesellschaft noch immer als »Konditionierungs- oder Steigerungsverhältnis« denkt (Luhmann zit. in Merz-Benz 2004, 172). Wir haben, so lässt sich daraus schliessen, deshalb kein Individuum in der Soziologie, weil dieses »als Gegen- oder Ergänzungsstück zur Gesellschaft [. . . ] in dem zwischen ihm und der Gesellschaft bestehenden Verhältnis [. . . ] unvermittelt auf[geht].« (Merz-Benz 2004, 173) Weil sich Individuum und Gesellschaft gegenseitig voraussetzen, kann ihr Verhältnis nicht aufgelöst werden. Es muss mit diesem Verhältnis, das im Folgenden als Spannungsverhältnis – und später als ein emergentes Verhältnis (siehe Kapitel 11) – beschrieben wird, zwangsläufig und unausweichlich gearbeitet werden.

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8 Spannungsverhältnisse 8.1 Emanzipation des Individuums Während die traditionelle Theorie »die strikte Trennung von Handeln und Denken vollzogen« hat, besteht die kritische Theorie »auf der dialektischen Verschränkung von Denken und Handeln, Theorie und Praxis« (Schroer 2001, 52). Das Ziel der »Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen« (Horkheimer zit. in Schroer 2001, 51) bindet die kritische zurück an die marxistische Sozialtheorie. Wenn also von Spannungsverhältnissen gesprochen werden soll, dann verweist dies auf eine Geschichte des Individualismus aus der Warte des Marxismus. Hier soll der Verweis genügen, dass die »marxistische materialistische Geschichtsauffassung [. . . ] das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft primär als ein Problem des praktischen gesellschaftlichen Handelns der Menschen« betrachtet (Mácha 1964, 8).1 Ein (idealer) Typ der Individualität in diesem Sinne »unterscheidet sich dann von dem alten [kapitalistischen; S. B.] insbesondere dadurch, dass sie sich nicht im Gegensatz zum gesellschaftlichen Ganzen befindet.« (Mácha 1964, 9) Der kapitalistische Individualismus sei ein »Merkmal der in Klassen gespaltenen Gesellschaft«, in der »ein gegebenes Individuum seine eigenen Interessen zum Schaden der Gesellschaft verfolgt.« (Mácha 1964, 16, vgl. 19) Von Seiten einer ökonomischen Interpretation der Beziehung von Individuum und Gesellschaft gelte: »Es handelt sich nicht nur um die Beziehung von Individuum und Gesellschaft, sondern auch – und in einigen Beziehungen vorrangig – um die Beziehung von Gesellschaft und Individuum.« (Mácha 1964, 232) Die resultierenden Spannungsverhältnisse, die uns schon früher begegnet sind, sollen in Kritik und Neukonzeption des Individualismus aufgehoben werden (vgl. Mácha 1964, 171 ff.). Dabei seien wir genötigt, »uns zu fragen, ob wir überhaupt das Recht haben, diese Frage [d. h. die Frage nach der Beziehung von Individuum und Gesellschaft] so allgemein zu stellen.« (Mácha 1964, 270) Obgleich die Frage primär dem Marxismus zuwiderläuft, weist sie doch darüber hinaus und auf ein Problem hin, das sich in der wissenschaftlichen Beschäftigung ergibt. Gemäss Karl Marx sei zu vermeiden, dass »die 1 | »Der Individualismus ist vor allen Dingen eine auf dem Kopf stehende Einstellung des Einzelmenschen zur Gesellschaft, zu dem konkreten Kollektiv, in dem er lebt.« (Mácha 1964, 14)

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Spannungsverhältnisse

›Gesellschaft‹ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber« fixiert werde: »Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäusserung [. . . ] ist daher eine Äusserung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens.« (zit. in Mácha 1964, 272) Hier wird für die Geschlossenheit des individuellen Lebens und des Gattungslebens des Menschen eingetreten. Diese Antwort auf die Dichotomie und damit auf das Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft ist allerdings nicht in der Lage, das soziologische Problem im Umgang damit zu adressieren. Dieses Problem lautet, »zu bestimmen, in welchem Sinne der Mensch das ›Ensemble‹ der gesellschaftlichen Beziehungen ist und in welchem Grade deren Schöpfer.« Doch auch die Feststellung, »dass ›Individuum‹ und ›Gesellschaft‹ nicht irgendwelche selbständigen Faktoren sind, sondern nur zwei Seiten der gleichen dialektischen Wirklichkeit darstellen« (Mácha 1964, 288), hilft da nicht weiter. Im Anschluss an die Suche nach dem Spannungsverhältnis in einigen ausgewählten Beispielen soll die ursächliche »Komplexität« näher adressiert werden (siehe Kapitel 8.2). Im »Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft«, so der Titel einer entsprechenden Abhandlung, wird für ein Weltverständnis plädiert, »das dem Menschen [verstanden als denkendes und handelndes Subjekt] eine vorrangige Stellung einräumt« (Klugermann 1987, 9). Dabei treten entstehende Machtverhältnisse in den Vordergrund: Das Individuum wird »als Zwangsmitglied in einer vorgegebenen Gesellschaftsordnung« definiert (Klugermann 1987, 10); ins Zentrum treten Minderheiten mit abweichenden politisch-gesellschaftlichen Vorstellungen und deren Widerstreit mit der Herrschaftselite und der sie unterstützenden Mehrheit. Dadurch entstehe »ein Spannungszustand, der nach Auflösung drängt«, was durch die »Untersuchung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft aus der Sicht einer Aussenseiterposition« geleistet werden soll (Klugermann 1987, 12 f.). Diese »dissidente« Annäherung an die Problematik verspricht andersartige Einsichten in das Spannungsverhältnis. Dabei treffen wir allerdings auf bereits bekannte Momente des Verhältnisses: Das Individuum als Angehöriger einer modernen Gesellschaft sei sowohl in ein umfassendes gesellschaftliches Sozialgefüge eingebunden, als auch von seiner sozialen Umwelt isoliert und auf sich selbst konzentriert (vgl. Klugermann 1987, 17). Zur Darstellung des Spannungsverhältnisses von Individuum und Gesellschaft wird dann ein Bild des übermächtigen Staats und des abhängigen, unkundigen und somit weitgehend durch Fremdbestimmung machtlosen Individuums gezeichnet (vgl. Klugermann 1987, 19 f.). Als Folie bietet sich für einen solchen Ansatz das Bild einer Ellenbogen-Gesellschaft an, in welcher »der Mensch inmitten einer menschenreichen Gesellschaft

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zum Einzelkämpfer« wird und vereinsamt (Klugermann 1987, 22). Dies betont, »wie eng der Einzelmensch mit der ihn umgebenden Gesellschaft verwoben ist.« (Klugermann 1987, 23) Der Autor streicht die Widerstände gegen die »verordnete Gesellschaft« in Form der Studentenbewegung heraus und begrüsst eine kritische Auseinandersetzung mit der das Individuum umgebenden Umwelt (vgl. Klugermann 1987, 27 ff.) – schliesslich also auch der Gesellschaft. Vor dem Spiegel einer zuvor diskutierten Individualisierung scheint ein solcher Ansatz allerdings nicht mehr allzu zeitgemäss. Einen interessanten Ausgleich bietet da die folgende Formulierung: Aus der Menge hervorzutreten sei so einfach nicht, denn »die Individualität des Individuums besteht nicht oder jedenfalls nicht primär in seiner ontologisch bedingten Singularität, sondern ist etwas, das das Individuum selber vollbringen muss, um Individuum zu sein« (Pieper 1973, 732). Somit wird die vormals »reine« Dichotomie von Individuum und Gesellschaft zum Problem, nicht nur für die Sozialwissenschaften, sondern für das soziale Gefüge an sich. Es gilt, ein solches Verständnis nicht aus den Augen zu verlieren, selbst wenn die vorliegende Arbeit vordergründig »nur« an dem wissenschaftlichen Problem des Spannungsverhältnisses interessiert ist. Im Rahmen der Sozialisation bilden sich die Grundelemente der sozialen Beziehung zwischen Menschen, die kommunikative und interaktive »Fähigkeit, an zunehmend komplexen Handlungssystemen teilzunehmen« (Klugermann 1987, 129).2 Das Modell der Aussenseiterposition besagt dann: »Aussenseiterpositionen entstehen also folgerichtig aus der Unfähigkeit des betreffenden Individuums, sich in das Rollenangebot einer Gesellschaft einzufügen und einen Kompromiss zwischen subjektiver und objektiver Realität zu finden.« (Klugermann 1987, 132)

Damit ist nochmals auf die bedeutende Funktion der Rolle in der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft hingewiesen. Wobei nicht 2 | Hinzu treten auch die Anforderungen einer zunehmenden Leistungssteigerung, die als Resultat des Spannungsverhältnisses von Individuum und Gesellschaft gelesen werden können: »Das Individuum ist in einem permanenten Prozess gezwungen, sich darzustellen und sich gegenüber den anderen, seiner sozialen Umwelt, zu behaupten. In der ständigen Konfrontation mit dieser sozialen Umwelt lernt es mit den Forderungen, Ansprüchen und Imperativen, die an es gestellt werden, mehr oder weniger gut umzugehen. Es gilt, zwischen den Fremdund Eigenanforderungen einen Ausgleich zu schaffen. Dieser Prozess läuft über weite Strecken unbewusst ab, quasi aus der Notwendigkeit heraus, die oft keine Zeit für langes Nachdenken übriglässt.« (Klugermann 1987, 144) In der bekannten Rede von der Zwei-Drittels-Gesellschaft wird gerade auf jene verwiesen, die – wie es im Zusammenhang mit der Systemtheorie hiess – »Kontingenzen nicht dauerhaft verarbeiten« können.

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mehr nur auf den (problematischen) »homo sociologicus«, das durch gesellschaftlich aufgedrängte Rollen unselbstständige Individuum, verwiesen wird, sondern auf die persönliche Leistung der Eigenvermittlung, die vom Individuum gefordert wird und auf die nie alle gleichermassen gut vorbereitet sein können. Die von diesem Ansatz, nicht der empirischen Aussenseiterposition selbst, geäusserte Position scheint in der folgenden Forderung äusserst unzeitgemäss: »Alles in allem besteht [. . . ] die historische Möglichkeit, verschüttete zwischenmenschliche Verkehrsformen zu regenerieren und damit einen Beitrag zur allgemeinen Wieder- bzw. Neubildung von Individualität zu leisten.« (Klugermann 1987, 178) Unterliegt man allerdings nicht der verbreiteten Verwechslung von Individualismus und Individualität, dann offenbart sich vielmehr die Forderung nach der Stärkung des Individuums, welche dieses in die Lage versetzt, die durch Modernisierung entstandenen Kontingenzen auszuhalten. Eine Debatte zur Aussenseiterposition will dann vielmehr aufzeigen, dass die Ausformung »des politischen und ökonomischen Systems nicht nur keine Unterstützung für die Entwicklung von Individualität gewährt, sondern diese dort systematisch zu unterbinden sucht, wo sie eigenen Wege zur Verwirklichung einschlägt.« (Klugermann 1987, 196) Dabei geht es um die Frage, wie »die Fremdbestimmung [. . . ] umgangen bzw. ausgeschaltet werden« kann (Klugermann 1987, 197). Wahrscheinlich wäre es sinnvoll, diese politisch gefärbte Argumentation, die vom angefeindeten »kritische[n] Individuum in seiner Aussenseiterposition« spricht (Klugermann 1987, 200), von diesem Ballast zu befreien. Zwei Dinge würden dann klarer zu Tage treten: erstens, die fruchtbare Kraft einer Figur des Dritten im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft (z. B. die Aussenseiterposition) und zweitens, ein angeblicher Bedarf nach dem, was als traditionale Gemeinschaft bezeichnet wurde, denn gerade darauf verweist eine sich organisierende Aussenseiterposition auch. Eine gedanklich verwandte, wenn auch durchdachtere Betrachtungsweise, ist jene der »Rehabilitierung des Individuums« im Zeichen der Möglichkeit seiner Selbstvernichtung. Dabei handelt es sich ebenfalls um kritische Ansätze, die unter diesem Vorzeichen »am Individuum, am menschlichen Subjekt festhalten« und »es in Erinnerung bringen« wollen (Wolff 1998, 15 f.). Sie beschäftigen sich – stellvertretend – mit einer »Soziologie in der gefährdeten Welt« (Wolff 1998) oder der »Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert« (Dahmer 2001); ihre Skepsis richtet sich gegen die Welt und gegen eine Soziologie, die zunehmend Mühe hat, diese Welt zu erklären. Das zeitdiagnostische Moment bezieht sich auf die Selbstbeschreibung wie auf die Beschreibung dieser Selbstbeschreibung, »denn zum ersten

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Mal in der Geschichte steht der Menschheit das Wissen zur Verfügung, mit dem sie sich selbst [. . . ] auszulöschen vermag.« (Wolff 1998, 7) Da eine solche Betrachtung sehr weit greift,3 soll vielmehr auf ihre Bedeutung für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft hingewiesen werden. Zum einen verbirgt sich hinter der Antwort, d. h. der Forderung nach »einer zu entwickelnden Soziologie«, eine »historisch-pragmatische« Soziologie, die angreift, »indem sie die [verantwortlichen] Merkmale der Gesellschaft und der in ihr lebenden Menschen offenlegt«, zum anderen wird diese Soziologie gerade deshalb verworfen, weil sie »rational und vernünftig« zu sein scheint und sich deshalb gegenüber den verantwortlichen Merkmalen nicht indifferent hätte zeigen dürfen (Wolff 1998, 9, 13 f.; vgl. Dahmer 2001). Daraus wird geschlossen, dass eine Antwort eher in lebensweltlichen Bezügen, in der kritischen Theorie und neben anderen bei Karl Mannheim, C. Wright Mills und Alvin Gouldner gesucht werden müsste, also allesamt in solchen Bezügen, die einer Soziologie von Grund auf kritisch entgegen stehen und Potential bieten, eine neue Welt zu öffnen. Wenn es darum geht, das Individuum in Erinnerung zu bringen, bieten sich Aspekte wie die unmittelbare Lebenswelt des Menschen oder auch jene der Kunst geradezu an (vgl. Wolff 1998, 17, 24).4 Eine Soziologie, die sich um die »Rehabilitierung des Individuums« kümmert, kann folgendermassen beschrieben werden: »Diese Soziologie stützt sich auf diejenigen Merkmale des Menschen, die ausschliesslich menschlich sind: auf den menschlichen Geist und all seine Äusserungsformen, als da sind beispielsweise Philosophie, Dichtung, Kunst, Religion, Sprache und andere Arten der Symbolik sowie alle damit verbundenen Gefühle. Im Brennpunkt dieser Soziologie stehen die Beziehungen zwischen diesen ausschliesslich menschlichen Eigenschaften und den Eigenschaften der Gesellschaft, in die sie eingebettet sind. [. . . ] Diese Soziologie basiert darauf, dass das Individuum [. . . ] gleichzeitig sowohl es selbst, das heisst einmalig, wie auch die Menschheit vertretend, das heisst universal ist.« (Wolff 1998, 29 f.; Hervorhebung S. B.)

Diese Skizze (einer beinahe humanistischen Soziologie) soll nicht den Eindruck erwecken, eine solche Soziologie sei auch das Ziel der 3 | Schliesslich liege der Ausgang bei »unzähligen Sinnlosigkeiten« wie der »Anhäufung von Waffen« (eine Thematik, die wieder zunehmend aktuell wird), der »Verbreitung von Atombomben und atomarem Abfall«, der »Zunahme ökologischer Probleme« und dem »wachsenden Unterschied zwischen Arm und Reich innerhalb derselben Gesellschaft sowie zwischen verschiedenen Gesellschaften« (Wolff 1998, 7). Einen geringfügig anderen Ansatz zu demselben Problemkreis haben Phillips/Johnston (2007) vorgelegt. 4 | Die Bedeutung eines ästhetischen Zugangs zur Gesellschaft wurde vor allem von Georg Simmel erkannt (siehe Kapitel 9.1).

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vorliegenden Arbeit. Diese würde sich nicht anmassen, ein solches Unterfangen in Angriff zu nehmen, geschweige denn zu verfolgen. Es bleibt zu vermerken, dass auch die herangezogene Variante bei einer Skizze verbleibt und kein vollständiges Konzept dieser Soziologie abliefert, die sich mit »Individuen in ihrer Einzigartigkeit« befassen soll (Wolff 1998, 106).5 Auffallend ist dennoch die Kritik an einer Soziologie, welche die Auffassung vom Individuum auf die »Unterscheidung zwischen dem Sozialen und dem Menschlichen, dem empirischen und dem transzendentalen Subjekt« gründet (Wolff 1998, 66 f.). Es entsteht wiederum das bereits beschriebene Spannungsverhältnis, das direkt auf dem Vermittlungsproblem zwischen Individuum und Gesellschaft (ihrem problematischen Verhältnis) beruht, welches als Missverständnis über das Individuum thematisiert wird. Auch in diesem Ansatz tritt hinzu, was uns bereits begegnet ist, wird nun allerdings als (Phänomen der) »Labilisierung« bezeichnet und »bezieht sich auf das Verschwinden oder die Schwächung einer stabilen Ordnung von Normen, Prinzipien, Führungszielen oder Traditionen, die statt dessen labil geworden sind.« (Wolff 1998, 77) Eine mögliche (und zugleich besondere) Antwort darauf wird in der Wissenssoziologie gesehen, denn sie darf »als die Erhellung eines neuen Erlebnisses, das der Mensch gehabt hat und noch hat, bezeichnet werden. Durch sie lernt er, was es heisst, in einer Welt zu leben [. . . ] und ein Verständnis seiner selbst [. . . ] zu erlangen.« (Wolff 1998, 96) Das menschliche »Wissen« wird so, gerade im Anschluss an Orientierungsverluste, zu einem zentralen Aspekt der individuellen Erkenntnis.6 Das verlangte Selbstverständnis spricht gegen eine Soziologie, die »sich nicht mit Individuen, ›wie sie wirklich sind‹, abgibt, sondern mit Typen, Idealtypen« und die »Sinn oder Bedeutung aus ihrer Forschung und Analyse verbannt – mit Ausnahme ihrer eigenen Konstruktion dieses Sinns, mit dem sie ihre Idealtypen ausstattet.« (Wolff 1998, 100 f.) Eine solche Soziologie muss als solipsistisch erkannt werden.7 Doch wird vermerkt, dass Fragen zur »typologischen Betrachtungsweise« der Soziologie und »zu ihrer Vernachlässigung von Sinn und Bedeutung« gewöhn5 | Das gewählte Vorgehen, d. h. eine »subjektive« Herangehensweise an eine solche Soziologie, scheint erwähnenswert. In der Betrachtung von Max Scheler (zur philosophischen Anthropologie), Alfred Schütz (zu »Welt« und intersubjektivem Verstehen), Karl Mannheim (zur Soziologie des Wissens) und Emile Durkheim (zur Anomie) soll die »Beziehung zwischen einem Soziologen und seiner Gesellschaft« herausgearbeitet und überprüft werden (Wolff 1998, 35, vgl. 35–99). 6 | Der Hinweis auf »eine« Welt schliesst die Wissenssoziologie als einen wichtigen Bereich auf, der allerdings dermassen weittragend ist, dass ihm eine eigene Abhandlung zukommen müsste; diese dürfte zu komplementären Erkenntnissen führen. 7 | »Und da sie nicht mit wirklichen Menschen umgeht, kann sie nicht erkennen, was wirkliche Menschen sich selbst und anderen bedeuten oder was für sie der Sinn der Welt oder irgendeines Teils der Welt ist.« (Wolff 1998, 101)

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lich »als philosophische Fragen zur Soziologie« gehören (Wolff 1998, 101). Diese philosophischen Fragen müssten dann in soziologische umgewandelt werden. Was sich an der Schnittstelle von philosophischen und soziologischen Fragen ergibt, könnte als eine Lebenswelt-nahe Soziologie bezeichnet werden, die »vermittelt, was es bedeutet, ein [sozialer; S. B.] Mensch zu sein (Mensch in einem ganz ›wertfreien‹ Sinn!).« (Wolff 1998, 104) Der Einschub verdeutlicht diese Verbindung von der klassisch anthropologischen Frage »Was ist der Mensch?« hin zur Soziologie.8 Die dahinter liegende Forderung tritt deshalb auf, weil Typen – wie sie in der Soziologie verbreitet zur Anwendung gelangen – »keine sinnhafte Welt« haben (Wolff 1998, 106). Einer Soziologie, die sich mit Sinn und Bedeutung beschäftigt, muss es gelingen, ihre Typisierungen derart zu handhaben, dass ein sinnhaftes Handeln weiterhin adressiert werden kann. Es bleibt allerdings die Frage, inwieweit sich Soziologie überhaupt mit »Individuen in ihrer Einzigartigkeit« befassen kann. Neben der reinen – d. h. empirischen – »Tatsachenfeststellung« gibt es auch die metaphysischen Fragen: »Ist die Gesellschaft der Zweck der menschlichen Existenz oder ein Mittel für das Individuum? Liegt der definitive Wert der sozialen Entwicklung in der Ausbildung der Persönlichkeit oder in der der Assoziation? Ist Sinn und Zweck überhaupt in den gesellschaftlichen Gebilden als solchen vorhanden oder realisieren diese Begriffe sich nur an der Einzelseele?« (Simmel 1917, 32 f.)

Bei diesen Fragen »handelt es sich um die Deutung festgestellter Tatsachen« mit dem Ziel der »Gesamtanschauung« sozialer Wirklichkeit, die nicht mit der Empirie konkurriert, weil sie andere – eben philosophisch-soziologische – Ziele verfolgt (Simmel 1917, 33). Doch sei »die Grenze zwischen Soziologie und Philosophie problematisch geworden« (Wolff 1998, 111). Für das genuin soziologische Verständnis dürfte eine Soziologie des Wissens einiges geleistet haben, weil sie »dem soziologischen Reduktionismus oder Soziologismus Widerstand leistete«, indem sie es vermied, »den Sinn philosophischer (und anderer) Probleme ausschliesslich in den gesellschaftlichen [. . . ] Umständen zu sehen« (Wolff 1998, 114; vgl. 1983, 175 ff.). Ein in solcher Weise angedachtes, rehabilitiertes, d. h. »wieder zur Geltung gebrachte[s] Individuum« würde »soziologisch gesehen [. . . ] in der Lebenswelt« oder Alltagswelt verbleiben. Neben seinem Charakter als einzelnem Individuum stellt es auch – und darin liegt ein Grossteil der Spannung dieser Spannungsverhältnisse begründet – »einen Typus, einen Ideal8 | Die Bezeichnung »Mensch« wird in der vorliegenden Arbeit durchgehend in diesem Sinne und als »Homo sapiens sapiens« verstanden. Dabei ist erstaunlich, dass dieser Mensch mental nicht dafür ausgestattet ist, sich selbst zu verstehen (vgl. Fauconnier/Turner 2002; Köhler 1990).

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typ, eine Gesamtheit von Rollen« dar (Wolff 1983, 116). Obschon dieser humanistische Ansatz für die Einzigartigkeit des Individuums plädiert, wird es als Subjekt soziologisch noch vielfach als Objekt angesehen. Es gelte, das Individuum in seiner Bedeutung als Subjekt wahrzunehmen; Gegenstand sei das Individuum »in seiner Fähigkeit, die Alltagswelt zu transzendieren« (Wolff 1983, 117). Damit spielt hinein, was in der vorliegenden Arbeit als soziales Individuum bezeichnet wird. Es ist dieses soziale Individuum, das sich seine Gesellschaftsbilder formt und eine Selbstbeschreibung anfertigt. Diese Bilder entstehen »im sozialen Handeln gesellschaftlicher Akteure« und bezeichnen »Beschreibungen und Bewertungen der existentiellen Situation sozialer Akteure, ihrer Verhaltensweisen, Interaktionen und Handlungsmöglichkeiten.« (Streit 1994, 13) Der Begriff des Gesellschaftsbildes verweist auf die Vorstellungen über die soziale Umwelt. Im Anschluss an die vorherige Diskussion würden hier die je individuellen Akteure eingesetzt, wobei sich diese Bilder nicht alleine auf die Mikrostruktur beziehen lassen. Akteure wie Gruppen, Organisationen oder Institutionen sind deshalb in diese Definition eingeschlossen. Erneut zeigt sich eine nennenswerte Besonderheit: »Da die Träger von Gesellschaftsbildern selbst Teil der Gesellschaft sind, umfassen diese Bilder auch die Selbstbilder sozialer Akteure, welche für das individuelle Handeln ebenfalls von zentraler Bedeutung sind. [. . . ] Gesellschaftsbilder sind unterschiedlich geeignet, mit sozialen Situationen umzugehen. Die Anforderungen an diese Bilder variieren mit der Beschaffenheit der Sozialstruktur.« (Streit 1994, 13 ff.)

Während sich zum einen die Selbstbeschreibung und die Paradoxie der Soziologie deutlich zeigen (siehe Kapitel 3.1 und 3.4), tritt zum anderen auch die Abhängigkeit von der bestimmenden Struktur hervor. Durch die zunehmende Komplexität dieser Struktur steigt auch die Komplexität, die »Gesellschaft wahrzunehmen und mental zu strukturieren.« (Streit 1994, 15) Weil die Spannung auf jeder Seite erhöht wird, steigt die Spannung des Verhältnisses gedoppelt an. Das liegt auch daran, dass Gesellschaftsbild und Selbstbild gemeinsam die Situation des Individuums bestimmen und zur »Grundlage sozialen Handelns« werden (Streit 1994, 19). Es tritt hinzu, dass Gesellschaftsbilder »nicht nur Basis, sondern ebenso Resultat individuellen und kollektiven Handelns« sind (Streit 1994, 20; Hervorhebung wurde weggelassen). Die Spannungen werden daher abhängig von der Ausprägung dieser individuellen Gesellschaftsbilder der Mikrostruktur, weil diese auch die Dynamik sozialer Makrostrukturen bestimmen. In der Überlagerung dieser Strukturen liegt die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Sicht auf individuelles Verhalten und gesamtgesellschaftliche Prozesse. Das Spannungsverhältnis wird auf wissenschaftlicher Ebene gedoppelt:

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»Es fehlen sowohl in der Soziologie als auch in der Psychologie theoretische Vorstellungen, die besagen, unter welchen sozialen und interindividuellen Bedingungen welche Aspekte und Bereiche der Sozialstruktur bedeutungsvoll sind, psychische Spannungen erzeugen und zu individuellen Reaktionen führen.« (Streit 1994, 23)

Auch wenn sich in der Zeit zwischen dieser Aussage und heute gerade in der soziologischen Theorie einiges in diese Richtung entwickelt hat,9 steht eine rahmende Vorstellung vor allem in der deutschsprachigen Soziologie noch immer aus. Noch immer reichen die vorherrschenden Ansätze nicht aus, um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ausreichend zu erfassen. Desweiteren kann an dieser Aussage die Gegenüberstellung von »sozialen und interindividuellen Bedingungen« kritisiert werden, da sie in eins fallen und darüber die intraindividuellen Bedingungen vernachlässigt werden könnten. Sie sind hier als Resultat, nicht aber in ausreichendem Masse als Mitursache vorgesehen. Dennoch wird anerkannt, dass vier Aspekte für ein Verständnis notwendig sind: 1. die individuellen Bedürfnisse, 2. die kognitive Struktur der Menschen, 3. die unbewussten mentalen Prozesse und 4. die Charakteristiken der Gesellschaft (vgl. Streit 1994, 26). Die »Lage des Individuums« in der Sozialstruktur verweist deshalb beispielsweise auf den Rollenbegriff (Streit 1994, 28). Der geforderte Ansatz diskutiert den »Einfluss der individuellen mentalen Struktur auf die individuellen Bedürfnisse und die Wahrnehmung der Gesellschaft« (Streit 1994, 51; Hervorhebung wurde weggelassen). Was an diesem Ansatz auffällt, ist die Nähe zu einer psychologischen Interpretation einerseits,10 der starke Einbezug der sozialen Schichtung und der sozialen Rolle andererseits (vgl. Streit 1994, 117 ff., 147 ff.). Um die Spannungen im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu reduzieren, scheinen gerade Rollen verheissungsvoll, weil sie – mit allen Vorbehalten (siehe dazu Kapitel 7.3) – »strukturell definierte [. . . ] Handlungsmöglichkeiten« gewähren (Streit 1994, 351). Ein allgemeiner Reduktionsmechanismus kann in den individuellen Gesellschaftsbildern selbst gesehen werden, da diese helfen, Komplexität sowohl auf der Mikro- wie der Makroebene zu reduzieren. Allgemein und zugleich »negativ« formuliert: »Inkompatibilitäten zwischen den mentalen Strukturen der Menschen und der sozialen Struktur einer Ge9 | In einem konkreten Fall lautet dies: Die Analyse von Gemeinschaft und Gesellschaft anhand einer Individualisierungs- und Netzwerkperspektive zeigt beispielsweise auf, »dass vergemeinschaftete und vergesellschaftete Sozialformen zwei Teile eines Ganzen sind, die sich nicht gegenseitig ersetzen, sondern gemeinsam die soziale Einbindung von Individuen ausmachen.« (Hennig 2006, 13) Allerdings bleibt die Ausrichtung holistisch. 10 | So werden die genannten Aspekte anhand von Jean Piagets kognitiver Entwicklungs- und Sozialisationstheorie abgearbeitet (vgl. Streit 1994, 70 ff.).

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sellschaft gefährden den Bestand von Sozialsystemen.« Ebenso allgemein verbleibt die Antwort, die in »alltagstheoretischen Vorstellungen (Codes), mit denen Menschen das soziale Geschehen erklären«, eine Lösung zu erkennen glaubt (Streit 1994, 348 f.). Damit wird letztlich nur ausgesagt, dass die individuellen Gesellschaftsbilder verstanden werden müssen, um in zweiter Instanz die Sozialstruktur zu beschreiben und zu verstehen. Die soziologische Konzeption von nach aussen übertragenen »Codes« allerdings, die einen »Orientierungsraum« auf zwei Ebenen (Alltag und Wissenschaft) öffnen,11 kommt dem vorliegenden Bestreben nahe. Diese nach aussen übertragenen Vorstellungen wie die konzeptuelle Entstehung aus der Psychologie lassen bereits die Nähe zur Sozialpsychologie erkennen. Gerade diese hybride Disziplin, die irgendwo zwischen Psychologie und Soziologie angesiedelt ist, versucht das »Ineinander von Individuum und Gesellschaft« zu verstehen.12 Dass diese Verknüpfung wiederum im Rahmen der Individualisierungsthese auftritt, erstaunt nicht, denn auch sie »ist keine Momentaufnahme. Sie zeigt nicht, wo der Zug steht – sondern wohin er fährt.« (Beck-Gernsheim 1993, 140) Im Zentrum liegt das Interesse an gesellschaftlich-historischen Prozessen und der gegenseitigen Prägung von Individuum und Gesellschaft. Dabei sei »bisher noch ungeklärt, wie diese Vermittlung [d. h. dieses Ineinander] zu denken ist«, und dennoch sei sie – nicht bloss in ihrer Negativität – zu einem festen Bestandteil der Diskussion ausgewachsen (Beck-Gernsheim 1993, 141). Der Bezug zur Sozialpsychologie weist deshalb in eine spezifische (Gegen-)Richtung. Die Sozialpsychologie kann in der kürzesten Form als »Wissenschaft vom Verhalten des Individuums in der Gesellschaft« definiert werden. Sie unterscheidet sich von der Soziologie dadurch, dass sie sich 11 | »Der Orientierungsraum umfasst jene Realitätsbereiche, mit denen sich Menschen mental besonders intensiv auseinandersetzen. Er ist deshalb mental dichter strukturiert und affektiv stärker besetzt als der Aussenbereich des Orientierungsraumes. Innerhalb dieses Raumes werden Aussagen in der Regel stärker auf ihre logische und empirische Adäquanz hin untersucht. Das bedeutet, dass die auf diesen Bereich bezogenen Codes stärker mit der Realität konfrontiert werden.« (Streit 1994, 350) Diese soziologischen »Codes«, die allerdings m. W. nicht systematisch ausgearbeitet wurden, erinnern an das aus den Kognitionswissenschaften bekannte »Conceptual Blending«, d. h. an den mentalen Mechanismus, Neues mit bereits Bekanntem zu verbinden, um Erklärungen zu erzeugen (vgl. Fauconnier/Turner 2002). Wissenschaftstheoretisch könnte die »soziologische Imagination« von C. Wright Mills (1959) beigezogen werden, in der über ein Verständnis der Mikroebene die Makroebene verstanden werden soll (vgl. Phillips/Johnston 2007, 7 ff., 133 ff.). 12 | Zur Nähe der Disziplinen und zur – gleichzeitigen – Entstehung der Sozialpsychologie aus der Soziologie (durch Edward Ross und Georg Simmel) vgl. Keupp (1993).

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auf »einzelmenschliche psychische Vorgänge« ausrichtet, vor allem aber die »Totalität der sozialen Persönlichkeit und deren Verhalten in sozialen Situationen« in den Blick nimmt. Dabei ist historisch eine gegenläufige Bewegung und Annäherung feststellbar, indem sich die Sozialpsychologie immer stärker Richtung Gesellschaft – d. h. in Richtung der so genannten Makroebene – bewegt, die Soziologie hingegen die abstrakten Kollektive »in immer kleinere Einheiten zerlegt, wobei [sie] notgedrungen an psychische Realitäten gerät« und sich dabei in Richtung Mikroebene bewegt (Francis 1965, 26). Während sich in dieser Logik die Soziologie im äussersten Fall um Kleingruppen kümmern darf, beschäftigt sich die Sozialpsychologie mit der individuellen Persönlichkeit. Es wird jedoch deutlich, dass sich diese Trennung nicht aufrechterhalten lässt, da zum Verständnis jeweils Kenntnisse der Zusammenhänge notwendig sind (vgl. Kohn 1989; Stolte et al. 2001). Deshalb liegt nahe, dass in beiden Fällen (wie in anderen Disziplinen, vor allem aber im Bereich des Sozialen) der »Gegenstand« von der »Idee« dieses Gegenstands unterschieden werden sollte (vgl. Ritsert 2001, 160). Somit braucht es ein Abwägen zwischen dem sozialwissenschaftlichen Studium sozialer Phänomene und der Berücksichtigung ihrer Ideengeschichte. Der Exkurs zum Rollenbegriff hatte gezeigt, dass ein Verständnis des »Rollenhandelns« – und damit eines wichtigen Teils des sozialen Handelns – »ohne ein Minimum psychologischen oder sozialpsychologischen Verstehens unmöglich« scheint (Tenbruck 1961, 27). »Ohne psychische Prozesse ist menschliches Handeln nun einmal unmöglich, und solche Prozesse, soweit sie sozial standardisiert sind, muss die Soziologie allemalen auf die eine oder andere Weise in Rechnung stellen. [. . . ] An diesem Vorgang [aus Prozess und Handeln; S. B.] ist fraglos und grundsätzlich der ganze Mensch beteiligt, und nur in Beziehung auf ihn lässt sich mit Sinn überhaupt von Rollen reden.« (Tenbruck 1961, 28, 34)

Der »ganze Mensch« heisst hier zweierlei, erstens, der soziale wie kulturelle wie individuelle Mensch und zweitens, der Mensch als sozialwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand, der in der Steigerung einer Beschreibung der Selbstbeschreibung erst recht nicht aufgetrennt werden kann. Das notwendige sozialpsychologische Verstehen, welches die Soziologie benötigt, bedeutet nicht, »dass man deshalb Psychologie treiben oder die Grenze zur Sozialpsychologie verwischen müsste.« (Tenbruck 1961, 27) Der Hinweis auf Mikro- und Makroebene hat bereits gezeigt, dass ein Näherrücken von Soziologie und Sozialpsychologie unvermeidlich scheint. Die Sozialpsychologie verbindet sich mit der Soziologie durch den Umstand, dass sie die Frage, »wie so etwas wie soziale Geordnetheit im Alltagsleben möglich ist«, von anderer Seite angeht. Da sie sich für

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Spannungsverhältnisse

die »Feinabstimmungen [. . . ] mit dem spezifischen Blick auf das Subjekt« interessiert (Keupp 1993, 7), stellt sie eine ideale Ergänzung zur soziologischen Strukturperspektive dar. Sie findet sich an den Nahtstellen von Individuum und Gesellschaft, und unter Anbetracht ihrer Entstehung erstaunt es nicht, dass grob zwei Ansätze existieren, welche diese Nahtstelle je von unterschiedlicher Seite adressieren. Wenn man davon absieht, dass Georg Simmel seine grosse Abhandlung mit »Soziologie« ([1908] 1992b, 630) überschrieben hat, so dürfte er sich zu den Gründern einer Sozialpsychologie zählen (vgl. Keupp 1993, 8). Allerdings hat Simmel die Zweiseitigkeit schon damals überwunden und ein vereinheitlichendes Prinzip installiert (siehe Kapitel 9.1). Wie auch das Vorgehen sein mag, ein Umweg über den »homo clausus« scheint keinesfalls mehr angebracht: »In diesem Modell wird zunächst das Individuum als von der Gesellschaft getrennt gedacht, als der in sich eingeschlossene Mensch, der danach aber dann doch zu dieser Gesellschaft in Beziehung gesetzt wird. Dafür werden so vage Konzepte wie ›Wechselwirkung‹, ›Beeinflussung‹ oder ›soziale Faktoren‹ etc. bemüht. Die getrennt gedachten Grössen werden nachträglich zusammenmontiert.« (Keupp 1993, 9)

Das Problematische an dieser an sich korrekten Kritik an einer Trennung und anschliessenden Zusammenführung von Individuum und Gesellschaft ist gerade der Umgang mit dieser Zusammenführung. Indem explizit die Wechselwirkung genannt ist und auch Begriffe wie Interaktion und Vergesellschaftung zum Vokabular einer Sozialpsychologie gehören, rückt diese in enge Nähe zur Soziologie. Die Handlungsfähigkeit des sozialen Individuums, nach welcher die Sozialpsychologie fragt (vgl. Keupp 1993, 13), ist auch Gegenstand einer verstehenden Soziologie. Unterscheidend wäre dann noch, wie das »Ineinandergreifen von subjektiven und gesellschaftlichen Prozessen« begriffen wird (Keupp 1993, 15). Gegenüber der akademischen Sozialpsychologie – und dasselbe gilt auch für die Soziologie – wird eingewendet, dass sie sich dieser Frage nicht mehr stellt und sich einer »Orientierung [verschrieben hat], die von der impliziten Annahme einer kognitivrationalistischen Weltbewältigung getragen ist.« (Keupp 1993, 16) Das Ineinandergreifen wird – so darf zumindest hinsichtlich der Soziologie festgehalten werden – weder inhaltlich noch methodologisch ausreichend berücksichtigt (hier ist der Kritik des obenstehenden Zitats zuzustimmen), wobei durch diese gemeinsame Praxis auch eine gegenseitige Befruchtung der zwei Disziplinen aussichtslos wird. Ein differenzierteres Bild ergibt sich im Zusammenhang mit einer zweiten, der Soziologie eng verwandten Disziplin, der Anthropologie. Diese wird hier weder in ihrer unterschiedlichen Ausprägung (Philosophische Anthropologie, Historische Anthropologie etc.) noch als

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Emanzipation des Individuums

Ethnologie aufgefasst, sondern vielmehr als »Denken des Menschen« (in zweifachem Sinne) oder generischer als »Lehre vom Menschen« (vgl. Mühlmann 1962, 5 ff.). Zuerst erscheint die historisch wie fachlich naheliegende »naturwissenschaftliche Sozialanthropologie« nicht besonders hilfreich, weil sie weder an der Gruppe noch an den handelnd sinnhaft aufeinander einwirkenden Individuen, sondern nur an der »Summe der Einzelmenschen [interessiert ist], aus denen sie ein ›mittleres Verhalten‹ errechnet.« (Mühlmann 1962, 6) Ihre Bedeutung zeigt sich jedoch im Vergleich. Dabei wird sichtbar, dass die Anthropologie »nicht mehr, wie die alte ›soziale Physik‹, die soziologische Gruppe missversteh[t] als eine Summe von Individualitäten, definiert durch ihren Mittelwert.« (Mühlmann 1962, 7) Die Antithese von Individuum und Gesellschaft wird vor allem in Konfliktfällen als solche anerkannt und ihr Verständnis – wie jenes des damit umgehenden Individuums – hilft dann zur Bewältigung der Spannungsverhältnisse: »Der Mensch ist fähig, von einem gewissermassen ›exzentrischen‹ Standpunkt aus seine aktuell gehabte Umwelt zu überschreiten, ja zu negieren, oder sie zu relativieren zu einer Welt, zu der er prinzipiell ›offen‹ ist. [. . . ] Er kann, auf höchster Stufe, den Gedanken eines Weltzusammenhanges fassen; er kann sich selbst als ein winziges Wesen in diesen Weltzusammenhang hineinstellen und beweist in dieser Fähigkeit des Sich-selbst-Relativierens doch eben seine exzentrische Stellung zur Welt« (Mühlmann 1962, 90).

Darin zeigen sich wiederum die »nach aussen übertragenen Codes«, die hier nun die Umwelt bestimmen. Es ist schliesslich auch die Anthropologie, die uns lehrt, dass es eine »Wildform« des Menschen nie gab und dieser »von vornherein als ein im Kollektiv gebundenes Wesen auf den Plan« trat (Mühlmann 1962, 11). Individuelle und gesellschaftliche Produktion sind deshalb untrennbar verbunden. Das gilt soweit, dass »ich« – als forschend und denkend in der Welt handelnder Mensch – »als Subjekt [selbst] mit ein[gehe] in den Vorgang, den ich beobachte.« (Mühlmann 1962, 91) Der Vorgang wird mitdeterminiert und dabei produziert sich wiederum das Problem der Beschreibung der Selbstbeschreibung. Dieses Problem ist unumgänglich, denn »[z]wischen den Menschen und seine ›natürliche‹ Dingumwelt schiebt sich immer die Welt der Symbole und Begriffe.« (Mühlmann 1962, 93) Deshalb ist die Wahrnehmung immer schon eine über Symbole konstruierte, weil ein anderer Zugang zur (Um-)Welt nicht möglich ist.13 Deshalb kann eine 13 | Dieser Sachverhalt wird in folgender Weise erklärt: »Die subjektiven Denkund Anschauungsformen, die Klassifikation aller wissbaren Dinge sind sozial bedingt, ebenso die Sprache, die uns Begriffe und Symbole vermittelt, die vor aller individuellen Erfahrung liegen.« (Mühlmann 1962, 93, vgl. 118 ff.) Hier schliesst das treffliche, von Charles Blondel übernommene Beispiel an, nach welchem ein Kind das Meer beschreiben kann, ohne es je gesehen zu haben. Nur die Macht der

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Spannungsverhältnisse

skeptische Sichtweise, wie sie beispielsweise von Helmut Schelsky vertreten wurde (vgl. Mühlmann 1962, 102), nicht nur darauf hinweisen, dass es keine klare Grenze zwischen Subjekt und Objekt gebe (dass vielmehr bloss ein »Kontinuum zwischen beiden« existiere), sondern auch darauf, dass die aus beiden – in gegenseitiger Abhängigkeit – entstehende Struktur eine wandelbare sei.

8.2 Exkurs zur Komplexität als Ursache Die soziale Komplexität nimmt in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft zu (vgl. Di Fabio 1991, 11 f.) und manifestiert sich »in entsprechend komplexeren Rollensystemen«, welche »die Bedingungen sozialer Ordnungsbildung und -erhaltung von Grund auf« verändern. Abweichungen in einem sozialen System, beispielsweise der Rollenerwartung, können »die Ordnung oder gar den Bestand des Systems in Frage stellen.« (Schimank 2002, 37; vgl. Waszkewitz 2000) Die Komplexität dieser Störungen, die zunehmend auch der Sozialsphäre selbst entspringen, »macht es unmöglich, für jede spezifische Problemstellung soziale Regelungen zu normieren.« (Schimank 2002, 38) Darauf wurde bereits im Zusammenhang mit sozialer Rolle, Werten und Normen hingewiesen. Die Übereinstimmung von Individuum und Rolle wie die Übereinstimmungen des Rollenhandelns werden unvorhersehbar; eine soziale Regulierung, die ausserhalb des Individuums steht, ist immer unwahrscheinlicher zu realisieren. Gesellschaft, die für eine solche Regulierung zuständig zeichnen müsste, wurde deshalb bereits mit Komplexität gleichgesetzt (siehe Seite 30). Die zunehmende Komplexität ist ein durchgehendes Moment der Moderne, die zudem deckungsgleich ist mit der Geschichte der Soziologie. Sie stellt steigende Forderungen an eine Beschreibung der Selbstbeschreibung der Gesellschaft und überhöht die Paradoxie der Soziologie, d. h. die Notwendigkeit, den zu beschreibenden Gegenstand (Gesellschaft) zuerst heuristisch zu erschaffen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich um Selbstbeschreibungen handelt, weil Gesellschaftstheorien rekursiv erscheinen: »Am Ende kommt das heraus, was vorher hineingegeben wurde.« (Di Fabio 1991, 102) Auch die Empirie kann dagegen nichts ausrichten. Alleine das soziale Individuum scheint deshalb noch in der Lage, die soziale Situation zu beherrschen, weil es in der Mehrzahl und »unter kritischen Umständen die soziale Ordnung aufrechterhalten« kann, und sei es durch Empathie, Umsicht oder Takt (vgl. Schimank 2002, Sprache erlaubt den Zugang zur (unbekannten) Welt. Ähnliches gilt für Rituale und Mythen (vgl. Mühlmann 1962, 124 ff., 162 ff.), die der Sozialisation nahe stehen und gleichzeitig einen starken Bezug zur Religion aufweisen (siehe Kapitel 12.3).

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Exkurs zur Komplexität als Ursache

38 f.). Der zwischenmenschliche Umgang wird dadurch reguliert, dass unterschiedliche Positionen berücksichtigt werden und kommunikative Kompetenz geübt wird: »Äusserer Zwang wird durch Selbstzwang ersetzt – genauer: durch den Zwang zur eigenständigen und selbstverantworteten Problemlösung. An die Stelle sozialer Routinen tritt Problemsensibilität.« (Schimank 2002, 39) Soziale Normalität – hier lehnt sich die Argumentation an Erving Goffman an – kann nicht mehr »als Anwendung fertiger Regeln ausgeführt werden [. . . ], sondern [muss] von den Beteiligten hergestellt und [. . . ] wechselseitig als vorhanden dargestellt werden« (Schimank 2002, 40). Nur so scheint ein Umgang mit der komplexen Gesellschaft möglich. Damit ist natürlich noch keine Anleitung dafür gegeben, wie mit hoher gesellschaftlicher Komplexität umgegangen werden muss und wie vermieden werden kann, dass Individuen auf soziale Routinen und fertige Regeln zurückfallen, sondern sich der jeweiligen besonderen Situation in veränderter Weise stellen. Das soziale Handeln, d. h. die Beziehung zwischen individuellem Handeln und eingeschriebenen Rationalitätssphären, wird zu einem »wichtigen Teil der Relation von Individuum und Gesellschaft.« (Di Fabio 1991, 53) Es kommt hinzu, dass ein Gesellschaftssystem eigene Komplexität aufbaut, um auf die Komplexität der Umwelt zu reagieren (vgl. Luhmann 1998, 134 f.). Bleibt also die Frage, was in diesem Zusammenhang unter Komplexität zu verstehen ist. »Komplexität ist keine Operation, ist also nichts, was ein System tut oder was in ihm geschieht, sondern ist ein Begriff der Beobachtung und Beschreibung (inclusive Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung). [. . . ] [D]er Begriff der Komplexität ist kein einfacher Begriff, sondern seinerseits komplex, also autologisch gebildet.« (Luhmann 1998, 136)

Erneut zeigt sich die enge Verbindung von Komplexität und Gesellschaft, die denselben Einflüssen zu unterliegen scheinen und über die beschriebene Individualisierung Effekte auf das Individuum ausüben. Ein System – und damit letztlich jeder soziale Tatbestand (vgl. Luhmann 1998, 138 f.) – wird dann als komplex eingestuft, »wenn es weder völlig geordnet noch völlig ungeordnet ist, also eine Mischung von Redundanz und Varietät realisiert.« (Luhmann 1998, 136) Sofern es nicht mehr möglich ist, jedes Element mit jedem anderen zu verknüpfen, ergeben sich kontingente Zustände (von Ordnungen kann dann nur bedingt noch gesprochen werden; vgl. Di Fabio 1991, 63 f.), die allerdings bloss besagen, »dass auch anderes möglich wäre.« (Luhmann 1998, 137) Darin zeigt sich erneut, dass die Unterscheidung in Autonomie oder Anomie kaum zielführend sein kann, da die Ambiguitäten der resultierenden Bedeutungszuweisungen interessieren und adressiert werden müssen. Die Notwendigkeit des Komplexitätsbegriffs be-

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Spannungsverhältnisse

schränkt sich nicht auf die Systemtheorie und darauf, dass »sie ihn für die Darstellung der Beziehung zwischen System und Umwelt braucht.« (Luhmann 1998, 139; vgl. McLennan 2003) Die Komplexität ist nicht nur Ursache der Beziehung von Individuum und Gesellschaft, sie ist auch für deren Klärung und die Annäherung an ihre Unvorhersehbarkeit notwendig (vgl. Di Fabio 1991, 43 f.). Die im vorhergehenden Exkurs (in Kapitel 7.3) gestreiften Werte und Normen sind mögliche Garanten einer tendenziellen Vorhersehbarkeit. Die Gesellschaft stellt ein bedeutsames Beispiel im »durch den Begriff der Komplexität erfassten Gegenstandsbereich.« (Luhmann 1998, 140; vgl. Stewart 2001) Dies liegt daran, dass sie durch Interaktion entsteht und besteht (d. h. durch das, was Niklas Luhmann »Kommunikation« nennt) und führt dazu, dass eine mögliche Lösung in der »Repräsentation von Komplexität in der Form von Sinn« liegt. Die Unterscheidung »von aktualisiertem Sinn und den von da aus zugänglichen [weiteren, da kontingenten; S. B.] Möglichkeiten«, d. h. die Unterscheidung von Wirklichkeit/Aktualität einerseits und Möglichkeit/ Potentialität andererseits erlaubt ein Herangehen an die Komplexität (Luhmann 1998, 142). Reduktion von Komplexität meint dann »nur« das »Operieren im Kontext von Komplexität, [. . . ] ein laufendes Verlagern von Aktuellem und Potentiellem«, wobei auch komplex(er)e Beschreibungen mitgemeint sein können.14 Für die wissenschaftliche Behandlung zeige sich allerdings, dass weder »eine vereinfachende Modellbildung« noch »die klassischen Anthropomorphismen [genügen], die sich auf Annahmen über ›den Menschen‹ stützen und Sinn entsprechend ›subjektiv‹ auffassen.« (Luhmann 1998, 144) Einzige Lösung, so schliesst diese Systemtheorie, sei die »Beobachtung zweiter Ordnung«, wobei zu beantworten sei, wer der zu beobachtende Beobachter sei und wie er beobachtet werden sollte. Da es nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, dieses systemtheoretische Problem zu lösen, verweise ich hier auf die späteren Ausführungen zu Luhmanns »Sinn« (siehe Kapitel 9.3). Da es jedoch Niklas Luhmann (1987b, 298) war, der antrat, »die alte und ewig unfruchtbare, ideologisch besetzte Diskussion über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft« zu überwinden, soll ein kurzer Blick auf die Grundannahme seines Theoriekonstrukts geworfen werden. Während bislang vornehmlich (kognitiv-sprachliche) handlungstheoretische Ansätze im Vordergrund standen (vgl. Di Fabio 1991, 14 | Wenn also von Reduktionismus die Rede ist, dann meint dies eine zu stark vereinfachte Beschreibung, die der Realität nicht gerecht wird (vgl. Tenbruck 1989, 202). In der vorliegenden Arbeit wird damit allgemein die nur einseitige Betrachtung von Holismus und Individualismus bezeichnet; im besonderen ist die Bezeichnung mit dem methodischen Individualismus und der Emergenz verbunden (siehe Seite 309).

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8.2

Exkurs zur Komplexität als Ursache

58), scheint es vor allem im Zusammenhang mit Komplexität sinnvoll, einen systemtheoretischen Bezug zu schaffen (vgl. Merz-Benz 2004, 173). Gerade dieses Theoriekonstrukt wirft die Frage auf, ob das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft mit jenem von Individualismus und Holismus gleichgesetzt werden darf. Unter dem Vorzeichen, dass das erste Verhältnis »für die soziologische Theoriebildung konstitutiven Charakter« hatte und hat (Di Fabio 1991, 12), das zweite eher hinderlich war und ist, muss eine solche Identität verneint werden. Grundsätzlich betrachtet, sind die beiden Verhältnisse deckungsgleich; sowohl Individuum/Individualismus als auch Gesellschaft/Holismus thematisieren die Herangehensweise und insbesondere die Richtung, aus welcher und in welche Sozialwissenschaft betrieben wird. Luhmanns Systemtheorie verwirft diese Entgegensetzung, indem sie eine neue einführt: jene von System und Umwelt. Die soziale Ordnung wird dabei als System aufgefasst, das sich erst in Entgrenzung zu seiner Umwelt (und damit auch zu anderen Systemen) konstituieren kann.15 Da das Hauptinteresse eindeutig auf Struktur/Gesellschaft (dem System) liegt, muss konsequent von den »Absichten, Zielen und Wünschen der Individuen« abstrahiert werden (Di Fabio 1991, 105). Das individuelle Handeln wird von den (mehr oder minder) feststehenden sozialen Handlungsstrukturen getrennt, indem die personalen (psychischen) Systeme – d. h. die Individuen – von den sozialen Systemen unterschieden werden.16 Das Individuum wird in die Umwelt der sozialen Systeme versetzt und steht dann ausserhalb der Sphäre des Sozialen. In einem ersten Schritt gilt: »Individuum und Gesellschaft [wären] prinzipiell geschieden zu denken.« (Di Fabio 1991, 117) Die Tradition der Leitdifferenz von Teil/Ganzem, die bis in die Präsoziologie zurück reicht und einen wichtigen Beitrag zur Konstitution der Soziologie leistete, wird durch einen Import massgeblich aus biologischen Systemtheorien überwunden. Die System/Umwelt-Differenz wird schliesslich Ende der 1970er Jahre durch die Begriffe der Selbst15 | Ein anderes Spannungsverhältnis zeigt sich daher in der Entgegensetzung von Inklusion und Exklusion, die sich auf jene von Individuum und Gesellschaft anwenden lässt (vgl. Bohn 2006, 7). Als Leitunterscheidung der Gesellschaftstheorie schliesst das Inklusions-/Exklusionsproblem an den systemischen Ansatz an und gehört zu seinen Schlüsselbegriffen. 16 | »Denn die Auffassung, dass soziale Systeme nicht aus Individuen bestehen und auch nicht durch körperliche und psychische Prozesse erzeugt werden können, besagt natürlich nicht, dass es in der Welt sozialer Systeme keine Individuen gäbe.« (Luhmann 1987b, 348) Vielmehr werde dadurch gerade die Frage nach den psychischen Systemen und ihrer Anschlussfähigkeit gestellt. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil sich psychische und soziale Systeme in ihrem Operationsmodus unterscheiden: »Bewusstsein« (mit »Vorstellungen« als Element) im ersten Fall, »Kommunikation« (keinesfalls nur sprachlicher Natur) im zweiten Fall (vgl. Luhmann 1987b, 355 f., 193 ff.).

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Spannungsverhältnisse

referenz und der Autopoiesis ersetzt (vgl. Di Fabio 1991, 120).17 Als auf sich selbst bezogene, sich selbst konstituierende und erhaltende Systeme arbeiten sie Umweltkomplexität dadurch ab, dass im Innern selbst Komplexität erzeugt wird. Der Mechanismus der dies leistet, so wird sich an anderer Stelle zeigen, ist »Sinn«. Die Anwendung von Sinn als Selektionsmechanismus ist zugleich die »Gemeinsamkeit personaler und sozialer Systeme, die sie untrennbar aufeinander verweist« (Di Fabio 1991, 114). System und Umwelt sind durch selektive Zusammenhänge (Wahrnehmung und Verarbeitung von Umweltereignissen) gekoppelt und verfügen über einen Kontakt, der am besten als »Selbstkontakt« beschrieben wird (vgl. Di Fabio 1991, 121 f.). Die Tatsache, dass jede Systemoperation auch einen selbstbezüglichen Aspekt hat, erinnert an die gesellschaftliche Selbstbeschreibung: »Gesellschaft und Individuum [. . . ] sind Konstanten, die sich nur unter Preisgabe eines genaueren Blicks einer eindeutigen Fassung fügen, [. . . ] [sie sind] jeweils nur Selbstbeschreibungen, die sich flexibel in neuen Verhältnissen einrichten.« (Saake 2001, 123)

Obschon sich Luhmann einer solch unterkomplexen Aussage wohl kaum angeschlossen hätte, wird doch konstatiert, dass das Verhältnis von psychischen und sozialen Systemen im Zeichen emergenter (d. h. nicht kausal reduzierbarer) Rationalität und Autopoiesis gesehen werden muss (vgl. Di Fabio 1991, 124). Dies wird möglich, indem Luhmann den Strukturbegriff anpasst und Struktur in die Nähe prozessualer Ereignisse rückt (vgl. Luhmann 1987b, 73). Die Systeme wie die Verhältnisse zwischen ihnen sind also in hohem Masse instabil. Im traditionellen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft »ist die Paradoxie angelegt, dass das Individuum soziale Strukturen, die immer auch Fremdbestimmungen sind, benötigt, um seinerseits Identitätsstrukturen als Basis seiner Freiheit aufzubauen.« (Di Fabio 1991, 159) Neu an der funktional-strukturellen systemtheoretischen Herangehensweise sind einerseits die Anerkennung individueller Eigenständigkeit gegenüber der sozialen Ordnung – die Ausgliederung des Individuums aus den sozialen Systemen – und andererseits die Verlagerung auf Funktion im Austausch zwischen den Systemen (also auch zwischen Individuen und sozialen Systemen). Auf diese Weise versucht die Systemtheorie diese Paradoxie, die traditionell als Spannungsverhältnis bezeichnet wird, aufzulösen. Erstaunlicherweise schliesst Luhmann damit an Emile Durkheim an, allerdings verwendet er nur die dort angelegte »wechselseitige Steigerung von Individuum und Ge17 | Es kann nur beiläufig erwähnt werden, dass Humberto Maturana nicht darin übereinstimmte, wie Luhmann seinen Begriff der »Autopoiesis« verwendet hat (vgl. Maturana/Pörksen 2002, 109 ff.).

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8.2

Exkurs zur Komplexität als Ursache

sellschaft« vollständig und ist – ähnlich der Erkenntnisse einer spezifischen Durkheim-Lektüre im Zusammenhang mit dem Gesellschaftsbegriff – vorsichtig gegenüber einem rein »sozial prädeterminiert[en]« Individuum (Di Fabio 1991, 161). In der systemtheoretischen Charakteristik heisst dies: »Unser Argument ist: dass die überschneidungsfreie Separierung der jeweils geschlossenen Systeme eine Voraussetzung ist für strukturelle Komplementarität, also für das gegenseitige Auslösen (aber eben nicht: Determinieren) der jeweils aktualisierten Strukturwahl.« (Luhmann 2001b, 123; Hervorhebung S. B.)

Es ist letztlich diese (bei beiden Soziologen meist zwischen den Zeilen ausgesprochene) Vorsicht gegenüber einer zu einseitigen Betrachtung, welche die Spannung(sverhältnisse) auch bei Luhmann aufrecht erhält. Zuletzt agieren (auch) Luhmanns Menschen »nur noch in Handlungssystemen [. . . ], die über Kommunikationsmedien organisiert sind.« (Di Fabio 1991, 166) Die Ambivalenz liegt dann darin, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nicht mehr in die eine oder andere Richtung radikalisiert wird. Die Auswirkungen auf die Soziologie sind nicht zu unterschätzen: »Die gesellschaftstheoretische Konstruktion des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft ist dabei so basal für die Selbstbeschreibung des Individuums und die Beschreibung der Gesellschaft, dass sie immense Ausstrahlwirkungen hat. Rekonstruktionen an diesem Verhältnis haben dementsprechend praktische Wirkungen, die [. . . ] nicht leicht und vor allem nicht schnell wahrzunehmen sind.« (Di Fabio 1991, 177)

Zu diesen Wirkungen zählt beispielsweise auch die Verschiebung von Fremdreferentialität zu Selbstreferentialität (der Systeme), die als typische Wirkung der Moderne angesehen werden kann. An diese Aussage schliesst sich eine Forderung an, die im Folgenden vertieft werden soll. Im Zentrum steht die Frage, ob die Zeit einer weiteren »Steigerung einer bloss negativ verstandenen Freiheit von staatlichen oder gesellschaftlichen Begrenzungen« abgelaufen sei, und es im Rahmen der Auseinandersetzung um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nicht viel eher Sinn macht, »gemeinsame Anstrengungen [zu unternehmen], [um] Lebensmöglichkeiten für alle zu erhalten, die Voraussetzungen individueller Selbstverwirklichung darstellen.« (Di Fabio 1991, 178) Um es deutlich darzustellen: es geht hier weder um politische Lösungen noch um Gesellschaftskritik; zeitdiagnostische Aussagen wie jene, die im Anschluss folgen, sind deshalb von Interesse, weil sie auf das Verhältnis hinweisen, unabhängig einer möglichen oder auch tatsächlichen gesellschaftlichen oder auch gesellschaftswis-

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Spannungsverhältnisse

senschaftlichen Lösung.18 Soziologische Aufklärung habe durchaus auch die Aufgabe, eine »Semantik« zu liefern, »die soziale und psychische Komplexität in Richtung Verstehbarkeit der Welt reduziert.« (Di Fabio 1991, 179) Obschon die vorliegende Arbeit auch drei Praxisfälle an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft diskutiert, will sie in erster Instanz eine theoretische Antwort, ein theoretisches Verständnis dieses Verhältnisses liefern. Es geht also weniger um die Frage, »wie sich im einzelnen das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft rekonstruieren lässt« (Di Fabio 1991, 179 f.; Hervorhebung S. B.), sondern vielmehr wie es sich generell aus einer erweiterten soziologischen Sicht rekonstruieren lässt (d. h. in dem Bewusstsein, dass eine Beschreibung der Selbstbeschreibung des Forschungsgegenstands stattfindet, von dem der Soziologe selbst Teil ist und womit dieser weitgehend »(mit)erzeugt«, was zu beschreiben er sich anschickt). Stellt sich also die Frage, wie weit man dafür gehen muss: »Die soziale Integration, die Vergesellschaftung als das ewige Thema soziologischer Theorie, muss vor diesem Hintergrund radikal neu formuliert und kategorial gefasst werden. Die praktischen Entwicklungsabläufe sind es, die über alle theoretischen Immanenzen hinweg nach einer Neuformulierung der Relation von Individuum und Gesellschaft verlangen.« (Di Fabio 1991, 182)

Darin liegt auch die Hoffnung, dass die Soziologie ihr Gesellschaftsbild mit der schneller voran eilenden Realität abgleichen kann. Ein solches theoretisches Erklärungsmodell, das sich in einem weiteren Schritt vertieft auf praktische Entwicklungsabläufe abtragen liesse, ist Ziel der späteren Konzeption. Niklas Luhmann scheint hier am entschiedendsten vorgeschritten zu sein, »wenn er psychische und soziale Systeme [. . . ] als prinzipiell unfähig ansieht, sich vollständig zu verstehen oder gar kausal zu steuern.« (Di Fabio 1991, 194) Eine wirkliche Antwort scheint aber auch er schuldig zu bleiben: »Die Gesellschaft ist, obwohl weitgehend aus Interaktionen bestehend, für Interaktion unzugänglich geworden.« (Luhmann 1987b, 585) Wenn, wie hier zum Ausdruck 18 | Zwei der gewählten Schriften zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft treten deutlich als »Abrechnung« mit der Gesellschaft hervor (zum einen Klugermann (1987), der sich für eine Aussenseiterposition einsetzt und zum anderen Hofbauer (2005), der sich zum Unbehagen gegenüber einer Gesellschaft äussert, in der er sich nicht zurechtfindet und die er als absurd empfindet), wobei diese »persönlichen« Aspekte in meiner Betrachtung weitestgehend ausgeklammert werden. Als durchaus berechtigter Teil einer (kritischen) Gesellschaftswissenschaft soll diese Ausprägung hier benannt werden. Es handelt sich vor allem um Feststellungen im Umfeld einer negativ bewerteten Individualisierung, d. h. vor dem Hintergrund jener Individuen, »die unter der Zunahme individueller Entscheidungsnotwendigkeiten leiden und Kontingenzen nicht dauerhaft verarbeiten, d. h. in ihre eigene Persönlichkeitsstruktur implementieren können« und die zum »Risikopotential moderner Gesellschaften« werden, sei es durch psychische Störungen oder Devianz (Di Fabio 1991, 181).

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8.3

Zwischen Individuum und Gesellschaft

kommt, soziale Systeme nicht in der Lage sind, (die Funktion der klassischen und uniformen Vernunft/Rationalität zu emulieren und dadurch) die Einheit der Gesellschaft zu repräsentieren, dann wird es für das psychische System (das Individuum) zunehmend schwierig, Anschluss zu finden. Luhmanns Hilfeleistung zu dieser problematischen Vermittlung wird an anderer Stelle diskutiert (siehe Kapitel 9.3). Vorab sollen einige andere Antworten auf dieses Vermittlungsproblem beleuchtet werden.

8.3 Zwischen Individuum und Gesellschaft Obgleich die vorherigen Auseinandersetzungen gezeigt haben, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ein spannungsgeladenes Verhältnis ist, das sich »praktisch« als Verhältnisse auswirkt, ist wissenschaftstheoretisch wenig zur Aufklärung geleistet worden. Folglich soll ein Blick auf mögliche Wirkungen zwischen den beiden Polen geworfen werden. Dabei zeigt sich sogleich: Eine Zusammenschau der Zusammenhänge und der Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft scheint ein schwieriges Unterfangen zu sein. Es sind die vielfältigen »Hintergründe und Motive, Strukturen und Prozesse«, die ein Nachdenken erfordern, das unter den Bedingungen der Komplexität und den Forderungen nach Ganzheitlichkeit erschwert wird (vgl. Zapotoczky 2004, 7 ff.). Gerade die Forderung nach »plurikausale[n] Ansätze[n] und Kooperationen von verschiedenen Wissenschaften« ist vor dem Hintergrund institutioneller Hinderungen und eingeschränkter Denkweisen kaum einzulösen. Eine massgebliche »Problematik in den Sozialwissenschaften liegt in der Erfassung dieser multidimensionalen Vorgänge«, d. h. der Leistung, ein Entwederoder-Denken durch ein Prozess-Denken und eine Sicht auf Gesamtzusammenhänge abzulösen (Zapotoczky 2004, 14). Zudem tritt von aussen hinzu, dass es »in einer sogenannten pluralistischen Gesellschaft schwerer [wird], den Ort gesellschaftlicher Entscheidungen zu fixieren« (Zapotoczky 2004, 19) und damit auch den Ort der Beschreibung innerhalb dieser Gesellschaft. Das »Zwischen« von Individuum und Gesellschaft ist oberflächlich deshalb gegeben, weil die Elemente der gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen (Verhaltens-/Muster, Handlungs-/Rollen und Sozial-/Beziehungen) von Individuen getragen werden. Soll dieses Verhältnis nun näher beleuchtet werden, dann hilft weder eine Definition, gemäss der die Soziologie Gleichförmigkeiten im zwischenmenschlichen Verhalten durch geltende, soziale Normen erklären, noch jene, nach der sie die gesellschaftlichen Strukturen und Funktionen erkennen will (vgl. Zapotoczky 2004, 27 ff.). Weder die normativ-rationale

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Spannungsverhältnisse

noch die strukturell-funktionale Herangehensweise scheinen in der Lage, das »Zwischen« anzugehen; darauf haben bereits die vorhergehenden Ausführungen hingewiesen, vor allem jene zur Komplexität und den Bezügen zu anderen Disziplinen. Eine mögliche Strategie zur Komplexitätsreduktion ist die Aufteilung in mehrere Ebenen gesellschaftlicher Zusammenhänge (siehe Tabelle 1).19 Tabelle 1: Strukturen und Ebenen des Sozialen

5 4 3 2 1 0

Struktur

Ebene

Welt-/(Zivil-)Gesellschaft (Gesamt-)Gesellschaft Teilsystem Gruppe/Organisation Rolle/Sozialisation Individuum

International/Global National (?) Funktional Regional (?) Sozial Personal

In demselben Masse, in dem eine solche Gliederung Übersicht schafft, erzeugt sie auch neue Probleme. Darin zeigen sich einerseits historische Begebenheiten und Veränderungen – können wir im Zusammenhang mit Gesellschaft noch von »national«, im Zusammenhang mit Gruppen von »regional« sprechen? – und andererseits die Rahmenbedingungen der Umwelt (Natur) und der Kultur, die nicht ausreichend abgebildet werden können. Zudem äussert sich Skepsis gegenüber der Bezeichnung Gruppe (vgl. Zapotoczky 2004, 88 f.), die direkt an die erste Problematik anschliesst. Ich stelle deshalb an anderer Stelle die Frage, ob nicht besser von Netzwerk gesprochen werden sollte. Weltgesellschaft (siehe Seite 264) und Zivilgesellschaft wurden aus reiner Verlegenheit und Gründen der Vollständigkeit auf Ebene »5« gestellt, befriedigen aber weder in ihrer (problematischen) Anlage noch in dieser Position (vor allem die Zivilgesellschaft müsste als Metakategorie ausserhalb stehen, darf jedoch als globales Phänomen aufgefasst werden). Für die vorliegende Arbeit, so gibt es bereits der Titel vor, muss das Individuum als »singuläres Wesen« angenommen werden, damit es der Gesellschaft entgegengestellt werden und so überhaupt ein Dazwischen auftreten kann. Da dieses Individuum forschungspraktisch immer schon als ein »soziales Wesen« angenommen werden darf, findet im Übergang von Ebene »0« zu Ebene »1« die Transformation zum sozialen Individuum statt (siehe auch Kapitel 4.5). In der Tabelle 19 | Die Grundstruktur für diese Tabelle wurde von Zapotoczky (2004, 60 ff.) übernommen. Dabei wurden einige Begriffe verändert und die Ebene »0« wurde hinzugefügt.

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8.3

Zwischen Individuum und Gesellschaft

spiegelt sich erneut die Unterscheidung in Mikro- und Makroebene des Sozialen wider. Eine abschliessende Antwort über das »Zwischen« kann sie – wie wohl jedes Modell (vgl. Zapotoczky 2004, 73 f.) – nicht liefern. Dennoch zeichnet sich immer stärker ab, was durch die Soziologiegeschichte hindurch gefordert wie kritisiert wurde: dass wir es mit einer allgemeinen Soziologie zu tun haben. Wenn wir dennoch eine Tabelle wie die oben stehende als Ausgangspunkt nehmen wollen, dann treffen wir unversehens auf die »soziale Stellung« des Menschen in der Welt. Dabei geht es weder um Schichtung noch um soziodemographische Attribute, sondern um die Unterscheidung von zugeschriebenem und erworbenem Status auf einem abstrakten, theoretischen Niveau (vgl. Zapotoczky 2004, 80 f.). In einem vergleichbaren Kontext kann gezeigt werden, dass die Debatte um das »soziale Kapital« eigentlich für die »Bedeutung des Sozialen an sich« steht und für das »zentrale [und unbeantwortete] Problem des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft« eintritt (Euler 2006, 16, 125). In der Entgegensetzung von Individualismus und Holismus sollen Unvereinbarkeiten und allfällige Gemeinsamkeiten aufgedeckt werden. Dabei geht ein solches Vorgehen von der Annahme aus, dass sowohl der ökonomisch-rational handelnde (homo oeconomicus), als auch der fremdbestimmt-soziologische Mensch (homo sociologicus) nicht konstruktiv genug seien und deshalb verbunden werden müssten (vgl. Euler 2006, 6). Auch hier wird darauf abgestellt, »dass sowohl [das] Individuum als auch das gesellschaftliche Ganze nicht ohne das jeweils andere möglich ist.« (Euler 2006, 7) Dieser Logik folgend, kann soziales Kapital weder eindeutig dem Individuum als Ressource noch der Gesellschaft als kollektives Phänomen zugeschrieben werden (vgl. Euler 2006, 33 ff., 49 ff.). Soziales Kapital oder Sozialkapital definiert als sozialer Zusammenhalt die soziale Stellung des Individuums innerhalb der Gesellschaft. Das Konzept »Sozialkapital« entstammt der Kommunal- und Stadtplanung und fand seinen Eingang in den sozialwissenschaftlichen Diskurs über die Stadtsoziologie; es hat sich jedoch von Anbeginn auf die »Ausbildung von Gemeinschaftsgefühl und Beziehungsnetzen« besonnen (Euler 2006, 11 f.). Dabei zeigen sich die netzwerktheoretischen Implikationen dieses Ansatzes (vgl. Euler 2006, 37 f.). Zu den bekannten Vertretern innerhalb der Sozialwissenschaften zählen Pierre Bourdieu und Robert Putnam. Für Bourdieu ist soziales Kapital »die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen [einer Gruppenzugehörigkeit], die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von [. . . ] Beziehungen [. . . ] verbunden sind« (zit. in Euler 2006, 65). Putnam versteht darunter »features of social life – networks, norms, and trust – that enable participants to act together more effectively to

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pursue shared objectives«, mehr noch »that can improve the efficiency of society by facilitating coordinated actions.« (zit. in Euler 2006, 52; Hervorhebung S. B.) Trotz dieser Vorarbeiten verfügen wir gleichfalls über keine einheitliche Definition des Begriffs Sozialkapital (vgl. Euler 2006, 14 f.). Für die vorliegende Diskussion spielt dies allerdings keine Rolle, da bereits aus den zwei gelieferten Bestimmungen hervortritt, dass es sich bei Sozialkapital um »eine Metapher für die Bedeutung des Sozialen schlechthin« handelt (Euler 2006, 15), wobei das Soziale für jenes Zusammenwirken steht, das bei Bourdieu wie Putnam enthalten ist. Dieses Konzept verlangt danach, den »Stellenwert des ›Sozialen‹ radikal zu [hinter]fragen« (Keupp zit. in Euler 2006, 18) und verfügt gleichsam über einen negativen wie konstruktiven Charakter. Letzteres erlangt es durch vorheriges und zwar vor allem deshalb, weil die Akteure »durch ihr individuelles Handeln unbeabsichtigt auch die gesellschaftlichen Makrophänomene wie z. B. Strukturen oder Normen« schaffen (Euler 2006, 31). Diese Bestimmung ist auch aus anderem Grund zentral: Wie die Akteure in der Selbstbeschreibung etwas zusätzliches erzeugen, erzeugt die Beschreibung der Selbstbeschreibung ebenfalls ein Nebenprodukt: Die Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft. Damit gelangen wir dorthin zurück, wo die Paradoxie der Soziologie ihren Ausgang nahm (siehe Seite 48). Es braucht diese Gegenseite und das hat gerade das negative Konzept Sozialkapital, das hier inhaltlich nicht interessiert, eingeschrieben. Es ist deshalb konstruktiv, weil es auf das Netzwerk hinweist und damit auf eine Konstruktion des Sozialen, welche keiner rigiden Struktur mehr entspricht. Zudem gelangt zum Ausdruck, dass soziales Kapitel immer Struktur und Handeln verbindet (vgl. Lin 2001). Die frühe Netzwerkanalyse bezeichnete ihr Objekt noch als »soziales Feld« (Euler 2006, 72) und wies damit in eine spezifische Richtung, die sich fruchtbar nutzen lässt. In beiden Fällen bestimmen die Interaktionen und Beziehungen der Akteure die Eigenschaften des sozialen Netzwerks oder Felds.20 Das Netzwerkkonzept darf »als Brückenkonzept [verstanden werden], das die Lücke zwischen dem strukturellen Rahmen und dem individuellen Handeln schliessen kann.« (Euler 2006, 74) Dann müsste auch das Sozialkapital in gleicher Weise als netzwerktheoretisches Konstrukt verstanden werden. Es müsste zwischen Individualismus – d. h. dem selbstbestimmten und an eigenem Nutzen orientierten Menschen sowie der »theoretische[n] Unmöglichkeit überindividueller Muster« – und Holismus – d. h. den Menschen, die Eigenschaften nur »im Ganzen« haben und über »keine eigene, unabhängige Existenz, keine autonome Kontrolle über ihre Aktionen« 20 | Auf den funktionalen Nutzen des Netzwerkbegriffs ist deshalb zurückzukommen (siehe Seite 297).

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8.3

Zwischen Individuum und Gesellschaft

verfügen (Euler 2006, 84, 92) – vermitteln können. Es müsste als »Ausdruck für die Beilegung der jahrhundertealten Auseinandersetzung« zwischen diesen beiden Polen gesehen werden (Euler 2006, 94). Eine genauere Analyse würde allerdings zeigen, dass dies nicht der Fall ist und nicht der Fall sein kann: »Der umfassendste und tiefstgreifende Zwist zwischen der Gesellschaft und dem Individuum scheint mir nicht auf einen einzelnen Interesseninhalt zu gehen, sondern auf die allgemeine Form des Einzellebens. Die Gesellschaft will eine Ganzheit und organische Einheit sein, so dass jedes ihrer Individuen nur ein Glied ist [. . . ]. Allein gegen diese Rolle sträubt sich der Einheits- und Ganzheitstrieb, den das Individuum für sich allein hat. Es will in sich abgerundet sein und nicht nur die ganze Gesellschaft abrunden helfen [. . . ]. Dieser Widerstreit zwischen dem Ganzen, das von seinen Elementen die Einseitigkeiten der Teilfunktion fordert, und dem Teil, der selbst ein Ganzes sein will, ist prinzipiell nicht zu lösen« (Simmel 1917, 69).

Darin beschreibt Georg Simmel, was als ontologische Dichotomie von Individuum und Gesellschaft bezeichnet werden könnte (vgl. Meßner 1998, 9). Obgleich Simmel den Begriff Sozialkapital nicht verwendet, kann er doch als netzwerktheoretischer Vorläufer angesehen werden. Schon früh hat er das Potential einer solchen Sichtweise für diese dichotomische Problematik erkannt (vgl. Scott 1988). Schliesslich stellt sich das Problem, dass weder »die Auflösung sozialer Makrophänomene und letztlich der Gesellschaft« noch »die Negation individuellen Lebens« möglich sind (Euler 2006, 125), eine Entscheidung für das eine oder das andere also hinfällig wird. Wie Gesellschaft und Individuum getrennt bleiben, so bleiben auch »Soziales« (Holismus) und »Kapital« (Individualismus) des Begriffskonstrukts »soziales Kapital« getrennt (vgl. Euler 2006, 94). Was sich in diesem ökonomischen Diskurs allerdings darlegt, ist der spürbare Zwang, die zwei Pole dennoch zu verbinden (vgl. Zelizer 2005).21 In der Ausweitung eines »interpretativen Paradigmas« (siehe Seite 123), in welcher die Interpretation beiden Seiten zugebilligt wird, könnten Individuum und Gesellschaft verbunden werden. Ausschlaggebend ist, dass »jede Unterscheidungsbeziehung zuerst einmal als vorteilhaft, für Nehmer und Geber einer Startleistung, betrachtet wird«, da sie sich so gegenseitig konstituieren. Es handelt sich »um eine direkte, zeitgleich erfolgende Gegenleistung für jegliche Form der Startleistung – sei es soziale Anerkennung, eine Geste, eine verbale Äusserung oder ein materielles Gut.« (Euler 2006, 21 | In dem herangezogenen Diskurs soll dies mithilfe des »Interpretationismus« erreicht werden, d. h. durch neuere interpretationstheoretische Ansätze in der Philosophie (vertreten durch Hans Lenk und Günter Abel). Ich folge dieser Linie nur dort, wo sie unmittelbar an meinen eigenen Ansatz – d. h. an (Selbst-) Beschreibung und interpretatives Paradigma – anschlussfähig ist (vgl. Euler 2006, 97 ff.).

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114) Aus der ökonomischen in eine soziologische Sprache übersetzt, vollzieht sich die gegenseitige Interpretation – und damit Herstellung wie Unterhalt von Sozialkapital und Netzwerk – über »Zuweisung« und »Einbindung« und in Unterscheidung zu anderen Interpretationen (vgl. Euler 2006, 146, 109).22 Dabei versteht sich von selbst, dass jegliche Kommunikation, verstanden als Selektions- oder Sinnprozess, ins Zentrum rückt (vgl. Euler 2006, 118). Soziales Kapital ist dann jene »andere Interpretation, die die zu interpretierende soziale Einheit (Individuum oder soziales Makrophänomen) zu genau dieser Einheit macht.« (Euler 2006, 126; Hervorhebung wurde weggelassen) Es ist belanglos, »ob am Ende die Gesellschaft oder das Individuum übrig bleibt, sondern [es geht] nur noch darum, wie die entsprechenden Begriffe [d. h. Interpretationen] und Beziehungen gestaltet werden.« (Euler 2006, 129) Damit bleibt zwar das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft weiterhin als solches bestehen und ungelöst, d. h. weiterhin Thema und Problem der Soziologie, aber zumindest rückt die Frage nach dem »wie« in den Vordergrund; das Individuum wird (erneut) zu einem sozialen Individuum. Das »Zwischen« ist dadurch auf beiden Seiten zu finden, womit die Vermittlung wieder in den Blick gerät. Eine eigenständige Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft beschreiben so genannte »carrier«, Träger zwischen den beiden Seiten, die auf der Idee beruhen »that the socially valid meanings of symbols come from a consensus« (Karl Pribram im Vorwort zu Moghaddam 2002, xi). Obgleich diese Träger ausschliesslich gedanklicher Natur sind (und Religion dabei keine Erwähnung findet), zeigen sich geringfügige Parallelen zum eigenen Ansatz. Dies beruht insbesondere darauf, dass argumentiert wird, »meaning, rather than cause, is central to understanding human behavior.« (Pribram in Moghaddam 2002, xii) Die Bedeutung erhält auch hier eine zentrale Funktion in der Vermittlung. Die hauptsächliche Funktion dieser Träger sei es, »to sustain ways of life and, ultimately, to bolster the continuation of societies.« (Moghaddam 2002, 109) Als wichtigste Träger der Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft dürfen angesehen werden: Macht, Gesetz, Liebe und Stereotypen.23 Dieser Ansatz ist 22 | Bei »Zuweisung« handelt es sich um meine Bezeichnung, die anstelle der als zu eng empfundenen »Zuschreibung« verwendet wird (vgl. Euler 2006, 151). In der bedingenden Unterscheidung dürften wir die an anderer Stelle genannte »Philosophie der Anerkennung« wiederentdecken (siehe Kapitel 6.1), zudem offenbart sich die schon netzwerktheoretisch gegebene Nähe zur Systemtheorie. Ferner scheint in dieser Beschreibung bereits durch, was später als »emergentes Handeln« entwickelt werden soll (siehe Kapitel 11). 23 | Welche weiteren Bereiche in Frage kommen könnten, veranschaulicht ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der entsprechenden Abhandlung (Moghaddam 2002). Die Kapitelüberschriften wurde aus Gründen der Lesbarkeit angepasst und

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Zwischen Individuum und Gesellschaft

getrieben von der spezifischen Auseinandersetzung innerhalb des Verhältnisses. Deshalb lässt sich naiv (oder doch nicht so naiv) fragen: »How is it that individuals grow up to be independent beings with private thoughts and feelings, yet also become integral parts of society?« (Moghaddam 2002, xiii) Damit geht einher, dass die dynamische Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft nicht jene Aufmerksamkeit geniesst, die ihr zustehen würde. Die »carrier« weisen darauf hin, dass Aspekte der Mikroebene, wie Alzheimersche Krankheit und Depression, beeinflusst werden vom grösseren sozialen Kontext, während die gesellschaftliche Makroebene im Gegenzug immer wieder durch invididuelles Verhalten geprägt wird. Damit verbindet sich die Anstrengung nach einem Verständnis – nach dem »wie« – dieser Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft. In Anthony Giddens wird ein Soziologe gesehen, dem es am ehesten gelingt »to fill in the gap between the macrosociology level of major institutions and the microsociology level of individual actors.« (Moghaddam 2002, 6) Während sich die erstgenannte Soziologie nicht um individuelle Tätigkeit oder Handlungsfähigkeit (agency) kümmert und diese als von gesellschaftlichen Kräften gesteuert sieht (siehe Seite 305), scheint sich die zweite nicht ausreichend mit der Stabilität und Unabhängigkeit sozialer Strukturen zu beschäftigen. Obgleich also Giddens Individuum und Gesellschaft in einem »continual process of mutual influence and change« sieht, mangle es dieser soziologischen Theorie an einer adäquaten Aufmerksamkeit gegenüber »individuallevel processes« (Moghaddam 2002, 7).24 Dieser Beschränkung oder mangelnden Durchlässigkeit soll mit der Einführung der »carrier« begegnet werden. Dabei handelt es sich um jene Mittel, durch welche die Ausdrucksweisen des sozialen Denkens und Tuns erhalten und innerhalb bestimmter Kontexte weitergegeben werden (vgl. Moghaddam 2002, 8).25 Es werden zwei Typen unterschieden: ergänzt; die direkt übernommenen »carrier« sind hervorgehoben: 1. Politische Revolution (Macht), 2. Rechte und Pflichten (Gesetz), 3. Soziale Klasse (Spezialfall USA), 4. Frieden (und Krieg, Konflikt), 5. Geschlechterbeziehungen, 6. Romantische Liebe, 7. Persönlichkeit (Charakter), 8. Intelligenz und soziale Ordnung, 9. Gedächtnis, 10. Menschliche Entwicklung (Stufenmodelle, Sozialisation), 11. Essstörungen (Ideale Schönheit), 12. Depression, 13. Alzheimersche Krankheit (Stereotypen). 24 | Diese Kritik ist vor dem Hintergrund der obenstehenden Gliederung zu lesen (siehe Fussnote 23), die vor allem in der zweiten Hälfte äusserst »individuell« angelegt ist (also nicht nur soziale Klasse, Geschlecht und Rasse umfasst, sondern auch Depression, Gedächtnis und Intelligenz). 25 | »Carriers serve a purpose, and when they fail to do so they can be adapted or completely discarded. Consider, for example, bra burning as a carrier incorporated into the women’s movement in the 1960s, or the Afro haircut that served as a carrier in the African-American movement in that era. Both of these have been abandoned, because they are no longer effective today.« (Moghaddam 2002, 233)

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»Symbolic carriers stand for something, usually values and beliefs. They can be physical objects, such as a flag, or they can be conceptual constructs, such as ›nationalism‹ [. . . ]. Even more detailed instructions about how to behave are passed on by control carriers, which include both formal laws [z. B. Einwanderungsgesetze] and informal rules regulating behavior [z. B. Normen und Rollenverhalten].« (Moghaddam 2002, 8 f.)

Damit sind wir erneut auf die Bedeutung der sozialen Rolle zurückverwiesen, die hier jedoch eine Erweiterung findet. Während »symbolische Träger« den Verhaltensbestand durch physische Symbole und konzeptuelle Konstrukte unterstützen, sind die »Kontrollträger« restriktiver im Umgang mit der kulturellen Überlieferung. Ihre Widerstandskraft erhalten diese Träger, weil sie sozial sind und wechselseitig aufrechterhalten werden (vgl. Moghaddam 2002, 9). Sie bilden die Grundstruktur andauernder sozialer Beziehungen und nehmen zugleich eine bedeutsame Rolle in den individuellen Wahrnehmungen ein: »All carriers involve cognitive and affective components, knowledge and feelings. [. . . ] In practice, the emotional components of carriers are often the most important.« (Moghaddam 2002, 10) Folgende Beispiele legen dies nahe: »Flags, the crucifix, sports club emblems, the mullah’s turban, the business suit and tie, the judge’s formal robe, the scientist’s white laboratory coat, national anthems – like a caravan that has its source in some mysterious distant time and place, such carriers combine to weave the individual into an intricate fabric of meanings and to enable the individual to join the caravan on the next part of the journey.« (Moghaddam 2002, 10; Hervorhebung S. B.)

Obleich der Fokus von Bedeutung hier immer im Sinne einer »Integration« in das komplexe Bedeutungsgewebe gelesen und an das Individuum herangetragen wird – vergleichbar mit der Einbindung durch soziales Kapital –, scheint dieser Ansatz fruchtbar. Nicht zuletzt, weil es sich auch hier um einen doppelseitigen Prozess handelt. Das Individuum ist Teilnehmer in sozialer Interaktion und zugehöriger Bedeutungskonstruktion, wobei es in das soziale Geflecht integriert wird. Zugleich gelangt das Individuum in Berührung mit den gesellschaftlichen Bedeutungssystemen und dadurch wird Gesellschaft in die Individuen integriert. Während zum einen die Teilnahmefähigkeiten gegeben sein müssen, ist zum anderen vor allem die Ausdrucksweise des Umgangs entscheidend (vgl. Moghaddam 2002, 11 f.). Es geht dann nicht mehr um das blosse »wie« der Wahrnehmung und Bedeutungszuweisung (kausale Beschreibung), sondern um das »warum« (normative Beschreibung). Ausdrucksweise bezieht sich in diesem Verständnis »to the way in which behavior is carried out and the mean-

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8.3

Zwischen Individuum und Gesellschaft

ing it is given.« (Moghaddam 2002, 12, vgl. 15) Es ist wiederum die Bedeutung, welche eine Integration leistet. Eine solche integrierte Sicht auf Individuum und Gesellschaft behandelt den kontinuierlichen Wandel und die Komplexität, der beide Seiten unterworfen sind.26 Typen des Wandels rücken deshalb ins Zentrum einer »integrativen« Betrachtung (Moghaddam 2002, 17). Zusammenfassend lässt sie sich schildern als »a cultural integration of the individual and society, giving particular importance to what I have termed carriers, things ›out there‹ in the social arena that perpetuate particular behavioral styles, and their role in regulating social behavior. The concept of carriers becomes particularly powerful in explaining continuity when it is coupled with a distinction between two types of performance: performance capacity, continuities arising from physical barriers to change, and performance style, continuities in the ways in which people do things and the meaning they give to events. My purpose is to highlight the importance of carriers that perpetuate performance style, leading to continuities in the way things are done and meanings are ascribed.« (Moghaddam 2002, 17 f.)

Diese »carrier« sind beschrieben als »transporters of meaning; they are containers into which people load values, beliefs, faith, and the like.« (Moghaddam 2002, 225) Zugleich der Sphäre des Individuums und der Gesellschaft zugehörig, vermitteln sie zwischen beiden. Als besonderes Beispiel, ohne dies allerdings näher auszuführen, darf die Kontinuität religiöser Aktivitäten genannt werden, die im christlichen Kreuz Ausdruck findet. Während das Zeichen selbst öffentlich ist, behält jedes Individuum eine eigene Repräsentation davon, weist ihm jedes Individuum eine eigene Bedeutung zu (vgl. Moghaddam 2002, 227). Kurz, »[t]he concept of carrier guides us to look to the larger, shared, collaboratively constructed social world for explanations of human behavior.« (Moghaddam 2002, 225) Der Einbezug beider Seiten hat einen weiteren Vorteil. Durch ihn lässt sich Reduktionismus überwinden und damit jene Kraft, die »to an almost complete neglect of the context and the larger world of meaning in which human behavior takes place« geführt hat (Moghaddam 2002, 225). Weil immer wieder der Rückbezug auf das grössere Ganze erfolgt, minimiert sich die Gefahr, sich in Details zu verlieren.27 Anstelle von Reduktionismus 26 | »The exploration of carriers enables us to better unravel how even seemingly ›trivial‹ choices, such as deciding between ballet and modern dance classes for a child, are sometimes made with very important and large-scale issues in mind.« (Moghaddam 2002, 223) 27 | »The concept of carriers highlights the importance of the collaboratively constructed world outside the individual: the shared culture into which individuals enter and which they help to shape.« (Moghaddam 2002, 228) »The exploration of carriers highlights the fluid, dynamic, and evolving nature of the collaboratively

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und der Tendenz, sich zu stark auf kausale Faktoren innerhalb des Individuums einzulassen, plädiert dieser Ansatz dafür, die Aufmerksamkeit auf »carriers and the collaboratively constructed social world outside the individual« zu lenken (Moghaddam 2002, 231), auf die Bedeutungsträger einer gemeinsam konstruierten Sozialität. Die beschriebenen Träger sind mit den »symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien« in Niklas Luhmanns Systemtheorie vergleichbar. Als Ergänzung zur Sprache machen diese Medien die ansonsten als unwahrscheinlich angenommene Kommunikation, d. h. »die Übertragung von Selektionsleistungen« (Di Fabio 1991, 150), wahrscheinlicher. In einer Theorie wie dieser, welche »die soziale Integration nicht mehr konstitutiv über individuell verankerten Wertekonsens gesichert sieht«, stellt sich die Frage, wie »sowohl im Verhältnis unmittelbar von Person zu Person als auch im Verhältnis vom Individuum zum sozialen System der Aufbau von Ordnungen möglich ist.« (Di Fabio 1991, 150) Darin zeigt sich nochmals die Nähe zum »carrier«; ferner wird eine Verschiebung sichtbar, in welcher die klassischen Annahmen zum Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft in Frage gestellt und – wie schon im Zusammenhang mit dem Sozialkapital – neue Lösungen gesucht werden müssen. Als Antwort werden diese Kommunikationsmedien vorgebracht, die individuelles Handeln dahingehend steuern, dass soziale Systeme aufgebaut und gesichert werden können; zu ihnen zählen u. a. Geld, Macht, Wahrheit, Werte und Liebe.28 »Auf sehr verschiedene Weise und für sehr verschiedene Interaktionskonstellationen geht es in all diesen Fällen darum, die Selektion der Kommunikation so zu koordinieren, dass sie zugleich als Motivationsmittel wirken, also die Befolgung des Selektionsvorschlages hinreichend sicherstellen kann.« (Luhmann 1987b, 222)

Das Medium ist also nicht bereits die Selektion, sondern stellt eine Regel zur Verfügung, mit der weiter verfahren und Anschluss gesucht werden kann. Dabei liegt die Leistung dieser Medien in ihrem Verhältnis zu Sprache und Sinn. Während »Sprache« weitere Möglichkeiten aufbaut, dient Sinn dazu, die entstandene Komplexität zu reduzieren. Diese Eigenschaften verbinden Sozialkapital, »carrier« und Kommuni-

constructed social world outside the individual.« (Moghaddam 2002, 233) Ein solcher Schutz vor dem »sich in Details verlieren« findet sich schon bei Georg Simmel (siehe Kapitel 9.1). 28 | Obschon es in der Thematik zwischen Individuum und Gesellschaft weniger interessiert, weist gerade das letzte Medium auf die »Verhältnisse der Interpenetration und Bindungen [. . . ] zwischen Menschen. Die Komplexität eines Menschen wird für einen anderen von Bedeutung und umgekehrt.« (Luhmann 1987b, 303)

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8.4

Wozu Philosophie?

kationsmedien und weisen ihnen eine Position zwischen Individuum und Gesellschaft zu.

8.4 Wozu Philosophie? Die nachfolgende Betrachtung schliesst nochmals an die Frage an, weshalb zur Klärung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft eine Philosophie viel tauglicher zu sein scheint als eine Soziologie. Während schon die beschriebenen Soziologien des Individuums massgeblich auf philosophisches Denken aufbauen, zeigt sich viel von diesem Denken auch in den zuvor beschriebenen »Elementen« zwischen Individuum und Gesellschaft. Damit nicht genug, werden im Folgenden zwei Sichtweisen zusammengefasst, die wiederum der Philosophie entstammen. Besonders auffällig ist dabei eine Sichtweise, die das Thema um Individuum und Gesellschaft als »Klischee« behandelt. Dies ist zum Teil darin begründet, dass »Bewusstwerdung immer schon durch Gesellschaft vermittelt [ist], nämlich eingegossen in und reguliert durch jene Formen vernünftigen Sprechens und Handelns, die eine Gesellschaft in ihren Institutionen verbindlich vorgibt [. . . ]. Wir können über die Beziehung zwischen dem, was wir uns vorstellen, und dem, was wirklich ist, nur sagen, dass eine solche Relation notwendig ist und dass sie keine Beziehung der Identität ist.« (Meßner 1998, vi; Hervorhebung S. B.)

Das Verhältnis wird von einer anderen Seite her fragwürdig, weil Individuum und Gesellschaft nicht zusammenfallen. Was im Prinzip banal klingt, stützt hier als Aussage die vorherigen Äusserungen zu dem Verhältnis. Es macht das Verhältnis zu Verhältnissen, weil viele individuelle Vorstellungen einer gesellschaftlichen Wirklichkeit entgegenstehen. Was diese Auseinandersetzung an die früheren zurückbindet, ist der darin bezeichnete Übergang vom Individuum zum Subjekt. 29 Diese Auseinandersetzung geht vom Problem der Intersubjektivität aus und berücksichtigt, dass »die Moderne, wenn sie den Blick auf den Menschen als Subjekt lenkt, zunächst nicht vom transzendentalen Subjekt spricht, sondern vom Individuum im politisch-rechtlichen Sinn« (Meßner 1998, ix). Der anschliessende kritische Einwand erfragt, ob es möglich sei, »die Frage, ob der wirkliche, konkrete Mensch für die Konstitution des Sozialen theoretisch von Belang ist, von vorne29 | Die vorstehende Formulierung zur Wirklichkeit darf hier nur im Sinne einer heuristischen Vereinfachung verstanden werden. Es darf bezweifelt werden, dass es diese eine Wirklichkeit gibt. Der historische Streifzug durch die Philosophiegeschichte, anhand dessen der genannte Übergang erarbeitet wird, soll hier nicht wiederholt werden (vgl. Meßner 1998, 17 f.).

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Spannungsverhältnisse

herein aus[zu]schliessen.« Diese philosophische Tendenz wird hier in die Sozialwissenschaft rückgeführt, unter anderem durch die Frage, ob das Soziale historisch vom Subjekt her zu bestimmen sei. Ausgangspunkt dieser philosophischen Befragung ist die »Beschreibung jenes zentralen Klischees, in dem die Moderne versucht hat, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu erfassen.« Ziel dieser »Beschreibung einer Selbstbeschreibung« ist der Nachweis,30 wie dieses Verhältnis »anders denn klischeehaft thematisiert werden soll.« (Meßner 1998, 1) Klischee meint zuerst eine »Form des Ausdrucks«, die ihre ursprüngliche, heuristische Kraft durch wiederholten Gebrauch im sozialen Leben verloren hat. »Und obwohl es [das Klischee] uns nicht hilft, die Welt zu verstehen, weil es die Wirklichkeit nicht mehr erklären kann, hilft es uns doch, uns in ihr zu orientieren. Offenbar tun Klischees das gerade dadurch, dass sie uns davon entlasten, immer wieder neu auf Sinn zu reflektieren.« (Meßner 1998, 3)

Neben der Möglichkeit, Klischee auch als Stereotyp zu beschreiben, gibt es ein zweites Verständnis, das dieses Bild an jenes des »carrier« zurückbindet: »Klischees funktionieren wie Behälter, in denen alte Erfahrungen transportiert werden.« (Meßner 1998, 4) Es handelt sich bei dieser Konstruktion um »Formen«, die nicht nur sprachliche, sondern symbolische »Inhalte« transportieren.31 Um allerdings die »Bedeutung von Klischees zu erfassen, müssen wir [. . . ] Sprache [. . . ] als Sprachspiel verstehen, d. h. als Einheit von Handeln, Sprechen und einer Weltanschauung, die uns immer schon das Verstehen einer Situation ermöglicht.« (Meßner 1998, 4) Anschliessend werden Klischees als eine rhetorische Praktik bestimmt, die bestimmte kommunikative Situationen schafft und uns darin Orientierung verschafft, indem sie Routinen und traditionelle Muster zur Verfügung stellt. Wir gewinnen durch das Klischee also zugleich zwei Dinge: einerseits eine weitere Beschreibung dafür, wie zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt werden kann und andererseits ein Bild für den soziologischen Umgang mit dieser Vermittlung innerhalb des Verhältnisses. Durch das Klischee tritt auch hervor, dass sich im Wandel hin zur Moderne die »intermediären Strukturen«, d. h. die Vermittlungsinstanzen zwischen Individuum und Gesellschaft (vormals: Staat), verändert haben (vgl. Meßner 1998, 6). Die Spannungsverhältnisse 30 | Dabei handelt es sich um dieselbe Bezeichnung, die ich an anderer Stelle auch verwende (siehe Kapitel 3.1). Obschon jenes Kapitel vor dieser Lektüre verfasst wurde, stimme ich hinsichtlich der gemeinsamen Quelle überein, dass Luhmanns Begriff übernommen werden kann, ohne zugleich alle Schlussfolgerungen zu übernehmen (vgl. Meßner 1998, 1). 31 | Dieses Bild erinnert an Georg Simmels Unterscheidung von Form und Inhalt (siehe Kapitel 9.1).

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8.4

Wozu Philosophie?

wurden deshalb erzeugt, weil sich Familie, Dorf- und Religionsgemeinschaften (d. h. die traditionalen Lieferanten von kollektiven Deutungsmustern) im Laufe der gesellschaftlichen Differenzierung verändert haben, die Konfrontation von Individuum und institutionalisierter Gesellschaft (Erwerbsarbeit, Politik, Administration etc.) eine andere Qualität angenommen hat: »So wächst die Distanz zwischen dem, was als eigentliches Selbst erfahren wird, und den sozialen Strukturen.« Neben anderen intermediären Strukturen verlieren auch die sozialen Rollen ihre tragende Funktion, »zum sinnhaften Aufbau der Wirklichkeit beizutragen« (Meßner 1998, 7). Dies wirkt sich zwangsläufig auf die Beschreibung der Selbstbeschreibung aus; nicht nur das alltägliche Leben, sondern auch die Theorien und Modelle, die dieses Leben erklären sollen, werden zunehmend komplexer. In der Komplexität liegt nicht nur die zentrale Ursache des Problems, sondern auch des Konflikts um das gültige Erkenntnisprogramm der Soziologie: »die Frage, ob Sozialforschung vom Individuum oder von der Gesellschaft auszugehen habe, hat bis heute keine stringente Antwort gefunden.« (Meßner 1998, 9; vgl. Bohnen 1975, 4 ff.) Dahinter wiederum liegt die ontologische Dichotomie von Individuum und Gesellschaft, die weiter oben beschrieben wurde (siehe Seite 191). Endlich werden wir von dieser Dichotomie zurückgeworfen auf »die Frage der Sozialtheorie, wie Gesellschaft als Einheit des Sozialen möglich ist« (Meßner 1998, 10). Die Hervorhebung deutet an, dass Sozialtheorie nicht auf Soziologie zu reduzieren ist, sondern andere Disziplinen wie Psychologie und Philosophie miteinbezieht.32 Damit tritt zum einen die »begriffliche Aufklärung sozialer Phänomene« ins Zentrum und zum anderen wird sichtbar, wie im »Schnittpunkt [von Sozialwissenschaft und Philosophie] gewissermassen der Gegenstand ›das Soziale‹ sich konstituiert.« (Meßner 1998, 11) In einer derart aufgeladenen Soziologie verändert sich die Frage, »wie Individuelles und Allgemeines zusammenkommen«, und verschiebt sich nach: »wie ist das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu denken?« (Meßner 1998, 13) Es erstaunt nicht, dass diese Fragestellung bei philosophisch imprägnierten Soziologen (z. B. bei Simmel und Adorno) Vorrang hatte. Darin zeigt sich wiederholt das Problem der »Beschreibung der Selbstbeschreibung« (vgl. Meßner 1998, 90, 113 f.), d. h. die Untrennbarkeit der Frage nach dem »Inhalt« von derjenigen nach dem »Umgang« mit diesem Inhalt:

32 | »Das ›Soziale‹ stellt sich als ein Knotenpunkt von theoretischer und praktischer Philosophie, von Philosophie und Wissenschaft, von Theorie und Praxis dar, das ›Soziale‹ ist zugleich Problem und Projekt der Theorie.« (Meßner 1998, 12, vgl. 21 f.)

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Spannungsverhältnisse

»Die Frage [der Moderne, d. h. nach der Säkularisierung der Welt] lautet vielmehr, ob und inwieweit die wirklichen Menschen: der reale, nicht bloss der verallgemeinerte Andere, für die Konstitution des Sozialen von Belang sind. Das Grundproblem der Sozialtheorie ist heute der paradoxe Versuch, von einem Standpunkt im Innern das Ganze zu begreifen, dessen Teil man ist, das heisst, Auskunft zu geben über ihre eigene Reflexivität.« (Meßner 1998, 15; Hervorhebung S. B.)

Diese Sicht auf das »begreifen wollen« legt nahe, »dass die klischeehafte Rede von ›Individuum und Gesellschaft‹ das Projekt, auf das sie verweist, eher verbirgt als es kenntlich zu machen.« (Meßner 1998, 15; vgl. Vanberg 1975, 151 f.) Damit sind wir letztlich wieder beim »Vermittlungsproblem« angelangt (siehe Seiten 133 und 143), als welches das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gedacht werden muss, sofern es nicht individualistisch oder holistisch aufgelöst werden soll. Gerade der zuletzt formulierte (erwünschte) Verzicht zeigt an, dass bisherige Ansätze für dieses Verhältnis nicht ausreichen. Erst wenn der Begriff des Individuums mit dem Begriff der Gesellschaft vermittelt ist, wird der erste Begriff nicht mehr »systematisch ausgeblendet« (Meßner 1998, 176). Diese philosophische Antwort auf ein soziologisches Problem ist jedoch wiederum keine abschliessende, die der Soziologie zudem kaum von generellem Nutzen wäre. Zwar gewinnen wir mit dem Klischee einen wirkungsvollen »carrier«, der sowohl zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt als auch das wissenschaftstheoretische Vermittlungsproblem benennt. Der Ansatz leistet dies allerdings nur vorübergehend, endet nach der Betrachtung antiker bis moderner Vorstellungen dieses Verhältnisses in einem »offenen Schluss« und der folgenden Empfehlung: »Wie aber ›Individuum‹ nicht einen Gegenstand bezeichnet, sondern eine Metonymie ist, so bezeichnet auch ›Gesellschaft‹ keine einheitliche Sache, sondern ist ein Inbegriff für das vergesellschaftete Leben selbst, der nach dessen Anforderungen sich entwickelt und darum in seinem Gehalt je konkret nach den Bedingungen solchen Lebens zu explizieren ist.« (Meßner 1998, 182)

Somit wird Gesellschaft nicht mehr als nachträgliche »Verbindung primär existierender Individuen« verstanden, sondern die Individuen werden als »Subjekte gesellschaftlicher Praxis« verstanden, die »immer schon ›gesellschaftlich‹ konstituiert« sind (Meßner 1998, 182). Die einfache Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft werde hinfällig, »Gesellschaft [könne vielmehr] nur bedeuten[:] Prozess der Vergesellschaftung« (Meßner 1998, 183). Dieser Ansatz lässt uns mit dem Hinweis zurück, es sei die Form und Beharrlichkeit des Fragens, auf die es ankomme, doch er tritt damit nicht über Simmels Grundlagen hinaus.

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8.4

Wozu Philosophie?

Eine weitere philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema scheint deshalb von Interesse, weil in ihr »die Soziologie befragt [wird], was sie uns denn über die Gesellschaft zu sagen habe.« (Hofbauer 2005, 7) Diese Auseinandersetzung mit dem »Bezugspunkt Gesellschaft« geht von Durkheims sozialen Tatsachen aus, wendet sich schliesslich aber der Frage zu, was die Gesellschaft für uns sein sollte.33 Eine solche Frage führt zugleich zurück zur Problemstellung der vorliegenden Arbeit: Die moderne Wissenschaft, und dazu zählt auch die kaum hundertjährige Disziplin der (deutschsprachigen) Soziologie, habe die »Polarisierung zwischen der individuellen Erkenntnis und der gemeinsamen Erkenntnis schliesslich absolut gemacht« und zugleich die wissenschaftliche Tatsache vor den subjektiven Eindruck gestellt (Hofbauer 2005, 26, vgl. 167). Diese Haltung habe sich als sehr erfolgreich herausgestellt, so die – wie zugegeben werden muss – korrekte Beurteilung eines Philosophen über die (Vorstellung einer) Soziologie. Aufgabe der Philosophie in dieser Angelegenheit, damit schliesst diese Sicht an die vorherige an, wäre: »die gesellschaftliche ›Sinnwelt‹ durcheinander zu bringen und sie neu zu ordnen.« (Hofbauer 2005, 168) Hier tritt allerdings eine spezifische Suche nach einem »Bedürfnis nach Gesellschaft« (nach der Gesellschaft »als ganzer« einerseits, nach dem sinnvollen Zusammenleben andererseits) hervor, die »im Gegensatz mit der Soziologie« steht: »Es fragt sich, ob eine ›objektive‹, eine wissenschaftliche Erkenntnishaltung angebracht ist bei einer Sache, [. . . ] die uns soviel bedeutet wie die Gesellschaft der Menschen.« (Hofbauer 2005, 237 f.) Darin schlägt sich ein Verständnis nieder, das Philosophie als »Liebe zur Weisheit« auffasst, der es im Gegensatz zur kritisierten, strukturellen Soziologie nicht darum geht, soziologische Tatbestände »der Sinnerfülltheit und Bedeutungsschwere zu entkleiden.« Eine mögliche Objektivität wird bezweifelt, Gesellschaft »als eben diese Bedeutung, die sie für den Einzelmenschen hat«, aufgefasst (Hofbauer 2005, 239 f., vgl. 244 f.).34 Die bereits erwähnte Unterscheidung zwischen Gegenstand und Idee dieses Gegenstands tritt wieder hervor: »mit dem Begriff der ›Gesellschaft‹ scheint sich eine Idee vom Zusammenleben der Menschen entwickelt zu haben, an der 33 | Sowohl dieses »was sie uns denn über die Gesellschaft zu sagen habe« als auch die Frage, was sie »sein sollte«, zeigen an, dass hier ein Spannungsverhältnis vorliegt (vgl. Hofbauer 2005); dieses ist jedoch persönlicher Natur. Die (philosophisch-)autobiographischen Teile dieser Auseinandersetzung holen selbst den offenen soziologischen Leser mit einer gewissen Befremdung ein. 34 | In Auseinandersetzung mit Niklas Luhmanns Systemtheorie heisst dies beispielsweise: »Die Selbstorganisation der Gesellschaft lässt sich nur am Menschen vorbei erklären, denn wir alle bilden eben nicht absichtlich eine Gesellschaft, sondern es passiert uns gewissermassen.« (Hofbauer 2005, 246) Hier zeichnet sich ab, weshalb Luhmann auch Bestandteil der vorliegenden Arbeit sein muss (siehe Kapitel 9.3).

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Spannungsverhältnisse

die Soziologen vorbeigehen, weil sie sich für Ideen nicht interessieren.« (Hofbauer 2005, 249) Um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie ihre Spannungsverhältnisse besser zu verstehen, so diese Philosophie, ginge es darum, »alle die Wünsche, Ängste, Phantasien und Emotionen zu verstehen, mit welchen das Individuum an der Gesellschaft hängt [. . . ] [und sich zugleich von ihr distanziert] – und nicht von ihnen [zu] abstrahieren.« (Hofbauer 2005, 257) Diese Abstraktion kann und soll übrigens weder in Alltag noch Wissenschaft stattfinden, weil sich eine »umfassende Vorstellung von der Gesellschaft« anscheinend nicht aufbauen lässt (vgl. Hofbauer 2005, 275, 283). Es ist die folgende, genuin philosophische Sichtweise, die sich bei den gewählten Vertretern dieses Fachs zeigt, welche einen Unterschied macht: »Gesellschaftstheorie ist nicht [. . . ] eine Schau der Gesellschaft, sondern sie ist ein Hilfsmittel, welches sich der Sozialtheoretiker baut, um überhaupt etwas als Gesellschaft in den Blick zu bekommen.« (Hofbauer 2005, 289) Es sollte also nicht die erkenntnismässig zu erschliessende wirkliche Gesellschaft beschrieben werden – zumal dies zuvor als Unmöglichkeit dargestellt wurde –, sondern die Art und Weise, das »wie« und das »warum« einer solchen Beschreibung sollten in den Blick genommen werden. Dieser Philosoph würde gegenüber der Soziologie einwenden: »Ihr redet ja ganz ordentlich und profund über Gesellschaft, aber ihr redet nur über ein wissenschaftliches Konstrukt und nicht über die Gesellschaft, in der wir wirklich leben.« (Hofbauer 2005, 293) Bis zu einem gewissen Grad lässt sich diesem Einwand noch stattgeben. Werden dann allerdings Aussagen pauschalisiert – wie beispielsweise: »Aus der Perspektive der Soziologie gesehen, ist diejenige des Individuums ›absurd‹.« (Hofbauer 2005, 346) –, so zeigt sich, dass eine solche Polemik nicht weit führt. Es ist zwar in der Tat so, dass die Soziologie im Laufe ihrer Geschichte das Individuum immer wieder vernachlässigt und die Struktur der Gesellschaft vorgezogen hat; es gab aber immer auch jene Stimmen, die sich dagegen aufgelehnt haben. In gemässigter Betrachtung schliesst von philosophischer Seite jene Forderung an, die sich auch auf den soziologischen Nebenschauplätzen findet: Es gilt, Individuum und Gesellschaft »zusammenzudenken« (Hofbauer 2005, 364). Aus dieser Warte liesse sich fragen, ob »die Menschen selber im 19. Jahrhundert begonnen hätten, sich anders als zuvor, nämlich als Gesellschaft wahrzunehmen [. . . ], sich selber und ihre Mitmenschen soziologisch zu sehen.« (Hofbauer 2005, 371; Hervorhebung S. B.) Die Implikation einer positiven Antwort würde erklären, weshalb das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auf zwei Ebenen – jener des Alltags wie jener der wissenschaftlichen Auseinandersetzung – ein Problem darstellt. Indem die

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8.4

Wozu Philosophie?

wissenschaftliche Abstraktion reifiziert wurde (für die vorliegende Betrachtungstiefe unabhängig davon, wie bewusst diese neue Sichtweise auf den Mitmenschen vollzogen wird), hat sich der Mechanismus umgedreht, d. h. die Soziologie beschreibt, was die Individuen (und damit die Gesellschaft) selbst beschreiben, und sie tun dies aufgrund des Konzepts, welches (vermutlich) von der Soziologie ausgelöst wurde. Durch die Brille der Philosophie erscheint die Paradoxie der Soziologie (siehe Kapitel 3.4) als jenes Spannungsverhältnis, das hier massgeblich interessiert. Die philosophischen Zugänge verdienen Aufmerksamkeit, weil zentrale Bausteine der Debatte um Individuum und Gesellschaft wie um das Vermittlungsproblem dort ihren Ursprung haben und auch ihre (Teil-)Antwort finden. Als Auftakt und Schluss dieses Teils der Arbeit nimmt die Philosophie eine zentrale Position ein und beantwortet die Frage nach dem »Wozu« gleich selbst. Warum, so stellt sich abschliessend die Frage, kann sich eine Fremddisziplin in einer soziologischen Diskussion dermassen in den Vordergrund drängen? Eine mögliche Antwort könnte lauten: »Die Philosophie oszilliert um die Paradoxie, dass individuelle Freiheit zugleich als Voraussetzung und auch als Gefährdung sozialer Ordnung wirkt und umgekehrt individuelle Freiheit sich sozialer Ordnung verdankt und zugleich durch sie bedroht wird.« (Di Fabio 1991, 31)

Für die Soziologie schien dies kein Problem darzustellen, da die individuelle Freiheit nicht als soziologischer Tatbestand anerkannt wurde, und »soziale Ordnung als integrierter, aufeinander abgestimmter Zusammenhang von Regeln, Normen und moralischen Geboten [. . . ] immer schon [als] vorhanden und [als] eigentlicher Gegenstand der Soziologie« angesehen wurde (Di Fabio 1991, 31). In dieser Logik, es ist offensichtlich jene Emile Durkheims, ist das Individuelle an die Psychologie delegiert und stellt kein konstitutives Problem dar. »Das Individuelle und das Soziale werden [. . . ] als zwei divergente Realitäten vorgestellt [. . . ] und damit [wird] die Relation von Individuum und Gesellschaft (zu Lasten der individuellen Perspektive) aufgelöst« (Di Fabio 1991, 33). Dadurch erfahren wir nichts Neues, da die Betrachtung zum Gesellschaftsbegriff einen ähnlichen Befund ergab. Allerdings hat sich schnell gezeigt, wo die Grenzen einer solchen Sichtweise liegen.35 Indem Durkheim »die starre Trennlinie zwischen Individu35 | Der vormals hauptsächliche Grund ist immer noch von Bedeutung, muss aber in der folgenden Argumentation in den Hintergrund treten. Er besagt, dass diese Sichtweise »die Intention des Handelnden mit Ausnahme der sozialintegrativ wirkenden moralischen Normen aus[blendet]. Individuelles Handeln erscheint in erster und entscheidender Linie als normengeleitetes Handeln.« (Di Fabio 1991, 45) Da es sich hierbei um eine Wiederholung des bereits gesagten handelt, sind

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Spannungsverhältnisse

um und sozialer Ordnung« aufhob, entstand »eine Zwischenzone, die weder eindeutig dem Individuellen noch dem Kollektiven zuzurechnen ist, die vielmehr die Verzahnung beider Bereiche repräsentiert.« (Di Fabio 1991, 45) Während man Durkheim für den resultierenden Orientierungsgewinn dankbar sein müsste, wird dies durch das entstandene Problem überlagert. Durkheim liess eine Leerstelle, die bis heute nicht zufriedenstellend gefüllt wurde. Die vorliegende Arbeit hat es sich deshalb zum Ziel gesetzt, hier vorläufige Antworten zu liefern und versucht, diese Leerstelle tentativ zu füllen. Die vorherigen Kapitel geben nicht nur einen Überblick über Betrachtungen zu Individuum und Gesellschaft, sie sind sichtbare Beispiele des Umgangs mit deren Verhältnis. Im Folgenden wird von Sekundär- zu Primärtexten gewechselt, und sechs massgebliche Umgänge werden rekonstruiert. Sie bereiten einen eigenen Umgang mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft vor.

wir mit jener Antwort, die Max Weber bot, bereits vertraut. Dieser begegnet dem Problem, indem er Gesellschaft als »Resultat interdependenter individueller Erwartungen, Orientierungen und sinnhaft hergestellter Handlungsbezüge« ansieht (Di Fabio 1991, 68).

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Umgänge

9 Umgang I: Muster der Ambivalenz Dieser erste Umgang darf als klassischer (d. h. etablierter) Umgang bezeichnet werden. Individuum und Gesellschaft werden von Georg Simmel ausschliesslich als methodische Begriffe verstanden und in dieser Weise gehandhabt; er arbeitet mit ihnen. Für Norbert Elias gilt etwas ähnliches, da er sie nur sprachlich als zwei Entitäten auffassen kann. Niklas Luhmann schliesslich trennt Individuum und Gesellschaft voneinander und versetzt die Individuen als psychische Systeme in die Umwelt der sozialen Systeme (d. h. er entfernt sie gewissermassen aus der Gesellschaft). Während für Simmel und Elias »die modernen Sozialbeziehungen charakterisiert [sind] durch eine Entemotionalisierung und eine Vorherrschaft des Verstandes« (Ebers 1995, 335), baut Luhmann seine Theorie gerade in einer entsprechenden Logik der Systeme. Sie sind jedoch alle auf einen »Mittler« angewiesen, weil das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nicht überwunden werden kann. Diese Mittler – Wechselwirkung, Figuration und Sinn – sind Thema des vorliegenden Kapitels. In einer Hinsicht allerdings ist dieser Umgang keineswegs klassisch, insofern nämlich, als er an die Argumentation um Sinn und Bedeutung anschliesst. Diese in der allgemeinen Soziologie bislang weitgehend vernachlässigte Betrachtungsweise ist so alt wie die deutschsprachige Soziologie selbst. Zudem findet sich in der Beschäftigung mit dem Thema bei Simmel und Elias ein ambivalentes Muster, da das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft von beiden als problematisch und unaufgeklärt angesehen wird (vgl. Schroer 2001). Dieses Muster findet seine Fortsetzung in abgewandelter Weise in der Systemtheorie Luhmanns, dem wohl komplexesten Ansatz, den die Soziologie gegenwärtig für die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft zu bieten hat.

9.1 Georg Simmel: Wechselwirkung Die Annäherung an Georg Simmels »Wechselwirkung« könnte über eine so genannte ästhetische Konzeption der Gesellschaft erfolgen. 1 Für frühe Soziologen wie Simmel und Max Weber wurde es als Auf1 | Teile dieses Kapitels entstammen einer früheren Auseinandersetzung mit Simmel (Bertschi 2006b); sie wurde dem veränderten Thema entsprechend überarbeitet und erweitert.

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Umgang I: Muster der Ambivalenz

gabe einer »Soziologie der Kunst« angesehen, »to observe and analyse the emergence of new cultural media and innovative aesthetic forms in view of the social foundations and economic conditions that make them possible« (Kemple 2005, 11). Dabei sollte bestimmt werden, was charakteristisch ist für die ästhetische Sphäre oder eine entsprechende Konzeption der Moderne, in welcher Ästhetik nicht bloss auf die Künste angewandt werden kann, sondern darauf, was diese ästhetischen Gebilde möglich macht. Weber schien das soziologische Vorstellungsvermögen als »a scientific method« und zugleich als »an expressive mode of aesthetic experimentation« aufzufassen (Kemple 2005, 13). Diese Sicht korrespondiert mit Simmels bekanntem Essay »Die Grossstädte und das Geistesleben«. Beide Soziologen wiesen auf die Notwendigkeit einer neuen Art und Weise des Sehens und Denkens hin, die dazu dienen sollte, die sozialen und kulturellen Bedingungen der Moderne zu verstehen (vgl. Lichtblau 1993).2 Simmel, der seine Soziologie auf einer Philosophie aufbaute, räumte der Ästhetik – zu einem eigenen Zweck – einen bedeutenden Stellenwert ein. Bereits in seinem Essay zur »Soziologischen Ästhetik« ([1896] 1998b) unterstrich er »the relevance of this project by observing the rise of a kind of ›aesthetic pantheism‹ that now pervades critical discourse concerning the distinctively modern appreciation of form« (Kemple 2005, 11). In diesem Text, dessen Titel bereits programmbildend ist, erforscht Simmel nicht bloss Aspekte der Symmetrie und der Asymmetrie von sozialen Beziehungen, sondern er zeigt einen neuen, unorthodoxen Weg für die soziologische Untersuchung an. Dies führte zu der Schlussfolgerung: »[T]he aesthetic dimensions of society and social interactions [. . . ] are one of the distinctive features of Simmel’s sociology« (Frisby 2002, xvi). Wenngleich umstritten ist, ob Simmel eine ästhetische Gesellschaftskonzeption geschaffen habe, weisen seine eigenen Äusserungen in diese Richtung: »Das Wesen der ästhetischen Betrachtung und Darstellung liegt für uns darin, dass in dem Einzelnen der Typus, in dem Zufälligen das Gesetz, in dem Äusserlichen und Flüchtigen das Wesen und die Bedeutung der Dinge hervortreten. Dieser Reduktion auf das, was an ihr bedeutsam und ewig ist, scheint keine Erscheinung sich entziehen zu können. Auch das Niedrigste, an sich Hässlichste, lässt sich in einen Zusammenhang der Farben und Formen, der Gefühle und Erlebnisse einstellen, der ihm reizvolle Bedeutsamkeit verleiht; in das Gleichgültigste, das uns in seiner isolierten Erscheinung banal oder 2 | »Wesentlicher Entwicklungstrend der modernen Vergesellschaftung ist für Simmel also eine zunehmende Trennung von Person und Sache, welche sich in ihrer je eigenlogischen Entwicklung zunehmend voneinander differenzieren. Ein formal-rationales Interpretations- und Beherrschungsmuster von Welt dominiert.« (Ebers 1995, 334) Gerade dagegen soll mit einer neuen Sichtweise, mit einer neuen Soziologie vorgegangen werden.

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9.1

Georg Simmel: Wechselwirkung

abstossend ist, brauchen wir uns nur tief und liebevoll genug zu versenken, um auch dies als Strahl und Wort der letzten Einheit aller Dinge zu empfinden, aus der ihnen Schönheit und Sinn quillt und für die jede Philosophie, jede Religion, jeder Augenblick unserer höchsten Gefühlserhebungen nach Symbolen ringen. Wenn wir diese Möglichkeit ästhetischer Vertiefung zu Ende denken, so gibt es in den Schönheitswerten der Dinge keine Unterschiede mehr. Die Weltanschauung wird ästhetischer Pantheismus, jeder Punkt birgt die Möglichkeit der Erlösung zu absoluter ästhetischer Bedeutsamkeit, aus jedem leuchtet für den hinreichend geschärften Blick die ganze Schönheit, der ganze Sinn des Weltganzen hervor.« (Simmel 1998b, 78)

Die ästhetische Bedeutsamkeit durchdringt dabei alles und zeigt sogleich, weshalb eine solche Untersuchung an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft vielversprechend ist. Die Zuweisung, die in einer solchen »Ästhetisierung« stattfindet, muss erst vom Individuum ausgehen und erlangt dann, gemäss Simmel, zentrale Bedeutung im wissenschaftlichen Umgang.3 Das zugrundeliegende Prinzip der soziologischen Ästhetik erweitert ästhetische Kategorien auf Inhalte der Gesellschaft insgesamt aber auch auf jene Formen, durch welche Gesellschaft erst zustande kommt. »Die rationelle Organisation der Gesellschaft hat, ganz abgesehen von ihren fühlbaren Folgen für die Individuen, einen hohen ästhetischen Reiz; sie will das Leben des Ganzen zum Kunstwerk machen, wie es jetzt kaum das Leben des Einzelnen sein kann. Je zusammengesetztere Gebilde unsere Anschauung zu umfassen befähigt ist, desto entschiedener wird die Anwendung der ästhetischen Kategorien von den individuellen, sinnlich wahrnehmbaren zu den sozialen Gebilden aufwärts schreiten.« (Simmel 1998b, 84)

Im Sinne einer ästhetischen Konzeption geht der Impuls vom Individuum aus. Damit ist eine inhärente Kritik am Gesellschaftsbegriff verbun3 | An das vorhergehende Zitat schliesst deshalb der folgenden Satz an: »Damit aber hat das Einzelne die Bedeutung verloren, die es gerade als Einzelnes und im Unterschiede gegen alles andere besitzt.« (Simmel 1998b, 78) Allerdings ist mit »dem« Einzelnen nicht zugleich »der« Einzelne gemeint. An anderer Stelle liest sich wie folgt: »Wir vernehmen die Stimme des Gewissens nur in uns, wenn gleich mit einer Kraft, einer Entschiedenheit gegenüber allem subjektiven Egoismus, wie sie nur einer ausserhalb des Subjekts gelegenen Instanz scheint entstammen zu können. [. . . ] Dadurch erkläre sich der Doppelcharakter des sittlichen Gebots: dass es uns einerseits als ein unpersönlicher Befehl entgegentritt, dem wir uns einfach unterzuordnen haben, und dass doch andrerseits keine äussere Macht, sondern nur unser eigenster und innerster Impuls es uns auferlegt. [. . . ] Es ist eine alte Beobachtung, dass die Vorstellungen der Einzelseele in ihren ganzen Verhältnissen der Assoziation und der Scheidung, der Differenzierung und der Vereinheitlichung sich so verhalten, wie sich Individuen zueinander verhalten. [. . . ] Was die Gesellschaft von ihrem Mitglied fordert: Einordnung und Treue, Altruismus und Arbeit, Selbstbeherrschung und Wahrhaftigkeit – alles dies fordert der Einzelne von sich selbst.« (Simmel 1992b, 232 f.) Der Ausgangspunkt ist demzufolge das Individuum.

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Umgang I: Muster der Ambivalenz

den, denn er habe »uns von der Alternative früherer Zeiten befreit: dass ein Kulturwert entweder aus einem Individuum entsprungen oder von einer objektiven Macht verliehen sein müsste« (Simmel 1992b, 235). Deshalb kann die Gesellschaft sogar als ein Drittes bezeichnet werden, das die »Zusammenhangslosigkeiten« zwischen Individuum und Objektivität überbrückt (vgl. Ziemann 2000a). In einem allgemeineren Sinn ist die »Drei« als »das Grundschema seiner [Simmels] Philosophie« erkannt worden, »die in allen Disziplinen seines Denkens wiederkehrt.« (Susman 1959, 5) Das Dritte ist allerdings »weder Verkündung noch Durchgangspunkt der geschichtlichen Entwicklung, noch auch das Ergebnis einer dialektischen Denkweise«, sondern »eine zeitlose metaphysische Versöhnung und Aufhebung zweier als ewig erlebter und so nicht ertragbarer Gegensätze«, die Versöhnung (beispielsweise von Subjekt und Objekt oder von Wirklichkeit und Idee) »in einer dritten, noch nicht entdeckten, doch zu entdeckenden Geistes- und Lebensform« (Susman 1959, 6 f.). In diesem Dritten zeichnet sich auch ab, was uns an anderer Stelle bei Peter Sloterdijk begegnet. Simmel sieht für das Subjekt-Objekt-Problem den folgenden Lösungstyp vor: »Er überbaut den gegensätzlichen Weltrealitäten Subjekt und Objekt ein Reich der ideellen Inhalte, das weder subjektiv noch objektiv ist; diese Inhalte haben an und für sich nur Geltung oder Bedeutung, aber gerade so können sie gleichsam den gemeinsamen Stoff bilden, der einerseits in die Form der Subjektivität, andrerseits in die der Objektivität eingeht und damit die Beziehung zwischen beiden vermittelt, die Einheit beider darstellt. Man könnte insofern diese Theorie als die des dritten Reiches bezeichnen.« (Simmel [1910] 1927, 102 f., vgl. 86 ff.)

Wird von einer irreführenden Konnotation der Theoriebezeichnung abgesehen, liesse sich hier ein heuristisches Konstrukt des Dazwischen einsetzen (vgl. Sent 2002, 14 ff.). Schliesslich kann auch ein Dazwischen von Individuum und Gesellschaft als ein Drittes gelesen werden.4 Allerdings würde es im vorherrschenden Umgang, so Simmel, kaum einen Ausgleich geben, denn Bedeutung werde vor allem der zweiten Seite zugewiesen: »Die zarten, unscheinbaren Fäden, die sich zwischen Mensch und Mensch spinnen, wird man nicht länger der Beachtung für unwert halten dürfen, wenn man das Gewebe der Gesellschaft nach seinen erzeugenden, formgebenden Kräften begreifen will – dieses Gewebe, von dem die Soziologie bisher im ganzen nur das schliesslich zustande gekommene Muster seiner obersten Erscheinungsschicht zu beschreiben bemüht war.« (Simmel 1998a, 149) 4 | Wobei sich die Frage stellt, ob Simmels »Überbauen« nicht im Widerspruch zu einem Dazwischen steht (siehe dazu Kapitel 13). Hinter Simmels Umgang dürfte sich, ohne dem allerdings weiter nachzugehen (vgl. Klaghofer 2003; Wyborski 1975), Hegels Aufhebung von These, Antithese und Synthese verbergen.

210

9.1

Georg Simmel: Wechselwirkung

Die Kritik Simmels am Gesellschaftsbegriff wie am soziologischen Gegenstandsbezug setzt sich fort und erhält ihre Begründung durch die ästhetische Komponente. Gehen wir mit einer verbreiteten Interpretation einher, dann zeige sich einerseits die »Gesellschaft als ästhetische Totalität« und andererseits die »Gesellschaft als Vergesellschaftung« (Frisby 2002, xvii). Die Formen der Vergesellschaftung und damit der Kern von Simmels Theorie werden Gegenstand einer ästhetischen Deutung der Gesellschaft. Diese ästhetische Anschauungsweise liesse sich (wie ich es nenne) in Simmels Soziologie »rückübersetzen«: »[T]his implies that his sociological investigations will not merely be confined to ›structures of a higher order‹ but also to ›the delicate, invisible threads‹ that bind individuals together, to the ›fortuitous fragment of social reality‹ whose investigation produces a ›deeper and more accurate‹ understanding of society than does ›the mere treatment of major, completely supraindividual total structures‹.« (Frisby 2002, 64)

Durch die Verwendung von Zitaten aus Simmels Essay zur »Soziologie der Sinne« ([1907] 1998a) wird seine mutmassliche Intention zugespitzt. Was in dieser textnahen Interpretation zusammengezogen wird, könnte – basierend auf den von Simmel hervorgehobenen ästhetischen Dimensionen – als ästhetische Konzeption der Gesellschaft bezeichnet werden.5 Obschon die Ästhetisierung von beiden Seiten (Individuum wie Gesellschaft) adressiert wird, zeigt sich doch eine gewisse Präferenz nach der Seite des Individuums, ohne allerdings einen Ausschluss der anderen Seite zu vollziehen. Simmel zufolge ist der Charakter einer ästhetischen Betrachtung und Beschreibung eine Rückkehr zu dem, was bedeutungsvoll ist, zum Wesen und zur 5 | Obschon Simmels Interesse an Ästhetik und deren Verbindung zur Soziologie unbestreitbar ist (vgl. Staubmann 1997, 75 ff.; Fuente 2000, 237 f.), bleibt ungeklärt, ob er diese Konzeption selbst als eine »ästhetische Gesellschaft« bezeichnet hätte. Rechnet man Ästhetik »zu den Inhalten von Sozialem«, dann sei diese Qualifizierung theorietechnisch gegenüber Simmel nicht haltbar (Staubmann 1997, 74, vgl. 81). Da in der Folge ein »loses« Konzept vertreten wird, das Ästhetik bei Simmel vielmehr zum Ausgangspunkt nimmt, wird die weitere Argumentation davon nicht betroffen. – Simmels Interesse an einer generellen Ästhetik hat zwangsläufig zum Vorwurf des Ästhetizismus geführt (vgl. Köhnke 2004, 198). Da es sich dabei um eine historische Kategorie handelt, scheint ein solcher Vorwurf gegenüber Simmels Gesamtkontext nicht haltbar, zumal dieser ästhetische Zugang in der Soziologie von seinen Zeitgenossen auch anerkannt wurde. So vermerkte beispielsweise Siegfried Kracauer, dass Simmel oft die Gemeinsamkeiten der strukturellen Beziehungen zwischen einem Kunstwerk (in weitem Verständnis) und sozialen Institutionen hervorhebe (vgl. Hübner-Funk 1976, 44). Den Bezug zwischen Kunst und Soziologie stützte Simmel auch in anderer Weise, zum Beispiel durch den Hinweis, dass der Theoretiker nicht einfach eine Methode »habe«, sondern diese als Individuum mit eigenem Stil und Ausdruck verkörpere (vgl. Hübner-Funk 1976, 45 f.), wie auch durch weitere, vielfältige Bezüge zur Kunst (vgl. Hübner-Funk 1982; Aulinger 1999).

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Umgang I: Muster der Ambivalenz

Bedeutung aller Dinge und kein Aspekt könne sich einer solchen Betrachtung entziehen (vgl. Simmel 1998b, 78; Hübner-Funk 1976, 46). Simmel verstand selbst die ästhetische Analyse konkreter sozialer Erscheinungen nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck (vgl. Hübner-Funk 1976, 49). Obschon die ästhetische Komponente bei Max Weber nicht dermassen stark ausgeprägt ist, steht zu vermuten, dass er mit dem sozialen Handeln an diese Überlegung anschloss. Dies zeigt sich in dem gemeinsamen Interesse an kleinen Formen. »Was die wissenschaftliche Fixierung solcher unscheinbaren Sozialformen erschwert, ist zugleich das, was sie für das tiefere Verständnis der Gesellschaft unendlich wichtig macht: dass sie im allgemeinen noch nicht zu festen, überindividuellen Gebilden verfestigt sind, sondern die Gesellschaft gleichsam im status nascens zeigen [. . . ]; fortwährend knüpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter den Menschen [Hervorhebung S. B.], ein ewiges Fliessen und Pulsieren, das die Individuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt. Hier handelt es sich gleichsam um die mikroskopisch-molekularen Vorgänge innerhalb des Menschenmaterials, die aber doch das wirkliche Geschehen sind, das sich zu jenen makroskopischen, festen Einheiten und Systemen erst zusammenkettet oder hypostasiert.« (Simmel 1992b, 33; vgl. 1917, 13)

Die Einzelnen werden bei Simmel (wie auch bei Weber) nicht mehr von Seiten der Struktur erklärt, sondern die Struktur von Seiten der Einzelnen (und den Kräften zwischen diesen Einzelnen).6 Während die Gesellschaftswissenschaft zu ihrer Zeit »nur die ganz grossen und offensichtlichen sozialen Gebilde in ihre Betrachtung [. . . ] ziehen und aus ihnen die Erkenntnis des gesellschaftlichen Lebens in seiner Ganzheit herstellen« will, zeige sich auch diese andere Seite: »Tatsächlich indes sind dies doch schon Gebilde höherer Ordnung, in denen oder zu denen das reale, sozusagen von Fall zu Fall sich vollziehende Leben der vergesellschafteten Menschen kristallisiert ist. Und dieses pulsierende, die Menschen miteinander verkettende Leben zeigt ausser den Verbindungsformen, welche zu jenen umfassenden Organisationen aufsteigen, noch unzählige andere, die gleichsam im fliessenden, verfliessenden Zustand bleiben, aber nicht weniger den Zusammenhang der Individuen zu gesellschaftlichem Dasein tragen.« (Simmel 1998a, 135 f.)

Simmel blieb dem heuristischen Wert der Gesellschaft gegenüber skeptisch, denn sie könne nicht vergegenständlicht und nicht als »Etwas« beschrieben werden, sondern müsse vielmehr als die Gesamtheit der Kommunikations- und Austauschprozesse, d. h. der Wechselwirkun6 | Neben allen Gemeinsamkeiten wurde Simmel von Weber in einer Hinsicht besonders kritisiert: »for not clearly distinguishing the interpretation of motives of actors and the socio-historical context of meaning.« (Deflem 2003, 83)

212

9.1

Georg Simmel: Wechselwirkung

gen, gefasst werden (vgl. Frisby 1990b, 41 ff.). Gesellschaft muss dann mit den Interaktionen zwischen Individuen übereinstimmen; sie ist nicht der Rahmen, in welchem Interaktionen stattfinden, sondern besteht aus Kommunikationsprozessen. Deshalb ist naheliegend, weshalb auch die kleinen sozialen Formen zu interessieren beginnen und weg von der Struktur zum Individuum hinleiten. Mit diesem frühen »Beginn der mikroskopischen Untersuchung« zählt Simmel (1998a, 135) zu den ersten, die Soziologie auf der Mikroebene betreiben wollten und dies bereits so bezeichnet haben. Folglich ergibt sich eine Antwort auf die Frage, inwieweit die ästhetische Konzeption für den Kontext der vorliegenden Arbeit eine Rolle spielt. Sie ist die Vorbedingung eines neuen Umgangs mit (dem Verhältnis von) Individuum und Gesellschaft. Unter diesem Vorzeichen liegt es nahe, »Vergesellschaftung« als die eigentliche Gesellschaftskonzeption Simmels anzusehen (vgl. Lichtblau 2005, 81 f.). Sie ist zugleich ein zentrales Konzept in Simmels formaler Soziologie und von der Wechselwirkung nicht zu trennen. »Die Vergesellschaftung ist also die, in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende Form, in der die Individuen auf Grund jener – sinnlichen oder idealen, momentanen oder dauernden, bewussten oder unbewussten, kausal treibenden oder teleologisch ziehenden – Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen und innerhalb deren diese Interessen sich verwirklichen. [. . . ] Was nun die ›Gesellschaft‹, in jedem bisher gültigen Sinne des Wortes, eben zur Gesellschaft macht, das sind ersichtlich die so angedeuteten Arten der Wechselwirkung.« (Simmel 1992b, 19; Hervorhebung S. B.)

Die Arten der wechselseitigen Beeinflussung sind »Grundkategorie eine[r] empirisch-geisteswissenschaftliche[n] Soziologie« (Geiger 1931, 209) und Bestandteil der Vergesellschaftung, und diese ist konstitutiv für die umfassende Einheit oder Abstraktion: »Wechselwirkung[en] entsteh[en] immer aus bestimmten Trieben heraus oder um bestimmter Zwecke willen« und »bedeuten, dass aus den individuellen Trägern jener veranlassenden Triebe und Zwecke eine Einheit, eben eine ›Gesellschaft‹ wird.« (Simmel 1992b, 17 f.) Hier zeigt sich auch, dass Simmel – im Gegensatz zu Max Weber – durchaus den Begriff der Gesellschaft verwendet, allerdings zu seinen spezifischen Bedingungen. Deshalb ist auch die Aussage, »Simmel bekenn[e] ja ausdrücklich, dass er nur ein Geflecht von Vergesellschaftungen, aber keine Gesellschaft kennt« (Tenbruck 1989, 192), nicht ganz zutreffend. Mehr die Zwecke als die Triebe sind es hingegen, die erneut eine gedankliche Nähe zu Webers Werk offenlegen. »[S]o kann eine eigentliche Sociologie nur das Specifisch-Gesellschaftliche behandeln, die Form und Formen der Vergesellschaftung als solcher, in Abson-

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Umgang I: Muster der Ambivalenz

derung von den einzelnen Interessen und Inhalten, die sich in und vermöge der Vergesellschaftung verwirklichen.« (Simmel 1894, 272)

Das Problem liege darin, dass nicht unterschieden werde »zwischen dem, das bloss innerhalb der Gesellschaft, als einem Rahmen, und dem, was wirklich durch die Gesellschaft vorgeht.« (Simmel 1894, 274) Deshalb soll Vergesellschaftung (und nicht Gesellschaft) das einzige Objekt der Soziologie sein.7 Idee des Wechselwirkungsbegriffs ist es, »Objekte in ihren Austauschbeziehungen, ihren Relationen mit und zu anderen Objekten zu betrachten« (Ebers 1995, 58), um letztlich diese Wirkungen funktional zu verstehen: »Es handelt sich um die Prozesse der Wechselwirkung, die für das Individuum die – zwar nicht abstrakte, aber doch des abstrakten Ausdrucks fähige – Tatsache bedeuten, vergesellschaftet zu sein.« (Simmel 1992b, 47) Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, dass Simmel Gesellschaft durch die prozessuale Vergesellschaftung ablösen will. Georg Simmels so genannte »formale Soziologie« zielt darauf ab, gesellschaftliche Formen zu studieren, welche aus der Summe der Interaktionen unter Menschen resultieren. Die erwähnte ästhetische Auffassung – die Einheit der Verschiedenartigkeiten eines »Kunstwerks«, die auf der Interaktion seiner Teile basiert – beschreibt sogar soziale Erscheinungen als »Form«, als die Art und Weise, in der Teile sich aufeinander beziehen, interagieren und eine Einheit bilden. Dieser Prozess wird nicht auf das Gebiet der Künste eingeschränkt, sondern auch auf soziale Institutionen angewendet (vgl. Hübner-Funk 1976, 54). Simmels formale Soziologie widmet sich der Analyse der sozialen Formen (d. h. Strukturen, Prozesse und Interaktion) in einem weiten Sinne. Dadurch versucht sie, jene Probleme zu überwinden, die sich auf die Entgegensetzung von Individualismus und Soziologismus (Holismus), der Bevorzugung von Individuum oder Gesellschaft, zurückführen lassen. In einer engen Bezeichnung stellen die Formen Orientierungsmuster bereit, ohne die niemand soziale Beziehungen bilden und unterhalten könnte. In Analogie zu Kant werden diese Muster als »soziologische Aprioritäten« oder »soziale Apriori« bezeichnet (Simmel 1992b, 46, 51; 7 | »Wenn, wie ich glaube, die Untersuchung der Kräfte, Formen und Entwickelungen der Vergesellschaftung, des Mit-, Für- und Nebeneinanderseins der Individuen, das einzige Objekt einer Sociologie als besonderer Wissenschaft sein kann, so gehören in sie selbstverständlich auch die Bestimmungen hinein, welche die Vergesellschaftungsform durch den besonderen Inhalt erhält, an dem sie sich realisiert.« (Simmel 1894, 275) Simmels Unterscheidung in (persönlicher und vorsozialer) »Inhalt« einerseits und (soziale) »Form« andererseits öffnet ein eigenes, soziologiegeschichtliches Kapitel, das alleine schon aus Gründen des Umfangs ausgeschlossen werden muss (vgl. Steinhoff 1925; Merz-Benz 1995a; Ziemann 2000a; 2000b). Hingewiesen werden soll vielmehr auf die Nähe zur Relation von Vorstellung, Sinn und Bedeutung.

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Georg Simmel: Wechselwirkung

vgl. Junge 1997). Sie schliessen die vielfältigen Beziehungen (Verhältnisse) zwischen Individuum und Gesellschaft innerhalb eines Argumentationsschemas ein; sie sind die »grundlegend aufbauende[n] und tragende[n] Formprinzipien« menschlicher Interaktion (Ritsert 2001, 130). Die drei soziologischen Apriori formulieren jene vorläufigen »Bedingungen, auf Grund deren Gesellschaft möglich ist«; jedes dieser »Apriori der empirischen Gesellschaft, [. . . ] macht ihre Form möglich, wie wir sie kennen.« (Simmel 1992b, 43, 57) Gemeinsam entsprechen sie – allerdings auf wissenschaftlich-reflektierter Ebene – der individuellen Kenntnis über den jeweiligen Ort der Gesellschaftsmitglieder in der Gesellschaft. Das erste Apriori gibt vor, dass wir das Gegenüber (»den Andern« wie es bei Simmel heisst) jeweils nur »in irgend einem Masse verallgemeinert« sehen (Simmel 1992b, 47).8 Das zweite Apriori besagt, dass ein »Vergesellschaftet-Sein« für das Verständnis alleine nicht ausreicht. Simmel macht darauf aufmerksam, »dass jedes Element einer Gruppe nicht nur Gesellschaftsteil, sondern ausserdem noch etwas ist. Als soziales Apriori wirkt dies, insofern [. . . ] [dieser andere] Teil des Individuums [. . . ] nicht nur ein Ausserhalb der Gesellschaft ist, für das sie, willig oder widerwillig, Raum gibt; sondern dass der Einzelne mit gewissen Seiten nicht Element der Gesellschaft ist, [. . . ] [bedeutet]: die Art seines Vergesellschaftet-Seins ist bestimmt oder mitbestimmt durch die Art seines Nicht-Vergesellschaftet-Seins.« (Simmel 1992b, 51; Hervorhebung S. B.)

Gemäss Simmels Ansicht erforscht die Soziologie die »reinen Formen der Vergesellschaftung«, d. h. die externen Muster der Wechselwirkung zwischen Individuen (Simmel 1992b, 22, vgl. 47 f.). Gesellschaft besteht folglich überall dort, »wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten« und durch wechselseitige Beziehung zueinander eine temporäre oder dauerhafte Einheit bilden (Simmel 1992b, 17; vgl. Köhnke 1996, 405 f.). Weiter wird zugestanden, dass es keine spezifischere Definition von Gesellschaft gebe als diese (vgl. Simmel 1896, 232).9 Sie ist aller8 | Das heisst: »Um den Menschen zu erkennen, sehen wir ihn nicht nach seiner reinen Individualität, sondern getragen, erhoben oder auch erniedrigt durch den allgemeinen Typus, unter den wir ihn rechnen.« (Simmel 1992b, 48) Dieses Apriori der Verallgemeinerung und Simplifizierung wurde als Typisierung schon an anderer Stelle genannt (siehe Seite 140). 9 | »Denn wenn Gesellschaft ein eigenes Objekt einer selbständigen Wissenschaft sein soll, so kann sie es nur dadurch, dass aus der Summe der Einzelwesen, die sie ausmachen, eine neue Einheit entsteht; andernfalls wären alle Probleme der Socialwissenschaft nur solche der Individualpsychologie.« (Simmel 1896, 232 f.) Anhand dieser Textstelle lässt sich auch zeigen, dass Simmel in dieser Hinsicht nicht weit von Durkheim entfernt ist (vgl. Sagnol 1987, 110). Nur hat Simmel wohl deutlicher auf einen Unterschied insistiert, denn er »übersieht niemals, dass es dem Individuum bei aller unüberholbaren Singularität seiner Existenz bei jedem Vollzuge seines Daseins immer auch um Deutungen, um Sinnkondensate und Semantiken also, geht, die gerade nicht singulär sind, es jedenfalls nicht

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dings nicht einheitlich, wie das dritte Apriori zeigt. Dieses verweist auf die grundsätzliche und auch divergente Möglichkeit des einzelnen Individuums, einer Gesellschaft anzugehören. »[D]as Leben der Gesellschaft verläuft [. . . ] so, als ob jedes Element für seine Stelle in diesem Ganzen vorherbestimmt wäre; bei aller Disharmonie von den idealen Forderungen her, verläuft es so, als ob alle seine Glieder in einem einheitlichen Verhältnis ständen, das jeden, grade weil er dieser besondre ist, auf alle andern und alle andern auf diesen anwiese.« (Simmel 1992b, 58)

Diese Harmonie spielt sich auf das gesellschaftliche Ganze aus, denn »das Bewusstsein, mit den andern eine Einheit zu bilden, ist hier tatsächlich die ganze zur Frage stehende Einheit.« (Simmel 1992b, 43) Obschon sich die »Voraussetzung einer grundsätzlichen Harmonie zwischen dem Individuum und dem sozialen Ganzen« in Realität als unwahrscheinlich herausstellt (Simmel 1992b, 59, vgl. 44), muss sie doch als Ausgangspunkt gesetzt werden, um darauf sinnvoll aufzubauen. Während beispielsweise Ferdinand Tönnies vorhandene Phänomene und ihre Beschreibung in Elemente der sozialen Wirklichkeit »übersetzt« (siehe Kapitel 10.2), »formt« Georg Simmel ein neues, spezifisches Gebiet unter Verwendung dieser Phänomene und Beschreibungen. Er konstruiert soziale Wirklichkeit in anderer Weise: In der Wechselwirkung erlangen individuelle Inhalte soziale Wirklichkeit; sie konstituieren diese und werden somit selbst Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Ursache und Wirklichkeit finden zusammen und erkenn- wie erfahrbare soziale Wirklichkeit wird hergestellt. Das Resultat ist ein Abbild der Sozialwelt als ein vielfältiges und höchst kompliziertes Netzwerk (vgl. Merz-Benz 1995a, 125). Dank der unspezifischen »Form« erhalten wir eine differenzierte Sicht, ohne dass sich diese in einer Analyse einzelner Fälle verliert. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das bei Simmel eine zentrale Stellung einnimmt, nicht abschliessend geklärt wird; es werden vielmehr die Vorbedingungen zu dessen Entstehen und gleichzeitig zu seinem Verstehen angegeben. Dennoch weist die Einschätzung, dass es Gesellschaft als Struktur nicht von vornherein gibt, sondern dass diese von den einzelsein müssen. Im Handeln, Denken und Empfinden realisiert sich niemals nur die Jemeinigkeit von Handlung, Denken und Empfindung rein als solche. Vielmehr identifiziert sich das Dasein in jedem Augenblick seines Lebens auf unvertretbare Weise mit dem Allgemeinen. Simmel hat diesen Zusammenhang auch als das ›individuelle Gesetz‹ bezeichnet [in seinem gleichnamigen Artikel; [1913] 1987, 177; S. B.], das ›die Beschaffenheit und die Lage eines Wesens ausdrückt, das unter der Doppelbedingung steht: ein Individuum zu sein und zugleich einem Allgemeinen zu unterstehen‹.« (Bohn 2006, 53; Hervorhebung S. B.; vgl. Köhnke 1996, 489 ff.) Darin zeigt sich eine Nähe zur Relation von Sinn und Bedeutung, die in der vorliegenden Arbeit eine zentrale Rolle spielt.

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Georg Simmel: Wechselwirkung

nen Individuen im Rahmen der Vergesellschaftung »erfunden« wird, für die vorliegende Arbeit in eine vielversprechende Richtung. Ein »ästhetischer Zusammenhang«, der zwar namentlich bei Simmel nicht so bezeichnet ist, erstreckt sich bis hierher. Allerdings gibt Simmel keinem dieser Zusammenhänge und Zugänge den Vorzug, weil auch diese selbst zusammenhängen und so jenen Zugang ergeben, der für eine integrierte Sicht sorgt. Die Wirklichkeitswissenschaft Simmelscher Prägung beschäftigt sich nicht mit Gesellschaft als Substanz – dies ist ein Element, das alle sechs gewählten Autoren der Umgänge verbindet. Simmel vermerkt, man könne »freilich dabei bleiben, die eigentlichen Realitäten seien doch immer nur die menschlichen Individuen«, nur wäre dadurch nichts gewonnen. Allerdings sei dann, nach Vollzug dieser Sichtweise, Gesellschaft »sozusagen keine Substanz, nichts für sich Konkretes, sondern ein Geschehen«, »etwas Funktionelles« (Simmel 1917, 14 f.). Die Dynamik, welche sich in dieser Konzeption verbirgt, stellt hohe Anforderungen an eine »reine« Soziologie (zu diesem dynamisierten Programm vgl. Krähnke 1999). Diese Soziologie hat daher sowohl die Gesellschaft als Vergesellschaftung in dynamischen Prozessen der Wechselwirkung zu berücksichtigen, als auch die Kultur, welche nun zwischen subjektiver und objektiver Kultur ausgedehnt wird, als auch die »individuellen Seelen«, welche »zugleich innerhalb und ausserhalb ihrer [d. h. ihrer Gesellschaft] stehen« (Simmel 1992b, 53). Deshalb bedarf es einer philosophischen Soziologie, die fragt, »wo das gleichgültig-naturgesetzliche Abrollen der Ereignisse einem Sinn der Einzelerscheinungen oder des Ganzen Raum gäbe« und die sich »um die [kulturelle; S. B.] Deutung festgestellter Tatsachen [kümmert; S. B.] und darum, das Relative und Problematische der blossen sozialen Wirklichkeit zu einer Gesamtanschauung zu führen« (Simmel 1917, 32 f.; vgl. Tenbruck 1958). Diese philosophische Soziologie muss die formale oder reine Soziologie ergänzen, damit sie gemeinsam eine hinreichende Beschreibung der Selbstbeschreibung liefern können. »Es ist überhaupt das Verhältnis des Menschen zu Welt und Leben, dass wir uns im voraus entschliessen müssen, d. h. durch unseren Entschluss diejenigen Tatsachen herbeiführen, die eigentlich schon herbeigeführt und gekannt sein müssten, um jenen Entschluss vernünftiger- und sichererweise fassen zu können.« (Simmel 1992b, 187)

Was hier einem lebensweltlichen Erkennen zugeschrieben wird, ist genauso auf die wissenschaftliche Ebene übertragbar und demonstriert die Paradoxie der Soziologie auf ein Neues. Eine ästhetische Konzeption, in welcher der Begriff der Vergesellschaftung jenem der Gesellschaft vorgezogen wird, versucht dem problematischen Verhält-

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nis von Individuum und Gesellschaft entgegenzuwirken. Eine solche Konzeption beschreibt das Problem von Ausdruck und Bedeutung des Zusammenlebens, des Zwischenspiels von Individuum und Gesellschaft.10 Simmel will deshalb »den Bedeutungen nachgehen, die die gegenseitige sinnliche Wahrnehmung und Beeinflussung für das Zusammenleben der Menschen, für ihr Miteinander, Füreinander, Gegeneinander, besitzt.« (Simmel 1998a, 136) »[J]eder Sinn«, so Simmel (1998a, 137) weiter, »liefert nach seiner Eigenart charakteristische Beiträge für den Aufbau der vergesellschafteten Existenz«, und die Sinneseindrücke »führen in das Subjekt hinein, als dessen Stimmung und Gefühl, und zu dem Objekt hinaus, als Erkenntnis seiner.« An anderer Stelle seiner »Soziologie der Sinne« heisst es: »Wie aller Sinn der Wirklichkeit immer in die Kategorien des Seins und des Werdens auseinandergeht, so beherrschen sie auch das, was der Mensch vom Menschen überhaupt wahrnehmen will und kann.« (Simmel 1998a, 142 f.) In seiner Philosophie des Geldes bezeichnet Simmel mediale Artefakte, wie Ehering, Brief und Uniform, als »Substanzen, die kaum eine Bedeutung für den Einzelmenschen als solchen, sondern einen Sinn nur in den Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen haben, die in ihnen kristallisiert sind« (zit. in Hörisch 2004, 72). Durch diesen Kunstgriff lassen sich Sinne und Sinn zusammen stellen (vgl. Staubmann 2000, 219 ff.).11 Ein anderer – jedoch verwandter – Zugang legt nahe, weshalb der Grund für die vorliegende Untersuchung bei Simmel zu suchen ist: »Vielmehr glauben wir jetzt die historischen Erscheinungen aus dem Wechselwirken und dem Zusammenwirken der Einzelnen zu verstehen, aus der Summierung und Sublimierung unzähliger Einzelbeiträge, aus der Verkörperung der sozialen Energien in Gebilden, die jenseits des Individuums stehen und sich entwickeln.« (Simmel 1992b, 15; vgl. Simmel 1998b)

Das Forschungsproblem, welches ich in Simmels Konzept der Wechselwirkung zu erkennen glaube, die individuelle/inter-individuelle Zuweisung von Sinn, wurde zeitgleich mit der Gründung der Disziplin 10 | »Ex post« wohlverstanden, denn Simmels Konzeption hat seit dem Zeitpunkt der Gründung der Disziplin im deutschsprachigen Raum nicht viel Aufmerksamkeit erlangen können (vgl. Dahme 1990, 13; Staubmann 1997, 73). Dazu gehört auch das Element der »Bedeutung«, welches in der vorliegenden Arbeit eine zentrale Rolle einnimmt: »Ever since Dilthey defined the method specific to the Geisteswissenschaften [. . . ] it has been clear that what distinguishes the hermeneutic from the natural scientific method is the challenge of penetrating beyond the external form to inner meaning of actions, events, and institutions.« (Alexander 2003, 49) 11 | Ein solches Verständnis negiert Sinn/Sinne als klassisches Gegensatzpaar, in welchem »Sinn« eben Intellekt, Verstand, Denken meint und »Sinne« als Gegensatz das sinnliche Wahrnehmen, d. h. die Aisthesis, wie sehen, hören, riechen, schmecken, tasten (vgl. Hörisch 2004, 13 f.).

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Georg Simmel: Wechselwirkung

im deutschsprachigen Raum erkannt. Simmel, der sich stets gegen ein Entweder-oder wandte, entgegnete, dass das Objektive »nicht eigentlich uns [d. h. die Menschen entwickelt; S. B.], sondern sozusagen eine selbst objektive Seite oder Qualität, die an uns haftet«. Es entstehen »Unterschiede, die sich an das geheimnisvolle Verhältnis zwischen unserer einheitlichen Ganzheit und unseren einzelnen Energien und Perfektionen knüpfen.« Dieses Verhältnis erschöpft sich allerdings nicht – wie ansonsten vielfach angenommen – in der »einzige[n] zur Verfügung stehende[n] Kategorie: der Teile und des Ganzen« (Simmel 1986, 207). Das fortbestehende – und schliesslich unhintergehbare – Verhältnis von Individuum und Gesellschaft,12 das als Bestandteil der Paradoxie der Soziologie gesehen wird, verbindet sich mit folgender Feststellung Simmels: »[D]as subjektive Leben, [. . . ] das von sich aus auf seine innere Vollendung drängt, [kann] diese Vollendung [. . . ] gar nicht aus sich heraus erreichen [. . . ], sondern nur über jene, ihm jetzt ganz formfremd gewordenen, zu selbstgenugsamer Abgeschlossenheit kristallisierten Gebilde.« (Simmel 1986, 198)

Die »subjektive Seele« und die objektive Wirklichkeit (d. h. das »objektiv geistige Erzeugnis« in Simmels Worten) stehen einander gegenüber und keines für sich macht das Ganze aus. Die innere Logik, nach der sich die eine Seite dieses »Dualismus von Subjekt und Objekt« entfaltet, fällt nicht selbstverständlich mit der anderen Seite zusammen (vgl. Simmel 1986, 208 f.). Das dominierende Objekt, das »kristallisierte Gebilde«, welches die Subjekte entwickeln und »zu der Höhe ihrer selbst [. . . ] führen« sollte, nimmt diese Funktion nicht wahr und führt zu einer folgenschweren Schlussfolgerung: »die Entwicklung der Subjekte kann jetzt nicht mehr den Weg gehen, den die der Objekte nimmt«; versucht sie es dennoch, dann »verläuft sie sich in einer Sackgasse oder in einer Entleertheit von innerstem und eigenstem Leben.« (Simmel 1986, 215 f.) Entgegen dieser Kritik und der darin enthaltenen Logik hat die Soziologie anerkannt, dass »personale Entwicklung« (um einen Begriff Simmels zu verwenden) nur durch objektive (d. h. durch Gebilde geleistete) Vermittlung erreicht werden kann, obgleich sie eigentlich dem Individuum zugehört (siehe Kapitel 7.4). Trotzdem ist uns Simmel eine umfassende theoretische Konzeption schuldig geblieben und hat diese Kritik vielmehr in unzähligen Einzelstudien veranschaulicht (vgl. Hübner-Funk 1976, 44 f.; Simmel 1986). Nachdem das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Sphäre des 12 | »Der Mensch steht nicht nur unzählige Male im Schnittpunkt je zweier Kreise von objektiven Mächten und Werten, deren jeder ihn mit sich reissen möchte; sondern er fühlt sich selbst als Zentrum, das all seine Lebensinhalte [. . . ] um sich herum ordnet [. . . ]; so dass unser Wesen sozusagen den Schnittpunkt seiner selbst und eines fremden Forderungskreises bildet.« (Simmel 1986, 210)

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Sozialen – zugespitzt als »kristallisiertes Gebilde« beschrieben – erkannt ist, soll abschliessend auf dieses Verhältnis im allgemeinen und auf das Individuum im besonderen abgestellt werden. Simmel wird hauptsächlich die Gründung einer »formalen Soziologie« zugewiesen. In demselben Zusammenhang wurde er auch mehrfach als Soziologe des Raums, der Räumlichkeit und allgemeiner der räumlichen Verhältnisse bezeichnet. Simmel selbst ist für diese Zuordnung verantwortlich, weil er in seinen Schriften vielfach räumliche Bezüge (wie beispielsweise Nähe und Ferne) zu Hilfe nimmt, um soziale Beziehungen zu erklären (vgl. Simmel 1992b, 687 ff.). Somit »sehen wir, [. . . ] nahe herantretend, jedes Individuum in seinem genauen Sich-Abheben vom anderen«, weiter entfernt jedoch »verschwindet das einzelne als solches, und es entsteht uns das Bild einer Gesellschaft mit eigenen Formen und Farben«. Der Unterschied liege nur in den »verschiedenen Erkenntnisabsichten, denen verschiedene Distanznahmen entsprechen.« (Simmel 1917, 11) Die Distanzen öffnen einen Raum und führen in diesen hinein: »Nach dem Greifbaren tastend, fänden wir nur Individuen, und zwischen ihnen gleichsam nur leeren Raum. [. . . ] [A]ber wenn sie [die soziologische Betrachtung] die Existenz in einem engeren Sinne auch wirklich nur den Individuen übrig lässt, so muss sie doch auch das Geschehen, die Dynamik des Wirkens und Leidens, mit der diese Individuen sich gegenseitig modifizieren, als etwas Wirkliches und Erforschbares stehen lassen.« (Simmel 1917, 15, vgl. 72 ff.)

Damit zeigt sich nochmals ein anderer Raum als jenes »Reich«, welches Subjekt und Objekt überspannt. In beiden räumlichen Vorstellungen passiert allerdings etwas Vergleichbares: der Handlungsbegriff wird durch einen Erlebens- oder Erlebnisbegriff abgelöst. Der handlungstheoretischen Perspektive entgegengesetzt, lautet dies: »der gesamte Lebensinhalt, so restlos er aus den [. . . ] Wechselbeziehungen erklärbar sein mag, ist doch zugleich [. . . ] Erlebnis des Individuums und völlig auf dieses hin orientiert.« (Simmel 1992b, 55) Die Trennung des Menschen in Sozialwesen und Individuum sei zwar eine nützliche Fiktion, aber nicht ausreichend, »die Wirklichkeit und ihre Forderungen« erschöpfend zu erkennen und zu erklären (Simmel 1992b, 227). Das verbindende Element findet sich dann in folgender Äusserung: »Die allerdings vielleicht unauflösbare Einheit, die der Begriff Individuum bedeutet, ist überhaupt kein Gegenstand des Erkennens, sondern nur des Erlebens« (Simmel 1917, 9). Das Individuum als Einzelnes, Eigenes, das aus der heuristischen Trennung des Menschen entstanden ist, wird mit einem passenden Begriff versehen. Es wäre allerdings verfehlt, hier eine anti-individualistische Sicht hineinzulesen. Es sei daran erinnert: Schon am Anfang der Simmelschen Soziologie steht

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Georg Simmel: Wechselwirkung

die Kritik an einer Sozialwissenschaft, die »als das eigentlich Wirksame und Entscheidende [. . . ] [nurmehr die] sociale[n] Kräfte, Kollektivbewegungen [ansieht], aus denen der Anteil des Einzelnen selten mit völliger Bestimmtheit herauszulösen ist« (Simmel 1894, 271). »Der kausale Zusammenhang«, so wird Simmel (1992b, 61) später ergänzen, welcher »das äussere Netzwerk der Gesellschaft zustande bringt«, solle auch »von den individuellen Trägern her [. . . ], von seinen Produzenten« her, betrachtet werden. Die Sicht auf beide Seiten muss dann wohl räumlich gelöst werden. Schliesslich lässt sich bei Simmel sogar ein gewisses Dazwischen von Individuum und Gesellschaft erkennen, wenn er schreibt: »Die Gemeinde in ihren rein inneren Interessen vertrat hier die Rolle des Individuums in unsrer Korrelation, sie war ein soziales Individuum [. . . ], [das] nun aber ein reineres Für-sich-Sein gewann und [. . . ] [ihm gegenüber stand]. Es ist nur eine Folge des Gedankens einer solchen Beziehung zwischen Individuellem und Sozialem, wenn wir sagen: je mehr statt des Menschen als Sozialelementes der Mensch als Individuum und damit diejenigen Eigenschaften, die ihm bloss als Menschen zukommen, in den Vordergrund des Interesses treten, desto enger muss die Verbindung sein, die ihn gleichsam über den Kopf seiner sozialen Gruppe hinweg zu allem, was überhaupt Mensch ist, hinzieht und ihm den Gedanken einer idealen Einheit der Menschenwelt nahe legt. [. . . ] So finden wir bei Plato einerseits ein Interesse am rein Individuellen, an der Vollendung der Einzelpersönlichkeit, das sich zum Freundschaftsideal verbreitert, andrerseits eines an der reinen Staatlichkeit, unter völliger Vernachlässigung der dazwischen liegenden Vereinigungen und der von diesen getragenen Interessen.« (Simmel 1992b, 840; Hervorhebung S. B.)

Es ist »die Dazwischenwirkung unzähliger, im einzelnen weniger umfänglicher Synthesen«, welche »das wirkliche, in der Erfahrung vorliegende Leben der Gesellschaft [. . . ] zusammensetz[t]« und dafür sorgt, dass dieses nicht »in eine Vielzahl diskontinuierlicher [im späteren Text: unverbundener; S. B.] Systeme auseinanderbrechen« kann (Simmel 1992b, 32 f.; 1917, 13; Hervorhebung S. B.; vgl. Tenbruck 1958, 599). Es findet sich hier wiederum der Ruf nach den kleinen Formen neben den »herkömmlichen Gegenstände[n] der Gesellschaftswissenschaft«, die eben jene »Dazwischenwirkung« erzielen. Die grossen Systeme, die üblicherweise als Gesellschaft bezeichnet werden, »sind nichts anderes als die Verfestigungen [. . . ] von unmittelbaren, zwischen Individuum und Individuum stündlich und lebenslang hin und her gehenden Wechselwirkungen.« (Simmel 1917, 14; Hervorhebung S. B.) Mit seiner Soziologie will Simmel hauptsächlich darauf hinweisen, dass nicht nur das gesellschaftliche Leben besteht, sondern auch die »Herleitung und Deutung des letzteren aus dem sachlichen Sinn seiner Inhalte und auch noch aus dem Wesen und der Produktivi-

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tät der Individuen als solcher« (Simmel 1917, 24).13 Damit gelangen wir allerdings wieder zur »ästhetischen Stimmung«, denn sie macht »das Typische [sichtbar], das schlechthin Überindividuelle in der einzelnsten, unvergleichbarsten Erscheinung, und [. . . ] die Werte des persönlichsten Lebens« (Simmel 1992b, 858). Damit dürfte sich auch zeigen, dass eine Trennung in Überindividuelles und Persönliches keinen Sinn macht. Interessant scheint die Begründung, die Simmel anführt. Laut ihm können »alle Inhalte des Lebens« einer »doppelte[n] Kategorie« angehören: »[S]ie können als Resultate der gesellschaftlichen Entwicklung, als Gegenstände der menschlichen Wechselwirkungen betrachtet werden, aber mit demselben Rechte auch auf ihren Sachgehalt hin, als Elemente logischer, technischer, ästhetischer, metaphysischer Reihen, die ihren Sinn in sich und nicht in ihren von sozialen Verhältnissen abhängenden geschichtlichen Verwirklichungen besitzen.« (Simmel 1992b, 859)

In der Unterscheidung dieser Kategorien zeigen sich nochmals die reine Soziologie einerseits und die philosophische Soziologie andererseits. Neben diese zwei Kategorien »treten nun noch zwei wesentliche andre«, deren Inhalte »unmittelbar von Individuen getragen« werden, aber auch gesellschaftlich sind: »in bestimmte Bedeutungen für dieses oder jenes Individuum auslaufend.« (Simmel 1992b, 859) Diese zwei Kategorien verweisen auf die unterschiedlichen Perspektiven oder »Standpunkte«, die sich einnehmen lassen, entweder von Seiten der Gesellschaft oder von Seiten des Individuums – erkennend allerdings, dass sich diese nicht trennen lassen. Simmel bemerkt denn auch, es handle sich bei Individuum und Gesellschaft ausschliesslich um »methodische Begriffe« (vgl. Simmel 1992b, 860 f.). Ein Dazwischen, wie es in der vorliegenden Arbeit aufgefunden werden soll, dürfte sich ebenfalls über die beiden Seiten der Unterscheidung bestimmen. Mit Simmels Worten könnten diese folgendermassen beschrieben werden: »Damit also bringt die Tatsache der Vergesellschaftung das Individuum in die Doppelstellung, von der ich ausging: dass es in ihr befasst ist und zugleich ihr gegenübersteht, ein Glied ihres Organismus und zugleich selbst ein geschlossenes organisches Ganzes, ein Sein für sie und ein Sein für sich. Das Wesentliche aber und der Sinn des besonderen soziologischen Apriori, das sich hierin gründet, ist dies, dass das Innerhalb und das Ausserhalb zwischen Individuum und Gesellschaft nicht zwei nebeneinander bestehende Bestimmungen sind – obgleich sie sich gelegentlich auch so, und bis zur gegenseitigen Feindseligkeit entwickeln können – sondern dass sie die ganz einheitliche Position 13 | Dahinter verbirgt sich auch Simmels Interesse an der Sozialpsychologie (vgl. Simmel 1992b, 625 ff.), die er durchaus von der Soziologie getrennt wissen will.

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Norbert Elias: Figuration

des sozial lebenden Menschen bezeichnen. [. . . ] Die Gesellschaft besteht nicht nur, wie sich vorher ergab, aus Wesen, die zum Teil nicht vergesellschaftet sind, sondern aus solchen, die sich einerseits als völlig soziale Existenzen, andrerseits, den gleichen Inhalt bewahrend, als völlig personale empfinden.« (Simmel 1992b, 56; Hervorhebung S. B.)

Obschon sich hieraus bestimmen liesse, dass die Gesellschaft für Simmel das logische Primat hat, wäre diese Antwort zu einfach: Vergesellschaftung tritt vielmehr an die Stelle der bisher als Gesellschaft bezeichneten Entität, um dadurch das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft anzugehen, ihrer Dichotomie entgegenzuwirken. Das Individuum wird dabei zwar als Schnittpunkt sozialer Kreise bestimmt, aber nicht – oder im Verlauf der Simmelschen Theorieentwicklung immer weniger – auf diesen reduziert (vgl. Köhnke 1996, 321 ff., v. a. 330, 382 f., 431). Es gilt, weder an einer gesamtgesellschaftlichen Rahmung noch an konkreten Individuen anzusetzen, sondern die Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft konzeptuell in den Vordergrund zu rücken. Simmel zählt zu den ersten, die in der Soziologie auf die zentrale Bedeutung der Wechselwirkung aufmerksam gemacht haben. Damit schliesst sich der Kreis in der Betrachtung dieses Umgangs. Vergesellschaftung als Summe von Wechselwirkungen leistet in Folge der soziologischen Apriori einen unbegrenzten Prozess, der nie aufhört.

9.2 Norbert Elias: Figuration Der Zivilisationsprozess erfüllt für Norbert Elias eine ähnliche Funktion, wie die Vergesellschaftung für Georg Simmel.14 In Über den Prozess der Zivilisation interessiert sich Elias für die langfristigen Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen und für die dahinter liegenden Prozesse. Folglich sollen »Tatsachzusammenhänge« entdeckt und bezeichnet werden, indem die Affekt- und Kontrollstrukturen und ihr Wandel über mehrere Generationen hinweg untersucht werden. Daneben sollen die Veränderungen in den Persönlichkeitsstrukturen auf langfristige Veränderungen der allgemeinen gesellschaftlichen Strukturen bezogen werden (vgl. Elias 1997a, 10 f.). Eine der zentralen Fragen ist dabei, wie sich die Sozialstandards der Individuen im Umgang miteinander entwickeln; ein wichtiges Element zur Beantwortung sind »the degree of restraint in social interactions«. Dieser Grad schliesslich zeige sich durch »the analysis of changing linguistic usage, [whereby] the underlying forms of life become visible« (Kuzmics 1984, 84). Dieses Analysekonzept richtet sich nach dem individuellen Verhalten und sei14 | Teile dieses Kapitels entstammen einer früheren Auseinandersetzung mit Elias (Bertschi 2006b); sie wurden dem veränderten Thema entsprechend ergänzt.

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Umgang I: Muster der Ambivalenz

ner affektiven Situation und zeigt, dass Elias nicht auf einen statischen Vergleich aus ist, »but rather attempts to trace the social determination of the emotional and instinctive life« (Kuzmics 1984, 86; Hervorhebung S. B.). Den Untersuchungsgegenstand – gewonnen aus der Analyse von Benimmregeln – stellen die spezifischen historischen Umstände oder Figurationen und ihr Wandel von lose regulierten Strukturen zur komplexen Unterscheidung von Verhaltensregeln und -mustern dar. Dabei veranschaulicht Elias diese Prozesse des Wandels, der Veränderung der Figurationen, der Formen der Interaktion. Zu diesem Zweck verwendet er »Zivilisation« häufig in einer metaphysischen Bedeutung und erwähnt beiläufig, dass der Begriff höchst unklar bleibe. Diese Unbestimmtheit erweist sich deshalb nicht als problematisch, weil sich Elias hauptsächlich für die Zivilisationsprozesse und die soziale Entwicklung oder vielmehr für Entwicklungsformen interessiert (vgl. Elias 1997a, 12 f.). In seiner Diskussion von Talcott Parsons kritisiert Elias die verbreitete Dichotomie von Individuum und Gesellschaft (als zwei getrennte Einheiten) und die Annahme ihrer gegenseitigen Durchdringung (vgl. Elias 1997a, 21, 68, 46 ff.). Um die Dualität von Individuum und Gesellschaft zu überwinden und gegen das Bild eines Menschen jenseits der Gesellschaft vorzugehen, führt er veränderliche, menschliche »Figurationen« ein (vgl. Elias 1997a, 51 ff.). Wie eng diese Figurationen und der Zivilisationsprozess verwoben sind, zeigt die folgende Passage: »Die vorangehenden Untersuchungen und vor allem diejenigen Teile darin, die Problemen der Gesellschaftsmechanik gewidmet sind, versuchen, eine Antwort auf diese Fragen zu geben.15 Sie ist einfach genug: Pläne und Handlungen, emotionale und rationale Regungen der einzelnen Menschen greifen beständig freundlich oder feindlich ineinander. Diese fundamentale Verflechtung der einzelnen, menschlichen Pläne und Handlungen kann Wandlungen und Gestaltungen herbeiführen, die kein einzelner Mensch geplant oder geschaffen hat. Aus ihr, aus der Interdependenz der Menschen, ergibt sich eine Ordnung von ganz spezifischer Art, eine Ordnung, die zwingender und stärker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden.16 Es ist diese 15 | Dazu sei vor allem genannt: »Wie kommt es überhaupt in dieser Menschenwelt zu Gestaltungen, die kein einzelner Mensch beabsichtigt hat, und die dennoch alles andere sind als Wolkengebilde ohne Festigkeit, ohne Aufbau und Struktur?« (Elias 1997b, 324) Es ist wahrscheinlich nicht zu weit gegriffen, dies als die zentrale Frage der Soziologie zu bezeichnen. 16 | An dieser Stelle ist eine längere Fussnote in den Text eingelassen. Die folgende, daraus zitierte Passage zielt bereits auf einen weiteren Aspekt der Auseinandersetzung hin: »Das Miteinanderleben der Menschen, das Geflecht ihrer Absichten und Pläne, die Bindungen der Menschen durcheinander, sie bilden, weit entfernt die Individualität des Einzelnen zu vernichten, vielmehr das Medium, in dem sie sich entfaltet. Sie setzen dem Individuum Grenzen, aber sie geben ihm zugleich einen mehr oder weniger grossen Spielraum.« (Elias 1997b, 486; Hervorhebung S. B.) Dies erinnert nicht nur an die frühere Beschäftigung

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9.2

Norbert Elias: Figuration

Verflechtungsordnung, die den Gang des geschichtlichen Wandels bestimmt; sie ist es, die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt.« (Elias 1997b, 324 f.)

Norbert Elias zeigt an, dass Figurationen als eine zentrale Erklärungsstruktur sogar für ein ausgedehntes Konzept wie jenes der Zivilisation verstanden werden (analog zu Simmel, der seine Beschreibung ebenfalls ausweitet). Obgleich Über den Prozess der Zivilisation eine gezielte Studie darstellt und nicht als allgemeine Theorie angesehen werden sollte, zeigt die zugrundeliegende Begriffsarchitektur auf ein allgemeineres Verständnis der Sozialprozesse, welches durch Figurationen geleistet wird. Zivilisationsprozesse verweisen bloss auf die Mechanismen und Implikationen der emergenten Dynamik von Sozialprozessen (siehe Fussnote 23 auf Seite 310). Eine solche Sichtweise baut auf die gegenseitigen Abhängigkeiten von Individuen und auf deren psychologischen Ausprägungen auf (vgl. Quilley/Loyal 2004, 11). Sie konzentriert sich auf die Prozesse, die sich in der Verbindung zwischen den Interdependenzen von sozialer Gruppierung und der individuellen Sozialisation einerseits und den psychologischen Ausprägungen andererseits ergeben. Die Theorie ist dabei, wie schon bei Simmel, immer in eine soziologische Praxis eingebettet (hier eine zivilisatorische, dort eine ästhetische), lässt sich aber auch herauslösen.17 Allgemein formuliert lassen sich Zivilisationsprozesse wie Vergesellschaftung durch das sich ändernde Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft betrachten, weil sie durch dieses bestimmt werden (vgl. Elias 2001; Simmel 1992b; Mennell 1992, 255 f.). »Das Geflecht der Angewiesenheiten von Menschen aufeinander, ihre Interdependenzen, sind das, was sie aneinander bindet. Sie sind das Kernstück dessen, was hier als Figuration bezeichnet wird, als Figuration aufeinander ausgerichteter, voneinander abhängiger Menschen. Da Menschen erst von Natur, dann durch gesellschaftliches Lernen, durch ihre Erziehung, durch Sozialisierung, durch sozial erweckte Bedürfnisse gegenseitig voneinander mit Individualisierung, sondern verweist darüber hinaus auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und auf ein mögliches Medium. 17 | Wenn wir die Aufmerksamkeit einer Analyse von den sozialen Akteuren auf die tatsächliche Interaktion verschieben, wird offensichtlich, warum weder Individuum noch Gesellschaft besonders sinnvoll sind, wenn sie unabhängig voneinander besprochen werden. Simmels »Geflecht von Vergesellschaftungen« (Tenbruck 1989, 192) findet sich deshalb auch bei Elias. Man könnte sogar einen Schritt weitergehen und das »Rhizom« der französischen Philosophen Deleuze und Guattari hinzuziehen oder die »Schäume« des deutschen Philosophen Peter Sloterdijk, wobei die sozialen Konfigurationen der Individuen – welche die soziologische Tradition als »Gesellschaft« anruft – mit einer Schaum-Metapher beschrieben und erklärt werden sollen (siehe Kapitel 10.3). Damit geht der Hinweis einher, dass interessante soziologische Annäherungen (immer) selten(er) von Soziologen entwickelt werden und dass sich in beiden Fällen ein interessanter Rückgriff auf die Wurzeln der Soziologie feststellen lässt.

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mehr oder weniger abhängig sind, kommen Menschen, wenn man es einmal so ausdrücken darf, nur als Pluralitäten, nur in Figurationen vor. Das ist der Grund, aus dem es [. . . ] nicht besonders fruchtbar ist, wenn man unter einem Menschenbild das Bild von einem einzelnen Menschen versteht. Es ist angemessener, wenn man sich unter einem Menschenbild ein Bild vieler interdependenter Menschen vorstellt, die miteinander Figurationen, also Gruppen oder Gesellschaften verschiedener Art, bilden.« (Elias 1997a, 70; Hervorhebung S. B.)

Gemäss Elias’ Ansicht ist es nicht besonders fruchtbar, Menschen entweder nur als Individuen oder nur als Gesamtheit jenseits des Individuums zu begreifen – weder gibt es Individuen ohne Gesellschaft, noch gibt es Gesellschaft ohne Individuen. Vielmehr sollten sie als voneinander abhängige Einzelne begriffen werden, die Figurationen bilden: »Der Begriff der Figuration ist gerade darum eingeführt worden, weil er klarer und unzweideutiger als die vorhandenen begrifflichen Werkzeuge der Soziologie zum Ausdruck bringt, dass das, was wir ›Gesellschaft‹ nennen, [. . . ] vielmehr das von Individuen gebildete Interdependenzgeflecht selbst [ist].« (Elias 1997a, 70 f.)

Elias merkt zwar an, dass es möglich wäre, von einem aus Individuen gebildeten »sozialen System« zu sprechen; er hat den Begriff jedoch zurückgewiesen, weil er mit der Vorstellung der Unveränderlichkeit verbunden und deshalb benachteiligt sei. Diese Vorstellung und Elias’ Kritik binden das Konzept der Figuration zurück an Simmels Form, denn diese stellt eine ähnlich dynamische Sicht dar, wie sie in dessen »dynamic character of interactions« (Frisby 2002, 118) hervortritt. Elias wie Simmel zeigen Interesse an verflochtenen Wandlungsprozessen, sei es durch dynamische Figurationen im Zivilisationsprozess oder dynamische Formen der Vergesellschaftung. Figurationen schliessen »the notion of the unintended consequences of intended or semiintended social developments« ein (Kuzmics 1984, 96). Mit anderen Worten: Sie sind nicht nur von den Individuen, sondern auch vom Kontext abhängig (in Simmels Terminologie liesse sich in diesem Zusammenhang von Form anstelle von Inhalt sprechen). Eine Figuration beschreibt die Kette der gegenseitigen Abhängigkeiten, die zu einer spezifischen Handlung führen und die diese Handlung gleichzeitig enthalten. Man könnte festhalten, dass sich bei Elias die Gesellschaft in Figurationen auflöst und folglich in das gleiche Interaktionsgeflecht, das schon Simmels Form darstellt (vgl. Mongardini 1996, 295). Dies ist deshalb der Fall, weil die Struktur und Dynamik des sozialen Lebens nur dann verstanden werden kann, wenn die Menschen als voneinan-

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Norbert Elias: Figuration

der abhängig aufgefasst werden und in Figurationen eingeschlossen sind (Elias), wenn sie als aufeinander einwirkend aufgefasst werden und in der Form eingeschlossen sind (Simmel). Beide Konzepte setzen das Problem der menschlichen Wechselwirkung ins Zentrum der soziologischen Theorie und setzen an, die »auf verschiedenen Wertungen und Idealen beruhende Gegensätzlichkeit [auszuschliessen], die gewöhnlich heute mitschwingt, wenn man die Worte ›Individuum‹ und ›Gesellschaft‹ gebraucht.« (Elias 1997a, 71) Das Problem der Gegensätzlichkeit von Individuum und Gesellschaft war zuerst als Teil des Zivilisations-Buches vorgesehen, wurde dann aber separat als Die Gesellschaft der Individuen veröffentlicht (vgl. Elias [1939/1987] 2001, 11). Dieser Zusammenhang erklärt auch, weshalb ein Einstieg in Elias’ Auseinandersetzung mit dem Thema über Zivilisation in gleichem Masse ratsam scheint, wie jener in Simmels Auseinandersetzung über Ästhetik und Vergesellschaftung. Während Simmel Vergesellschaftung als die Summe jener Formen der Relationen auffasste, durch die Gesellschaft entsteht (genauer: aus den und durch die Wechselwirkungen der Individuen; vgl. Hübner-Funk 1976, 55 f.), fasste Elias Zivilisation als die Summe der Figurationen auf, durch die sie entsteht. Die Figuration, als Nachfolge einer ästhetischen Gesellschaftskonzeption, stellt sich zwischen Individuum und Gesellschaft; mit ihr »versucht Elias die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft hinter sich zu lassen« (Lemke 2001, 82). Mit anderen Worten: »Indem Elias weder ›Strukturen‹ noch ›Menschen‹ [. . . ] begrifflich ins Zentrum seiner Theorie rückt, vermeidet er die abstrakte Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft« (Hohl 1993, 49) und thematisiert sie zugleich. Ihn interessiert demzufolge, »wie die individuellen Handlungen im Zusammenspiel mit den Zwecksetzungen, Plänen und den Intentionen anderer Handelnder eine Eigendynamik freisetzen, [. . . ] eine gerichtete und strukturierte Form« ausbilden (Lemke 2001, 82). Es erscheint sinnvoll, diese Begrifflichkeit tentativ mit Bedeutung gleichzusetzen, da die Bedeutung – vor allem in ihrer Charakteristik als Mittler (als »Medium« in einem formalen Zwischenraum zwischen den beiden Seiten der soziologischen Unterscheidung) – ebenfalls auf Interdependenzen zwischen Individuum und Gesellschaft verweist.18 Für Elias gibt es also eine »Gesellschaft der Individuen«, eine gedankliche Konzeption, die ihn zum Begriff einer sozialen »Figur« aus mehre18 | Dabei wurde angemerkt, dass durch ein solches Unterfangen das kritische Potential der Dichotomie von Individuum und Gesellschaft verloren geht; das meint die darin enthaltene Entfremdung: »das gemeinsame Produkt der Individuen [tritt] jedem einzelnen als fremde Macht« entgegen (Hohl 1993, 49). Die in meinem Fall mit Bedeutung verbundene Frage der »Bewusstheit« sollte dieser Gefahr entgegenwirken. Diese Frage findet sich bereits bei Gabriel Tarde (2003, 9), welcher diskutiert, ob »Nachahmung« immer willentlich und bewusst zu erfolgen habe.

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ren Einzelnen führte. Dahinter steht ebenfalls die Überlegung, dass man Gesellschaft »nicht sehen[,] [. . . ] nicht mit Sinnen wahrnehmen« kann, ganz im Gegensatz zu Individuen (Elias 2001, 130). Zugleich lässt sich aus Einzelnen nicht erschliessen, was das Ganze darüberhinaus ausmacht. Das Individuum wird daher angebunden und somit der Gesellschaftsbegriff aufgewertet; es lässt sich »nicht im Gegensatz zu gesellschaftlichen Verhältnissen denken, sondern nur als deren Bestandteil.« (Klein 2006, 191) Elias (2001, 9 f.) bemerkt zwar selbst, dass es »ungewöhnlich [sei], von der Gesellschaft der Individuen zu sprechen«, aber vielleicht nützlich, um sich von dem bisherigen »Gegensatzpaar« zu distanzieren. Der Umgang mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird in der Folge zum »Kardinalproblem der Soziologie« erklärt (Elias 2001, 10).19 Die Gesellschaft wird als jenes Gebilde gesehen, das »nur besteht, weil viele Menschen vorhanden sind, und nur in Gang bleibt, weil viele einzelne Menschen etwas wollen und tun«, dessen grosse Veränderungen (gemeint sind hauptsächlich die zivilisatorischen) »dennoch offenbar nicht von dem Willen einzelner Menschen abhängen« (Elias 2001, 17). Gerade dieser Zwiespalt hätte zur Teilung des Umgangs in Individualismus und Holismus massgeblich beigetragen. Daraus darf geschlossen werden, dass »die Kluft, die sich [. . . ] in unseren Gedankenbildern zwischen Individuum und Gesellschaft auftut, mit den Widersprüchen zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und individuellen Bedürfnissen zusammen[hängt]« (Elias 2001, 24). Nochmals zeigt sich der grundlegende Widerspruch, der wohl zur Aussage leitet, das »Verhältnis von Teil und Ganzem [sei] eine bestimmte Form der Beziehung, nichts weiter« (Elias 2001, 27). Damit wird die enthaltene Spannung zumindest heuristisch angegangen. Letztlich zeigen sich darin auch die Funktionen, die sie füreinander in dieser Form der Beziehung haben: »Und dieser Zusammenhang der Funktionen, die die Menschen füreinander haben, er und nichts anderes ist das, was wir ›Gesellschaft‹ nennen. Er stellt eine Seinssphäre eigener Art dar. Seine Strukturen sind das, was wir ›gesellschaftliche Strukturen‹ nennen. Und wenn wir von ›gesellschaftlichen Gesetzmässigkeiten‹ reden, so zielen wir auf nichts anderes hin als auf dies: auf 19 | Beachtlich ist vor allem die Tatsache, dass Elias bereits in den 1930er Jahren mit seiner Figuration das Mikro-Makro-Problem zu bearbeiten begann und damit »eine theoretische Position zwischen Subjektivismus und Objektivismus ein[nahm]« (Klein 2006, 198). Die Bemerkung, dass Elias »davon aus[gehe], dass Individuum und Gesellschaft begrifflich nicht voneinander zu trennen sind« (Ebers 1995, 354), trifft allerdings nicht zu: »Genau betrachtet kann man ›Individuum‹ und ›Gesellschaft‹ nur rein sprachlich einander gegenüberstellen wie zwei verschiedene Figuren.« (Elias 2001, 199; Hervorhebung S. B.) Sie sind also höchstens begrifflich zu trennen, nicht aber in der Wirklichkeit.

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Norbert Elias: Figuration

die Eigengesetzlichkeit der Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen.« (Elias 2001, 34; Hervorhebung S. B.)

Durch die Abhängigkeiten der Funktionen zwischen Individuen (und damit zwischen dem Individuum und seiner Gesellschaft) müssen sich »die Aktionen vieler einzelner Individuen unaufhörlich zu langen Handlungsketten zusammenschliessen, damit die Handlung jedes Einzelnen ihren Sinn erfüllt.« (Elias 2001, 33; Hervorhebung S. B.) Die Beziehungen bilden eine Sphäre zwischen den Individuen, welche diese zugleich aufnimmt.20 Das Besondere an dieser Konzeption ist die direkte Formulierung, »dass Beziehungen zwischen Individuen eine eigene Struktur und Gesetzmässigkeit besitzen« (Elias 2001, 36). Von Bedeutung ist auch die Art und Weise, wie diese zustande kommen: »Das persönliche Ideal einer individuellen Sinnerfüllung durch aktives Zusteuern auf ein für den Einzelnen persönlich bedeutungsvolles Ziel innerhalb seiner Gesellschaft passt zu der spezifischen Situation, in die der einzelne Mensch in solchen Gesellschaften [d. h. hoch differenzierten Staatsgesellschaften; S. B.] hineingestellt ist.« (Elias 2001, 193 f.; Hervorhebung S. B.)

Darin zeigen sich sowohl die »Bedeutung, die die Beziehungen zwischen den Menschen für das Gepräge des Einzelnen haben«, als auch die »Integration der Individuen zu einer Gesellschaft.« (Elias 2001, 38 f.) Diese Integration wird zwar über Sinn und Bedeutung geleistet, allerdings nicht bloss von Seiten des Individuums, sondern auch von Seiten der Gesellschaft, welche ebenfalls als Individuen oder vielmehr als deren Interdependenzen verstanden wird. Doch seien die zugehörigen »›Verflechtungserscheinungen‹ [. . . ] etwas anderes als eine [. . . ] ›Wechselwirkung‹ von Substanzen, als ein rein additives Zu- und Auseinander.« (Elias 2001, 44) Daraus folgt die Kritik, dass die Vorstellung der Wechselwirkung getrennter und unabhängiger Gegebenheiten (bei Simmel: Individuen) »unbeholfen und nicht besonders sachgerecht« sei (Elias 2001, 126). Die Figuration oder Verflechtung sei mehr als blosse Wechselwirkung. Auch an dem Begriff »Netzgeflecht« wird Kritik geübt, denn »die Beziehungen von Mensch und Mensch lassen sich niemals einfach in räumlichen Formen ausdrücken.« (Elias 2001, 54) Diese Aussage erinnert auch an Elias’ Kritik am Systembegriff, der zu starr und zu wenig dynamisch sei, um die Beziehungen ausreichend zu beschreiben. Im Gegensatz zu den kritisierten Betrachtungsweisen soll das soziale »Geflecht in dauernder Bewegung als ein unaufhörliches Weben und Absterben von Beziehungen vor[ge]stellt« werden (Elias 2001, 55). Als Folge davon bezeichnet Elias (2001, 58) das Psychische oder die 20 | Vergleichbar schon mit der Kritik am Systembegriff, zeigen sich auch hier Ähnlichkeiten zur Sphärologie Peter Sloterdijks (siehe Kapitel 10.3).

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Umgang I: Muster der Ambivalenz

»Seele« als den Zusammenhang der Beziehungsfunktionen, in welchem die Funktionen gebündelt werden. Dieser Zusammenhang führt allerdings zu einem räumlichen Verständnis, wenn auch zu einem imaginären Raum. Es ist schliesslich die Perspektive, welche von der »klarere[n] Vision [. . . ] bei einem Flug« bis zu jener reicht, »die man inmitten dieses [gesellschaftlichen; S. B.] Stromes selbst gewinnt« (Elias 2001, 73), die einem das Gefühl vermittelt, man lese Simmel und nicht Elias. Wie dieser wendet sich auch Elias gegen ein Entweder-oder, führt jedoch an, dass »a priori Entscheidungen« eher etwas darüber aussagen, »wie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sein soll, [. . . ] [als darüber] wie es tatsächlich ist.« (Elias 2001, 200 ff.) Auch darin liegt allerdings, wenn auch ungleich dezidierter, ein räumliches Verständnis dieses Verhältnisses verborgen. In keiner Weise sei die »Abgetrenntheit der Individuen [. . . ] wie die Abgetrenntheit der einzelnen Menschen im Raum«, sei die Individualisierung wie eine physikalische Verteilung Einzelner. Was vielmehr sichtbar werde, sei die »Getrenntheit und Absonderung der einzelnen Menschen in ihren Beziehungen zueinander.« (Elias 2001, 167, vgl. 259) Eine interessante Verbindung könnte zu der Aussage gezogen werden, es habe »keinen rechten Sinn zu sagen, dass etwas innerhalb dieser Funktion statthat, etwa innerhalb des Bewusstseins oder des Denkens.« (Elias 2001, 158) Obschon das Denken keinen spezifischen Ort im Raum habe, ergeben sich die »Empfindungen [. . . ] des Einzelnen [. . . ] im Denken und Sprechen als Abschliessung seines ›Innern‹ von der Welt ›ausserhalb‹ seiner« (Elias 2001, 161). Es sei allerdings die »Tendenz, sich Funktionen als Substanzen vorzustellen«, die dazu leite, »ihre Beziehung als eine räumliche Beziehung« zu erleben (Elias 2001, 149). Die »Vorstellung einer ewigen Spannung und Kluft zwischen der ›inneren Welt‹ des Individuums und der ›äusseren Welt‹ der Gesellschaft« widerspiegle bloss »innergesellschaftliche Unstimmigkeiten« (Elias 2001, 197). Von Interesse ist hier (wie später bei Peter Sloterdijk) ein »Innenraum« der Gesellschaft, welcher sich aus Figurationen (bei Sloterdijk: aus Blasen und Schäumen) zusammensetzt. Obschon die »Beweglichkeit [psychischer Funktionen] in Beziehungen [. . . ] eine Erscheinung [ist], die sich [. . . ] durch Raumbegriffe wie ›innen‹ und ›aussen‹ nicht bewältigen lässt«, ist in der Figurationssoziologie eine Räumlichkeit spürbar, welche gesellschaftliche Bereiche überbaut (Elias 2001, 89, vgl. 67). Wird eingewendet, die »Einsicht in die Zusammenhänge zwischen Persönlichkeits- und Gesellschaftsstrukturen bleib[e] noch recht begrenzt« (Elias 2001, 202), dann kann diese Aussage alleine historisch nicht gegen Niklas Luhmann gewendet werden. Zusammen mit einer Kritik an »innen« und »aussen« – somit an einem Dazwischen von Individuum und Gesellschaft, wel-

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Norbert Elias: Figuration

ches dort angesiedelt wäre – erinnert Elias’ Vorwurf jedoch deutlich an jene Systemtheorie, die im nächsten Teilkapitel thematisiert wird. Der gesamte Ansatz rund um die Figuration will »dazu drängen, sich [nicht nur mit Inhalten, sondern; S. B] auch mit dem grundsätzlichen Problem des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum überhaupt auseinanderzusetzen« (Elias 2001, 204 f.). Die Einsicht, dass vorherrschende Kategorien dieser Aufgabe nicht gewachsen sind, zieht sich durch das entsprechende Werk. Elias war überzeugt, dass mit dem »Dualismus von Individuum und Gesellschaft [. . . ] eine historische Denkfigur für eine gesellschaftliche Grundtatsache gehalten werde« (Klein 2006, 198). Die resultierenden, üblichen »Antinomien zwischen zwei getrennt existierenden Gegebenheiten« seien nicht zutreffend, gleichwohl ob von einem »aussergesellschaftliche[n] Individuum« oder einer »ausserindividuelle[n] Gesellschaft« ausgegangen werde (Elias 2001, 195 f.). Gegen die bestehende dichotomische Konzeption konnte er vielmehr einwenden, »dass die Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft selbst das Resultat (oder ein Desiderat) des Zivilisationsprozesses ist«, und es sich bei dieser Unterscheidung »selbst um ein Produkt dieses Prozesses [handelt] – und um seine theoretische Verdoppelung.« (Lemke 2001, 82) Daraus lassen sich sowohl die Beschreibung der Selbstbeschreibung wie die Paradoxie der Soziologie herauslesen. Die Auseinandersetzung mit Wechselwirkung und Figuration zeigt Affinitäten zwischen den betreffenden Arbeiten von Georg Simmel und Norbert Elias. Sie teilen ein methodologisches Interesse am Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und den angeschlossenen Konzepten der Vergesellschaftung und der sozialen Wechselwirkung (vgl. Mennell 1992, 285). Simmels Form der sozialen Handlung – die Wechselwirkung – dürfte Elias zur Konzeption der Figuration inspiriert haben, obgleich die erste metaphysischen Status hat, während die zweite eine methodologische Einrichtung darstellt (vgl. Deflem 2003, 81). Die Nähe zeigt sich aber auch auf dieser Ebene: Während Simmel die Wirklichkeit (Objektivität) einer Sache (eines Gegenstands) als »etwas Unsinnliches, etwas Metaphysisches« ansah (zit. in Hübner-Funk 1976, 50), war es Elias (1997a, 12), der die Bezeichnung »Zivilisation« in einer metaphysischen Weise verwendete und ihr deshalb als sozialem »Gegenstand« diesen Charakter zuwies. Dabei zeigt sich auch: Elias und Simmel schliessen das Individuum fest mit ein, denn es »formt« und »konfiguriert« Gesellschaft als Ganzes, durch Formen und Figurationen (d. h. durch Prozesse der Vergesellschaftung und Zivilisation). Diese »Gesellschaft als Ganzes« und ihre verschiedenen Bedeutungen zu verstehen, müsste die Hauptaufgabe einer damaligen wie zeitgenössischen Soziologie sein.

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Umgang I: Muster der Ambivalenz

Während aktuelle und anscheinend zeitgemässe Theorien, wie beispielsweise Niklas Luhmanns Systemtheorie (genannt werden könnten auch die neuere amerikanische Kultursoziologie oder die AkteurNetzwerk-Theorie von Bruno Latour), zur Anwendung gelangen, vergessen wir bereitwillig, dass noch immer leistungsfähige Erklärungsversuche aus den Anfängen der Soziologie zur Verfügung stehen. Ein weiterer solcher Versuch schliesst eher an diese Anfänge an, wenn dort vorgeschlagen wird, wir sollten sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft bloss in einem fiktiven Sinne als existierend ansehen: »Social wholes and human individuals in isolation have only a virtual existence, their separation and mutual opposition are the product of false, distorted imagination, common-sense illusions and theoretical as well as meta-theoretical fallacies.« (Sztompka 1994, 273 f.)

Darin doppelt sich, was schon früher so erkannt und formuliert wurde. Es äussert sich erneut eine Kritik am Umgang der Soziologie mit ihren Gegenständen. Eine solche Kritik, ob alt oder neu, plädiert für eine »third sociology as opposed to both the sociology of action and sociology of structures, or better as merging both of them in the synthetic, more adequate approach to social reality« (Sztompka 1994, 277). Der Ruf nach einer »dritten Soziologie«, welche die Handlungssoziologie und die Struktursoziologie in einem synthetisierenden Ansatz verbindet, ist zwar nicht neuartig aber dennoch nicht sehr verbreitet. Gleichwohl findet sich gerade in den Arbeiten von Elias und Simmel ein leistungsfähiger Ausgangspunkt, der Vorarbeiten zu einer synthetisierenden Soziologie für das 21. Jahrhundert bereit stellt. Beide theoretischen Konzeptionen adressieren Gesellschaft aus einer ungewöhnlichen Perspektive. Beide Soziologen stellen – jenseits von Handlung und Struktur – vereinheitlichende Konzepte zur Verfügung, die in der einen oder anderen Weise an Ästhetik gebunden sind. Ästhetik heisst zuerst nicht viel mehr als ein bestimmtes Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Weil Menschen nur in Abhängigkeiten, in den Formen und Figurationen verstanden werden können, dienen diese als Erklärung von sozialen Prozessen. Die Figuration modelliert den Sozialprozess, der unterschiedliche Handlungen enthält. Figurationen erinnern damit nicht nur an Simmels Einheit der Form, sie entsprechen bis zu einem gewissen Grad den Formen der Wechselwirkung. Während Simmel einen intelligenten Umgang mit dem Dualismus von Individuum und Gesellschaft pflegt, vermeidet ihn Elias gänzlich. Darin kann der Hauptunterschied von »Figuration« über »Form« gesehen werden. Formen und Figurationen können als eindeutige Symbole bestimmter Bedeutungen gelesen werden. Es sind im Wesentlichen die Bedeutungen

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Niklas Luhmann: Sinn

von Interaktionsprozessen, an welchen beide Soziologen interessiert waren. Auch Niklas Luhmann hat ein Interesse an diesem »Sinn«, allerdings ist dieses sowohl anders gelagert als auch anders umgesetzt.

9.3 Niklas Luhmann: Sinn Niklas Luhmanns Systemtheorie hat seit ihren Anfängen die Soziologie polarisiert in jene, die in ihr eine neuartige, heilsversprechende Reformulierung sehen, und in jene, die ihr aufgrund ihres hermetischen Designs skeptisch gegenüberstehen (vgl. Schützeichel 2003, 10). Dies liegt wohl auch an Luhmanns Anspruch, eine Universaltheorie bereitzustellen: »Die Systemtheorie ist also universell [. . . ] in dem Sinne, dass sie den gesamten Bereich des Sozialen behandelt und nicht nur Ausschnitte aus diesem – wie die Interaktion, die Regeln, die Mobilität oder sonst eine Besonderheit der modernen Gesellschaft. Aber der Bereich der sozialen Tatsachen wird nicht zu einem Teil der Welt substantialisiert und dann zum Gegenstand soziologischer Betrachtung gemacht. Es geht eher um die gesamte Welt, die als bezogen auf die Systemreferenz sozialer Systeme gedacht wird, und das heisst als bezogen auf die sozialen Systemen eigene Differenz von System und Umwelt.« (Luhmann 1987a, 163 f.)

Die Welt wird als »sozial« gedacht. Nicht erst der Titel seines Hauptwerks hat gezeigt, worum es Luhmann eigentlich geht: um die Beschreibung der Gesellschaft der Gesellschaft. Gesellschaft ist für ihn dasjenige soziale System, das alle Kommunikation einschliesst (vgl. Luhmann 1974; 1987b, 18, 555). Die Betonung der Gesellschaft geht so weit, dass der Mensch nicht mehr als Bestandteil der sozialen Systeme und damit der Gesellschaft aufgefasst wird, sondern in deren Umwelt versetzt wird (vgl. Luhmann 1998, 744). Eine solche Denkweise führt zwangsläufig zu einer Kritik der klassischen Soziologie. Ihr Problem liege in der Annahme, »dass eine Gesellschaft aus konkreten Menschen und aus Beziehungen zwischen Menschen bestehe«. Dabei stelle sich schon bei Durkheim die »Unklarheit [. . . ], das Spezifische dieser Assoziation [durch welche Gesellschaft entstehe; S. B.] zu bestimmen.« (Luhmann 1998, 24) In Luhmanns Sicht muss diese Lücke geschlossen werden, um so die fehlgeleitete Annahme endgültig auszuschalten. Solange dies nicht der Fall sei, werde das »Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zum Problem.« So entstand auch sein Vorwurf, »Georg Simmel [. . . ] opferte in dieser Situation lieber den Gesellschaftsbegriff als das soziologische Interesse an Individuen.« (Luhmann 1998, 26; vgl. Ritsert 2001, 11 ff.) Obschon Luhmann erkennt, dass eine »genaue begriffliche Bestimmung des Gegenstandes Gesellschaft« erschwert ist, liegt gerade darin sein Ziel (Luhmann 1998, 25). Die ihn leitende

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Umgang I: Muster der Ambivalenz

Frage lautet: »Wie soll die Soziologie [. . . ] eine Gesellschaftstheorie formulieren, wenn sie nicht angeben kann, was sie mit diesem Begriff sucht?« (Luhmann 1998, 34) Gerade die Hervorhebung von »wie« und »was« scheint bemerkenswert, denn letztlich geht auch seine Theorie am Ende vom »wie« zum »was« (vgl. Luhmann 1993b; Schützeichel 2003, 20).21 Zusammenfassend bedeutet dies: »Ihr Verhältnis zur Gesellschaft müsste die Soziologie als ein lernendes, nicht als ein belehrendes begreifen. Sie müsste die vorgefundenen Probleme analysieren, eventuell verschieben, eventuell in unlösbare Probleme verwandeln, auch ohne zu wissen, wie man dann trotzdem ›wissenschaftlich geprüfte‹ Lösungen anbieten könnte. Für all das brauchte man eine theoretisch fundierte Beschreibung der modernen Gesellschaft.« (Luhmann 1998, 22)

Erneut zeigt sich darin die Paradoxie der Soziologie als »Substantialisierung« (annähernd im Sinne Louis Dumonts zu verstehen), die überwunden werden muss. Das Verhältnis von psychischen und sozialen Systemen steht zur Diskussion, da es nicht mehr Ziel ist, dieses »Verhältnis von Individuum und Gesellschaft [. . . ] als ein systeminternes zu begreifen.« Deswegen wird das Handlungssystem durch den Sinnbegriff ersetzt, die Handlung in den sozialen Systemen und das Individuum »im Gesamtsystem – [. . . ] im System des Handelns schlechthin – verortet«; damit werden psychische und soziale Systeme »nicht [mehr als] Teile eines umfassenden Handlungssystems« verstanden, sondern so konzipiert, dass sie je füreinander Umwelt bilden (Luhmann 1977, 65, vgl. 71). In einem mit »Archimedes und wir« überschriebenen Gespräch bemerkte Luhmann (1987a, 165), es sei heutzutage unmöglich, »an archimedische Punkte zur Beschreibung des Ganzen zu denken«, und erklärte die »Wende«, welche seine »systemische Formulierung der Soziologie« herbeiführt: »Die offensichtlichste Differenz ist, dass die klassischen soziologischen Theorien – Max Weber, Emile Durkheim, Georg Simmel – mit wenigen, nur unzureichend definierten Grundkonzepten arbeiten, wie zum Beispiel mit dem Konzept der Handlung, der Rolle, der Erwartung, der Beziehung usw. Das Beschreibungspotential dieser Begriffe scheint heute erschöpft zu sein. [. . . ] Die Grundintention der Systemtheorie der Gesellschaft besteht dagegen darin, eine Serie miteinander verbundener und komplexer Instrumente und Konzepte anzubieten – wie zum Beispiel Sinn, Ereignis, Relation, Komplexität, Kontingenz, Handlung, Kommunikation, System, Umwelt, Struktur, Prozess, Selbstreferenz, Geschlossenheit, Selbstorganisation, Autopoiesis usw. –, die [. . . ] aus der Entwicklung einer interdisziplinären Perspektive gewonnen werden.« (Luhmann 1987a, 157) 21 | Die Grundannahme dieses Theoriekonstrukts ist an anderer Stelle dargelegt (siehe Seite 182).

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Niklas Luhmann: Sinn

Um dies zu erreichen, braucht es eine neue Art der Explikation, muss der Substanzbegriff durch einen Funktionsbegriff ersetzt werden (vgl. Luhmann 1971, 89 f.). Hier schliesst Luhmann an Talcott Parsons’ Strukturfunktionalismus an, um anschliessend in der Weiterentwicklung erneut eigene Wege zu gehen. Deshalb beschäftigt sich Luhmann – ähnlich wie Simmel und Elias – mit funktionalen Verflechtungszusammenhängen, besser: Verweisungszusammenhängen, welche die frühere Struktur weitgehend ablösen sollen.22 Von besonderem Interesse ist deshalb das von Luhmann erstgenannte Konzept des Sinns, einer Sinntheorie, die als Kern der Systemtheorie betrachtet werden darf: »Sie fragt nach den sinnhaften Bedingungen der Möglichkeit sozialer Phänomene.« (Schützeichel 2003, 16 f.) Die Systemtheorie interessiert sich demzufolge sowohl für die Genese von Sinn (als Resultat der Operation) in sozialen und psychischen Systemen als auch für das wechselseitig damit zusammenhängende Operieren dieser Systeme im Medium Sinn. In seiner soziologischen Systemtheorie bezieht sich Niklas Luhmann auf Sinn als das Hauptgebiet der Analyse: »Wir gehen davon aus, dass alle Kommunikation im Medium Sinn operieren muss.« (Luhmann 1998, 1136) Sinn ist die notwendige Vorbedingung für Kommunikation und ihre soziale Konstruktion, und er ist folglich das Leitmedium der Operationen der sozialen aber auch der psychischen Systeme (vgl. Luhmann 1998, 50 f.). Während Sinn systemtheoretisch auf die besondere Struktur (d. h. den eigentlichen Sinn) und die Richtung (d. h. die Form) des sozialen Handelns bezogen ist,23 definiert er gleichzeitig den Gegenstandsbereich der Gesellschaftswissenschaft: »Die Soziologie hat es im Grunde genommen nur mit sinnhaften Beobachtungen zu tun, die andere Beobachtungen in ihren jeweiligen 22 | »Die Gesellschaft ist, obwohl weitgehend aus Interaktionen bestehend, für Interaktion unzugänglich geworden. Keine Interaktion [. . . ] kann in Anspruch nehmen, repräsentativ zu sein für Gesellschaft.« (Luhmann 1987b, 585) Deshalb wird begrifflich wohl besser, auch wenn auf die Verbindung hingewiesen werden soll, Verweisungs- anstelle von Verflechtungszusammenhang verwendet. Daneben wird sichtbar, dass Luhmann mit seinem Gesellschaftsbegriff eine Struktur einbringt, was wiederum zur Frage führt, ob er »auf diesen ausgedünnten Einheitsbegriff (der keiner mehr sein soll) nicht doch verzichten müsste« (Firsching 1998, 170). Das Festhalten an dem Begriff widerspricht zudem einer frühen, wegweisenden Annahme: »Ich hatte die Vorstellung, dass eine Funktion nicht von Strukturen abhängig, sondern nur ein auswechselbarer Gesichtspunkt ist« (Luhmann 1987a, 133; vgl. Luhmann 1962). 23 | Kommunikation meint die »Differenz von medialem Substrat und Form«, wobei Form »keinen ontologischen Status« hat und daher nicht die Gestalt eines Objekts meint, sondern die Unterscheidung von Objekt und Nicht-Objekt, die »Markierung einer Unterscheidung«; eine Form hat demzufolge zwei Seiten, die unterschieden werden (Luhmann 1998, 195 ff.; 2001a, 244 f.). Obschon es aufschlussreich wäre, die Formkonzepte von Simmel und Luhmann zu vergleichen, muss hier darauf verzichtet werden.

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Formen beobachten.« (Schützeichel 2003, 28) Sie hat vielmehr nach den Bedingungen der Entstehung und des Erhalts dieser Beobachtungen zu fragen, weil sie die sinnhafte, soziale Welt erst ermöglichen. Sinn wird bei Luhmann verstanden als Voraussetzung von Bedeutung und Verstehen zugleich (vgl. Schützeichel 2003, 32); er wird zudem subjektlos konzipiert, um nicht auf Subjekt oder Struktur zurückzufallen (vgl. Luhmann 1971, 26 f.). Unter »sinnkonstituierendem System« wird weder eine Ursache noch ein Einzelmensch, sondern ein »Sinnzusammenhang als solche[r]« verstanden (Luhmann 1971, 28 f.). Deshalb wird auch ausdrücklich betont, »dass der Sinnbegriff die Ordnungsform menschlichen Erlebens bezeichnet – und nicht etwa irgendeinen ausschnitthaft bestimmten Sachverhalt in der Welt.« Gemäss diesem Verständnis ist Sinn eine »Erlebnisverarbeitung«, eine »Reflexion auf das Erleben als solches [. . . ] und [er] dirigiert das Erleben nur in eine bestimmte Richtung, neben der andere möglich bleiben.« (Luhmann 1971, 31) Die zwei Aspekte, die deshalb massgeblich hineinspielen, sind Komplexität und Kontingenz, d. h. die Tatsache, dass mehr Möglichkeiten vorhanden sind, als realisiert werden können und jene, dass die Selektionen anders ausfallen könnten als erwartet. Durch den folgenden Zusammenschnitt soll dieser Aufbau nochmals veranschaulicht werden. »Sinn fungiert als Prämisse der Erlebnisverarbeitung in einer Weise, die die Auswahl von Bewusstseinszuständen ermöglicht, dabei das jeweils nicht Gewählte aber nicht vernichtet, sondern es in der Form von Welt erhält und zugänglich bleiben lässt. [. . . ] Bewusstsein wird nicht mehr angesetzt als das durch Reflexion substantialisierbare Subjekt [. . . ] von Sinn, sondern als das in seinen Potentialitäten und seinen Grenzen zu problematisierende Erleben, in bezug auf das Sinn funktional analysiert werden kann. [. . . ] Damit wird zugleich verständlich, dass bewusstes Erleben sinnhafte Erlebnisverarbeitung ist und nicht anders sein kann.« (Luhmann 1971, 34, 37, 39)

In Verbindung mit Luhmanns zentralem Begriff der Kommunikation zeigt sich, dass diese »keineswegs [. . . ] ein Vorgang der ›Übertragung‹ von Sinn bzw. Information [ist]; sie ist gemeinsame Aktualisierung von Sinn, die mindestens einen der Teilnehmer informiert.« (Luhmann 1971, 42) Wobei diese Aktualisierung eben immer auch auf die andere Seite verweist: »Sinn besagt, dass an allem, was aktuell bezeichnet wird, Verweisungen auf andere Möglichkeiten mitgemeint und miterfasst sind. Jeder bestimmte Sinn meint also sich selbst und anderes.« (Luhmann 1998, 48) Die jeweiligen »Möglichkeitsüberschüsse«, damit ist Sinn gemeint, erlauben die Auswahl zur Prozessbildung (Luhmann 1998, 1140), d. h. ich muss eine Unterscheidung treffen, um sinnvoll in jedem beliebigen sozialen Kontext fortfahren zu können (vgl. Stäheli

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2000b, 68).24 »Sinn lässt keine andere Wahl als zu wählen.« (Luhmann 1987b, 194) Deutlicher formuliert, wird unter Sinn »ein Überschuss an implizierten Verweisungen auf anderes [verstanden], der zu selektivem Vorgehen in allem anschliessenden Erleben und Handeln zwingt.« (Luhmann 1980, 35) Indem Sinn zugewiesen wird – näher zu Luhmann: aus der komplexen und kontingenten Fülle der Möglichkeiten ausgewählt wird –, werden jegliche sozialen und psychischen Formen (selektiv) erzeugt, wird Komplexität verringert (und erhalten) und damit die fortlaufende Operation gesichert (vgl. Luhmann 1971, 61). Sinn wird beschrieben als »Verweisungsüberschuss, der von aktuell gegebenem Sinn aus zugänglich ist«, und wird direkt mit Gesellschaft in Verbindung gesetzt: »Sinn ist danach – und wir legen Wert auf die paradoxe Formulierung – ein endloser, also unbestimmbarer Verweisungszusammenhang, der aber in bestimmter Weise zugänglich gemacht und reproduziert werden kann. Man kann die Form von Sinn bezeichnen als Differenz von Aktualität und Möglichkeit und kann damit zugleich behaupten, dass diese und keine andere Unterscheidung Sinn konstituiert. Man hat demnach, wenn man über Sinn spricht, etwas Greifbares (Bezeichenbares, Unterscheidbares) im Sinn; und das heisst auch, dass mit der Sinnthese eingeschränkt wird, was dann noch über Gesellschaft ausgemacht werden kann. Gesellschaft ist ein sinnkonstituierendes System.« (Luhmann 1998, 49 f.)

Sowohl die Wahl (Aktualität) als auch das Ausgeschlossene (Möglichkeit) entsteht nur, weil Sinn eine operative Einheit aus Unterscheidung 24 | »Das differenzlose Sinnkonzept garantiert, dass Systeme nicht ›auseinanderfallen‹, da System und Umwelt [und hier könnte das Individuum oder psychische System als Umwelt des sozialen Systems eingesetzt werden; S. B.] trotz ihrer Verschiedenheit immer noch im Medium Sinn integriert sind.« (Stäheli 2000b, 311) Sinn verfügt dazu über drei Dimensionen: die sachliche, zeitliche und soziale Dimension (vgl. Luhmann 1971, 48 ff.; 1987b, 112 ff.; Schützeichel 2003, 42 ff.). Diese Dimensionen der Verweisung leisten: »die Verweisung auf andere sachliche Sinngehalte in der Bedeutung des älteren Begriffs von Realität, die Verweisung auf zeitlich Distanziertes, Vergangenes oder Künftiges, und die Verweisung darauf, wie andere Personen erlebend oder handelnd sich auf den gleichen Sinn beziehen.« (Luhmann 1980, 35) Sie werden jeweils über eine spezifische Unterscheidung konstituiert: sachlich nach innen/dieses und aussen/anderes der Form (d. h. der »Markierung eines Unterschieds« oder der eigentlichen Differenz), zeitlich nach vorher und nachher und sozial nach Ego und Alter (vgl. Luhmann 1998, 1136, 199). Sie können grob mit »Sache« (die ganz entfernt auch als »Raum« gelesen werden kann), »Zeit« und »Sozialität« gleichgesetzt werden (vgl. Schützeichel 2003, 43). Nach der autopoietischen Wende wird eine vierte Sinndimension zugefügt, die sich durch die Unterscheidung Selbstreferenz und Fremdreferenz konstituiert (vgl. Luhmann 1998, 51, 885 f.). Hinzuweisen bleibt darauf, dass sich ein ansonsten bei Luhmann ausgeklammerter, sogar vernachlässigter Raumbegriff (vgl. Filippov 2000, 383) in diesem Zusammenhang unterbringen liesse und dass die Zeitdimension dem Sinnbegriff einen dynamischen Charakter zuweist (vgl. Luhmann 1980, 23), wie er sich schon bei Georg Simmel und Norbert Elias finden lässt.

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und Bezeichnung (Bestimmung oder Zuweisung) darstellt; Sinn ist die »Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung« (Luhmann 1998, 57). Das bedeutet: »In der Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems wird [. . . ] Sinn selbst reflexiv.« (Luhmann 1998, 1137) Dazu kommt, dass Selbstbeschreibungen »imaginäre Konstruktionen der Einheit des Systems« sind (Luhmann 1998, 866 f.), die es erlauben, über die Gesellschaft zu kommunizieren (siehe schon Kapitel 3.1). Wenn »durchschaut wird, dass die [beschreibenden; S. B.] Worte nicht die Gegenstände der Sachwelt sind, sondern sie nur bezeichnen[,] [. . . ] [dann] entsteht eine neue, eine emergente Differenz, nämlich die von realer Realität und semiotischer Realität« (Luhmann 1998, 218), wobei letztere auch als imaginäre Realität bezeichnet werden könnte. Das Interesse wird geweckt, weil im Anschluss von einem imaginären Raum die Rede ist: »Im Eigenverhalten des Kommunikationssystems Gesellschaft wird jener imaginäre Raum von Bedeutungen stabilisiert, der im rekursiven Anwenden von Kommunikation auf Kommunikation nicht zerstört, sondern etabliert wird; [. . . ] [es entsteht] eine emergente Ebene der kommunikativen Konstitution von Sinn, und diese Emergenz ist nichts anderes als die Autopoiesis der sprachlichen Kommunikation, die sich ihr eigenes mediales Substrat schafft.« (Luhmann 1998, 219 f.; Hervorhebung S. B.)

Es ist gerade diese Verbindung aus imaginärem Raum, emergenter Sinnebene und medialem Substrat, die in hohem Masse anschlussfähig ist, sowohl an ein »im Dazwischen« als auch an ein »emergentes Handeln«, wie sie später thematisiert werden (siehe Kapitel 11 und 13). Sinn ist, und das macht ihn im vorliegenden Kontext zu einem zentralen Begriff, ein Medium, das sowohl vom psychischen wie vom sozialen System verwendet wird (vgl. Luhmann 1971, 29). Ihre Beziehung – darin findet sich eine später wieder aufscheinende Paradoxie – »muss als emergentes System begriffen werden.« (Luhmann 1987b, 154) Sinn ist deshalb so zentral, weil er »immer in abgrenzbaren Zusammenhängen auftritt« und »zugleich über den Zusammenhang, dem er angehört, hinausweist: andere Möglichkeiten vorstellbar macht.« (Luhmann 1971, 30) Das imaginäre Element dieses Sinnbegriffs wurde früh in die Theorie integriert, und der Ansatz, ihn als Grundbegriff einzuführen, fand in der so genannten Habermas-Luhmann-Debatte auch eine gewisse Zustimmung des Kontrahenten (vgl. Habermas 1971, 171). Luhmann würde allerdings versuchen, so die Kritik, den Sinnbegriff »unterhalb der Ebene der Handlungstheorie einzuführen – als eine emergente Eigenschaft soziokultureller Systeme überhaupt, nämlich als fundamentale und [. . . ] spezifische Weise der Komplexitätsreduktion.« (Habermas 1971, 182; Hervorhebung S. B.) Wie die

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gesamte Debatte um System und Lebenswelt, die keine richtige Debatte war, hatte diese Kritik keinen Einfluss auf die weitere Entwicklung des systemtheoretischen Sinnbegriffs. Während weiterhin davon ausgegangen wird, »dass alles menschliche Erleben und Handeln sinnförmig abläuft und sich selbst nur sinnförmig zugänglich ist«, hat Sinn »Realität nur im aktuellen Vollzug«, existiert Sinn nur in »Bezug auf gegenwärtig erlebten oder gehandelten Sinn« und verweist auf »diese ›in den Köpfen der Menschen‹ individualisierte Realität.« Allerdings handelt es sich dabei nicht um Ideen, »sondern um eine sich selbst anregende kritische Masse, in der jedes Element nur ist, indem es auf andere übergreift.« (Luhmann 1980, 17 f.) Dies wird argumentativ weitergezogen und verdichtet: »Welche Zufälle immer Ereignisse auslösen, die in der Gesellschaft als Handlungen erlebt und behandelt werden; [. . . ] im sozialen System der Gesellschaft entsteht durch [. . . ] selektive Beziehung von Handlung auf Handlung [. . . ] emergenter Sinn, der keiner Einzelhandlung ganz zugerechnet werden kann, umgekehrt aber Zurechenbarkeit des Handelns voraussetzt.« (Luhmann 1980, 23; Hervorhebung S. B.)

Damit sind wir bei jenem Sinn angelangt, der über die höchste Anschlussfähigkeit an ein Konzept der Emergenz verfügt. In der anschliessenden Diskussion von Gabriel Tardes Interpsychologie wird zudem sichtbar, wie nahe sich diese Überlegungen stehen, wohl gerade, weil es sich hier ebenfalls »nicht [mehr] um ›Ideen‹ nach der Art der älteren sensualistischen Psychologie« handelt (Luhmann 1980, 18); die mangelnde individuelle Verortung suggeriert dies bereits. Weitere Nähe findet sich in der beiderseitigen Hervorhebung der Unterscheidung und in Tardes »force«, die aufgrund der enthaltenen Möglichkeit an Luhmanns Sinn erinnert. Die Notwendigkeit für den Sinnbegriff ergibt sich auch aus Luhmanns Entgegenstellung von »Gesellschaftsstruktur und Semantik« (vgl. Stäheli 2000b, 184 ff.). Die Notwendigkeit für Semantik ergibt sich von anderer Seite: »Die Gesellschaft hat keine Adresse. [. . . ] Wir können uns auf die Analyse des Mediums Sinn berufen, das mit jeder kommunikativen Verwendung neue Möglichkeiten reproduziert, die das verändern, was als Gesellschaft vorausgesetzt werden muss.« (Luhmann 1998, 866; Hervorhebung S. B.)

Die Soziologie, welche »sich in der Gesellschaft als ein externer Beobachter installiert« (Luhmann 1993b, 255), muss die unmittelbar auftretende Paradoxie – des externen Beobachters, der sich innerhalb befindet – ebenso unmittelbar »entfalten«.25 Dazu bedient sie sich 25 | Die Paradoxie kann nicht aufgelöst, sondern muss, »wie Logiker sagen, ›entfaltet‹ werden.« (Luhmann 1993b, 246)

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der Kategorie »Sinn«, weil diese als Unterscheidung die Paradoxie ersetzen und zugleich das eigentliche Leitmedium für die Unterscheidung, Beobachtung und Beschreibung zur Verfügung stellen kann (vgl. Luhmann 1993b, 246, 257). Die Beschreibung der Selbstbeschreibung kann so wenigstens zur Kenntnis genommen werden, indem gezeigt wird, dass jede diesbezügliche These »sich selbst mitmeint und entsprechend ausgearbeitet werden muss.« (Luhmann 1989, 154) Eine »Metaposition« kommt der Soziologie jedenfalls nicht zu (vgl. Luhmann 1993b, 256). Was bei dieser Beschreibung zutage tritt, »ist weder das Wesen der Dinge noch die latente Sinnstruktur, sondern der aus der Unbeobachtbarkeit der Beobachtung resultierende ›blinde Fleck‹.« (Müller-Doohm 2001, 382) Unausweichlich »kommt Soziologie nur in der Gesellschaft vor, nicht ausserhalb der Gesellschaft.« (Luhmann 1993b, 252) Zusätzlich erscheint auf wissenschaftlicher Ebene, was Gabriel Tarde für den Alltag festgestellt hatte: »Immer wenn sie [die Soziologie] kommuniziert, wird sie als Beobachter beobachtet«, wird sie als Beobachter wahrgenommen und ebenfalls wechselseitig beobachtet. Damit wird auf den Beobachtungsgegenstand eingewirkt, und die Soziologie kann »sich nicht länger als eine unabhängige Reflexionsinstanz begreifen« (Luhmann 1993b, 253). Weil »das Objekt der Soziologie, die Gesellschaft, ein sich selbst beschreibendes Objekt ist« (Luhmann 1993b, 253), leitet sich daraus eine mögliche Erklärung für die fortdauernde Bedeutung von Sinn innerhalb der Theorie ab. Da die Soziologie beschreiben will, wie die Gesellschaft sich beschreibt, sollte sie von Vorteil dasselbe Leitmedium verwenden. Das heisst: Die Soziologie sollte »sich die Frage zu stellen versuchen, wie die Welt sich selbst beobachten kann« (Luhmann 1993b, 254), wobei Welt zuerst durch Gesellschaft (soziale Systeme bzw. Kommunikation) und dann durch Individuum (psychische Systeme bzw. Bewusstsein) ersetzt werden müsste. Diese Aussage ist mit dem »[alteuropäischen; S. B] Konzept subjektiver Beschreibungen« wie mit der »Theorie [. . . ] sich selbst beschreibende[r] Systeme« kompatibel (Luhmann 1993b, 255); für die zweite müssen die eingeklammerten Begriffe gelesen werden.26 Sinn ist dabei das massgebliche Medium oder Instrument, um »die Paradoxie [zu] entfalten, also zu neuen Unterscheidungen und Bezeichnungen über[zu]gehen« (Luhmann 1993b, 257 f.).

26 | Da die Soziologie Bestandteil des Teilsystems Wissenschaft ist und »die Gesellschaft nur in der Gesellschaft beschreiben kann« (Luhmann 1993b, 252), bleibt die unbeantwortete Frage, ob sich selbst beschreibende Teilsysteme als ein mögliches »Dazwischen«, als »Inneres« der Gesellschaft, aufgefasst werden könnten (vgl. Luhmann 1993b, 255 f.).

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Niklas Luhmann: Sinn

Luhmanns »Sinn« meint eigentlich »Bedeutung«.27 Im Vergleich mit der neueren angelsächsischen Kultursoziologie ist hervorhebenswert, dass in Luhmanns Theorie Kultur zugunsten der Gesellschaft vernachlässigt wird. Luhmann gab an, dass der systemtheoretische Ansatz den Vorteil habe, »den unklaren Begriff der ›Kultur‹ entbehrlich zu machen« (Luhmann 1998, 109).28 Mit Sinn bot er einen Ersatz an, der in Richtung der Kultur zurückführt. Doch Kultur bekommt schliesslich über Semantik wieder eine zentrale Bedeutung: »Prominente Beispiele für sozial bewährte Kopplungen zwischen Bewusstsein und Kommunikation sind Sprache, Sinn, Semantiken« (Bohn 2006, 54; vgl. Schützeichel 2003, 177 f.). Von diesem Ausschluss des Kulturbegriffs ist es ein kleiner Schritt zu Luhmanns Semantik und zu Sinn: »semantische Muster präparieren das Terrain für das Auftreten von neuen semantischen Elementen.« (Stäheli 2000b, 193; vgl. Schützeichel 2003, 173 ff.) Die Semantik einer Gesellschaft bezeichnet »ihren Vorrat an bereitgehaltenen Sinnverarbeitungsregeln. Unter Semantik verstehen wir demnach einen höherstufig generalisierten, relativ situationsabhängig verfügbaren Sinn.« (Luhmann 1980, 19) Semantik ist jener Sinn oder Sinnprozess, der eine Selbstbeschreibung massgeblich erlaubt.29 Das heisst aber auch: die Semantik »beobachtet nur, was in der gesellschaftlichen Autopoiesis [d. h. dem selbstgesteuer27 | Obschon widersprochen werden dürfte, halte ich an dieser Gleichsetzung fest. Sinn heisst die »Simultanpräsentation [. . . ] von intendierten Bedeutungen mit weiteren Möglichkeiten des Erlebens und Handelns.« (Luhmann 1977, 71) Sinn ist also nicht nur Bedeutung, »sondern ausserdem noch etwas«, wie schon bei Simmel (1992b, 51) jedes Individuum durch sein Vergesellschaftet-Sein und sein Nicht-Vergesellschaftet-Sein bestimmt ist. Wenn dieser Sinnbegriff mit Bedeutung (oder auch Kultur, Zweck, Absicht) gleichgesetzt werde, so wurde vorgebracht, »dann setzt man nach Luhmann schon voraus, weshalb diese sinnhaft sein können.« (Schützeichel 2003, 29) Es ist sicherlich zuzustimmen, dass ein arrivierter Ansatz diesem Einwand Rechnung tragen muss und vielmehr zu untersuchen hat, weshalb Handlungen und Symbole sinntragend sind. 28 | Kultur ist dann noch »eine Art Vorrat möglicher Themen, die für [. . . ] Aufnahme in konkreten kommunikativen Prozessen bereitstehen [. . . ] und [dieser Vorrat wird], wenn er eigens für Kommunikationszwecke aufbewahrt wird, Semantik« genannt (Luhmann 1987b, 224). Die Entscheidung Luhmanns, einen problematischen Begriff quasi auszuschliessen, darf begrüsst werden (und wird in der vorliegenden Arbeit gespiegelt). Es zeigt sich allerdings, dass ein vollständiger Ausschluss nicht handhabbar ist; in der einen oder anderen Form (Semantik bei Luhmann, Bedeutung in dieser Arbeit) tritt immer hervor, was landläufig als Kultur bezeichnet wird. In der Systemtheorie blieb Kultur immer untrennbar mit Kommunikation verknüpft: »Im Zusammenwirken aller Kommunikationsmedien [. . . ] kondensiert das, was man mit einem Gesamtausdruck Kultur nennen könnte.« (Luhmann 1998, 409) 29 | Eine »historische Semantik«, als Offenlegung der Bedingungen, Medien und Operationen der Sinnerzeugung, ist bislang in der Soziologie kaum erforscht. Eine Ausnahme bildet daher Luhmanns Systemtheorie: Sie strebt an, »Sinn als Grundbegriff der Soziologie« zu definieren und geht seit ihren Anfängen von einer Analyse der Funktion von Sinn aus (vgl. Luhmann 1998, 1109 f.; 1971, 25).

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ten Weiterbestehen der Gesellschaftsstruktur; S. B.] produziert wird« (Luhmann 1998, 556). Daraus ergibt sich eine »Nachträglichkeit« der Semantik nach der Gesellschaftsstruktur; die Struktur hat zumindest in zeitlicher Hinsicht das Primat (vgl. Luhmann 1998, 549; Stäheli 1998; Schützeichel 2003, 184). Luhmann unterscheidet jedoch zwischen »sozialen und semantischen Strukturen« und entgeht damit dem Vorwurf eines übersteigerten Holismus (vgl. Stäheli 2000b, 205, 221). Während ursprünglich Substanz und Struktur abgelöst werden sollten, wird das funktionale Element der Semantik nun gleichfalls als Struktur bezeichnet (vgl. Luhmann 1987b, 382). Weil jedoch nur die Gesellschaftsstruktur als Struktur eines Systems verstanden wird, dürfte die Handlung, die bei Luhmann sonst hinter die Kommunikation tritt, der Seite der Semantik zugeschrieben werden. Dann liesse sich argumentieren, Semantik diene »nicht nur als ermittlungstechnisches Hilfsmittel [. . . ], sondern [sei] für die Herstellung von Handlungen konstitutiv« (Stäheli 2000b, 206).30 Dann würde vielleicht sichtbar, weshalb sich Luhmanns Definition von Handeln deutlich an Max Weber anlehnt: »Handeln ist soziales Handeln immer dann, wenn bei seiner Sinnbestimmung [. . . ] beachtet [wird], was andere davon halten würden. Handeln ist gesellschaftliches Handeln aber nur, wenn es als Kommunikation [. . . ] das Sozialsystem der Gesellschaft mitvollzieht.« (Luhmann 1987b, 580)

Im Gegensatz zur klassischen Soziologie, die »Sinn von vornherein nur als Sinn von Handlungen« erfasst habe, will Luhmann (1971, 76) auch Dinge und handlungsfrei konzipierte Symbole miteinbeziehen. Eine wichtige Beschränkung liegt allerdings darin, dass in Luhmanns Verständnis Sinn »nie direkt sichtbar [wird]; man benötigt stets Medien, um auf Sinn zugreifen und ihn verarbeiten zu können.« (Stäheli 2000b, 309; vgl. Ort 1998) Dies verlangt nicht nur nach einem neuen Herangehen an das Sprachkonzept (vgl. Stäheli 2000b, 135 ff.), sondern greift in der Folge auch die Kognition und das Medienkonzept an.31 Ferner wurde darauf aufmerksam gemacht, dass Luhmann die Sinnproblematik zwar erhellt aber nicht systematisch auflöst (vgl. Schützeichel 2003, 28 f.). Dennoch scheint gerade dieser Umgang mit dem Sinnbegriff fruchtbar, weil Sinn – obschon er den Subjektbegriff überflüssig macht (vgl. Luhmann 1987b, 111) – den Bezugspunkt zwischen psychischem 30 | Obschon der Versuch reizvoll wäre, Luhmanns Systemtheorie als eine Handlungstheorie zu rekonfigurieren, muss er unterlassen werden (vgl. Stäheli 2000b, 213 f.). 31 | Im »selbstkonstituierenden Medium Sinn« bezieht sich die »Rekursion« (d. h. der Aufruf oder die Definition einer Funktion oder Methode durch sich selbst) längst nicht mehr nur auf Sprache, sondern auch auf »Objekte, die als wahrnehmbare Dinge mit sozialem Sinn angereichert werden können«, wie z. B. auf Sakralobjekte, Münzen, Fussbälle, die »Ordnung von Raumverhältnissen durch Architektur« oder den »Sinn von Handlungen« (Luhmann 1998, 47 f.).

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und sozialem System oder zwischen Individuum und Gesellschaft darstellt (vgl. Luhmann 1987b, 95 f.; 1971, 81 f.; Di Fabio 1991, 129 ff.). Die Systemtheorie kann sich so als »dritte Position zwischen Handlungsund Strukturtheorien« festsetzen (Schützeichel 2003, 274). Handlungen und Strukturen entstehen in ihrer Logik durch systemische Operationen im Medium Sinn; wobei damit das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft erst ansatzweise beleuchtet ist. Die Position des Individuums in Luhmanns Systemtheorie ist gemeinhin schwierig zu bestimmen. Das gilt allerdings nur dann, wenn es Schwierigkeiten bereitet, seine eigene Abwesenheit zu akzeptieren, das psychische System in die Umwelt der sozialen Systeme versetzt zu sehen (vgl. Esser/Luhmann 1996, 134 f.; Luhmann 1998, 30; Zima 2000, 324 ff.). Anschliessend werden allerdings Konzepte wie die Interpenetration und die strukturelle Koppelung benötigt, um Bezüge zwischen den Systemtypen – zwischen Individuum und Sozialsystem (Gesellschaft) – herzustellen (vgl. Luhmann 1977; 1987b, 286 ff.). Die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz ermöglicht, »von zwei operativ sehr verschiedenen sinnkonstituierenden Systemen auszugehen, die sich [. . . ] über vorausgesetzte bzw. aktualisierte Fremdreferenz immer aufeinander beziehen: psychische Systeme und soziale Systeme.« (Luhmann 1998, 51; Hervorhebung S. B.) Die Vorstellungen des Bewusstseins finden sich dann allerdings nur in den psychischen Systemen, das Kommunizieren und Handeln gehört ausschliesslich ins soziale System. Für diese Systemtheorie gilt: »Soziologie wird nicht aus der Sicht des Handelnden als Transformationsweg vom individuellen Denken zum sozialen Handeln betrachtet« (Di Fabio 1991, 206). Wie ist, so fragt Luhmann (1984, 4), nach dieser Entkopplung von Individuum und Gesellschaft noch eine »Verständigung über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft« möglich? Wie sich gezeigt hat, bietet Sinn eine ganz spezifische Antwort, denn psychische und soziale Systeme sind sinnhaft aufeinander bezogen. Die Theorie, »die zu einer vollständigen Trennung von psychischen und sozialen Systemen zwingt«, bietet jedoch eine Antwort – auch ohne Bezug auf spezifische Konzepte wie das Medium Sinn. Sie sei »radikal antihumanistisch«, wenn mit humanistisch gemeint sei, die Gesellschaft »auf die Einheit [. . . ] des Menschen« zu beziehen. Sie sei jedoch »eine Theorie, die im Unterschied zur humanistischen Tradition, das Individuum ernst nimmt.« (Luhmann 2005c, 37) Die Theorie autopoietischer, sich selbst ausdifferenzierender Systeme, sei eine »radikal individualistische Theorie« (Luhmann 2005d, 157). Das liegt daran, dass das Individuum versetzt wurde, wobei »nicht einzusehen [sei], weshalb der Platz in der Umwelt des Gesellschaftssystems ein

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so schlechter Platz sein sollte.« (Luhmann 2005d, 159) Damit wird das Individuum jedenfalls in ganz besonderer Weise »herausgestellt«. Weil kein Gesellschaftssystem mit seiner Umwelt kommunizieren kann, muss »eine Begrifflichkeit gefunden werden, die auf keine der internen Operationen der betreffenden Systeme zurückgreift: weder auf bewusste Gedankenarbeit [der psychischen Systeme] noch auf Kommunikation [der sozialen Systeme].« Die notwendige »operative und strukturelle Koppelung« wird deshalb als »Interpenetration« bezeichnet (Luhmann 2001b, 130). Von ihr lässt sich sprechen, »wenn die strukturelle Komplexität eines Systems für den Aufbau der strukturellen Komplexität eines anderen Systems zur Verfügung gestellt wird.« (Luhmann 1989, 162) Wiederum gilt dabei: »Sinn ermöglicht die Interpenetration psychischer und sozialer Systembildungen« (Luhmann 1987b, 297), nimmt allerdings unterschiedliche Formen des Umgangs an: »Bewusstseinssysteme werden durch Interpenetration mit sozialen Systemen sozialisiert« (Luhmann 2001b, 131), wobei aufgrund der unterschiedlichen Operationen (Bewusstsein bzw. Kommunikation) von Fremdsozialisation auf Selbstsozialisation umgestellt werden muss. Die Unterscheidung, so liesse sich vereinfacht sagen, wird innerhalb vollzogen, ohne direkten Zugriff auf die Umwelt. Das Individuum (psychische System) hat einen Sinnbedarf, um den eigenen, auf sich selbst bezogenen Fortgang »im Wechsel aller spezifischen Sinnstrukturen [zu] garantier[en].« (Luhmann 1987b, 299 f.) Das »Aussen« (als Beispiel: das Rechtssystem der Gesellschaft) kann »innen« (im psychischen System) nur in eigener Weise abgebildet und nutzbar gemacht werden. Als konkretes Beispiel diene ein Unterseeboot, welches nur über Sonar ein Abbild seiner Umwelt erhalten kann und darauf in dieser eigenen technischen Weise reagieren muss. Das U-Boot bezieht sich auf sich selbst, um sich auf eine nicht direkt zugängliche Umwelt zu beziehen (vgl. Maturana/Varela 1987, 149 f.). Damit soll deutlich werden, was es heisst, dass soziale und psychische Systeme »jede Reproduktion ihrer eigenen Operationen, was immer die externen Anlässe sind, nur an den eigenen Strukturen orientieren.« (Luhmann 2001b, 113 f.) Soziale Fälle sind in der Regel komplexer als dieses Anschauungsbeispiel, denn die einzelne Person kann einer Vielzahl gesellschaftlicher Teilsysteme angehören und sich dort engagieren: beruflich beispielsweise im Wirtschaftssystem, im Rechtssystem oder im Erziehungssystem (vgl. Luhmann 2005a, 145 f.). »Da die Gesellschaft aber nichts anderes ist als die Gesamtheit ihrer internen System/Umwelt-Verhältnisse und nicht selbst in sich selbst als Ganzes nochmals vorkommen kann, bietet sie dem Einzelnen keinen Ort mehr, wo er als ›gesellschaftliches Wesen‹ existieren kann. Er kann nur ausserhalb der Gesellschaft leben, nur als System eigener Art in der Umwelt der Gesellschaft sich

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reproduzieren, wobei für ihn die Gesellschaft eine dazu notwendige Umwelt ist.« (Luhmann 1989, 158, vgl. 151 f.)

Deshalb lässt sich sagen, »Gesellschaft [. . . ] erzeugt selbst die Differenz von Individuum und Gesellschaft [. . . ]; sie erzeugt sich selbst in Differenz zum Individuum.« (Luhmann 1989, 151) Bemerkenswert bleibe, so Luhmann (2001b, 122), »dass die Kommunikation sich nur durch Bewusstsein reizen lässt«; erst wenn Radioaktivität oder Smog bewusst gemacht werden, kann darüber kommuniziert werden, stellt sich eine gesellschaftliche Wirkung ein. Damit scheint es der Systemtheorie zu gelingen, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft informiert – was soviel bedeutet wie radikal und komplex – und ideologiefrei zu beschreiben. Als passendes Beispiel gilt: »Ob ich meine, was ich sage, weiss ich nicht. Und wenn ich es wüsste, müsste ich es für mich behalten.« (Luhmann 2001b, 132) Deshalb sollte in ihrer Logik auch der Begriff der Wechselwirkung durch jenen der »wechselseitige[n] Unkontrollierbarkeit« ersetzt werden (Luhmann 2005d, 158). Es liegt nahe, dass eine solch zugespitzte Explikation Kritik auslöst. Eine spezifische Kritik zielt auf den Subjekt-Verzicht einer Theorie, die »vorgibt, nichts als black boxes zu benötigen, um die Genese der Gesellschaft einsichtig zu machen.« (Dux 2003, 261) Besonders der Anspruch, dass zwei »black boxes«, die »füreinander undurchsichtig« sind, aber im Rahmen gegenseitiger Kontingenz und Erwartungserwartung miteinander zu tun haben, die »Grundbedingung der Möglichkeit sozialen Handelns schlechthin« erklären (Luhmann 1987b, 156), stösst auf Widerstand: »Die Absurdität wird in dem, was Luhmann selbst in das System einführen muss, damit es geht, deutlich. [. . . ] Beide unterstellen einander damit eine gemeinsame Sinnwelt, aus der heraus sich jede in der Kontingenz ihres eigenen Kommunikationsbeitrages bestimmt. [. . . ] Luhmann unterstellt die gemeinsame Sinnwelt, lässt dann jedoch jede [black] box für sich operieren und versteht die psychischen Systeme [. . . ] als eine Grösse, die im strengen Sinne sich aus sich heraus zu sich bestimmt.« (Dux 2003, 261 f.; Hervorhebung wurde weggelassen)

Tatsächlich ist »Selbstreferenz [. . . ] in den Sinnbestimmungsprozess, der Handlungen erst konstituiert, immer schon eingebaut« und die »Elemente [. . . ] aus denen Systeme gebildet werden, kommen ohne solche Selbstreferenz gar nicht zustande« (Luhmann 1987b, 182 f.). Dabei zeigt sich eine der Paradoxien, auf die es Luhmann anzulegen scheint, wenn er antritt, »den hartgetretenen Boden der Begriffstradition umzupflügen und ihn wieder fruchtbar zu machen.« (Luhmann 1984, 1; vgl. Bühl 2000) Er scheint weiterhin einen wie auch immer

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Umgang I: Muster der Ambivalenz

gearteten »intersubjektiven Wechselbezug« zu benötigen (vgl. Schmid 2000, 145 ff.). Für seine Reformulierung wendet sich Luhmann zuerst gegen Emile Durkheim, der »die übliche, gewissermassen natürliche Version des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft [d. h. die Individuen konstituieren die Gesellschaft; S. B.] einfach um[kehrt]«, d. h. »die Gesellschaft konstituiert [bei Durkheim; S. B.] die Individuen« (Luhmann 1984, 4 f.). Auf der anderen Seite werde aufgrund der Schriften von Simmel und Mead eine »Dialektik von personaler und sozialer Identität« postuliert, die seiner Ansicht nach »nicht viel mehr als eine Reformulierung des Problems von Individuum und Gesellschaft als internes Problem des Individuums« bietet (Luhmann 1984, 6). Das Identitätsproblem will Luhmann durch die Differenz auflösen und dadurch zugleich das Verhältnis erklären: Dazu diene die »Differenz von Identität und Differenz« (Luhmann 1987b, 26). Auf der Suche nach Konstitution und Bestandserhaltung individueller Reflexionsidentität, trifft er auf jene literarischen Stimmen, »die zeigen, wie man’s wirklich macht[:] Man reflektiert nicht auf sich selbst, man kopiert andere.« (Luhmann 1984, 7) Ohne allerdings auf Gabriel Tarde zu verweisen, zieht er eine durch Nachahmung ersetzte Selbstreflexion bei und kritisiert die Soziologie, welche »nicht wahrgenommen [habe], dass die Figur des seine Identität konstituierenden [. . . ] Individuums [. . . ] aufgegeben worden ist.« (Luhmann 1984, 8) Das systemtheoretische Konzept, den Menschen auszulagern, zwinge jedoch dazu, »die Anthropologie zu verabschieden oder sie als Intersystemverhältnis zu rekonstruieren.« (Luhmann 1984, 9) Die zweite Möglichkeit lässt eine unausgesprochene Nähe zu Tardes Interpsychologie erkennen. In Luhmanns Systemlogik werden anstelle des Menschen die psychischen Systeme eingeführt, welche mit den ebenfalls geschlossenen, sozialen Systemen zusammenkommen und »wechselseitig füreinander Umwelt sind.« (Luhmann 1984, 9) Zwei theoretische Forderungen führen dann zur geschilderten Paradoxie. Die erste Forderung besagt: Das Individuum habe »sich selbst von sozialen Anforderungen zu unterscheiden.« (Luhmann 1989, 152) Dies wird durch die Trennung und gegenseitige Abgrenzung erreicht, gerade auch durch jene von Bewusstsein und Kommunikation.32 Das Individuum steht »nunmehr ausserhalb der Gesellschaft.« (Schroer 2001, 226); es wird als »Bezugspunkt oder Element aus dem Zentrum der Soziologie an den Rand« gedrängt (Di Fabio 1991, 205). Wobei dann die berechtigte Frage an32 | Durch das folgende Zitat ergibt sich ein direkter Bezug zur Emergenz (siehe Kapitel 11) und zur daran anschliessenden Konzeption eines Dazwischen: »Die Beziehung zwischen Systemen wird als eigenes, aus dem ›Zwischen‹ emergierendes Kommunikationssystem konzipiert und das individuelle Einzelsubjekt dadurch vom Sozialsystem Kommunikation abgetrennt.« (Schmid 2000, 141)

246

9.3

Niklas Luhmann: Sinn

schliessen müsste, wo genau und in welcher Weise das Individuum je im Zentrum der Soziologie stand. Es wird durch Luhmanns Vorgehen allerdings sichtbar, dass er tatsächlich »das Individuum ernst nimmt« (Luhmann 2005c, 37), schliesslich weist er ihm als System einen gleichbedeutenden Platz neben dem sozialen System oder der Gesellschaft zu (vgl. Schroer 2001, 227 f.). Es spielt dann keine Rolle, ob dieser Platz ausserhalb liegt; vielleicht dürfte gerade dies als ein genialer theoretischer Schachzug beurteilt werden.33 Durch die strukturelle Koppelung und Interpenetration »bleiben – in die ›alteuropäische‹ Terminologie übersetzt – Individuum und Gesellschaft notwendig aufeinander angewiesen.« (Schroer 2001, 229) Was ändert ist bloss der konzeptionelle Umgang mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, und damit werden zu einem späteren Zeitpunkt die Parallellen zu Peter Sloterdijks Sphärologie sichtbar (siehe Kapitel 10.3). Das ambivalente Moment findet sich bei Luhmann nicht mehr in der Spannung und der gegenseitigen Gefährdung von Individuum und sozialer Ordnung (vgl. Schroer 2001, 235 f.), sondern im theoretischen Umgang mit ihnen. Die zweite Forderung besagt: »Die Form psychischer Systeme ist der Unterschied von Selbstreferenz und Fremdreferenz.« (Luhmann 2005a, 139) Womit wir hinsichtlich des Individuums bei der Zielsetzung angelangt sind, »nichts weiter als Selbstreferenz ernst zu nehmen« (Luhmann 1984, 8; vgl. Schmid 2000, 136 f.), und dabei bei der Voraussetzung, dass ein gemeinsamer, in der Theorie über Sinn und Semantik angelegter Sinnhorizont zur Verfügung gestellt werden muss (vgl. Martens 2000, 260 ff.). Grund dafür ist die von Luhmann geforderte Verschiebung, wobei es nicht mehr hauptsächlich um die »Beziehungen zu anderen [Individuen]« oder psychischen Systemen gehe,34 sondern um die »Beziehung zu sich selbst« und die »auf Grund dieser Selbstbeziehung erworbenen Eigenschaften.« (Luhmann 2005b, 122) Ziel ist es, »Identität« – d. h. auch Individuum (siehe Kapitel 4.5) – herzustellen, »damit sein Verhalten [d. h. jenes des individualisierten Menschen; S. B.] in dieser nur für ihn geltenden Konstellation an Hand seiner individuellen Person für andere wieder erwartbar gemacht werden kann.« (Luhmann 2005b, 126) In Antwort auf den Zwiespalt von 33 | Vorbehaltlich eines problematischen Holismus, der sich allerdings bei Luhmann trotz zeitweiliger »Überhöhung« der Gesellschaft kaum zeigt, gilt: »Die Soziologie [insbesondere die organizistische Soziologie; S. B.] fragt nach den nichtvertraglichen Grundlagen der Bindungswirkung von Verträgen. Der Mensch ist von sich her nicht einmal mehr vertragsfähig. Er verdankt seine Sozialität – der Gesellschaft.« (Luhmann 1987b, 288; vgl. Schroer 2001, 260) Hier ist wohl selbst eine Kritik an dieser Soziologie herauszuhören. 34 | Obschon Luhmann in diesem Zusammenhang selbst von »Individuum« spricht, sollte dieses – für die Verständlichkeit meiner Darlegung und trotz der Gefahr einer Verkürzung – als »psychisches System« übersetzt werden (vgl. Schroer 2001, 227).

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9

Umgang I: Muster der Ambivalenz

Individuellem und (erwartbarem) Allgemeinen, hätten die soziologischen »Gesellschaftsbeschreibungen [. . . ] zu Kontroversen zwischen ›Individualismus‹ und [. . . ] ›Kollektivismus‹ [. . . ] [in der vorliegenden Arbeit als Holismus bezeichnet; S. B.] geführt, die sich in der blossen Entgegensetzung festliefen.« (Luhmann 1987b, 351) Dagegen hält Luhmann direkt an, produziert allerdings mit seiner beiderseitigen Setzung des Individuums als Problematik der Gesellschaft – im psychischen und im sozialen System – eine unvorhergesehene Paradoxie (vgl. Schroer 2001, 273), erzeugt also das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gleichfalls dichotomisch. Rückbesinnend auf das Medium Sinn lässt sich die von Luhmann geforderte Verschiebung auch auf soziale Systeme anwenden, auf die »Beziehung« des Individuums zur Gesellschaft. Die Ambivalenz bei Luhmann findet sich in der Selbstabbildung der Gesellschaft durch das Individuum im Individuum, die durch Sinn vermittelt sein muss.

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10 Umgang II: Vom Individuum zur Gesellschaft Dieser zweite Umgang darf als moderner (d. h. neuartiger) Umgang bezeichnet werden. Dies liegt daran, dass die verwendeten »Stimmen« allesamt ein soziologisches Schattendasein fristen oder, wie im Falle Ferdinand Tönnies’, vielfach missbräuchlich verwendet werden. Neuartig ist dieser Umgang auch deshalb, weil mit dem dritten »Soziologen« kein Vertreter dieses Fachs zu Wort kommt, sondern ein Philosoph. Neben Gabriel Tarde, der eine individualistische (beinahe psychologische) Soziologie vertrat, wird Tönnies herangezogen. Seine Beschäftigung mit Gemeinschaft und Gesellschaft liefert eine weitere Facette zur Betrachtung von Individuum und Gesellschaft. Peter Sloterdijk, die dritte und bewusst nicht-soziologische Stimme, beruft sich allerdings explizit auf Gabriel Tarde. In seiner Sphären-Trilogie befasst er sich mit der Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft aus einer (sozial-)philosophischen Perspektive. Dabei wurde vorgebracht, dass er sich zu den soziologischen Grundbegriffen – wie zu Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft – eindeutig quer legt. Parallel zum ersten Umgang ist die dritte Stimme eine »dissidente« – in Luhmanns Fall aus der Disziplin heraus und vordergründig dem Gesellschaftsbegriff verhaftet, im vorliegenden Fall als einer Kritik von aussen. Sie bereichern die Auswahl in je reflexiver Weise. In einer Hinsicht ist dieser Umgang allerdings ein klassischer, da sich alle Autoren direkt mit dem Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft auseinandersetzen. Diese Argumentation schliesst an den früheren Teil zu den »Verhältnissen« an. Wie sich zeigen wird, schreiten wir in den folgenden drei Kapiteln vom Individuum zur Gesellschaft.

10.1 Gabriel Tarde: Interpsychologie Mit Gabriel Tarde wird – neben Emile Durkheim – ein zweiter französischer Soziologe in die vorliegende Arbeit aufgenommen. Dies liegt daran, dass Tarde der Sozialpsychologie äusserst nahe steht (vgl. Lubek 1981, 364 ff.) und eine neuartige Sichtweise einbringt. Durkheim hingegen bekämpfte die Ansicht, »dass die Psychologie, die es nur mit dem Individuum zu tun habe, zur Begründung der Soziologie herangezogen werden könne«, da letztere sich mit den »kollektiven Vorstellungen«

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10

Umgang II: Vom Individuum zur Gesellschaft

beschäftigen solle (König 1978, 67). Diese Sicht begründete und nährte die »entschiedenste Ablehnung der Tardeschen ›Interpsychologie‹« (König 1978, 68) und weist auf den »Gegensatz zwischen Gabriel Tarde und Durkheim« hin, der einer »rein zufälligen Zeitkonstellation« geschuldet ist (König 1978, 108 ff.). Gleichwohl zeigen sich an dieser Konstellation zentrale Aspekte des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Es war bereits Tarde, unter anderen beeinflusst von Auguste Comte und Herbert Spencer, der Soziologie dahingehend auffasste, dass sie nicht von der Gruppe, sondern von den (psychologischen Wechselbeziehungen der) Individuen auszugehen hat (vgl. Hillmann 1994, 860). Dies ist umso erstaunlicher, als gerade Comte und Spencer den Gesellschaftsbegriff mit vorbereitet hatten, den Emile Durkheim, Tardes Zeitgenosse und Widersacher, schliesslich in die Form einer positiven Tatsache goss und zum Gegenstand der Soziologie erhob (vgl. Tenbruck 1989, 193). »Ähnlichkeit« und »Wiederholung«, so wird sich zeigen, zählen zu Tardes Grundbegriffen und ermöglichten unter anderem einen späten Anschluss durch die Gegenwartsphilosophie (z. B. bei Gilles Deleuze und Peter Sloterdijk). In den Regeln der soziologischen Methode wie in seinem Werk zum Selbstmord setzt sich Durkheim »mit seinem Gegenspieler Gabriel Tarde und seiner psychologischen Interaktionstheorie des Sozialen« auseinander und greift diese an (König 1978, 154). Voraussetzung dieses Angriffs ist zum einen die bereits genannte »Überwindung des psychologischen Atomismus«, zum anderen jedoch Tardes »Interaktionslehre mit ihrem Haupterklärungsmittel der Nachahmung«, die theoretisch unterstellt, »dass ein individuelles Verhalten sich nach dem Vorbild eines anderen bilde.« Gegen diese Lehre wendet Durkheim ein, es gebe »kein Vorbild und keine Kopie für sich, sondern ›gegenseitige Durchdringung‹ und ›Fusion‹, eben den Kollektivzustand« (König 1978, 154). Da sich Durkheim wirksam gegen Tardes Ansichten durchsetzen konnte, ist letzterer in Vergessenheit geraten und wenn überhaupt, dann durch seine Arbeiten zur »Nachahmung« oder als Kriminologe bekannt (vgl. Lubek 1981, 361 f.). Zudem war hinderlich, dass sein Vorgehen noch in der frühen deutschsprachigen Soziologie auf Ablehnung stiess: »während Tarde als reiner Individualist die traditionelle Richtung nur durch eine originelle Psychologie bereichert.« (Salomon in Oppenheimer/Salomon 1926a, 3) Erst in neuerer Vergangenheit keimt das Interesse an Gabriel Tardes Soziologie wieder auf, dies nicht zuletzt durch Bruno Latour, welcher Tarde als geistigen Vorläufer seiner Akteur-Netzwerk-Theorie bezeichnet (vgl. Latour 2001b).

250

10.1

Gabriel Tarde: Interpsychologie

Sowohl Durkheim wie Tarde glaubten, sie hätten je die korrekte ontologische Sicht auf die Soziologie entwickelt. Während Tarde die Gesellschaft als Aggregat von Individuen konzipierte, die auf einer Mikroebene betrachtet werden müssen (psychologisch und mit dem Schwerpunkt der Nachahmung), sah Durkheim die Gesellschaft als eigene Entität oder auch als Totalität vor. Tarde hat die Idee angefochten, dass ein soziales Ganzes mehr sei als seine Teile. Das zeigt sich in der folgenden Aussage: »Certes, si la société nous avait entièrement faits, elle ne nous aurait faits que sociables.« (Tarde 1895c, 277) Der Schluss, dass Tarde in gewisser Weise wie ein Reduktionist oder nahe des späteren methodologischen Individualismus dachte, wäre allerdings verfrüht. Durkheims Ansicht war, die Soziologie »devra renoncer au caractère philosophique qu’elle doit à son origine et se rapprocher des réalités concrètes« (Durkheim 1904, 5). Dabei gehe es um eine Abstraktion der sozialen Tatsachen. Auch Tarde distanziert sich von der Philosophie, hält jedoch dagegen, die »comparaison des comparaisons serait la sociologie. [. . . ] [Es seien] toujours des faits psychologiques et interpsychologiques que nous [die Soziologen] manions« (in Durkheim 1904, 6). Tarde »admet l’importance des lois générales« (wobei fraglich ist, inwieweit diese Interpretation zutrifft), verlange aber, dass eine zweite Methode hinzugezogen werden muss, die »microscopie sociale qu’est la psychologie intermentale« (Durkheim 1904, 7; vgl. Tarde 1895b, 212 ff.; König 1978, 141 f., 159 f., 177 f.). In der direkten Auseinandersetzung bemerkte Tarde gegenüber Durkheim: »je comprends votre méthode, c’est de l’ontologie pure. [. . . ] Il ne peut y avoir qu’actions individuelles et interactions. Le reste n’est qu’entité métaphysique, que mysticisme.« (in Durkheim 1904, 8) Dies war ein Vorwurf, gegen den Durkheim keine unmittelbare und konstruktive Entgegnung vorbringen konnte. Auf einen einfachen Nenner gebracht: »Tardes Vorwurf gegen Durkheim lautet, dass dieser sich vorgibt, was erklärt werden muss.« (Deleuze 1997, 107; Hervorhebung S. B.; vgl. Tarde 1895b, 222 f.) Dies erinnert an Tenbrucks Vorwurf gegenüber Durkheims Begriffsbildung der Gesellschaft. Deutlicher sind die Ähnlichkeiten noch, wenn Tarde auf »la séparation radicale [verweist], la dualité absolue de nature qu’il [Durkheim] prétend établir entre le fait collectif et les faits individuels« (Tarde 1895b, 214). In beiden Kommentaren – bei Tarde wie später bei Tenbruck – wird die Frage aufgeworfen, ob es sinnvoll ist, Totalitäten zu postulieren, und ob diese irgendetwas erklären können. Tarde, so liesse sich behaupten, ging einen Schritt weiter: er beschuldigte Durkheim ganz direkt, an der Dualität, dem problematischen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft schuld zu sein.

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10

Umgang II: Vom Individuum zur Gesellschaft

Von besonderem Interesse ist einer von Tardes frühesten Vorträgen. In »Maine de Biran et l’évolutionnisme en psychologie« ([1876] 2000) beschäftigt er sich mit einem geistigen Vorläufer. Es ist hier, wo »le plus ontologue des sociologues et le plus métaphysicien des psychologues« aufeinandertreffen (Eric Alliez im Vorwort zu Tarde 2000, 10 f.).1 Die Kritik richtet sich noch gegen Herbert Spencer und ein biologisch-evolutionäres Verständnis des Sozialen (vgl. Tarde 2000, 52 f.). Die soziale Verbindung ist bei Tarde, wie wir sehen werden, nicht organisch oder gar panoramisch, sie ist vielmehr zerebral und mikrophysisch (vgl. Joseph 1984, 549). Die radikale Diskontinuität, die von Tarde proklamiert wird, widerspricht der klassischen evolutionären Lehre. Auf den Ruf »des faits! des faits!« sei mit »à la question!« zu antworten (Tarde 2000, 51). Der Psychologe Maine de Biran »indifférent au monde extérieur, obstiné à aiguiser sa vue intérieure [. . . ], ce qu’on qualifie aujourd’hui de méthode d’introspection, ne ressemble en rien au psychologue contemporain.« (Tarde 2000, 55) Und doch wird schnell einsichtig, dass die dauernde Bewegung des zeitgenössischen Psychologen nicht nur Vorteile hat. Denn neben der Selbstbeobachtung gewinnen wir eine (neue) Sicht auf die »Monade« (vgl. Tarde 2000, 56, 66), die bei Tarde zentrale Bedeutung erlangen wird.2 Dabei zeigt sich – wiederum in Abgrenzung zu Spencer, der in gewisser Weise als vorläufiger »Platzhalter« für Durkheim eintritt – auch bereits eine Zweiheit: »Tout le dualisme, en effet, l’histoire des sciences et de la philosophie le démontre, est une théorie provisoire, née d’une analyse incomplète et destinée à périr sous les coups soit du monisme soit du système opposé, qui ne s’est jamais jusqu’ici ouvert complètement ni nettement découvert, et que j’appellerai le système de la Différence.« (Tarde 2000, 61)

Es ist wohl mehr als ein Detail, dass »Différence« hier durch Grossschreibung hervorgehoben wird, handelt es sich doch um einen massgeblichen Aspekt der Methode Tardes (vgl. Tarde 2000, 119 f.). Laut ihm gilt: ich bin, wenn ich mich von anderen unterscheide und diese anderen sich von mir unterscheiden (vgl. Tarde 2000, 60). Es brauche folglich zwei Elemente, »à constituer la vie mentale«; das sind 1 | Pierre Maine de Biran kam schon im Zusammenhang mit der frühen Definition von »Subjekt« zu Wort (siehe Fussnote 2 auf Seite 56); er gilt heute als Begründer einer personalistischen Tradition in der Philosophie. Der Eindruck, es dauere lange, bis Tarde seine wichtigen Schriften publiziert (v. a. [1890] 2003), ist der damaligen Verlagspolitik geschuldet, welche die Drucklegung etlicher, sogar vor diesem Vortrag verfertigter Schriften verzögert hat (vgl. Lubek 1981, 362 f.). 2 | Ein weiterer Aspekt, der aus dem Werk Maine de Birans abgeleitet wird, soll bloss am Rande erwähnt sein: jener der Sinne (vgl. Tarde 2000, 57 ff.), der die Diskussion um Metaphysik und Phänomenologie einschliesst und an Simmels Soziologie erinnert.

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10.1

Gabriel Tarde: Interpsychologie

Empfindung (sensation) und Anstrengung (effort); beiden Autoren, Maine de Biran wie Tarde, ginge es um den Versuch, »à ›élémenter‹ la vie mentale«,3 beide »ne nie[nt] point la distinction de la croyance et du désir« (Tarde 2000, 72). Beide leugnen also in keiner Weise die Unterscheidung von Glauben und Begehren. Was dies für Tardes Theoriekonstrukt bedeutet, wird im weiteren Verlauf sichtbar. Weiterhin nennt Tarde »l’association des idées«, d. h. die Tatsache oder »grande théorie« (Tarde 2000, 95), dass eine Idee eine weitere ohne notwendigen Rückbezug evoziert, eine Theorie englischer Ausprägung (Dugald Stewart, John Stuart Mill, Alexander Bain), aus welcher sich weitere Argumente ziehen lassen. Mit anderen Worten: »Il y a des associations entre les traces ou clichés du cerveau, comme entre les images ou souvenirs« (Tarde 2000, 81; vgl. Durkheim 1984, 96 f.), womit wir zur Kognition wie zum Klischee »zurückgekehrt« wären (siehe Kapitel 5.5 und 8.4) oder vielmehr frühe soziologische Vorläufer gefunden hätten. Schliesslich geht es darum, »à confondre la sensation avec ses conditions extérieures« (Tarde 2000, 84), wobei differente wie identitäre und bewusste wie unbewusste Kräfte ins Spiel gelangen. Gerade dabei zeige sich, »un être [est] séparé des autres êtres ou des autres types [. . . ] par une hétérogénéité radicale« (Tarde 2000, 87), was nicht nur an Simmels Typen erinnert, sondern die Wirksamkeit eines Vorgehens von innen (Individuum) nach aussen (Gesellschaft) unterstreicht.4 Anhand eines Zitats von Maine de Biran zeigt Tarde zudem,5 woher er seine Inspiration zieht: »Mais continuons ce curieux passage, ›le sujet et l’objet, ou l’antécédent et le conséquent du même rapport, pourraient en quelque sorte se remplacer ou se substituer l’un à l’autre sans que la nature du rapport changeât; le sujet ou la force simple qui agit se représenterait par l’objet, ou autre force simple qui réagit ou agit en sens inverse, comme celui-ci se réfléchirait dans celuilà‹. Voilà qui est clair; ce qui nous est essentiel, c’est l’effort, et l’effort pur nous est commun avec le reste du monde. Jamais l’identité fondamentale des personnes et des choses n’a été affirmée avec tant de clarté et rendue plus vraisemblable.« (Tarde 2000, 75 f.) 3 | Dazu findet sich die folgende Bemerkung: »Une telle manière d’élémenter ne suffit pas et ne convient pas à M. Spencer ni à M. Taine, son vulgarisateur français sur ce point.« (Tarde 2000, 90) 4 | Diese »umgedrehte« Kausalität, »le rapport de notre effort à nos actes«, wird wie folgt beschrieben: »Ce n’est point précisément la force extérieure que nous concevons sur le modèle de notre effort personnel et conscient, mais tous au moins, c’est le rapport senti par nous, observé par nous, entre notre effort personnel et le mouvement consécutif qui nous sert à concevoir le rapport extérieur entre la cause inconnue des effets naturels et ces effets eux-mêmes, à savoir le mouvement des objets.« (Tarde 2000, 106, vgl. 110 f.) 5 | Dieses stammt aus dem »Essai sur les fondements de la psychologie« von 1812; Tarde zitiert aus den von Ernest Naville herausgegebenen Œuvres inédites von 1859.

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10

Umgang II: Vom Individuum zur Gesellschaft

Maine de Biran weist hauptsächlich darauf hin, dass das handelnde Subjekt sich durch den reagierenden (d. h. in umgekehrtem Sinn handelnden) Gegenstand darstellt, wie sich der Gegenstand im Subjekt widerspiegelt. Tarde unterstützt diese Aussage und meint – was wohl übertrieben ist –, dass diese »grundlegende Identität von Personen und Sachen« nie zuvor so klar ausgedrückt worden sei. Dennoch findet sich darin die Grundlage für seine Theorie der Identität. Diese Grundlage besteht zum einen aus der »Anstrengung« (effort), die als wirkliche Ausübung der »Kraft« (force) verstanden wird,6 und zum anderen aus der theoretisierten Unmöglichkeit, »Ich« (Subjekt) und Welt (Gegenstand) zu verwechseln. Später wird Tarde darauf verweisen, dass »[l’]inter-mental est la clé du social« und dass Maine de Biran ein Vorläufer in dieser Sichtweise war (Tarde 1903b, 94 f.). Die Gesellschaft ist eine Vereinigung, die dadurch entsteht, dass Individuen erfindend und nachahmend aufeinander einwirken und dabei ihre Motive im »Glauben« oder in der »Überzeugung« (croyance) und im »Begehren« (désir) finden. »Durch das Zusammenwirken von Erfindung und Nachahmung [. . . ] entstehen die sozialen Gebilde (z. B. die Sprache) und Werte.« (Eisler 1912, 738) Schon ganz zu Beginn der theoretischen Auseinandersetzung im Jahr 1876 wurde deshalb vermerkt: »La grande bifurcation psychologique, ai-je dit, est celle de la croyance et du désir, ces deux branches de la réaction du moi contre les impressions du dehors.« (Tarde 2000, 98) So bilden »croyance« und »désir« für Tarde (als geistige Interferenz/Überlagerung) die Grundlage der Gesellschaft: »la croyance et le désir jouent dans le moi, à l’égard des sensations, précisément le rôle extérieur de l’espace et du temps à l’égard des éléments matériels.« (Tarde 1895c, 247; vgl. 1895a; 2003, 52 f.) Der individuelle Glaube und das Verlangen entsprechen den äusseren Elementen Raum und Zeit, womit ein hypothetisches 6 | »Force, au sens leibnizien, veut dire tendance à l’action, et tendance à l’action signifie désir ou volonté d’agir. La notion subjective de désir ou de volonté est donc le noyau, l’essence, l’âme cachée de l’idee leibnizienne, c’est-à-dire presque universelle, de la force.« (Tarde 2000, 100) Wegweisend an dieser Aussage ist weniger der Rückbezug zum Handlungsprinzip von Leibniz und zu dessen »Monade« als Ausgangspunkt der Theoriebildung, sondern vielmehr eine Vorwegnahme jenes Konzepts, das später als »agency« bezeichnet wird (vgl. Toews 2003, 86; siehe hinten Seite 305). Ferner zeigen sich Bezüge zur Kontingenz: »On voit que la même chose est à la fois fait et force: c’est qu’en effet le réel et le possible sont inséparables et s’entrepénètrent; le possible est le ciel dont le réel est le paysage.« (Tarde 2000, 100 f.) In dieser »force« als Idee des Möglichen – »[qui] signifie une aptitude à produire un phénomène quelconque« und die über Leibniz hinausschreitet (Tarde 2000, 102, vgl. 104 f.) – scheint gewissermassen auf, was bei Luhmann als »Sinn« bezeichnet wird (vgl. Borch 2005). »Force« wäre dann anschaulicher und in übertragenem Sinne als »Fähigkeit« oder »Vermögen« zu fassen. Die ebenfalls naheliegende Übersetzung als »Macht« bietet sich nicht an, weil Tarde dafür durchgehend »pouvoir« verwendet (vgl. Tarde 2003, 12).

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10.1

Gabriel Tarde: Interpsychologie

Verhältnis hergestellt wird.7 Sie sind »si bien des forces qu’à eux seuls ils produisent les sociétés, regardées encore par tant de philosophes actuels comme de véritables organismes.« (Tarde 1895c, 251) Wobei darin erneut die Kritik aufscheint, Gesellschaft als eine organische Totalität anzunehmen. Vorerst bedeutet dies: »Mais cela suppose d’abord que toute chose est une société, que tout phénomène est un fait social. Or, il est remarquable que la science tend, par une suite logique d’ailleurs de ses tendances précédentes, à généraliser étrangement la notion de société.« (Tarde 1895c, 258; Hervorhebung S. B.)

Obgleich alles eine soziale Tatsache sein kann, besteht die elementare Tatsache bei Tarde nicht aus dem Individuum (oder einem kollektiven Bewusstsein),8 sondern in den Beziehungsformen zwischen Individuen (»les interactions élémentaires« oder als Resultat: »l’association«), durch welche sich Unterscheidungen einstellen: »La société, nous le savons maintenant, consiste dans un échange de reflets.« (Tarde zit. in Joseph 1984, 554) Repräsentation und Einschreibung werden damit wichtige Elemente, die es zu analysieren gilt, die aber zugleich die Beschränkungen – im Sinne des »à généraliser étrangement« – einer solchen Analyse nahelegen.9 An anderer Stelle beschrieb Tarde seine Vorstellung von Gesellschaft wie folgt: »La société est un tissu d’actions inter-spirituelles, d’états mentaux agissant les uns sur les autres, mais non pas de n’importe quelle manière. Expliquons-nous clairement. Chaque action inter-spirituelle consiste dans le rapport de deux êtres animés – d’abord, la mère et l’enfant – dont l’un impressionne l’autre, dont l’un enseigne ou dirige l’autre, dont l’un parle à l’autre qui l’écoute, dont l’un, en un mot, modifie l’autre mentalement, avec ou sans réciprocité.« (Tarde 1902, 1 f.)

In Gesellschaft wirkt Bewusstsein auf Bewusstsein, und damit nähern wir uns dem, was Tarde als »Interpsychologie« bezeichnet. Mit dieser Orientierung am Prozess und weniger am Resultat gleicht das 7 | Diese Hypothese, so weist Tarde (1895c, 247, vgl. 293) hin, habe nichts anthropomorphes. Der Glaube und das Verlangen hätten das einmalige Privileg, unbewusste Zustände zu umfassen. 8 | Dabei zeigt sich, dass Tarde Soziologe »bleibt« und nicht zum Psychologen wird, denn »la théorie de la croyance et du désir peut fonder une micro-sociologie originale mais elle correspond à une psychologie pauvre.« (Joseph 1984, 550) 9 | Zum Thema der Unterscheidung und als Hinweis auf die Beschränkungen seien die folgenden Äusserungen Tardes wiedergegeben: »Exister c’est différer; la différence, à vrai dire, est en un sens le côté substantiel des choses, ce qu’elles ont à la fois de plus propre et de plus commun.« (Tarde 1895c, 270) »Dans un système monadologique ou atomistique quelconque, tout phénomène n’est qu’une nébuleuse résoluble en actions émanées d’une multitude d’agents qui sont autant de petits dieux invisibles et innombrables.« (Tarde 1895c, 255)

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Umgang II: Vom Individuum zur Gesellschaft

Vorgehen jenem von Georg Simmel.10 Wie für Simmel, ist für Tarde Gesellschaft nur dort, wo Wechselbeziehungen zwischen Individuen bestehen: was die Wechselwirkung bei Simmel, ist die »Konversation« (conversation) bei Tarde (vgl. Papilloud 2004, 58 f.; Letonturier 2005). Letztlich wird die Kommunikation zum »fait mécanique élémentaire« und präziser: »le fait social élémentaire, c’est la communication ou la modification d’un état de conscience par l’action d’un être conscient sur un autre.« (Tarde 1895b, 110 f.) Zudem zeigen sich Parallelen zu Luhmann (vgl. Borch 2005, 84 ff.). Vorerst gelangen wir damit zur »Nachahmung«, denn diese meint die »Fernwirkung eines Geistes auf einen anderen [. . . ] [überall dort], wo es eine wie auch immer geartete soziale Beziehung zwischen zwei Lebewesen gibt« (Tarde 2003, 10). Ziel einer soziologischen Verwendung dieses Begriffs sei es, »die rein soziologische Seite der menschlichen Tatsachen [d. h. ein soziales Band] freizulegen« (Tarde 2003, 11; Hervorhebung S. B.). Im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Gesetze der Nachahmung vermerkte Tarde, dass diese Zielsetzung von den Kritikern nicht beachtet worden sei. Er betont, »dass eine Gesellschaft eine Gruppe von Menschen ist, die untereinander viele durch Nachahmung oder durch Gegen-Nachahmung [. . . ] hervorgebrachte Ähnlichkeiten aufweisen.« (Tarde 2003, 13) Die Regelmässigkeit dieses Vorgangs sei »in den sozialen Tatsachen so nicht sichtbar, sie lässt sich aber entdecken, wenn man sie in ihre einfachsten Elemente zerlegt und die [. . . ] Erfindungen und [. . . ] Geistesblitze auseinandernimmt.« (Tarde 2003, 27) Tarde widmet sich noch immer der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, führt dazu allerdings eine neue Begrifflichkeit ein. Die gedankliche Nähe zu Simmels Vorgehen reicht bis in eine kreative (oder ästhetische) Sphäre. Im Gegensatz zu Durkheim, »der die Kraft des Überindividuellen in der Gesellschaft betont« (Jordan 2004), interessieren hier »die Handlungen der einzelnen, aus denen die [sozialen] Tatsachen gemacht sind.« (Tarde 2003, 25) Dieser individualsoziologische Ansatz definiert Gesellschaft als eine Sammlung von Menschen, die imstande sind, sich gegenseitig nachzuahmen, weil gerade dadurch definiert werde, was mit »sozial« eigentlich gemeint sei. Erfindung und Nachahmung werden als die »elementaren sozialen Handlungen« bestimmt (Tarde 2003, 168). Das Verhältnis zwischen dem Individuum und dem sozialen Gegenüber wird als »Kopierverhalten« bestimmt (Jordan 2004), als das erwähnte »soziale Band« wahrgenommen. Dies spricht gegen biologische oder mechanische Auffassungen, die den sozialen Tatsachen mitgegeben wurden. 10 | »Qu’est-ce que la société? On pourrait la définir à notre point de vue: la possession réciproque, sous des formes extrêmement variées, de tous par chacun.« (Tarde 1895c, 281; vgl. 1895b, 213; 2003, 83–112)

256

10.1

Gabriel Tarde: Interpsychologie

»Dabei gibt es im Sozialen den aussergewöhnlichen Vorteil gegenüber allen anderen Bereichen, dass man die wirklichen Ursachen, die überall sonst den Blicken entzogen sind, bei der Hand hat, nämlich die Handlungen der einzelnen, aus denen die Tatsachen gemacht sind.« (Tarde 2003, 25)

Die Frage danach, ob es eine Wissenschaft der sozialen Tatsachen, ihrer Geschichte oder Philosophie braucht, beantwortet Tarde mit dem Begriff der Handlung. Darin zeigt sich das Interesse am Allgemeinen, denn soziale Ähnlichkeiten entstehen aus »jedwelcher Art von Nachahmung, also der Nachahmung von Gebräuchen oder Moden, durch [. . . ] Belehrung oder Erziehung, der naiven oder überlegten Nachahmung usw.«, durch »Worte einer Sprache, Mythen einer Religion, [. . . ] literarische Formen usw.« (Tarde 2003, 38, 46) Dadurch wird erneut betont, dass »der eigentliche Gegenstand dieser Arbeit die reine und abstrakte Soziologie ist.« (Tarde 2003, 17) Im Vorwort zur ersten Auflage erfolgte der Hinweis: »Ich habe mich also bemüht, eine reine Soziologie zu entwerfen. Man könnte genausogut allgemeine Soziologie sagen. Nach meinem Verständnis davon lassen sich ihre Gesetze auf alle gegenwärtigen, vergangenen und möglichen Gesellschaften anwenden« (Tarde 2003, 21 f.).

Seine Antwort auf oben genannte Frage lautet daher, »dass vereinzelt auftretende, individuelle Kräfte [durch eigenes Begehren] eine gemeinsame Richtung einnehmen.« (Tarde 2003, 41; Hervorhebung S. B.) Diese Kräfte bilden Formen und Umwelten (dort zwar als »Milieus« bezeichnet) und damit letztlich Gesellschaft. Tarde sieht diese Gesellschaft als Auswüchse »der reinsten und stärksten Individualität und zugleich der vollkommenen Gemeinschaftsfähigkeit.« (Tarde 2003, 20; Hervorhebung S. B.) Dadurch zeigt sich auch bei ihm die – allerdings von mir hinein interpretierte – Tendenz, einen Begriff wie »Sozialität« jenem der Gesellschaft vorzuziehen (vgl. Tarde 2003, 94). Gerade die Unterscheidung oder Zweiseitigkeit von Individuum und Sozialität/Gesellschaft wurde – wie sich auch weiter unten zeigt – von den Rezipienten kaum zur Kenntnis genommen. Doch war es wenig hilfreich, dass Tarde das Soziale mit einer Hypnose gleichsetzte und als Traum bezeichnete.11 Daraus folgt: »Die Gesellschaft besteht aus Nachahmung und Nachahmung aus einer Art Somnambulismus.« (Tarde 2003, 111) Die Ursache dieser Behauptung, dass wir weder im geistigen Leben die Natur der von Bewusstsein zu Bewusstsein übertragenen Suggestion, noch »im sozialen Leben das 11 | »Der soziale wie der hypnotische Zustand sind nur eine Art Traum, ein gelenkter Traum und ein Traum aus Handlungen.« (Tarde 2003, 101) Die Tatsache, dass dieser Traum »gelenkt« ist und allenfalls einem »subjektiv gemeinten« und gerichteten Sinn nahe kommt, wäre eine nähere Betrachtung wert.

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Umgang II: Vom Individuum zur Gesellschaft

Wesen der Suggestion von Person zu Person« kennen und verstehen (Tarde 2003, 100), scheint zwar unter heutigen Voraussetzungen einsichtig. Schlafwandlerisch sei dieser Vorgang auch deshalb, weil ein »im Entstehen begriffener sozialer Zustand« in zahlreichen Fällen eintritt (Tarde 2003, 110). Das Verhältnis zwischen Individuum einerseits und sozialer Nachahmung andererseits hat zur damaligen Zeit für Verwirrung gesorgt und die Kritik zur Einsicht gebracht, es handle sich hier bloss um einen verborgenen Psychologismus (vgl. Borch 2005, 83 f.). Aussagen wie jene, »dass die scheinbar klarste und oberflächlichste Soziologie innerhalb der Psychologie verwurzelt ist« (Tarde 2003, 111), dürften kaum auf grosse Zustimmung gestossen sein. Dies obschon eine solche Aussage in der Logik Tardes Sinn macht: »Im Gegensatz zu dem, was gewisse Anzeichen glauben lassen, verläuft die Nachahmung beim Menschen also von innen nach aussen.« Damit ist gemeint, dass eine Übernahme zuerst »in dessen Geist«, d. h. in die Ideen und Absichten der nachzuahmenden Partei eindringt, bevor sich die Nachahmung materiell manifestiert oder sichtbar wird (Tarde 2003, 223, vgl. 230 f.). Dieses Eindringen respektive der daran anschliessende Einfluss sei »das elementare und grundlegende Problem, dem sich die Sozialpsychologie [. . . ] stellen muss.« (Tarde 2003, 228) Durch die häufige Nennung einer Sozialpsychologie und der Anforderungen an diese, kann leicht vergessen gehen, dass es Tarde eigentlich um eine »reine« Soziologie geht, die sich gegen die vorherrschende organizistische Vorstellung wendet (vgl. Tarde 1908, 24–31). Erst sehr viel später wurde dieses Bild durch die Interpretation von Gilles Deleuze (1997, 107 f.) zurechtgerückt. Tardes reine Soziologie als Mikrosoziologie wird dann allerdings dahingehend interpretiert, sie beschäftige sich mehr mit dem, was innerhalb eines einzelnen Individuums, als was zwischen Individuen passiert (vgl. Tarde 1908, 84 f.). Damit wird das konzeptionelle Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aufgehoben und vielmehr das Gegenteil erreicht, d. h. Tarde zu nahe zum Individualismus gestellt (vgl. Toews 2003, 91 f.). Eine solche Sicht wird ihm nicht gerecht, denn »Nachahmung [. . . ] ist keine individuelle, sondern eine kollektive Erinnerung oder Gewohnheit.« (Tarde 2003, 99) Daraus wird ersichtlich, dass Tarde das Individuum nicht als einen autonomen Akteur versteht, sondern als einen »Ort« unter Orten, an welchem Ereignisse, vornehmlich solche der Nachahmung, stattfinden.12 Daher liesse sich sagen, sein »interest lies in a continuity with which those very [social] numbers must enter into an inclusive, 12 | Das Verhältnis der »Psychologien von Individuum und Gesellschaft« zeige sich besonders deutlich, denn »an dem Punkt, an dem die individuelle Unentschlossenheit endet, beginnt die soziale Entscheidungslosigkeit und nimmt Form an.« Dabei berücksichtigt Tarde (2003, 190) durchaus, dass »die Unentschlossenheit, die einer Nachahmungshandlung vorausgeht, [. . . ] von sozialen Tatsachen verur-

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Gabriel Tarde: Interpsychologie

meaning-constitutive relation of co-dependence.« (Toews 2003, 94) Es scheint auf, dass sich Tarde, wie später auch Luhmann, von einem methodologischen Individualismus oder einer auf singuläre Akteure zentrierten Soziologie lossagt (vgl. Borch 2005, 86). Tarde war der erste, der das Soziale auf einer mikrosoziologischen Ebene und im Bewusstsein einer disziplinären Soziologie beschrieben hat. Gesellschaft wird bei ihm durch Riten, Konventionen, Suggestionen und vor allem durch Nachahmung zusammengehalten. Im Gegensatz zu Durkheim, bei welchem die Individuen der Gesellschaft als soziologischem Tatbestand unterworfen sind, sind diese bei Tarde den psychologisch definierten Kräften unterworfen. Für ihn hat jede Monade – d. h. jedes Teilchen wie Individuum aber auch Gesellschaft – eine Psychologie und somit Affekt und Vorstellung. Sie treten eher in kommunikative Beziehungen miteinander als in »Beziehung[en] zwischen Ursache und Wirkung« (Tarde 1908, 3). Im Gegensatz zu Simmel, der von der Wechselwirkung zur sozialen Form gelangt, sind Wille und Erkennen die massgebliche Wirkungsweise dieser Monaden, die ihrerseits auf einer affektuellen Ausprägung beruhen.13 Vergleichbar mit Simmel hat auch Tarde Versuche unternommen, seine »Methode« in unterschiedlichen Bereichen anzuwenden, so ebenfalls im Bereich der Ästhetik (vgl. Tarde 1895a). Eine gedankliche Nähe zu Ferdinand Tönnies kann darin gesehen werden, dass beide dieselbe wichtige Zelle bestimmen: »le groupe social élémentaire, c’est la famille [ou la maisonnée]« (Tarde 1895b, 228, vgl. 234). Dabei entwickelte Tarde eine an Leibniz orientierte Soziologie: »Les monades, filles de Leibniz, [. . . ] [verweisen auf; S. B.] l’abîme séparatif du mouvement et de la conscience, de l’objet et du sujet, de la mécanique et de la logique« (Tarde 1895c, 236 f.). Wir sehen also, dass Nachahmung als sich wiederholende Muster verstanden wird, Ausbreitung und Übertragung hingegen als Ziel der sozialen Organisation und Interaktion verstanden werden. Glauben sacht wurde, d. h. von anderen schon verwirklichten Nachahmungshandlungen.« Dieses Verhältnis ist (auch) bei Tarde dialektisch angelegt. 13 | Wissenschaft soll laut Tarde (1908, 3) nicht alleine darin bestehen, UrsacheWirkungsbeziehungen aufzudecken, sondern »irgendwelche Erscheinungen nach folgenden drei Gesichtspunkten hin zu betrachten: nach den Wiederholungen, nach den Gegensätzen und nach den Anpassungsfähigkeiten, die sie besitzen«. Gerade der letzte Aspekt zeichnet diesen Ansatz aus: »Mais il faut arriver au monde social pour voir les monades se saisir à nu et à vif par l’intimité de leurs caractères transitoires pleinement déployés l’un devant l’autre, l’un dans l’autre, l’un par l’autre.« (Tarde 1895c, 286; vgl. 1908, 83 f.) Bezogen auf die Verbindung zweier Menschen heisst das: »Ich behaupte nun, dass die Wechselbeziehung dieser beiden Personen der einzige und notwendige Grundstock des sozialen Lebens ist, und dass sie ursprünglich stets in einer Nachahmung der einen dieser beiden Personen durch die andere besteht.« (Tarde 1908, 20) Deshalb spricht er in diesem Zusammenhang auch von »Vergesellschaftung« (vgl. Tarde 1908, 22).

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Umgang II: Vom Individuum zur Gesellschaft

und Begehren sind die treibenden Kräfte dieses Prozesses. Jede Idee »wird ursprünglich individuell gewesen, wird eines Tages im Herzen oder im Kopfe eines Menschen aufgestiegen sein«; damit sie allerdings soziale Wirkung entfaltet, muss gewährleistet sein, dass sie letztlich »ein Werk nachahmender Verbreitung ist.« (Tarde 1908, 98 f.) Allerdings muss gegen Tarde eingewendet werden, dass Verbindung (association) weiter geht als blosse Nachahmung (vgl. Davis 1906). Deshalb liesse sich fragen: Ist es durch Nachahmung oder um nachzuahmen, dass Menschen Verbindungen schliessen? Während das erste offenbar nicht zutrifft, enthält das zweite eine Paradoxie, die in Verbindung beider Aspekte der geschilderten Paradoxie der Soziologie ähnlich sieht. Es ist augenfällig, dass sich Tarde kontinuierlich von der erwähnten Definition der Nachahmung als »Somnambulismus« wegbewegt (vgl. Borch 2005, 95). In späteren Arbeiten wird Gesellschaft dann als »un tissu d’actions inter-spirituelles«, als ein Gewebe inter-mentaler Handlungen definiert und beschrieben (Tarde 1902, 1). Mit diesen Handlungen macht sich nicht nur der stringente Aufbau dieses Theoriekonstrukts bemerkbar, sondern zunehmend tritt auch der Begriff der »Interpsychologie« als dessen eigentlicher Kulminationspunkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit: »C’est donc à cette interpsychologie qu’il faut s’adresser pour avoir l’explication des faits sociaux.« (Tarde in Durkheim 1904, 6) Wie ein entsprechendes Vorgehen aussehen könnte, beschrieb Tarde bereits in einer beachtenswerten Fussnote (!) in Les lois sociales ([1898] 1908), allerdings noch im Rahmen seiner Theorie der Nachahmung und nicht der Interpsychologie: »Gesetzt den Fall, zwanzig, dreissig, fünfzig [. . . ] Soziologen notierten mit der grösstmöglichen Genauigkeit und Sorgfalt die Reihe der kleinen Umformungen in der Politik, in der Staatswirtschaft[,] [der Religion] usw., welche sie [. . . ] in ihrer allernächsten Umgebung beobachtet haben können; gesetzt den Fall, sie notierten, anstatt sich auf Allgemeinheiten zu beschränken, bis ins Kleinste die individuellen Kundgebungen [. . . ] [und die] individuelle[n] Quelle[n] jener kleinen Verminderungen oder Vermehrungen oder Umformungen der Ideen und Tendenzen [. . . ], die sich von da aus in einer bestimmten Gruppe von Leuten verbreitet haben, und die sich in unmerklichen Änderungen in der Sprache, in den Gesten, in der Tracht, in irgendwelchen Gewohnheiten zeigen; [. . . ] man würde sehen, dass im ganzen dieser höchst lehrreichen [erzählenden, nicht beschreibenden] Monographien die wichtigsten Wahrheiten zutage treten [. . . ]. Die sozialen Veränderungen gilt es, im Kleinsten zu erfassen, um die sozialen Zustände zu verstehen, und das Gegenteil ist nicht richtig.« (Tarde 1908, 101)

Diese erzählende Methode soll die »Interpsychologien« an den Tag legen, die das Soziale ausmachen. Tarde geht in seiner Betrachtung von der Psychologie und dementsprechend vom »Ich« aus, denn »[d]e

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lui partent et rayonnent les multiples créations de la vie sociale« (Tarde 1903b, 91).14 Er will deshalb die Psychologie durch die Sozialpsychologie ersetzt wissen, wobei ihm dieser Terminus wiederum nicht gefällt. Die bisherige Verwendung suggeriere »l’existence de ce qu’on appelle un milieu social, c’est-à-dire d’un groupement social déjà formé et assez nombreux pour que chaque moi individuel y reçoive [. . . ] une action suggestive devenue en quelque sorte impersonnelle et anonyme, et, en outre, le plus souvent réciproque.« (Tarde 1903b, 92)

Der wechselseitige Charakter des Austauschs zwischen den verschiedenen »Ich« (Individuen) werde nicht genügend berücksichtigt. Zusätzlich findet sich darin die Kritik an der Soziologie (hauptsächlich jener Durkheims), bereits geformte soziale Gebilde vorauszusetzen. Aus diesem Grund soll an ihrer Stelle eine neue Disziplin eingeführt werden, »que l’on peut appeler la psychologie inter-mentale, inter-cérébrale, et que j’appellerai [. . . ] l’inter-psychologie.« Die interpsychischen Beziehungen – und hier erinnert die Argumentation an Max Weber – werden erst als Handlung gegenüber einem oder mehreren anderen zu einer sozialen Erscheinung: »Pour qu’il y ait fait social, et en même temps lien social, il faut qu’un être animé agisse mentalement sur un autre être animé.« Hier wird erneut auf die Nachahmung verwiesen, d. h. »le reflet à distance d’un moi dans un autre moi«, »les rapports d’esprit à esprit« (Tarde 1903b, 93 f., 97). Die Beziehung von Geist auf Geist (von Gedanke auf Gedanke, weshalb nicht auch: von Sinn auf Sinn?) tritt damit in den Vordergrund und bestimmt das inter-mentale Element dieser Disziplin und damit letztlich das Soziale. Dabei wird auch der Weg dorthin sichtbar: »Quand l’objet de notre sensibilité, de notre intelligence ou de notre volonté, est lui-même un sujet sentant, comprenant et voulant, [. . . ] quand la personne que nous sentons est sentie par nous comme nous sentant nous-même, quand la personne que nous comprenons est conçue par nous comme attentive à nous-même et cherchant à nous pénétrer, [. . . ] [dans ce cas] nous entrons pleinement dans le champ de l’action inter-mentale.« (Tarde 1903b, 101; Hervorhebung S. B.)

Insbesondere dann, wenn die Person, die wir wahrnehmen, von uns wahrgenommen wird, wie sie uns ebenfalls wahrnimmt (wenn die Person, die wir verstehen wollen, von uns begriffen wird, wie sie uns ebenfalls zu verstehen versucht), zeigen sich zwei Aspekte: sowohl die mentale – vorerst bloss gedankliche – Reziprozität, die unweigerlich mitschwingt, als auch die wissenschaftliche Beschreibung der Selbst14 | Die Bezeichnung »Interpsychologien« stammt von mir, da Tarde m. W. den Begriff nie im Plural verwendet hat.

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beschreibung. Diese zwei Aspekte können deshalb verbunden werden, weil Tarde die Handlung als eine gedankliche charakterisiert. Auch in ihrer Fortsetzung gilt: »même en fait de causalité inter-mentale, l’unilatéral précède le réciproque« (Tarde 1903b, 103). Da es allerdings um das Soziale (in weitem Sinne um Kommunikation) geht, wird auch Tardes Begrifflichkeit klarer: »Si j’attache une importance extrême à la croyance et au désir, c’est qu’ils sont au plus haut degré communicables d’esprit à esprit, tandis que les sensations et les images sont essentiellement incommunicables par elles-mêmes.« (Tarde 1903b, 104) Die Empfindung (sensation), die früher eine grosse Rolle gespielt hat, wird durch Glauben und Begehren abgelöst, weil sich diese besser kommunizieren lassen. Im gegenseitigen Austausch der Individuen hätten diese »Gefühle« die stärksten Auswirkungen. Es ist hauptsächlich das inter-mentale Handeln im Verhältnis zu anderen Personen, durch das Gefühle gebildet und entwickelt werden.15 Gefühle (wie beispielsweise Bewunderung oder Verachtung, Liebe oder Hass, Achtung oder Empörung, Angst oder Wut) seien deshalb zur Sozialisation – es liesse sich auch sagen: Vergesellschaftung – fähig, weil sie in ihrem Ursprung bereits sozial sind: »les sentiments sont des signes de nos rapports sociaux«. Es zeigt sich deutlich, dass nicht eigentlich das Individuum im Zentrum der Betrachtung steht: »Les sentiments, en effet, sont inutiles à l’individu, en tant qu’individu, en dehors de tout rapport avec ses semblables.« (Tarde 1903b, 110 f.) Vielmehr versteht sich die Interpsychologie als eine Soziologie, denn sie vermittelt zwischen dem »Individuum in der Gesellschaft« einerseits und der »sozialen Gruppe« andererseits. An dieser Unterscheidung zeigt sich die Besonderheit eines solchen soziologisch-sozialpsychologischen Ansatzes. Die zunehmende Notwendigkeit inter-mentalen Handelns ergebe sich durch den sozialen Fortschritt (womit auch Technik gemeint ist, v. a. Kommunikationsmedien) sowie – damit zusammenhängend – durch »l’extension de l’action inter-mentale dans l’espace« (Tarde 1903b, 114). Die Ausdehnung im Raum ist wiederum ein Beweis des sozialen Charakters dieses Handelns, wie des soziologischen Charakters dieses Ansatzes. In der Rezeption wurde diese Interpsychologie schlecht aufgenommen, insbesondere durch Durkheim (1905); sie hatte nur einen äusserst schwachen Einfluss auf die damalige wie heutige Sozialpsychologie und Soziologie (vgl. Lubek 1981, 370 ff.).16 Die Hinwendung zur Interpsychologie, welche die Wechselwirkung zwischen den Indivi15 | »Sans doute, nos émotions sont liées à des états organiques [. . . ]; mais elles n’en procèdent pas, elles procèdent de changements apportés ou prévus dans nos relations avec nos semblables.« (Tarde 1903b, 109) 16 | Obgleich der Artikel »L’inter-psychologie« im Erscheinungsjahr in die englische Sprache übersetzt (eine Ausnahme im Werk Tardes), sowie kurz darauf

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duen als Basis des sozialen und kollektiven Verhaltens versteht, ist naheliegend für eine Zeit, in welcher Sozialpsychologie und Soziologie zugleich entstehen und versuchen, sich gegeneinander abzugrenzen. Das führt zu einer negativen Schlussfolgerung, denn unter diesem Vorzeichen »[i]l ne semble pas qu’il y ait alors place pour un paradigme/exemplaire qui combine le social et l’individuel.« (Lubek 1981, 383) Weder die Sozialpsychologie noch die Soziologie waren in der Lage, einen Ansatz anzuerkennen, der die Grenzen auflöst: »Entre la science de l’homme individuel et celle de l’homme social, Tarde opéra une synthèse sur laquelle il fit converger toutes les autres sciences particulières.« (Bergson zit. in Lubek 1981, 363 f.) Tarde hat das verbindende Glied zwischen Psychologie und Soziologie konzipiert und seine Funktionalität teilweise unter Beweis gestellt, nur durchsetzen konnte er es nicht und dies ist – neben den geschilderten Umständen, d. h. »l’époque tandis que la psychologie sociale interactionniste est tombée dans un fossé épistémologique entre la psychologie et la sociologie« (Lubek 1981, 383) – zu einem grossen Teil auch Durkheim anzulasten. Weiterhin sind die späteren Kommentatoren verantwortlich, die immer nur den Psychologismus und Individualismus bei Tarde betonten, jedoch nie auf seine Interpsychologie eingegangen sind (vgl. Lubek 1981, 375, 380 f.). Während die Soziologie den Fehler beging, Gesellschaft als Totalität anstelle von Pluralität zu verstehen (vgl. Ross 1904, 117), versuchte der noch zu seiner Zeit vielbeachtete Tarde, dem entgegen zu wirken, jedoch ohne nachhaltigen Erfolg.17 Schon vor der eigentlichen Konzeption der Interpsychologie bemerkte Tarde ([1898] 1908, 105), es sei ein »unausrottbarer Irrtum«, das »unendlich Kleine [soziologisch; S. B.] als unbedeutend« hinzustellen. Obschon von Interpsychologie die Rede ist, blieb Tarde Soziologe: »Gerade weil das Soziale dem Psychologischen entstammt, ist das Psychologische durch das Soziale zu erklären.« (Tarde 2003, 10) Er hatte früh auf die soziale Dialektik aufmerksam gemacht und erkannte zwei grosse Fehler der Soziologie: der erste, »panoramische« Fehler missachte, »[qu’]il faut accepter que la logique sociale n’est pas une logique de la totalisation«, und der zweite, »historische« Fehler, »qui consiste à enfermer les faits sociaux dans les formules de développement.« (Joseph 1984, 548; vgl. Tarde 1888) Während der zweite Fehler teilweise behoben wurde, herrscht der erste immer noch vor; beide treffen sich zudem in einer zeitgenössischen Theorie. in einer anderen französischen Zeitschrift nachgedruckt wurde, fand er keine entsprechende Beachtung (vgl. Tarde 1903a; 1904). 17 | Zunächst wurde dies von Gilles Deleuze (1997) und Deleuze/Guattari (1997, 295 ff., v. a. 298) wiederentdeckt und damit von der Philosophie und nicht der Soziologie (vgl. Borch 2005, 81 ff.).

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Umgang II: Vom Individuum zur Gesellschaft

Eine interessante Nähe zum systemtheoretischen Ansatz von Niklas Luhmann ergibt sich, wenn Tarde das notwendige Ziel der Gesetze der Nachahmung in der »Geburt einer einzigen Gesellschaft, ihr[em] Wachsen und ihre[r] universellen Ausdehnung« sieht (Tarde 2003, 19). Damit ergeben sich Bezüge zur »Weltgesellschaft« (vgl. Luhmann 1998, 145; Wagner 1996) und damit zur grösstmöglichen Entgegensetzung zum Individuum. Systematisch wird der Begriff Weltgesellschaft bei Luhmann erstmals 1971 verwendet. Als Kritik an der Soziologie behauptete er, diese würde noch immer »mit der Vorstellung einer Mehrheit menschlicher Gesellschaften« arbeiten, hätte jedoch »das daraus resultierende Problem einer Definition der Grenzen, die verschiedene Gesellschaftssysteme voneinander trennen, nicht überzeugend lösen können« (zit. in Wagner 1996, 545; vgl. Luhmann 1987b, 551, 585). Friedrich Tenbruck wirft der systemtheoretischen Soziologie im Gegenzug vor, sie entleere »die Geschichte zu einer universalen Gesellschaft, die keine geschichtlichen Lagen und Probleme mehr kennt; sie übergeh[e] deshalb insbesondere alle Tatsachen, die durch ihre konkrete Individualität das universale Schema sprengen« (zit. in Wagner 1996, 551). Allerdings machen Luhmann und Tenbruck von zwei Seiten auf dasselbe Problem aufmerksam: die notwendige Unterscheidung, um Gesellschaft überhaupt beobachten und beschreiben zu können. Gerade auf diese Unterscheidung hatte bereits Tarde aufmerksam gemacht. Während die Vision der Weltgesellschaft als »einer« (wie auch immer nivellierten) Gesellschaft heute weitgehend bestritten wird, zeigt sich eine andere Konzeption, die fruchtbarer scheint. Sie erklärt, »dass es dabei nicht um eine Gesellschaft schlechthin geht, sondern um eine, in den Worten Montesquieus: ›Gesellschaft von Gesellschaften‹«.18 Ferner ist der Begriff der Weltgesellschaft »als dynamischer aufzufassen, weswegen man eigentlich von ›Weltvergesellschaftung‹ sprechen müsste« (Wagner 1996, 552). Wie das Soziale als »Geflecht von Konsoziationen höchst unterschiedlicher Art« verstanden werden kann (Krawietz über Althusius, zit. in Wagner 1996, 553), so wäre ein solches Verständnis durchaus auch für ein Konzept von Weltgesellschaft – als »Gesellschaft von Gesellschaften« aufgefasst – denkbar. Dies wäre wahrscheinlich auch jene Konzeption von Gesellschaft, mit welcher sich Gabriel Tarde am ehesten hätte einverstanden erklären können. Schliesslich wäre jede dieser »Gesellschaften« in seinem Sinne in einem Geflecht zu denken. 18 | In der vorliegenden Arbeit wurde vermieden, »Gesellschaft« im Plural zu verwenden. Ein solcher Plural, der problematisch ist, weil er auf den inhaltlichen Aspekt von Gesellschaft verweist, ist wenig hilfreich für das interessierende Verhältnis. Aus gleichem Grund wird auch der Weltgesellschaft nur geringer Raum zugestanden.

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10.2

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft

10.2 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft Die Wahl von Ferdinand Tönnies ist aus zwei Gründen erfolgt: zum einen wird mit »Gemeinschaft« ein zweiter, bedeutender Grundbegriff der Soziologie eingeführt.19 In ihm wird ein wichtiges, mögliches Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft gesehen. Zum zweiten soll dieser Begriff für eine spätere Verwendung vorbereitet werden. Tönnies und der gewählte Begriff der Gemeinschaft unterscheiden sich in einem weiteren Punkt von den fünf anderen Stimmen: Vordergründig hat er kein generisches Konzept vorgelegt (es wird allerdings sichtbar, dass dies nicht stimmt), sondern ein zeitdiagnostisches, das für einen bestimmten Zeitpunkt Gültigkeit hat. Dies hat Einfluss auf den Umgang. Nach einer Betrachtung der Begrifflichkeit soll auf einen zeitgenössischen Gemeinschaftsbegriff hingearbeitet werden, der dann auf seine Tauglichkeit zur Klärung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft geprüft wird. Da schon der ursprüngliche Umgang in der anbrechenden Moderne ideologisch geprägt war, wird dieser Übergang durch die Ideologien »Neoliberalismus« (stellvertretend für das Individuum) und »Kommunitarismus« (stellvertretend für Gemeinschaft als Substitut der Gesellschaft) vorgezeichnet. Ferdinand Tönnies war fasziniert von der Heraufkunft eines vernunftbestimmten Zusammenlebens in der modernen Industriegesellschaft. Die Abgrenzung dieser Fortschrittssicht vom archaischen Gemeinschaftsglauben führte ihn zum »Theorem von Gemeinschaft und Gesellschaft« (Merz-Benz 1991, 34; vgl. 1995b, 304). Obwohl sich die Menschheit seit gewisser Zeit anschickt, die Industrie- gegen die Dienstleistungsgesellschaft zu tauschen, haben die Übergänge zwischen romantischen und rationalen Ansichten nichts an Faszination eingebüsst. Die sozialen Bindungen haben sich allerdings weitgehend verändert. Es macht beispielsweise wenig Sinn, heuristisch an einem Modell der Gründergemeinschaften wie jenem der israelischen Kibbuzim festzuhalten, »deren Bestehensbedingung ursprünglich nichts anderes war als das kollektive Überleben in einer feindlichen natürlichen Umwelt« und die sich nicht in die Wirklichkeit der modernen Welt übertragen lassen (Merz-Benz 2005b, 172). Dennoch wird sich zeigen, dass der Sicherheitsaspekt auch neue Formen der Gemeinschaft an dieses Modell zurückbindet, wie am Beispiel einer »Gemeinschaft 2.0« – der geschlossenen Wohnsiedlungen oder »Gated Communities« – aufscheint (siehe Kapitel 12.2). Die feindliche Umwelt ist jedoch keinesfalls mehr eine natürliche. Dies führt zur Frage, was Gemeinschaft in traditionalem Sinne meint, und dies wiederum führt zu Tönnies 19 | Teile dieses Kapitels entstammen einer früheren Auseinandersetzung mit Tönnies (Bertschi 2006d); sie wurden dem veränderten Thema entsprechend weiter bearbeitet.

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Umgang II: Vom Individuum zur Gesellschaft

([1887] 1979) als jenem Soziologen, der den Begriff nachhaltig geprägt hat. Ferdinand Tönnies stellt seine Beschäftigung mit der »grosse[n] historischen Antinomie des sozialen Lebens«, der Entwicklung hin zur modernen Gesellschaft, neben jene von Tocqueville, Spencer und Gabriel Tarde (Tönnies 1929c, 190 f.). Zwar stimmt er zu weiten Teilen mit Tardes Gesetzen der Nachahmung überein, kritisiert jedoch, dass dieser vor allem die »unbewusste« oder »unfreie Nachahmung« berücksichtige, die wohl mit dem »soziale[n] Zustand einer Hypnose [einer wechselseitigen Suggestion; vgl. Tönnies 1929c, 182] verglichen werden« könne. Vielmehr hätten »menschliche Handlungen [. . . ] doch ein Mehr oder Weniger von Freiheit und Selbständigkeit an sich, die aus Denken entspringt«, und es sei »die Absicht [hervorzuheben], sich auszuzeichnen, abzustechen gegen die Gemeinheit« (Tönnies 1929c, 188; vgl. 1979, 87).20 Tarde begehe zudem »den Fehler, manche Erscheinungen aus Nachahmung zu deuten, die unter das Gesetz fallen, dass unter ähnlichen Bedingungen Ähnliche ähnliches tun.« (Tönnies 1929c, 196) Die Bedeutung einer »psychologischen Soziologie«, welche »die ›individuelle‹ Logik verbessern [will], indem er [Tarde] sie subjektiviert« und dadurch zur sozialen Logik beiträgt, wird von Tönnies (1929b, 262) anerkannt.21 Aus dieser Ergänzung durch die »psychologische Tatsache« als Bedingung jeglichen sozialen Umgangs wird geschlossen: »[M]ithin kann alles ›Idee‹ genannt werden, was die Menschen verbindet und was sie trennt; Idee aber ist Wille.« (Tönnies 20 | Interessant hierzu ist eine Erwiderung auf Durkheim: »Hingegen sind die sozialen Verbindungen allesamt erst durch psychologische Übereinstimmung gegeben, sie sind reflektiert.« (Tönnies 1929c, 193) In einer Besprechung von Durkheims Regeln ist vermerkt, dass dieser »einem Problem nahe zu kommen sucht, das von den meisten, auch von Tarde, völlig verkannt wird. [. . . ] [D]em naiven und religiösen Sinne gelten die sozialen Mächte als übernatürlich; der Rationalismus erkennt sie als Erzeugnisse gemeinsamen Wollens und Denkens; dies aber vermag er nur von den Individuen abzuleiten, in Wahrheit ist es unmittelbar gegeben als das individuelle Denken und Wollen.« An dieser Stelle zeigt sich, dass eine aufgeklärte Lesart Durkheims schon früh vorlag. Wobei auch hier kritische Töne anklingen: »Der Zwang ist nur ein spezieller Fall; das Allgemeine ist die Wechselwirkung zwischen den Individuen einerseits und einem von ihnen angeschauten – als substantiell gedachten, eben dadurch geschaffenen – sozialen Willen andererseits.« (Tönnies 1929b, 276) Dies spielt auf Tarde zurück, weil dieser nicht wisse, »dass die Konstitution sozialer Gebilde etwas Besonderes und von ihrer Komposition ganz Verschiedenes ist« (Tönnies 1929a, 317). Dabei öffnet sich ein Feld mit eigener Verbindung zur Paradoxie der Soziologie, das hier nicht weiter begangen werden kann. 21 | Dabei wird ein bereits bei Tarde hervorgehobener Aspekt herausgestellt: »Die Kategorien der sozialen Logik – Sprache und die Idee des Sittlichen – entsprechen dem Raume und der Zeit! [. . . ] Die Gesellschaft gleicht einem Gehirn, nicht einem Organismus.« (Tönnies 1929b, 263; Hervorhebung S. B.) Besonders das von Tönnies gesetzte Ausrufezeichen verweist auf einen Zusammenhang, der auch für die vorliegende Erörterung zentral ist.

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10.2

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft

1929c, 193) Damit gelangt Tönnies bei jenem Willen an, der zentrales Bauteil seiner Gemeinschaft und Gesellschaft stellt. Das sozialwissenschaftliche Programm Tönnies’ kann als eine Ergänzung zu Gabriel Tarde gelesen werden. In Entgegnung auf seinen französischen Rezensenten Emile Durkheim erfolgt deshalb: »Die Betrachtung des sozialen Lebens [. . . ] hat es nur mit Individuen zu tun, die sich vermehren, wohnen, arbeiten, kämpfen, handeln usw. Sie kann sich aber der Entdeckung nicht erwehren, dass ausserdem noch solche ›Dinge‹ als Familie, Gemeinde, Kirche, Gesellschaft, Staat usw. irgendwie vorhanden sind [. . . ]. Es sind aber diese Begriffe [. . . ] sehr sonderbare und seltene Pflanzen im Herbarium der Wissenschaft. Es gilt, sie unters Mikroskop zu nehmen, sie zu bestimmen und zu zergliedern.« (Tönnies 1929c, 194)

In gewisser Hinsicht vermittelt Tönnies mit seinem Gemeinschaftsbegriff (und Gesellschaftsbegriff) – insbesondere der »Willenstheorie« (Merz-Benz 1995b, 259; vgl. 2006, 45) – zwischen der individualistischen Position Tardes und der holistischen Position Durkheims. Tönnies will »die bei Menschen überhaupt vorhandenen WillensRichtungen [. . . ] zergliedern [und] [. . . ] insbesondere die Beziehungen menschlicher Willen zueinander der Betrachtung unterwerfen« (Entwurf von 1880/81, zit. in Merz-Benz 1995b, 241 f.). Als Entgegnung auf die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft erscheint das vordergründig und fälschlicherweise als Dichotomie erkannte Begriffspaar von Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. Adair-Toteff 1995). Das bereits bei Friedrich Schleiermacher prominent auftretende Begriffspaar wurde von Tönnies für die Soziologie fruchtbar gemacht. Während die frühe Tradition die Begriffe noch beinahe synonym verwendet und den »Wandel traditionaler Integrationsformen [. . . ] überwiegend romantisierend und ideologisierend als Verfallsgeschichte einer idyllischen Gemeinschaftsordnung interpretiert« hatte (Opielka 2004, 131), stellte Tönnies die beiden Begriffe einander antithetisch gegenüber und differenzierte den gemeinschaftlichen »Wesenwillen« idealtypisch vom gesellschaftlichen »Kürwillen«. Wille verweist dabei – durch das »bewusste Wollen« (Tönnies 1929b, 263) – auf einen entsprechenden Vollzug: »Unter den sozialen Bedingungen ist aber keine bedeutender als die objektivierte Gestalt des vorhandenen, beharrenden, gemeinsamen Willens oder Geistes, der das Individuum wie ein Lebenselement umgibt und durch Sinne wie Verstand in unzähligen Eindrücken sich ihm mitteilt.« (Tönnies 1929c, 195)

Ein häufiges Missverständnis in der Tönnies-Rezeption besagt, Gemeinschaft und Gesellschaft seien »Signaturen für zwei aufeinander folgende Epochen«, die als Gegensatz begriffen wurden (Opielka 2004,

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19). Gemeinschaft ist zudem, dem verbreiteten Verständnis zum Trotz, nicht bloss ein »konkrete[r] Organisationstypus« oder soziales Gebilde, wie schon von Max Weber in dieser Ausschliesslichkeit rezipiert, sondern von Tönnies als »Strukturkategorie der Gesellschaftsanalyse« konzipiert (Opielka 2004, 21). Dies muss allerdings bei Tönnies »herausgelesen« werden, wie beispielsweise in der folgenden Formulierung: Wenn sich die Denkweise »von einer zeugenden und gestaltenden zu einer rechnenden und zusammensetzenden« verschiebt und wenn »der rationale Kontrakt normaler und elementarer Ausdruck verbundener Willen wird«, dann werde »erklärlich, wie so die sozialen ›Entitäten‹, die ›organischen‹ Gebilde gemeinsamen Willens und Denkens, teils in ›mechanische‹ sich verwandeln, teils durch solche verdrängt werden können.« (Tönnies 1929c, 194) Der Schlüssel zur Strukturkategorie liegt in dem »wie so« verborgen. Das spezifische Verständnis »von Gemeinschaft als Ausdruck einer spezifischen mentalen Disposition« (Merz-Benz 2005b, 176; Hervorhebung S. B.) erklärt den Nutzen des Theorems nicht nur im vorliegenden Kontext von Individuum und Gesellschaft. Diese Disposition öffnet gleichfalls einen sozialen Raum, der sich von jenem der Gesellschaft vor allem in mentaler Hinsicht unterscheidet.22 Gegen die kommunitaristische Tönnies-Lesart lässt sich im besonderen einwenden, dass dort »eine etwas romantische Gemeinschaftstheorie [vertreten wird], die nicht ausreichend das Hineinreichen des Gesellschaftlichen in schon frühe Gemeinschaftsformen thematisiert« (Opielka 2004, 29). Durch die »Eintracht« als Wirklichkeit der »angeerbten überlieferten Formen, [. . . ] Gewohnheit[en] und Pflicht[en]« zeige sich »das Innere oder das Wesen des Menschen« im »mentalen Leben« (Tönnies 1979, 182, 87, vgl. 18). Obschon diese Disposition »den Handlungsorientierungen, den an bestimmten Zielen festgemachten Handlungsmotiven [. . . ] vorausliegt«, zeigt sich bereits in der Gemeinschaft ein »intuitiv bestehende[r] Vertrag« (Merz-Benz 2005b, 176; vgl. 2006, 34, 47). Es wird ebenfalls oft übersehen, dass traditionale Gemeinschaften nicht nur romantisch-tugendhafte Orte verkörpern, sondern auch repressiv, monolithisch und autoritär sein können (vgl. Reese-Schäfer 2001, 124; Raulet 1993). Der »Vertrag« der traditionalen Gemeinschaft stellt sich nicht per se als ein wünschenswerterer Zugang zum sozialen Leben dar. Bei Tönnies beruht die historisch gewachsene Gemeinschaft auf dem organisch verstandenen, gefühlten, unbewussten und weitgehend kollektiven Wesenwillen als Grund- und Handlungsorientierung. Im Unterschied dazu beruht die absichtsvoll hergestellte (künstliche) 22 | Diese Einschätzung wird es später erlauben, auch die Gemeinschaft – in ihrer Funktion als »mentaler Disposition« – in ein Dazwischen von Individuum und Gesellschaft zu integrieren.

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Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft

Gesellschaft auf willentlichen Akten der Handelnden, mit dem rationalen und bewussten Kürwillen als Konstituens (vgl. Tönnies 1979, 73 f.). Die Gemeinschaft wird durch emotionale Bindung und Solidarität zusammengehalten, die Gesellschaft massgeblich durch ökonomische und rechtliche Beziehungen. »Sein [Tönnies’] Thema ist es, ›die Begriffe eines natürlich-kunsthaften und vernünftigen sozialen Lebens und Individualwillens auf der einen Seite, eines zum blossen Mittel und zur grossartigen Machinerie gestalteten – vervollkommneten und erniedrigten, – sozialen Lebens und Willens auf der anderen Seite, in möglichster Schärfe‹ darzustellen (Brief [an Harald Höffding] vom 6. Juli 1897). Seine begriffliche Analyse sollte die beiden Sphären der sozialen Realität, eben die absichtsvoll hergestellte liberale und kapitalistische Gesellschaft und den Gegentypus, die historisch gewachsene Gemeinschaft, auf einem vergleichbaren Niveau wissenschaftlicher Genauigkeit erfassen können. Im Falle der Gemeinschaft steht das Gemeinwohl im Vordergrund, im Falle der Gesellschaft der individuelle Nutzen. Beide Typen beruhen aber auf individuellen Willensakten wechselseitiger Bejahung. Vernunft und Willen stehen jedoch in einem unterschiedlichen Verhältnis zueinander.« (FTG o.J.)

Letztlich geht es Tönnies um den Willen, der die Grundlage allen Handelns ist und den er, gleichsam zwischen Historismus und Rationalismus vermittelnd (vgl. Merz-Benz 1991, 32), als rationale, veränderliche Form betrachtet. Tönnies versetzt Wirklichkeit und soziale Verhältnisse »in die Gestalt des Willens, in denjenigen Wesensbereich des menschlichen Tuns, aus dem heraus das Individuum sich seine Welt [. . . ] fortwährend konstituiert« (Merz-Benz 1991, 39). Im gemeinschaftlichen Wesenwillen bilden Mittel und Zweck eine Einheit, im gesellschaftlichen Kürwillen sind sie getrennt und die Mittel werden hinsichtlich isolierbarer Zwecke gewählt (vgl. Tönnies 1979, 104; MerzBenz 1991, 53 f.). Gemeinschaft und Gesellschaft, und somit beide Willensarten, sind koexistent in traditionalen wie in modernen Gesellschaften (vgl. Opielka 2004, 31). Gemeinschaftliche und gesellschaftliche Verbindungen werden von den Menschen immer »gewollt«, jedoch in unterschiedlicher Ausprägung: »Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten. [. . . ] Gesellschaft [. . . ] wird begriffen als eine Menge von natürlichen und künstlichen Individuen, deren Willen und Gebiete in zahlreichen Verbindungen zueinander, und in zahlreichen Verbindungen miteinander stehen, und doch voneinander unabhängig und ohne gegenseitige innere Einwirkungen bleiben.« (Tönnies 1979, 34, 44)

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Dabei zeigt sich, dass Gemeinschaft und Gesellschaft »idealtypisch auf zwei verschiedene soziale Gebilde [verweisen], die sich als Pole eines Kontinuums begreifen lassen.« (Wagner 2006a, 60) Es liesse sich dann der Vorwurf vorbringen, dass Tönnies die Verbindung, die Koexistenz der unterschiedlichen mentalen Dispositionen begrifflich nicht fassen kann: der »Ort« zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft werde von Tönnies nicht erreicht.23 Dem Theorem scheint an dem »mehr gemeinschaftliche[n] oder mehr gesellschaftliche[n] Charakter« zu liegen (zit. in Wagner 2006a, 60; Hervorhebung S. B.), wodurch sich erneut das Interesse an Strukturkategorien zeigt. Tönnies’ »reine Soziologie« will die »Einheit der sozialen Wirklichkeit« beschreiben, wobei fraglich bleibt, ob es dieser Soziologie gelang, »den Übergang von Gemeinschaft zu Gesellschaft angemessen zu konzeptualisieren.« Die Bemerkung, dass sein Begriffssystem »keine Begriffe enthält, um die sozialen Gebilde selbst in ihrem Nebeneinander von Verbundenheit und Getrenntheit zu erfassen«, macht dies deutlich (Wagner 2006a, 61). Ihm darf allerdings zugehalten werden, dass es in der Beschreibung der je eigenen Begriffe höchst differenziert ist. Wird allerdings die »Willenstheorie« in diese Debatte einbezogen, dann zeige sich, dass die »Vermittlung von gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Sozialformen vorgedacht [ist], allerdings in einer Fassung, die für die Soziologie [. . . ] ungewöhnlich ist«; die Vermittlung wird dem »Übergang vom prärationalen zum rationalen Modus« entzogen (Merz-Benz 2006, 43). Der Wandel der mentalen Disposition ist demzufolge bereits die Vermittlung zwischen Verbundenheit und Getrenntheit. In der Gemeinschaft verkehren die Menschen gemäss eines »intuitiv bestehenden Vertrag[s]« (Merz-Benz 2005b, 176); der ausschlaggebende Wille beim gesellschaftlichen Tauschakt heisst hingegen Kontrakt und »ist die Resultante aus zwei divergierenden Einzelwillen, die sich in einem Punkte schneiden.« (Tönnies 1979, 39) Das Bewusste und Konstruierte setzt sich vom Unbewussten und Sozialisierten ab; die Gesellschaft dient »der Überwindung der [aus der Ganzheit der Gemeinschaft heraus gelösten; S. B.] Individualität durch eine künstliche, gleich dem Kontrakt überhaupt erst zu schaffende Ganzheit« (MerzBenz 1991, 34). Das zentrale Moment der gemeinschaftlichen Ganzheit lautet aber: »Gemeinschaft besteht, indem sie von ihren Mitgliedern gleichsam von innen, arbeitsteilig, ja, was die Möglichkeiten ihres stets vorausgesetzten Bestands angeht, rational vollzogen wird« (Merz-Benz 2005b, 176; Hervorhebung S. B.). Dabei kommt Tönnies’ »rationale« und genuin soziologische Fassung von Gemeinschaft zum Ausdruck, die einer besonderen Disposition bedarf. Auf der mentalen Entwick23 | Die gleichzeitige Verbundenheit und Getrenntheit, so wird sich zeigen, kann in Peter Sloterdijks Sphärologie genauer beschrieben werden.

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Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft

lungsstufe der Sozialformen findet sich die »Gemeinschaft des Geistes als dem blossen Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen Richtung, im gleichen Sinne« (Tönnies 1979, 12). Diese Bestimmung wird folgendermassen weitergeführt: »Je weniger aber Menschen, die miteinander in Berührung stehen oder kommen, miteinander verbunden sind in bezug auf dieselbe [durch materielle Gegebenheiten bedingte] Gemeinschaft, desto mehr stehen sie einander als freie Subjekte ihres Wollens und Könnens gegenüber« (Tönnies 1979, 16; Einfügung in Merz-Benz 1991, 49). Zum einen treten Ordnungsverhältnisse ins Spiel, zum anderen differenziert sich als Form des »Zusammenlebens unter ökonomischen Gesichtspunkten« die Gemeinschaft des Genusses aus (Merz-Benz 1991, 51). Die Moderne und ihre Formen der Gemeinschaft, wie z. B. Gated Communities (siehe Kapitel 12.2), scheinen diesem Wandel der Dispositionen zu folgen. Der Gedanke der Gestaltung »in der gleichen Richtung, im gleichen Sinne« klingt hier wie dort zwar an, ist aber heutzutage wie in geschlossenen Wohnsiedlungen streng rationalisiert; die Einflusskräfte der Gesellschaft sind stärker als jene der Gemeinschaft. Dies schien jedoch von Anbeginn der Fall gewesen zu sein: »Denn offenbar ist der Faktor des Denkens und also der Vernunft [. . . ] das dynamische Element, d. h. es gestaltet [. . . ] das Handeln [. . . ] im Zusammenwirken und gemeinsamen Wollen. Die Steigerung der Vernünftigkeit ist die Steigerung der Gesellschaft« (Tönnies 1955, 464 f.).

In dieselbe Richtung geht auch Tönnies’ Forderung, diese »Denkungsart« von Gemeinschaft und Gesellschaft müsse »auf jeden historischen Zustand sich anwenden lassen« (Tönnies 1955, 465). Indem dieses dynamische Modell (mit diesbezüglicher Ähnlichkeit zu Simmel und Elias) zudem auf die Entwicklung des gesamten sozialen Lebens ausgeweitet werden soll, kommt ihm generische Gestalt zu. Interessant für die vorliegende Betrachtung ist zudem Tönnies’ Beitrag, die Grossstadt (real aber in gewisser Weise auch sinnbildlich) mit Gesellschaft in Beziehung zu setzen (vgl. Tönnies 1955, 465 f.). »Erst wenn die Stadt sich zur Grossstadt entwickelt, verliert sie diese [gemeinschaftlichen Merkmale; S. B.] fast gänzlich, die vereinzelten Personen oder doch Familien stehen einander gegenüber und haben ihren gemeinsamen Ort nur als zufällige und gewählte Wohnstätte. [. . . ] Die Grossstadt besteht [. . . ] aus lauter freien Personen, die im Verkehre einander fortwährend berühren, miteinander tauschen und zusammenwirken, ohne dass Gemeinschaft und gemeinschaftlicher Wille zwischen ihnen entstünde« (Tönnies 1979, 211; Hervorhebung S. B.).

Gerade in der modernen, »gesellschaftlichen« Grossstadt findet sich ein idealer Explikationsgrund für die aktuellen Veränderungen der Zeit

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wie des damit verbundenen Sozialgefüges.24 Durch die generische Gestalt – hier des Übertrags auf die moderne Grossstadt – lässt sich das Theorem von Gemeinschaft und Gesellschaft auch auf eine »Gemeinschaft 2.0« anwenden. Das Besondere an Tönnies’ Theorem ist das Ineinandergreifen der beiden Kategorien. Dabei kann aufgezeigt werden, inwieweit Gated Communities »zwischen« Gemeinschaft und Gesellschaft stehen und betrachtet werden sollten (siehe Kapitel 12.2). Neben »allen Möglichkeiten vernunftorientierten Handelns ist unser Zusammenleben immer auch begründet in [alogischen oder auch prärationalen] Tätigkeiten« und dies »gilt [auch] für die Ordnungen unseres Zusammenlebens: die sozialen Gebilde« (Merz-Benz 2006, 27), wie auch, so muss hinzugefügt werden, für die graduelle Veränderung dieser Gebilde. Nachdem die Soziologie aus ihrem Ursprung heraus das Rationale immer vorgezogen hat, zeigt sich erst in jüngster Vergangenheit ein Interesse am »Neben- und Miteinander von rationalen und prärationalen Elementen« der sozialen Wirklichkeit; dieses Wiedererwachen darf auch dem so genannten Kommunitarismus zugeschrieben werden (Merz-Benz 2006, 28). Dort soll eine neue »Sichtweise des Menschen und der Gesellschaft« ergründet werden (Etzioni zit. in Merz-Benz 2006, 29), wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft doch zugleich »als grösstmögliche[r] Gegensatz zwischen zwei letztlich unvermittelbaren Grössen« angesehen (Merz-Benz 2006, 29). Dem kann entgegen gehalten werden, dass »im Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft nichts weniger als die Möglichkeitsbedingung der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft schlechthin mitgedacht« wird, sofern dies entsprechend thematisiert werde (MerzBenz 2006, 34; Hervorhebung S. B.). Es liegt deshalb nahe, die ideologischen Strömungen des Neoliberalismus (in Verbindung mit Individuum) und des Kommunitarismus (in Verbindung mit Gemeinschaft als Substitut für Gesellschaft) zueinander in Beziehung zu setzen. Dies ist, abgesehen von der gebotenen Kürze, nicht unproblematisch, da beide höchst disparat sind (vgl. Kleinert 1997, 269). Es werden deshalb Idealtypen der beiden Ideologien zu Grunde gelegt. Der Hauptangriffspunkt lässt sich wie folgt fassen: »[E]in ungehindertes Vordringen von marktorientierten, egoistischen Verhaltensweisen zerstöre wichtige kulturelle Traditionen der Gemeinschaft und der Zusammengehörigkeit«, kritisiert der Kommunitarismus und »will das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft besser, tugendhafter gestalten.« (Willke 2003, 24 | Es erstaunt nicht, dass sich auch andere Soziologen – so z. B. Georg Simmel – zu dieser Wendezeit mit der Stadt auseinandersetzten. Sie wird uns auch bei Peter Sloterdijk wieder begegnen. Dabei scheint auch jener »Ort« oder Raum auf, der bei Gabriel Tarde als »Innen« und »Aussen« bzw. als Verbindung gelesen wurde.

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Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft

152) Die Ideologie des Kommunitarismus versteht sich als Korrektiv neoliberaler Auswüchse und hat zum Ziel, gemeinschaftsorientierte Werte zu fördern, dabei aber bisher »eine kooperative Gemeinschaft vor Augen, die es nicht mehr gibt (wenn es sie je gab) und auch in 30 Jahren nicht geben wird« (Willke 2003, 153). Während der Ökonom James M. Buchanan auf eine alternative, d. h. zeitgemässe »Form von Gemeinschaft [aufmerksam macht], die potenziell umfassender und hinsichtlich des ökonomischen Erfolgs sicherlich produktiver ist als eine Gemeinschaftsform, deren Ordnung auf nicht verallgemeinerbaren Beziehungen beruht«, bezichtigt Jürgen Habermas den Kommunitarismus ebenso kritisch eines »rückwärtsgewandten Blick[s]«, welcher der »Komplexität der neuen Verhältnisse nicht gerecht wird« und der mit einem verkürzten Verständnis der modernen Gesellschaft korrespondiert (zit. in Willke 2003, 153). Dabei muss ergänzt werden, dass die Auseinandersetzung zwischen Neoliberalismus und Kommunitarismus kaum mehr existent ist (auch wenn innerhalb gewisser Kreise die Komplexität nach wie vor nicht erkannt sein mag). Beide wissen mittlerweile darum, dass sie einander brauchen (vgl. Reese-Schäfer 2001, 144). So bezeichnen für den »liberalen Kommunitarier« Michael Walzer kultureller Kommunitarismus und politischer Liberalismus »keine Gegensätze, sondern notwendige Bestandteile, wechselseitige Ergänzungen eines demokratischen politischen Lebens« (Kallscheuer 1992, 26). Wie steht es jedoch um den wirtschaftlichen Neoliberalismus? Tabelle 2: Neoliberalismus und Kommunitarismus Neoliberalismus

Kommunitarismus

Marktindividuum Marktbeziehungen Privatisierung indirekter Staat Vertrag, Recht Deregulierung

Solidargemeinschaft Sozialbeziehungen Öffentlichkeit liberaler Staat Tugend, Werte moralische Reregulierung

Eine Ad-hoc-Tabelle illustriert die innere Spannung zwischen Marktliberalismus und Gemeinschaftsdiskurs (siehe Tabelle 2). Daran wird ersichtlich, dass es aussichtslos sein muss, kommunitaristische Denkansätze für neoliberale Gesellschaftsbilder zu reklamieren. Gesellschaft, verstanden als Verfolgung individueller Zwecke von Marktteilnehmern, lässt sich anscheinend mit Gemeinschaft nicht vereinbaren (vgl. Kleinert 1997, 271 f.). Ausgangspunkt war, dass der Kommunitarismus »die Sehnsucht nach Gegenargumenten gegen einen allzu individua-

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listischen Neoliberalismus seit den achtziger Jahren« erfüllte (ReeseSchäfer 2001, 37). Im Zentrum der Kritik steht ein radikal-liberaler und an wirtschaftlichen Messpunkten orientierter Individualismus, wie ihn etwa Ludwig von Mises vertritt. Diese Richtung des Neoliberalismus bevorzugt das Individuum gegenüber allen kollektiven Geisteshaltungen und versucht, so viele Kosten wie möglich vom Staat auf das Individuum zu verlagern (die Politik von Margaret Thatcher stellt ein treffendes Beispiel dafür). Wobei »individualistisch« hinsichtlich der späteren, veranschaulichenden Fallrekonstruktion zu Gated Communities besser noch durch »strategisch« ergänzt würde, was die wirtschaftliche Komponente (beispielsweise den Werterhalt) stärker hervorzuheben vermag (siehe Kapitel 12.2). Während der neoliberale Erklärungsversuch soziales Handeln auf »vom Individuum aufgestellte Nützlichkeitskriterien [zurückführt], verfolgt durch Erwägungen, die durch die klassische Zweck/MittelRationalität bestimmt sind«, setzt der kommunitaristische diesem »ein Bewusstsein der Verantwortung gegenüber dem sozialen Ganzen« entgegen (Merz-Benz 2005b, 169 f.); es besteht damit eine Entgegensetzung, die mit Tönnies’ Theorem korrespondiert. Jemand, der »die [gemeinschaftlichen] Muster kennt, der vermag sich auch in der sozialen Wirklichkeit [d. h. der Gesellschaft; S. B.] jenseits des individualistischen Handelns zurechtzufinden.« (Merz-Benz 2006, 36) Die »Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft oder [. . . ] von individualistischen und gemeinschaftlichen Lebensformen« (Merz-Benz 2006, 37), so liesse sich diese Überlegung pervertieren, wäre dann über die moderne, neoliberale Gesellschaft zu leisten. Der Kommunitarismus versucht, wie sich zeigt, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft »besser, tugendhafter [zu] gestalten.« (Willke 2003, 152) Dabei kommt der Neoliberalismus als »Impetus« einer radikalmodernen Gesellschaft (d. h. durch fortlaufendes Einwirken) diesem Anspruch zuvor. Es offenbart sich daran eine eigene »Möglichkeitsbedingung der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft« (MerzBenz 2006, 34). Gemeinschaft – allerdings eine neue »gesellschaftliche« oder posttraditionale Gemeinschaft (vgl. Honneth 1993) – wird dann verbindende »Autorität« zwischen Individuum und Gesellschaft. Die hohe Leistung der Tönniesschen Theoreme – Gemeinschaft und Gesellschaft einerseits, Wesenwillen und Kürwillen andererseits – liegt gerade darin, eine »Hypostasierung von Sozialformen zu gemeinsamen geistigen Vorstellungen« zu vermeiden (Merz-Benz 2006, 45). Indem diese beiden Willenstypen »als Ursachen oder als Dispositionen zu Tätigkeiten gedacht werden«, kürzer: als »geistige Wirkung« gedacht werden (Tönnies 1979, 73), verbinden sich Tönnies’ Sozialtheorie und Psychologie. Insbesondere der Wesenwille (und das mit ihm verbunde-

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Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft

ne Denken) ist »nur [als] psychische Realität und psychische Kausalität« denk- und verstehbar. Dabei soll, um ihn richtig zu erfassen, »von allem selbständigen Dasein äusserer Objekte abgesehen« und diese aus »ihrer subjektiven Wirklichkeit« ersehen werden (Tönnies 1979, 74). Im Kürwillen hingegen wirke das Denken »wie mit mechanischem Zwange [. . . ] auf die Glieder des Körpers« des abstrahierten Subjekts (in meiner Terminologie: des sozialen Individuums) ein. »Da diese Vorstellung nur innerhalb einer physikalischen oder physiologischen Ansicht vollziehbar ist, so wird hier [beim Kürwillen] erfordert, das Denken selber als Bewegung, d. i. als Gehirnfunktion, und das Gehirn als objektiv-wirkliches, einen Raum erfüllendes Ding zu verstehen.« (Tönnies 1979, 74)

Während die Gemeinschaft und der Wesenwille in einem metaphorischen Sinn »innen« sind und »innen« bleiben, sind die Gesellschaft und der Kürwille »aussen« liegend. Bildlich und nicht mehr nahe an Tönnies gesprochen, wirkt die Gemeinschaft von innen, d. h. das Individuum wirkt nach aussen auf die soziale Wirklichkeit ein; die Gesellschaft hingegen wirkt von aussen, d. h. die soziale Wirklichkeit wirkt nach innen auf das Individuum ein. In der Tat ist diese Darstellung zu einfach, um den komplexen Sachverhalt ausreichend zu erfassen. Denn nicht nur ist die Gemeinschaft dem Individuum vorgelagert (vgl. Merz-Benz 1995b, 25), sondern die Herausforderung hinsichtlich dieser Kategorie liegt darin, mit rationalen Mitteln prärationale Sachverhalte erklären zu müssen, ohne dabei den prärationalen Charakter zu zerstören. In gewisser Weise zeigt sich hier das Problem der Beschreibung der Selbstbeschreibung doppelt, da die betroffenen »Sozialformen [. . . ] bloss intuitiv gedacht, erfühlt oder empfunden werden.« (Merz-Benz 2006, 48 f.) Auf Seiten der Gesellschaft sind die Sozialformen durch die »für ihre Aufrechterhaltung einzig verantwortlichen, [. . . ] überhaupt erst vordenkenden Individuen« geprägt. Da beide Arten »in den Bewusstseinsorientierungen der an ihnen beteiligten Menschen« konstituiert werden (Merz-Benz 1995b, 25), darf der sich öffnende Raum in keiner Weise organizistisch gelesen werden (vgl. Merz-Benz 2006, 46 f.), sondern vielmehr als »geistiger« oder imaginärer Raum, analog zur geistigen Wirkung. Auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gerechnet, darf deshalb postuliert werden, dass das Individuum zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft vermittelt, beide Formen allerdings auf die Seite der Gesellschaft geschlagen werden müssen. Für die vorliegende Arbeit wäre es naheliegend, die Gemeinschaft als Mittler – als Dazwischen – zwischen Individuum und Gesellschaft aufzufassen. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass ein solch imaginärer

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Umgang II: Vom Individuum zur Gesellschaft

Raum zwischen den beiden Polen nicht alleine aus Gemeinschaft bestehen kann; und zwar gerade weil eine alleinige Beschränkung auf »das Prärationale« des Individuums sowenig Sinn macht, wie eine alleinige Beschränkung auf »das Rationale«. Abschliessend interessiert deshalb Tönnies’ Umgang mit jenem Individuum, das letztlich »die Erscheinungen zu lebendigen« gestaltet (Tönnies 1979, 6). Sein zu weiten Teilen metaphysischer Wirklichkeitsbegriff verhindert, dass für Tönnies ein einmaliger, individueller Wirkungszusammenhang zwischen zwei einmaligen, individuellen Ereignissen eigentliche Wirklichkeit konstituieren kann (vgl. Merz-Benz 1995b, 99). Diese Sicht stellt ihn konträr zur Sicht eines Max Weber. Deshalb fehlt dem Individuum bei Tönnies jene Bedeutung, die es bei Weber erlangt hat. Der Wille, welcher das Individuum »erst zum Eingehen von Sozialverhältnissen veranlasst, [. . . ] ist selbst bei der Gesellschaft keineswegs frei von kontextuellen Fixierungen« (Merz-Benz 1995b, 124 f.). Das Individuum – »sobald als solcher Begriff zu irgendwelchem Behufe dienlich sein mag« – ist Subjekt des Wollens nur in seiner besonderen Entwicklung (d. h. der Sozialisation innerhalb der Gemeinschaft: Familie, Gemeinde, Kirche etc.), ausserhalb dieser wird »das Subjekt als wesentlich repräsentatives« erkannt, »von dem man auch sagen könnte, dass an ihm die Vorgänge stattfinden, anstatt: dass es selber sie vollzieht« (Tönnies 1979, 76). Obschon dieses »ausserhalb der Entwicklung« im Rahmen des Wesenwillens erwähnt wird, erlaubt es m. E., eine Brücke zur Gesellschaft zu schlagen. Dort finde im Akt der »Hingabe und Annahme eines Gegenstandes [. . . ] eine Berührung und Entstehung eines gemeinsamen Gebietes statt[. . . ].« Das was hier als »Zwischen« (zwischen Individuen wohlverstanden; vgl. Merz-Benz 1995b, 338) sich vorübergehend konstituiert, kann als »gemeinsames Gut, sozialer Wert« bezeichnet werden, wobei zu bedenken sei, ob dieser fiktive Zustand »nur für die Theorie, also im wissenschaftlichen Denken vorhanden sei; oder [. . . ] auch im Denken seiner eigenen Subjekte« (Tönnies 1979, 35). Die Paradoxie der Soziologie zeigt sich hier in reiner Form. Erneut scheint es, als ob ihr mit einer »geistigen Konstruktion« begegnet werden soll, die im Denken der Individuen verankert ist und »doch den Raum, den Aussenraum zwischen den Individuen, zu überspannen vermag.« (Merz-Benz 1995b, 337 f.; Hervorhebung S. B.) Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft erhält vor der Folie der Gemeinschaft neue Konturen. Eine ähnliche, allerdings nachmetaphysische Explikation setzt, so wird sich der Eindruck erwecken, genau hier an.

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10.3

Peter Sloterdijk: Sphären

10.3 Peter Sloterdijk: Sphären Mit seiner Sphären-Trilogie greift der Philosoph Peter Sloterdijk die Soziologie direkt an ihrem Kern an. Das Werk ist in hohem Masse eine »soziologische« Annäherung an eine globale Welt und an ein notwendiges Verständnis. Ausserdem zeigt sich gerade in neuer Zeit ein internationales wie interdisziplinäres Interesse an dieser Annäherung.25 Sie rundet die gewählten Umgänge ab und schliesst zudem an die Soziologietradition an, indem sich Sloterdijk auf Gabriel Tarde und Georg Simmel bezieht. Die Sphärentheorie oder Sphärologie beginnt mit der Auslotung des sozialen Raums, mit den Blasen als Mikrosphären und den Globen als Makrosphären (vgl. Sloterdijk 1998, 63; 1999).26 Der Mikrosphärologie geht es um soziale Nahräume, die eine seelisch, emotional und kognitiv integrierende Komponente aufweisen, und um die Frage nach der menschlichen Teilhabe an symbolischen oder imaginären Räumen (vgl. Sloterdijk 1998, 83 ff.). Der Raum, als eine Vorstellung mit womöglich nur metaphorischer Ausdehnung, weist zum Ausgangspunkt dieser philosophischen Soziologie. Philosophie beginnt für Sloterdijk nicht mit der »Eins«, dem Einen, dem Individuum, sondern mit der »Zwei«: »Ich lasse die Ontologie mit der Zwei-Zahl beginnen.« Die Sphäre wird dann zur Relation zwischen »mindestens zwei polarisch einander zugewandten und zugehörigen Einwohnern« (Sloterdijk 1998, 45; Hervorhebung S. B.). Ursprünglich heisst das: »Was ich die Sphäre nenne, ist von Anfang an nur als dyadische Form, als Zweieinigkeitsstruktur gegeben.« (Sloterdijk/Heinrichs 2001, 147) Durch ihr Verständnis des Sozialen rückt diese Philosophie zur Soziologie. Der erste Band widmet sich diesen Mikrosphären; die Beziehungen treten im Sinne einer »proxemische[n] Anthropologie« (Sloterdijk 1999, 143) in den Vordergrund und werden dem Individuum wie der Struktur vorgezogen: »Das philosophische Engagement von Sphären I besteht in dem Vorsatz, die in der philosophischen Tradition stiefmütterlich behandelte Kategorie der Relation, der Beziehung, des Schwebens in einem Ineinander-Miteinander, 25 | Sowohl im französischen wie im englischen Sprachraum findet eine dezidierte Auseinandersetzung mit Sloterdijk und den Sphären statt (vgl. z. B. ethnographiques.org 3(6), 2004; Horizons philosophiques 17(2), 2007; Cultural Politics 3(3), 2007). 26 | Eine ausführliche Würdigung der Sphären-Trilogie aus den Reihen der Soziologie steht noch aus und will hier nicht geleistet werden. Da der direkte Bezug zu Individuum und Gesellschaft interessiert, wird die theologische Argumentationslinie ausgeblendet, die das Werk hinsichtlich Beziehungs-, Kommunikations- und Gemeinschaftsprozessen durchzieht (vgl. Sloterdijk 1998, 552, 639). Hier wäre in Verbindung mit späteren Überlegungen Anschlussfähigkeit gegeben (siehe Kapitel 12.3).

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des Enthaltenseins in einem Zwischen, zu einer erstrangigen Grösse zu erheben und die sogenannten Substanzen und Individuen nur als Momente oder Pole in einer Geschichte des Schwebens zu behandeln.« (Sloterdijk/Heinrichs 2001, 139; Hervorhebung S. B.)

Diese philosophische Sozialtheorie beruht auf der Annahme, dass die Welt aus Relationen besteht. Da sie an anderer Stelle auch als »starke Beziehungen« bezeichnet werden, verschiebt sich die Bedeutung von den Polen hin zum Medium dazwischen, das dann ein »höheres Mass an Wirklichkeit besitzt« als jene Pole (Tuinen 2006, 88). Hervorgebracht werden diese Relationen, gemäss dieser Vorstellung, nicht von den Substanzen (Strukturen wie Dingen) und Individuen, die deren Endprodukte sind, sondern es sind die Beziehungen (auch: Kommunikation), welche die Individuen hervorbringen. »Noch einmal also fragen wir: Wo ist das Individuum? Und geben die sphärologische Antwort: Es ist zunächst und zumeist Teil eines Paares« (Sloterdijk/Heinrichs 2001, 146). Nur in der Relation, bei Sloterdijk im Paar und ursprünglich in der Mutter-Kind-Dyade, kann das Individuum (in Relation zum anderen Individuum) Individuum werden und sein.27 Die Sphärologie interessiert sich deshalb im Grunde für das Dritte zwischen den Personen, die das Paar bilden. Dadurch entsteht »etwas Emergentes«, das sich weder auf das eine, noch auf das andere Individuum zurückführen lässt. Die von Sloterdijk genannte »Geschichte des Schwebens« ist durch die Blasen versinnbildlicht; sie markieren das Zerbrechliche dieser »Zwischenwelt« der Menschen, der Sphären. Der Wunsch, in intimen Räumen zu leben, führt zur »Innenraumschöpfung« und zur Bildung sozialer Sphären, insofern die Grenze von biologisch-kognitiver Sphäre hin zur Sozialität überwunden wird, die Gedanken von innen nach aussen »übertragen«, bekannte Räume verlassen und unbekannte betreten werden, ohne die Gewissheit allerdings, dass sich in ihnen leben lässt (Sloterdijk 1998, 14, vgl. 269 ff.). Mit der Bemerkung, »dass im geistigen Raum [. . . ] die einfachste Gegebenheit schon eine mindestens zweistellige oder bipolare Grösse [. . . ], wirklicher Geist [. . . ] immer 27 | »Wenn das Kind den Seifenblasen seinen Atem einhaucht und ihnen mit seinen ekstatischen Nachblicken treu bleibt – wer hat dann zuvor seinen Atem in das spielende Kind gelegt? [. . . ] In welchen Aufmerksamkeiten, welchen Beseelungsräumen bleiben die Kinder enthalten, wenn ihr Leben auf steigenden Bahnen glückt?« (Sloterdijk 1998, 19) Die Herleitung der Dyade geht allerdings weiter zurück zur Plazenta, die als »Mit« bezeichnet wird und mir »meinen Ort im Raum vor allen Räumen zu[spielt]; [. . . ] mir einen ersten Sinn für mein bleibendes Hier« gibt (Sloterdijk 1998, 360; vgl. Tuinen 2006, 26, 91 f.) und die, wie ich hinzufügen möchte, problematisch vereinfacht als Mittler zwischen Individuum (Kind) und Gesellschaft (Mutter) gelesen werden kann. Wird dann noch die Nabelschnur beigezogen, dann leitet uns dies direkt zu einer metaphorischen Konstruktion des Dazwischen (siehe Kapitel 12.1).

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schon Geist in und gegenüber Geist« sei (Sloterdijk 1998, 41 f.), lässt sich eine gedankliche Nähe zu Gabriel Tarde erahnen. An ihn erinnert auch die Aussage, die Blase sei »ein Ort der starken Beziehung, deren Merkmal darin besteht, dass Menschen im Nähe-Raum ein psychisches Verhältnis reziproker Beherbergung bilden« (Sloterdijk 2004, 302) und die uns später wieder auf ihn zurückführt. Sphäre bedeute allerdings auch, dass das »Leben eine Form-Sache« sei, und diese These suggeriere, dass »Leben, Sphärenbilden [d. h. Innenraumschöpfung] und Denken« dasselbe bedeuten (Sloterdijk 1998, 12 ff.). Daher auch: »Wenn Menschen da sind, so fürs erste in Räumen, die für sie aufgegangen sind, weil sie ihnen durch Einwohnung in ihnen Form, Inhalt, Ausdehnung und relative Dauer gegeben haben.« (Sloterdijk 1998, 46) Diese »atmosphärisch-symbolischen Orte« müssen als nicht-physikalischer Raum, als »surreale Räume« (Sloterdijk 2004, 13; vgl. 1999, 173; Tuinen 2006, 133 f.), als interpersonale Struktur verstanden werden, die zwei oder mehr Menschen durch ihre Verbundenheit bilden und die fortwährend erneuert werden muss. Für diese Beziehungen gilt, »dass sie ›ihr eigener Ort‹ sind. Wer an ihnen teilhat, lebt in einem topologisch eminenten Sinn innen.« (Sloterdijk 1999, 143) Daran zeige sich, so Sloterdijk, dass die Menschen »raumschöpferische Wesen sind, die gar nicht anders können als im selbst gemachten Raum sich aufzuhalten.« (in Scobel 2004) Doch erfolgt die Konstitution dieser Räume »nicht aus freien Stücken, sondern unter vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«; doch sind Sphären »ständig von ihrer unvermeidlichen Instabilität beunruhigt« (Sloterdijk 1998, 48). Die Interaktion mit dem »Aussen«, das Interesse an einem Dritten, wie die Nähe zur Systemtheorie klingen hier an.28 Die Beschäftigung mit der »Sphäre« ist allerdings nicht neuartig, so nennt Sloterdijk (2004, 63) beispielsweise Jakob von Uexküll als Wegbereiter einer Sphärologie. Die Vorstellungen von Raum und Sphäre waren schon in der Vormoderne untrennbar verbunden, und Plato darf wohl als einer der ersten Sphären-Theoretiker bezeichnet werden (vgl. Jeffries 2003, 9 f.). Der Widerspruch von »innen« und »aussen« begleitet den Begriff seither. Später, im 13. Jahrhundert durch Johannes de Sacroboscos Tractatus de Sphaera und im 15. Jahrhundert durch die Bilder von Hieronymus Bosch, wird die Hohlkugel als Grundelement des konzentrisch geordneten Kosmos eingeführt und Sphären erscheinen »as bubbles enveloping the citizens of his barely post-feudal world.« (Jeffries 2003, 1; Hervorhebung S. B.) Nach Mitte des 18. Jahrhunderts verschwindet die Sphäre fast vollständig als eigenständiges, wissenschaftliches Forschungsobjekt, bis sie seit den 1950er Jahren 28 | Vgl. beispielsweise: »Mikrosphären wachsen zu Makrosphären heran in dem Mass, wie es ihnen gelingt, die stressierenden Aussengewalten in ihren eigenen Radius einzubauen.« (Sloterdijk 1999, 167)

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von der Philosophie wieder aufgegriffen und bis hin zur Idee einer symbolischen oder sozialen Sphäre erweitert wurde. Vor allem Gaston Bachelards La poétique de l’espace und Henri Lefebvres La production de l’espace beriefen sich auf die vergessene Verbindung von Sphäre und Raum (vgl. Jeffries 2003, 2 ff.). Schliesslich nimmt sich Sloterdijk der »bubbles« und Sphären an und zielt auf die »Existenzialisierung des Raumes« (Hartmann 2004), auf das ungeschriebene Über-Buch der abendländischen Philosophie namens »Sein und Raum« (Sloterdijk 1999, 59). Neu ist daran bloss, dass die »unruhige Erkundigung nach dem Raum« von Sloterdijk (1998, 27 f., vgl. 46 f.) aktiviert wird, denn naturläufig »interessieren sich Menschen nicht für ihren Ort, der gegeben scheint«, und somit finde auch die Erkundigung nach dem »Sphäre bilden« nicht statt. Wenn nun die erstrebte Einheit in der Mikrosphäre, innerhalb der Blase, in den »Binnenwelten der starken Beziehung« (Sloterdijk 1999, 147), nicht erzeugt oder aufrechterhalten werden kann, dann bietet sich eine weitere Ebene an.29 »Sphären II« widmet sich den umfassenden, integrierenden Sphären (Räumen) und verwendet »Kugel« – die griechische spha˜ıra (Kluge 2002, 865), die der Trilogie den Namen gibt – und »Globus« (Weltkugel) als eigene Begrifflichkeit.30 Der Band thematisiert die Entstehung und das Scheitern einer Monosphäre, eben des Globus, »der real seienden, sinnerfüllten, alles beseelenden und bergenden Kugel [. . . ] als letztes Gestaltprinzip des Seienden überhaupt.« (Sloterdijk 1999, 384) Dazu wird die Erweiterung des Seelischen historisch aufgearbeitet (vgl. Sloterdijk 1999, 160; 2004, 16), wobei sich zeigt, dass die Seelen in Totalisierung und Globalisierung vereinnahmt werden (vgl. Sloterdijk 1999, 355 ff.; 2004, 17, 20). Wobei Globalisierung »nicht einfach ein Fall von räumlicher Expansion« darstellt, sondern als Wahrheitsfindung vorgezeichnet ist (Sloterdijk 1999, 902 f., vgl. 978 ff.); die Ausweitung ist eigentlich eine gedankliche. Die geschlossene Makrosphäre »Stadt« entsteht durch Mauern als »psychopolitische Antworten auf die dimensionale Provokation der emergenten Grosswelt«; sie grenzen ab und stiften dadurch Übersichtlichkeit (Sloterdijk 1999, 303 f.). Damit verbindet sich auch ein Blick 29 | »Für die modern-postmodernen Soziologen, die vor kurzem vom Produktivismus auf den Kommunikativismus ›umgestellt‹ haben (umstellen heisst den Leit-Irrtum wechseln), käme es jetzt wohl darauf an, einzusehen, dass sich bei der sphärologischen Analyse von Gesellschaften eine ›Ebene‹ zeigt, die vor der Unterscheidung von Produktion und Mitteilung liegt« (Sloterdijk 1999, 150, vgl. 311, 392). Interessant ist dabei, dass sich Sloterdijk (2004, 22) auf Emmanuel Joseph Sieyès bezieht, dem womöglich eigentlichen Schöpfer der Bezeichnung »Soziologie« (siehe Fussnote 26 auf Seite 36). 30 | Sloterdijk beschreibt eine historische »Globalisierung« (vgl. Tuinen 2006, 56). Analog zur Weltgesellschaft leistet dieses Konzept für den vorliegenden Kontext wenig.

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über die Mauer und ein (rück-)gekehrtes (technisches) Verständnis der Gemeinschaft durch die »Entsicherung der Städte« (Sloterdijk 1999, 363, vgl. 200).31 Es geht nun darum, »auch in entgrenzten kosmischen Dimensionen [. . . ] bei sich zu Hause zu sein«, imstande zu sein, »den Planeten Gesellschaft zu leisten« (Sloterdijk 1999, 358; Hervorhebung S. B.). Vor allem aber: »Denken heisst jetzt umziehen in das, woraus keine weitere Entwurzelung mehr möglich ist.« (Sloterdijk 1999, 361) Wenn es die Aufgabe der Philosophie sein soll, den Menschen ihren Ort in diesem Raum zu zeigen, gedanklich ihre wirkliche Lage zu bestimmen (Sloterdijk 1999, 365 ff.), dann wäre es Aufgabe der Soziologie die Verhältnisse dieser Orte zu bestimmen und zu erklären. Allerdings scheint das schwierig, weil die Sozialwissenschaft »ihre Schimäre, den homo sociologicus, weiter jagen« werde. Anstelle dessen habe sich eine »philosophisch reformulierte Wissenschaft vom Menschen« mit der Paarforschung und der »Theorie des Dualraums« zu beschäftigen (Sloterdijk 1998, 487 f.). Das Spannungsverhältnis in der gegenseitigen Aufladung von Soziologie und Philosophie wird dadurch erneut sichtbar. In dem Prozess hin zur Kugel, zum Globus sei eine »neue Dimension von Vergesellschaftung« aufgetreten, deren Motiv in der »asketischen und solidarischen Forschung nach der Wahrheit über das runde Ganze« besteht (Sloterdijk 1999, 17 f.). Die Kugel erhält ihre Grösse, »weil sie den äussersten kohärenten Raum (tópos) bildet, der alles umschliesst« (Sloterdijk 1999, 34). Die Erweiterung der ursprünglichen Paar-Blase und die vorgeprägte, spätmittelalterliche Ansicht, »Gott ist eine Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist« (zit. in Sloterdijk 1999, 132, 538 f.),32 zementierten das Bild des konzentrisch geordneten Kosmos, der in sich geschlossen ist (vgl. Sloterdijk 1999, 410 f.). Diese Kugel hat das Denken seit Beginn unserer Zeitrechnung bestimmt; ihr Zentrum hat allerdings keine Ausdehnung, ihr Umfang ist unendlich – geschweige der »fundamentale[n], um nicht zu sagen ruinöse[n] Ambivalenz bei der Bestimmung des menschli31 | Dieses Konzept verweist auf das Verschwinden der Stadtmauern, d. h. auf den »Sprung von der kollektiven Selbstbergung in befestigten Stadtgemeinschaften zur individuellen Selbstsicherung« (Sloterdijk 1999, 355). Damit geht für Sloterdijk ein anderes Bild der Stadt und ihrer Konsequenzen einher: »Bist du in fremden Städten elend, so sollte dich das nach Lage der Dinge nicht wundern. Bist du es in der eigenen, dann ist es Zeit, über das Dasein in Städten und das In-der-Welt-Sein überhaupt nachzudenken.« (Sloterdijk 1999, 356) 32 | Wenn sich Marshall McLuhan diesen Satz aus dem Buch der vierundzwanzig Philosophen zueigen macht und ihn auf räumliche Informationsbewegungen wie deren Simultaneität anwendet (vgl. Sloterdijk 2004, 22 f.), dann verweist dies auf das mögliche Verständnis eines Dazwischen als Metamedium. Ein mit dem »tópos« verwandtes und gleichfalls räumliches Konzept wird für die Konstruktion dieses Dazwischen herangezogen (siehe Kapitel 13).

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chen Ortes und seines Ranges im Kosmos« (Sloterdijk 1999, 417) – und wird zum Problem: »Sobald der Durchmesser den Wert unendlich erreicht, verliert die Peripherie ihren Wölbungscharakter, da der Umfang eines unendlichen Kreises als Gerade zu zeichnen ist. Also fällt das Innere des Pseudo-Kreises ins Heillose zurück. Es gibt kein Inneres mehr; [. . . ] Alles ist aussen.« (Sloterdijk 1999, 550 f.; vgl. Tuinen 2006, 143)

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts scheitert das »All-Eine« an seinen Widersprüchen; die Kugel stirbt an »Überdehnung« (Sloterdijk 1999, 132). In Anlehnung an Nietzsches berühmten Satz verkündet Sloterdijk (1999, 588): »die Kugel ist tot«; dies sei die eigentliche Bedeutung des ursprünglichen Satzes. Der Monosphärismus sei gescheitert und könne folglich nicht als Kern einer anthropologischen Raumtheorie dienen (vgl. Sloterdijk 1999, 136). Als »dritte Globalisierung« – nach Geometrisierung und Weltumrundung – interpretiert Sloterdijk (1998, 67) die Virtualität der Verhältnisse, »ausgelöst durch die schnellen Bilder in den Netzen«, die zu einer »allgemeinen Raumkrise« führe. Seit Beginn der Neuzeit finde eine »Entgrenzung des Raums nach aussen hin« statt (Sloterdijk 1999, 444), die endlich beantwortet werden müsse: »Das morphologische Leitbild der polysphärischen Welt, die wir bewohnen, ist nicht länger die Kugel, sondern der Schaum. [. . . ] Nur eine Theorie des Amorphen und Unrunden könnte [. . . ] die intimste und allgemeinste Theorie des gegenwärtigen Zeitalters bieten.« (Sloterdijk 1998, 72)

Die zunehmende Vernetzung »bedeutet daher strukturell nicht so sehr eine Globalisierung, sondern eine Verschäumung.« In dieser Sichtweise werden die einzelnen Blasen nicht in eine Kugel hineingenommen, »sondern zu unregelmässigen Bergen zusammengezogen.« (Sloterdijk 1998, 72) Die Struktur, so liesse sich sagen, bleibt Struktur, ohne Struktur zu sein; sie wird zu einer »neuen« Struktur.33 Da es »kein absolutes Aussen mehr gibt«, wird dieses durch eine »Vielheit von Innenräumen« kompensiert, die bloss noch auf ein relativ verstandenes Aussen bezogen sind (Tuinen 2006, 144). Das Aussen wird zum oben genannten »Zwischen«. Im dritten Band der Trilogie steht eine philosophisch-anthropologische Deutung des modernen, des vielfachen (auch: vielheitlichen) Individualismus im Vordergrund; dieser Band schliesst somit an den ersten an. Die Möglichkeit des Zusammenseins, die der vorliegenden 33 | In einer gewendeten Negativ-Formulierung zu Schaum liesse sich diese Struktur als »das Nicht-Seiende als ein dennoch Seiendes oder SeinVortäuschendes« bezeichnen (Sloterdijk 2004, 30).

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Arbeit als Motto vorangestellt ist, bildet Kern und verbindendes Glied dieses Ansatzes. »Mittels des Konzepts Schaum beschreiben wir Agglomerationen von Blasen im Sinne unserer früher vorgelegten mikrosphärologischen Untersuchungen. Der Ausdruck steht für Systeme oder Aggregate von sphärischen Nachbarschaften, in denen jede einzelne ›Zelle‹ einen selbstergänzenden Kontext bildet (umgangssprachlich: eine Welt, einen Ort), einen intimen, von dyadischen und pluripolaren Resonanzen gespannten Sinn-Raum oder einen ›Haushalt‹, der in seiner jeweils eigenen, nur von ihm und in ihm selbst erlebbaren Animation schwingt.« (Sloterdijk 2004, 55)

Allerdings geht es nicht mehr primär um den Innenraum, sondern um die Umgebung der Menschen: »Die Anhäufungen selbstbezüglicher exzentrischer Punkte mitsamt ihrer Umwelten in mittelpunktlosen Strukturen werden wir die Schäume nennen.« (Sloterdijk 1999, 138) Dieser »Schaum« ist Metapher und Entgegnung zugleich: »Noch immer liegt auf den modernen Theorien und den Theorien der Moderne der lange Schatten des Substanzdenkens, das dem Akzidentiellen [d. h. dem sich Verändernden, dem Zufälligen, dem Nebensächlichen; S. B.] so wenig Geschmack abgewinnt. [. . . ] Von Anfang an ist festzuhalten, dass [die Schaumdeutung oder] dieses ›Lesen‹ in den Schäumen keine blosse Hermeneutik bleiben [kann] und [. . . ] [n]ur als technologische Theorie human bewohnter, symbolisch klimatisierter Räume [. . . ] zur Sache [kommt]« (Sloterdijk 2004, 36 f.).

Der kurzlebige und eigentlich substanzlose Charakter des Schaums ist deshalb geeignet, weil er einen Gegenpunkt setzt und sich zugleich so gut in die moderne, komplexe Zeit einpasst: »was eigenständig, homogen, solide schien, verwandelt sich in aufgelockerte Strukturen.« (Sloterdijk 2004, 27) Hier soll mit neuen Mitteln untersucht werden, wie die plurale Gesellschaft funktioniert.34 Die Metapher will das Paradoxon der Individualgesellschaft erfassen und beschreiben (vgl. Sloterdijk 2004, 251 f.), »Individuen in einer atomistischen, [analytisch] völlig auseinandergenommenen Gesellschaft« verstehen (vgl. Tuinen 2006, 48). Die bisherige Betrachtung hätte gerade für das Naheliegen34 | So wurde denn auch bemerkt, wie erstaunlich es sei, »dass Sloterdijk just dieses Motiv als Explikationsmetapher der Gegenwart auserkoren hat [. . . ]. Betont werden muss an dieser Stelle sogleich: Die Denkbilder der Blasen und Schäume wählt Sloterdijk nicht obwohl, sondern weil sie Sinnbilder des Flüchtigen und der Zerbrechlichkeit sind.« (Konersmann 2004) Diese »Stabilität durch Liquidität« (Sloterdijk 2004, 254) verweist darauf, dass die »Stabilität der ewigen Makrosphäre« durch »die flüssige Vergänglichkeit und das ständige Werden des Schaums« ersetzt wird (Tuinen 2006, 60; vgl. Sloterdijk 2004, 27 ff., 48 ff.). Die Liquidität ist eine Beschreibung, die der heutigen Zeit angemessen scheint (siehe Kapitel 12.1).

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de einen blinden Fleck, d. h. für das menschliche Zusammen-Sein (vgl. Sloterdijk 2004, 13). Deshalb gilt für Sloterdijk nach wie vor: »Nach meiner Definition gibt es ohnehin keine Individuen, es gibt lediglich Dividuen, das heisst Teile von Paaren beziehungsweise von Haushalten« (in Gächter 2004; vgl. Sloterdijk/Heinrichs 2001, 144). Es ist Nietzsches »Dividuum«, das hier gewissermassen »gemeinsam« existiert: »Irgendwie ist irgendwer irgendwem irgendwann nahe.« (Sloterdijk 1998, 641) Auch wenn dies (noch) nicht einer traditionell gewünschten, soziologischen Prägnanz entspricht, zeichnet sich das darin enthaltene Potential ab. Wie die Verbindung dieser Paare jenseits der Kugel aussehen könnte, tritt deshalb ins Zentrum. Diese Gegenwartstheorie will zeigen, wie »Blasen [. . . ] mit anderen Blasen Schäume bilde[n].« (Konersmann 2004) Der Voraussetzung, dass das Leben »sich multifokal, multiperspektivisch und heterarchisch entfaltet«, wird geantwortet mit einer »nichtmetaphysischen und nicht-holistischen Definition des Lebens«. Dieses »Leben« wirkt »räumebildend« nicht nur, »weil jede Monade ihre je eigene Umwelt hat, sondern mehr noch, weil alle mit anderen Leben verschränkt und aus zahllosen Einheiten zusammengesetzt sind.« Der Mensch ist von Umwelten umgeben, er erzeugt Umwelt und ist für andere Umwelt. Das bedeutet: »Leben [. . . ] produziert und verzehrt sich in vernetzten Werkstätten. [. . . ] Es bringt den Raum, in dem es ist und der in ihm ist, jeweils erst hervor.« (Sloterdijk 2004, 23 f.) Und gerade das letzte zählt, nämlich dass ein neuer Raum gebildet wird. Der von Sloterdijk beschriebene Differenzierungsprozess endet bei dieser neuen Räumlichkeit, dem pluralen Schaum.35 Dabei hat dieses Projekt, so Sloterdijk, nicht nur technischen Charakter: »Den moralischen Intervallen zwischen Menschen gilt meine Sphärentheorie« (in Gächter 2004). Wobei es vielmehr Sphären statt Menschen heissen 35 | Parallel dazu wird auch eine Enträumlichung dieser Topographie der Beziehungen sichtbar, die durch Mobilität, Vernetzung und Telekommunikation hervorgerufen werde: »Die effektive Nachbarschaft ist seither nicht die räumliche, sondern die telephonische. Unter immunologischem Gesichtspunkt stellt das Telephon eine ambivalente Neueinführung dar, weil es einen Kanal für riskante Infektionen aus dem Äusseren in die Wohnzelle einleitet, umgekehrt aber den Radius des Einwohners im Sinne erweiterter Bündnisse und Handlungschancen explosiv ausdehnt. [. . . ] [Es] erlaubt [. . . ] die Aufhebung der Gleichortigkeit.« (Sloterdijk 2004, 596) Diese virtuelle Nachbarschaft – so in Ergänzung zu dieser Betrachtung – ist heute vor allem dem Mobiltelefon zuzuschreiben. Zugleich wird von Sloterdijk (2004, 594 f.) die Behauptung vertreten, die »Fernsteuerung« wie die Telekommunikation ermöglichen den »Realitätseinlass« in die einzelnen Sphären; sie machen das Immunsystem zu einem »welthaltige[n] Raum«. Welche Implikation im Zusammenhang mit Mobiltechnologie auftritt, wird an anderer Stelle zum Thema (siehe Kapitel 12.1). Medialität ist denn auch eine zentrale, aber weitgehend ungelöste Kategorie des Schaums: »In medientechnischer Perspektive ist die Schaumzellen›Gesellschaft‹ ein trübes Medium, das eine gewisse Leitfähigkeit für Informationen und eine gewisse Durchlässigkeit für Stoffe besitzt.« (Sloterdijk 2004, 61)

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sollte, denn dieser Begriff »soll [so Sloterdijk in einem Interview; S. B.] den Klang haben von einem räumlichen Immunsystem, das Menschen schaffen, um sich darin aufhalten zu können.« (in Scobel 2004) Obschon zwei andere Grundbegriffe (Immunsystem und Atmosphäre) mangelns Nutzen weitgehend ausgeblendet werden, scheint die folgende Aussage Sloterdijks erwähnenswert: »[A]lle Kulturen sind nichts anderes als von Zeichen klimatisierte Sinninseln innerhalb einer Natur, in der wir uns einbilden zu leben; in Wirklichkeit leben wir aber nur in dieser Atmosphäre, in der Atmosphäre der Kulturen, die wir selber um uns herum geschaffen haben.« (in Scobel 2004)

In dieser Gleichsetzung von Sinninsel und Kulturatmosphäre zeigt sich ein allfälliges soziologisches Potential dieser Metaphorologie.36 Die Blase als »Archetypus eines Immunsystems« (Tuinen 2006, 48), das uns schützen soll, verweist ebenfalls auf eine solche Anleihe. Durch diese Immunstrukturen, der »Immunisierungsstrategie« von Blasen – um einen Begriff Hans Alberts zu missbrauchen –, »stehen die Mittel bereit, die modernen Gesellschaften als Vielheiten von ImmunraumProduktionen zu beschreiben« (Sloterdijk 2004, 248). Mit den Schäumen, die schon titelgebend im Plural stehen, wird daher ein soziologisches Konzept vorgeschlagen (vgl. Wagner 2006a, 59). Eines allerdings, daher rührt der Missbrauch von Alberts Begriff, das nicht vor Kritik und Gegenkritik geschützt werden kann, gerade weil es sich im Rahmen einer durchaus ungewohnten, »mediale[n] Poetik der Existenz« bewegt (Sloterdijk 1998, 81). Die implizite Soziologie-Kritik, die sich durch das ganze dreibändige Werk zieht, wird im letzten Band explizit. Hier soll der Gesellschaftsbegriff vermieden, zuletzt sogar ersetzt werden.37 Sloterdijk bemerkte dazu: »Ich würde dem Begriff ›Gesellschaft‹ jenen des Haushalts vorziehen. Ein Haushalt ist eine monadische Grösse, die das Potenzial besitzt, eine Welterzeugung an einer einzelnen Stelle hervorzubringen.« (in Gächter 2004; vgl. Sloterdijk 1998, 355) Schlussendlich geht es ei36 | Dabei interessiert ein Hinweis auf Niklas Luhmann, weil dieser die »Eigengesetzlichkeit von Sinnproduktion und ihre Abkoppelung von sozialen Funktionen« anschaulich gemacht und auf die gefährdete Beziehung von Gesellschaftsstruktur und Semantik (d. h. ihrer eigenen sinnhaften Beschreibung) bezogen habe (Sloterdijk 2004, 257). 37 | Sloterdijk äusserte sich zu seiner Intention folgendermassen: »Ich versuche, eine Antwort zu geben auf die Frage nach den Rätseln der Gleichzeitigkeit von so verschiedenen Lebensphänomenen, die auf engem Raum zusammengeballt sind, ohne sehr viel miteinander zu tun haben zu können beziehungsweise zu wollen. Schaum ist eine Metapher, die hilft, diese grossen Akkumulationen von menschlichen Lebensformen zu beschreiben – unter Vermeidung des Begriffs ›Gesellschaft‹.« (in Gächter 2004) – Wobei eine Ersetzung bis zum Schluss nicht stattfindet; Sloterdijk verwendet »Gesellschaft« allerdings nur in Anführungszeichen, was einer Ablösung in gewissem Sinne nahe kommt.

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nem solchen Verständnis um den beseelten Raum, »der sich zwischen uns und den Anderen befindet«, als »Medium, in dem die Wirklichkeit sich für uns gestaltet, das selbst aber unsichtbar bleibt.« (Tuinen 2006, 53; vgl. Sloterdijk/Heinrichs 2001, 147 ff.) Die »Haushalte« der Schäume könnten »als ›Gesellschaft zu zweien‹ bezeichne[t]« werden, »wenn wir nicht [. . . ] zeigen wollten, dass der Ausdruck ›Gesellschaft‹ bei solchen Gegenständen immer in die Irre führt« (Sloterdijk 2004, 55 f.).38 Sloterdijk schlägt als Ersatz für den Gesellschaftsbegriff eine Schaum-Metapher vor. Schaum bilde »die Matrix der humanen Tatsachen insgesamt« (Sloterdijk 2004, 48) und damit auch der soziologischen Tatbestände: »An die Schaumtheorie knüpft sich die Aussicht auf eine neue Explikationsform für das, was die soziologische Tradition das gesellschaftliche Band oder die ›soziale Synthesis‹ nennt« (Sloterdijk 2004, 252). Das Ziel liegt in der Explikation der Frage, wie die Menschen zusammengefasst werden. Als klassische Ansätze der Sozialtheorie und der Erklärung des Zusammenseins werden die Vertragstheorie und die Soziologie der »Ganzheit« mit ihrer Organismus-Metapher angeführt (vgl. Sloterdijk 2004, 270 ff., 284 ff.). Ihre jeweiligen Unzulänglichkeiten würden von modernen Soziologien und Sozialphilosophien meist durch Kreuzung zu überwinden versucht, »als ob es möglich wäre, zwei Fehler dadurch gutzumachen, dass man sie miteinander kombiniert.« (Sloterdijk 2004, 287) Hauptsächliches Problem ist allerdings, dass beide Ansätze – Individualismus wie Holismus (vgl. Sloterdijk 2004, 291) – »über den Raum [. . . ], in dem die Synthesis geschieht«, hinwegsehen und die »Eigenräumigkeiten des Zusammenseins« vernachlässigen, die sich dabei öffnen (Sloterdijk 2004, 288, 292). Doch auch die modernen Ansätze seien davon betroffen: »Die bekannten Lösungsvorschläge, die durch Konzepte wie Arbeitsteilung (Smith, Durkheim), Kapitalzusammenhang (Marx), Imitation und Somnambulismus (Tarde), Wechselwirkung (Simmel), Opfer (Girard, Heinrich) oder Ausdifferenzierung und Kommunikation (Luhmann) unterbreitet werden, leiden an dem gemeinsamen Defizit, dass sie weder die räumlichen Qualitäten der sozialen Zellen noch den Immunsystemcharakter der primären Räume angemessen zur Sprache bringen.« (Sloterdijk 2004, 252)

Insgesamt liege das Problem darin, dass sowohl die beiden klassischen wie die modernen Ansätze »bereits eine [grosse; S. B.] Form des Zusammen-Seins voraussetzen.« (Tuinen 2006, 67) Der Einschub verweist darauf, dass Sloterdijk (2004, 650) – und damit Simmel ähnlich – den Umgang mit den diskreten Situationen vermisst. Die Bemerkung, 38 | Bemerkenswert daran ist, dass Sloterdijk (2004, 56) den Ausdruck »zu zweien« von Simmel entlehnt, welcher ein ähnliches Ziel verfolgte (vgl. Krech 1998, 30 ff.).

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»Makrosphären-Betrachtung [sei bislang] die autoritative Form der Ontologie« gewesen (Sloterdijk 2004, 17), wird hier auf die Soziologie übertragen.39 Die Antwort sei darin zu finden, »Einheit als Effekt zu denken – und damit jeden Begriff von ›Gesellschaft‹ zu entzaubern, der diese ihren Elementen vorangehen lässt.« (Sloterdijk 2004, 293) Dieser Ansatz will über die Frage, »wie ›Gesellschaft‹ als Zusammenhang von Gesellschaftern möglich sei« (Sloterdijk 2004, 252), hinausgehen und den räumlichen Charakter der Immunsysteme und Sphären herausstellen. Die Schaum-Metapher habe den Vorteil, dass sie die früher beschriebene »topologische Anordnung« sichtbar mache (vgl. Sloterdijk 2004, 255). Mit anderen Worten: »In Wahrheit sind ›Gesellschaften‹ nur als unruhige und asymmetrische Assoziationen aus Räume-Vielheiten und Prozess-Vielheiten verstehbar, deren Zellen weder wirklich vereint noch wirklich getrennt sein können.« (Sloterdijk 2004, 57) Der Umgang ist allerdings dadurch vorgeprägt: »Wenn wir im folgenden von ›Gesellschaft‹ sprechen, bezeichnet der Ausdruck weder [. . . ] einen monosphärischen Behälter, [. . . ] noch [. . . ] einen unräumlichen Kommunikationsprozess [. . . ]. Wir verstehen unter ›Gesellschaft‹ ein Aggregat aus Mikrosphären (Paare, Haushalte, Betriebe, Verbände) verschiedenen Formats, die wie die einzelnen Blasen in einem Schaumberg aneinander grenzen und sich über- und untereinander schichten, ohne füreinander wirklich erreichbar noch voneinander effektiv trennbar zu sein.« (Sloterdijk 2004, 59)

Um gegen den Holismus anzugehen, bedient er sich bei Georg Simmel, und er sieht dort eine ähnliche Entwicklung wie bei Gabriel Tarde (vgl. Sloterdijk 2004, 294 ff.). Während allerdings bei Simmel das Soziale noch im Individuum verwurzelt sei, gehe Tarde darüber hinaus, wenn er sage, »alles sei Gesellschaft« (vgl. Tarde 1895c, 258).40 Bei Tarde wie bei Sloterdijk nehmen Individuen an Gesellschaft oder Sphären teil, »weil sie das Resultat von vorpersönlichen Assoziationen nach eigenen Gesetzmässigkeiten sind«; beide beugen dadurch einer »Raumblindheit« vor (Tuinen 2006, 68). Schaum dient – wie schon die Interpsychologie bei Tarde – als »Denkbild für die Deutung sozialer Assoziationen« 39 | Der Gesellschaftsbegriff wird verworfen, weil er »eine umfassende Einheit suggeriert.« (Tuinen 2006, 59) Um dagegen vorzugehen, bedient sich Sloterdijk der Monadologie von Leibniz (gespiegelt über Gabriel Tardes Monadologie), deren Konzept an eine Soziologie der Schäume erinnert (vgl. Tuinen 2006, 157). In einem Interview bemerkte er dazu: »Den Begriff ›Gesellschaft‹ lehne ich ab, weil er allzu penetrant unterstellt, dass Menschen in allen Situationen und zu allen Zeiten in derselben Weise gemeinsame Immunsysteme ausbilden. [. . . ] Heute noch von ›Gesellschaft‹ zu sprechen, ist eine Form von begrifflicher Hochstapelei.« (in Gächter 2004) 40 | Für die erwähnte Originalstelle bei Tarde siehe Seite 255 der vorliegenden Arbeit. – Es ist dieser Art und Weise der Soziologie-Kritik geschuldet, dass zwei Dissidenten der soziologischen Klassik angerufen werden.

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(Sloterdijk 2004, 56; vgl. Wagner 2006a, 63 f.). Die genannten Mikrosphären zeichnen bereits vor, dass Schaumblasen wohl zwischen den herkömmlichen Begriffen der Soziologie anzusiedeln sind (vgl. Wagner 2006a, 66). Die anschliessende »Ortsbestimmung« macht deutlich, »dass die ›Gesellschaft‹ in kognitiver Hinsicht ein Feld von Orten mit ungleichen Explikationsspannungen bildet.« (Sloterdijk 2004, 497, vgl. 309– 500) Als Ursache dieser Spannungen darf der Komplexitätsgrad der »Schaumtheorie« vermutet werden, d. h. ihre eigene Explikation. Die Schaumtheorie lässt, würde sie für sich genommen, wenig Spielraum für eine soziologische Verwendung zum Zwecke der Explikation (vgl. Sloterdijk 2004, 498 f.).41 Expliziert werden die Schäume vornehmlich anhand der »Raum-Erzeugung« moderner Architektur wie ihrer »Neubeschreibung des Raums«, d. h. mit einer »realen« Topologie (vgl. Sloterdijk 2004, 501–670, v. a. 504 f., 535 f., 659). Dadurch, so meine Behauptung, werden gerade die fruchtbaren Aspekte der ursprünglich »surreale[n] Räume« (Sloterdijk 2004, 13, vgl. 655), der metaphorischen Immunsysteme dieses Theoriedesigns unterlaufen. Dies kann nicht dadurch kompensiert werden, dass Sloterdijk (2004, 550 ff.) auf den »Container« als mobile und damit zeitgemässe Behausung verweist; das architektonische »Objekt«, die materiale Insel herrscht auch dort vor. Um Sloterdijk gegen Sloterdijk zu lesen: »Im sozialen Schaum wird der Insel-Effekt [. . . ] durch die Dichte der Zellen-Stapelung hintertrieben.« (Sloterdijk 2004, 577) Auch die nochmalige Zielerklärung kann darüber nicht hinwegtäuschen: »Es ist ihr [der pluralistischen Sphärologie] darum zu tun, mit neuen Beschreibungsmitteln an die Rekonstruktion von konsubjektiven oder surrealen Animationsräumen heranzugehen [. . . ] [und] die klimatologische Deutung eines mehrwertigen Realen auf den Weg [zu] bringen, deren Augenmerk auf die Animierung von lebensweltlichen Zellen [. . . ] gerichtet ist.« (Sloterdijk 2004, 722; Hervorhebung S. B.)

Dabei ist nicht bloss ein innerer Widerspruch spürbar; diese gestelzten empirischen Interessen werden auch nicht weiter ausgeführt (vgl. Sloterdijk 2004, 861, 866, 877 f.). Trotz der Konstruktionsmängel bleibt das Explikationspotential einer Sphärologie merklich unberührt. Es zeigt sich in dieser Sphärologie ein theoretischer Ansatz, der in besonderer Weise auf die Entwicklung der modernen Gesellschaft auf41 | Explikation wird mit Rückgriff auf Bruno Latour als »neues« Verstehen gefasst und verwendet (vgl. Sloterdijk 2004, 208 ff., 217 ff.). Obschon das vorliegende Kapitel ursprünglich mit »Schäume« überschrieben war, wurde davon schliesslich Abstand genommen. Es ist, wie später sichtbar wird, nicht ratsam, die Schaum-Metapher für soziologische Zwecke aus der Gesamtkonzeption der Sphäre herauszulösen.

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10.3

Peter Sloterdijk: Sphären

merksam macht, einer »Gesellschaft«, welche »auf einem Doppeltakt beruht – der Auseinanderlegung der sozialen Konglomerate in individuierte komplexe Einheiten und deren Rekombination in kooperativen Ensembles« (Sloterdijk 2004, 607). Der hauptsächliche Nutzen findet sich in dem, was die Sphärologie als »Ko-Isolation« bezeichnet. Diese verweist auf die »ko-isolierte Existenz« einzelner Blasen, die sich über Kommunikation (Medien, Marktbeziehung etc.) »integrieren und strukturell zu Schaum verdichten.« (Hartmann 2004; vgl. Sloterdijk 2004, 59 ff.) Eine solche Verdichtung lässt sich in einem grösseren Zusammenhang verorten. In Sloterdijks Explikation der Schaum-Metapher kommt vor allem die Netz-Metapher in die Kritik. Ihr fehle die räumliche Dimension; statt der »Eigenräumigkeit« der Elemente vertrete sie die »Vorstellung von unausgedehnten Punkten, die als Schnittstellen von Linien verbunden wären« (Sloterdijk 2004, 257). Die Schaum-Metapher hätte diese Dimension fest eingeschrieben und solle deshalb die vorige ersetzen. Durch diese Metapher lassen sich sowohl intrapersonale Vorgänge als auch Gesellschaft beschreiben. Im Gegensatz zur Netz-Metapher kann jene des Schaums nur die Beziehungen nebeneinanderliegender, nicht jedoch verwandter aber voneinander entfernt liegender Blasen (Subkulturen) darstellen. Gerade darin liegt aber der von Sloterdijk bemerkte Vorteil: »Das heisst also, mit dem Bild des Schaums können wir die zwei Grundmerkmale menschlicher Existenz denken, das heisst nämlich Nachbarschaft im Sinne von Zusammensein und Isolierung zugleich. Und dieses Verhältnis [. . . ] ist das Grundverhältnis, das im Schaum zur Erscheinung kommt.« (in Scobel 2004)

Die Isolation der »Blasen-Haushalte in ihren multiplen Nachbarschaften [kann] ebensogut als Abschliessung wie als Weltoffenheit beschrieben werden«, denn vom Schaum als »paradoxe[m] Interieur« aus sind die umgebenden Blasen »zugleich benachbart und unerreichbar, verbunden und entrückt« (Sloterdijk 2004, 56 f.). Hier ist wiederum ein Anschlusspunkt zu Tardes Nachahmung gegeben, denn die Ähnlichkeit der Blasen, die zuerst auf Kommunikation zurückgeführt werde, sei eigentlich das Resultat »gemeinsame[r] Nachahmungswellen« oder »soziale[n] Schlafwandeln[s]« (Sloterdijk 2004, 60, 189), die zugleich ihre Ambivalenz tragen. »Im Schaum gilt das Prinzip der Ko-Isolation, nach dem ein und dieselbe Trennwand jeweils zwei oder mehr Sphären als Grenze dient. [. . . ] Auch im menschlichen Feld sind die einzelnen Zellen durch reziproke Isolation, Trennungen und Immunisierungen miteinander verklebt.« (Sloterdijk 2004, 56)

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Umgang II: Vom Individuum zur Gesellschaft

Es sei die aus Tardes Überlegungen abgeleitete »Ko-Isolation«, welche die »Irreführung durch die überspannte [und überbewertete] NetzMetapher korrigier[t]« (Sloterdijk 2004, 257). Schäume seien in der Lage, Subkulturen als Akkumulation zu beschreiben, insbesondere im Sinne einer »lockeren Anhäufung von Elementen« anstelle rigider Netzwerkverbindungen (Tarde 2003, 198; vgl. Sloterdijk 2004, 817). Kommunikation wird in gewisser Weise ebenfalls durch Nachahmung ersetzt. Es ist die Beeinflussung mit »ähnlichen Mustern, Erregungen, infektiösen Waren und Symbolen«, welche die Blasen herausbildet (Sloterdijk 2004, 61). Schaum ist ein in jedem Sinne geteiltes Medium, dessen Blasen »auf ihre Weise das gleiche tun« (Sloterdijk 2004, 60, vgl. 607). Diese Nachahmung verstehen Tarde wie Sloterdijk als »Gestaltung auf Abstand« (Tuinen 2006, 73), als »Fernzeugung – une génération à distance.« (Sloterdijk 2004, 259) Die Ko-Isolation ist schon bei Tarde angelegt (vgl. Sloterdijk 2004, 569), denn schon dort wurde sichtbar, dass die soziale Verbindung nicht organisch oder panoramisch, sondern vielmehr zerebral und mikrophysisch aufgebaut ist. Dasselbe ist bei Sloterdijk der Fall. Auch dieser wehrt sich gegen »die Vorstellung, wonach das soziale Feld eine organische Ganzheit bilde« (Sloterdijk 2004, 57). Erneut zeigt sich die Nähe dieser topologischen Anthropologie/Philosophie zu den Sozialwissenschaften. Gleichwohl sich Sloterdijk in seiner Trilogie nicht auf Ferdinand Tönnies bezieht, kann doch eine Verbindung zu dessen Gemeinschaft und Gesellschaft hergestellt werden (vgl. Wagner 2006a, 61). Der Einwand, das Prinzip der Ko-Isolation liege »quer zu den in der Soziologie eingeübten Grundbegriffen wie etwa Gemeinschaft und Gesellschaft« (Wagner 2006a, 59), greift jedoch zu weit. Die Aussage: »nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt[,] [. . . ] verbunden [. . . ] trotz [. . . ] Trennungen, [. . . ] getrennt [. . . ] trotz [. . . ] Verbundenheit« (Tönnies 1979, 34; für das vollständige Zitat siehe Seite 269), welche die Differenz von Gesellschaft und Gemeinschaft erläutert, ist direkt anschlussfähig für folgende Aussagen: »zugleich benachbart und unerreichbar, verbunden und entrückt«, »weder wirklich vereint noch wirklich getrennt« (Sloterdijk 2004, 57), welche die Beziehung von Schaumblase zu Schaumblase erläutern. Damit wird zwar korrekt festgestellt, dass sich Sloterdijks Schäume zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft befinden (vgl. Wagner 2006a, 60), nicht aber, dass sie sich diesen entgegen stellen. Wahrscheinlich ist es noch immer zu früh, diesen Schäumen eine allzu grosse Wirkkraft zuzuschreiben; ihre Komplexität und Ambivalenz – das Sowohl-als-auch anstelle des Entwederoder – verlangen nach der notwendigen Vorsicht. Festhalten lässt sich jedoch: der Schaum ist »ein Ort, den Tönnies’ Begriffe nicht erreichen« (Wagner 2006a, 60), und der damit eine Explikation erlaubt, die in der

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10.3

Peter Sloterdijk: Sphären

soziologischen Tradition nicht möglich war – und nicht ist (auch: nicht vorgesehen ist), wenn wir Sloterdijks oben stehender Soziologie-Kritik folgen wollen. Die Ko-Isolation ist vielmehr die logische Fortsetzung der Soziologie mit anderen Mitteln. Sloterdijk hat auf jeden Fall »eine Theorie vorgelegt, die über den gängigen soziologischen Diskurs weit hinausgeht.« (Wagner 2006a, 70) Die Sphärologie hat diverse Interpretationen auf den Plan gerufen, darunter auch solche aus der Soziologie. Dort ist beispielsweise zu lesen: »Der Schaum ist die Gesellschaft, bestehend aus Individuen, die durch die einzelnen Schaumzellen repräsentiert werden.« (Kron 2006, 112) Wobei hier nicht verstanden wurde, dass es das Individuum als Zentrum bei Sloterdijk nicht gibt bzw. dieses durch das Dividuum oder das Paar ersetzt wurde.42 Von seinem »menschlichen Raum« als Sphäre heisst es, dass »Menschen, als individuelle Dividuen, per se nicht die Zentren sein können.« (Sloterdijk/Heinrichs 2001, 151) Sloterdijk macht auch in seinem Schäume-Band unmissverständlich klar: »Die Blasen im Schaum, das heisst die Paare und Haushalte [. . . ] sind selbstbezüglich verfasste Mikrokontinente.« (Sloterdijk 2004, 59; Hervorhebung S. B.) Und: »Wir betonen, dass die Zelle im Schaum nicht im abstrakten Individuum besteht, sondern in einer dyadischen oder multipolaren Struktur.« (Sloterdijk 2004, 61) Im besprochenen Fall gibt es zwei Gründe für dieses Missverständnis: spezifisch sollte Sloterdijk für die Individualisierungsthese fruchtbar gemacht werden und allgemein wurde dazu die Metapher des Schaums als »Schaumgeborgenheit« (Sloterdijk 2004, 27) aus der Sphärologie herausgelöst. Gerade im zweiten Grund erkenne ich eine grosse Gefahr, weil durch eine solche Verkürzung das Explikationspotential von Sloterdijks Ansatz unterlaufen wird. Dieses Verstehensproblem scheint allerdings verbreitet zu sein, beispielsweise in der Aussage, die neuen Medien »hüllen [. . . ] jeden Einzelnen in eine Einzelkommunikationszelle, eine Schaumblase ein.« (Tuinen 2006, 72) Auch hier wird fälschlicherweise von einem Individuum als Besitzer und Besetzer der Blase ausgegangen.43 Gerade 42 | Analog dazu: »Jede Zelle im Schaum, jedes Individuum kann als MikroInsulation verstanden werden« (Kron 2006, 117; Hervorhebung S. B.); eine Aussage, die ebenso wenig zutrifft, wie die folgende: »Schaum wird demnach als Metapher für Gesellschaft nicht als Ganzheit verstanden, sondern als Gefüge, in denen die Zellen (Individuen) weder vollkommen vergemeinschaftet noch völlig isoliert sind« (Kron 2006, 113; Hervorhebung S. B.). 43 | An dieser Stelle begegnen wir einem Problem, für das momentan keine Lösung absehbar ist. In der Kritik wurde vermerkt, es seien Widersprüche zwischen dem ersten und dritten Band vernehmbar, weil sich die anfängliche Dualität/ Solidarität in (eine Soziologie von) Egoismus/Vermögen mit notwendigerweise berechnenden Individuen verdrehe (vgl. Suárez Müller 2006). Die vorliegende Betrachtung geht jedoch nicht tief genug, um diese Aussage zu stützen oder zu

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dieses Missverständnis zeigt, weshalb es vielversprechend scheint, die Schaum-Metapher als »Konzept von Gesellschaft« einzusetzen (siehe Seite 52). Dies ist nicht nur deshalb der Fall, weil diese philosophische Theorie an die soziologische Tradition (wenn auch an eine marginalisierte) anschliesst, sondern weil nicht mehr (und in gewissem Sinne dennoch) vom Individuum ausgegangen wird und die Struktur (beinahe) aufgelöst ist. Das dabei auftretende »Dazwischen«, bestehend aus Schaumwänden und Ko-Isolation, »gehört« letztlich beiden Seiten oder Räumen an: »man besitzt mindestens eine Trennwand mit einer angrenzenden Welt-Zelle gemeinsam.« (Sloterdijk 2004, 607) Die Räumlichkeit der Schaumblasen zeigt, dass es Sloterdijk um eine Topologie und nicht eigentlich um eine Anthropologie geht. Trotzdem ergibt sich gerade über das Räumliche ein starker Bezug zu den menschlichen Verhältnissen, ein Bezug, der auch in meinem eigenen Ansatz nutzbar gemacht wird (siehe Kapitel 13). Unabhängig davon, ob dies beabsichtigt war, hat Sloterdijk die Grundlage für eine soziologische Theorie der sozialen Sphäre gelegt. Bleibt vorläufig die Frage, ob sich aus diesen Schaumblasen eine tragende Ontologie konstruieren liesse, die zu einer Bewältigungsstrategie der Soziologie beitragen kann. Die Frage kann wohl nur dann bejaht werden, wenn wir bereit sind, eine nachmetaphysische Ontologie der Zwei-und-Mehr-Zahl anzuerkennen, die metaphorisch dermassen überdehnt ist, dass sie eingefangen werden muss.

widerlegen. Als Bewältigungsstrategie blende ich das umfangreiche Schlusskapitel des dritten Bandes aus, »das [so wurde kritisch geäussert; S. B.] ›ideologisch‹ zu nennen allzu freundlich wäre« (Lütkehaus 2004; vgl. Sloterdijk 2004, 671–859, v. a. 803 ff., 878 f.); zudem bleibt seine Bedeutung für das Gesamtwerk unsichtbar. Meine Betrachtung vereinfacht, indem sie durch das geschilderte Missverständnis von einer Stringenz ausgeht und davon, dass im anderen Fall die Sphärologie als Theorie selbst nicht betroffen wäre.

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Emergentes Handeln

11 Strukturelle Handlungstheorie »A decline of social categories of action, and the endangering of society itself by a noncorrespondence of actors and institutions, are the main characteristics of the post-social era we are currently facing.« Louis Maheu (2006, 7)

Die folgenden Überlegungen gehen von dem Verständnis aus, dass es weder die Gesellschaft an sich noch das Individuum an sich gibt, sondern dass sie beide nur gemeinsam und nur vermittelt – deshalb nur für sich oder philosophischer gesagt für uns – existieren. Diese Aussage darf als kleinster gemeinsamer Nenner der bisherigen Ausführungen genommen werden. Verstehen wir demzufolge die Soziologie als eine »Erfahrungswissenschaft, die nach den umfassendsten Verallgemeinerungen hinsichtlich der Struktur und dem Funktionieren der menschlichen Gesellschaft forscht« (Francis 1965, 13), dann braucht es immer ein spezifisches »Medium«, welches das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft regelt. Fassen wir demzufolge die Gesellschaft als den einen Pol und als Struktur auf und das Individuum als den anderen Pol und als Handeln auf, dann liegt die mögliche Antwort einzig in einer strukturellen Handlungstheorie. Ein früher struktureller Handlungsbegriff wurde von Ronald S. Burt (1982) ausgearbeitet.1 Auf der Grundlage einer mathematischen Soziologie und der Struktursoziologie entwickelt, lautet die Prämisse dieser strukturellen Handlungstheorie (structural theory of action) folgendermassen: »Actors are purposive under social structural constraint.« (Burt 1982, ix) Um darzulegen, wie Akteure unter sozialstrukturellen Bedingungen zweckbestimmt handeln, wird ein Modell von Status/ Rollen-Sets entwickelt (vgl. Burt 1982, 40 f.). Diese Sets als »patterns of relationships defin[e] positions in the stratification space – the social topology – of a system of actors.« (Burt 1982, ix) Dabei interessieren diesen netzwerktheoretischen Ansatz letztlich die Positionen und Rollen, die Akteure in Netzwerken einnehmen.2 Ausgangspunkt ist das 1 | Das Buch geht zurück auf Burts Dissertation, die bereits 1977 eingereicht wurde (vgl. Burt 1982, xii). Harrison C. White, der zu den Begründern der soziologischen Netzwerkanalyse zählt, hatte zuvor schon einen prägenden Artikel publiziert (vgl. Brint 1992, 195 f.; White et al. 1976). 2 | Eine generische Definition fasst Netzwerke als »a set of ties linking social system members (sometimes called ›nodes‹ to avoid identification with individuals)

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zweckorientierte menschliche Handeln, weil dieses per Definition als »rational« angenommen wird.3 Die oben genannte Prämisse führt schliesslich zu folgendem kausalen Zirkel: »Actors find themselves in a social structure. That social structure defines their social similarities, which in turn pattern their perceptions of the advantages to be had by taking each of several alternative actions. At the same time, social structure differentially constrains actors in their ability to take actions. Actions eventually taken are therefore a joint function of actors pursuing their interests to the limit of their ability where both interests and ability are patterned by social structure. Finally, actions taken under social structural constraint can modify social structure itself and these modifications have the potential to create new constraints to be faced by actors within the structure.« (Burt 1982, 9)

Während sich einerseits die starke Betonung der Struktur findet, wird andererseits auf die gegenseitige Beeinflussung hingewiesen. Darin scheint sich der Vorteil einer Netzwerktheorie sozialer Struktur, (sozialer) Wahrnehmung und (sozialer) Handlung zu verbergen. Die von mir hinzugefügten »sozial« verweisen dabei auf die dennoch einseitige Betonung. Burt (1982, 5 ff.) unterscheidet in der Folge die atomistische von der normativen Perspektive: während die erste Akteure als Atome betrachtet, verlegt sich die zweite auf die prägende Funktion sozialer Normen. Es handelt sich um eine Entgegensetzung, die deshalb an jene von Individualismus und Holismus erinnert, weil sie mit dieser weitgehend deckungsgleich ist (vgl. Burt 1982, 332). Im Zwiespalt der zwei Perspektiven entscheidet er sich dafür, »to develop a perspective that circumvents the schism between atomistic and normative action.« (Burt 1982, 8) Anstelle einer Synthese soll eine dritte, »strukturelle« Perspektive vorgestellt werden, welche die zwei vorherrschenden Perspektiven überbrückt. Dieser Ansatz schärft sich an der Schnittstelle von Handlungsautonomie und Handlungszwang auf der Mikroebene: der Akteur prüft den Nutzen alternativer Handlungen »partly in regard to his personal conditions and partly in regard to the conditions of others«, und dies erfolgt jeweils hinsichtlich seiner Position across social categories and bounded groups. The definition of the network as a set of interconnected nodes leaves open the morphology of the network, the nature of its ties, and its boundaries.« (Vandenberghe 2007a, 300) 3 | »If I do not have a purpose for something I have done, I am likely to construct one when asked to explain the action.« (Burt 1982, 1) Diese Argumentation ist allerdings gefährlich, weil sie nachträglich jede Handlung rationalisiert und somit die Selbstbeschreibung wie ihre Beschreibung beeinflusst. Eine generelle Aussage, die sich nicht auf Rationalität bezieht, jedoch eine solche einfordert, schliesst hier an: »One of the great appeals of structural sociology is its promise that by focusing on actual social relations, one can bypass the messy and often misleading domain of what people say about themselves and others.« (Brint 1992, 204) Mit einer »sauberen« Aussage ist nicht zwangsläufig eine zutreffende Explikation verbunden.

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(status) in einem sozialen Netzwerk (Burt 1982, 8, vgl. 265 ff., 273 ff.). Ein Netzwerkmodell wird wegen der von ihm geleisteten »connection between micro- and macrolevel social theory« und zugleich wegen seiner empirisch-algebraischen Leistungsfähigkeit gewählt (Burt 1982, 19). Diese Wahl erklärt sich inhaltlich aus dem Interesse an der Beziehung zwischen Akteursgruppen und sozialem Kontext,4 wie aus dem besonderen Interesse an Mittlerfiguren zwischen Akteursgruppen, welche die Verbindung aus Struktur und Handeln herstellen (vgl. Burt 1982, 20; Lin 2001). Die Beziehung zweier Akteure in einem Netzwerk hat eine Form und einen Inhalt, wobei die Form das Mass für die Intensität oder Festigkeit (strength) dieser Beziehung darstellt und der Inhalt die Art der Beziehung angibt (vgl. Burt 1982, 22).5 Diese Angaben werden schliesslich in Modellen empirisch »gerechnet« und überprüft (vgl. Burt 1982, 30 ff.). Bemerkenswert sind dabei die »betweenness«, im Sinne von »[a]n actor’s position is central to the extent that he is ›between‹ any two actors who wish to contact one another«, und die »Macht« eines Akteurs »to the extent that he controls events of interest to each actor« (Burt 1982, 34 ff.). Diese beiden Aspekte verweisen direkt auf die »network position« oder mit anderen Worten auf die »Bedeutung« einzelner Akteure im Netzwerk, die in dieser Konzeption massgeblich auf die Arbeitsteilung zurückgeführt wird (vgl. Burt 1982, 42). Dabei verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf die »soziale Topologie eines Systems«, die sich über Distanzen definiert: »system social structure is contained in [. . . ] space [. . . ], and since the topological concepts [. . . ] are integral to network models of the status/role-sets defined by this space«, wird dieser »space« als »social topology« konzeptualisiert (Burt 1982, 63). Kurz: Diese soziale Topologie repräsentiert gleichsam die soziale Struktur. Die Unterscheidung in »ego-networks«, als die engen, von einem Akteur ausgehenden Beziehungen, und »topology«, als weitere Kreise in der »overall social structure«, unterscheidet zugleich den relationalen vom positionalen Ansatz (vgl. Burt 1982, 89 f.). Modellen, die auf einer sozialen Topologie basieren, wird der Vorzug gegeben, da sie dazu dienen, »to algebraically capture the manner in which actions are contingent on the social structural context in which actors find themselves.« (Burt 1982, 91; Hervorhebung S. B.) Die strukturellen Interessen dieser Akteure setzen sich zusammen aus der subjektiven Einschätzung und dem sozialen Kontext; somit spielen nicht nur die 4 | Mit anderen Worten: »[I]t is the relations between the social positions that condition and make possible the emergence of collectives« (Vandenberghe 2007a, 312). 5 | Damit erstaunt auch der frühere Hinweis nicht, Georg Simmel sei als ein Vorläufer der Netzwerktheorie anzusehen (vgl. White et al. 1976, 730).

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persönlichen Vorstellungen, sondern auch die sozialen Normen eine bedeutende Rolle für jegliche Nutzenerwägung. Dabei werden allerdings die Erwartungserwartungen nur auf die Position (nicht auf die Beziehung) bezogen und eine Nutzenmaximierung immer schon vorausgesetzt (vgl. Burt 1982, 173 ff., v. a. 189).6 Diese Nutzeneinschätzung soll deutlich von anderen Ansätzen abgehoben werden: »The concept of structural interests proposed here, however, involves a far more symbolic process in which an individual takes on the positions of others as alter-egos. The entire process is conducted internally. That is not to say that communication has no effect on interest formation; rather communication is not necessary to the definition of interest formation given here.« (Burt 1982, 213 f.)

Wobei allerdings fraglich bleibt, wie die sozialen Normen dann übertragen werden sollen. Klarheit darüber bringt auch die »internal adequacy of the status/role-set, structural interest, and structural autonomy models« nicht, welche als Ausgangspunkt, als »a plausible start toward a structural theory of action« genommen wird. Ferner wurde, so vermerkt Burt (1982, 331) gegen Ende seines Buches, auf die »external adequacy« bislang keinen Bezug genommen. Die abschliessende Diskussion der Arbeitsteilung ist jedoch nicht in der Lage, die notwendigen Bezüge zu schaffen und an die eigentliche Zielsetzung anzuschliessen: Strukturelle Handlung verweise auf jene Verhaltensweisen, die eingesetzt würden, um strukturelle Interessen zu verfolgen (vgl. Burt 1982, 332). Abschliessend heisst dies: »Structural action is a logical implication of atomistic action, and it describes a logical subset of behaviors legitimate under normative action.« (Burt 1982, 355, vgl. 351 ff.) Die skizzierte Theorie mag zwar darauf hinweisen, dass die atomistische und normative Perspektive (d. h. Individualismus und Holismus) überbrückt werden können, doch wird dabei ein zentraler Punkt in der Bearbeitung vernachlässigt: der soziale Kontext. Weder die Tatsache, dass die alleinverantwortliche Arbeitsteilung als »emergentes Phänomen«, als »emergent from the simultaneous behaviors of many actors each pursuing his own interests«, beschrieben wird, noch der Hinweis, »structural action bridges the diverse levels of abstraction because of its basis in the continuous distance social topology of a system« (Burt 1982, 346 f.), können darüber hinwegtäuschen, dass sowohl Emergenz wie auch Topologie unzureichend vorbereitet sind. Das Hauptproblem darf darin gesehen werden, dass »interests [. . . ] [angenommen werden als] patterned by actor position in social struc6 | Über die erste Vereinfachung kann auch die folgende Aussage nicht hinwegtäuschen: »actors make evaluations in a social context by using other actors in the context as reference criteria.« (Burt 1982, 191) Wie weiterhin sichtbar wird, dürfte dies dem fehlenden Konzept eines sozialen Kontexts geschuldet sein.

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ture« (Burt 1982, 350), d. h. es darf auf die allgemeine Bevorzugung von Position über Beziehung zurückgeführt werden. Die massgebliche Beziehung, jene zwischen Akteuren und dem sozialen Kontext – oder anders gesagt: »a theory that ties interests and actions to the reproduction of social context« (Leifer 1985, 860) –, wird somit hintergangen.7 Werden dann noch Interessen und Intentionen, letztere als Max Webers »Sinn« verstanden, gleichgesetzt (vgl. Agodi 1991), dann zeigt sich zudem ein stark verkürzter Handlungsbegriff. Obschon sich in diesem »strukturellen Handeln«, der »Brücke« zwischen den beiden vorherrschenden Perspektiven, kein Gleichgewicht von »strukturell« und »Handeln« einstellt, erstaunt die Gewichtung. Es liegt nicht so sehr in der Quantität, sonst dürfte die Vernachlässigung von sozialem Kontext nicht bemängelt werden, sondern in der Qualität des Umgangs. Auch der zweite Ansatz zu einer Theorie strukturellen Handelns geht aus der Netzwerktheorie hervor. Harrison C. White (1992a) verfolgt zudem das ehrgeizige Ziel, die Grundlagen für eine generelle Theorie der Sozialstruktur und Handlung vorzulegen.8 Dazu beschneidet er sowohl die Rational-Choice-Theorie, welche dem »myth of the person« und dieser Person als einer schon vorher vorhandenen Entität aufliege, als auch die strukturalistische Theorie, welche vom »myth of society« und der Gesellschaft als vorhergehender Entität ausgehe. Weder der rationalistische noch der strukturalistische Ansatz können demzufolge über soziales Handeln Auskunft geben (vgl. White 1992a, 8 f.). Mit der Umgehung dieser Ansätze soll zugleich der Dualismus von Individuum und Gesellschaft überwunden werden (vgl. White 1992a, 3 f.). Daran und an sozialen Phänomenen als solchen interessiert, entsteht eine alternative, eher phänomenologisch geprägte Netzwerktheorie. Auch White geht von Statussystemen (disciplines) aus, welche über Handlungsabläufe und Verbindungen an die grössere Welt – »some larger field of context« – gebunden sind, sieht in diesen aber die Grundelemente sozialer Organisation, »self-reproducing formations which sustain identities.« (White 1992a, 22; vgl. Stinchcombe 1993, 334) Er 7 | Weiterhin führt dies zu folgender Forderung: »Closing the system, by tying interests and actions to the determination of social context, is needed to demonstrate the consistency of its major components.« (Leifer 1985, 860) 8 | Abgesehen davon, dass heutzutage kritisch hinterfragt wird, ob eine soziologische Generaltheorie denkbar sei (siehe Fussnote 34), wird das Buch durch diese Vorgabe äusserst schwer verständlich. Dies liegt u. a. daran, dass White – darin mit Niklas Luhmann vergleichbar – bestehende Begriffe neu belegt (vgl. White 1992a, 15 ff.). Ohne Luhmann zu erwähnen, was mit Blick auf die Entstehungsgeschichte des Buches wenig erstaunt, finden sich Aussagen wie die folgende: »Social action and spaces are thus spun off from biophysical origins.« (White 1992a, 22, vgl. 14) Ich beschränke mich auf eine reduzierte Lektüre, die hauptsächlich auf den Raumbegriff abstellt.

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nähert sich diesen Beziehungsstrukturen (configurations) über die Begriffe »Identität« und »Kontrolle« (vgl. White 1992a, 5). Identität bilden allerdings nicht Personen oder Individuen aus, sondern die Statussysteme: »identity is any source of action not explicable from biophysical regularities, and to which observers can attribute meaning.« (White 1992a, 6) Das Feld möglicher Identitäten erstreckt sich vom Arbeitgeber über die Gemeinschaft bis hin zur Masse (crowd), kann sich aber auch auf »sich selbst« (oneself ) beziehen. Ursache oder Produzent der Identitäten sind Möglichkeiten (contingencies) und Auseinandersetzungen (contentions). Diese Unsicherheit zieht den Bedarf an Kontrolle nach sich: »Control is both anticipation of and response to eruptions in environing process.« (White 1992a, 9) Soziale Prozesse und Strukturen sind Spuren der (für diese Darstellung stark vereinfachten) Abfolge von Kontrollanstrengungen, Identitätsunterhalt, Kontrollanstrengungen usw.9 Als Beispiel nennt White (1992a, 7 f.) einen Kinderspielplatz. Identitäten werden fortlaufend umstrukturiert, indem Akteure ihre eigenen und fremde Handlungen zu erklären und zu kontrollieren versuchen.10 Aus dieser Anstrengung heraus, dem Versuch Identitäten herzustellen und zu verteidigen, sich als Akteure in komplexen Strukturen zu »ver-wirklichen«, entstehe soziale Organisation.11 Dieser Ansatz will zeigen, wie wir Identitäten begreifen können, die gleichzeitig in sozialer Organisation und Struktur, welche nicht dasselbe sind (vgl. White 1992a, 16), »abgewickelt« werden (um einen technischen Begriff zu verwenden) und sich aus diesen heraus entwickeln. Es ist ein komplexer und mehrschichtiger Identitätsbegriff (vgl. White 1992a, 314 ff.), der als Ursache und Wirkung sozialer Strukturen gesehen wird. Analog zu Burt kennt auch White für diesen Prozess eine Funktion der »Wertschätzung« (valuation); sie wird allerdings nicht individuellen Akteuren zugeschrieben, sondern grösseren Systemen. Deshalb wurde auch schon eingewendet, »[i]n White’s work on networks, the ›essential phenomenon‹ is the absence of connections between indi9 | Für zwei zeitgenössische, in je unterschiedlichem Sinne ähnliche Konzeptionen dieses Zusammenhangs vgl. De Federico de la Rua (2007, 691) und Pizarro (2007, 769). 10 | An anderer Stelle wird dies folgendermassen beschrieben: »Actual human beings take shape as ensembles of identities [. . . ]. These operative identities, the sources of action, I claim, emerge from quests for control which, in each others’ presences, turn variance into the very basis of niche in interaction [. . . ]; this, in turn, sustains identity [. . . ]. The stuff of social structure is dispersions rather than the averages called for by cultural glosses« (White 1992b, 210). 11 | »When contending counteractions result in a dynamic equilibrium, we perceive social structure.« (White 1992a, 6; Hervorhebung S. B.) Dieses dynamische Gleichgewicht als Wahrnehmungsbedingung sozialer Strukturen liesse sich wohl auf die Entstehensbedingung sozialer Systeme übertragen.

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viduals.« (Brint 1992, 195) Auf eine kurze Form gebracht, lautet die Einsicht dieses netzwerktheoretischen Ansatzes: »I have come to see social organization as arising from identity formation out of control efforts. I have come to see getting action as in tension with social organization. [. . . ] I aim [. . . ] for an epistemology of middling level, in between individualism and cultural wholism.« (White 1992a, xi f.)

Dabei beruft sich White unter anderen auf Robert K. Merton und Georg Simmel. Er erwähnt Ronald Burt, der ebenfalls »the challenge as regrounding social science« sah, stellt diesem allerdings einen Ansatz gegenüber, welcher sich von der Mathematik entfernt und einer Phänomenologie zuwendet (vgl. White 1992a, xii ff.). Hinzu kommt deshalb die Feststellung, die »personality psychology« zeige sich »grotesquely naive about the constituents of ›everyday life‹«, und daraus ergebe sich die Forderung nach einem neuen Ansatz, einem »approach in which persons become products through social organization.« (White 1992a, 206; Hervorhebung S. B.) Seine Konzepte der Identität und der Kontrolle gründen in der Annahme »that social action is induced before actors, who derive from the action and need not be persons.« (White 1992a, 3) Das Konzept der Person wird an den Rand gedrängt und – darin phänomenologisch – als soziale Konstruktion verstanden (vgl. White 1992a, 8, 93). Die Wertschätzung bestimmt neben der Position – darin liegt eine bedeutende Neuerung – auch die Grenze einzelner Identitäten und Statussysteme (vgl. White 1992a, 28 ff., 126 ff.). Somit tritt auch in diesem Ansatz ein räumlicher Bezug hervor: »Dispersions are the sources of identities and control, which are the sources of social organization. [. . . ] Particularly important is how events are spaced.« (White 1992a, 5) Die Verteilung – in der Biologie wäre sie mit Individuen konnotiert – ermöglicht erst die (reale) Verräumlichung. »Raum« sei ein Begriff, der in den Sozialwissenschaften als unproblematisch betrachtet und lasch gehandhabt werde, wovon insbesondere die Verknüpfung von sozialem und physikalischem Raum betroffen sei. In Whites Verständnis konstituieren Netzwerke durch ihre Verbindungen/Beziehungen soziale Räume zwischen Identitäten. Erst durch Netzwerke ergebe sich eine fortgeschrittene »phenomenology of social action«, die es erlaube »to site persons and other complex constructions in social spaces« (White 1992a, 70). Als Beispiel wird eine grosse Hochzeitsgesellschaft genannt, in der sich eine gewisse Anzahl sozialer Netzwerke an einem physi(kali)schen Ort zusammenfinden (vgl. White 1992a, 71). Das heisst notwendigerweise auch: »Social space is not inside heads.« (White 1992b, 210) Dieser Schluss ist notwendig, weil in diesem Netzwerkansatz »the constraints from physical space« – insbesondere auf

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Identität und Kontrolle – interessieren (White 1992a, 4).12 Es ergeben sich »spatial patterns«, die beobachtet und in die Untersuchung mitaufgenommen werden können (vgl. White 1992a, 7). Hinzu treten schliesslich noch zwei weitere Kriterien: »Social space is plural, not singular, nor is social space stable.« (White 1992a, 128) Das führt zusammengenommen zu der Bestimmung, dass »[t]opologies of these social spaces [. . . ] complex [sind], and they vary over time and from one locale to another.« (White 1992a, 10) Soziales Handeln verursacht und definiert zeitliche Räume genauso wie örtliche: »All social action sites in physical space-time. We live among irregular mixings between biophysical space-times and social action. This social action can be modeled as generating its own bubbles of space-time that are somehow adjoined to the biophysical. Such bubbles cannot be personal, one to each individual identity, because they come in populations and nest in levels.« (White 1992a, 129, vgl. 78, 337 ff.)

Es ist beachtlich, wie nahe sich diese Äusserung zu Peter Sloterdijks Schaumblasen befindet; dies reicht hin bis zu der unabhängig geäusserten Bestimmung, die einzelne Blase sei nicht das Individuum. Allerdings müssen sozialer und physikalischer Raum »irgendwie« (somehow) – genauer: durch das Konzept der Örtlichkeit (locality) – verbunden werden (vgl. White 1992a, 130). Die als abhängige Variable identifizierte Örtlichkeit »raises difficult subtleties of valuation, as well as of meaning.« (White 1992a, 131) In diesem Raumkonzept liesse sich schliesslich »the conundrum of structuralist versus atomic hypotheses« finden, weil in diesem »Rätsel« Aspekte der Grenzziehung und der Örtlichkeit vermischt würden (White 1992a, 132). Der bereits oben genannte »environing process«, auf den die Kontrolle allgemein gerichtet ist, enthält sowohl die Wortbedeutung »umgeben« als auch »etwas abgrenzen«. Hier sind offensichtlich – und im Gegensatz zum gering ausgearbeiteten Topologiekonzept bei Burt – 12 | Dazu auch: »Social space is mushed into an artificial Cartesian representation, but on the basis of the quintessential relation of structural equivalence.« (White 1992a, 92) Hier schliesst ein zeitgenössischer Versuch an, der durch ein »concept of place« soziale Netzwerke bildet, die »simultaneously individuals and social circles« berücksichtigen sollen (Pizarro 2007, 768). Wenn Sozialstruktur als »network of places« definiert werde, dann gelte: »Each class of [structurally] equivalent individuals corresponds to a place«, d. h. zu einem »Set« sozialer Zirkel, das diesen Platz oder Ort definiert (Pizarro 2007, 774 ff.). Diese Orte können als »points of a network« und als »relations between points of a network« aufgefasst, Individuen oder ihre Equivalenzklassen entweder als Durchflusspunkte oder als Kanäle des Austauschs betrachtet werden (Pizarro 2007, 778; Hervorhebung wurde weggelassen). Indem Individuen durch die Überschneidung dieser Orte, ihrer »memberships in social circles« definiert werden, so schliesst dieser Ansatz, werde der Dualismus von Individuum und Gruppe überwunden (Pizarro 2007, 790).

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mit den sozialen Räumen auch physikalische Räume verbunden.13 Dies zeigt sich wie folgt: »One identity’s boundary is another’s neighborhood.« (White 1992a, 79) Erneut handelt es sich dabei um eine Aussage, die mit Sloterdijks Sphärologie einher geht. Identitäten und Statussysteme sind in geräumigere soziale Räume eingebettet, welche ihrerseits durch ökologische Räume (ecological space) eingeschränkt werden (vgl. White 1992a, 93, 84). Diese Räume umgeben die Statussysteme (disciplines); sie sind also ausserhalb und kontextualisieren dadurch die Systeme (vgl. White 1992a, 80, 185). Bezogen auf das »Innen« heisst es, »actions among network-populations [. . . ] overlap in physical space.« (White 1992a, 167, vgl. 307 ff.) Gegenteilig heisst es dann, »pressures from larger context [den institutions, auch dem environment, weil verträglicher mit dem Singular; S. B.] reach down to effect some orderliness of perception by a particular discipline.« (White 1992a, 176, vgl. 207 f., 234) Darin zeigt sich – ich werde darauf zurückkommen – eine doppelte Emergenz; doppelt deshalb, weil sie in beide Richtungen greift, nicht nur von den emergenten Struktureigenschaften auf das individuelle Handeln (vgl. Trezzini 1998, 524 f.), sondern auch von einem emergenten Handeln auf die Struktur. Somit emergieren Identitäten – beziehungsreich formuliert – aus Unregelmässigkeiten (irregularities; vgl. White 1992a, 197); sie emergieren »from rubbings together of mismatchings engendered in aid of distinct control and/or production efforts in given settings.« (White 1992a, 62) Dieses Aneinanderreiben von Ungleichgewichten gilt unabhängig von Zeit und Raum; es ist historisch wie topologisch disponibel. Wie schon Burt hat White allerdings Probleme, über sein Netzgeflecht hinaus und damit »wider contexts« anzugreifen, in den sozialen Kontext ausgreifende Beziehungen zu adressieren (vgl. Brint 1992, 197 f.; White 1992a, 154 ff.). So heisst es an einer Stelle: »a tie is both part of the architecture of social space and at the same time an action record having to do with quality [d. h. einer der möglichen Formen von ›valuation‹; S. B.] and/or strength of tie.« (White 1992a, 101 f.; Hervorhebung S. B.) Es liegt dann nahe, dass der »Ausgriff« ein beschränkter sein muss, wenn die »Wertschätzung« schon an Handlung und Grenzziehung beteiligt ist. So erfolgt auch die Einschränkung, nur »[d]istinct types of ties are the base for generalization of identities within networks into further levels in social spaces.« (White 1992a, 102; Hervorhebung S. B.) Dann wiederum werden »contexts [genauer: Gruppen (corporates) und Netzwerke; S. B.] as total settings [angenommen], seen from 13 | Somit wird White mit demselben Vorwurf konfrontiert, der sich auch gegen Pierre Bourdieu vorbringen lässt: Die Aussage, »der von einem Akteur eingenommene Ort und sein Platz im angeeigneten physischen Raum [gebe] hervorragende Indikatoren für seine Stellung im sozialen [d. h. symbolischen; S. B.] Raum ab[. . . ]« (Bourdieu 1991, 26), ist dann bloss die ebenso problematische Umkehrung.

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the inside, for correlations, rather than as boundaries« (White 1992a, 109). Die Netzwerktheorie kann »Gesellschaft« nicht abbilden, sondern immer nur abgegrenzte, dennoch als Totalitäten bezeichnete Teile davon.14 Im Gegensatz etwa zu Max Webers sinnhaftem Handeln oder zum Symbolischen Interaktionismus, legt der Netzwerkansatz weniger Gewicht auf strukturbildendes, individuelles Handeln, sondern betont die strukturelle Einbettung des Handelns.15 Obschon die Netzwerkanalyse Handlungsmöglichkeiten nicht bezweifelt, liegt ihr Interesse in den inneren Spannungen und Inkongruenzen der Strukturen (auch der einzelnen »Sets«, der Handlungsräume im Sinne Burts), nicht aber in den individuellen Absichten der Handelnden. Es erstaunt deshalb kaum, dass ihr auch schon ein »strukturalistischer Determinismus« nachgesagt wurde (vgl. Emirbayer/Goodwin 1994). Allerdings zeigen sich bei White bereits Tendenzen, die darüber hinausführen: Individuelle Akteure beobachten einander innerhalb der Statussysteme und der sozialen Netzwerke und nehmen dabei Muster auf, wie sie sich darin bewegen oder darin manövrieren (maneuver) sollen, und wie sie Symbole und Werte für diese Manöver in Betracht ziehen, berücksichtigen und begründen können (vgl. White 1992a, 200). Ziel ist dabei immer, zu neuem Handeln (fresh action) zu gelangen. Eine zentrale Strategie dafür ist das »[r]eaching through to other levels and neighborhoods«, das Ausgreifen auf »an endless variety of nestings, concatenations, and aggregations.« (White 1992a, 259) Es gelte, zu neuer Handlung und Kontrolle zu gelangen, »through and despite these complex deposits of social organization.« (White 1992a, 260) Dabei gibt es sowohl das »reaching down« als auch das »reaching up« zwischen den Ebenen netzwerktheoretischer Organisation (vgl. White 1992a, 262 ff., 289). Verschiebungen und Einflussnahmen finden daher horizontal wie vertikal statt. In solchen »chains of influence« seien vielfach »aspects of striving for meaning« enthalten (White 1992a, 275). Soziale Handlungen entstehen – besser: werden gemäss dieser Theorie hervorgerufen – »in search of control« (White 1992a, 287), und das bedeutet in einer reduzierten Lesart: in search of meaning. Ganz im Gegensatz zu Burt heisst es beispielsweise:

14 | Es stellte sich die Frage, ob auch hier Grenze und Örtlichkeit – Individualismus und Holismus – vermischt werden; sie schiene, auch in Bezug auf Niklas Luhmanns Systemtheorie, für eine weiterführende Betrachtung lohnenswert. 15 | Dagegen haben George C. Homans und James S. Coleman versucht, die individuelle Komponente stärker hervorzuheben. Bei Coleman findet sich eine Variante des methodologischen Individualismus, »die sich ausdrücklich als antireduktionistisch versteht« und eine »Emergenz von unten« wie die »eigenständige Bedeutung des Sozialen [. . . ] aus den nichtintendierten Folgen zielorientierten Handelns« ableiten will (Kappelhoff 1992, 222). Da diese Ansätze dem rationalen Handeln als ihrem Ursprung verhaftet bleiben, interessieren sie hier weiter nicht.

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»It is meaning, not rationality, that is the focus of most social organization. [. . . ] Sustenance of identities requires comparability of and meaning between identities, so that meaning is the focus of insight for projects of control. [. . . ] Meaning only comes into being as accommodation to patterns of social action which have been able to reproduce themselves.« (White 1992a, 303)

Obschon hier der »Bedeutung« eine zentrale Funktion zugewiesen wird, sind ihre Entstehensbedingungen und Funktionen auf Struktur bezogen: »Meanings are not separable from structure, any more than social action is.« (White 1992a, 212) Bedeutungen werden mit sozialem Handeln, schliesslich sogar mit Werten in Beziehung gesetzt: »The meanings of values are to be inferred as much from the social architecture as vice versa.« (White 1992a, 137) Wertbedeutungen werden somit von der sozialen Architektur – hier liesse sich auch sozialer Raum einsetzen – abgeleitet, wie diese wiederum von den Bedeutungen. Es liegt aufgrund des Theoriedesigns nahe, dass nicht auf »the meaning orientations of social actors and [. . . ] those attributed by others to social actors« im Sinne Webers verwiesen wird (Brint 1992, 195; vgl. Greshoff/Schimank 2006). Doch zeigen sich erste Ausweitungen in diese Richtung, auch wenn sie noch nicht zu grösseren Kontexten ausgreifen können. Als mögliche Antwort auf diese Begrenzung bietet sich etwas an, das bereits bei White aufscheint. Während Identitäten durch soziale Handlungen nachvollziehbar geformt werden, ist dies bei der verursachenden Kontrolle nicht der Fall: »It [control] is instead the capacity to reorder the system in ways not determined by the system.« (Stinchcombe 1993, 335) Es bleibt deshalb zu vermuten, dass die Andeutungen in Richtung einer Emergenz von zentraler Bedeutung für Whites Ansatz sind.16 Anscheinend ergibt sich gerade an der bekannten Schnittstelle von »structure« und »agency« die Möglichkeit, Emergenz auf eine spezifische Weise einzuflechten. Während der Struktur bislang grosszügig Platz eingeräumt wurde, ist dies bei »agency« nicht der Fall. Dies hat folgenden Grund: Unter Berücksichtigung einer umfassenden Definition von »agency« müsste die vorliegende Arbeit anders konzipiert und verfasst sein (vgl. Imhof 2006, 173 ff.).17 Ich verwende deshalb als Substitut einen Begriff der 16 | Die zweite, erweiterte Auflage von Identity and Control (White 1992a) trägt den neuen Untertitel »How Social Formations Emerge« (vgl. White 2008). 17 | Eine der avanciertesten Definitionen beschreibt »human agency« als »the temporally constructed engagement by actors of different structural environments – the temporal-relational contexts of action – which, through the interplay of habit, imagination, and judgment, both reproduces and transforms those structures in interactive response to the problems posed by changing historical situations.« (Emirbayer/Mische 1998, 970) Nur am Rande sei an eine mögliche Nähe zu Niklas Luhmanns Sinnbegriff erinnert, der zwar von Handlung entfernt ist, aber dennoch

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Emergenz, der die Potentialitäten des »agency«-Begriffs überhöht und diese Handlungsmöglichkeiten näher an Struktur bindet (vgl. Fuchs 2001). In Ergänzung zum Handlungsbegriff verweist »agency« auf die temporale Handlungsfähigkeit und Interpretationsleistung der Akteure. Ihre Ersetzung durch einen Begriff des emergenten Handelns erlaubt, diesen Zeitfaktor unter Kontrolle zu halten. Zeit wird demzufolge beiläufig als gegeben hingenommen, aber nicht ausdrücklich formuliert. Die aktive Komponente der »agency« wird durch eine, wie es scheint, marginale Unterscheidung eingefangen, jene in »Handeln« einerseits und »Handlung« andererseits. Bereits Aristoteles kannte die Unterscheidung zwischen prattein und poiein, d. h. Handeln im Sinne von Praxis/Tätigkeit und Handlung im Sinne von Poiesis/Werk (vgl. Vernant 1973; Schütz 1981). Während sich deshalb »Handeln« auf die gegenwärtige, laufende Operation bezieht, richtet sich »Handlung« auf das vollzogene, abgeschlossene Handeln und erhält in der Unterscheidung diese andere Bezeichnung.18 Im Zentrum steht dann – wie in der vorliegenden Arbeit – das Handeln und nicht die Handlung. Zudem kann das »Handeln« der »Kommunikation« vorgezogen, ihm die Vorherrschaft zugewiesen werden (vgl. Dux 2003, 257). Dennoch wird nicht negiert, dass sie beide zentrale Elemente der Konstitution von Gesellschaft sind. Handeln verweist dann auf folgendes: »Der Bildungsprozess der Gesellschaft setzt sich erst aus der Vernetzung der Elemente als ein emergenter, selbstorganisatorischer Prozess heraus.« (Dux 2003, 265) Fernerhin gehören zur Gesellschaft auch andere soziale Formen, wie Interaktionen (die hier dem Handeln zugerechnet werden), individuelle wie kollektive Entscheidungen (nicht nur im politischen System und nicht nur hinsichtlich Handeln), Institutionen (d. h. alle Formen der Vergesellschaftung), Klassen (und alle weiteren Distinktionsmerkmale), Normen (inklusive kodifizierter Gesetze) und Werte (d. h. Bedeutung). Die Soziologie bemüht sich gemeinhin darum, »den Sinn sozialer Handlungen durch die Bezugnahme auf Werte verständlich zu machen.« (Francis 1965, 17) Diese Wertlogik ist eng mit Max Weber verknüpft (siehe Kapitel 5.3), und im Folgenden wird eine Leseweise von Webers Ansatz beigezogen, die diesem nicht unbedingt gerecht werden muss. Wird dieser Wertlogik weiter gefolgt (und eben auch darüber hinaus, in neue paradigmatische Kontexte ausgegriffen), über ähnliche Qualitäten verfügt. – Ein weiterer Grund für die kritische Distanz gegenüber der Diskussion um »structure« und »agency« liegt in ihrem ideologischen Charakter. Im Gegensatz zur theorieleitenden Unterscheidung in Mikround Makroebene gibt »structure oder agency« vor allem persönliche Präferenzen wieder (vgl. Collins 1992, 84). 18 | »Handlungen sind sinn- und bedeutungsstrukturierte Verhaltensweisen, die sich zu einem guten Teil erst ex post facto qualitativ identifizieren lassen – und dies nie in definitiver, unveränderlicher Weise.« (Straub 2006, 66)

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dann lässt sich jedes soziale Gebilde beschreiben als: bestehend »aus Personen, die gewissen Zielen zustreben und gewisse Veränderungen in der physischen Umwelt verursachen.« (Francis 1965, 94) Diese Veränderungen sind deshalb »sinnvoll«, weil sie einerseits dem sozialen Handeln entspringen und andererseits von anderen so gedeutet werden. Kurz gefasst und spätere Aspekte vorwegnehmend: Individuen konstituieren durch ihr (emergentes) Handeln emergente Phänomene auf der Meso- oder Makroebene. Die Aussage, es seien vor allem die »Kollektivbegriffe, welche Unsegen stiften«, veranschaulicht Max Weber (1988c, 210) anhand des Beispiels der Landwirtschaft und des »gewaltige[n] Knäuel[s] von [darin] durch- und gegeneinander laufenden Wertbeziehungen«, die nur mit Schwierigkeiten zu durchschauen und zu verstehen sind. Er wendete sich deshalb – für dieses Verstehen – an die »höchsten und letzten Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem Leben Sinn und Bedeutung geben, [denn sie] werden von uns als etwas ›objektiv‹ Wertvolles empfunden.« Diese Urteile fliessen aus den »höchsten Lebenswerten« und dienen dem »Kampfe gegen die Widerstände des Lebens«, genauer: sie werden daraufhin »entwickelt« (Weber 1988c, 152).19 Diese Zielrichtung des (rational wie irrational, bewusst wie unbewusst) »subjektiv gemeinten Sinn[s]« bei Weber (1980, 4), der in unmittelbaren Zusammenhang mit Deutung und Sinndeutung gerückt ist, lässt ihn als den epistemischen Ausgangspunkt für ein »emergentes Handeln« festsetzen. Selbst die Kritik, Weber mache »zwischen dem Sinn des Erzeugens und dem Sinn des Erzeugnisses, [. . . ] zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen keinen Unterschied«, ist für diese Festsetzung hilfreich. Obschon also zwischen Handeln und Handlung nicht unterschieden wird, »Abwandlungen« und »Auffassungsperspektiven«, die das Handeln erfährt und auf welche es zugeschnitten wird, nicht berücksichtigt werden (Schütz 1981, 15 f., vgl. 112), ist die Vorgabe geeignet. Weber behalf sich dadurch, dass er eine klare Regel aufstellte: Die »Zweckerwägungen« können dem Handlungsablauf nur dann zugeschrieben werden, wenn der Akteur diese ausdrücklich als Werte annimmt. Dieses – einem gemeinten Sinn folgende – Handeln liefert dann einen Idealtypen, von welchem der tatsächliche Handlungsablauf der Individuen abweicht und sich dadurch ableiten lässt (vgl. 19 | Mitunter wird bezweifelt, ob Max Weber tatsächlich bloss einem methodologischen Individualismus zuzurechnen sei (vgl. Breuer 1996, 314). Als Alternative wird ein »moderater Holismus« vorgeschlagen, der für ein Makro-Mikro-MakroModell der Erklärung anschlussfähig sei und sich eher dazu eigne, die »emergenten Eigenschaften« der Makrophänomene und ihre kausalen Auswirkungen auf individuelle Akteure zu beschreiben (vgl. Albert 2005, 410; Schwinn 2003). Handlungs- und Ordnungsebene würden sich so gleichberechtigt nebeneinander stellen lassen.

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Weber 1980, 3; Berger/Kellner 1984, 41 ff.).20 Darin schwebt auch immer die Frage nach der spezifischen Möglichkeit, mit der dieser subjektiv gemeinte Sinn soziale Wirklichkeit wird (vgl. Berger/Luckmann 1966). Eine elegante Antwort findet sich darin, dass die zwei Ebenen erst gar nicht getrennt werden: Die »Zuwendung« – und insbesondere das »wie« dieser Zuwendung – zum »spezifische[n] Sinn eines Erlebnisses« finde sich, indem das Erlebnis in den »Gesamtzusammenhang der Erfahrung« und damit in gewisser Weise in das »Ganze der Sozialwelt« eingeordnet werde. Dadurch erhält auch »gemeinter Sinn« eine neue Definition: »Gemeinter Sinn eines Erlebnisses ist nichts anderes als eine Selbstauslegung des Erlebnisses von einem neuen Erleben her.« (Schütz 1981, 104, 16) Das bedeutet schliesslich: »Der Handelnde ist so immer ›in Gesellschaft‹, [. . . ] [denn seine Handlungen] stehen in einem gesellschaftlichen Sinnzusammenhang« (Luckmann 1992, 103). Die Beschreibung gesellschaftlichen Handelns lässt sich über die Beschreibung seines subjektiven Sinns erlangen, wobei »zwischen der sinnhaften Ausrichtung von Entwürfen [. . . ] und der sinnhaften Verflechtung von Handlungsvollzügen« unterschieden werden sollte (Luckmann 1992, 106). Dies scheint in Webers Definition durch die Unterscheidung von »subjektiv gemeintem Sinn« und »Ablauf« des Handelns bereits angedeutet.21 Wenn diese handlungstheoretische Begehung hier schliesst, dann wird sichtbar, dass schon Max Weber beide Sichtweisen zuliess (vgl. Greve 2006). Allerdings wurde diese Sicht erst in der Weiterentwicklung konkretisiert. Das heisst: »die Gesellschaft schafft die Bedingungen dafür, dass Menschen überhaupt handeln; und dafür, dass sie so handeln, wie sie handeln.« (Luckmann 1992, 94) Aus dieser Begehung ergibt sich folgendes Fazit: »Die gesellschaftliche Grundbedingung allen (nicht nur des sozialen) Handelns ist also die Vergesellschaftung des Menschen. Dass der vergesellschaftete 20 | Interessant ist (entgegen dem Umgang mit Gottlob Freges Terminologie), dass »gemeinter Sinn« als »›intended‹ meaning« ins Englische übertragen wurde. Der Herausgeber Talcott Parsons vermerkt dazu in einer Fussnote: »Weber departs from ordinary usage not only in broadening the meaning of this conception. [. . . ] [H]e does not restrict the use of this concept to cases where a clear self-conscious awareness of such meaning can be reasonably attributed to every individual actor. Essentially, what Weber is doing is to formulate an operational concept. The question is not whether in a sense obvious to the ordinary person such an intended meaning ›really exists,‹ but whether the concept is capable of providing a logical framework within which scientifically important observations can be made.« (in Weber 1997b, 96) 21 | Das sinnhafte Handeln wird unterschieden in Handlungsentwurf und Durchführung: erstes meint die »vorstellungsmässige Vorwegnahme« des Ziels und seiner »zweckgerichteten Ausführung unter Berücksichtigung des Bedeutungszusammenhangs«, zweites die »individuelle Ausführung« (Coburn-Staege 1973, 69).

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einzelne Mensch seinerseits die Grundbedingung für Gesellschaft ist, steht auf der Rückseite des gleichen Blattes geschrieben.« (Luckmann 1992, 94)

Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird als ein dialektisches beschrieben. Ein Vorteil davon ist, dass Vergesellschaftung mit Emergenz gleichgesetzt werden kann, ihr dynamischer Charakter erneut hervorgehoben wird. Damit wird zwar ein »Zugriff« von beiden Seiten her möglich, die Unterscheidung in Seiten schlussendlich hinfällig; der Nachteil daran ist die resultierende Instabilität der Beschreibung. Zu gegebenem Zeitpunkt besteht die Unterscheidung allerdings noch – muss sie auch. Es ist diese Unterscheidung, die uns in der vorherigen handlungstheoretischen Begehung vom Individuum zur Gesellschaft schreiten liess und die eine anschliessende Begehung in umgekehrter Richtung zulässt. Wenn der Beizug verschiedener Konzepte hier und an anderen Stellen der vorliegenden Arbeit als eklektisch erscheinen mag, dann liegt dies am gewählten Vorgehen. Dieses adressiert das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft von beiden Seiten und setzt dafür unterschiedliche Varianten des Problemumgangs gegenseitig ineinander ein. Das macht es notwendig, eine grössere Anzahl sozialtheoretischer Ansätze und soziologischer Theoreme beizuziehen und in Verbindung zu setzen. Die soziologische Emergenzthese geht auf Emile Durkheim und die sozialen Tatsachen zurück (vgl. Sawyer 2005, 100 ff.).22 Die Gesellschaft sei ein »kollektive[s] Sein [. . . ], das an sich ein Wesen sui generis darstellt« (Durkheim 1984, 203). In diesem traditionellen Verständnis wird die Makroebene, die (keineswegs ausschliesslich) als Gesellschaft identifiziert werden kann, als »die ›emergente‹ Ebene« bezeichnet (Greve 2006, 24). Emergente Ordnung heisst dann, »dass Phänomene entstehen, die nicht auf die Eigenschaften ihrer Komponenten, zum Beispiel auf die Intentionen von Handelnden zurückgeführt werden können.« (Luhmann 1998, 134; vgl. Ritsert 1988, 188 f.) Zum einen enthält dieser synchronisch ausgeprägte Emergenzbegriff die These der »Nichtreduzierbarkeit« und zum anderen gelten namentlich »Eigenschaften [auf höherer Ebene], Strukturen oder Makrobedingungen« als emergent (Bora 2003, 120).23 In dieser holistischen Emergenzvorstellung 22 | Die »soziale Emergenz« darf als soziologisches Modethema bezeichnet werden. Es hat gerade in neuerer Zeit und im Zusammenhang mit der Unterscheidung in Mikro- und Makroebene grossen Zuspruch erfahren (vgl. Heintz 2004; allgemein: Krohn/Küppers 1992). Da »dieser Begriff an sich kaum mehr beinhaltet als eine Problemformel« (Bora 2003, 119; vgl. Sawyer 2005, 63 ff.), bediene ich mich einer vereinfachten Darstellung, die spezifisch auf die vorliegende Problemstellung zugeschnitten ist. 23 | Die Unentschiedenheit zwischen Individualismus und Holismus (auch: Strukturalismus) als vorherrschender Richtung in der Soziologie »reflects a confusion about the definition of ›structure‹ that originates in sociology’s neglect of

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herrscht meist eine Ontologie vor, die verschiedene »Schichten« der Wirklichkeit unterscheidet, wobei Emergenz dann immer »oben« zu verorten ist – entgegen dem reduktionistischen Anspruch der methodischen Individualisten (siehe Tabelle 1 auf Seite 188).24 Die kausalen Kräfte wirken von oben (Gesellschaft) nach unten (Individuum), d. h. sie sind »abwärts verursachend« (vgl. Sawyer 2005, 216 f.). Ein zweiter, diachronisch (oder evolutionär) ausgeprägter Emergenzbegriff bezeichnet dagegen neue Erscheinungen, die zugleich ein eigenes Erklärungsprinzip (insbesondere ihrer Entstehung) einfordern, und geht vor allem auf George Herbert Mead zurück (vgl. Chang 2004). Dieser Begriff berücksichtigt, was der synchronisch geprägte vernachlässigt, dass sich Emergenz im Grunde in verschiedene Richtungen auswirken kann. Wissenschaftstheoretisch wird mit »Emergenz« bloss auf neue, nicht vorhersehbare Qualitäten verwiesen, die in der Zusammenwirkung mehrerer Faktoren auftauchen. Emergente Wirkungen sind ursprünglich »auf der Ebene, aus der sie emergieren, kausal nicht vollständig erklärbar.« Gemäss neuerer Erklärung aus der Theorie der Selbstorganisation entstehen »Ordnung, Organisation und Bedeutung in Natur und Gesellschaft [. . . ] [als emergente Phänomene] durch eine gegenseitige Reproduktion von Ursache und Wirkung.« (Küppers 2001, 139) Eine »bottom-up analysis of emergent phenomena« scheint also gleichfalls möglich (Smith/Stevens 1996, 133; vgl. Balog 2001, 237 ff., 311–336).25 In diesem Fall ist die Emergenz »unten« social emergence.« (Sawyer 2005, 193) Ein nicht-reduktiver Individualismus, der emergenztheoretisch als Antwort angeboten wird (vgl. Sawyer 2005; Albert 2005), weiss auch nicht vollständig zu überzeugen. Darin kommen soziale Eigenschaften zwar aus individuellen Eigenschaften hervor, lassen sich aber nicht vollständig auf diese reduzieren. Hilfreich scheint hingegen die Einsicht, dass Individuum und Gesellschaft (eigentlich: sozial emergente Makroeigenschaften) symbolische Interaktion als vermittelnde Mechanismen brauchen. Diese Mechanismen oder auch Momente, die an früheren Stellen bereits aufgetreten sind, dürfen als Sammelbegriff für ein Verständnis genommen werden, das die »unterschiedlichen [sozialen] Faktoren, die sich rein nicht aussondern lassen, für den Bewusstseinsbildungsprozess [. . . ] berücksichtig[t].« (Jaeggi/Fassler 1982, 16) Damit wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aufgeweicht und eine Betrachtungsweise identifiziert, die zu einem zweiten Emergenzbegriff führt. 24 | Dem methodologischen Individualismus »zufolge sind Sätze über gesellschaftliche Gruppen und Sachverhalte vollständig auf Sätze über Individuen reduzierbar. Soziale Situationen oder Akteure bauen sich auf aus individuellen Handlungen, Motivationen usw. Individuelles Verhalten lässt sich nicht durch gesellschaftliche Faktoren bzw. makrosoziologische Gesetze erklären. Phänomene der Emergenz werden bestritten.« (Rönsch 1994, 293; Hervorhebung S. B.) 25 | Wobei hinzugefügt werden muss, dass ich die Soziologie von der folgenden, synthetisierenden Aussage nach wie vor entfernt sehe: »In the social world, social systems, collectives, and individuals have emergent causal properties.« (Vandenberghe 2007a, 296; Hervorhebung S. B.) Dies findet sich nicht zuletzt in der eigentlichen, oben erwähnten Unentschiedenheit.

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zu verorten (siehe Tabelle 1 auf Seite 188); die kausalen Kräfte wirken »aufwärts verursachend« vom Individuum hin zur Gesellschaft. Allerdings wird dann, wenn das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nicht mehr im Zeichen emergenter (d. h. nicht kausal reduzierbarer) Rationalität und Selbstreferenz gesehen wird, das ganze Gefüge instabil.26 Dies liegt daran, dass es nun nicht mehr einfach heissen kann, das Soziale begründe eine eigenständige Sphäre, eine emergente Ebene (siehe Seite 151). Weder kann die emergente Wirklichkeit der Gesellschaft (mehr) auf die Eigenschaften der Individuen reduziert oder aus diesen vorausgesagt werden (vgl. Mayr 1998, 403), noch die emergente Wirklichkeit der Individuen auf die Eigenschaften der Gesellschaft reduziert oder aus diesen vorausgesagt werden (vgl. Parsons 1976, 123, 299; Balog 2001, 355 ff.). Die Wirklichkeiten können nur noch aufeinander bezogen vermittelt werden (siehe Abbildung 3 auf Seite 94). Ein solches Verständnis einer »verdrehten« und folglich zweiseitigen Emergenz lässt sich auf Georg Simmel zurückführen (vgl. Staubmann 1997, 74). Simmel hatte »Wechselwirkung« als jenen Begriff verwendet, welcher die Emergenz und Dynamik der Gesellschaft beschreibt; Max Weber sprach vom »Zusammenhandeln«. Emergentes Handeln meint dann die Verbindung aus »aufgelöster« oder »verdrehter« Emergenz einerseits und sinnhaft gerichtetem Handeln andererseits. Es wird eine nunmehr allseitige Emergenz – bestehend aus Selbstemergenz und Fremdemergenz – beigezogen, um die gesellschaftlichen Bedingungen für individuelles Handeln begrifflich zu fassen.27 Vorhandene soziale Beziehungen reichen zur Erklärung nicht aus, weil allseitig dauerhaft neue Beziehungen emergieren und daraus unabhängige Wirklichkeitsbereiche entstehen. Neu muss es deshalb heissen: »Die Gesellschaft ist die Gesamtheit der vorhandenen [und der kontinuierlich erweiterten und ergänzten, geplant wie spontan emergierenden; S. B.] sozialen Beziehungen.« (Tenbruck 1986, 196) Damit ist das Gesellschaftskonzept sinnvoll auf ein komplexes Verhältnis anwendbar. All dies hat zudem vor einem Hintergrund zu erfolgen, weshalb zu späterem Zeitpunkt ein Medienbegriff herangezogen wird.28 Es muss das »reflexive Verhältnis« untersucht werden, 26 | Die Erklärung dieser Instabilität ist komplexer als hier wiedergegeben (vgl. Kim 1999; Horgan 1997); für die vorliegende Darlegung genügt schon, dass dabei etablierte Vorstellungen hinterfragt und sogar angegriffen werden (siehe Seite 184). 27 | Als Beispiel sei der »Gerichtsbeschluss« erwähnt, welcher dieses Verhältnis aus Handlung, Wirkung und Bedingung veranschaulicht (vgl. z. B. ala/dpa 2006; sto 2007). 28 | Es war Marshall McLuhan, der den Medienbegriff in eine Kommunikationstheorie einbettete, die wiederum den Auftrag erhielt, das »Wechselspiel zwischen der Figur und ihrem Hintergrund« zu ergründen (zit. in Baecker 2004, 258). Damit wurde der Hintergrund als Wirkungs- und nicht mehr als Ursachenbereich

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d. h. »wie« sich Akteure »zu ihren Handlungen verhalten.« (Schroer 2001, 191) Die emergente Sinnstruktur, die in das emergente Handeln eingegliedert ist, versucht das zu leisten. Handeln wird nicht »durch die Merkmale der Situation, in der es stattfindet verursacht« (Schmid 2006, 32); stattdessen wird von einem aktiven Handeln des Akteurs und zugleich von einem emergenten – stark beeinflussten oder (durch normative Erwartungserwartungen und doppelte Kontingenz) nicht direkt steuerbaren (vgl. Schmid 2006, 37 f.) – Handeln ausgegangen. Eine strenge Rationalität bleibt dann ausgeschlossen. Hinzu kommt: Das Konzept der »unvorhergesehenen Folgen zielgerichteten sozialen Handelns« (Robert K. Merton) ist als Idee »particularly useful because it questions the simplistic assumptions accompanying our belief in the overriding effectiveness of human rationality.« (Phillips/Johnston 2007, 77) Die Vorstellung nichtintendierter oder nicht vollständig durchschauter Handlungsfolgen leistet dasselbe (vgl. Schmid 2006, 31). Das Konzept der Rationalität ist deshalb so wenig weitreichend (vgl. Weber 1980, 3), weil es unser fehlendes Verständnis für soziale Phänomene (d. h. das mangelnde »Verstehen« durch Komplexität) nicht einholen kann. Der Akteur ist vielmehr durch ganz unterschiedliche, eigene wie fremde Kriterien bestimmt (vgl. Schmid 2006, 45 f., 34 f.). Weder die reine »Nutzenverfolgung« noch die »subjektive Realisierung eines objektiv gegebenen Werte- und Ideenhimmels« helfen dann noch zur Erklärung (Schroer 2001, 189 f.); weder die Erklärung der Wirklichkeit noch jene der Explikationsform scheinen der Komplexität angemessen zu sein. Emergentes Handeln, wie es hier verstanden wird, lässt sich von zwei Seiten erklären: der traditionellen und weitgehend holistisch orientierten, sozialen Emergenz einerseits und der individuellen Emergenz – die hier als Selbstemergenz bezeichnet wird – andererseits. Zur Klärung der individuellen Seite kann eine von Alfred Schütz verwendete Unterscheidung beigezogen werden. Dieser unterscheidet (im Nachgang zu Max Webers Definition) zwischen subjektivem Sinn, d. h. »was in einem Individuum, das etwas hervorbringt, geistig oder emotional vorgeht, was immer das Hervorgebrachte sein mag – zum Beispiel ein Satz, ein Gebäude oder ein Streichquartett« – und objektiver Bedeutung. Unter letzter wird verstanden, »was das Produzieren oder das Produkt dieses Individuums mir bedeutet – mir, der es zu verstehen sucht, und zwar ungeachtet seiner subjektiven Bedeutung.« (Wolff beobachtet. Es geht nach dieser Abwendung vom kausalistischen Denken »um ›Effekte‹, deren Beschreibung auch ohne ›Ursachen‹ auskommt, weil sie statt dessen darauf abstellt, Effekte mit Effekten zu kombinieren, Zurechnungen vorzunehmen und Operationen nachzuvollziehen.« (Baecker 2004, 259) Medien leisten diesen Hintergrund, der dauerhaft vorhanden ist und bloss noch die Bedingungen für Effekte liefert.

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1983, 50) Während der subjektive Sinn dasjenige »Hervorgebrachte« bezeichnet, welches das Individuum im Rahmen der Hervorbringung »meint«, verweist die objektive Bedeutung auf die Wahrnehmung und Deutung durch andere, sowohl im Alltags- wie im wissenschaftlichen Verständnis.29 Die individuelle Emergenz enthält den von Schütz erfassten subjektiven Sinn. Sozialwissenschaftlich kann dieser Sinn über die objektive Bedeutung angegangen, aber nicht ausreichend erklärt werden.30 Schon Gabriel Tardes Denkweise liess sich deshalb mit den folgenden Worten charakterisieren: »Le seul a priori est donc celui de l’indétermination du réel et les êtres qui nous entourent sont des émergences.« (Joseph 1984, 549) Über die genaue Klärung der Ursachenfrage kann dann weiterhin gestritten werden. Was hingegen mit Gewinn betrachtet werden kann, sind die Effekte, die Bedeutungen. Kurz: Was als Effekt vom Individuum »rausgegeben« wird, ist Sinn, was von der Gesellschaft als Effekt »zurückkommt«, ist Bedeutung. Dieser Prozess ist auf keine der beiden Seiten rückführbar, sondern entsteht – eigentlich: besteht (denn er kennt, wie schon bei Elias, weder Anfang noch Ende, weder Vorne noch Hinten; vgl. Balog 2001, 226 f.) – in einem Dazwischen von Individuum und Gesellschaft; er emergiert aus und in diesem Dazwischen. Die bisherige Argumentation hat darauf hingeführt: ausgehend von einer Relation von Sinn und Bedeutung, weiter über die Rekonstruktion sichtbarer Verhältnisse und insbesondere über sechs explizierende Umgänge, hat sich die zentrale Bedeutung einer Handlungstheorie herausgestellt, die weder beim Individuum noch bei der Gesellschaft verbleiben darf, sondern sich in einem Dazwischen abspielen muss. Das letztgültige Postulat der »Auflösung«, des Sozialen einerseits (vgl. Kappelhoff 1992), herkömmlicher Zugänge zum Sozialen andererseits, macht die Wahl leicht, wirkt sich aber im gewählten Fall auf die Unterscheidung von Mikro- und Makroebene aus. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre fand eine Rückbesinnung statt auf die »Hauptteile der Allgemeinen Soziologie« und ihre Unterscheidung in »Mikrosoziologie [. . . ] und Makrosoziologie« (Francis 1965, 58). Während eine Soziologie der Makroebene individuelle (psychologische) Motive und Handlungen meidet, nimmt jene der 29 | Im zweiten Fall gilt: »Das Ziel der Sozial- und Geisteswissenschaften ist es freilich, den subjektiven Sinn zu erfassen. Ihnen muss es darum gehen, in den Geist des anderen einzudringen, sich in den anderen zu versetzen, die Welt vom Standpunkt des anderen aus zu betrachten.« (Wolff 1983, 50) 30 | Mit dem einen Pol in Verbindung gesetzt, liesse sich sagen: »Der Individualismus ist ein Gestaltungsprinzip, das von seiner ideellen in eine wirkliche Fassung übergeht, indem es sich an den Inhalten der Wirklichkeit, näherhin an den im sinnhaften Handeln konstituierten Dingen und Vorgängen des sozialen Lebens erweist« (Merz-Benz 2004, 196; Hervorhebung S. B.). Für eine daran anschlussfähige Definition der »weak emergence« vgl. Bedau (1997).

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Mikroebene diese als Ausgangspunkt. Obschon im Laufe der Debatte um den so genannten »Mikro-Makro-Link« darauf hingewiesen wurde, dass eine Gleichsetzung – beispielsweise mit Individuum/Gesellschaft – nicht angebracht sei (vgl. Alexander/Giesen 1987, 1), erinnert der Umgang mit Mikro- und Makroebene in der Praxis an jenen mit »agency« und »structure«. Auch die Aussage, dass »the vital and creative phase of this movement [zwischen Mikro-Makro] has now come to an end« (Alexander/Giesen 1987, 31), hat sich nicht bewahrheitet. Obwohl es in jüngerer Vergangenheit um diese Debatte eher still geworden ist, erscheinen die eigentlichen »Macro/Micro Problem[s]« kaum als gelöst (vgl. Barnes 2001).31 Noch immer stellt die Auseinandersetzung zwischen Reduktionismus und Emergenz ein Problem für die Soziologie dar (vgl. Heintz 2004). Auf der dazwischenliegenden Mesoebene, als Ebene der Institutionen oder Netzwerke, zeigen sich »both the macro-social historical and institutional pressure of the times in which they emerge, and the micro, individual personal decisions« bezüglich der Strukturen dieser Beziehungen (De Federico de la Rua 2007, 684). Auf dieser Ebene werden die Bedeutungen, die von den Strukturen oder Formen ausgehen, auf welche wir uns und andere beziehen, verhandelt, abgelehnt, bestätigt, angepasst, mit neuem Sinn (Inhalten) geladen oder auch bestehender ausgeräumt. In individuellen Beiträgen erhalten wir als Soziologen »subjective references to social facts that can be observed in the outside world [sic!], beyond the individual’s consciousness.« (Pizarro 2007, 769) Was an dieser Feststellung, wie an einem Konzept der Mesoebene generell stört, ist die Grenzziehung, ist eine Vermischung von Grenze und Räumlichkeit, die zuvor bereits Harrison C. White kritisiert aber nicht überwunden hatte. Schliesslich haben wir es auch auf der Mesoebene mit Strukturen zu tun, weshalb sie für eine Bearbeitung vorerst untauglich scheint.32 Eine Mesoebene, so die Vermutung, kann es in dieser Konstellation nicht geben; das avisierte Dazwischen meint wohl vielmehr den Austausch zwischen Mikro- und Makroebene, meint ein synthetisierendes Dazwischen, das beide Seiten beinhaltet und deshalb selbst keine eigene Seite oder Ebene sein kann. Allerdings weist die Mesoebene einen interessanten räumlichen Bezug auf (siehe Kapitel 12.2). Schliesslich kann die Metaebene ausgeschlossen werden, da es hier nicht um eine »Soziologie der Soziologie« geht (vgl. Wiley 1988).33 31 | Ob nun von einem (holistischen) Makro-Mikro-Makro- oder einem (individualistischen) Mikro-Makro-Mikro-Modell gesprochen wird, macht keinen Unterschied. 32 | »At the meso level, we find the institutional order: society exists as a set of institutions, that is, repeated actions and interactions that are symbolically regulated and strategically coordinated.« (Vandenberghe 2007a, 296) 33 | Würde Helmut Schelskys Anti-Soziologie in diesen Rahmen gestellt, dann sollte seine »transzendentale Theorie der Gesellschaft« erwähnt sein. Sie meint

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Lässt sich demzufolge ein Wechsel vom erklärenden, kognitiven Ansatz zum verstehenden, interpretativen Ansatz feststellen? Findet sich eine Verschiebung, in dessen Folge das naturwissenschaftlich-empirische (holistische) durch ein geisteswissenschaftlich-interpretatives (individualistisches) Denken abgelöst wird? Sollte schliesslich nicht mehr nach Gesetzmässigkeiten, sondern nach Bedeutungen gesucht werden? Tatsächlich lassen sich zwei solche Wechsel feststellen: ein erster, vollzogener aber dann wieder verlorengegangener um die vorletzte Jahrhundertwende und die Begründung der deutschsprachigen Soziologie und ein zweiter, nicht vollzogener, der immer wieder aufscheint und die kontinuierliche Auseinandersetzung markiert, die den Kern der vorliegenden Arbeit darstellt (siehe Seite 48). Eine einheitliche – d. h. integrierte – Sicht scheint nicht absehbar.34 Die vorliegende Arbeit will hier vermitteln.

eine kritische Distanz gegenüber der Gesellschaft und der Soziologie, durch welche – aus der Warte des Individuums als Handlungseinheit und ohne Reduktion auf soziale Kausalität – sowohl Sinn als auch Grenzen (und die Kämpfe innerhalb) des Sozialen und des soziologischen Denkens bestimmt werden (vgl. Schelsky 1959, 95 ff.; Heidegren 1997, 284; Merz-Benz 2001, 90 f.). 34 | In jüngerer Vergangenheit ist erneut ein Bewusstsein für Sinn und Bedeutung aufgetreten; mit der interpretativen Soziologie besteht diesbezüglich ein Ansatz, der um Aufmerksamkeit ringt (vgl. Hitzler 2007). Dennoch verbleiben die interpretativen Ansätze eher im Rahmen der Mikro- denn der Makrosoziologie und in der Anwendung und nicht in der Theorie (vgl. Collins 1986, 1349 f.). In diesem Zusammenhang ergibt sich die Frage: »Une théorie sociologique générale est-elle pensable?« (vgl. dazu die umfangreiche Debatte in La Revue du MAUSS 24/2004)

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12 Zugänge: Technik, Leben, Moral Mit den folgenden Fallrekonstruktionen, die vielmehr als »Vignetten« dienen, soll geprüft werden, ob das Mobiltelefon als mobile Technologie, die ummauerte und bewachte Siedlungsform der Gated Communities und Religion in einem moralischen Verständnis als Zugänge in Frage kommen. Daher interessiert, inwiefern sie als Mittler zwischen Individuum und Gesellschaft wirken. Indem sich der erste Zugang mobiler Technologie zuwendet, werden die gesellschaftlichen Auswirkungen des individuellen Handelns der Nutzer beobachtet. Hier interessiert die Sphäre der individuellen Gesellschaft. Dieser Zugang liegt auf der Mikroebene. Die Wahl für eine Gated Community ist zwar eine individuelle, ihre Effekte wirken sich jedoch nicht nur auf das Umfeld der manifest umgrenzten Siedlung aus. Hier interessiert die Sphäre einer (neuen) Gemeinschaft 2.0. Dieser Zugang liegt auf der Mesoebene. Durch Religion, in einem funktionalen, nicht-kirchlichen Sinne als Moral verstanden, erhält der dritte Zugang eine stark individuelle Prägung. Hier interessiert die Sphäre des gesellschaftlichen Individuums. Dieser Zugang liegt auf der Makroebene. In allen drei Fällen haben wir es mit einem je eigenen »Mittler« zu tun. Sie wurden so gewählt und zusammengestellt, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft hervortritt und der mediale Charakter der Relation von Sinn und Bedeutung sichtbar wird. Diese Zugänge dienen dazu, das Konstrukt eines Dazwischen vorzubereiten und dieses zugleich an das emergente Handeln zurückzubinden.

12.1 Mobiltechnologie Wenn das Mobiltelefon als »Primum Mobile« des dritten – mobilen – Jahrtausends beschrieben würde, dann müsste sich das Individuum im Zentrum dieses ptolemäischen Sphärenmodells befinden (vgl. Bertschi 2006c, 240 f.).1 Gesellschaft befände sich dann gleichsam aussen, jedoch innerhalb der umgreifenden Sphäre des Primum Mobile, welches alles in Bewegung setzt. Eine solche Sicht wäre allerdings zu technikdeterministisch – sie wäre zudem holistisch, da die Struk1 | Teile dieses Kapitels entstammen früheren Auseinandersetzungen mit dem Thema (Bertschi 2005; 2006c; 2007a; 2007b); sie wurden entsprechend bearbeitet.

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tur das Handeln bestimmte – und unterschlägt die Auswirkungen, welche das Mobiltelefon – zusammen mit seinem Nutzer – auf die Gesellschaft hat (vgl. Bertschi 2005, 433 ff.; Glotz et al. 2006). Wenn das Mobiltelefon als kulturelles Artefakt der (sozialen) Bedeutungszuweisung verstanden, also auf der Mikroebene, vom Individuum oder Nutzer aus betrachtet werden soll, dann muss gefragt werden, wie bewusst die individuelle Sinnzuschreibung erfolgt (vgl. Bertschi 2006c, 245; Alexander 2003, 193 ff.). Darauf wurde ganz zu Beginn der deutschsprachigen Soziologie aufmerksam gemacht: »Jedes Artefakt, z. B. eine ›Maschine‹, ist lediglich aus dem Sinn [dem gemeinten Sinngehalt; S. B.] deutbar und verständlich, den menschliches Handeln (von möglicherweise sehr verschiedener Zielrichtung) der Herstellung und Verwendung dieses Artefakts verlieh (oder verleihen wollte); ohne Zurückgreifen auf ihn bleibt sie [die daran orientierte Handlung; S. B.] gänzlich unverständlich.« (Weber 1980, 3)

Mobile »Maschinen« (Technologien) verändern die Art und Weise, wie Menschen denken, wie sie ihrem Leben Sinn und ihrer Umgebung Bedeutung zuweisen; sie beeinflussen das Handeln in einem mobilen Zeitalter (vgl. Glotz et al. 2006). Die zugehörige sozialwissenschaftliche Forschung hat sich deshalb vor allem in diese Richtung bewegt, vereinfacht gesagt: von Makro zu Mikro. Der Versuch einer anderen, »umgedrehten« Sicht führt unweigerlich zurück zu Max Weber (vgl. Berger/Kellner 1984, 54; Bertschi 2006c, 242, 245). Zwei dieser sozialwissenschaftlichen Ansätze, die »domestication analysis« und die so genannte »Apparatgeist«-Theorie schienen als Ausgangspunkt sinnvoll. Der erste Ansatz betrachtet die Auswirkungen der Technologie auf das alltägliche Leben (den Haushalt in weitem Sinne). Er gesteht zwar ein, dass Medientechnologien symbolische Bedeutung haben, konzipiert diese allerdings so, dass sie bereits mit vorgeformten Bedeutungen beim Individuum ankommen und von diesem nur noch konsumiert und an persönliche Bedürfnisse angepasst werden (vgl. Haddon 2004, 75, 136, 148). Offensichtlich wird Bedeutung zwar berücksichtigt, allerdings ist nicht beabsichtigt, ihre zugrundeliegenden Qualitäten aufzudecken. Zudem wird eine Rationalität unterstellt, die sich so kaum bewahrheitet oder zumindest ernsthaft hinterfragt werden muss (vgl. auch Bertschi 2006c, 243). Im zweiten Ansatz (und im Anschluss an die einseitige Verwendung von Begriffen wie »agency«, Struktur, Interaktion und Wandel) wird das Bedürfnis »for a new term to describe social change and its interaction with social institutions within the technological communication context« gesehen (Katz/Aakhus 2002, 304). Aus diesem Grund wird aus dem Apparat, der lateinischen (sozialen) Maschine, und Hegels Geistbegriff das Kunstwort »Apparatgeist« zusammengesetzt. Es be-

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12.1

Mobiltechnologie

schreibt den Geist der Maschine, welcher sowohl die Gestaltung der Technologie wie die anfängliche und nachträgliche Bedeutungszuweisung durch den Nutzer beeinflusst. Die zugrundeliegende Logik des »perpetual contact« findet sich dann allerdings im sozial entwickelten, praktischen, d. h. logisch-rationalen Denken; sie zeichnet vor, wie wir Kommunikationstechnologien bewerten, erfinden und nutzen (vgl. Katz/Aakhus 2002, 305 ff.). Obschon darauf hingewiesen wird, dass berücksichtigt werden muss, welchen Einfluss die Rhetorik und Bedeutungszuweisung (meaning-making) in der Interaktion zwischen Nutzern haben, geht es doch darum, wie das Gerät ins Leben integriert wird (vgl. Katz/Aakhus 2002, 315 f.). Hier scheint zwar der Mechanismus auf, gemäss dem eine Bedeutung zugewiesen wird,2 ihn konzeptuell zu fassen, stellt sich allerdings als Problem heraus. Es wird deshalb vorgeschlagen, das Mobiltelefon (und mobile Technologien im allgemeinen) als »kulturellen Lärm« (cultural noise) zu konzipieren (vgl. Bertschi 2006c, 247). Ich führe damit eine erste soziale Topologie ein, die auf der Mikroebene ansetzt und sich auf die Makroebene auswirkt. Ihr bereits mit Bedeutung verbundener Leitsatz könnte lauten: »›Meaning‹ is the mapping of a state from a micro-level of the system onto a possible attractor at the macro-level of the system (i.e., context)« (Neuman 2003, 403; Hervorhebung wurde weggelassen). Dabei stellt sich die Frage, was in diesem Prozess des »mapping«, den ich als Bedeutungszuweisung bezeichne, übertragen wird. Um die Bilder und Repräsentationen zu fassen, die »abgebildet« werden, wird das Mobiltelefon als kulturelles Artefakt – da Kultur prägend und von dieser geprägt – und als Quelle kulturellen Lärms verstanden.3 In der Elektrotechnik bezeichnet Artefakt ein Störsignal und schafft den Bezug zu Lärm. Noch naheliegender ist dies, wenn anstelle des lebensweltlichen Begriffs »Lärm« der technische Begriff »Rauschen« eingesetzt würde. Das Mobiltelefon ist dann in zweifacher Weise mit Lärm verknüpft, einerseits mit realem Lärm durch die Nutzung im öffentlichen Raum, andererseits als Quelle eines metaphorischen Lärms, der als kultureller Lärm bezeichnet wird (vgl. Bertschi 2006c, 247 f.). In diesem Zusammenspiel macht sich eine Räumlichkeit bemerkbar (vgl. Richardson 2007). 2 | Die Schlussfolgerung im Anschluss an »Apparatgeist« lautet daher: »It is crucial to acknowledge that people conjoin a (symbolic) meaning to the mobile phone and to their usage. People notice things having a meaningful effect because they apply a specific meaning. Over and above other artefacts, one discovers a separation between the thing (the mobile phone) and what it represents.« (Bertschi 2006c, 244) 3 | Dies stellt keinen Konflikt dar mit dem angestrebten, weitgehenden Ausschluss des Kulturbegriffs. Kultur wird deshalb herangezogen, weil sie mehr über Bedeutung als über Struktur aussagt (siehe schon Kapitel 5.4).

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Zugänge: Technik, Leben, Moral

Das Mobiltelefon kann in metaphorischem Sinne und zunehmendem Masse als »Fernsteuerung« für das Leben verstanden werden (vgl. Bertschi 2007a, 45). Es stellt, mehr noch als das Festnetztelefon, auf welches die folgende Aussage bezogen ist, »eines der effektivsten Mittel zur Weltanbindung vom Reservat [der Sloterdijkschen Blase; S. B.] aus« dar, und dieses besitze ein »doppeltes ontologisches Privileg«: Es übermittelt nicht nur Anrufe (und erzeugt dadurch realen Lärm), sondern bringt »den Angerufenen [. . . ] in eine (als wirklich erlebte) Gleichzeitigkeit mit dem Anrufer«; letzterer »ist immer ein anwesend gemachtes entferntes Leben« (Sloterdijk 2004, 595). Damit sei die wirkliche Nachbarschaft nicht mehr die räumliche, sondern die telefonische, unter anderem ausgelöst durch die zunehmende Mobilität und Vernetzung (siehe schon Fussnote 35 auf Seite 284). Durch eine »Enträumlichung« wird der Radius erweitert. Eine Auflösung und Erweiterung des bestehenden Raums findet statt. Damit gelangen wir wiederum zum Bild der Fernsteuerung, die immer notwendiger zu sein scheint, um Distanzen zu überwinden. Das Bild eines metaphorischen Lärms muss aus dem realen Lärm abgeleitet werden, wie auch das Bild eines imaginären Raums aus dem realen Raum abgeleitet werden muss (das vorhergehende Kapitel hatte dies in Ansätzen gezeigt). Es war Michel Serres, der darauf aufmerksam gemacht hatte, Lärm definiere das Soziale, weil dieser immer auch über die bestehende Bedeutung hinaus auf etwas noch zu Realisierendes, auf etwas, so liesse sich hinzufügen, Emergentes verweise (vgl. Bertschi 2006c, 248). Als Symbol für Beeinflussung, Einmischung oder Störung einerseits und durch das Janusgesicht des Mobiltelefons andererseits,4 produziert dieses – immer zusammen mit seinem Nutzer – metaphorischen Lärm mit kulturellen wie sozialen Auswirkungen (vgl. Glotz et al. 2006). Um dieses Bild noch zu übersteigern, wurde die Metapher des »Gespensts« eingeführt und zur Beschreibung des Mobiltelefons verwendet (vgl. Bertschi 2006c, 249 f.). Es handelt sich dabei, so die Schlussfolgerung dieses ungewohnten Zugangs, um etwas anderes als das reine Gerät oder Max Webers Maschine: Das Mobiltelefon spukt in den individuellen wie sozialen Bereichen des Lebens, da ein Spuk als das Treiben eines Gespensts immer auch mit gewissen Orten oder Menschen verbunden ist, immer einen ganz spezifischen Sinn hat.5 Im Fall des Mobiltele4 | Das Janusgesicht bezeichnet hier die andauernde Debatte, ob das Mobiltelefon nun gut oder schlecht für das einzelne Individuum und für die Gesellschaft insgesamt sei. Ich entziehe mich ihr, indem Jacques Derridas verkürzte Lektüre von Platos »Pharmakon« herangezogen wird: es ist Heilmittel und Gift zugleich (vgl. Bertschi 2007a, 45). 5 | Für eine diesbezügliche Betrachtung des Mobiltelefons als Nabelschnur und als ernstzunehmenden Sozialisationsvermittler vgl. die Beiträge von Hans

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Mobiltechnologie

fons spielt sich der eingegebene, individuelle Sinn über das Gerät und über die Gesellschaft auf das Individuum zurück, vereinfacht gesagt: von Mikro zu Makro. Allerdings scheint die komplexe Wirklichkeit eine solch einfache Beschreibung, wie auch jene obenstehende, in umgekehrter Richtung erfolgende, immer weniger zuzulassen. Wie fruchtbar allerdings die angebotene Metapher ist, sieht man dann, wenn sie auf die Nachfolger des Mobiltelefons, auf zukünftige Gespenster eines mobilen Zeitalters übertragen wird. Jenen mobilen Technologien, die unter den Namen »Pervasive Computing«, »Ambient Intelligence« und, in längerem Zeithorizont, »Nanotechnologie« auftreten, wird nachgesagt, sie schaffen, wenn nicht einen neuen Menschen (vgl. Bertschi 2007a, 46 f.), so doch eine interaktivere (vielleicht sogar intelligente) Umgebung. Es scheint deshalb sinnvoll, hier in Anlehnung an Zygmunt Baumans Liquid Modernity (2000), von einem verschwindenden oder »flüssigen« Computer zu sprechen (vgl. Bertschi 2007b).6 Wird dieser Schritt vollzogen, dann tritt – im Anschluss an die fragliche Entlassung aus der Rigidität von Religion und Tradition (siehe Kapitel 12.3) – eine Plastizität und Flexibilität hervor, die in der Soziologie gespiegelt werden muss (vgl. Gordon 1997, 11, 22 f.), um ein Verstehen zuzulassen. Eine zusätzliche Übersteigerung würde sich ergeben, wenn die Akteur-Netzwerk-Theorie als Explikationsform in Betracht gezogen würde. Bruno Latour schlägt vor, nicht mehr von konkreten Rollen, Handlungen, Kommunikationen, Akteuren und Institutionen zu sprechen, weil dieser Grad der Konkretion sowieso vom Betrachter unterstellt werde, »sondern generell von ›Objekten‹, deren Konstitution, Geser und Richard Harper in Glotz et al. (2006, 25–39, 117–132). In beiden Fällen zeigt sich, dass das Mobiltelefon zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt. Für ein anderes Verständnis eines mobilkommunikativen »Raums« vgl. den Beitrag von Michael Hulme und Anna Truch in demselben Band. – Dieser vermittelnde Sinn meint aber nicht automatisch Faktizität, was gerade für die Soziologie zu einem Problem zu werden scheint: »For sociology, the fictive is our constitutive horizon of error; it is what has been and must be exiled to ordain the authority of the discipline and the truthful knowledge sociology can claim to produce.« (Gordon 1997, 25; vgl. Perman 1978) Auch wenn auf postmoderne Beliebigkeit verzichtet werden sollte, zeigt sich darin (wie schon im Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft; siehe Kapitel 8), dass semiologische Zugänge durchaus ihre Berechtigung haben (vgl. Gordon 1997, 12 f.). 6 | Das Mobiltelefon wie nachfolgende und leistungsfähigere, zunehmend interagierende Geräte (dies betrifft die Maschine-Maschine- wie Maschine-MenschInteraktion und hat Einfluss auf die Mensch-Mensch-Interaktion) werden aus zwei Gründen als »verschwindende Computer« bezeichnet: erstens, weil sie als Selbstverständlichkeit in den Hintergrund treten und kaum mehr wahrgenommen werden (vgl. Bertschi 2006c, 243) und zweitens, weil sie rein physikalisch in immer kleineren Dimensionen gebaut werden können. Bleibt also die Frage, ob mit mobilen Technologien dasselbe passieren wird, wie mit Radioaktivität: eine Auslöschung nicht nur aus dem Raum, sondern aus dem Bewusstsein.

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Zugänge: Technik, Leben, Moral

Reproduktion, Isolierung gegenüber anderen Objekten und Verknüpfung mit anderen Objekten« auszugehen, die Gegenstand der Soziologie seien (Baecker 1996, 14). Wenn neben der Ausweitung auf nichtmenschliche, soziale Akteure,7 auch die Auswirkung dieses Schritts auf ein zukünftiges soziales Zusammenleben in den Blick genommen wird (vgl. Bertschi 2007a, 48; Owens 2007, 582 f.; Callon/Law 1997), dann ist eine pessimistische Sicht weder neu noch fern: »Man wird sich allerdings damit abfinden müssen, dass die Maschine immer mehr Kategorien unseres menschlichen, metaphysischen Selbstverständnisses übernimmt.« (Steinbacher 1971, 46) Die »Maschine« muss im Gegenzug auch von den Individuen kognitiv angeeignet werden; ein Schritt zu dessen Erklärung die Instrumente, zumindest die soziologischen, wenig ausgereift sind (vgl. Owens 2007, 570 ff.). Noch immer scheint es an Einsicht zu mangeln, dass das menschliche Denken und Verhalten einen Gegenstand, zumindest seine »wesentlichen« Züge, konstruiert und dass dessen Bedeutung sich im Handeln – der symbolischen Verlagerung auf den Gegenstand hin – diesem entgegen bringt. Bedenklicher ist jedoch ein anderer Aspekt, der durch die Auseinandersetzung mit einem nicht-menschlichen »Akteur« zutage tritt: dass dasselbe in gleicher Weise für menschliche Akteure und damit für das sinnhaft gerichtete, relationale, sozial-konstitutive Handeln gilt (vgl. Schinkel 2007). Hier könnte ein Rückbezug auf Gabriel Tarde, anstelle von Bruno Latour, hilfreich sein. Das Mobiltelefon wird als Inbegriff eines gespenstischen Artefakts verstanden, als Gegenstand, der weit mehr ist, als »nur« eine Technologie, die das individuelle Handeln und die Gesellschaft verändert. Die Vermittlung, die es leistet, lässt sich nicht entweder auf die Mikro- oder auf die Makroebene einschränken; die Grenzen zwischen Ursache und Wirkung (Effekt) verfliessen, die Verflechtung der Alltagsräume mit medialen Praktiken ist omnipräsent, ohne dass die Gefahr bestünde, sie zu verwechseln (vgl. Latour 2007, 4). Diese Vermittlung »describes the process that links an institution [i. e., society; S. B.] and an individual, a social structure [i. e., object; S. B.] and a subject« (Gordon 1997, 19).8 7 | »The problem that has inspired Latour is that of how to conceive of a universal sociology that is based upon particular cases of interaction, not just between human subjects symbolically, but rather – radically – between all items of relevance in social affairs.« (Toews 2003, 83) 8 | Auf wissenschaftstheoretischer Ebene lässt sich dies folgendermassen weiterführen: Dort treffen wir auf »the disjuncture between identifying a social structure (or declaring its determinate existence) and its articulation in everyday life and thought« (Gordon 1997, 19). Das hiesse in letzter Konsequenz: Die Trennung zwischen beschriebener Selbstbeschreibung des Gegenstands und Selbstbeschreibung kann nicht aufrecht erhalten werden, weil beiderseits Existenzen deklariert werden – oder treffender formuliert: weil beiderseits der sozialen Bedeutung Sinn zugeordnet und Sinn auf eine entstehende Bedeutung (hin) proji-

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12.2

Gemeinschaft 2.0

Das Mobiltelefon, das hier nur ganz vignettenhaft angedeutet wurde, bietet vielmehr die Möglichkeit, Verschiebungen in Bedeutungszuweisung und subjektivem Selbstverständnis zu beschreiben, die sich auf soziales Handeln auswirken. Es geht um den Lärm, d. h. den Sinn und die Bedeutung, den ein Gespenst wie das Mobiltelefon – als mediale Praktik und damit als emergentes Handeln – in den einzelnen Köpfen und ihrer Kultur, geschweige denn ihrer Gesellschaft hervorruft.

12.2 Gemeinschaft 2.0 Den Gegenstand dieser Betrachtung bilden so genannte »Gated Communities«, geschlossene und mehrheitlich bewachte Wohnsiedlungen, die vor allem in den USA rege Verbreitung finden.9 Entwickler und Vermarkter dieser Siedlungsform haben früh die romantische und nostalgische Konnotation von Gemeinschaft bemüht, die in deren Namen enthalten ist (vgl. Blakely/Snyder 1997, 31). Diese soziale Form befindet sich auf der Mesoebene und soll im Folgenden aus zwei Richtungen beleuchtet werden: aus Sicht der Makroebene, die eine solche Form möglich, allenfalls notwendig macht und aus Sicht des Individuums oder Bewohners, der in dieser Gemeinschaft lebt. Die Kapitelüberschrift bezieht sich auf das so genannte »Web 2.0«, die zweite Generation des »World Wide Web«, die als partizipativ beschrieben wird, weil die Nutzer nicht mehr nur Inhalte konsumieren, sondern solche selbst zur Verfügung stellen, kommentieren etc. Dieses Geben und Nehmen scheint auch für eine neue Form der Gemeinschaft und des Zusammenlebens innerhalb der Gesellschaft zunächst Programm zu sein. Obschon die Ursache und die innere Organisation dieser Siedlungsform einen ausgeprägt neoliberalen – d. h. gesellschaftlichen – Charakter hat, ist sie dem Namen nach Gemeinschaft. Es erstaunt deshalb wenig, dass das Phänomen der Gated Communities nur im Verbund mit modernen Stadtregionen denkbar ist (vgl. Friedrichs 1995, 18), denn besonders Grossstädte markieren durch soziale Schichtung und Heterogenität die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. Tönnies 1979, 211; Ellison/Burrows 2007).10 Das Interesse gilt vor alziert werden muss (eine ähnliche Situation zeigt sich auch in den beiden folgenden sozialen Topologien). 9 | Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine gekürzte, frühere Auseinandersetzung mit dem Thema (Bertschi 2006d; 2006a), die in neuer Richtung ergänzt wurde. 10 | Neben der Heterogenität ist auch die Suburbanisierung der Stadtregion erwähnenswert (vgl. Scott et al. 2001, 14). Während vom ersten Aspekt – der unmittelbaren Nähe von Arm und Reich – vor allem Länder wie Brasilien betroffen sind (vgl. Caldeira 1996, 313; Wehrheim 2002, 199; Messner 1997), zeigt sich der zweite, der so genannte »Urban Sprawl«, vor allem in den USA.

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lem einer »neuen« Form der Trennung, der ökonomischen Segregation (vgl. Jargowsky 2004, 141). Gated Communities sind durch die Abgrenzung unweigerlich mit dem so genannten Inklusions-/Exklusionsproblem verbunden (vgl. Bohn 2006, 8). Zentral für den vorliegenden Kontext ist allerdings, dass es sich bei diesem Phänomen mehr um einen »Einschluss« als um einen »Ausschluss« handelt (vgl. Lang/Danielsen 1997, 879 ff.). Ausgeschlossen wird im selben Zuge nicht der Andere, sondern vor allem die Unsicherheit (vgl. Lang/Danielsen 1997, 868). Begeben wir uns zu diesen realen wie metaphorischen Mauern des 21. Jahrhunderts, dann wird sichtbar, dass eine Ökologie des Bösen und der sozialen Angst die Unsicherheit anwachsen lässt und den Ausschlag gibt (vgl. Davis 1990, 4 ff.; Caldeira 2000, 373). In den Gated Communities zeigt sich daher eine Verlagerung von sozialer auf physische Sicherheit (vgl. Wehrheim 2002, 20). Weil die Sicherheit von der öffentlichen Hand anscheinend oder tatsächlich nicht mehr gewährleistet wird, findet eine Flucht in »befestigte Enklaven« statt (vgl. Lang/Danielsen 1997, 887). Durch diese Flucht erfolgt eine zunehmende »Verinselung der Stadt« (vgl. Marcuse 1989), ein Nebeneinander von Inseln des Wohlstands und Inseln der Armut (vgl. Caldeira 1996, 319; 2000, 248 f.).11 Neu hieran ist eine Form der Segregation, die ihr Motiv im ausschliesslichen Wunsch nach individueller Sicherheit und Schutz ökonomischer Werte findet. An Stelle der sozialen Sicherheit tritt das Bedürfnis nach einer manifesten Abgrenzung: Gated Communities umfassen selbst verwaltete Wohngebiete mit individuellem Wohneigentum bzw. Nutzungsrecht, in denen der öffentliche Raum (Strassen, Parks etc.), allgemeine Einrichtungen (für Freizeit etc.) und Dienstleistungen (Unterhalt, Verwaltung etc.) privatisiert sind. Sicherheitseinrichtungen (wie eine besetzte Pforte und Umzäunung) beschränken den Zutritt auf Bewohner und ihre Gäste (vgl. Blakely/Snyder 1997; Glasze 2003). Abhängig von Grösse und Art der Wohnkomplexe, haben die Bewohner nicht nur ihr Privatleben, sondern auch Teile des öffentlichen Lebens in diese privaten Enklaven verlegt.12 Während sich die Räume der Wohlhabenden 11 | Während es schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts private LuxusKommunen gab (vgl. McKenzie 1994, 9), hat sich hier die Quantität und Qualität massgeblich verschoben. – Mittlerweile wird ein umgekehrtes Vorgehen sichtbar: Indem öffentliche Kommunen zur Gründung privater Verwaltungen und zum Bau von Mauern drängen, versuchen sie, ihren eigenen Haushalt zu entlasten, im Zweifelsfall auch gegen den Willen der Bewohner (vgl. McKenzie 2005). 12 | In das American Housing Survey (AHS) von 2001 wurden erstmals zwei spezifische Fragen zu den Gated Communities aufgenommen (vgl. Sanchez et al. 2005, 284). Dabei gaben sieben Millionen Haushalte an, sie würden hinter Mauern oder Zäunen liegen. Vier Millionen Haushalte bestätigten, dass der Zugang technisch oder durch Wachpersonal gesichert sei. Zur Jahrtausendwende lebten geschätzte 16 Millionen US-Amerikanerinnen und -Amerikaner in Gated

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zuschliessen und nach innen richten, bleiben jene ausgeschlossen, die es sich nicht leisten können einzutreten. Diese Entwicklung ist auf eine wirtschaftsliberale Steuerung der Stadtentwicklung, auf einen neuen Klassenkampf auf Ebene der gebauten Umgebung, auf die »Reaganomics« der 1980er Jahre zurückzuführen. Sie haben den Prozess hin zu Gated Communities unweigerlich beschleunigt (vgl. Glasze 2003, 80 f., 88 ff.; Davis 1990, 223 ff.; Low 1997). Zentrale Gründe für die Entstehung geschlossener Wohnsiedlungen und Appartementanlagen sind neben dem Staatsversagen, der Wahrung ökonomischer Interessen und der Sicherheitsfrage (vgl. Sanchez et al. 2005, 283; Siebel/Wehrheim 2003, 8), auch der Ausdruck von Prestige und Exklusivität sowie die Identifikation mit einem homogenen Wohnumfeld (vgl. Gmünder et al. 2000, 194; Friedrichs 1995, 93). Die Mauer bildet nicht nur eine physische, sondern auch eine metaphorische Grenze (vgl. Lang/Danielsen 1997, 870). Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass sich deutlich mehr Mietobjekte in geschlossenen Siedlungen befinden und deutlich mehr einkommensschwache Personen darin wohnhaft sind, als gemeinhin angenommen: »Downscale gated communities offer security as a more pragmatic response to high crime in comparable nongated neighborhoods« (Sanchez et al. 2005, 290). Dabei zeigt sich eine bedenkliche Segregation der bereits Segregierten. Jene, die es sich leisten können, schotten sich sogar innerhalb sozial schwacher Wohnviertel von jenen ab, die dazu nicht in der Lage sind. Die einhergehende Spaltung stellt Werte wie Solidarität und Gemeinschaft radikal in Frage, und zeigt vor allem für den Fall der USA, dass den individuellen Freiheitsrechten einen höheren Wert zugesprochen wird als der gesellschaftlichen Solidarität (vgl. Gmünder et al. 2000, 201; Glasze 2003, 82). Dieser Einfluss kulminiert in einer Entgegensetzung von räumlicher Ordnung und Unordnung (vgl. Blandy 2007), die das soziale Gefüge, das Zwischenspiel von Individuum und Gesellschaft, verändert. Zugleich tragen Gated Communities viele Charakteristika, die dem traditionalen Gemeinschaftsmodell zugeschrieben werden. Die traditionale Gemeinschaft war homogen und basierte auf dem Ausschlussprinzip, sie war auf geringen Wandel angelegt, verlangte ein hohes Mass an Konformität, war ablehnend gegenüber Fremden und schnell bereit, den Kontakt gegen aussen hin abzubrechen, also eher nach Communities (vgl. Low 2003, 15). Mittlerweile finden sich in den USA ganze Städte, die sich selbst eingeschlossen haben, doch erst einige wenige private Kommunen verfügen über den autonomen Status einer Stadt. Durch umfassende Einrichtungen findet hier ein grosser Teil des sozialen Lebens innerhalb der Siedlung statt (vgl. Gmünder et al. 2000, 198 f.; Blakely/Snyder 1997, 26). In Grossbritannien und Deutschland beschränkt sich das Phänomen wie in Südamerika vor allem auf bewachte Appartementanlagen, die einer wohlhabenden Klientel vorbehalten sind (vgl. Glasze 2003, 86; Atkinson/Flint 2004).

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innen gerichtet und orientierte sich an einer egalitären Ideologie (vgl. Gardner 1995, 167). Die Mauer der Gated Community bringt dasselbe zum Ausdruck: Sie wendet sich historisch gegen ein Draussen und schützt das Innere, nimmt eine Ausgrenzungsfunktion wahr. Dies lässt auch an die Globen Peter Sloterdijks denken, die ihre Mauern verloren haben, nur um sie jetzt wieder zu gewinnen. Gemeinschaften – und dazu zählt auch diese Form einer »Gemeinschaft 2.0«, einer in jedem Sinne posttraditionalen Gemeinschaft – können allgemein definiert werden als »Gewebe oder Netz von sozialen Beziehungen, die gemeinsame Zwecke und Werte beinhalten.« (Reese-Schäfer 2001, 139; Hervorhebung S. B.) In Gated Communities sind diese Zwecke und Werte allerdings von den sozialen Beziehungen befreit und noch enger an ein räumliches Verhältnis gebunden; dies nur schon durch die klar definierte Umgrenzung. Wenn zudem die Aussage zutrifft, dass sich sozialer – d. h. symbolischer – Raum durch physi(kali)schen Raum ergebe, dann wird diese Logik bei Gated Communities umgedreht: »Der soziale Raum weist [im besonderen hier; S. B.] eine Tendenz auf, sich [. . . ] im physischen Raum in [der] [. . . ] Anordnung von Akteuren und Eigenschaften niederzuschlagen.« (Bourdieu 1991, 25) Werte und soziale Position überschneiden sich dann in beiden Räumen – allerdings in eigenwilliger Weise. Besonders interessant an diesen selbstverwalteten Kommunen sind die starren Regelwerke, die den Werterhalt garantieren sollen (vgl. Sanchez et al. 2005, 283). Sie bestimmen mitunter nicht nur die Farbe des Hauses oder der Vorhänge, sondern üben direkteren Einfluss auf das tägliche Zusammenleben aus (vgl. McKenzie 1994, 13, 129). Ein Beispiel bieten die so genannten »over 55«-Communities, welche nur Bewohner oberhalb der Altersgrenze von 55 Jahren zulassen. Selbst vor Gericht wurde einem Rentner nicht zugestanden, dass seine wenige Jahre jüngere Ehefrau in derselben Community leben durfte (vgl. Wehrheim 2002, 182). Der Zusammenhalt – und das heisst hier: das homogene Wohnumfeld – wird durch Regeln erzwungen, die selbst kaum mehr gestaltet werden können. Diese Regelwerke haben durchaus nachgefragte Vorteile: Mit einem Nachbarn, der seinen Rasen nicht mäht oder mit lauten Familienfesten und falsch geparkten Autos müssen sich die Bewohner nicht herumschlagen; ein Anruf beim Manager genügt meist (vgl. McKenzie 1994, 142 f.; Lang/Danielsen 1997, 872 f.). Normen als Mittler zwischen Individuum und sozialem Umfeld sind hier auf eine formalistische Spitze getrieben. Ohne solches Vorwissen dürfte angenommen werden, dass Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl innerhalb einer Community – durch den Charakter traditionaler Gemeinschaften mit Zusammenhalt und Partizipation – grösser ist als ausserhalb. Hauseigentümergemein-

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schaften wären eigentlich eine ideale Grundlage für Gemeinschaft (vgl. Blakely/Snyder 1997, 34). Allerdings hat sich herausgestellt, dass der Gemeinschaftsgedanke in Gated Communities nicht ausgeprägter ist als in anderen Siedlungen auch (vgl. Blakely/Snyder 1997, 163 ff.). Bewohner mit höherem Einkommen legen sogar weniger Gemeinschaftsgefühl an den Tag als jene ausserhalb von Gated Communities (vgl. Wilson-Doenges 2000, 607 ff.; Low 2003, 57). Die Homogenität der Bewohner garantiert nicht zwangsläufig mehr und bessere nachbarschaftliche Kontakte – eher im Gegenteil. Es hat sich zwar herausgestellt, dass sich die Menschen eine vertraute Umgebung, eine Gemeinschaft wünschen, vielfach aber nur, solange sie sich nicht selbst aktiv beteiligen müssen. Etliche Neuzuzüger sind enttäuscht, weil sie nicht den gewünschten und erhofften Gemeinschaftssinn vorfinden: Eileen Aiello bedauert beispielsweise, dass sie kaum jemanden in der Community kennt und sich meist einsam fühlt. Sie erwähnt auch, dass viele Bewohner nicht an den Versammlungen teilnehmen, ein Gemeinschaftsgefühl fehlt und sie deshalb am liebsten wieder ausziehen würde (vgl. Low 2003, 66 ff.). Die Bezüge zu Tönnies’ Definition von Grossstadt und Gemeinschaft treten hier klar zu Tage (siehe Seite 271). Auch in Gated Communities stehen sich die Bewohner an einem gemeinsamen »Ort« gegenüber, der in keiner Weise mehr ausschliesslich auf Wesenwillen gründet. Zuweilen reicht dies soweit, dass selbst die erwähnten Kontakte »im Verkehre« nicht mehr stattfinden, was dem künstlichen Charakter geschlossener Wohnsiedlungen geschuldet ist. Die Auswirkungen enden jedoch nicht an der Mauer. Künstlich gebaute Gemeinschaften können auf Kosten der umliegenden Region gehen, indem beispielsweise ohne Rücksicht versucht wird, die eigene Steuerlast zu senken (vgl. Lang/Danielsen 1997, 873). Gated Communities tragen die »Community« vor allem als Verkaufsargument im Namen (vgl. Blakely/Snyder 1997, 18, 29; Glasze 2003, 77).13 Es zeigt sich, dass diese Siedlungsform eine Hybride zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft darstellt. Diese Hybride hat zwar den Wunsch, Gemeinschaft zu sein, teils in der Strategie der Entwickler und Vermarkter, teils in den Sehnsüchten der Bewohner, kann diesen Kriterien aber nicht genügen. Frühere informelle Prozesse sozialen Austauschs sind hier nun formalisiert (vgl. Lang/Danielsen 1997, 873). 13 | Die Gemeinschaft, wie sie sich in Gated Communities präsentiert, ist sachlich, institutionalisiert und rational orientiert (vgl. Wehrheim 2002, 181). Sie strebt ein gemeinsames Ziel an, welches ein Individuum alleine nicht erreichen kann. In Ferdinand Tönnies’ Terminologie liesse sich diese Form als »gesellschaftliche Gemeinschaft« bezeichnen (vgl. Opielka 2004, 21). Gated Communities bieten eine gebaute Gemeinschaft ohne Gemeinschaft. Auf theoretischer Ebene könnte von »kollektiven Subjektivitäten« gesprochen werden (vgl. Vandenberghe 2007a).

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Eine Gemeinschaft, die sich auf Rechtsverträge und nicht auf Sozialkontakte gründet, in der jegliche Ausprägung rational vollzogen wird, kann allerdings weder in traditionellem noch in neuem Verständnis länger eine Gemeinschaft sein. Die ambivalente Moderne, die sich in diesem Modell spiegelt, lehrt uns eindringlich die vorherrschenden Mischungsverhältnisse und Wechselbeziehungen. So lässt sich festhalten, »gated communities operate by an implicit social contract – they serve to minimize unsolicited social contact.« (Lang/Danielsen 1997, 874) Diese paradoxe Formulierung verweist direkt auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft: Der öffentliche Raum wird privatisiert (vgl. Glasze 2001, 174); eine räumlich gebundene Gemeinschaft konstruiert. Deshalb sollte eher von einer »Disziplinierung der Bürger« durch Regeln gesprochen werden, mit dem unverwirklichten Ziel der Integration in eine »Gemeinschaft« (Blakely/Snyder 1997, 190). Dabei ist nicht vorgesehen, dass die Bewohner jenseits der vertraglichen Regelung Verantwortung übernehmen können oder sollen. Das Öffentliche und das Private verkehren sich und verschmelzen in der Delegation an ein privatwirtschaftliches Management. An der Schnittstelle von sozialer Ordnung und Unordnung kann deshalb von einer gebauten Ordnung gesprochen werden, die das Verhältnis von Individuum und »Gesellschaft« (in diesem Falle ausgesprochen mehrdeutig interpretierbar) regelt. Folglich scheint die Bezeichnung einer »verinselten Vergesellschaftung« sinnvoll. Vor allem durch die US-amerikanische Dominanz des Autoverkehrs, der Supermärkte und monofunktionalen Wohnsiedlungen ändert sich die Organisation des Nebeneinanders seit den 1970er Jahren vielfältig und nachhaltig (vgl. Löw 2001, 82). Somit wandelt sich vor allem die räumliche Sozialisation: »Es entsteht eine ›verinselte‹ Vergesellschaftung, die Raum als einzelne funktionsgebundene Inseln erfahrbar macht, die über schnelle Bewegung (Auto fahren, öffentliche Verkehrsmittel) verbunden sind und durch Syntheseleistungen zu Räumen verknüpft werden.« (Löw 2001, 265)

Durch Gated Communities zeigt sich, dass die »time-space trajectories« der Bewohner auf ein »dynamic pattern of separation [hinweisen] that goes beyond the place of residence« und zugleich »an extreme example of more common attempts [. . . ] to insulate against [. . . ] unwanted encounters« darstellen (Atkinson/Flint 2004, 875). Dies erinnert in hohem Masse an Richard Sennetts Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: Dort findet sich die Aussage, »the attempt to form community [d. h. der städteplanerische Versuch, einen sense of community zu erzeugen; S. B.] deflects attention from those [larger political] structures [of the society].« Und anschliessend: »[T]he more people are plunged

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into these passions of community, the more the basic institutions of social order are untouched«, was zu einem »disordering of society« führen könne (Sennett 1977, 309). Auch wenn hier noch von imaginären Mauern zwischen Gemeinschaften die Rede ist, zeigt sich ein Paradox, das heute umso stärker wirkt: Während einerseits gilt, dass »[i]n a society of atomized social spaces, people are always afraid that they will be cut off from each other«, gilt andererseits und zugleich, »that people can be sociable only when they have some protection from each other; without barriers, boundaries [. . . ] people are destructive.« (Sennett 1977, 309 ff.) Die erspürte Antwort, eine konstruierte Gemeinschaft, wird als »collective personality« gesehen; diese »comes to be set against the very essence of sociability – exchange – and [. . . ] becomes at war with societal complexity.« (Sennett 1977, 311) In gewissem Sinne darf deshalb gelten: »the point of having your own object world, and walls and muffled distance or relative silence all around you, is to forget about all those innumerable others for a while.« (Fredric Jameson zit. in Gordon 1997, 16 f.; Hervorhebung S. B.) Nach der Flucht vor unerwünschten Nachbarschaften (vgl. Siebel/Wehrheim 2003, 11), der vorhergehenden und damit einhergehenden Verunsicherung, Orientierungslosigkeit und sozialen Destabilisierung, stellt sich heraus, dass innerhalb nicht viel anders ist als ausserhalb – nur der Umgang damit entspricht anscheinend der modernen Begehrlichkeit nach einer neuen (problematischen) Gemeinschaft einerseits und einer damit unvereinbaren Ruhe und Freiheit andererseits. Der resultierende, neoliberale Urbanismus »has been paradoxically characterized by the simultaneous celebration of diversity [. . . ] and increasing isolation, boundaries, and separation between social groups« (Walks 2006, 471; Hervorhebung S. B.). Ein gesellschaftliches Eingreifen scheint immer schwieriger zu bewerkstelligen. Die noch von Georg Simmel beschriebene Möglichkeit, auf den Fremden zu treffen, wird immer seltener. Deshalb muss von »social ›tectonics‹ rather than social interaction« gesprochen werden (Walks 2006, 472). Da sich das harmonische Zusammenfügen von Einzelteilen einer architektonischen »Tektonik« für die Erklärung hier nicht anbietet, bleibt die mit demselben Wort beschriebene geologische Reibung der Erdplatten übrig. Sie bietet sich geradezu an, um dieses Phänomen zu fassen. Trotz der vorsätzlichen Vereinfachung durch Formalisierung und Delegation – und ähnlich schon der sozialen Topologie des Mobiltelefons – lässt sich die Form der Gated Communities weder auf das Individuum (Bewohner) noch auf die Gesellschaft (umgrenzte Gemeinschaft und weiteres Umfeld) reduzieren. Die neoliberale »Freisetzung« des Individuums hat in eine Abhängigkeit geführt, in der das Verhältnis zur Gesellschaft äusserst formalisiert ist. Der notwendige Mittler – in diesem

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Fall Werte, Zwecke und Normen zusammengenommen – zeigt den relationalen Charakter und zugleich ein Drittes, das als imaginärer Raum nicht menschlich ist (vgl. Amin 2007, 112). Die Logik dieses emergenten Phänomens, die sich aus dem Zusammenspiel ergibt und zu manifesten Ordnungen führt, offenbart eine spezifische Ausprägung der Mesoebene und damit des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Damit wurde eine zweite soziale Topologie vorgestellt, in welcher von Mikro- und Makroebene zugleich auf ein Dazwischen eingewirkt wird. Wie sich zeigt, sind Gated Communities »part of a deeper social transformation« (Blakely/Snyder 1997, vii) und tragen entsprechende Bedeutung. Diese Betrachtung ist deshalb möglich, weil sie dadurch ihre eigene Komplexität stets mit sich führen.

12.3 Religion Obschon Religion intuitiv nicht unmittelbar mit der Makroebene in Beziehung gesetzt wird – ist sie doch in erster Linie eine höchst persönliche Angelegenheit –, zeigte schon die frühe »Anti-Moral« eines Homo homini lupus est (bekannt durch Thomas Hobbes’ Leviathan) die grundlegende Funktion für den Gesamtzusammenhalt an.14 Es geht in dieser »Vignette« um eine moralisch geformte Makroebene, die vom Individuum aus betrachtet wird. Ausgehend davon, dass »der Religionsbegriff nicht weniger komplex und problematisch wie der Gesellschaftsbegriff« sei (Steinbacher 1971, 82; vgl. Pollack 1995; Beyer 2003), bietet sich ein sprachliches Herangehen an. Dabei zeigt sich zuerst, dass das Wort »Religion« aus dem lateinischen religio für »gewissenhafte Berücksichtigung, Sorgfalt« entlehnt ist. Die meisten etymologischen Wörterbücher, so auch Kluge (2002, 757), führen religio zurück auf das lateinische Verb relegere für »bedenken, achtgeben«. In diesem Sinne – als »gewissenhafte Beachtung von Vorzeichen und Vorschriften« (Kluge 2002, 757), d. h. kultischer Regeln und Überlieferungen – wurde es schon in der Römischen Republik benutzt (vgl. Hoyt 1912, 127). Der unsichere Ursprung des Wortes religio wird jedoch schnell offensichtlich: Eine zweite Ableitung führt dieses zurück auf das lateinische Verb religare für »anbinden, zurückbinden, an etwas festmachen« und damit verstanden als Rückbindung an einen höheren Ursprung (vgl. Hoyt 1912, 126). Die mittelalterliche Entlehnung ins Deutsche wie auch Bestrebungen in anderen Sprachen nehmen allerdings die erste, an relegere angelehnte Bedeutung wieder auf: »If all points are carefully considered, Cicero’s view would seem 14 | Interessant ist dabei der weitere Zusammenhang dieses Zitats bei Titus Maccius Plautus: »Lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.« (Asinaria, 495) Mensch sei nur, wer wisse, welcher Art – wie – der Andere ist.

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to be preferable, so that religion is not derived from religare, but from relegere.« (Hoyt 1912, 128) Doch gerade die Konnotation von Religion zu »Rückbindung« lässt interessante Interpretationen zu, denn dabei kommt die Frage auf, was zurückgebunden oder wieder zusammengeführt werden sollte. Eine mögliche Antwort wäre: Individuum und Gesellschaft. Religion kann dann als »re-ligio« verstanden werden, als Rückbindung an Gott und zugleich an die Gruppe, die (zusammen mit mir) an Gott glaubt. Allgemein formuliert ginge es um die Rückanbindung des Menschen an einen (göttlichen) Urgrund oder Ursprung. Als Rückbindung ist Religion eine persönliche Erfahrung, die sich nach aussen nicht abbilden und deshalb auch nicht von dort reglementieren lässt. Trotz dieser unsicheren Lage, »fand das Mittelalter Verlass in der Religion, die, von der Kirche institutionell gehütet, dem Menschen einen festen Platz in der Weltordnung und damit einen Fixpunkt geistiger und moralischer Orientierung gab.« (Tenbruck 1979, 412; Hervorhebung S. B.) Eine heutige, »säkulare Gesellschaft, welche nicht nur letzte Sinndeutungen freistellt, sondern überhaupt dem Pluralismus Raum gibt«, braucht trotzdem öffentliche Werte, die im Gegensatz zu gesetzlichen Normen nicht politisch, sondern nur kulturell – als säkulare Nachfolge der Religion – erzeugt werden können (Tenbruck 1979, 419). Es liesse sich vorläufig sagen, dass Religiosität, als Anwendung der Religion oder Kultur, »eine zumindest vereinfachende Interpretation der vorgefundenen Welt auf der Basis relativer Bewusstheit darstellt.« (Steinbacher 1971, 82) Im Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft haben wir es »mit einem Kompendium sozial-kultureller Einstellungen hinsichtlich der Mysterien einer unverstandenen Welt zu tun.« (Steinbacher 1971, 87) Religion ist dann »ein Versuch des Menschen, sich mit dem Fremden, Schicksalhaften und Feindlichen der Welt nicht abzufinden« und reflektiert »das menschliche Verlangen nach erfahrbarem Sinn, nach konkreter Wahrheit« (Bahr 1975, 60). Sie hat ihren »Ursprung in konkreten Erfahrungen biografischen Scheiterns« und ist »angesichts dieser unbeseitigbaren Unerklärlichkeit eigenen biografischen Scheiterns gleichsam eine Pauschalversicherung.« (Schimank 2002, 252) Allerdings wird gerade in der säkularisierten moderne Gesellschaft das Individuum »in die Selbstbestimmung hinein[geworfen]. [. . . ] Jeder ist nicht nur gegenüber anderen, sondern vor allem gegenüber sich selbst für sein Leben selbst verantwortlich.« Alle Aspekte psychologischer wie sozialer (soziologischer) Verortung »müssen ohne Rückgriff auf religiöse Deutungsangebote und Handlungsempfehlungen mit eigenen Mitteln [. . . ] verarbeitet werden«, um schliesslich einen Lebenssinn zu ergeben (Schimank 2002, 253). Das heisst auch: »If the world is reduced to a reality of profane objects,

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transcendence can be viewed only in a negative form – as the void of meaning.« (Giesen 2005, 283; vgl. Besecke 2005) Diese Sinnleere – oder vielleicht trefflicher: Bedeutungslücke – verweist auf einen imaginären Raum, der gefüllt werden muss. Damit wird eine dritte soziale Topologie eingeführt, in welcher das Handeln augenscheinlich von der Mikro- auf die Makroebene gerichtet ist, aber nicht alleine auf diese Reihenfolge zurückgeführt werden kann. Religion entspricht der »traditionale[n] Welterklärung und Handlungssteuerung« schlechthin, indem sie »die Einheit von Mensch einerseits und sozialer Welt und Natur andererseits« zusammenhält, entgegen den Kontingenzen und Sinnproblemen eine »sinnhafte Orientierung und affektuelle Stütze« bietet, Denken und Handeln reglementiert und damit den »Aufbau komplexerer sozialer Ordnung« ermöglicht (Di Fabio 1991, 50). In einer posttraditionalen sozialen Umwelt hingegen, scheint die Religion – und mit ihr vor allem die Kirche als Institution – immer mehr eine untergeordnete Rolle zu spielen.15 Dennoch lässt sich festhalten: Die Religion bietet einen besonderen Zugang, insbesondere durch ihre zunehmende Absenz und die Säkularisierung der Gesellschaft, die beide kaum mehr mit der Idee in Verbindung stehen, eine »ordinary social reality is constituted by referring to something extraordinary that transcends the sheer positivism of rules, order, and structure« (Giesen 2005, 275). Religion kann zunächst als eine »Sinnform« verstanden werden. Während eine soziologische Bestimmung »Religion als moralische (und damit soziale) Tatsache« bezeichnet, so beispielsweise bei Emile Durkheim, beschreibt eine phänomenologische, »wie Sinngehalte als Religion« erscheinen (Luhmann 1996, 4 ff.). Im ersten Fall zielen sowohl Religion wie Moral auf die »Gesellschaft als umfassendes System«; es wird der »Bereich des Sakralen nach spezifisch religiösen Formen ab[gefragt].« (Luhmann 1996, 4; Hervorhebung wurde weggelassen) Im zweiten Fall geht es um die »Bestimmung des Heiligen als des Numinosen«, um »Aussagen [. . . ], die für jedes empirische Bewusstsein gelten«, allerdings mit dem daran anschliessenden »Problem: wie [. . . ] ein Beobachter Religion in einer Weise [unterscheidet], die auch für andere Beobachter gelten kann« (Luhmann 1996, 6). Vereinfacht gesagt, geht es im soziologischen Fall um eine »holistische« Sicht, im phänomenologischen um eine »individualistische«, wobei nicht geklärt ist, 15 | Diese Entwicklung wird zuweilen auch polemisch kommentiert: »Inzwischen haben die Apparatkirchen selbst, die reformatorischen wie die römische, eher subkulturellen Charakter angenommen« (Sloterdijk 1998, 628; vgl. Luhmann 2000, 51). Für die vorliegende Darstellung soll der Hinweis genügen, dass eine kirchenferne Religiosität weniger (vgl. Voas/Crockett 2005, 24; Smith 2003, 101 ff.), eine als Spiritualität (auch Esoterik) definierte Religion kaum betroffen ist (vgl. Besecke 2001, 367 f.; 2005).

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wie sich das Individuum »feststellen« lässt (siehe schon Kapitel 4.5).16 Die systemtheoretische Antwort muss die »Sinnform Religion« von ihrem Sinnbegriff her bestimmen, der die »Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit« darstellt und selbst nicht beobachtet werden kann (vgl. Luhmann 1996, 8 ff.). Sinnstiftende Bewusstseinsleistungen werden über den Grad der Anschlussfähigkeit – auch: Verweisung – bestimmt, die sie bereithalten. Durch Religion als »Form[. . . ] des Mediums Sinn« wird vorübergehende Stabilität erzeugt (vgl. Luhmann 1996, 10 ff.). Die systeminterne Unterscheidung zwischen Selbstreferenz oder »Worten« (und vorausgehenden Gedanken) und Fremdreferenz oder »Dingen« erlaubt, auf etwas Bezeichnetes zuzugreifen und »auf beiden Seiten [d. h. des Systems und der externen Umwelt; S. B.] anschlussfähig zu sein.« (Luhmann 1996, 15) Doch wird nicht von einem subjektiven Bewusstsein ausgegangen (siehe Kapitel 9.3). Zudem kann die Beobachtung, die den Vorgang erlaubt, selbst nicht beobachtet werden und dies wird als »Ausgangspunkt der Probleme [vermutet], die dann als Sinnformen der Religion behandelt« werden. Diese »Unbeobachtbarkeit« kann allerdings »als Sinngebungsaufforderung [. . . ] eingeschlossen werden«; das Ausgeschlossene wird innerhalb eines als Voraussetzung unterstellten imaginären Raums oder Mediums eingeschlossen (Luhmann 1996, 17 f.; vgl. 2000, 42). Religion heisst dann nicht Sinn als Bedürfnisbefriedigung etc., sondern als Form, als Unterscheidung, vor allem aber als Unterscheidungsleistung (vgl. Luhmann 1985). Weil religiöser Sinn verweisungsoffen ist, kann ein »es ist eben so« mit Sicherheit postuliert werden (Luhmann 1996, 21). Für den Moment (und nur für diesen) ist es so (und nicht anders). Religion wird dadurch »ausschliesslich als kommunikatives Geschehen auf[ge]fass[t]«, das auf vorausgehende und mitwirkende Bewusstseinsprozesse angewiesen ist, aber nicht als »Bewusstseinszustand der Beteiligten« erzeugt wird (Luhmann 1996, 23 f.; vgl. 2000, 53). Da es sich dabei »immer nur um eine [system]interne Konstruktion« handelt, kann der frühere Vorwurf, Luhmann (1996, 27) würde vor allem auf Selbstreferenz abzielen, wiederholt werden (vgl. Luhmann 1985, 6 ff.; 2000, 48 f.). Allerdings wird am Beispiel der Religion als Sinnform sichtbar, dass diese (in Abwesenheit von Beobachtung) möglicherweise »Sinnvertrauen entwickeln« kann (Luhmann 1996, 28; vgl. 1985, 8 f., 16). Daran wird sichtbar, dass es bezüglich der Sinnverweisungen »weder einen absoluten Anfang noch ein absolutes Ende« gibt (Luhmann 1996, 31), und es darf fernerhin vermutet werden, dass diese weder der einen Seite (psychisches oder soziales System) noch der anderen Seite (Umwelt) alleine zu16 | Dabei zeigt sich auch das Problem einer notwendigen Unterscheidung von Intersubjektivität und Interobjektivität (vgl. Luhmann 1996, 7, 10; Latour 2001a).

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geschlagen werden dürfen. Schliesslich scheint das Verständnis von Religion als Sinnform vor allem dazu geeignet, Religion als Moral zu fassen. Während das Mobiltelefon und die Gated Communities als »kulturelle Artefakte« eine grössere Nähe aufweisen, verfügt Religion über einen ganz anderen Charakter. Im Gegensatz zu den zwei anderen »Mittlern« an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft, handelt es sich bei der Religion nicht um einen »Gegenstand«, der sichtbar, geschweige denn greifbar wäre. Vielmehr lässt sie sich »als ein System von allgemeinen Wahrheiten definieren, die eine Charakterveränderung bewirken« (Whitehead 1990, 14 f.). Weil Leben »zunächst ein inneres Faktum [ist] [. . . ] und dann erst eine äussere Tatsache, die sich auf andere bezieht« und weil die äussere Lebensführung zwar durch die Umwelt bedingt ist, aber ihren Wert von dem inneren Leben bezieht, kann Religion als »die Kunst und die Theorie des inneren menschlichen Lebens« aufgefasst werden. Eine solche Auffassung leugnet die Theorie, »Religion sei primär eine soziale Tatsache«. Obschon sich »die Gesellschaft nicht vom Menschen abstrahieren« liesse, würde diese – trotz kollektiver Gefühle – »die schreckliche elementare Tatsache unberührt [lassen], das menschliche Wesen nämlich, das bewusst um seiner selbst willen mit sich allein ist.« (Whitehead 1990, 15) Religion wird zu dem, was das Individuum aus sich selbst – in Richtung auf die Gesellschaft und zur Erklärung dieser – macht. Religion kann nicht ausschliesslich als soziale Tatsache und gesellschaftliches Phänomen, sondern muss vordergründig als innere und individuelle Ausprägung aufgefasst werden. Diese Sicht erlaubt es, Religion vom Individuum her auf die Gesellschaft gerichtet zu denken. Obwohl ein zentrales Moment wie Moral »internalisiert« und sozialisiert sein muss, zeigt sie sich erst im Zusammenspiel mit anderen Personen, dem grösseren Ganzen, sei es die Gemeinschaft oder die Gesellschaft. Dafür braucht es »einen historisch vermittelten Religionsbegriff, der gleichwohl die Gleichsetzung von Religion und kirchlicher Institution überwindet.« (Daiber 1983, 15) Ein solcher soziologischer Umgang spiegelt zugleich einen gesamtgesellschaftlichen Bewusstseinswandel wider (vgl. Daiber 1983, 15 f.). Dass eine Religionssoziologie geeignet scheint, »gesellschaftliche Lagen reflexiv zu durchleuchten« (Daiber 1983, 17), haben schon die Gründungsväter und dabei insbesondere Georg Simmel erkannt (vgl. Krech 1998). Sie haben »Soziologie über weite Strecken als Religionssoziologie betrieben« (Gabriel/Reuter 2004, 14). Im Falle von Simmel wird »die Religion in ihrer Bedeutung für den Individualisierungsprozess thematisch« (Gabriel/Reuter 2004, 16; Hervorhebung wurde weggelassen), womit wir erneut bei einer individuellen Sicht auf Re-

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12.3

Religion

ligion angelangt sind. Simmel sieht allerdings »die Leistung der Religion in der Vermittlung zwischen Sozialisation und Individuation des Menschen.« (Gabriel/Reuter 2004, 21) Dabei ist Religion im gesellschaftlichen Leben verwurzelt, geht aber nicht in ihm auf; vielmehr gehe es darum, »durch den Gedanken der Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft hervortreten zu lassen«, um dadurch auf Transformationsprozesse zu verweisen (Gabriel/Reuter 2004, 21; vgl. Tenbruck 1972; Hahn 1974). Die gedanklich an diese Konzeption anschliessende Wissenssoziologie sieht Religionssoziologie als integralen Teil ihrer Disziplin an; ihre wichtigste Aufgabe liege darin »to analyze the cognitive and normative apparatus [von Symbolen, Ideen, Theorien und Anschauungen, mit deren Hilfe Gesellschaft für handelnde Individuen erzeugt wird; S. B.] by which a socially constituted universe (that is, ›knowledge‹ about it) is legitimated.« (Berger/Luckmann 1963, 424) Daher lässt sich festhalten, dass Religion eine integrierende Funktion für Sozial-, Kultur- und Persönlichkeitssystem übernimmt (vgl. Milanesi 1976, 80). Obschon eingewendet werden könnte, »morality and religion have distinct natures and independent origins« (Buckley 1900, 578), stütze ich mich auf eine Unterscheidung, die sich unter anderem rational bei Immanuel Kant und kritisch bei Friedrich Schleiermacher findet: jene in Moralität und Religiosität (vgl. Smith 1949, 86). Hier soll es im Weiteren um die erste Seite dieser Unterscheidung gehen.17 Dabei wird vorausgesetzt, dass es neben dem Menschen – verstanden als »moral, believing animal« an sich (vgl. Smith 2003, 12, 43) – immer auch die soziale Institution als moralische gibt: »All social institutions are embedded within and give expression to moral orders that generate, define, and govern them. Whether it is obvious on surface appearances or not, social institutions are inevitably rooted in and expressions of the narratives, traditions, and worldviews of moral orders.« (Smith 2003, 22)

Hauptabsicht ist deshalb die Klärung des Handlungsantriebs, der Frage, weshalb Menschen tun, was sie tun – auf andere Handelnde und auf die sozialen Strukturen hin (vgl. Smith 2003, 4, 7 f., 128). Das führt von dem Menschen als »moralischem Tier« hin zum sinn- und bedeutungskonstituierenden: »Human social life is well understood as the 17 | Aus diesem Grund wird in dem nachfolgend besprochenen Ansatz von Christian Smith (2003, 117 ff., 56 f.) die zweite Seite, das »believing«, weitgehend ausgeblendet. Die verwendete Definition von Religion(en) – als »sets of beliefs, symbols, and practices about the reality of superempirical orders that make claims to organize and guide human life« (Smith 2003, 98) – wäre weiterhin anschlussfähig, weil Säkularisierung (unter Auslassung der »superempirical orders«, die nicht über die fünf menschlichen Sinne wahrnehmbar sind; vgl. Smith 2003, 104) wie Religiosität mit ihr adressiert werden können.

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›liturgy‹ of moral order.« (Smith 2003, 16, vgl. 10) Allerdings wird dabei nicht auf die Rationalität des Handelns abgestellt, sondern auf ein präexistierendes moralisches Handeln. Den unbefriedigenden theoretischen Erklärungen, insbesondere der Rational-Choice-Theorie, »purporting to explain human action and social life«, wird eine Sozialtheorie entgegen gestellt, »that conceives of humans as moral, believing, narrating animals and human social life as constituted by moral orders that define and direct social action.« (Smith 2003, 147 f.; Hervorhebung S. B.) Das Individuum verwendet dabei »Narrative« – d. h. Geschichten und Gespräche, die mit Gesellschaft in Beziehung stehen (vgl. Smith 2003, 64 f., 75 f.; Archer 2007) –, welche schliesslich individuelles Handeln und soziale Ereignisse in ein sinn- und bedeutungsvolles Ganzes setzen. Im Gegensatz zu den Theorien rationaler Akteure könne dieser Ansatz soziales, v. a. normativ orientiertes Handeln interpretativ aufschlüsseln. Religion, in diesem Sinne als Moral (oder moralischer Narrativ) verstanden, stellt dann ein klassisches Beispiel für »meaning-making« dar (Smith 2003, 81, 120; vgl. Besecke 2001, 372 ff.).18 Sie ist Mittler zwischen Individuum und Gesellschaft, welcher – wie im Fall der zwei vorherigen sozialen Topologien – auf keine der beiden Seiten reduzierbar ist (vgl. Smith 2003, 148 f., 26 f.). Während dieser Ansatz den Institutionen oder Strukturen weitgehend verhaftet bleibt (vgl. Copp 1997; Leist 1997), gibt es auch solche, für die »Moral [. . . ] nicht mehr in der Sozialstruktur zu finden [ist]. Zumindestens tritt sie jedoch – sozusagen zerbröselt – in vielerlei subjektiven Moralen im Alltag weiterhin in Erscheinung.« (Luckmann 1996, 9) Das moralische Tier Mensch ist dann noch stärker auf sich allein gestellt. Da die moderne Gesellschaft anscheinend immer »individueller« wird, stellt sich auch die Frage, wie die Identität des Individuums – vor allem: wie die Identität der Gesellschaft – beschaffen sein muss, »um dem Einzelnen eine hinreichende existentielle Selbstvergewisserung zu bieten« (Schimank 2002, 65) und gegen »den eintönig-monotonen Gesang vom Sinnverlust« anzugehen (Luhmann 1987b, 362). Trotz aller Skepsis kann Sinn nicht mehr in Werten und Orientierungspunkten gefunden werden – genauer: nicht mehr in den alt bekannten. Damit treten »der übergreifende Zusammenhang und die transzendente Bedeutung sämtlichen gesellschaftlichen Erlebens und Handelns« ins Zentrum (Schimank 2002, 70). Das heisst nun: die biographischsoziale Totalität und die Kontingenz emergenten Handelns ohne traditionale Gewissheit. Die mittelalterliche Schöpfungsordnung wird durch »eine Pluralisierung von Lebenswelten« abgelöst (Schimank 2002, 71), die zur entsprechenden Kontingenzerfahrung in sachlicher 18 | Darin zeigt sich (wie schon bei Friedrich Tenbruck oder Jeffrey Alexander) die »necessity for any good sociology to be a deeply and thoroughly cultural sociology« (Smith 2003, 58, vgl. 125 ff., v. a. 145).

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wie zeitlicher Hinsicht führt: alles ist auch anders möglich und kann jederzeit revidiert werden. Die subjektive Eigenlogik ist dann das einzige Medium, mit dem die Person auf ihre Umwelt reagiert oder reagieren kann (vgl. Schimank 2002, 80 f.). Religion als Mittler in der Spätmoderne ist darauf zurückzuführen, »dass die Moderne keine letzten Werte und Wahrheiten als Sinngrund der individuellen Existenz mehr zu bieten hat« (Schimank 2002, 116). Es bleibt dann nur der kognitive und normative Bezugsrahmen des Einzelnen (vgl. dazu schon Berger/Luckmann 1963), welcher eingesetzt werden muss, um sich selbst und der sozialen Welt Sinnhaftigkeit zu verleihen. Dabei zeigt sich erneut, dass eine Rationalität alleine nicht ausreicht, sondern dass diese auch sinnhaft auf das Irrationale – Simmel würde von Seele und auch von ästhetischem Pantheismus sprechen – bezogen sein muss (vgl. Alexander 1994). Der wechselseitige Bezug findet einerseits innerhalb des Individuums und andererseits zwischen Individuum und Gesellschaft statt. Dabei spielen Werte, spielt die Moral eine zentrale Rolle. Gerade dies verweist auf die »Universalität der Religion« und diese bringt deutlich zum Ausdruck, »dass die menschlichen Bedürfnisse über die gesellschaftliche Selbstbehauptung hinausgehen.« Der Mensch tritt nirgendwo »als reines Gesellschaftswesen« auf, sondern immer »als Kulturwesen, das sich eine Welt von Bedeutungen erzeugt, welche jenseits der gesellschaftlichen Tatsachen liegen, wie immer sie auch mit diesen verflochten oder durch diese bedingt sein mögen.« (Tenbruck 1979, 415) Religion wird deshalb als »Sinnform« mit moralischer Bedeutung verstanden. In dieser Funktion ist sie in der Lage, zwischen Individuum und Gesellschaft zu vermitteln, gerade weil sie als geistiger – oder imaginärer – Raum dazwischen keiner der beiden Seiten unmittelbar zugeordnet werden kann.

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13 Dazwischen als Topos »Gesellschaften sind stärker durch die Natur der Medien geformt, durch die die Menschen kommunizieren, als durch den Inhalt der Kommunikation.« Marshall McLuhan und Quentin Fiore (1969)

Der Einstieg in das emergente Handeln (siehe Seite 295) findet sich in den drei »Vignetten« widergespiegelt: Keiner dieser Mittler – weder das Mobiltelefon noch die Gated Communities noch die Religion – ist auf Individuum oder Gesellschaft reduzierbar. Dieses abschliessende Kapitel hat nun die Aufgabe, den Vorschlag eines Dazwischen zu liefern. Dazu schliesst es an die Diskussion zu »Sinn und Bedeutung« an (siehe Kapitel 5). Dort wurde Sinn als Metamedium des Mediums Bedeutung formuliert. Ferner greift dieses Kapitel den Aspekt des Räumlichen auf und tritt dabei auf ein eigenes Raumkonzept, eine eigene Topologie ein. Insgesamt geht es um die Vermittlung im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und den »Ort«, an welchem diese Vermittlung stattfindet. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass eine (heuristische) Trennung von Individuum und Gesellschaft nicht aufrecht erhalten werden soll und doch immer vorherrscht. Die sechs theoretischen Umgänge haben ferner gezeigt, dass das Verhältnis auf andere Weise thematisiert werden muss. Die Synthese stellt deshalb weder einen Theorievergleich dar, da die Theorien weitgehend komplementär sind, noch stellt sie einen Theoriezusammenzug bereit, da eine resultierende Generaltheorie ihrerseits problematisch wäre (nicht weil sie unsichtbar bleibt, sondern weil sie überladen nicht sehen kann). Sie stellt einen gedanklichen »Weiterzug« dieser problembezogenen, theoretischen und praktischen Vorgaben in Aussicht, indem sie das Verhältnis räumlich vermittelt. In trefflicher Weise wurde diese Vorgabe von Gottfried Salomon dargestellt: »Alle Gleichheit und Vergleichung von Gesellschaft und Individuum personifiziert und damit substanziiert den Begriff der Gesellschaft. Die Gesellschaft erscheint als Individuum. Alle Erklärung der Gesellschaft aus blosser Wechselwirkung der Individuen funktionalisiert die Gesellschaft zu einem blossen Prozess zwischen Substanzen, die in sich wie Monaden das Ganze enthalten. Schliesslich erscheint das Individuum als Gesellschaft.« (Salomon in Oppenheimer/Salomon 1926c, 3)

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Was hier beschrieben wird, liesse sich als doppelseitige Umkehrung bezeichnen; das eine erscheint im anderen, und letztlich sind sie nicht mehr trennbar. Alleine die Vermittlung, die dazu führt, wird nicht genauer dargestellt.1 Denn vielleicht gilt tatsächlich das Verdikt: »Dunkel wird geahnt, dass die Beziehung der Einzelakteure und der sozialen Ganzheit ein kompliziertes Beziehungsgeflecht interdependenter Abhängigkeiten ist.« (Di Fabio 1991, 201 f.) Der Vorschlag einer eigenen Konzeption dieses Beziehungsgeflechts oder Mittlers verbindet ein »Konzept von Individuum« und ein »Konzept von Gesellschaft« und mittelt diese über Sinn und Bedeutung (siehe Fussnote 27 auf Seite 241). In These 5–D wurde »Sinn« als das auf das Medium »Bedeutung« gerichtete Metamedium bezeichnet (siehe Seite 126). Obschon nur teilhabender Effekt auf Bedeutung, trägt dieses massgeblich zur Konstitution eines Dazwischen von Individuum und Gesellschaft bei. Als Metamedium werden gemeinhin jene Formen sekundärer Medien bezeichnet, die selbst keinen Inhalt, sondern bloss einen Zweck haben. Ein prominentes Beispiel dafür wird im Computer gesehen: »The protean nature of the computer is such that it can act like a machine or like a language to be shaped and exploited. It is a medium that can dynamically simulate the details of any other medium, including media that cannot exist physically. It is not a tool, although it can act like many tools. It is the first metamedium, and as such it has degrees of freedom for representation and expression never before encountered and as yet barely investigated.« (Kay 1984, 59; Hervorhebung S. B.)

In dieser grundlegenden Bestimmung wird dem Computer die Aufgabe zugewiesen, neue Formen der Kommunikation und weiterer sozialer Interaktion zu ermöglichen (z. B. das »World Wide Web«). Er kann einerseits »Medien« bilden, die sonst nicht existenzfähig wären und andererseits vielfältige, »andere« Maschinen oder Werkzeuge emulieren. Das heisst auch, dass darin vielfältige, materielle wie diskursive Kontexte generiert werden können.2 In dieser frühen De1 | Problematisch waren allerdings jene Stimmen, die einer entsprechenden Suche keinerlei Beachtung schenkten, wie beispielsweise: »Nach einer ›höheren Wirklichkeit‹ hat die Soziologie nicht zu fragen. Es gibt nur diese eine Wirklichkeit für die strenge Wissenschaft: die empirische Gegebenheit, und keine ›höhere‹ Wirklichkeit darüber.« (Geiger 1931, 210) Gerade das könnte als »blinder Fleck« bezeichnet werden: dieses Gefangensein der Soziologie in sich selbst, in ihrem Anspruch an sich selbst als empirische Einzelwissenschaft; dieses nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass eine »höhere Wirklichkeit« vielleicht notwendig ist, um überhaupt als Reflexionswissenschaft zur Wirklichkeit zu gelangen (vgl. Smith 2003, 158). 2 | Historisch lässt sich das Metamedium auf den Buchdruck zurückführen: »Das Buch wurde zum Medium, in dem technische Innovationen als solche stattfinden konnten« (Kittler 2002, 78). Gerade optische Medien wie Illustrationen von

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finition findet sich allerdings keine genaue Bestimmung, wie dieses Metamedium Computer genau aussehen und was es leisten soll. Hingegen ist die Verbindung von Form und Inhalt augenscheinlich, die allerdings im Geiste des Eingangszitats von Marshall McLuhan dahinfällt.3 Im Anschluss an Georg Simmel wird das Hauptaugenmerk in der vorliegenden Arbeit ebenfalls auf die Form gelegt. Das Metamedium wird deshalb als Form betrachtet, als Möglichkeit der Emergenz sozialer Interaktion.4 Das sinnhaft gerichtete Handeln Max Webers, das ein aktives Individuum voraussetzt, bietet die Grundlage, Sinn als Metamedium einzusetzen und weiter zu verfolgen. Das beschleunigte Anwachsen und die Steigerung der digitalen – auch multifunktionalen – Medien auf einer – realen wie metaphorischen – Ebene (siehe Kapitel 12.1) habe die Utopie eines Metamediums erzeugt (vgl. Winkler 1997b, 55). Ziel sei das Metamedium als »universale diskrete Maschine«.5 Damit einher geht allerdings auch die Kritik an dem Konzept, die in den Rechnern weder »eine ›universelle‹ diskrete Maschine« sieht, noch »eine semiotische Wunderwaffe oder, wie oft gesagt wird, ein ›Metamedium‹, das alle anderen Medien an sich zieht« (Winkler 1997a, 58). Die Phantasie vom Metamedium, so wird vermutet, werde sich selbst als Produkt der Mediengeschichte herausstellen.

Holzschnitten und Kupferstichen wurden früh in gedruckte Bücher eingefügt. Der Computer kann in dieser Linie als Fortsetzung des Buchdrucks erscheinen, da beide integrierende, mediale Funktionalität aufweisen. 3 | Es war vor allem McLuhan, der die wesentliche Funktion der Medien als kulturkonstituierend beschrieben hat; sie »liefern [. . . ] ein von Menschenhand gemachtes Environment, das [. . . ] [als Form; S. B.] soziokulturelle Interaktionsmuster und Wahrnehmungen nicht nur strukturiert, sondern auch nachhaltig prägt.« (Wendl 2004, 64) 4 | Dazu wurde Sinn zuerst als Medium formuliert (in Hypothese 5–1 auf Seite 95), um anschliessend als Metamedium reformuliert zu werden. Die erste Bestimmung (als Medium) wurde hypothetisch seit diesem Ausgangspunkt unhinterfragt weitergezogen, hat sich jedoch bewährt (vgl. auch Schaeffler 1974, 1329 f.). Damit Sinn als Medium aufgefasst werden kann, müssen allerdings »Mittel« und »Mittler« zusammengesetzt werden: (Medialer) Sinn ist sowohl Mittel als auch Mittler. Die »kausal nicht beschreibbare Disponibilität der Mittel« einerseits, d. h. die »interpretative[n] Schwierigkeiten« durch unüberschaubare »Vieldeutigkeiten« und sich überlagernde »Absichten mit unbewussten Intentionen«, trifft auf die »Vermittlung« andererseits, in welcher »das menschliche Subjekt wesentlich als Mittler anstatt als Ursprung und Ziel« und »der Mittler [. . . ] als dritte Person« (Engel, Bote, Elektronik) auftritt (Bahr 1999, 277 ff.). In dieser formalen Zusammensetzung ergibt sich das (Meta-)Medium. 5 | Wie sich diese Utopie übersteigern lässt, wird sichtbar, wenn beispielsweise vertreten wird, dass die »Künstliche Intelligenz möglicherweise einmal das höchstentwickelte [. . . ] Metamedium« sein wird (Youngblood 1991, 309). Mit diesem Wandel von der Utopie zur möglichen Dystopie soll vielmehr auf die Vielfalt des Konzepts verwiesen werden.

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Wenn allerdings vom konkreten Verständnis von Hard- und Software abgesehen wird, dann zeigt sich einerseits, dass ein metaphorischer Anschluss daran möglich ist, und andererseits, dass eine Verbindung zu Sinn darin bereits angelegt ist.6 Die Verbindung der beiden Bereiche lässt sich wie folgt beschreiben: »Das Medium ist immer Medium eines Beobachters, der Formen unterscheiden, Formen herausgreifen kann und damit zugleich eine andere Seite der Form, eben das Medium erzeugt. Und das gilt auch, wenn er Formen und mediale Substrate, zum Beispiel Sätze und Worte oder Licht und Dinge unterscheidet und als die andere Seite dieser Unterscheidung jetzt ein Metamedium, etwa ›Sinn‹, reproduzieren muss.« (Luhmann 2000, 41)

Niklas Luhmanns »Sinnform« ermöglicht Anschluss und Verbindung (siehe auch Kapitel 12.3), um Sinn als Metamedium zu fassen und in das Medium Bedeutung einzuführen. In ihm lassen sich Form und Inhalt trennen, ohne die jeweils andere Seite aufzugeben. Allerdings ist der »Ort« noch nicht bestimmt, an welchem die Vermittlung stattfinden soll. Die Form leitet zu folgender Definition: Definition 13–1 Als Metamedium wird verstanden: jene gebündelten »Elemente«, die zur »Aktivität« der Bedeutungszuweisung beitragen, wobei sich diese Elemente aus »Sinn« zusammensetzen.

Mit dieser Definition wird gleichsam der Prozess des Transfers – die Vermittlung des Verhältnisses – bezeichnet, welche anschliessend im Dazwischen verortet werden soll. Die Vielfalt der enthaltenen »Elemente« ist offen, und diese Elemente (Formen) können mit all jenen sinnhaften Inhalten gefüllt werden, die das soziale Leben bestimmen und über jene hinausgreifen, mit welchen sich die Soziologie gemeinhin beschäftigt.7 Die Aufgabe von Sinn »besteht darin, Erfahrung möglich zu machen, deren Kontext dem Wahrgenommenen Bedeutung verleiht.« (Schaeffler 1974, 1335, vgl. 1339 f.) Als »Aktivität« wird der (aktive) Akt des sinnhaft gerichteten Handelns aufgefasst, in welchem der emergente Sinn (in seiner Funktion der Vermittlung von Bedeutung) auf eine ebenso emergente (soziale) Bedeutung gerichtet ist. 6 | Dabei ist hilfreich, dass der Medienbegriff eben »nicht die Ontologie eines Gegenstands, sondern die Ontogenese eines Beobachters [beschreibt], der es gelernt hat, mit Hilfe der Differenz von Figur und Hintergrund [. . . ] zu beobachten, was sich der direkten Beobachtung entzieht.« (Baecker 2004, 271 f.) Mit dieser Bestimmung wird sowohl auf das emergente Handeln rückverwiesen, wie auf die kommende Konzeption des Dazwischen als imaginärem Raum hingezielt. 7 | Damit soll – neben fächerübergreifenden Initiativen – an die kleinen Formen erinnert werden, die insbesondere Georg Simmel hervorgehoben hat. – Es sei am Rande darauf verwiesen, dass Gesellschaft, »wagemutig gesprochen, selbst das ›Supermedium‹ für alles [ist], was sozial möglich ist.« (Fuchs 1994, 30) Mit dieser Formulierung wird allerdings in einem tendenziell statischen, strukturalistischen Rahmen verblieben.

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Diese »Bedeutungen« befinden sich im Dazwischen und treffen dort aufeinander. Das Dazwischen soll dazu dienen, dies weiter zu explizieren und zugleich eine mögliche Antwort auf die geschilderte Paradoxie der Soziologie liefern (siehe Kapitel 3.4). Durch den Bezug auf das Individuum und seine Bedeutungszuweisung über Sinn – in der Bedeutungszuweisung der Gesellschaft – entsteht ein heuristisches Konstrukt. Bisher war viel von der individuellen Seite die Rede, vom sozialen »Individuum«, das über Sinn einen Bezug zur Welt schafft und dabei qua Bedeutung in sozialer Interaktion auch die andere Seite, die Gesellschaft, konstituiert (die dieses dann wiederum beeinflusst usw.). Die kritische Tendenz ist der Gesamtanlage der vorliegenden Arbeit geschuldet, die einen Ausgleich anstrebt. Durch die bevorzugte Technik, d. h. den dauerhaften Rückbezug auf »Gesellschaft«, verdeutlicht sich das Anliegen erneut. Auf die Frage, was Gesellschaft seiner Meinung nach sei, antwortete Karl Otto Hondrich in einem seiner letzten Interviews wie folgt: »Gesellschaft, das sind nicht Menschen, obwohl sie aus Menschen besteht, sondern es sind die Beziehungen dazwischen. Dieses Dazwischen kann man nicht unmittelbar erfassen, man muss sich zurückbewegen, in die individuellen Köpfe, muss sehen, wie dort wahrgenommen und bewertet wird, muss sich aber darüber im Klaren sein, dass dies nicht der eigentliche Gegenstand der Gesellschaftswissenschaften ist, sondern auch hier wieder das Dazwischen. Eine Spannung zwischen Individuen oder zwischen Gruppen.« (in Seibel 2007; Hervorhebung S. B.)

Bei diesem Dazwischen geht es um den Ausgleich zwischen den Menschen als Individuen und als Gemeinschafts- wie Gesellschaftsmitglieder. Diese beiden »Rollen« können weder getrennt noch aufeinander reduziert werden. Schliesslich behält Hondrich damit Recht, dass die individuelle Kognition eigentlich nicht Thema der Soziologie sei, aber dennoch benötigt werde; der Einzelne nicht vergessen werden dürfe (vgl. Adam 2007). Es scheint auf dieser Basis durchaus sinnvoll, das Dazwischen ebenfalls als ein Medium aufzufassen.8 Dabei gibt vor allem die Konnotation der »Vermittlung« den Ausschlag. Der mediale Charakter der verschiedenen Mittler, die uns bisher in der vorliegenden Arbeit begegnet sind (z. B. die formale Figuration bei Norbert Elias oder die inhaltlich geprägten »carrier« als Verhältnisse), hat sich bereits gezeigt. Zudem scheint einsichtig, dass gerade Medien in Prozessen des »meaning-making« einen zentralen Beitrag als »Sinnträger« und aktive Mittler leisten (vgl. Tholen 2005, 151; Schulte-Sasse 2002, 8 | Schon der Wortursprung und die historischen Belegstellen zum Adverb »dazwischen« und den Substantiven »Dazwischenkunft« und »Dazwischensetzung« legen dies nahe (vgl. Grimm/Grimm 1860).

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3). Schliesslich beruft sich die philosophisch geprägte Medienwissenschaft explizit auf den Begriff eines »Dazwischen«. Wird als medientheoretischer Grundsatz genommen, »dass es keine Medien gibt, keine Medien jedenfalls in einem substanziellen und historisch stabilen Sinn« (Engell/Vogl 2000, 10), dann müssten Medien als »Dinge [aufgefasst werden], die in der Mitte bzw. dazwischen liegen«.9 Damit könnten »alle Dinge zu Medien werden«, solange »wir uns [. . . ] darauf verständigen, sie als solche zu verwenden (ein Stein, eine Maske, ein technischer Apparat usw.).« Inwiefern etwas als Medium angenommen wird, ist dann eine »Frage der sozialen Praxis«, weil diese »der eigentliche Ort [ist], an dem über die Medien und ihre kulturelle Konkretion verhandelt wird.« (Wendl 2004, 40) Allerdings soll in diesem Prozess nicht die »Materialität« im Vordergrund stehen, sondern die symbolisierte Kognition in der Folge kognitiver Sinnbildungsprozesse. Das avisierte Medium soll nicht als »materielle[r] Träger zur Übertragung« oder »Übermittlung« verstanden werden, sondern vielmehr soll auf die »Vermittlung«, auf seine »kognitive Dimension« und auf seine »Rolle als vermittelndes ›Dazwischen‹« abgestellt werden (Fehrmann/Linz 2004, 81 f.). Auch in der Umkehrung, d. h. aus der Warte des Mediums, lässt sich die Zusammenstellung mit Sinn legitimieren (vgl. Fehrmann/Linz 2004, 84). Dieses Medium wird dann »als ›Dazwischen‹, letztlich als Mittel im weitesten Sinne genommen« (Paech 1998, 23).10 Wird also das Medium grundlegend als Dazwischen bestimmt, dann »steht [es] als ein drittes zwischen zwei Momenten und nimmt in der Gesamtheit, die sie bilden, bestimmte Aufgaben wahr.« (Roesler 2003, 39) Dieses Medium ist demzufolge in einen Prozess verwickelt, an welchem es teil hat, indem (!) es als Dazwischen »die beiden anderen Momente in spezifischer Weise aufeinander bezieht.« (Roesler 2003, 40) Es besteht nur durch die (und wegen der) anderen Momente – bezeichnen wir diese testweise als Individuum und Gesellschaft.11 Es kommt daher gelegen, dass die 9 | Für einen ähnlichen Ansatz, der ebenso auf eine Mediatisierung des Sozialen zielt, vgl. die Darstellung bei Vandenberghe (2007b). 10 | Allerdings geschieht dies zu einem Preis, denn das »Medium ist selbst nicht [mehr; S. B.] beobachtbar, weil es nur in der Form erscheint, zu deren Erscheinung es verhilft.« (Paech 1998, 23; vgl. Tholen 2005, 162) Es wird deshalb eine Beobachtung der Beobachtung notwendig oder es muss ein Umfeld geschaffen werden, in welchem die Unterscheidung – das Wiederauftreten eines Mediums in einem anderen – zwangsläufig stattfindet. 11 | Bereits Georg Simmel sprach von einem geistigen Reich, welches als drittes hinzutrete. Die Diskussion um eine »Figur des Dritten« oder einen »Dritten Raum« liesse sich beliebig ausdehnen und beispielsweise auch mit einem soziologischen Feldbegriff im Anschluss an Kurt Lewin verbinden (vgl. Breger/Döring 1998; Wössner 1969). Anstelle dessen soll ein vereinfachtes, »räumliches« Konzept verwendet werden, als »eine Artikulationsweise, eine Art, einen Möglichkeitsraum zu beschreiben.« (Garber 1993, 23)

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gewählte Konzeption den Menschen einbeziehen will und »dass es beim Medium um Bedeutung gehen muss.« Dieses Dazwischen ist »in einem [prozessualen] Bedeutungszusammenhang zu betrachten«, wobei die Bedeutung »durch ›Einbeziehung des Menschen‹ [und durch symbolischen Verweis; S. B.] verliehen« wird (Roesler 2003, 40 f.). Hier schliesst, ohne auf die zeichentheoretischen Details weiter einzugehen, das sinnhaft orientierte Handeln an, welches Bedeutung erzeugt. Diese Bedeutung ist schliesslich in dem Dritten zwischen handelndem Individuum und Gesellschaft »festgebunden«, weil Sinn an »eine ›feste‹ Bedeutung« angebunden wird (Roesler 2003, 45). Aufgabe dieses Dazwischen ist demzufolge die Bedeutungserhaltung.12 Es soll folglich über den bereits im Wort enthaltenen »örtlichen« Bezug als imaginäre Topologie bezeichnet und beschrieben werden. Der Begriff des Metamediums Sinn und die Bezeichnung des Dazwischen als Medium der Bedeutung haben zwei Funktionen: Einerseits dienen sie dazu, dieses Kapitel an die Ausführungen zu »Sinn und Bedeutung« zurückzubinden, andererseits sollen sie der Gefahr vorbeugen, dass die folgenden Ausführungen als eine Raumsoziologie missverstanden werden.13 Es schien bereits auf, dass ein Verständnis des Dazwischen als physikalischer Raum gerade jene strukturellen Beschränkungen mit sich bringt, die überwunden werden sollen. Zudem bringt ein solches Verständnis des Raums »als Gegenstand« das sozialwissenschaftliche »Raumproblem« mit sich, da das »Äussere« und das »Andere« geschieden, eine Grenze gezogen werden müsste (vgl. Hamberger 1999, 14 f.; Lindemann 2005).14 Es ist in der Beschreibung (der Selbstbeschreibung) des Sozialen nichts gewonnen, wenn diese/dieses »in einen je schon vorausgesetzten Raum projiziert« wird (Hamberger 1999, 17).15 Als erstes werden deshalb »Ort« und »Raum« gleichgesetzt, d. h. selbst ein punktueller Ort als ausgedehnter, physikalischer Raum verstanden (vgl. Serres/Farouki 2001, 794 f.; Hamberger 1999, 16; Löw 2001, 198 ff., 224 ff.), um dann diesen absoluten, von sei12 | Soziologisch formuliert: »Alle menschlichen Situationen tragen Bedeutungen – oder wenn man will, sie sind von innen durch Bedeutungen erhellt.« (Berger/Kellner 1984, 41) 13 | Die Raumsoziologie – beispielsweise im Anschluss an Georg Simmel (1992b, 687 ff.) und Pierre Bourdieu (1991) – erfährt auch im deutschsprachigen Raum seit einigen Jahren eine Renaissance (vgl. Löw 2001; Krämer-Badoni/Kuhm 2003; Löw et al. 2007). Obwohl in der alten (v. a. bei Simmel) wie neuen Auseinandersetzung eine reiche, aber letztlich auch ausufernde Zahl an Anregungen aufgefunden werden kann, wird ein eigener Zugang vorgezogen. 14 | Die »Räumlichkeit« sozialen Handelns meint weder einen realen Raum noch einen manifesten Kontext, denn ansonsten könnte auf Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung oder Erving Goffmans »Frame Analysis« zurückgegriffen werden (vgl. Giddens 1988; Scheff 2005). 15 | Das Pronomen ist deshalb gedoppelt, weil sich das Raumproblem auf das Soziale und auf seine Beschreibungen beziehen kann.

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nem Inhalt unabhängigen Raum gleich wieder zu verwerfen. Dadurch wird verhindert, dass Raumform und Denk- bzw. Sinnform begrifflich »miteinander verwachsen [. . . ] und ihnen damit jede erkenntnistheoretische Funktion [ge]raubt« wird (Hamberger 1999, 18). Als nächstes wird der relative Raum, d. h. die »Vorstellung [. . . ] von den Grenzen der darin enthaltenen Gegenstände« (Serres/Farouki 2001, 794), wie der relationale Raum, d. h. dynamische »Verflechtungen sozialer Güter und Menschen« in einem sie reproduzierenden Raum (Löw 2001, 13, 263), durch einen imaginären Raum abgelöst. Dazu wird der avisierte Raum als »Topos« bezeichnet und dadurch »imaginiert«, d. h. aus der sozialen Wirklichkeit enthoben. Obschon auch die bekanntere Seite des Toposbegriffs, die rhetorisch-dialektische Figur und ihre Funktion als Deutungsmodell, Anschlussmöglichkeiten bieten würde (vgl. Negt 1972, 182; Müller 2001), beschränke ich mich auf das Verständnis von Topos als der »Vorstellung vom Ort« mit der Bedeutung eines »dazwischen sein«. Wie die Architektur hierbei einen »Atopos«, einen »Nicht-Ort« sucht, d. h. die »Atopie innerhalb des Topos« aufsucht (Eisenman 1995, 149),16 liesse sich ein Denken, das »nicht einem festen Ort zuzuweisen« ist und das sich deshalb im Dazwischen bewegt, als »transitorisch« bezeichnen: Es vollzieht sich »in der Spannung zwischen Topoi« (Härter et al. 2003, 7). Gerade in dem Toposbegriff kann daher eine Lösung für mein eigenes »Raumproblem« gesehen werden. Dieses lautete, das Dazwischen als Raum nicht auffassen und damit nichts zwischen Individuum und Gesellschaft »verschieben« zu können (siehe dazu Fussnote 15 auf Seite 93).17 Mit dem »Topos« – der Begriff bedeutet eigentlich »Ort, Stelle« 16 | Peter Eisenman, der durch seinen Entwurf für das Denkmal für die ermordeten Juden Europas bekannt wurde, will in seinen architekturtheoretischen Ausführungen von Ende der 1980er Jahre gegen die starre, rückwärtsgewandte Denkweise der Architektur vorgehen. Sie begegne ihrer Paradoxie, »das, was sie lokalisiert, [zu] dislozieren, das, was sie setzt, gleichzeitig [zu] ent-setzen«, daher kaum. Um diesen Beschränkungen zu entkommen, müsse sie sich von »dialektischen Gegensätze[n]« wie Figur und (Hinter-)Grund oder Form und Funktion entfernen; dabei könnte sie »mit der Erforschung des Dazwischen innerhalb dieser Kategorien beginnen«, sich »bemühen, diese und andere Strukturen zu verwischen.« (Eisenman 1995, 147 f.) Eisenman stelle »die traditionelle Vorstellung einer stabilen Identität des Ortes in Frage, indem er die ortsbezogene Spezifik von räumlichen und zeitlichen Bedingungen (Topos) durch Einführung von Fiktionen unterminiert (A-topos).« (Schwarz 1995, 19 f.) Darin zeigt sich die Nähe zur und die Lösungsmöglichkeit auch für die Soziologie, denn sie ist, genau wie die Architektur, die »Konstruktion von Realität, Präsenz und Objekt« (Eisenman 1995, 147); auch sie konstruiert, was sie anschliessend (wissenschaftlich) beschreiben, darüber hinaus re- und dekonstruieren und schliesslich erklären und verstehen muss. 17 | Aus den vielzähligen Verweisen auf Raum seien die wichtigsten nochmals herausgegriffen: der räumliche Bezug des Begriffs Gesellschaft (siehe Seite 24), die mitteilenden Orte bei Jean-Luc Nancy (siehe Fussnote 44 auf Seite 47), Michel

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(Kluge 2002, 920) –, als Raum im übertragenen Sinne oder Formkategorie verstanden, scheint dieses Problem lösbar. Das Dazwischen als Topos wird dann zu einer übergeordneten Instanz und beschreibt nicht den realen Sozialraum durch Topographie (vgl. Günzel 2007, 20 f.), sondern wird für eine imaginäre Topologie fruchtbar gemacht.18 Ein solches Vorgehen kann aus einer sonst für ihren Raumbezug wenig bekannten soziologischen Konzeption abgeleitet werden. Wenn sich das Gesellschaftssystem an der »Differenz von System und Umwelt« orientiert, welche es zuerst erzeugt, dann braucht es entsprechende Instrumente zur Lösung der Beschreibungsproblematik (siehe Kapitel 3.1). »Das System braucht [. . . ] imaginäre Räume, um sich weiterzuhelfen.« (Luhmann 1998, 866) Dieser imaginäre Raum (d. h. die imaginäre Einheit der Unterscheidung von System und Umwelt) erlaubt die »Beobachtung und Beschreibung der Einheit in der Einheit« (Luhmann zit. in Merz-Benz 2000, 68) mit dem Zweck, den blinden Fleck – d. h. die Paradoxie der »Selbstbeschreibung des Systems im System« – zu überwinden (siehe dazu schon Seite 238). Imaginiert wird also, was für die Auflösung der Paradoxie erforderlich ist: »die als entfaltet gedachte tautologische Selbstbeschreibung«, denn sie kann die paradoxe Selbstbeschreibung aufrecht erhalten (Merz-Benz 2000, 69). Gefüllt ist dieser Raum schliesslich mit »in einzelnen Systemdifferenzierungen ausgeprägten Referenzen anderer Systemdifferenzierungen« (Merz-Benz 2000, 70), dem Rückbezug auf die ursächliche System/Umwelt-Differenz, die das Fortbestehen über das Medium Sinn erst ermöglicht. Obschon in der vorliegenden Arbeit kein systemischer Ansatz verfolgt wird: Einen solchen imaginären Raum, ein Topos zur Auflösung der Paradoxie durch Paradoxie, soll das hier imaginierte Dazwischen darstellen. In der vorliegenden Arbeit wird dies am prägnantesten von Peter Sloterdijk gefordert (siehe Kapitel 10.3). Er spricht explizit von einem »goldene[n] Zeitalter der subtilen Topologien, die von Orten im NichtFoucaults Denkraum (siehe Seite 57), Peter Bürgers Frage nach dem »offenen Raum« (siehe Fussnote 5 auf Seite 58), der mentale Orientierungsraum (siehe Seite 176), das geistige Reich als ein drittes und der leere Raum bei Georg Simmel (siehe Seiten 210 und 220), die Seinssphäre bei Norbert Elias (siehe Seite 228), Gabriel Tardes Bild der Ausdehnung im Raum (siehe Seite 262), Tardes Raum gespiegelt bei Ferdinand Tönnies (siehe Fussnote 21 auf Seite 266) sowie Tönnies’ eigene Begrifflichkeit (siehe Seite 275). Ferner sind die Räume der Netzwerktheorie zu erwähnen, die in direktem Bezug zu Peter Sloterdijks Sphärologie stehen (siehe z. B. Seite 303 und Kapitel 10.3); Niklas Luhmanns Beitrag wird im Anschluss vorgestellt. 18 | Dabei wird weder auf ein ontologisches Topologieverständnis, beispielsweise im Sinne von Martin Heidegger, noch auf ein strukturalistisches Topologieverständnis, beispielsweise im Sinne von Michel Serres und Jacques Lacan, verwiesen (vgl. Günzel 2007, 24 f.); ohne allerdings abzustreiten, dass jeweils Anschlussfähigkeit gegeben wäre.

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Wo handeln.« (Sloterdijk 1998, 554) Damit sind Orte gemeint, die sich nicht in den Kategorien Raum und Zeit verorten lassen, und die letztlich durch einen »völlig entphysikalisierten Personen-Raumbegriff« beschrieben werden müssten (Sloterdijk 1998, 617). Das heisst dann, »dass die Personen nicht in äusseren, bei der Physik geliehenen Räumen lokalisierbar sind, sondern dass sie den Ort, an dem sie sind, selber durch ihre Beziehungen zueinander stiften.« (Sloterdijk 1998, 619) In diesem Raum der Sinnbeziehungen lautet die »Antwort auf die Frage ›Wo?‹ [. . . ] also: Ineinander.« (Sloterdijk 1998, 621) Nachbarschaft wird gegenseitig gespendet, denn dieser Ansatz beginnt – im Anschluss an Sloterdijk – bei der »Annahme, dass wir von einem autonomen Zwischen auszugehen haben. In der Sprache der philosophischen Tradition gesprochen, wir rehabilitieren endlich die Relation auf Kosten der Substanz« (Sloterdijk/Heinrichs 2001, 150). Wobei der hier unterbreitete Ansatz aus emergentem Handeln und imaginärer Topologie über die blosse Relation hinwegschreitet: Das Dazwischen ist weder der einen (Individuum) noch der anderen Seite (Gesellschaft) eindeutig zuzuordnen. Es beschreibt die »Befindlichkeit« in dieser imaginären Topologie, wobei sich diese vom Auffinden individueller Kognitionen über Sinn in der Bedeutung bis hin zur Bestimmung und Interpretation sozialer Momente (oder der Soziologie als Teil dieser Momente selbst) erstrecken kann. Für diese Topologie soll gelten, dass sie selbst keinen Effekt hat, dass sie die »an sich wirkungslose Form [ist], in deren Modifikationen die realen Energien [der besonderen (sozialen) Gestaltungen der Dinge; S. B.] sich [. . . ] offenbaren«, dass sie jene imaginäre »Räumlichkeit [ist], die nur die conditio sine qua non jener [Gestaltungen] [. . . ] ausmach[t]« (Simmel 1992b, 687), bloss die Möglichkeit der Interaktion und der Entstehung des Sozialen darstellt.19 Das heisst nicht, dass sie nicht die soziologische Aufmerksamkeit verdient hätte, ganz im Gegenteil. Es verweist auf die eigentliche Funktion der Soziologie: »Nicht die Form räumlicher Nähe oder Distanz schafft die besonderen Erscheinungen der Nachbarschaft oder Fremdheit, [. . . ] [sondern] dies[e] [sind] rein durch seelische Inhalte erzeugte Tatsachen« (Simmel 1992b, 688). Das heisst vielmehr: »The in-between can be understood as the conceptual space between [. . . ] the narrative[s] [that give meaning to situations, events and even lives] of one party or person and the narrative[s] of another [or: of others; S. B.].« (Farmer/Farmer 1996, 30) Damit ist nicht nur der einfache Zusammenfluss dieser emergierenden Narrative – des Metamediums Sinn – gemeint, sondern eine Interaktion, 19 | In diesem weiten Zusammenhang, so lässt sich vermuten, gründet schon Gabriel Tardes Vorwurf an Emile Durkheim, dieser würde Ursache und Wirkung verwechseln: »Tarde was constantly complaining that Durkheim kept messing up causes and consequences.« (Latour 2007, 4)

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eine gegenseitige Beeinflussung im Medium der Bedeutung, im Dazwischen als imaginärer Topologie.20 Kurz: »The in-between is the conceptual space where both sides integrate meaning.« (Farmer/Farmer 1996, 31; vgl. Prawat 1999) Beide Seiten heisst im vorliegenden Kontext und für die Soziologie schlechthin: Individuum und Gesellschaft. Dieses Dazwischen wird erst durch die Wechselwirkung beteiligter Akteure »manifest«, wobei damit nichts festes oder reales, sondern eine imaginäre Topologie bezeichnet wird. Diese Topologie stellt jenen gemeinsamen »Ort« dar, an welchem sich emergente Prozesse vollziehen, und sie besagt deshalb: »dass eine Beziehung zwischen zwei Elementen, die doch nur eine, in dem einen und in dem andern immanent stattfindende Bewegung oder Modifikation ist, zwischen ihnen, im Sinne des räumlichen Dazwischentretens stattfinde[t].« (Simmel 1992b, 689)

Diese Betrachtungsweise (in Fortsetzung einer frühen Soziologie; siehe Seite 221) liefert neue Impulse für die soziologische Betrachtung der Beziehung zwischen Elementen, weiterhin des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, und schliesslich des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft einerseits und Soziologie andererseits. Es geht also darum, sich nicht auf den Formbegriff zu kaprizieren, sondern darauf, was im Formbegriff passiert. Eine solche Betrachtungsweise (durch eine dekonstruktivistische Lektürepraktik informiert) führt zu folgender Definition: Definition 13–2 Das Dazwischen von Individuum und Gesellschaft bezeichnet jene imaginäre Topologie, welche sich im Medium der allseitig zugewiesenen »Bedeutung« und aus dem darauf sinnhaft gerichteten emergenten Handeln ergibt. »Sinnhaft gerichtet« verweist auf das Metamedium »Sinn«, welches die Bedeutungszuweisung und Vermittlung erst ermöglicht.

Diese Definition führt zurück zu den Paradoxien: Der Soziologe ist gleichfalls Teil dieses »Dazwischen-Raums«, und es muss demzufolge von einer »gesellschaftliche[n] [d. h. gemeinsamen; S. B.] Konstruktion von Gesellschaft« ausgegangen und gesprochen werden (Spreen 2004, 20 | Dieser Zusammenhang lässt sich traditionell durch den Kulturbegriff erläutern: »Der Mensch steht mit seiner Umwelt nicht direkt in Beziehung, sondern durch das Medium eines künstlichen ›symbolischen Systems‹, als da sind linguistische Formen, mythische Symbole, religiöse und soziale Riten« (Mühlmann 1962, 108). Hier wird ebenfalls eine Zwischenwelt genannt, die als künstliche »Form« zwischen dem Individuum und seiner Umwelt »vermittelt«. In letzter Instanz wird auf ein »objektive[s] kulturelle[s] System« verwiesen, durch welches das Individuum »in fortwährender Beziehung zur Gesamtheit der Sozietät steht« (Steinbacher 1971, 29).

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44). Damit wird bewusst festgestellt, dass die Soziologie Teil des Gegenstands ist, womit die eine Paradoxie gemindert, wenn auch nicht entfaltet werden kann. Die Konstruktion dieser Topologie adressiert gleichfalls die zweite Paradoxie, indem eingestanden wird, dass der Gegenstand »Gesellschaft« immer erst geschaffen wird, bevor er beschrieben werden kann. Damit offenbart sich, »dass wir hier [nicht; S. B.] vor einem Ding stehen, das nicht von uns abhängig ist.« (Durkheim 1984, 126) Die Beschreibung der Selbstbeschreibung wird dann zu einer Selbstbeschreibung der Selbstbeschreibung und damit zu einer Interaktion im Sinne der Untersuchung und des Dazwischen.

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Schluss

14 Blinder Fleck der Soziologie Um den Bogen der vorliegenden Arbeit zu schliessen, soll dieser noch einmal geöffnet werden. Dazu wird hinsichtlich der Topologie eines blinden Flecks der Soziologie ein Gedankenexperiment bemüht. Davon ausgehend, dass uns das in der Arbeit aufbereitete Wissen nicht zur Verfügung stünde, liesse sich, gleichsam zum Problemaufriss zurückkehrend und nochmals zugespitzt (und in dieser Fassung unhaltbar), folgende Annahme formulieren: Nehmen wir an: Die Soziologie hat einen blinden Fleck. Das wäre an sich nicht problematisch, da jede Wissenschaft Bereiche hat, die für sie nicht sichtbar sind. Im Fall der Soziologie liegt allerdings ihr Gegenstandsbereich – identifiziert als das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft – in diesem blinden Fleck. Für den nunmehr problematischen Umstand, dass sie nicht sehen kann, was sie sehen müsste, sind zwei Paradoxien verantwortlich. Die erste Paradoxie scheint unproblematisch, denn die Soziologie ist Bestandteil ihres eigenen Gegenstandsbereichs, und dies trifft auf andere Wissenschaften ebenso zu. Im Fall der Soziologie ist allerdings ihre Funktion dadurch massgeblich beeinträchtigt: die erklärende Beschreibung der sozialen Wirklichkeit – bestehend aus dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Die Art und Weise, wie die Soziologie Teil ihres Gegenstands ist, stellt die theoretische Bedingung dieser Beschreibung in Frage. Der nunmehr problematische Umstand, dass sie ihren Gegenstand als Teil des Gegenstandsbereichs – der Soziologe als Individuum, die Soziologie als institutioneller Bestandteil der Gesellschaft – beschreiben muss, führt zu einer weiteren Paradoxie. Die zweite Paradoxie der Soziologie besagt, dass sie ihren Gegenstand immer schon beschrieben vorfindet, mehr noch, dass sie diesen als eigene Erfindung ausgibt, ihn also vorgeblich zuerst selbst konstruiert und als gegeben voraussetzt, um ihn als Wissenschaft anschliessend zu beschreiben. Die sozialen Individuen des 19. Jahrhunderts hatten begonnen, ihre veränderte soziale Wirklichkeit selbst als »Gesellschaft« zu beschreiben – eine Selbstbeschreibung anzufertigen – und so die andere Seite der (geringfügig später eingetretenen) soziologischen Unterscheidung geschaffen (vgl. Luhmann 1984, 4). Weil sich die Soziologie als Einzelwissenschaft rechtfertigen wollte, hat sie eine Unterscheidung eingeführt und sich damit – in der einseitigen Verlagerung – in ihren vermeintlichen Gegenstand »Gesellschaft« eingeschlossen: Die Idee der Gesellschaft »führte zu dem Verzicht auf die Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft.« (Mongardini 1996, 301) Dabei wurde eine Leerstelle erzeugt (vgl. Reimann 1991, 115), die nur problembehaftet beschrieben werden kann. Die genannte Selbstbeschreibung ist das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Die soziologische Beschreibung der Selbstbeschreibung der Gesell-

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schaft macht dieses Verhältnis, so liesse sich formulieren, in seiner Ganzheit zu einem problematischen. Eine mögliche Schlussfolgerung lautet: Was zwischen Individuum und Gesellschaft liegt, ist für die Soziologie unsichtbar und deshalb schwierig zu erfassen und zu beschreiben. Die Möglichkeit, dieses Verhältnis zu sehen, wäre Bedingung dafür, dass sich die Soziologie im Dazwischen von Individuum und Gesellschaft bewegen kann. Dafür fehlen ihr nicht etwa die Mittel (insbesondere die sechs »Umgänge« haben dies gezeigt), dafür fehlt ihr der notwendige, verbreitete und umgreifende Blick.

Soweit lässt sich die Annahme, welche am Anfang der vorliegenden Auseinandersetzung stand, nochmals in anderer Weise formulieren. Die der Arbeit vorangestellten Mottos deuten in dieselbe Richtung: dass es verwunderlich ist, inwieweit Individuen überhaupt interagieren, dass es Schwierigkeiten bereitet, diese Interaktionen im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu erklären, dass wir vorfinden, was der Gegenstandsbereich sein sollte, dass sich eine gewisse Müdigkeit einstellt angesichts eines problematischen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft (so meine Interpretation im Anschluss an Jeffrey Alexanders Aussage). Was im Rückblick als ein schwierig zu erfassendes Verhältnis beschrieben werden kann, sollte deshalb Thema der vorliegenden Arbeit werden und den angenommenen blinden Fleck veranschaulichen. Die Soziologie hat einen blinden Fleck heisst dann: Sobald sie im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft eine Unterscheidung trifft – einen Standpunkt einnimmt – und die eine Seite beobachtet und beschreibt, fällt die andere Seite in den blinden Fleck. Das Verhältnis wird jeweils von der einen oder der anderen Seite her thematisiert. Das Verhältnis ist deshalb in seiner Ganzheit ein problematisches, weil eine Seite als Priorität gesetzt wird, es selbst (zusammen mit der anderen Seite) nicht mehr sichtbar ist. Das Verhältnis ist als Unterscheidung ein blinder Fleck (vgl. Luhmann 1998, 426), weil nicht mehr gesehen wird, was unterschieden wurde. Dasselbe unterläuft der Soziologie, wenn sie sich zwischen Individualismus und Holismus entscheiden muss, einen der beiden Standpunkte und damit eine der beiden Betrachtungsrichtungen wählen muss. Und gerade diese Situation – als Differenz von Individualismus und Holismus – »findet die beginnende Soziologie vor.« (Luhmann 1984, 4) Gerade diese Wahl hatte sich von Anfang an gestellt, und die Soziologen haben sich auf die eine oder andere Seite geschlagen (siehe dazu insbesondere Emile Durkheim und Gabriel Tarde). Sie haben eine Entscheidung – auch und vor allem: eine Unterscheidung – getroffen, wobei die holistische Sicht mit »ihrer« Gesellschaft mehr Gewicht erhielt und darüber bestimmte, was in den blinden Fleck fiel: nicht nur das Individuum, sondern mit ihm das Verhältnis der beiden. Dasselbe gilt auch heute: Obschon »[m]ost

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social scientists [. . . ] have always felt uncomfortable at the thought of emphasizing only one end of this antinomy«, bestehe ein »enormous de facto pressure on social scientists to do just this – choose sides.« (Wallerstein 2004, 318) Die prägenden Unterscheidungen in Handlung und Struktur wie in Mikro- und Makrosoziologie zeigen dasselbe Bild. Darin zeigt sich, was mit Norbert Elias (2001, 168) als »ewiger Widerstreit zwischen Individuum und Gesellschaft« bezeichnet werden kann. Es ist die Verbindung aus den zwei Paradoxien, letztlich die Beschreibung der Selbstbeschreibung, welche zur Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft führt, welche die Unterscheidung und damit den blinden Fleck mit sich führt. Die Unterscheidung erfolgt, wie eingangs angenommen, weil die Soziologie die gesellschaftliche »Erfindung« der Gesellschaft »als [die] ›Entdeckung‹ eines neuen wissenschaftlichen Gegenstands« ausgegeben hatte (Spreen 2004, 45), um dadurch die Auszeichnung einer Einzelwissenschaft zu erhalten. Daneben scheint die Unterscheidung dafür verantwortlich, dass das Individuum in der Soziologie vergleichsweise marginalisiert ist. Die Unterscheidung bleibt ein Problem, weil sich Individuum und Gesellschaft gegenseitig voraussetzen und bedingen und weil die andere, nicht gewählte Seite dennoch mit dem Verhältnis zusammen in den blinden Fleck der Soziologie fällt. Ausschlaggebend ist, dass damit das Verhältnis aus dem Blick gerät und ein Vermittlungsproblem auftritt. Eine Antwort darauf, so schliesst die vorliegende Arbeit, muss auf anderer Ebene gesucht werden: Weil die Soziologie angeblich und nach verbreiteter Meinung »[n]ach einer ›höheren Wirklichkeit‹ [. . . ] nicht zu fragen« hat (Geiger 1931, 210) und nur selten darauf aufmerksam macht, dass es auf das »mehr als zwei« ankommt (vgl. Litt 1926, 239), scheint sie sich selbst zu blockieren, scheint sie in einer »Krise der geradlinigen [d. h. auf den Gesellschaftsbegriff bezogenen; S. B.] Interpretation des Sozialen« festzustecken (Mongardini 1996, 300). Die Idee des Gegenstands »Gesellschaft« als prädominante Wahl in der Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft hat deren Verhältnis anscheinend überflüssig gemacht; es gibt anscheinend keine Notwendigkeit, es als solches zu betrachten. Dies wird schliesslich als der blinde Fleck der Soziologie bezeichnet. Er verhindert, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in seiner grundlegenden Funktion für die Soziologie adressiert wird und seinerseits eine vermittelnde Rolle übernehmen kann.

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15 Im Dazwischen Die vorliegende Arbeit will das soziologische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft thematisieren. Dazu antwortet sie auf die als Problem vorausgesetzte Unterscheidung der zwei Seiten »Individuum« und »Gesellschaft«, und sie bietet einen Versuch, das »Dazwischen« von Individuum und Gesellschaft weiter greifbar zu machen. Die Frage nach dem »wie« wurde deshalb in ihr Zentrum gerückt. Es wurde zuerst gefragt und darauf geantwortet, wie sich die zwei Seiten als Begriffe, schliesslich als Konzepte fassen, und wie sich ihre »Verhältnisse« aufzeigen lassen, wie dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in sechs wegweisenden Theorien begegnet und wie mit ihm umgegangen wird; anschliessend wurde aufgezeigt, wie eine mögliche Antwort an der Schnittstelle von Struktur und Handeln (von Mikro- und Makroebene) aussehen könnte, wie sich diese Antwort durch »Vignetten« illustrieren liesse, wie schliesslich ein daran anschliessendes »Dazwischen« aussehen könnte, das auf den blinden Fleck eintreten will. In der durchgehenden Lektüre der soziologischen Texte (als Methode) ging es deshalb nicht darum, »was«, sondern »wie« sie bedeuten; es ging um die Konstruktion und Kombination – und das heisst: Ineinandersetzung – von Bedeutung. Daran orientiert sich nicht nur das methodische Vorgehen, sondern auch das konstruierte Dazwischen hat in diesem Modus zu funktionieren. Auf diese Weise, so die anfängliche Annahme, lassen sich die Spannungen im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft freilegen, um die Voraussetzung anzuzeigen, auf der das Verhältnis beruht. Es geht um die Topologie soziologischer Erkenntnis, die sich in der Beschreibung als objektive Erkenntnis darbietet. Darin zeigen sich nochmals die zwei Ebenen, welche die vorliegende Arbeit durchziehen: jene der sozialen Wirklichkeit oder der Selbstbeschreibung und jene der soziologischen Auseinandersetzung und Beschreibung. Auf beiden Ebenen wird Bedeutung (und damit auch Sinn) zu einer tragenden Einheit, da diese dauerhaft zugewiesen wird. Sinn und Bedeutung wurden deshalb als Voraussetzung des Verhältnisses bestimmt. Beide Ebenen – handelndes Individuum wie soziologische Beschreibung – erzeugen Bedeutung durch Sinn. Der vorliegende Text als Rekonstruktion soziologischer Texte hatte zum Ziel, Charakter und Bedeutung des soziologischen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft »von innen her« freizulegen. Die Arbeit tastete sich an dieses Verhältnis heran und wollte aufzeigen, wie die Leerstel-

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le gefüllt und mit dem angenommenen blinden Fleck der Soziologie umgegangen wird. Die Antwort kann darin gesehen werden, das Verhältnis selbst zu denken, eine Unterscheidung gar nicht erst zu treffen: »The issue is not whether we now wish to wiggle in the middle [der Unterscheidung von Handeln und Struktur, Individualismus und Holismus, Individuum und Gesellschaft; S. B.], but exactly how we can do this plausibly and in a manner that will carry the day.« (Wallerstein 2004, 318) Zu diesem Zweck wurde »eine neue Linie durch Tatsachen [ge]legt, die als solche durchaus bekannt sind« (Simmel 1992b, 17). Es scheint besonders sinnvoll, an dieser Stelle Georg Simmel zu zitieren, da gerade seine »Wechselwirkung« die Grundlage für die vorliegende Antwort legte. Bereits Simmel war davon ausgegangen, dass »die Soziologie als besondere Wissenschaft ihr besonderes Objekt darin [im Legen der Linie; S. B.] finden« könnte, wobei allerdings »der Begriff bisher nicht wirksam geworden wäre, der die auf jene Linie gehörige Seite dieser Tatsachen als eine ihnen allen gemeinsame [. . . ] kenntlich macht.« Die Forderung, das Verhältnis selbst zu denken, wurde bei Norbert Elias weitergeführt. Mit Niklas Luhmann wurde das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft an Sinn angebunden und eine andere Art der Vermittlung aufgezeigt. Von ganz anderer Seite als sein Zeitgenosse Emile Durkheim, nämlich von jener des Individuums, wandte sich Gabriel Tarde an dieses Verhältnis. Mit seinem Willenstheorem (ausgehend von der Gemeinschaft) zeigte Ferdinand Tönnies eine eigene Form der Vermittlung. Diese Umgänge kulminieren in einem fachfremden Ansatz, den Sphären Peter Sloterdijks. Es ist sicherlich dieser letzte Umgang, der den Raum – auch den theoretischen – nach vorne öffnet. Allen ist gemeinsam, dass sie die Unterscheidung thematisieren und damit eine mögliche Antwort vorzeichnen. Durch diese theoretischen Umgänge mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sollte kenntlich gemacht werden, dass eine andere Antwort, eine Antwort ohne Unterscheidung und somit ohne blinden Fleck, möglich ist. Anhand der Rekonstruktion und Rekombination wurde sichtbar, dass Überlegungen zu einem Vermittler oder »Dazwischen« – wenn auch nicht explizit so bezeichnet – existieren. Sie sind weitgehend vergessen gegangen bzw. von einem vorschnell gebildeten Gesellschaftsbegriff (als strukturelle Unterscheidung) verdrängt worden. Daher musste die Herangehensweise so angelegt sein, dass sie auf die Gefahr der Unterscheidung und auf das damit einhergehende Vermittlungs- und Beschreibungsproblem reagiert, nicht erst als Resultat, sondern schon in der Ausarbeitung, beim Legen der »Linie« in Simmels Sinn. Eine achtsame Lektüre bekannter Ansätze wurde vollzogen und ein neues, ungewohntes »Drittes« vorgeschlagen. Die

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notwendige Beschreibung, so sollte die Konstruktion dieses Dritten als emergentes Handeln zeigen, kann über den anschliessenden Einbezug eines Dazwischen erfolgen. Gedanklich beruht die daraus entstandene »Topologie« auf Wechselwirkung, Figuration und systemtheoretischem Sinn, auf Interpsychologie, Gemeinschaft und philosophischen Sphären. Dabei zeigt sich, dass wir uns immer schon in diesem Dazwischen befinden, die Vermittlung vielmehr im Dazwischen stattfindet. Die herkömmliche Beschreibung der Selbstbeschreibung scheint, wie das Vermittlungsproblem zeigt, nicht auszureichen, um das Verhältnis konzeptuell zu fassen und anzugehen. Im Anschluss an Begriffe, Verhältnisse und Umgänge liegt die eigentliche Antwort im Versuch eines eigenen Umgangs. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird dabei als ein allseitig emergentes Handeln in einer imaginären Topologie aufgefasst. In diese Topologie sind emergente und wechselseitig interagierende Sinn- und Bedeutungsprozesse (nicht Ebenen!) eingezogen. Die Relation von Individuum und Gesellschaft wird über eine Relation von Sinn und Bedeutung konstruiert, welche im Dazwischen als Mechanismus aufgeht und die sozialen Vorgänge und Effekte erklären soll. In ihm werden die eigenen Konstitutionsbedingungen des emergenten Verhältnisses – als »aus sich« der Gesellschaft und als »aus mir« des Individuums – sichtbar. Da das umfassende Dazwischen auf beiden Seiten zugleich zu finden – sie beide darin aufgehen – und auf keine zu reduzieren ist, bietet es die Grundlage für die Vermittlung, die Grundlage für den soziologischen Blick auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Dadurch vermittelt es zwischen Struktur und Handeln wie zwischen Mikro- und Makroebene, ohne dass die eine Seite in den blinden Fleck fällt. Schliesslich gibt es keine »zwei Seiten« mehr, wenn die Unterscheidung aufgelöst wird und wenn Individuum und Gesellschaft in der Topologie des Dazwischen vermittelt werden. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft darf nicht mehr im Sinne der klassischen Emergenzthese verstanden werden. Die vorgeschlagene Erweiterung um ein emergentes Handeln, das eine allseitige Emergenz einschliesst, führt zur Konstruktion eines Dazwischen von Individuum und Gesellschaft. Allerdings folgt: Es gibt »das« Dazwischen nicht, sondern vielmehr ein Dazwischen als »Topos«. Dieser bezeichnet nur den »Ort«, an welchem die Vermittlung stattfindet. Das »im Dazwischen sein« erlaubt, dass sich jene Bedeutung einstellt, welche sich Individuum und Gesellschaft gemeinsam zuweisen und sich dadurch gegenseitig konstituieren. Dieses Dazwischen, welches als Vermittlungsfeld für Bedeutung angenommen wird, soll die kritisierte Unterscheidung so weit als möglich angreifen.

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Es ist das Los der Soziologie, die Beschreibung der Selbstbeschreibung zu leisten und diese kann nun, so wurde hier vorgeschlagen, über den Einbezug eines soziologischen Mediums – als Vermittler im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft – erfolgen. Die Vielfalt, in welcher sich dieses Medium zeigt, scheint weite Bereiche des sozialen Lebens einzuschliessen; dies legen die fallrekonstruktiven »Vignetten« als je unterschiedliche Zugänge nahe. Zumindest, so vermittelt die Konstruktion des Dazwischen, trifft dies für jene Bereiche zu, die über Narrative oder allgemeiner über symbolisch vermittelte Interaktion funktionieren. Da spätestens Max Weber (1988e, 332) das »Symbol« als konstitutive Voraussetzung »aller ›soziale[r]‹ Beziehungen« setzte, und demzufolge das sinnhafte Handeln immer schon »symbolisch« (bzw. sinnbildlich) ist, dürfte diese mediale Bedingung für das »Verstehen« sozialer Phänomene schlechthin gelten (vgl. Helle 1980, 16 f., 146 f.). Damit soll keinesfalls verdeckt werden, dass jeweils die tiefere Dimension der Bedeutungen und Deutungen zwischen Individuum und Gesellschaft interessiert. Die Antwort auf die problematische Unterscheidung und den damit zusammenhängenden blinden Fleck wird in der Verbindung von Handlungstheorie, Strukturtheorie und interpretativer Soziologie gesehen. Somit ordnet sich die Arbeit in die aktuelle soziologische Diskussion ein, welche sich der »gradlinigen Interpretation des Sozialen« (bzw. ihrer Nachteile) und der symbolischen Interaktion (bzw. ihrer Vorteile) zunehmend bewusst wird (vgl. Maines 2001, 2). Durch eine solche Verbindung erfolgt eine direkte Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft, womit die Soziologie zugleich ihrem Nutzen, gemäss vorliegender Auseinandersetzung ist dies die erklärende Beschreibung des Verhältnisses der beiden, zugeführt werden kann. Im Anspruch der Gegenüberstellung und der Vermittlung zeigt sich jedoch ein Widerspruch zur Intention, die Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft aufzulösen. Die Bedeutung des vorgeschlagenen Ansatzes für die Soziologie wird daher in der Aufdeckung und Kenntlichmachung dieses Widerspruchs gesehen. Die Soziologie gewinnt einen neu aufbereiteten Zugang zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, welcher das Vermittlungsproblem mitdenkt. Sie gewinnt eine experimentelle Beschreibungslogik, die als Ausgangspunkt für Explorationen und Explikationen an der gemeinsamen »Linie« von Individuum und Gesellschaft genutzt werden kann. Dies wird durch eine Topologie erreicht, die als konzeptueller »Ort« der Vermittlung dient. Diese Topologie bietet ein Instrumentarium, um das Verhältnis ganzheitlich zu fassen und zu beschreiben. Der Nutzen kann zudem an jener Stelle beobachtet und festgemacht werden, an welcher Konzeption und Instrumentarium versagen.

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Das Bild einer (selbst) »gegebenen«, eigenständigen Entität »Gesellschaft«, die besteht, weil das Individuum per se sozial ist, ist schwierig zu umgehen: »The human existence is undissociably a psychic and a social one. A nonsocialized human being does not and cannot exist.« (Castoriadis 2007, 200) Eine Gesellschaft »für sich«, so sollten meine Ausführungen zeigen, darf es für die Soziologie dennoch nicht geben, weil sie sonst nicht in die Lage versetzt wird, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in sinnvoller Weise zu fassen. Selbst Niklas Luhmanns Systemtheorie, die dieses Verhältnis explizit durch Funktion und Differenzierung der Gesellschaftskonstitution ersetzen will, ist (wie das entsprechende Kapitel offenlegt) weiterhin auf einen Vermittler der nicht zu beseitigenden »Differenz« von psychischem und sozialem System angewiesen. Allerdings kann auch der vorliegende Ansatz die Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft nicht vollständig auflösen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass es diese Unterscheidung heuristisch weiterhin braucht, um das Verhältnis in den Blick zu nehmen und damit aus dem blinden Fleck zu rücken. Dieser Widerspruch, der sich erst im Verlauf der Bearbeitung gezeigt hat, könnte als »dritte Paradoxie« der Soziologie bezeichnet werden. Das »Dritte« neben Individuum und Gesellschaft ist schliesslich mit der »unreduzierbare[n] Komplexität des Individuums [konfrontiert; S. B.], die sich als Problem stellt.« (Mongardini 1996, 301) Darauf gibt auch die vorliegende Arbeit keine abschliessende Antwort. Diese Komplexität müsste nun, neben jener der Gesellschaft, in den Blick genommen werden, und dazu hat die Aufarbeitung ihres Verhältnisses einen ersten Beitrag geleistet. Es ergibt sich dabei allerdings der genannte Widerspruch zwischen der Auflösung des kritisierten blinden Flecks und der Entfaltung der zwei Paradoxien einerseits und der erstrebten Vermittlung im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und deren Beschreibung andererseits. Indem das Verhältnis sichtbar gemacht wird und die zweite »Seite« hervortritt, macht sich das Vermittlungsproblem von Struktur, Interaktion und Individuum verstärkt bemerkbar. Mit dem Individuum tritt eine weitere Komplexität auf, die bislang (ebenfalls) unsichtbar blieb. Beim Versuch, die ersten zwei Paradoxien zu entfalten, entsteht eine dritte. Die dritte Paradoxie der Soziologie besagt, dass sie sich in der Beschäftigung mit ihrem Gegenstandsbereich mit eigentlich insgesamt vier Gegenständen auseinandersetzen muss: mit der Gesellschaft, mit dem Individuum, mit dem Verhältnis der beiden (als Gegenstandsbereich gegeben) und mit sich selbst – letzteres gegeben durch die ersten zwei Paradoxien (vgl. Bourdieu 1993a, 83 f.). Paradox daran ist: Während die Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft auf-

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gehoben werden muss, um das Verhältnis erklärend zu beschreiben, muss sie heuristisch zugleich beibehalten werden, um der zunehmenden Komplexität zu begegnen und um dem letzten Gegenstand gerecht zu werden: der Selbstbeschreibung der Selbstbeschreibung durch die Soziologie. In der Folge und im Interesse des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft muss eine Instabilität der Beschreibungslogik (d. h. des Modells) in Kauf genommen werden, welche durch die dritte Paradoxie dauerhaft vorhanden ist. Die kleineren Formen, die bereits von Georg Simmel und Max Weber postuliert wurden und die eher beim Individuum verortet sind, müssten verstärkt adressiert werden, um die allseitig wirksame Komplexität unter Kontrolle zu halten. Allenfalls dürfte sich weiterhin bewahrheiten, dass diese Paradoxie zwar auf die Gegenstände, nicht aber auf die Idee von diesen Gegenständen wirkt. Es zeigt sich, dass die Paradoxien und damit der angenommene blinde Fleck der Soziologie auf die Prioritätensetzung im Umgang mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft – d. h. die Betrachtung von der einen oder der anderen Seite her – zurückgeführt werden können. Die gewählte Methode einer »ineinandergreifenden« Lektüre macht dies deutlich. Die Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft und der daraus erscheinende blinde Fleck lassen sich nicht – wie ursprünglich erwartet – aufheben, sondern allenfalls bewusst machen und dadurch weiter fassen und adressieren. Indem unterschiedliche Lösungsansätze ineinander eingesetzt wurden, hat sich genauer gezeigt, was dabei hervortritt. Das »Dazwischen« von Individuum und Gesellschaft wird dahingehend konzipiert, dass einzelne, theoriegeschichtlich bedeutsame Konzepte (sowohl Theorien als auch einzelne Theoreme und Grundbegriffe) in andere solche Konzepte eingesetzt werden. Das Resultat ist somit kein Resultat in herkömmlichem Sinne, sondern ein Verweis auf Inkonsistenzen und Paradoxien. Bei der Übertragung einzelner Problemsachverhalte und bestehender Lösungsansätze zeigt sich, dass nicht primär etwas gewonnen wird, sondern dass ein Verlust eintritt. Fruchtbare Elemente dieser Konzepte gehen zuerst verloren und müssen dann erneut eingefangen werden. In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, diese verlorenen Elemente herauszuarbeiten und in den Gesamtkontext des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu setzen. Durch die erneute Übertragung zwischen theoretischen Fassungen und Antwortalternativen zeichnet sich ab, dass hinsichtlich dieses Verhältnisses jeweils etwas mitgemeint ist, das sich nur schwer auf den Punkt bringen lässt. Gegenstand der Arbeit und ihrer methodischen Herangehensweise einer »entdeckenden« Betrachtung sind deshalb jene Elemente, die etwas bewegen. Es wurden jene so-

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ziologischen Kategorien hervorgehoben und in Beziehung gesetzt, die andere, ebenso bedeutsame Kategorien berühren und anreichern, sei es durch sich selbst oder durch die Konfrontation mit anderen Konzepten und anderen Bestandteilen eines möglichen »Dazwischen« von Individuum und Gesellschaft. Dieses Ausdehnen und Überdehnen durch (wieder-)entdeckte Inkonsistenzen und Paradoxien bilden die Methodik des vorgeschlagenen »Dazwischen«, das selbst instabil bleibt, instabil bleiben muss. Die klassische Sozialtheorie, so wollte es die Arbeit aufzeigen, hält wertvolle Antworten bereit, die sich über »Umwege« und »Umgänge« in eine zeitgenössische Formulierung überführen lassen. Die Perspektive des sozialen Individuums würde zudem dazu einladen, die vorgelegte Konzeption mit einer sozialpsychologischen Feldtheorie in Beziehung zu setzen (vgl. Lewin 1936; Wössner 1969). Näher zum Individuum würde es sich anbieten, sie mit der Psychoanalyse zu verbinden, denn deren »Tatbestände [am Ende des 19. Jahrhunderts] verweisen [ebenfalls; S. B.] auf ein spezifisches Drama an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft«. Dieses Drama entstand durch den »Zwiespalt« oder »Gegensatz« und »aus der [anschliessenden; S. B.] Kollision« von gesellschaftlicher Struktur/Kultur einerseits und anthropologisch-naturwüchsigem Individuum andererseits, von zunehmend funktionaler und reflexiver »menschliche[r] Aussenund Innenwelt« (Reimann 1991, 108 f., vgl. 32–60). Diese Kollision führte ebenfalls zu den Paradoxien der sie beschreibenden Soziologie. Mit zu dem beteiligten und komplexen Prozess sozialer Beziehung zählen die Gleichzeitigkeit von sich ausbildenden und sozial geformten individuellen Gedanken, von psychischen und sozialen Formen, die narrativ als beständig und veränderlich erscheinen, von bewussten und unbewussten Ausprägungen, die zu vielfältigen Interaktionsmustern führen. Die Logik des Sowohl-als-auch kann Individuum und Gesellschaft vorgeblich nur sequentiell behandeln und ist mit dem – im vorgelegten Ansatz ebenfalls versuchsweise behobenen – Problem von »innen« und »aussen« konfrontiert (vgl. Stacey 2003, 327 f.). Eine daran anschliessende, weiterführende Überlegung zur Paradoxie ist an die vorliegende Arbeit angebunden: durch das bereits erwähnte Verhältnis von Idee und Gegenstand. Die Verbindung von symbolischer Interaktion und erklärender Beschreibung der sozialen Wirklichkeit (mithin als »Verstehen« bezeichnet) wurde in neuerer Fassung vom deutschen Soziologen Horst Jürgen Helle (2005) vorgelegt – allerdings in englischer (!) Sprache. Dieser Hinweis soll auf eine »soziologische Amnesie« gegenüber dem Symbolischen Interaktionismus aufmerksam machen (vgl. Atkinson/Housley 2003, xiii, 145, 165 f.). Sie betrifft auch die deutschsprachige Traditi-

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on, was gerade historisch durch Georg Simmel und Max Weber wenig verständlich ist. Dabei wäre eine derart pragmatische Soziologie prädestiniert, die Dualismen und die beigegebene Komplexität anzugreifen (vgl. Atkinson/Housley 2003, 173; Miller et al. 1997). Das erstrebte »Dritte« kann mit Simmel im Nachgang zu Plato als »Reich der Ideen [bezeichnet und] in den ›unräumlichen Raum‹ verlegt« werden (Simmel 1927, 109; Hervorhebung S. B.). Diese »Ideen« vermitteln zwischen Bewusstsein und Gegenstand. Es würde gelten: »der Sinn des Handelns hat seinen Ort im Bewusstsein des handelnden Subjekts.« (Helle 1980, 40, vgl. 59) Damit zeigt sich eine Verbindung, die wiederum als Wechselwirkung aufgefasst werden kann: Der Sinn einer Handlung könne »nur dem Bewusstsein des Handelnden« entnommen werden; deshalb »lieg[e] ›Handeln‹ im Spannungsfeld zwischen dem aus dem Bewusstsein [. . . ] abrufbaren ›Sinn‹ und dem ›Sachbereich‹ der physischen Gegebenheiten«, die im Handeln »aufeinander bezogen« werden (Helle 1980, 18). Das fortgeschrittene Verhältnis von Idee und Gegenstand liesse sich mit den Verhältnissen von Handeln und Struktur, von Sinn und Bedeutung, von Kognition und Sprache wie von Psychologie und Soziologie in Beziehung setzen. Ein alternatives, klassisches Herangehen an die Thematik der vorliegenden Arbeit hätte darin bestehen können, Psychologie und Soziologie näher zusammenzurücken. Dieser Weg wurde deshalb nicht gewählt, weil er zuwenig soziologisch schien und sich ein entsprechendes Unterfangen in beträchtlicher Weise innerhalb der Psychologie hätte bewegen müssen. Es war damals allerdings (mit Ausnahme der Wahl von Peter Sloterdijks Sphären) nicht absehbar, welche zentrale Rolle philosophische Betrachtungen im gewählten Herangehen einnehmen würden. Vereinfacht und nicht weiter ausgeführt, liesse sich vermuten, dass die Philosophie im vorliegenden Ansatz an die Stelle der Psychologie tritt (vgl. Bunge/Ardila 1987; Hedström 2003; Winch 1990; Hollis 2002; Tuomela 2007). Beide haben dabei anscheinend denselben Nutzen: das Verhältnis durch das Individuum und durch die »Idee« anzugehen. Die Soziologie scheint geradezu auf die Unterstützung durch andere Disziplinen angewiesen, sei es eine philosophische Soziologie zu Zeiten Georg Simmels, sei es eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Sozialpsychologie, wie sie im Interaktionismus zum Ausdruck kommt, oder sei es eine der anderen Hilfeleistungen, die beigezogen wurden. Der Akzent einer diesbezüglich »vielversprechenden« Soziologie, so eine Formulierung im Anschluss an die Literaturwissenschaft und die von ihr entliehenen Lektürepraktik, liegt dann weniger auf der Fiktionalität ihres Gegenstands, »als vielmehr auf der Wechselbeziehung zwischen dieser Fiktionalität und solchen Kategorien, die an-

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geblich ihre Teilhabe an der Wirklichkeit betreffen, wie zum Beispiel Selbst, Mensch, Gesellschaft« (de Man 1988, 31). Indem die »Idee« – als Fiktionalität des Gegenstands – näher an diesen angebunden würde, könnte den kritischen Stimmen gegen eine »höhere Wirklichkeit« besser begegnet werden: »Das Grundschema der Vorstellung, die man von sich selbst und von anderen Menschen hat, ist eine der elementarsten Bedingungen dafür, dass man sich unter Menschen [und in der Gesellschaft] zurechtfindet« und verständigt (Elias 2001, 132). Diese Vorstellung oder Idee – als die Erfahrung prägender und weitgehend pluraler Individuen – ist für das Verständnis unabdingbar und doch nicht zweifelsfrei auf der Ebene einer objektiven Wirklichkeit angesiedelt (vgl. Bourdieu 1993b, 31). Der vorliegende Ansatz gelangt zum Schluss, dass der Dialog innerhalb der Sozialwissenschaften, mit dem Ziel eine andere ontologische oder epistemologische Grundlegung festzusetzen, schwierig ist. Deshalb verfährt er ganz bewusst über ein »fremdes« (ein eigenes) Verständnis der zugrunde gelegten Ansätze aus Netzwerktheorie und Emergenzthese, aus Medien- und Sprachwissenschaft sowie aus der Architektur, und er verfährt über ein ebenso »fremdes« Verständnis ihrer soziologischen Bedeutung, soziale Wirklichkeit zu erklären – nicht material und empirisch, sondern als Denkweise und Lesart. Im Zentrum des Ansatzes, der über das Bestehende hinaus denken will, steht eine Betrachtung darüber, was das Dazwischen von Individuum und Gesellschaft, und anhand dessen, was »Bedeutung« für die Soziologie bedeutet und weshalb sie seit den Ursprüngen der Disziplin (den »Vorstellungen« bei Emile Durkheim und dem »Wert« bei Max Weber) vorhanden war und dadurch zumindest retrospektiv als relevant erschien und trotzdem – meinem Vorwurf gemäss – im weiteren Verlauf zuwenig Beachtung fand. Während sich die Soziologie in erster Linie mit »objektiven« Sinnstrukturen befasst, also mit der Funktion, die eine Äusserung in einem Kommunikations- und Handlungskontext besitzt (vgl. Ludwig-Mayerhofer 1999), geht es mir zusätzlich und mit gleicher Gewichtung um den »subjektiv gemeinten« Sinn dieser Äusserung. Darauf verweist die »Idee« in Ergänzung zum »Gegenstand« ebenfalls. Dieser Zusammenhang gilt wiederum auf beiden Ebenen: der sozialen Wirklichkeit wie der soziologischen Beschreibung (der Empirie wie der Theorie). Somit wurden eine theoretische Rekonstruktion und ein daran anschliessender, eigener Ansatz vorgelegt, die angeben sollen, wie die Gegenstände und ihr Verhältnis eingeholt werden könnten. Der Schlüssel zum Verständnis der sozialen Wirklichkeit oder des »Gegenstands« wird darin gesehen, das Verhältnis von individuellen, kognitiven Prozessen und gesellschaftlichen, symbolischen Prozessen selbst als »Pro-

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zess« aufzufassen und theoretisch als »Idee« zu verstehen. In einem nächsten Schritt ginge es nun darum, die Soziologie in das gedachte Dazwischen einzuholen. Es ist ebenfalls Aufgabe ihrer erklärenden Beschreibung der sozialen Wirklichkeit, das zugrunde liegende »Muster [erst] zu erkennen lehren.« (Wiese 1924, 250) Schliesslich ergibt sich dennoch der Ruf nach einer »Soziologie der Soziologie« (vgl. Bourdieu 1993c; Burkart 2003). Allerdings dürfte sich bewahrheiten, dass die dritte Paradoxie nicht mehr (und nicht einmal ansatzweise) von der Soziologie selbst entfaltet werden kann, sondern nach einer umfassenderen Wissenschaftstheorie und -historie verlangt. Indem mit dem vorliegenden Ansatz die Grenzen des Problemfelds, d. h. des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft gefasst als Unterscheidung, überdehnt und durchlässig gemacht wurden, sollte die Soziologie für eine andere Sichtweise, eine Sichtweise ohne »blinde« Unterscheidung, ansprechbar gemacht werden. Durch ein vielseitiges Ineinandersetzen soziologischer Kategorien und Antwortalternativen will die vorliegende Arbeit ein Nachdenken bewirken und den theoretischen Raum nach vorne öffnen. Damit endet auch der Anspruch dieser Auseinandersetzung. In einem weiteren Schritt liessen sich die losen Enden zusammenziehen und ein reflektierender »Weiterzug« problembehafteter Prioritäten, Annahmen und Unterscheidungen in der Soziologie angehen. Dies betrifft auch die Schnittstellen zu Philosophie, Sozialpsychologie und Anthropologie. Mit einer derartigen, fortlaufenden Synthese müsste auch die Frage nach dem »wie« der Soziologie weiterverfolgt und ausgedehnt werden. Die Arbeit schliesst mit der Aufforderung, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft weiter zu erforschen, die Paradoxien um ein »Dazwischen« dieser beiden Seiten weiterhin zu erkunden. Diese Erkundungen sind Mittel zum Zweck, die soziologische Selbstbeschreibung der Selbstbeschreibung und damit die erklärende Beschreibung der sozialen Wirklichkeit laufend zu verbessern. Eine Soziologie des emergenten Handelns, die in imaginären Topologien denkt, bietet sich dabei als ein möglicher Ausgangspunkt an.

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Sozialtheorie Ulrich Bröckling, Robert Feustel (Hg.) Das Politische denken Zeitgenössische Positionen Januar 2010, 340 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1160-1

Markus Gamper, Linda Reschke (Hg.) Knoten und Kanten Soziale Netzwerkanalyse in Wirtschaftsund Migrationsforschung Oktober 2010, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1311-7

Jürgen Howaldt, Michael Schwarz »Soziale Innovation« im Fokus Skizze eines gesellschaftstheoretisch inspirierten Forschungskonzepts August 2010, 152 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1535-7

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Sozialtheorie Karin Kaudelka, Gerhard Kilger (Hg.) Die Arbeitswelt von morgen Wie wollen wir leben und arbeiten? September 2010, ca. 234 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1423-7

Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze Dezember 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

Elisabeth Mixa Body & Soul Wellness: von heilsamer Lustbarkeit und Postsexualität Dezember 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1154-0

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Sozialtheorie Roswitha Breckner Sozialtheorie des Bildes Zur interpretativen Analyse von Bildern und Fotografien Oktober 2010, ca. 386 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1282-0

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Michael Busch, Jan Jeskow, Rüdiger Stutz (Hg.) Zwischen Prekarisierung und Protest Die Lebenslagen und Generationsbilder von Jugendlichen in Ost und West Januar 2010, 496 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1203-5

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Oktober 2010, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Matthias Klemm Das Handeln der Systeme Soziologie jenseits des Schismas von Handlungs- und Systemtheorie Oktober 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1569-2

Carolin Kollewe, Elmar Schenkel (Hg.) Alter: unbekannt Über die Vielfalt des Älterwerdens. Internationale Perspektiven Januar 2011, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1506-7

Sophie-Thérèse Krempl Paradoxien der Arbeit oder: Sinn und Zweck des Subjekts im Kapitalismus Oktober 2010, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1492-3

Stephan Lorenz (Hg.) TafelGesellschaft Zum neuen Umgang mit Überfluss und Ausgrenzung August 2010, 240 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1504-3

Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer (Hg.) Handeln unter Risiko Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge Juli 2010, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1228-8

Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer (Hg.) Sicherheit und Risiko Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert März 2010, 266 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1229-5

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