Psychosoziale Beratung im Spannungsfeld von Gesellschaft, Institution, Profession und Individuum 9783666462672, 9783525462676, 9783647462677

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Psychosoziale Beratung im Spannungsfeld von Gesellschaft, Institution, Profession und Individuum
 9783666462672, 9783525462676, 9783647462677

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Heike Schnoor (Hg.)

Psychosoziale Beratung im Spannungsfeld von Gesellschaft, Institution, Profession und Individuum

Mit 4 Abbildungen und 1 Tabelle

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462676 — ISBN E-Book: 9783647462677

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-46267-6 ISBN 978-3-647-46267-7 (E-Book) © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Heike Schnoor Einfluss auf Beratung – Einfluss durch Beratung?! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1.  Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung Meinolf Peters, Margarete Suschek und Heike Schnoor Psychosoziale Beratung zwischen humanistischer Aufklärung und Sozialtechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Anna Stach Tanjas Haare – Zur Komplexität und Intergenerationalität von Körpernormen und Schönheitshandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Benno Hafeneger, Reiner Becker und Grete Schläger Das »heiße Herz« und der »kühle Verstand«. Mobile Beratung im Problemfeld Rechtsextremismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Angelika Trilling und Meinolf Peters »Der alte Mensch wird immer mehr zu dem, der kein Wissen hat …«. Zur sozialtechnischen Umgestaltung der Beratung Älterer . . . . . . . . . . . . . . 48 Margarete Suschek Beratung unter den Zwängen des aktivierenden Sozialstaats . . . . . . . . . . . . 60 Stefan Grösch Zwangsberatung – Rekonstruktionsversuch einer sozialrechtlichen Beratungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

2.  Institutionelle Einflüsse auf Beratung Angela Schmidt-Bernhardt, Heike Schnoor und Monika Sennekamp Institutionelle Beratungsangebote im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Veränderungsdruck und individuellen Bedürfnissen

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Inhalt

Elisabeth Rohr Überwachen und denunzieren. Aspekte psychosozialer Traumatisierung in einer sozialen Organisation. Ein Fallbeispiel aus Guatemala . . . . . . . . . . 92 Ute Schaich Einflüsse auf die Beratung von Eltern von Kleinst- und Kleinkindern in der Kindertagesstätte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Beatrice Kustor-Hüttl Schule – das Nadelöhr für den Bildungserfolg in der Migration. Aspekte für die interkulturelle Beratung zur Förderung von schulischem Erfolg 120 Stefan Wißmach Psychodynamische Beratung in Institutionen. Konzeptionelle Anpassungen in und aus Sicht der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Angela Schmidt-Bernhardt Gruppenanalytische Beratung und szenisches Verstehen in der universitären Lehrerbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Monika Sennekamp Einflüsse auf die Schulung ärztlicher Beratungskompetenz am Beispiel der Ausbildung von Medizinstudierenden . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

3.  Professionelle Einflüsse auf Beratung Uta-Kristina Meyer, Heike Schnoor und Carolin Tillmann Psychosoziale Beratung im Spannungsfeld disziplinärer und professioneller Deutungshorizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Heike Schnoor Was nicht passt, wird ausgeklammert – Was nicht passt, wird passend gemacht. Vom Anliegen der Klienten zum organisierten Problemlösungsprozess in der Beratung . . . . . . . . . . . . . 172 Burkard Thiele Mündigkeit und Emanzipation als Ziel systemischer Beratung? . . . . . . . . . 183

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Inhalt

Uta-Kristina Meyer Von der vergessenen Größe zum zentralen Subjekt: Kinder in der Trennungs- und Scheidungsberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Carolin Tillmann Potenzial zum Empowerment von kranken und behinderten Menschen: Peer Counseling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

4.  Individuelle Einflüsse auf Beratung Denise Bergold-Caldwell, Helga Krüger-Kirn, Monika Lang, Heike Schnoor und Jasmin Scholle Psychosoziale Beratung als intersubjektiver Prozess und die Fiktion beraterischer Neutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Jasmin Scholle und Denise Bergold-Caldwell Beratung als macht- und vorurteilsbewusstes Handlungsgeschehen?! Eine Perspektive auf differenzmarkierende Subjektivierungsprozesse . . . . 226 Helga Krüger-Kirn Paarberatung in Zeiten postmoderner Beziehungswelten. Eine psychoanalytische und geschlechterkritische Annäherung . . . . . . . . . 240 Monika Lang Religiöser Glaube und Spiritualität. Chancen und Grenzen einer Einbeziehung in Beratungsprozesse am Beispiel von Eltern mit einem Kind mit Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Susanne Maurer Somatische und biografische Resonanzen – eine Chance zur Überbrückung von Ungleichheit und Differenz in der Beratungssituation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Heike Schnoor Psychosoziale Beratung unter Einfluss: Absichten – Einsichten – Aussichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

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Heike Schnoor

Einfluss auf Beratung – Einfluss durch Beratung?!

Psychosoziale Beratung ist ein relevantes Arbeitsfeld in der pädagogischen Praxis und neben Organisieren und Erziehen eines von drei Kernaufgaben von Erziehungswissenschaftlern. Die wachsende Bedeutung dieser Hilfeform zeigt sich auch in der steigenden Anzahl von Veröffentlichungen. Dabei fällt auf, dass die Publikationen zumeist auf spezifische Handlungsfelder (zum Beispiel Schwangerenberatung, Familienberatung, Arbeitslosenberatung, Organisationsberatung), auf spezifische Disziplinen (zum Beispiel pädagogische oder psychologische Beratung), Beratungsformen (Supervision, Kollegiale Beratung, Mediation, Coaching) oder Beratungsansätze (klientenzentrierte, systemische, psychodynamische Beratung) abheben. Was dabei »übersehen« wird, sind die vielen Einflussnahmen auf den Hilfeansatz Beratung selbst. Professionelle Beratungen sind organisierte Hilfeprozesse und finden immer in einer Gemengelage unterschiedlichster gesellschaftlicher, institutioneller, disziplinärer und professioneller Einflüsse statt: Gesellschaftliche Rahmungen, offizielle, aber auch »heimliche« institutionelle Regeln, professionelle Einschätzungen von der Klientel, offizielle, aber auch »heimliche« Curricula in der Aus- und Weiterbildung sowie subjektive Einstellungen der professionellen Akteure haben – neben den konzeptionellen und methodologischen Vorgehensweisen – Auswirkungen auf Beratungsprozesse. Diese Einflüsse prägen Wahrnehmungen, Haltungen und Einstellungen der Beratenden und Klienten. Sie lassen manches in den Blick kommen, blenden anderes aber auch aus, und sie begründen auf diese Weise Spannungsfelder, die bis auf die konkrete psychosoziale Beratung durchschlagen können. Psychosoziale Beratungen thematisieren und bearbeiten also nicht nur die Spannungsfelder ihrer Klientel, sondern sie bewegen sich auch selbst darin. Wenn man diese soziale Kontextuierung ausblendet, betrachtet man Beratung als eine quasi neutrale Hilfeform, die – objektiv und methodisch sauber gehandhabt – eine effektive Problemlösung der Klientel garantiert. Dies ist jedoch nicht der Fall.

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Schnoor  |  Einfluss auf Beratung – Einfluss durch Beratung?!

Einflüsse auf Beratungsprozesse werden zwar im sozialwissenschaftlich ausgerichteten Beratungsdiskurs nicht bestritten, aber sie sind seit den 1970er Jahren aus dem Blick geraten und werden aktuell nur selten thematisiert. Während im Kontext von Beratung also üblicherweise die Klientel mit den sie beeinflussenden Größen in den Blick genommen werden, wird in diesem Buch die Beratung selbst zum Gegenstand der Reflexion gemacht und die Wechselwirkungen zwischen den Einflüssen auf Beratung und den Einflüssen durch Beratung erörtert. Die Beiträge entwickeln die Fragestellung dieses Buchs nicht systematisch, sondern exemplarisch. Anhand empirischer Untersuchungen, konzeptioneller und methodologischer Überlegungen sowie Fallbeispielen in unterschiedlichen Praxisfeldern und Zielgruppen wird sowohl auf die Ursachen und Erscheinungsformen dieser Spannungsfelder hingewiesen als auch nach verbliebenen Handlungsoptionen und konkreten Umgangsweisen gesucht. Auf diese Weise wird die Ubiquität und Universalität beeinflussender Faktoren auf Beratung sichtbar. Beratung ist eine Querschnittmethode in der Erziehungswissenschaft und ein Forschungsschwerpunkt des Instituts für Erziehungswissenschaft an der Universität Marburg. Die Beiträge dieses Bandes dokumentieren die vielfältigen Forschungsaktivitäten des Instituts im Bereich der psychosozialen Beratung. Auf diese Weise entfaltet sich auch eine erziehungswissenschaftliche Perspektive auf dieses pädagogische Praxisfeld. Zu den Beiträgen dieses Buchs Die einzelnen Beiträge dieses Buchs werden thematisch in vier Teile zusammengefasst und jeweils durch eine kurze Einführung eingeleitet. Dort nehmen die Autoren des jeweiligen Teils eine Einordnung ihrer Aufsätze in eine übergeordnete Fragestellung vor und vertiefen den inhaltlichen Bezug zwischen ihren Beiträgen. Das Buch schließt mit einer zusammenfassenden Darstellung der Ergebnisse dieses Bandes und deren Einordnung in den aktuellen Beratungsdiskurs. 1. Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

Meinolf Peters, Margarete Suschek, Heike Schnoor: Psychosoziale Beratung zwischen humanistischer Aufklärung und Sozialtechnologie. Eine Einführung in den ersten Teil. Anna Stach: Tanjas Haare – Zur Komplexität und Intergenerationalität von Körpernormen und Schönheitshandeln. Der Beitrag zeigt anhand eines Beratungsprozesses die Komplexität und Widersprüchlichkeit von Körpernormen und Schönheitshandeln auf. Er basiert im Anschluss an psychoanalytisch-konflikttheoretische Perspektiven auf der Annahme, dass individuelle Körpernormen

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und -konflikte mit sozialen und historischen Konflikten verwoben sind und sowohl bewusste als auch unbewusste Sinnebenen umfassen. Die Darstellung und Diskussion der Rekonstruktionen im Beratungsprozess veranschaulichen, wie der Körper einer Frau zum Austragungsort sozialer, historischer Konflikte wurde und wie sich die generationale Weitergabe und Verarbeitung weiblicher Körpernormen und -erfahrungen gestaltete. Benno Hafeneger, Reiner Becker, Grete Schläger: Das »heiße Herz« und der »kühle Verstand«. Mobile Beratung im Problemfeld Rechtsextremismus. Seit 1998 werden Ansätze zur mobilen Beratung im Problemfeld »Rechtsextremismus« erprobt, die dabei einer zunehmenden Professionalisierung unterliegen. Das Beratungsfeld ist komplex und von unterschiedlichen Erwartungen bestimmt. So finden Beratungen oftmals unter großem Druck bei allen Beteiligten statt, der durch eine mediale Öffentlichkeit einerseits und konfligierende Interessen andererseits verstärkt wird. Dieser Beitrag skizziert zunächst die Besonderheit des Problemfeldes und zeichnet dabei vor allem den Professionalisierungsprozess anhand der Arbeitsweise des »beratungsNetzwerks hessen – Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus« sowie die spezifischen Herausforderungen des Beratungsfeldes anhand der Auswertung eines Beratungsfalles im kommunalen Raum nach. Angelika Trilling, Meinolf Peters: »Der alte Mensch wird immer mehr zu dem, der kein Wissen hat …«. Zur sozialtechnischen Umgestaltung der Beratung Älterer. Der Bedarf an psychosozialer Beratung Älterer wächst, was sowohl auf die demografische Entwicklung, den Kohortenwandel als auch auf die psychosozialen Konfliktlagen Älterer, die im Zeichen der Postmoderne zunehmend komplexer werden, zurückzuführen ist. Dennoch verengt sich das Beratungsverständnis in Folge des Pflegeversicherungsweiterentwicklungsgesetzes tendenziell auf ein Case-Management für die Gruppe der Pflegebedürftigen bzw. der pflegenden Angehörigen. In dem Beitrag werden die Verkürzung des Beratungsbegriffs kritisch reflektiert und Konsequenzen aufgezeigt. Margarete Suschek: Beratung unter den Zwängen des aktivierenden Sozialstaats. Beratung gilt als eine wesentliche Handlungsform Sozialer Arbeit und ist in ihrer Zielsetzung eng verbunden mit dem sozialstaatlichen Auftrag der Sozialen Arbeit. Mit Beratung wird deren freiwillige Inanspruchnahme verbunden. Diese Voraussetzung wird jedoch nun für die soziale Beratung im Kontext des SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende) aufgegeben. Durch die Vorgaben des aktivierenden Sozialstaats gerät vor allem soziale Beratung unter einen ihr Wesen verändernden Einfluss. Im Beratungsdiskurs wird die Frage gestellt, ob denn Beratung unter Zwang und im Kontext von Sanktionen überhaupt noch Beratung genannt werden kann. Die Antwort fällt unterschiedlich aus. Soziale

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Beratung dient dem Ausbau eines sozialen bürgerschaftlichen Status der Klientel. Sie soll Zugang zu Rechten schaffen. Soziale Beratung im Kontext des SGB II ist demgegenüber unter die Leitidee von »Fördern und Fordern« gestellt und von einem veränderten Sozialstaatsmodell in den Dienst genommen worden. Sie baut Rechte ab. Soziale Arbeit verliert dadurch eine ihrer wichtigsten Handlungsformen im Kontext von Hilfe für ein Leben nach eigenen Vorstellungen und sie wird mehr denn je in den Kontext von behördlicher Kontrolle eingebunden. Stefan Grösch: Zwangsberatung – Rekonstruktion einer sozialrechtlichen Beratungsordnung. Im Rahmen der neueren Sozialgesetzgebung avancierte »Fördern und Fordern« zum umfassenden Synonym für institutionalisierte Beziehungsgestaltung – wobei sich »Fördern« zunehmend zu einem Kontrollieren und Überwachen wandelt (Spindler, 2011). Die Teilnahme an diversen Beratungssettings gehört a priori zur Bringschuld des Leistungsberechtigten, aber auch zur Bringschuld des Sozialleistungsträgers selbst. Durch beratungsuntypische Rahmengegebenheiten dort mangelt es jedoch an einer professionellen Übersetzung der Förderintention im geforderten Beratungsprozess. Der Autor rekonstruiert den Zwangsaspekt im Dienstleistungssegment »Beratung« des SGB II, und er beschreibt beispielhaft individuelle und institutionsabhängige Übersetzungshindernisse für Beraterinnen und Berater in diesem kooperativen Prozess. Letztendlich schlägt er Auswege aus diesen Problemsituationen vor. 2. Institutionelle Einflüsse auf Beratung

Angela Schmidt-Bernhardt, Heike Schnoor, Monika Sennekamp: Institutionelle Beratungsangebote im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Veränderungsdruck und individuellen Bedürfnissen. Eine Einführung in den zweiten Teil. Elisabeth Rohr: Überwachen und denunzieren. Aspekte psychosozialer Traumatisierung in einer sozialen Organisation. Ein Fallbeispiel aus Guatemala. In diesem Beitrag geht es zunächst um die vor allem in psychoanalytischen Publikationen ausgetragene Kontroverse um das Krankheitsbild »Post Traumatic Stress Disorder« (PTSD) und um die entsprechenden politischen und gesellschaftskritischen Einwände gegen ein klinisches Konstrukt, das den historischen und den sozialen Kontext von Traumatisierungsprozessen ausblendet. In dem Beitrag geht die Autorin vor allem auf vernachlässigte Aspekte der Traumadebatte ein, um deutlich zu machen, dass sich gesellschaftliche Traumatisierungen in der Matrix von Institutionen und vor allem symptomatisch in der Arbeitsperformance von Teams niederschlagen. Diese These wird an dem konkreten Fallbeispiel einer »gescheiterten Beratung« in Guatemala veranschaulicht und anschließend mit Überlegungen verbunden, die aufzeigen, wie dieses Scheitern auch als Ausdruck unbewältigter Konflikte und Traumatisierungen einer

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Post-Konfliktgesellschaft zu verstehen ist. Auf diese Weise wird eine wesentlich andere Perspektive des Verstehens eröffnet. Ute Schaich: Einflüsse auf die Beratung von Eltern von Kleinst- und Kleinkindern in der Kindertagesstätte. Die sukzessive und individuelle Gestaltung der Eingewöhnungsphase wird als eines der wesentlichsten Qualitätsmerkmale einer guten Tagesbetreuung von Kleinst- und Kleinkindern erachtet. Die Mitwirkung der Eltern hat dabei einen hohen Stellenwert. Jedoch ruft die temporäre Trennung vom Kind in ihnen unterschiedliche Gefühle hervor, für deren Verarbeitung sie der Beratung und Unterstützung der Erzieherinnen bedürfen. Wie lässt sich diese Anforderung angesichts der Diversität familialer Lebenslagen realisieren? Der Beitrag zeigt, dass die mangelnde institutionelle und konzeptionelle Beachtung soziokultureller und psychosozialer Lebenslagen der Familien spezifische Risikofaktoren für die professionelle Interaktion zwischen Eltern und Erzieherinnen birgt. Beatrice Kustor-Hüttl: Schule – das Nadelöhr für den Bildungserfolg in der Migration. Aspekte für die interkulturelle Beratung zur Förderung von schulischem Erfolg. In diesem Beitrag werden anhand von zwei Fallbeispielen die Bedingungen für den Schulerfolg von Schülerinnen mit Migrationshintergrund herausgearbeitet und Schlussfolgerungen für eine Beratung abgeleitet. In den Schulen stoßen familiär geprägte Tendenzen der Erfolgs- oder Misserfolgserwartung und der Anstrengungsbereitschaft auf neue Situationen und Anforderungen. Schule kann auch für begabte Schüler als ein protektiver, fördernder Schutzraum oder als ein Ort der Beschädigung erlebt werden. Kinder mit Migrationshintergrund sind in der Schule in doppelter Weise benachteiligt: zum einen durch eine herkunftsbedingte Form der Selbstdiskriminierung durch Bildungsentscheidungen in den Familien selbst und zum anderen durch institutionelle Mechanismen, die diese Schüler benachteiligen. Vor allem der Gymnasialbereich setzt bei den Schülerinnen mit Migrationshintergrund die Beherrschung beider kultureller Welten voraus. Dies gelingt dann, wenn schon ihre Eltern den Brückenschlag zur Aufnahmegesellschaft vollzogen haben. Stefan Wißmach: Psychodynamische Beratung in Institutionen. Konzeptionelle Anpassungen in und aus Sicht der Praxis. Psychologische und psychotherapeutische Ansätze gehören zu den klassischen Bezugstheorien der psychosozialen Beratung, weshalb Beratung auch über viele Jahre als »kleine Psychotherapie« galt. Inzwischen entwickelt Beratung ein eigenständiges Profil und ansatzweise auch eine eigene, eher sozialwissenschaftlich getönte theoretische Akzentuierung. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Berater im therapeutischen Setting entwickelte psychoanalytische Konzepte und Interventionsmethoden in den Anwendungsbereich der psychodynamischen Beratung überführen

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und welche Anpassungen sie dort vornehmen. Im Fokus dieses Beitrags liegt der institutionelle Einfluss auf die Indikationsstellung sowie auf den Einsatz tiefenpsychologischer Behandlungsmethoden in der Beratung. Angela Schmidt-Bernhardt: Gruppenanalytische Beratung und szenisches Verstehen in der universitären Lehrerbildung. Lehramtsstudierende bewegen sich in ihren Schulpraktika auf einem schmalen Grat zwischen dem Erleben vielfältiger Situationen innerhalb und außerhalb des Klassenraums, dem Erproben und Entwickeln ihrer eigenen Rolle in diesem beruflichen Feld und den Grenzziehungen durch Vorgaben der Institution Schule. Wie im Sinne einer Professionalisierung die Verflechtungen persönlicher Erfahrungen und institutioneller Bedingungen erkannt und aufgelöst werden können, wird in dem Beitrag erörtert. Im Fokus steht dabei ein Beratungskonzept in Seminaren, das der Bearbeitung von Praktikumserfahrungen dient. Monika Sennekamp: Einflüsse auf die Schulung ärztlicher Beratungskompetenz am Beispiel der Ausbildung von Medizinstudierenden. Die Rahmenbedingungen und Ressourcen organisierter Systeme beeinflussen die Inhalte und Umsetzungsmöglichkeiten der Ausbildung und Förderung professioneller Beratungskompetenz. Dies wird auch im Feld des Trainings und der Ausbildung von Ärzten relevant. In diesem Beitrag soll exemplarisch die Implementierung eines Kurskonzeptes zur Förderung kommunikativer Kompetenzen im ärztlichen Kontext in ein bestehendes, universitäres Curriculum vorgestellt werden. Thematisch wird dabei die ärztliche Beratungskompetenz im Kontext von Anamnesegesprächen fokussiert. In diesem Zusammenhang sollen die Probleme und Potenziale zwischen den Inhalten, Rahmenbedingungen und Ressourcen sowohl im institutionellen universitären als auch im später beruflich relevanten Kontext beleuchtet werden. 3. Professionelle Einflüsse auf Beratung

Uta-Kristina Meyer, Heike Schnoor, Carolin Tillmann: Psychosoziale Beratung im Spannungsfeld disziplinärer und professioneller Deutungshorizonte. Eine Einführung in den dritten Teil. Heike Schnoor: Was nicht passt, wird ausgeklammert – Was nicht passt, wird passend gemacht. Vom Anliegen der Klienten zum organisierten Problemlösungsprozess in der Beratung. Einen Gedanken Michael Balints aufgreifend wird untersucht, wie aus einer »unorganisierten« Gemengelage unterschiedlichster Anliegen der Klientel in einem Interaktionsprozess zwischen Berater und Klient ein »organisiertes Problem« herauskristallisiert und zum Gegenstand der Beratung gemacht wird. Dieser Organisationsprozess erfolgt nach disziplinären, theoretischen und organisationalen Gesichtspunkten. Jede dieser Perspek-

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tiven fokussiert andere Aspekte des Problems und steuert den Blick des Beraters. Das »organisierte Problem« ist ein Kompromiss zwischen dem Anliegen der Klienten und dem, was der Helfer innerhalb des durch die Organisation gestalteten Settings anbieten kann. Es ist eines, das sowohl dem Klienten als auch dem Helfer annehmbar erscheint, das im Rahmen des Settings der Beratung handhabbar ist und für das sich die jeweilige Institution zuständig fühlt. Wobei die psychodynamische Perspektive auch darauf verweist, dass man sich diesen Prozess nicht nur rational gesteuert vorstellen darf, sondern auch latente Beweggründe im Spiel sind. Burkard Thiele: Mündigkeit und Emanzipation als Ziel systemischer Beratung? Obwohl zahlreiche Pädagogen nach ihrem Hochschulabschluss auch eine systemische Qualifikation erwerben und als systemische Berater beruflich tätig sind, ist das Verhältnis zwischen Pädagogik und systemischer Beratung weithin ungeklärt. Aus pädagogischer Perspektive stellt sich in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage, ob Mündigkeit und Emanzipation als leitende Ziel-, Handlungs- und Bewertungskriterien der Pädagogik auch in der Theorie und Praxis systemischer Beratung Beachtung finden und wie sie dort umgesetzt werden. Zwar werden Mündigkeit und Emanzipation im Schrifttum systemischer Beratung weitgehend vernachlässigt. Betrachtet man aber die systemischen Grundannahmen, Grundhaltungen, Verfahren und Methoden genauer, so zeigt sich, dass die systemische Beratung letztendlich doch anstrebt, Menschen zu befähigen, ihr Leben in freier Selbst- und Mitbestimmung zu gestalten. Uta-Kristina Meyer: Von der vergessenen Größe zum zentralen Subjekt: Kinder in der Trennungs- und Scheidungsberatung. Jedes dritte in der Erziehungs- und Familienberatung angemeldete Kind war 2010 von der Trennung und Scheidung seiner Eltern betroffen. Vor dem Hintergrund der daraus resultierenden thematischen Relevanz werden in diesem Beitrag Faktoren aufgeführt, die Berater und Beraterinnen bei der Arbeit mit dieser Klientel beeinflussen. Verdeutlicht wird, wie Kinder einerseits zur vergessenen Größe und andererseits zum zentralen Subjekt werden können. Ausgeführt werden zunächst Einflüsse durch die Rechtsgrundlage, durch Faktoren der Klientel und deren Eltern sowie weiterer Institutionen, bevor Konzepte der Erziehungs- und Familienberatung vorgestellt werden. Carolin Tillmann: Potenzial zum Empowerment von kranken und behinderten Menschen: Peer Counseling. Der Beitrag von Carolin Tillmann zeigt am Beispiel des Peer Counseling, welchen Einfluss das Engagement von Aktivisten und Aktivistinnen der Selbsthilfe- und Bürgerrechtsbewegung auf die Entwicklung der Beratungslandschaft im psychosozialen Bereich hat. Der Einsatz behinderter Menschen hat dazu geführt, dass sich Peer Counseling etablieren konnte

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und langsam institutionalisiert wird und insofern Einfluss auf die Entwicklung der Sozial- und Rehabilitationspädagogik nimmt. Wesentliche Prinzipien und Grundsätze dieser Beratungsform, die zum Empowerment behinderter Menschen beitragen soll, werden in diesem Beitrag unter historisch-rekonstruierenden Gesichtspunkten erläutert. Abschließend werden neben den Chancen auch die Grenzen des Ansatzes in Augenschein genommen. 4. Individuelle Einflüsse auf Beratung

Denise Bergold-Caldwell, Helga Krüger-Kirn, Monika Lang, Heike Schnoor, Jasmin Scholle: Psychosoziale Beratung als intersubjektiver Prozess und die Fiktion beraterischer Neutralität. Eine Einführung in den vierten Teil. Jasmin Scholle, Denise Bergold-Caldwell: Beratung als macht- und vorurteilsbewusstes Handlungsgeschehen?! Eine Perspektive auf differenzmarkierende Subjektivierungsprozesse. Entlang eines Beratungsfalls aus der Jugendhilfe wird aufgezeigt, wie subtil, aber wirkmächtig Vorurteile – als gesellschaftlich geteilte Bilder – und daraus resultierende Zuschreibungen sich auch auf Beratungsprozesse auswirken. Ziel dieses Beitrags ist es herauszuarbeiten, welche Subjektivierungsprozesse in Adressatinnen angestoßen werden, wenn Beratung zum Wiedererleben sexistischer, rassistischer, klassistischer oder ähnlichen Zuschreibungen wird, und wie wichtig es deshalb ist, eine macht- und vorurteilsbewusste Haltung als Teil einer Professionalisierung zu betrachten. Helga Krüger-Kirn: Paarberatung in Zeiten postmoderner Beziehungswelten. Eine psychoanalytische und geschlechterkritische Annäherung. Die Auseinandersetzung um wechselseitige geschlechtliche Anerkennung wird nicht nur als subjektiver Kampf innerhalb des Paares verstanden, sondern als konflikthafte Zuspitzung des Geschlechterverhältnisses in Bezug auf Mutter- und Vaterbilder sowie die Erwerbstätigkeit. Die Konflikte werden vor dem Hintergrund eines psychoanalytischen Subjekt- und Paarverständnisses auch als unbewusste Infragestellung von Identitätsforderungen gelesen und mit neoliberalen Imperativen ins Verhältnis gesetzt. Demzufolge wird für einen geschlechterkritischen Blick auf die impliziten Beziehungsvorstellungen und Geschlechterzuschreibungen in der Beratungspraxis plädiert, der in Verbindung mit dem psychoanalytischen Diskurs auch kulturkritisches Denken aufnimmt. Monika Lang: Religiöser Glaube und Spiritualität. Chancen und Grenzen einer Einbeziehung in Beratungsprozesse am Beispiel von Eltern mit einem Kind mit Behinderung. Vor dem Hintergrund einer deutlichen Kluft im Bereich der religiösen/spirituellen Orientierung bei Beratern und ihren Klienten kommt es erst in den letzten Jahren zu einer verstärkten Berücksichtigung spiritueller Bezugssysteme in den verschiedenen internationalen diagnostischen und thera-

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peutischen Konzeptionen und Leitlinien. Am Beispiel der Bewältigungsprozesse von Eltern von Kindern mit Behinderung wird in diesem Beitrag unter Einbeziehung empirischer Daten der Frage nachgegangen, welche Bedeutung dem Bereich Religiosität/Spiritualität aktuell zukommt. Leitend ist dabei vor allem der Blick auf den Umgang der Eltern mit Fragen von Normalität, Anderssein, Leid bzw. Glück und der Erfahrung des Unkontrollierbaren im eigenen Leben in Verbindung mit religiösen/spirituellen Bezugssystemen. Wie eine systematische und reflektierte Einbeziehung spiritueller Sinnwelten in den Beratungsprozess von Seiten des Beraters gestaltet werden könnte, wird ebenfalls thematisiert. Susanne Maurer: Somatische und biografische Resonanzen – eine Chance zur Überbrückung von Ungleichheit und Differenz in der Beratungssituation? Der Beitrag nimmt Beratung als interpersonelle und zwischenleibliche Begegnung in den Blick. Dabei werden zum einen mögliche biografische Resonanzen zwischen den durchaus verschiedenen Personen reflektiert, die am Beratungsprozess beteiligt sind. Ähnlich wie bei der Frage der Gegenübertragung im psychoanalytischen Sinne werden deren Einflüsse auf das Beratungsgeschehen zum Thema; allerdings führt die Idee der biografischen Resonanz in eine noch etwas andere Richtung: Die lebensgeschichtliche Erfahrungsdimension wird als ganz eigene Qualität und damit auch als potenzielle Ressource für Beratung erschlossen – auch und gerade in einer von Differenz und Ungleichheit gekennzeichneten Situation. Zum anderen wird – auf den gegenwärtigen Moment bezogen, der ja immer auch die Möglichkeit des »Neuen«, des »Entkommens« aus der eigenen Lebensgeschichte mit sich führt – die Dimension der somatischen Resonanz in die Betrachtung einbezogen: Inwiefern können eigene leibliche Empfindungen auf der Seite der Beratenden wertvolle Hinweise auf den Zustand und die Situation der zu Beratenden geben? Das vielschichtige zwischenleibliche Geschehen wird also ebenfalls als mögliche Ressource angesprochen, gerade im Hinblick auf eine überraschende Öffnung der Situation, ohne dabei die damit ebenfalls verbundene Verletzlichkeit zu übergehen. Heike Schnoor: Psychosoziale Beratung unter Einfluss: Absichten – Einsichten – Aussichten. In diesem Beitrag wird nicht nur eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse dieses Buchs versucht, sondern es erfolgt auch eine Bezugnahme der einzelnen Beiträge zueinander und eine Einordnung der Beiträge in den aktuellen Beratungsdiskurs.

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Schnoor  |  Einfluss auf Beratung – Einfluss durch Beratung?!

Dank Zum Abschluss dieser Vorbemerkungen möchte ich noch meinen Dank ausdrücken gegenüber allen hier vertretenen Autoren, die mit ihren Beiträgen diese Publikation möglich gemacht haben. Zudem möchte ich mich bei UtaKristina Meyer, Stefan Wißmach, Frauke Elix, Franziska Fehlner und Ingrid Sandner für die Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung der Manuskripte bedanken. Heike Schnoor

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1.  Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

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Meinolf Peters, Margarete Suschek und Heike Schnoor

Psychosoziale Beratung zwischen humanistischer Aufklärung und Sozialtechnologie

Beratung ist immer in einen gesellschaftlichen Rahmen gestellt und wird von diesem beeinflusst. Dies gilt sowohl für die Genese der Problemlagen der Klientel, die zum Gegenstand einer Beratung werden, als auch für die Entstehung, Veränderung und Rezeption von Beratungsangeboten selbst. Dieser Zusammenhang klingt in vielen Beiträgen dieses Buchs an, wird aber speziell in den Arbeiten dieses Abschnitts vertieft dargestellt. Dabei werden folgende Zusammenhänge herausgearbeitet: Persönliche Probleme sind Ausdruck der gesellschaftspolitischen und sozialen Situation, in der Klienten gelebt haben oder leben. Anna Stach arbeitet in ihrem Beitrag an einem Fallbeispiel heraus, dass individuelle Konflikte, die zum Gegenstand von Beratung werden, als Teil sozialer Konflikte verstanden werden müssen. Sie plädiert dafür, lebensgeschichtlich entstandene Symptome im Kontext ihres konkreten gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrundes wahrzunehmen und zu bearbeiten. Ohne Berücksichtigung dieser gesellschaftlichen Kontextuierung würde Beratung ihr aufklärerisches Potenzial verlieren und auf eine Sozialtechnologie reduziert werden. Der wachsende Bedarf an Beratungsangeboten kann vor diesem Hintergrund als ein Phänomen der Moderne gedeutet werden. Rasch wechselnde Anforderungen an die Lebensführung, das erhöhte Risiko in prekäre Lebenslagen abzurutschen und die Unübersichtlichkeit des Lebens sind Faktoren, die Überforderungssituationen entstehen lassen und die Unterstützungsangebote erforderlich machen. Beratung gewinnt in diesem Zusammenhang an gesellschaftlicher Bedeutung. Neben etablierten, institutionell abgesicherten Beratungsangeboten (zum Beispiel Erziehungsberatung) entstehen im Zuge neuer Problemlagen auch entsprechende neue Beratungsangebote. Beratung findet vor allem in konfliktreichen gesellschaftlichen Feldern Anwendung. Werden soziale Probleme mit hinreichendem gesellschaftlich-politischem Druck problematisiert und erhalten sie auf diese Weise Gewicht, dann ist der Aufbau entsprechend spezialisierter Hilfestrukturen finanzierbar und damit überhaupt erst möglich. Auch Bera-

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

tungsangebote entstehen um diese gesellschaftlich problematisch gewordenen Themenbereiche herum. Die Beratung im Kontext des Rechtsextremismus ist ein Beispiel dafür. Im Beitrag von Hafeneger, Becker und Schläger wird der Beginn der Etablierung eines neuen psychosozialen Beratungsangebots beschrieben. Hier zeigt sich – exemplarisch auch für andere Beratungsfelder –, wie entsprechende Professionalisierungsprozesse angestoßen und entwickelt werden, wie also der Kompetenzaufbau bei den Mitarbeitern, die Entwicklung von spezialisierten Beratungskonzepten und deren institutionelle Rahmung entsteht. Beratungsangebote stellen sich in ihren Theoriedebatten und Praxisangeboten auf die jeweils veränderten gesellschaftlichen Herausforderungen ein: Verändern sich gesellschaftliche Problemlagen, theoretische Orientierungen und methodische Herangehensweisen in den Fachdisziplinen, so kommt es typischerweise auch zu einer entsprechenden Anpassung des Beratungsangebots. Eine Hilfelandschaft unter ökonomischen Prämissen führt derzeit nicht nur zu einem Abbau vieler Hilfeleistungen, sondern auch zu Veränderungen in der Ausgestaltung von Beratung. Meinolf Peters und Angelika Trilling stellen dies am Beispiel der Altenberatung paradigmatisch dar. Angesichts der demografischen Entwicklung der Bevölkerung und der damit verbundenen Pflegeproblematik steigt der gesellschaftliche Druck in diesem Feld und führt zu einer Veränderung in dem Beratungsangebot. Hier wird deutlich, dass die Beratungslandschaft verliert, wenn komplexe psychosoziale Zusammenhänge und deren gesellschaftliche Kontextuierungen kaum mehr thematisiert werden können und Beratung zu einer instrumentellen Unterstützungsform für genau definierte und eng eingegrenzte Problembereiche wird. Dieser Zusammenhang spitzt sich für den Beratungsbereich, der unter dem Einfluss des aktivierenden Sozialstaats mit seiner Prämisse des Förderns und Forderns steht, noch einmal in besonderer Weise zu. Vor allem im Feld der Sozialpädagogik geraten Beratungen zwischen die Fronten von Hilfe und Kontrolle. Politische Vorgaben mit ihrem Niederschlag in den Gesetzbüchern und Verordnungen organisieren dieses Spannungsfeld und setzen Rahmenbedingungen mit vielfältigen Folgen für beratende Institutionen und die Arbeitsweise der Beraterinnen, die bis auf die Ebene konkreter Beratungsprozesse durchschlagen. Es kann bezweifelt werden, ob Beratungen in einem solchen Kontext noch ergebnisoffen geführt werden können. Dies hat nicht nur Folgen für die Klientel, sondern auch die Berater selbst kommen unter zunehmenden Rechtfertigungsdruck und müssen in knapper Zeit vorgeschriebene Fallzahlen erfüllen. Ob unter diesen Vorgaben noch »Beratungen« durchgeführt werden können, die diesen Namen verdienen, wird derzeit kontrovers diskutiert: Während einige Autoren die Instrumentalisierung von Beratung als Missbrauch scharf

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Peters, Suschek, Schnoor  |  Psychosoziale Beratung

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kritisieren, schätzen andere Autoren eine systemimmanente Beratung auch im Zwangskontext unter bestimmten Bedingungen als mögliches und effizientes Mittel zur Problemlösung der Klientel. Sie weisen darauf hin, dass Beratungstechniken ein effizientes methodisches Repertoire zur Steuerung sozialer Prozesse bereitstellen und Klienten bei ihrer Problemlösung unterstützen können. Die aktuellen Rahmenbedingungen werfen die Frage auf, ob Beratungen unter den aktuellen Prämissen noch in der humanistischen Tradition der Aufklärung stehen können. In dieser Tradition zielt Beratung auf die Herstellung sozialer Grundrechte, auf persönliches Wachstum und die Erweiterung individueller Freiheiten ab. In einem solchen Kontext werden Beratungstechniken zur Öffnung von Handlungsspielräumen der Klientel eingesetzt. Im Gegensatz dazu kann Beratung auch zu einer Sozialtechnologie werden, die der Anpassung des Individuums unter ökonomische Zwänge dient. In den Beiträgen von Margarete Suschek und Stefan Grösch werden diese beiden konträren Positionen eingenommen und deren Argumentation entfaltet. Wir beobachten als Folge gesellschaftlicher Trends sowohl Auf- als auch Abund Umbauprozesse im Beratungsfeld, die auf der einen Seite zur Deprofessionalisierung und auf der anderen Seite zur Professionalisierung dieser Hilfeform beitragen. Diese Trends werden das Verständnis von Beratung auch zukünftig prägen und fordern zur weiteren Klärung des Selbstverständnisses von Beratung heraus. Die Deutsche Gesellschaft für Beratung arbeitet seit einigen Jahren an einer präzisen Fassung und Definition von Beratung. Dazu gehört auch die Formulierung von Mindeststandards für die Qualifizierung von Beratern und für die Durchführung von Beratungen. Ein solcher Selbstklärungsprozess ist Voraussetzung für einen Professionalisierungsprozess von Beratung selbst und eine Notwendigkeit für die gesellschaftliche Anerkennung dieser Hilfeform, die letztlich (vergleichbar der der Psychotherapie) auch zu ihrer rechtlichen Absicherung führen könnte.

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Anna Stach

Tanjas Haare – Zur Komplexität und Intergenerationalität von Körpernormen und Schönheitshandeln

Individualität und Kollektivität im Beratungsprozess Konflikte, die in Beratungsprozessen zum Tragen kommen, enthalten grundsätzlich eine individuelle wie auch eine gesellschaftlich-kollektive Seite. Sie sind in bewusste und unbewusste kulturelle Sinngebungen eingebunden, die historisch und abhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen variieren (Lorenzer, 1984). Individuelle Konflikte sind daher immer als Teile sozialer Konflikte und Verhältnisse zu verstehen. Alfred Lorenzer spricht in diesem Zusammenhang von individuellem und sozialem Leid, die nicht voneinander zu trennen sind. Konflikte bilden einen subjekttheoretischen und kultursoziologischen Zusammenhang. In seiner psychoanalytisch-konflikttheoretischen Perspektive auf Kultur konzipiert Lorenzer unbewusste Sinnzusammenhänge als Aufspaltungen von sinnlich-symbolischen und sprachsymbolischen Interaktionsformen. Die Aufspaltung, die er unter dem Begriff der Desymbolisierung diskutiert, ist ein Resultat von individuell-gesellschaftlicher Tabuierung und wird von Symptombildungen begleitet (Lorenzer, 1984). Symptombildung zeichnet sich nach Lorenzer dadurch aus, dass Worte zu Zeichen und Interaktionen zu Klischees erstarren. Das bedeutet, dass Worte von den lebendigen lebensgeschichtlichen Erfahrungen abgekoppelt und in diesem Sinne »leer« werden. Als Klischees bezeichnet Lorenzer von Wiederholungszwang gekennzeichnete Handlungen, die ohne die Rekonstruktion der unbewussten Sinnanteile automatisiert ablaufen, ohne unterbrochen oder modifiziert werden zu können, auch wenn das subjektiv gewünscht ist. Es sind Interaktionsformen, die von Sprache abgekoppelt wurden und aufgrund des Konfliktpotenzials auf Wiederholung drängen. Im individuellen Beratungsprozess können lebensgeschichtlich verankerte Konversionen von Sinneinheiten, das heißt unbewusste Selbst- und Objektrepräsentanzen, die bei Lorenzer stets als interaktive Einheiten gedacht werden, resymbolisiert werden. Diese erhalten wieder eine Sprache und können in angemessene Worte gefasst

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Stach | Tanjas Haare

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werden, sodass die ursprüngliche sprachsymbolische Interaktionsform wiederhergestellt ist (Lorenzer, 1970). Im Beratungsprozess sind aus dieser psychoanalytisch-konflikttheoretischen Perspektive gleichermaßen gesellschaftliche Sinnzusammenhänge und individuell lebensgeschichtliche Tabuierungen berührt, wenngleich die Rekonstruktionsarbeit über die subjektiven Erfahrungen verläuft. Dies gilt auch für die Bearbeitung von Konflikten mit dem Körper, die in diesem Beitrag diskutiert werden. Körpernormen und die gesellschaftliche Dimension von Schönheitshandeln Körpersoziologische Zugänge und insbesondere Beiträge der Frauen- und Geschlechterforschung machen seit vielen Jahren auf die gesellschaftliche und normative Dimension des (Geschlechts-)Körpers aufmerksam (Villa, 1999; Schroer, 2005). Zahlreiche Befunde und kritische Auseinandersetzungen im Bereich der Körpernormierung und Körpererfahrung sowie des Schönheitshandelns sind vor allem in der Frauen- und Geschlechterforschung geliefert worden (Rohr, 2004; Flaake, 2001; Jäger, 2004; Abraham u. Müller, 2010). Dabei finden auch intergenerationale Konflikte, in denen sich der Körper zum Austragungsort dieser Konflikte entwickelt, Berücksichtigung (King, 2002; Rohr, 2010). Der Mutter-Tochter-Beziehung kommt hier besondere Aufmerksamkeit zu (Krüger-Kirn, 2010) wie auch Prozesse der weiblichen Traumatisierung, die Körpernormen auch durchkreuzen (Wuttig, 2010). Aktuelle Untersuchungen und Diskussionen kreisen vor allem um eine neue weibliche Körperästhetik, die Rose (1997) auf den Begriff der »Entmütterlichung« gebracht hat. Der schlanke, athletische Sportskörper hat sich, so ihr empirischer Befund, als weibliches Ideal durchgesetzt. Er signalisiert Leistungsfähigkeit, Kontrollvermögen, Erfolg und Aktivität (Rose, 1997). Befunde zur Körperwahrnehmung und Gesundheit von Jugendlichen, und insbesondere von Mädchen, dokumentieren, dass diese Körpernorm erhebliche Probleme erzeugt: Insbesondere Mädchen und junge Frauen zeigen sich unzufrieden mit ihrem Körper und bemühen sich um Manipulationen, um das Körperideal zu erreichen, das heißt schlank und – im besten Fall – athletisch auszusehen. Die Entwicklungsaufgabe, den Körper zu integrieren, ist daher konfliktreich. In Bezug auf Jugendliche ist dokumentiert, dass sie sich als zu dick empfinden, auch wenn sie dem Körperideal entsprechen (Hölling u. Schlack, 2007; Gender Datenreport, 2005). Die Ergebnisse der aktuellen Shell-Jugendstudie fundieren diese Ergebnisse (Deutsche Shell Holding GmbH, 2010). Auf die Frage nach der Zufriedenheit mit dem Körpergewicht gab ein Drittel der Jugendlichen und darunter vor

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

allem Mädchen an, dass sie sich viel zu dick fühlen. Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrnehmung, viel zu dick zu sein, so das Ergebnis der Studie. Eine Übergewichtsdiagnose trifft aber auf die wenigsten zu, das heißt auf circa 10 % der Jugendlichen im Alter zwischen elf und 15 Jahren (Zubrägel u. Settertobulte, 2003). Gegenwärtig wird ein starker Zusammenhang zwischen medialen Inszenierungen und der Körpersozialisation hergestellt. Inwieweit sich diese medialen Inszenierungen auf die Vorstellungen und Praktiken der Rezipienten und Rezipientinnen auswirken, ist aber eine offene Forschungsfrage. Empirische Untersuchungen insbesondere aus dem US-amerikanischen Kontext haben ergeben, dass ein ausgeprägtes Schlankheitsbedürfnis, eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers als zu dick und eine geringe Zufriedenheit mit dem eigenen Körper vor allem dann auftreten, wenn eine hohe Identifikation mit Medienfiguren vorliegt und wenn mediale Figuren einen stärkeren Orientierungsrahmen geben als reale Personen (Luca, 2007). Degele (2004) zeigt in ihrer umfassenden Studie zum Schönheitshandeln auf, dass Schönheitshandeln der Positionierung im sozialen Raum dient und auf soziale Anerkennungseffekte zielt. Die zu beobachtende Verleugnung dieser Dimension bezeichnet Degele als Ideologien (Degele, 2004). Auch Koppetsch (2000) weist in ihren Arbeiten auf die Verknüpfung von Körpernormen und sozialem Status hin. Körpernormierung und Schönheitshandeln sind damit in Spannungsfelder gesellschaftlicher Konflikte und sozialer Differenzierungen involviert. Haaren kommt bei dem Schönheitshandeln eine wichtige Rolle zu. Auch die Stilisierung der Haare positioniert das Individuum im sozialen Raum und folgt normativen Geschlechterkonstruktionen (Burkart, 2000). Kulturgeschichtlich werden sie mit der Symbolisierung von Erotik und Potenz verknüpft. Psychoanalytische Ergebnisse verweisen auf die Symbolik sexueller Wünsche und ihrer Tabuierungen (Getz u. Klein, 1994). Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, dass Haare zum Austragungsort von gesellschaftlichen Konflikten werden können. Lebensgeschichtlich verknüpfen sich aktuelle gesellschaftliche (Körper-)Normen und Konflikte mit historischen, also vergangenen gültigen Normen und Konflikten. Probleme mit dem eigenen Körper und die Verinnerlichung von Körpernormen müssen daher in ihrer Komplexität und Brüchigkeit und vor allem auch vor dem Hintergrund intergenerationaler Prozesse verstanden werden, so die These meines Beitrags. Ich möchte diesen Zusammenhang im Folgenden an einem Fallbeispiel aus der Beratungspraxis aufzeigen.

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Stach | Tanjas Haare

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Zur Komplexität von Körpernormen am Beispiel von Episoden im Beratungsgeschehen der Klientin Tanja1 Die Klientin Tanja war zum Zeitpunkt, als sie zu mir in die Beratung kam, 38 Jahre alt und als Sozialarbeiterin tätig. Vor dem Hintergrund ihrer Tätigkeit verfügte sie über eine hohe Fähigkeit zur Assoziation und Reflexion von Beziehungserfahrungen. Der Beratungsprozess verlief daher sehr flüssig. Tanjas Großeltern wurden um 1900 geboren, ihre Eltern gehören der Generation der Kriegskinder an. Ihre Mutter hat nach der Geburt von ihrer zwei Jahre älteren Schwester ihren Beruf aufgegeben und konzentrierte sich danach auf die Erziehung der Kinder und die Hausarbeit. Aufgrund von wiederholten und länger andauernden Erkrankungen ihrer mit Kriegstraumata belasteten Mutter wurde sie über weite Strecken von ihrer Oma versorgt, sodass diese eine zentrale Bedeutung in ihrem Sozialisationsprozess erhielt. Der Anlass, die Beratung aufzusuchen, waren intensive Gefühle der Angst und Wut, die durch aktuelle Arbeitskonflikte ausgelöst wurden. In dem Beratungsprozess gerieten in mehreren Abschnitten Auseinandersetzungen mit dem Körper und insbesondere mit ihren Haaren in den Vordergrund. Diese waren intensiv mit Konflikten in der weiblichen Generationenkette verknüpft. Ich möchte im Folgenden auf drei Episoden eingehen, die interessante Erkenntnisse für die Untersuchung von intergenerationalen und kulturell-gesellschaftlichen Dimensionen von Körpernormen und Schönheitshandeln liefern. Daher soll nicht der gesamte Bogen des Beratungsprozesses dargelegt werden, da dieser auch andere Thematiken verfolgte. Die Auseinandersetzung mit Körperempfinden, Schönheitsidealen und -handeln flocht sich wiederholt in die Lebensthematiken ein, die im Beratungsprozess hauptsächlich bearbeitet wurden. Dazu gehörten zum Beispiel Selbstzweifel und die Tendenz zu autoaggressiven Impulsen, die auch ihr Körperhandeln betrafen. Episode 1: »Verunstaltete Haare«: Körperhässlichkeit und mütterliche Projektion

In einer dichten Situation des Beratungsprozesses erzählte Tanja von einem intensiven Empfinden, zu stören, hässlich und überflüssig zu sein. Grundsätzlich habe sie das Gefühl, »weg zu müssen«. In ihrer Kindheit hatte sich Tanja als Belastung für die Mutter gefühlt, die oft krank war. Auf dieser manifesten Ebene ging es um die Bearbeitung des Gefühls der Vernachlässigung. Das Empfinden der eigenen Körperhässlichkeit war mit dieser Problematik eng verknüpft. Die 1

Der Name wurde geändert.

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

Schilderung der Wahrnehmung als »hässliche Überflüssige« nahm einen großen Raum ein. Die Assoziationen führten zu folgenden Szenen, die Aufschluss über die tieferen unbewussten Schichten dieser Empfindung gaben: In ihrer Kindheit hatte ihr die Mutter oftmals die Haare nachlässig abschneiden lassen, während die Haarpracht ihrer Schwester gepflegt und schön gestaltet wurde. Sie galt unter den Frauen der Familie als »die Hässliche«, während ihrer Schwester die Rolle »der Hübschen« zukam. Ihre Schwester galt als »das Goldkind«. Diese Zuschreibungen und Zurücksetzungen kränkten sie. In der Rekonstruktionsarbeit wurde diese Spaltung in Verbindung mit dem Gefühl zu stören, »weg zu müssen«, verstehbar: Die Mutter hatte ihre kranken Anteile auf Tanja projiziert und versuchte sie darüber »loszuwerden«. Tanja hatte diesen kranken Anteil in sich aufgenommen und konnte nun verstehen, warum sie so stark mit sich bzw. ihrem Körper im Kampf war. Das Empfinden der Körperhässlichkeit, des Störens und Abgestoßen-werden-Wollens und -Sollens war symptomatisch für die Auseinandersetzung mit dem kranken Körper der Mutter in ihr. Der Körper der Tochter war hier zum Austragungsort der mütterlichen Krankheit und Thematik geworden. Tanja führte den Kampf mit dem kranken Körper psychologisch weiter. Sie hatte »die Kranke« als Selbstrepräsentanz unbewusst verinnerlicht. Auch in der Familie repräsentierte Tanja die hässliche, das heißt die kranke Seite der Mutter, während die Schwester »die Hübsche« und das heißt hier die Gesunde bzw. die begehrte Gesundheit und Heilung verkörperte. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch die Haarfarbe: Tanja hatte braune Haare, während ihre Schwester lange, blonde Haare trug. Die »dunklen« Anteile wurden in Tanja untergebracht, während die Zuschreibung von Gesundheit und Rettung mit ihrer Schwester assoziiert wurden, die kulturgeschichtlich an Bilder von Engeln (»mit güldenem Haar«) anschließen, die Rettung verkünden. Das Erkennen der Verinnerlichung der mütterlichen Selbstanteile befreite Tanja weitgehend von dem Empfinden, hässlich zu sein und »weg zu müssen«. Allerdings blieb ihr Schmerz über ihre Haarfarbe bestehen, der sich in einer weiteren Episode rekonstruieren ließ. Episode 2: Braune Haare: Antisemitismus in der dritten Generation und ihr Zusammenhang mit Schönheitsidealen und Körpernormen

Tanja berichtete in einer Beratungsepisode von ihren schmerzhaften Problemen mit ihrer Haarfarbe, die akut in ihrer Adoleszenz hervorgetreten waren, aber auch heute noch eine Spur hinterließen. In ihrer Adoleszenz wünschte sie sich blonde Haare, färbte ihre Haare oft und fühlte sich aufgrund ihrer Haarfarbe extrem minderwertig, hässlich und unwert. Ihre Haare beängstigen sie geradezu. Auf

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manifester Ebene sprach sie über die Attraktion blonder Mädchen, die in sozialen Gruppen als schöner befunden und mehr beachtet wurden als sie. Ihr kamen Schauspielerinnen als Idealtypen in den Sinn. Diese Auseinandersetzung konnte Tanjas Problematik nicht lösen. Sie blieb zu stark an der Oberfläche der Thematik. In der szenischen Rekonstruktion eröffnete sich ein unbewusster Zusammenhang mit Erfahrungen und Ängsten ihrer Oma aus der Zeit des Nationalsozialismus. Wir konnten rekonstruieren, dass in Tanjas Familie jener Generation große Ängste bestanden, aufgrund ihrer dunklen bzw. braunen Haare als Juden assoziiert zu werden.2 Damit gingen Vernichtungsängste und eine tiefe Körperscham einher. Die dunklen Haare waren in ihrer kulturell-historischen Bedeutung mit antisemitischen Ideologien und Bedrohungsszenarien, mit sozialem Ausschluss verknüpft. Die Idealisierung der blondhaarigen Schwester und das Abschneiden ihrer Haare sind auch vor diesem Hintergrund zu verstehen. Sie symbolisiert Gefahrlosigkeit, die Entsprechung der Norm, des Ideals, das vor Gefahr und Vernichtung schützt. Nach Aufdeckung dieses Zusammenhangs verschwand das Problem mit der Haarfarbe. Tanjas individuelles Leid ist »vergangenes« soziales Leid, gesellschaftlich verursacht und in der Problematik mit der Haarfarbe aufgehoben. Episode 3: Lange, lockige Haare: Angst vor Sexualität

In einer weiteren Episode, in der die Auseinandersetzung mit Weiblichkeit eine wichtige Rolle spielte, berichtete Tanja von ihrem Konflikt, sich einerseits lange lockige Haare zu ersehnen und andererseits nie zu schaffen, die Haare lang wachsen zu lassen. Detailliert schilderte sie ihre Betrachtung und Bewunderung von schlanken Medienfrauen in unterschiedlichen Fernsehsendungen und Kinofilmen, die lange, lockige Haare trugen. Diese Orientierung kann als Teil einer medialen Körpersozialisation betrachtet werden, die lange Haare als Teil des weiblichen Schönheitsideals vermitteln. Diese war aber, wie der Konflikt zeigt, brüchig. Der Konflikt ist nicht so zu verstehen, dass Tanja einfach nicht diszipliniert genug gewesen wäre, eisern die Haare wachsen zu lassen. Ihre Persönlichkeitsstruktur hätte das hergegeben. Sie konnte sich darüber hinaus durchaus auch kritisch mit medialen Normen auseinandersetzen, und in Distanz zur Norm die Haare kürzer tragen. Das Problem lag auf einer tieferen Schicht, die eine Kränkung mittransportierte. Es gelang Tanja einfach nicht, ihre Haare lang wachsen zu lassen, ob sie wollte oder nicht. Ab einem bestimmten Zeitpunkt musste sie sich die Haare abschneiden lassen, obwohl sie es eigentlich nicht wollte und hinterher traurig darüber war. 2

Tanjas Familie hatte keine jüdischen Ursprünge, die Ängste vor Diskriminierung und Gewaltandrohung wurden aber in dem damaligen gesellschaftlichen Kontext mobilisiert.

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Die Brüchigkeit der gegenwärtig gesellschaftlichen Norm der langen lockigen Haare verwies auf einen Zusammenhang mit Weiblichkeits- und Schönheitsnormen der Großelterngeneration, für die lange »wilde« Haare mit dem Bild einer Prostituierten, aber auch einer sexuell potenten Frau verknüpft waren. Der Ausdruck von Erotik und Sexualität war in der Familie aber verpönt und folgte den Normen und Geboten der damaligen Geschlechterordnung, genauer gesagt der Geschlechtskörperordnung. Die Frauen »sollten ihre Würde behalten« und »rein« bleiben, so die insistierenden Worte der Oma. Das bedeutete, den Ausdruck von sexuellem Begehren und Erotik zurückzuhalten. Sexualität war in der weiblichen Generationenkette stark tabuisiert und für Tanja ein wichtiges, konfliktgeladenes Thema, an dem sie in der Folge dieser Episode weiter arbeitet. Auch scheinen sexuelle Gewalterfahrungen der Großmutter im Kontext des Krieges für die rigide Einforderung der Norm der kurzen Haare eine Rolle zu spielen und Ängste vor dem Ausdruck von Erotik transportiert zu haben. Da Tanja dieses Thema nicht mehr fortsetzte, konnte dieser Hintergrund nicht mehr erforscht und erschlossen werden. Die Rekonstruktion veranschaulicht aber bereits, wie das Schönheitshandeln von subjektiven Tiefenstrukturen bestimmt war, die sich durch die Qualität des Wiederholungszwangs auszeichnen und in unterschiedliche historisch-gesellschaftliche Körpernormen und Schönheitspraktiken eingebunden waren. Resümee Die ausgesuchten Episoden des Beratungsprozesses mit der Klientin Tanja verweisen auf historische und kollektive Konfliktdimensionen, die in individuellen Körpererfahrungen, Körpernormen und im Schönheitshandeln eingearbeitet sind. Vergangenheit und weiblicher Generationentransfer spielen für die Aneignung aktueller Körpernormen und Schönheitspraktiken eine wichtige Rolle. Sie sind auch mit Prozessen der Desymbolisierung verknüpft und werden daher durchkreuzt. Es erweist sich als ertragreich, Mehrgenerationenzusammenhänge in den Blick zu nehmen. Das konnte an dem Beispiel der Auseinandersetzung mit dem Thema Haare anschaulich werden. Konflikte, deren verdrängte Anteile in Form von Symptomen – hier zum Beispiel in Form des Empfindens der Körperhässlichkeit oder der Sehnsucht nach einer spezifischen Haarfarbe – wiederkehren, untermauern die Bedeutung unbewusster und historisch-gesellschaftlicher Dimensionen der Körperästhetik. In Bezug auf die Verknüpfung einer Mehrgenerationenperspektive unter Hinzunahme historischer und gesellschaftlich-kultureller Perspektiven besteht nach wie vor Forschungsbedarf. Die Vermittlung und Aneignung von Körper-

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normen stellt sich als äußerst komplex dar. Die Kritik an gängigen, medialen Weiblichkeits- und Schönheitsidealen greift in jedem Fall zu kurz, wenn wir die Wucht der Körperwünsche und Körperideale verstehen und verändern wollen. Was bedeutet die Empfindung, »zu dick« zu sein? Warum ist Schlankheit emotional so wichtig? Welche individuellen und gesellschaftlichen und möglicherweise historischen Sinnzusammenhänge sind in solche Empfindungen involviert? Diesen Fragen in ihrer Komplexität weiter nachzugehen verspricht weitere spannende und erkenntnisreiche Reisen durch Kultur, Gesellschaft und (Lebens-)Geschichte. Literatur Abraham, A., Müller, B. (Hrsg.) (2010). Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld. Bielefeld: Transcript. Burkart, G. (2000). Zwischen Körper und Klasse. Zur Kulturbedeutung der Haare. In C. Koppetsch (Hrsg.), Körper und Status. Konstanz: UVK. Degele, N. (2004). Sich schön machen. Zur Soziologie von Geschlecht und Schönheitshandeln. Wiesbaden: VS-Verlag. Deutsche Shell Holding GmbH (Hrsg.) (2010). Jugend 2010: Eine pragmatische Generation behauptet sich. 16. Shell Jugendstudie. Unter Mitarbeit von Mathias Albert, Klaus Hurrelmann, Gudrun Quenzel und Ulrich Schneekloth. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Gender Datenreport (2005). Zugriff am 10. 12. 2012 unter: http://www.bmfsfj.de/Publikationen/ genderreport/root.html Getz, J., Klein, H. (1994). The frosting of the American woman: Self-esteem construction and social control in the hair salon. In K. Callaghan (Ed.), Ideals of feminine beauty. Philosophical, social and cultural dimensions (pp. 125–146). Westport: Greenwood. Hölling, H., Schlack, R. (2007). Robert Koch-Institut: Essstörungen im Kindes- und Jugendalter. Erste Ergebnisse aus dem Kinder und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) des Robert Koch Instituts. Zugriff am 08. 08. 2012 unter: http://www.kiggs.de/experten/erste_ergebnisse/index.html Jäger, U. (2004). Der Körper, der Leib und die Soziologie. Entwurf einer Theorie der Inkorporierung. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag. King, V. (2002). Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Wiesbaden: VS-Verlag. Koppetsch, C. (2000). Die Verkörperung des schönen Selbst. Zur Statusrelevanz von Attraktivität. In C. Koppetsch (Hrsg.), Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität. Konstanz: UVK. Krüger-Kirn, H. (2010). Weiblichkeit zwischen Körper und Leib. Zur Bedeutung des Mutterkörpers in der weiblichen Identitätsbildung. In A. Abraham, B. Müller (Hrsg.), Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld (S. 333–350). Bielefeld: Transcript. Lorenzer, A. (1970). Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lorenzer, A. (1984). Das Konzil der Buchhalter. Frankfurt a. M.: Fischer. Lorenzer, A. (2002). Die Sprache, der Sinn, das Unbewußte. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften. Stuttgart: Klett-Cotta. Luca, R. (2007). Körper und Körperbilder – Medienkritik und medienpädagogische Bildungsarbeit. In N. Neuß, M. Grosse-Loheide (Hrsg.), Körper. Kult. Medien. Inszenierungen im Alltag und in der Medienbildung (S. 36–49). Bielefeld: GMK.

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

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Benno Hafeneger, Reiner Becker und Grete Schläger

Das »heiße Herz« und der »kühle Verstand« Mobile Beratung im Problemfeld Rechtsextremismus

Professionelle Beratungsangebote, die sich auf Vorkommnisse mit rechtsextremem Hintergrund beziehen, entwickeln sich seit Ende der 1990er Jahre und haben wesentliche Impulse durch die Förderprogramme des Bundes erhalten. Es hat sich ein recht junges Professionsprofil in einem komplexen und zugleich hochpolitischen Problemfeld herausgebildet, das durch unterschiedliche Perspektiven und Lösungsansätze sowie durch einen hohen Handlungsdruck gekennzeichnet ist. Der vorliegende Beitrag fokussiert zunächst das »Problemfeld Rechtsextremismus« und skizziert Strategien zur Prävention und Intervention, die im Rahmen von Förderprogrammen entwickelt und erprobt wurden. Am Beispiel der Arbeit des »beratungsNetzwerks hessen – Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus« werden dann Herausforderungen der Beratung im »Problemfeld Rechtsextremismus« ausgelotet. Diese werden exemplarisch anhand der Auswertung eines Beratungsprozesses in einer Kommune vorgestellt und diskutiert. Facetten des Rechtsextremismus In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gab es schon immer unterschiedliche Phänomene des politisch organisierten und nichtorganisierten, mehr informellen und kulturellen Rechtsextremismus. Dabei hat sich das rechtsextreme Lager einerseits wiederholt gewandelt, es war andererseits zugleich mit seinen Organisationen und Parteien – der NPD und später der DVU – überschaubar, ideologisch weitgehend homogen; und es war vor allem von älteren Erwachsenen dominiert (Dudek u. Jaschke, 1984). Auch in der DDR gab es vor allem seit den 1980er Jahren zahlreiche rechtsextreme Gruppen und die öffentliche Aufmerksamkeit galt hier vor allem rechtsextremen Skinheads. Mit dem Prozess der deutschen Vereinigung haben seit Beginn der 1990er Jahre rechtsextreme Phänomene in Deutschland (und hier vor allem in den neuen Bundesländern) neue Ausmaße und eine radikalisierende Dynamik erfahren; das

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gilt für die Organisationsformen und Strukturen, für Aktionsformen und die fremdenfeindlich, antisemitisch und rechtsextrem motivierte Gewalt, die von diesem Lager ausgeht. Rechtsextremismus ist ein Sammelbegriff und in der wissenschaftlichen Diskussion sind – neben der politisch-verfassungsrechtlichen, behördlichen Definition – vor allem drei Differenzierungen von Bedeutung. Sie fragen mit unterschiedlichen Akzenten nach der Einstellungs- und Verhaltensebene, die differenziert werden müssen, jedoch nur gemeinsam das komplexe Phänomen »Rechtsextremismus« vollständig abbilden. Das sind nach Stöss (2010) erstens die beiden Dimensionen »Einstellungen« und »Verhalten«. Zu den Einstellungsmerkmalen zählt er »Autoritarismus, Nationalismus, (ethnische, rassistische, sozioökonomische) Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Pro-Nazismus« und zu den Verhaltensweisen »Wahlverhalten, Mitgliedschaft, Protest/Provokation, Gewalt/Terror«. Auf der Einstellungsebene gehören zweitens für Oliver Decker und Elmar Brähler (2008, 2010, 2012) sechs – von ihnen wiederholt gemessene – Merkmale zum Rechtsextremismus: »Befürwortung Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Verharmlosung, Nationalsozialismus«. Für Wilhelm Heitmeyer (2002–2012) sind es drittens die beiden Dimensionen »Ideologie der Ungleichheit« und »Gewaltakzeptanz« als Handlungsform bzw. Mittel der Durchsetzung1. Die Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung (Decker u. Brähler 2008; Decker, Weißmann, Kiess u. Brähler, 2010; Decker, Klees u. Brähler, 2012) und von Heitmeyer (2002–2012) zeigen, dass wir es einerseits mit einem organisierten »rechten Rand« in der Gesellschaft zu tun haben, dass es andererseits einen »Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft« gibt, der zur »Normalität« geworden ist. Seit den frühen 1990er Jahren haben sich in der weiteren Differenzierung des rechtsextremen Lagers dann Gesellungsformen und Organisationszusammenhänge wie rechte Cliquen und Jugendkultur, Kameradschaften, Autonome Nationalisten, Freie Kräfte und Freundeskreise herausgebildet, die wiederum in vielfältigen Netzwerken und Kontaktstrukturen innerhalb der Szene miteinander verbunden sind. Neben dem organisierten Rechtsextremismus hat sich seit den 1990er Jahren ein »Lebensstil«, eine »Gegenkultur von rechts« bzw. eine vielfältige eigene Lebens- und »Erlebniswelt« entwickelt (Hafeneger u. Becker, 2007; Glaser u. Pfeiffer, 2009). Diese ist verbunden mit Sprache, Musik, Inter1

In den empirischen Studien »Deutsche Zustände« wird mit dem Begriff bzw. Syndrom »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« (GMF) nach folgenden Elementen gefragt: Antisemitismus, Homophobie, Islamphobie, Abwertung von Sinti und Roma, Abwertung von Langzeitarbeitslosen und Obdachlosen, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Behindertenfeindlichkeit, Sexismus (Heitmeyer, 2002–2012).

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netkommunikation, Konzerten, Treffpunkten, Outfit, Accessoires und Symbolik, mit Demonstrationen und Sonnenwendfeiern sowie mit Straf- und Gewalttaten. Die vielfältigen Befunde zeigen, dass die Entwicklung von rechtsextremen Orientierungen vor allem durch die Einflüsse und Bedeutung von Lebenslagen und Sozialisationserfahrungen, von biografischen Erfahrungswelten und deren Verarbeitungsstrategien, von Suchprozessen nach Anerkennung und Zugehörigkeit erfolgen. Der Verlauf von Affinität(saufbau) in der – auch frühen – Jugendphase, dann von Einstiegs- und Verfestigungsprozessen in rechtsextreme Gesellungsformen und Gruppierungen (Cliquen, Kameradschaften, Freie Kräfte, neonazistische Gruppen, Vernetzungen) sind biografisch unterschiedlich und müssen als Einzelfall rekonstruiert werden; das gilt auch für die Distanzierungs- und Ausstiegsprozesse. Affinitäten und Distanzierungen sind jeweils individuelle und komplexe Prozesse, die mit unterschiedlichen Anlässen, Wegen und Motiven verbunden sind. Das Zugehörigkeitsspektrum reicht bis hin zur Mitgliedschaft, organisatorisch und ideologisch verfestigter Einbindung, Militanz und lockeren Szenekontakten, spontaner und unorganisierter Beteiligung an fluktuierenden Cliquen- und gelegentlichen regionalen Szeneaktivitäten sowie Gewaltbereitschaft (Möller, 2000; Rommelspacher, 2006; Hafeneger u. Becker, 2012). Beratung – ein Schwerpunkt in den Programmen gegen Rechtsextremismus Als Antwort auf die neue Dynamik im rechtsextremen Lager und die neuen Phänomene gerade auch in der jungen Generation, wurden seit 1992 von der Bundesregierung (und auch von mehreren Bundesländern) wiederholt »Bekämpfungsprogramme« aufgelegt. Mit unterschiedlichen Programmtiteln, Schwerpunkten und Akzentsetzungen wurde und wird versucht, fremdenfeindliche, antisemitische und rechtsextreme Entwicklungen in der jungen Generation zu bekämpfen und demokratische Entwicklungen im Gemeinwesen und in der Zivilgesellschaft zu fördern. Die Bundesprogramme wurden und werden vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und auch vom Bundesministerium des Innern (BMdI) und dem Bundesarbeitsministerium (BMAS) umgesetzt. Das erste Programm mit dem Titel »Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt« – AgAG – (Förderzeitraum 1992–1996) zielte vor allem auf die »pädagogische Arbeit mit rechten Jugendlichen« und die (Neu-)Entwicklung einer Infrastruktur der Jugendarbeit in den östlichen Bundesländern. Mit dem Programm »Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus« (Förderzeitraum 2001–

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2006) waren vielfältige Angebote für Kommunen, Zivilgesellschaft, Schule und Jugendarbeit verbunden, die auf Aufklärung, Vernetzung, Förderung des ehrenamtlichen Engagements, die Entwicklung von demokratischer Kultur und auf die Schnittstelle von Ausbildung und Arbeitsmarkt zielten. Im Teilprogramm »CIVITAS – initiativ gegen Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern« wurde Beratung als ein exponierter Förderbereich ausgewiesen; hierzu gehörte die Konzeption einer spezifischen Beratung von Opfern fremdenfeindlicher und rechtsextremer Gewalt und die Mobile Beratung von Personen, Institutionen und Trägern, die von Vorkommnissen mit rechtsextremem Hintergrund betroffen sind. Entwickelt wurden weiter regionale Netzwerkstellen, zu deren Aufgaben es gehörte, kommunale Initiativen zu beraten, zu fördern und zu koordinieren. Mit dem Programm »kompetent. Für Demokratie – Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus« (2007–2010) wurden die zuvor entwickelten Beratungsangebote auch auf die westdeutschen Bundesländer übertragen und zu einem exponierten Förderbereich. Leitgedanke dieses Bundesprogramms war die Schaffung eines breiten Pools an staatlichen und nichtstaatlichen Beratungskompetenzen, die Bündelung dieser verschiedenen Kompetenzen für ein gemeinsames Vorgehen in Krisensituationen und die Gewährleistung einer möglichst passgenauen und professionellen Beratungsarbeit vor Ort durch die Identifikation der jeweils für die konkrete Situation geeigneten Beratungskompetenzen (BMFSFJ, 2007, S. 3). Diese Beratungsnetzwerke werden durch das Bundesprogramm TOLERANZ FÖRDERN – KOMPETENZ STÄRKEN (2011– 2013) weitergeführt, wobei ein neuer Förderschwerpunkt in der Durchführung von qualitätsorientierten Verfahren zur weiteren Professionalisierung der Beratungsleistungen liegt. beratungsNetzwerk hessen – Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus Im »beratungsNetzwerk hessen – Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus« sind seit 2007 29 staatliche und nichtstaatliche Träger mit dem Ziel vertreten, als Expertenpool die Berater in den Mobilen Beratungsteams fachlich zu unterstützen und gemeinsam die Angebote des Beratungsnetzwerks weiter zu konturieren. Für das Beratungsnetzwerk arbeiten 26 Berater in Mobilen Beratungsteams mit unterschiedlichen Schwerpunkten, Qualifikationen und Zusatzausbildungen. Im Auftrag des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport (als Antragsteller der Bundesmittel) wird das Beratungsnetzwerk durch eine Landeskoordinierungstelle gesteuert, die an der Universität in Marburg, am Institut für Erziehungswissenschaft, angesiedelt ist.

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Der Aufbau des Beratungsnetzwerks galt als ein Experiment, denn zuvor gab es in Hessen kein etabliertes flächendeckendes Beratungsangebot, wie es sich etwa in den ostdeutschen Bundesländern in den Jahren zuvor entwickelt hat. Somit war zunächst offen, wie stark solche Beratungsangebote nachgefragt werden würden. Auch die Struktur des Beratungsnetzwerks hat einen experimentellen Charakter, weil im Netzwerk sowohl Vertreter von staatlichen Behörden als auch Vertreter kleinerer freier Träger, die eher aus dem alternativen Spektrum stammen, zusammenarbeiten. Die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Phänomen Rechtsextremismus und die unterschiedlichen Schlussfolgerungen kulminieren in einem Netzwerk mit unterschiedlichen Akteuren, die alle einen Beitrag für die Entwicklung und Bereitstellung von gelingenden Beratungsangeboten leisten wollen. Beratungsanlässe

Seit 2007 wurden in Hessen mehr als 200 Beratungen durchgeführt. Die Gruppe der Beratungsnehmer ist sehr heterogen. Ein großer Teil der Beratungsanfragen kommt von Schulen (Schulleitungen, Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter, Schülervertretungen), gefolgt von Kommunen (Bürgermeister, Ordnungsämter, Jugendpflegen etc.), dann Vereinen (Sportvereine, Freiwillige Feuerwehren) oder auch von Eltern rechtsorientierter Jugendlicher. Welches sind nun die Anlässe für Beratung? Die häufigsten Anlässe zur Beratung resultieren aus sogenannten »Propagandavorfällen«. Hierzu zählen »Parolen, Sprüche, Schmierereien«, das Verteilen von Flyern oder das Zeigen des Hitlergrußes. Dem schließen sich Anlässe an, die unter den Begriff »Organisierter Rechtsextremismus« subsumiert werden können – die Entstehung von rechtsextremen (Kameradschafts-)Strukturen, Demonstrationen, Kundgebungen, Infostände der extremen Rechte, Versuche, einzelne Vereine zu unterwandern, oder auch Kontaktangebote von rechtsextremen Akteuren an Jugendliche. Körperliche und/oder verbale Gewalt mit rechtsextremem Hintergrund stellen einen weiteren Ausgangspunkt für Beratung dar, ebenso wie das Auftreten von rechtsorientierten Jugendlichen in Jugendräumen oder an Schulen, die Wahrnehmung eines rechtsextremen Habitus – Codes, Symbole, Kleidung – sowie die Verteilung von rechtsextremer Musik oder die Planung von rechtsextremen Konzerten. Die Sorge von Eltern, ob ihr Kind gefährdet ist und in die rechtsextreme Szene einsteigt, ist schließlich ein weiterer Grund für die Nachfrage von spezifischen Beratungsangeboten. Ein typisches Charakteristikum der Beratungsanlässe besteht darin, dass sie in den meisten Fällen nicht allein vorkommen, sondern mehrere der genannten Anlässe gleichzeitig auftreten. So fällt auf, dass Gewalt in keinem Fall allein

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auftritt, Propagandadelikte sehr häufig in Kombination mit den anderen Anlässen vorkommen und ein starker Zusammenhang zwischen rechtsorientierten Jugendlichen und der Kontaktsuche aus dem organisierten Rechtsextremismus besteht. Entwicklung von Beratungskompetenzen und -standards

Mobile Beratung im Themenfeld Rechtsextremismus ist ein noch recht junges Professionsprofil. In der politischen und pädagogischen Auseinandersetzung sind viele engagierte Akteure in die Beratungsarbeit eingestiegen, ohne über fundierte Kenntnisse bzw. über eine Zusatzausbildung in einem spezifischen Beratungsansatz zu verfügen. In den vergangenen Jahren hat ein Prozess der Professionalisierung stattgefunden, etwa durch Fortbildungsangebote unterschiedlicher Träger zu spezifischen Beratungsansätzen (zum Beispiel systemische Beratung, Elternberatung, Opferberatung), durch Fachtagungen oder durch unterschiedliche Maßnahmen in der Qualitätsentwicklung. Gleichwohl fehlt es (noch) an einer kritischen Diskussion und Fachpublikationen, die klären helfen, welche Beratungsansätze und -strategien für das Problemfeld Rechtsextremismus angemessen sind und welche Perspektiven für die Weiterentwicklung adäquater Professionsprofile, Curricula und Methoden bestehen. Das in der Bilanzierung der Vorgängerprogramme »CIVITAS« bzw. »kompetent. für Demokratie« durch die jeweilige Wissenschaftliche Begleitung konturierte Beratungsselbstverständnis orientiert sich stark an den Charakteristika der systemischen Beratung. Ihr liegt als theoretische Folie die Systemtheorie und als erkenntnistheoretische Perspektive der Konstruktivismus zugrunde (Lynen von Berg, Palloks u. Steil, 2007; ISS u. Camino, 2011). Die Ressourcenund Lösungsorientierung als wesentliche Bestandteile systemischer Beratungsmodelle sind dabei ebenso angemessen für die Beratung im Problemfeld Rechtsextremismus wie die Prozessorientierung: »Prozessberatung setzt – vereinfacht gesagt – darauf, dass die Organisation in die Lage versetzt wird, eigenständig Lösungen für ihre Probleme zu entwickeln. Prozessberater verstehen sich in erster Linie als Gestalter und Begleiter der Reflexionsprozesse, die organisationales Lernen in diesem Sinne ermöglichen« (von Ameln, Kramer u. Stark, 2009, S. 13). Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Prämisse systemischer Beratung sensibilisiert darüber hinaus die Berater in dem schwierigen Feld dafür, dass die unterschiedlichen Problemwahrnehmungen der verschiedenen Akteure in einem »Beratungssystem« (Zech, 2004) unterschiedliche Bewertungen und Handlungsperspektiven produzieren und komplexe Beratungen wie die von Kommunen oder von Schulen zunächst mit solcherlei unterschiedlichen Wahrnehmungen und gegebenenfalls verschiede-

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nen Aufträgen konfrontiert sind. Gleichzeitig stellt das Selbst- und Rollenverständnis von systemischen Beratern für das Problemfeld Rechtsextremismus eine Herausforderung dar, handelt es sich doch auch um ein brisantes politisches Thema, welches von Menschen in ihrer Rolle als Berater bearbeitet wird, die mit Überzeugung und Engagement einen Beitrag zur Bewältigung von Rechtsextremismus leisten möchten – das »heiße Herz« des engagierten Akteurs kann mit dem »kühlen Verstand« des Beobachters zweiter Ordnung konfligieren. Die Berater im »beratungsNetzwerk hessen« verfügen derzeit nur zum Teil über Zusatzqualifikationen wie systemische Beratung, Coaching oder Mediation. Einige Berater stammen aus der politischen Bildungsarbeit und sind Pädagogen mit universitärem Studienabschluss. Seit der Gründungsphase des Netzwerks besteht somit in Hessen (wie auch andernorts) ein Qualifikationsgefälle. Neben dem Aufbau der Netzwerkorganisation galt und gilt daher ein Hauptaugenmerk der stetigen Qualifizierung der Berater sowie der Konzeption von spezifischen Instrumenten zur Dokumentation und Evaluation von Beratungsprozessen, deren Auswertungen die Grundlage für die Weiterentwicklung des Beratungsangebots und des Beratungsselbstverständnisses im Sinne einer »lernenden Organisation« darstellen. Im Rahmen des bisherigen Prozesses zur Qualitätsentwicklung im »beratungsNetzwerk hessen« wurden folgende Merkmale der Beratungsleistungen identifiziert und in einem eigenen Leitbild und einem »Handbuch zur mobilen Beratung« formuliert: 1. Die Mobile Beratung erfolgt schnell, diskret, kostenlos und professionell und entwickelt in der Bearbeitung von akuten Konfliktsituationen vor Ort weitere Handlungsstrategien für den künftigen Umgang mit Rechtsextremismus. 2. Die Mobile Beratung orientiert sich an den Problemsichten und Bedarfen der Beratungsnehmer mit dem Ziel der »Hilfe zur Selbsthilfe«. 3. Die Mobile Beratung entlastet die subjektiv unter Druck stehenden Beratungsnehmer und sorgt dafür, dass die Verantwortung von mehreren Schultern getragen wird. Weiter ist eine zentrale Aufgabe, die Beratungsnehmer darin zu unterstützen, auch künftige Konfliktsituationen mit den vorhandenen Ressourcen lösen zu können (Self-Empowerment). Ein solcher lösungs- und ressourcenorientierter Ansatz hat zur Voraussetzung, dass sich die Beratungsnehmer als Experten ihres eigenen sozialen Nahraums verstehen. Beratung versteht sich somit als ein an den Bedarfslagen der Beratungsnehmer orientiertes Kommunikationsangebot und verfolgt somit einen »offenen moderierenden Ansatz«, für den ein Überwältigungsverbot und ein Kontroversitätsgebot gelten (Wehling, 1977). Ein offen moderierender Ansatz bedeutet (Lynen von Berg et al., 2007, S. 38 ff.):

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–– Eine konsequente Umsetzung der Klientenorientierung. Es besteht Offenheit für diverse und oft gegensätzliche Interessen der Beratungsnehmer und befähigt diese durch Moderation zu einer gemeinsamen und demokratischen Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus. –– Das Rollenverständnis der Berater als Moderatoren erfordert eine Äquidistanz zu allen Beratungsnehmern und einen Verzicht auf Polarisierungen und Konfrontationen. –– Weiter ist der offen moderierende Ansatz im Unterschied zu einem Ansatz der Gegnerschaft »nicht auf den Rechtsextremismus allein fixiert und reibt sich auch nicht in dessen direkter Bekämpfung auf« (Lynen von Berg et al., 2007). Vielmehr besteht die primäre Aufgabe der Beratung in der positiven Zielsetzung, die Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft zu ermöglichen. Wie sich nun die Beratungsprozesse im Problemfeld Rechtsextremismus konkret gestalten, soll anhand der Darstellung einer zeit- und ressourcenintensiven Beratung in einer hessischen Kommune exemplarisch diskutiert werden. Fallbeschreibung – Beispiel einer »Kommune« Anlass und Vorgehen

Die Jugendpflegerin einer Kommune berichtet von zahlreichen Vorkommnissen mit rechtsextremem Hintergrund in den selbstverwalteten Jugendräumen und in der Gemeinde. Schmierereien, Pöbeleien, Bedrohungen und gewalttätige Übergriffe kommen immer häufiger vor, die örtliche »rechte Jugendclique« hatte zudem Kontakt zu einem NPD-Kader; so fand in einem Jugendraum eine gemeinsame Versammlung statt. In der Folge häuften sich Beschwerden durch Anwohner und der Bürgermeister hat den Jugendraum geschlossen. Die Jugendpflegerin fragt beim Beratungsnetzwerk nach Unterstützung bei der Entwicklung eines neuen Konzeptes für die geplante Wiedereröffnung des Jugendclubs. Im Zeitraum der insgesamt zwölfmonatigen Beratung kommt es zu einem gewalttätigen Überfall auf zwei junge Männer in einem Ortsteil. Diese beschreiben eine Gruppe von acht bis zwölf vermummten Personen als Täter, die sie aufgrund ihrer Kleidung dem rechtsextremen Spektrum zuordnen. Dieses Ereignis führt zur Gründung eines lokalen »Bündnisses gegen Rechts«, dessen erste Schritte über einen Zeitraum von vier Monaten von einem Berater, der bereits in der Beratung des Jugendclubs tätig ist, unterstützt werden. Aus der Beratungsanfrage der Jugendpflegerin entwickelten sich in der Gemeinde vier Beratungsprozesse: die Beratung der Jugendpflege, des Bündnisses, die zeitlich weniger

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intensiv ausfallenden Beratungen einer freiwilligen Feuerwehr und eines Sportvereins. Trotz der gemeinsamen Ausgangslage waren die Beratungsbedarfe jeweils unterschiedlich, sodass mehrere Berater mit entsprechender Qualifikation in den unterschiedlichen Feldern tätig waren, ein Berater fungierte in dieser Zeit als zentraler Ansprechpartner für die anderen Teams. Arbeitsweise

Die folgende Fallbeschreibung basiert auf den von den Beratern angefertigten Dokumentationen der Beratungen und konzentriert sich auf die Beratung der Jugendpflegerin und des Bündnisses. Das dokumentierte Material wurde mit Hilfe eines eigens entwickelten Kategoriensystems und der Textanalysesoftware MAXQDA ausgewertet. Die so erfolgte Systematisierung wird hier auf die beschriebenen Merkmale aus dem Leitbild gelungener Beratung bezogen (s. o. im Abschnitt »Entwicklung von Beratungskompetenzen und -standards«) und bildet die Grundlage für die folgenden Fallbeschreibungen. 1. Merkmal gelungener Beratung: Zeitnah und orientiert an den Beratungsnehmern

Das erste Kennzeichen beschreibt, dass die Beratung zeitnah vor Ort erfolgen und sich an den Problemsichten und Bedarfen der Beratungsnehmer orientieren soll. Im Regelfall verläuft die Kontaktaufnahme folgendermaßen: Nachdem sich die Beratungsnehmer an das »beratungsNetzwerk hessen« gewandt haben, findet ein Erstgespräch statt. Hierbei werden zunächst die aktuelle Situation analysiert und dann die Bedarfe sowie die Ziele der Beratung festgehalten. Im Fall der Jugendpflegerin wurde im Erstgespräch als Ziel die Neueröffnung des Jugendclubs mit einem Team aus mehreren Betreuern genannt, wozu ein pädagogisches Konzept erarbeitet werden soll. Die Beratungsnehmerin formulierte ihre Bedarfe folgendermaßen: »Beratung und Hilfe für die nächsten Schritte bis zur Wiedereröffnung des Jugendclubs, Angebot von Veranstaltungen für Betreuer und Jugendliche«. Sie erhoffte sich den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zu den Jugendlichen, dass soweit reicht, dass »sie und [die] Jugendlichen über die Problematik sprechen können und dass sie in der Lage sind, gemeinsam auch Alltägliches zu planen und umzusetzen«. Die Berater sahen insbesondere die Stärkung der Betreuer und der Jugendpflegerin sowie die Erarbeitung eines schlüssigen Konzeptes für die Arbeit im Jugendclub als zentral an und benannten als mögliches Ziel, »zunächst allen Jugendlichen einen Raum zu eröffnen, in welchem sie eine ›gute Zeit‹ erleben können. Dieses Ziel könnte dazu beitragen, dass die Jugendlichen sich nicht mehr durch ›rechte Ideale‹ angezogen fühlen.«

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Im Fall des Bündnisses verlief der Erstkontakt anders, weil durch den »Beratungsfall Jugendclub« bereits Berater vor Ort involviert waren. Als nach dem Überfall eine Sitzung des Ortsbeirates einberufen wurde, nahm neben vielen Bürgern auch ein Berater teil. Er stellte das »beratungsNetzwerk hessen« vor und wies unter anderem auf die Möglichkeit der Gründung eines zivilgesellschaftlichen Bündnisses hin. Dieser Vorschlag wurde von den Bürgern aufgegriffen und der Berater zur konstituierenden Sitzung eingeladen. Er stellte andere Bündnisse in Hessen, die Prozesse ihrer Entstehung und die organisatorischen Rahmenbedingungen vor, gab konkrete Tipps und bot weitere Hilfestellungen an. Er berichtete danach über folgende Beratungsbedarfe des Bündnisses: »Es wird zunächst sowohl um fachliche Inputs (Lebenswelt von Rechten, Umgang mit Rechten, Präventive Arbeit, Aufbau einer neuen Kommunikationskultur etc.) wie auch um Fragen der Zusammenarbeit mit Behörden und Politik u. a. gehen (Stadtverwaltung, Ortsbeirat, Polizei, Vereine etc.).« Der Berater nahm fortan an den Sitzungen des Bündnisses teil und leistete konkrete Unterstützung wie zum Beispiel bei der Suche nach Referenten oder bei Situationseinschätzungen. 2. Merkmal gelungener Beratung: Entlastung der Beratungsnehmer durch Vernetzung

Grundlegend für die Arbeit des »beratungsNetzwerkes hessen« ist weiter, die Beratungsnehmer von dem auf ihnen lastenden Druck zu entlasten und die Verantwortung auf »mehrere Schultern« zu verteilen. Dies war insbesondere in der Beratung der Jugendpflegerin wichtig, auf der anscheinend ein großer Handlungsdruck durch die lokalen Verantwortungsträger lastete, die von ihr eine Lösung für das Problem der Existenz von rechtsorientierten Jugendlichen in der Kommune erwarteten. Die Berater resümierten: »Durch diesen Druck darf jedoch kein unfokussierter Aktionismus entstehen, vielmehr sollte durch kleinere klar definierte und realisierbare Ziele dieser Druck von der Beratungsnehmerin genommen werden.« Die Frage, welche weiteren Akteure in der Gemeinde zur Unterstützung angesprochen werden könnten, blieb während der gesamten Beratung ein zentrales Thema. So wurde durch die Berater Kontakt zur lokalen Polizei hergestellt, weiter schlugen sie vor, die aktuelle Problemlage und das neue Konzept für die Arbeit im Jugendclub auch im Ortsbeirat und in den lokalen Vereinsstrukturen anzusprechen. Im Fall des lokalen Bündnisses stellte bereits die Gründung eine Vernetzung von verschiedenen Akteuren dar, die sich gegen Rechtsextremismus in ihrer Gemeinde wehren wollten. Innerhalb solcher Bündnisstrukturen ist darauf zu achten, dass die Verantwortlichkeiten gleichmäßig verteilt werden. Dieses Problem wurde besonders deutlich, nachdem sich die Lage vor Ort beruhigt

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hatte und immer weniger Interessierte an den Bündnistreffen teilnahmen. Die Beratung war zu diesem Zeitpunkt bereits beendet; der Berater unterstützte das Bündnis auf Anfrage hin dennoch bei der Suche nach neuen Themen und der Anpassung der Organisationsstruktur an die veränderten Rahmenbedingungen. Auch die Vernetzung mit den lokalen Vereinsstrukturen sowie mit anderen »Bündnissen gegen Rechts« in der Region war Thema; beides konnte aber nicht befriedigend umgesetzt werden. 3. Merkmal gelungener Beratung: Hilfe zur Selbsthilfe

Ein drittes Ziel der Beratung ist, dass vor Ort Handlungsstrategien für den zukünftigen Umgang mit Rechtsextremismus erarbeitet werden; das Motto lautet hier »Hilfe zur Selbsthilfe«. Dazu werden die vorhandenen Ressourcen und die spezifischen Bedingungen im sozialen Nahraum eruiert, um auch auf zukünftige Problemsituation angemessen reagieren zu können. Ein zentrales Ziel in der Beratung der Jugendpflegerin war die Entwicklung eines schlüssigen pädagogischen Konzeptes der Arbeit in einem Jugendraum, der auch von rechtsorientierten Jugendlichen besucht wird. Dieses Konzept sollte das Team befähigen, eigene Handlungsstrategien für den Umgang mit diesen Jugendlichen zu finden. Dazu wurden zwei Workshops mit der Jugendpflegerin und ihrem Team durchgeführt. Im ersten Workshop stand die Frage nach den vorhandenen Ressourcen im Mittelpunkt. So konnte sich das Team bewusst machen, wo sie bereits »gut aufgestellt« sind (Personal, Räume) und in welchen Bereichen sie weitere Ressourcen benötigen; das galt vor allem für die Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen. Im zweiten Workshop wurden die Erfahrungen des Teams nach der Eröffnung des Jugendraums reflektiert. Die angestrebte Verschriftlichung der Ergebnisse in Form eines grundlegenden Konzeptes wurde allerdings nicht umgesetzt, wie die Berater in ihrer Evaluation bemängeln. Dennoch hebt die Jugendpflegerin in ihrer Evaluation hervor, dass ihr und ihrem Team Unsicherheiten und Ängste im Umgang mit den rechtsorientierten Jugendlichen genommen wurden und so die Neueröffnung des Jugendclubs mit einem gut vorbereiteten Team durchgeführt werden konnte. Im Fall der Bündnisaktivitäten kann auf eine interessante Entwicklung verwiesen werden. Der Berater schreibt nach einigen Monaten: »Das Bündnis formiert sich zunehmend politischer. Waren anfangs Reflexe auf die Gewaltaktionen der Rechten und das Schutzbedürfnis das tragende Gefühl und Motor der Zusammenkunft von BürgerInnen, so nimmt über die Analyse der eigenen Arbeit, der eigenen Erfahrungen und der Erweiterung der Kenntnisse über Strategien und Verhalten von Rechten die politische Interpretation einen zunehmend größeren Raum ein.« Hier zeigt sich, dass die Fokussierung auf das auslösende

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Ereignis nachlässt und stattdessen die Frage nach adäquaten, dauerhaften Handlungsstrategien gegen Rechtsextremismus zum Thema wird. Der Berater hebt in seiner Bilanz des Beratungsprozesses vor allem hervor, dass ein arbeitsfähiges Bündnis entstanden ist, das neue Situationen kompetent analysieren und entsprechende Handlungsstrategien entwickeln kann. Daneben konnte durch die vertiefende Thematisierung des lokalen Rechtsextremismus auch eine Sensibilisierung der Bevölkerung erreicht werden, die sich unter anderem darin zeigte, dass sie entscheidende Hilfe bei der Aufklärung eines neuerlichen rechtsextremen Übergriffes leistete. Besonderheiten im Beratungsprozess

Der genannte Überfall durch rechtsextreme Jugendliche war das herausragende Ereignis, das den weiteren Prozess in der Kommune deutlich prägte, so der bilanzierende Blick auf die besonderen Merkmale dieser komplexen Beratung. So verstärkte sich durch den öffentlich breit wahrgenommenen Vorfall erstens der Druck, der ohnehin bereits auf der Jugendpflegerin und ihrem Team lastete. Das Team des Jugendclubs fand sich nach dem Überfall in einer emotional angespannten Situation wieder, die von ihnen selbst mit Stichworten wie Angst, Hilflosigkeit, Tatendrang, Machtlosigkeit und Polarisierung beschrieben wurde. Weiter traten durch den Überfall neue Akteure im Feld auf: Neben dem sich in Folge des Überfalls gegründeten Bündnisses sind das die Ortsvorsteher und Ortsbeiräte, lokale Vereinsstrukturen, die Presse und antifaschistische Gruppen aus der nächstgrößeren Stadt. All diese Akteure und ihre unterschiedlichen Perspektiven mussten in der weiteren Beratungsarbeit beachtet werden, und sie haben der Frage nach Vernetzung eine besondere Bedeutung gegeben. So zielte die Planung eines Informationsabends darauf, die beteiligten Akteure und ihre unterschiedlichen Problemwahrnehmungen und Haltungen kennen zu lernen und zu vernetzen. »Wichtig erscheint«, so ein Berater, »dass deutlich wird, dass alle Akteure (Polizei, Gemeinde, Jugendpflege) an einem Strang ziehen und gemeinsam die Vorgänge in der Gemeinde im Auge haben«. Dieser Anspruch konnte nicht wie erhofft eingelöst werden, weil die Jugendpflegerin mit ihrem Team und die anderen beteiligten Akteure keine dauerhafte und tragfähige Form der vertiefenden Kooperation gefunden haben. Schließlich führten die unterschiedlichen Perspektiven der beteiligten Akteure auch auf der Ebene der pädagogischen Arbeit zu Differenzen und Konflikten. So kam es vor allem zwischen der Jugend-AG des Bündnisses und der Jugendpflegerin, aber auch innerhalb des Teams der Jugendpflege zu unterschiedlichen Ansichten und Konflikten über die Zielgruppe der Offenen Jugendarbeit: Forderte das Bündnis und ein Teil des Teams einen Ausschluss von

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rechtsorientierten Jugendlichen, präferierten die Jugendpflegerin und andere Teammitglieder ein Angebot, das grundsätzlich allen Jugendlichen offen stehen sollte. Die Berater haben der Jugendpflegerin empfohlen, das Gespräch mit der Jugend-AG zu suchen, um der wahrgenommenen Polarisierung entgegenzuwirken. Weiter wurde vereinbart, dass die Berater die Jugendpflegerin bei der Formulierung eines Leitbildes und Konzeptes für die kommunale Jugendarbeit unterstützen. Das Ziel dabei war zunächst, im Team eine gemeinsame Haltung zu erarbeiten und eine vertiefende Klärung des pädagogischen Konzeptes zu erreichen sowie in einem zweiten Schritt gegenüber dem Bündnis, der Verwaltung und anderen lokalen Akteuren die eigenen, als notwendig erachteten, Schwerpunkte in der Jugendarbeit zu dokumentieren. Der Beratungsfall zeigt neben weiteren Besonderheiten exemplarisch, wie anspruchsvoll und schwierig Prozesse der Vernetzung von unterschiedlichen Akteuren mit unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interessen sind: Diese können andere Perspektiven einbringen, die nicht immer mit den schon vorhandenen Sichtweisen übereinstimmen. Dabei kann es zu Differenzen und Konflikten kommen, die – wie skizziert – dazu führen können, dass Gespräche nicht stattfinden und die Fronten sich verhärten. Hier ist es die Aufgabe der Berater in Kommunen solche Vernetzungsprozesse immer wieder vorzuschlagen, einzuleiten, zu begleiten und alle Beteiligten für einen stetigen Perspektivwechsel zu gewinnen. Fazit Zusammenfassend lassen sich drei Herausforderungen für die Weiterentwicklung von professionellen und differenzierten Beratungsangeboten im »Problemfeld Rechtsextremismus« beschreiben. Diese beziehen sich sowohl auf die Ebene der strukturellen Arbeit im »beratungsNetzwerk hessen«, die die konkrete Beratungsarbeit gewissermaßen rahmt, wie auch auf die Beratung vor Ort, wie sie in dem Fallbeispiel geschildert wurde. 1. Herausforderung: Vernetzung

Das Fallbeispiel zeigt anschaulich, wie komplex in der Beratung angestrebte Vernetzungsprozesse sind. Die Schwierigkeiten der Vernetzung unterschiedlicher Akteure und die Integration verschiedener Sichtweisen stellt auch für den Expertenpool des Beratungsnetzwerkes eine Herausforderung dar. Hier kommen verschiedene Akteure mit spezifischen Hintergründen und Wahrnehmungsweisen zusammen, die zwar ein gemeinsames Ziel verbindet, deren Vorstellungen über den »Weg zum Ziel« aber immer wieder Unterschiede aufweisen, die wiederum

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transparent gemacht und ausgehalten werden müssen. Die Vermittlung zwischen diesen verschiedenen Wahrnehmungs- und Herangehensweisen bleibt sowohl in der Beratung wie auch in der Steuerung des Netzwerkes ein zentraler Aspekt. 2. Herausforderung: Verständnis von Rechtsextremismus

Rechtsextremismus kann nicht als isoliertes Phänomen verstanden werden, das keine Verbindungen zu der »gesellschaftlichen Mitte« und ihren Diskursen aufweist. Würde eine solche »Rand-Definition« der Beratung im Themenfeld »Rechtsextremismus« zugrunde gelegt, dann wäre die zentrale Aufgabe der Berater, dafür zu sorgen, dass die Rechtsextremen »verschwinden«: Sie müssten gegen sie und sich an ihnen abarbeiten. Das Verständnis von Rechtsextremismus als Randphänomen ist aber nach wie vor weit verbreitet, das zeigt sich auch in der häufigen Erwartung von Beratungsnehmern, dass das Ergebnis der Beratung das »Verschwinden« des Beratungsanlasses – zum Beispiel des NPD-Ortsvereins, des rechtsextremen Kaders oder der rechtsorientierten Jugendclique – sein sollte. Durch Bezugnahme auf gesellschaftliche Prozesse wie der Existenz von Vorurteilen und Diskriminierungen oder durch die Berücksichtigung von Potenzialen des zivilgesellschaftlichen und demokratischen Engagements kann der Blick gemeinsam mit den Beratungsnehmern erweitert werden: Im Mittelpunkt stehen dann die Fragen danach, ob die erlebte »Spitze«, die zur Inanspruchnahme der Beratung geführt hat, mit anderen Entwicklungen vor Ort zusammenhängt, welche sinnvollen Gegenstrategien entwickelt werden können und wie langfristig durch die Stärkung zivilgesellschaftlichen Engagements ein demokratisches Klima entstehen kann, in dem Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus keinen Platz mehr haben. 3. Herausforderung: Erarbeitung von Kompetenzen

Die (Weiter-)Entwicklung einer differenzierten und professionellen Beratung im »Problemfeld Rechtsextremismus« steckt noch in den Kinderschuhen. Demzufolge steht auch der Austausch in der Praxis und der Wissenschaft über die Kompetenzen und Ansätze für eine gelingende Beratung noch am Anfang. So widmet sich das »beratungsNetzwerk hessen« auch der weiteren fachlichen Profilierung und Konturierung des Beratungsangebotes. Das gilt vor allem für die Frage nach den Bedürfnissen und Perspektiven von Zielgruppen, die bisher wenig oder noch nicht die Beratungsleistungen nachgefragt haben. Ebenso spielt die weitere systematische Qualifizierung der Berater eine zentrale Rolle in der qualitativen Weiterentwicklung des Beratungsangebots, zum Beispiel durch das Angebot einer modularen Fortbildung zur systemischen Beratung. Die oftmals unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen der Akteure in dem

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politisch komplexen Feld »Rechtsextremismus« erfordern es, die in der Beratung vorhandene Komplexität in einem dialogischen Prozess mit den Beratungsnehmern (etwa durch die Vereinbarung konkreter Ziele) überschaubar zu machen. Dabei sind auch die eigenen Instrumente zur Dokumentation und Evaluation weiterzuentwickeln, die überprüfen, wie nachhaltig realisierte Ziele und erarbeitete Handlungsstrategien sind, aber auch die Einsicht zu vermitteln, dass dem Phänomen Rechtsextremismus auf verschiedenen Ebenen und nicht nur mit Beratung begegnet werden muss. Literatur Ameln, F. von, F., Kramer, J., Stark, H. (2009). Organisationsberatung beobachtet. Hidden Agendas und blinde Flecken. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Decker, O., Brähler, E. (2008). Bewegung in der Mitte. Rechtsextreme Einstellungen Deutschland. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. Decker, O., Klees, J., Brähler, E. (2012). Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Berlin: Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Decker, O., Weißmann, M., Kiess, J., Brähler, E. (2010). Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. Dudek, P., Jaschke, H.-G. (1984). Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer besonderen politischen Kultur (2 Bde.). Opladen: Westdeutscher Verlag. Glaser, S., Pfeiffer, T. (Hrsg.) (2009). Erlebniswelt Rechtsextremismus. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag. Hafeneger, B., Becker, R. (2007). Rechte Jugendcliquen. Zwischen Unauffälligkeit und Provokation. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag. Hafeneger, B., Becker, R. (2012). Rechtsextreme Männlichkeit(en). In B. Boos, R. Engelmann (Hrsg.), Gewalt von Rechts! Analysen, Hintergründe, Handlungsmöglichkeiten (S. 120–131). Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag. Heitmeyer, W. (2002–2012). Deutsche Zustände. Folge 1 bis 10, Frankfurt a. M. Berlin: Suhrkamp. Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) u. Camino (Hrsg.) (2011). Endbericht der Wissenschaftlichen Begleitung für den Berichtszeitraum 01. 02. 2008 bis 31. 12. 2010 »kompetent. für Demokratie – Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus«. Zugriff am 28. 08. 2012 unter http://www.kompetent-fuer-demokratie.de/download.php?file=uploads/pdf-dateien/ abschlussbericht_wissenschaftliche_Begleitung_kompetent.pdf Lynen von Berg, H., Palloks, K., Steil, A. (2007). Interventionsfeld Gemeinwesen: Evaluation zivilgesellschaftlicher Strategien gegen Rechtsextremismus. Weinheim u. München: Juventa. Möller, K. (2000). Rechte Kids. Weinheim u. München: Juventa. Rommelspacher, B. (2006). »Der Hass hat uns geeint«. Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg aus der Szene. Frankfurt a. M. u. New York: Campus-Verlag. Stöss, R. (2010). Rechtsextremismus im Wandel. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. Wehling, H.-G. (1977). Konsens à la Beutelsbach. In S. Schiele (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart: Klett-Verlag. Zech, R. (2004). Rat und Unrat. Eine kleine Reflexion über Beratung. In A. Thedorff (Hrsg.), Schon zu spät? Zeit. Lehren. Lernen (S. 199–213). Stuttgart: Hirzel.

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Angelika Trilling und Meinolf Peters

»Der alte Mensch wird immer mehr zu dem, der kein Wissen hat …« Zur sozialtechnischen Umgestaltung der Beratung Älterer

Diese Aussage, die wir unserem Beitrag als Titel voranstellen, stammt von dem über 90-jährigen italienischen Rechtsphilosophen Norberto Bobbio (1999). Auf den ersten Blick scheint sie klarer Ausdruck der Resignation in einer immer fremder werdenden Welt. Bei längerer Betrachtung gewinnt der Satz an Ambivalenz: Kokettiert der europaweit und über die engeren Grenzen seines Fachgebietes hinaus angesehene Wissenschaftler etwa damit, dass ihm ein paar aktuelle Daten entfallen sind oder ihn schon gar nicht mehr interessieren? Oder ist es ein Akt der Unterwerfung, der uns, die Jüngeren, dazu bringen soll, ihm möglichst alles Lästige abzunehmen und sein Leben für ihn zu regeln? Oder will er uns mit leichtem Augenzwinkern warnen, dass all unser beraterisches Mühen, unsere Versuche, klientenzentriert, partnerschaftlich und systemisch an der Erhaltung seiner Ressourcen zu wirken, doch zu nichts führen, weil das alles Ziele sind, über die er weit hinaus (gealtert) ist? Altern in der postmodernen Gesellschaft Die gesellschaftliche Entwicklung ist durch eine tiefgreifende Individualisierung einerseits und eine weitgehende Pluralisierung andererseits gekennzeichnet (Keupp, 2004). Das Forum Beratung der DGVT (2002) versucht in seiner Frankfurter Erklärung die Konsequenzen dieser Entwicklung im Hinblick auf Beratung aufzuzeigen: »Eine Welt im Wandel braucht Beratung, aber eine Beratung, die diesem Wandel Rechnung trägt! Die Lebens- und Arbeitswelten der Menschen verändern sich gegenwärtig in dramatischer Form. Bisher tragfähige Normalitäten und Identitäten verlieren im globalisierten Kapitalismus ihre Passform und wir alle sehen uns mit der Erwartung konfrontiert, uns flexibel und offen auf veränderte Bedingungen einzulassen. Unsere Alltage werden riskanter und unvorhersehbarer. Gemeinsamkeiten scheinen weniger selbstverständlich. Identitäten und Zukunftsentwürfe werden brüchig, müssen immer wieder erarbeitet und

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neu ausgerichtet werden. Persönliche Lebenspläne, Vorstellungen von sich selbst und der eigenen Lebenswelt verlangen kontinuierliche Reflexion und Autonomie« (Forum Beratung der DGVT, 2002, S. 335). Damit ist der Horizont umrissen, vor dem sich heutige Beratungsbedürfnisse und -erfordernisse abzeichnen. Doch was bedeuten diese Ausführungen für das Alter? Und welche Differenzierungen gilt es hier zwischen dem »Dritten«, also dem aktiven Alter, und dem »Vierten«, dem von gesundheitlichen Einschränkungen und psychosozialen Verlusten geprägten Alter zu treffen? Der kulturelle, ökonomische und gesellschaftliche Wandel hat längst die Alten eingeholt, und zumindest die gesundheitlich und sozial privilegierten unter ihnen verabschieden sich von einem auf Stagnation, Rückzug und Verzicht eingeengten Stereotyp, wie es zuletzt lobend auch die Bundesregierung in ihrem 6. Altenbericht hervorhob (Deutscher Bundestag, 2010). Im Alter gilt es, die dank medizinischen Fortschritts und prächtiger Wirtschaftsentwicklung geschenkte »späte Freiheit« (Rosenmayr, 1983) kreativ zu gestalten und zu genießen. Mit Sport und gesunder Ernährung hält man sich fit, mit flotter Kleidung, gepflegter Frisur und vielleicht auch ein wenig kosmetischen Korrekturen kaschiert man vor eigenen und fremden Blicken die äußeren Signale des Alters. Auf Reisen zeigen die Alten Mobilität, im Internet sammeln sie Kontakte, und wenn schon nicht mehr auf dem regulären Arbeitsmarkt, so lässt sich doch als Senior-Experte, neuer Ehrenamtlicher oder dynamischer Großvater beweisen, dass man noch zu Leistungen fähig ist. Selbstverantwortlich, wie es vom »neuen Alter« erwartet wird, nimmt man qua Patientenverfügung und vorgemerktem Platz im Friedwald den Nachkommen – so es sie denn gibt – auch prospektiv schon die unerfreulichen Entscheidungen ab. Natürlich gilt, dass noch keine Generation alter Menschen in unserem Land so gesund, so gebildet und so wohlhabend war. Sie haben in ihren älteren Kohorten noch das Wirtschaftswunder gestaltet und in den jüngeren von diesem Wirtschaftswunder profitiert. Dem letzten Alterssurvey, der all diese Aussagen stützt, ist allerdings auch zu entnehmen, dass sich die räumlichen Distanzen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern in dem vergleichsweise kurzen Zeitraum vergrößert haben. Lebten 1996 erst 23 % an unterschiedlichen Orten, so waren es 2002 schon 28 % (Hoff, 2006). In einem erschreckenden Beitrag über »Die Übriggebliebenen« schildert der Spiegel (2013) das hohe Maß an Einsamkeit, das vor allem die über 80-Jährigen in den Großstädten betrifft – die andere Seite der positiven Meldungen über die wachsende Zahl an alten Menschen, die – nicht zuletzt durch das steigende Lebensalter der Männer – mit einem Partner zusammen leben. Vor allem Frauen, mit ihrer höheren Lebenserwartung und den in der Regel älteren (Ehe-)Partner

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trifft das Schicksal des Alleinlebens. So leben in der Altersgruppe der 60- bis 65-Jährigen 23 % der Frauen und 16 % der Männer allein; bei den über 85-jährigen Frauen sind es 74 % gegenüber 35 % der gleichaltrigen Männer (Statistisches Bundesamt, 2012). Entsprechend klagen bei den über 65-Jährigen 24,7 % der Frauen und 21,6 % der Männer über fehlende Unterstützungsnetze; Werte, die zudem höher ausfallen, je niedriger der Bildungsstand ist, und dabei besonders die Männer mit 33 % betreffen (Robert Koch-Institut, 2011). Das ist eine Entwicklung, die mit dem positiv konnotierten Schlagwort von der »Intimität auf Abstand«, mit der in den 1960er Jahren die Beziehung zwischen den Generationen definiert wurde (Rosenmayr u. Köckeis, 1961), kaum noch etwas zu tun zu haben scheint. Ableiten lässt sich daraus, dass die Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse der Postmoderne an das Alter vor allem mit zwei Zumutungen herantreten: dem fortgesetzten Leistungs- und damit Konkurrenzdruck einerseits und der Gefahr der Vereinsamung andererseits. Die postmoderne Gesellschaft – und die Pluralisierungsprozesse stellen somit alternde und alte Menschen vor die Aufgabe, die für eine fließende Gesellschaft erforderliche Identitätsarbeit zu leisten (Peters, 2011). Identitätsarbeit zu befördern gilt Keupp (2004) zufolge als fundamentale Anforderung an psychosoziale Beratung in einer postmodernen Gesellschaft. Doch werden die bestehenden Angebote der Beratung älterer Menschen diesem Erfordernis gerecht? Hat sie sich überhaupt auf diese Aufgabenstellung ausgerichtet oder ist sie einem überholten Bild vom Alter verhaftet geblieben? Wo erhalten Ältere überhaupt eine Beratung, die ihnen in angemessener Form Reflexionsmöglichkeiten eröffnet, um mit den Widersprüchen, Unsicherheiten und Brüchen in ihrem Leben so fertig zu werden, dass äußere Passung und innere Kohärenz entstehen können? Ein erster Schritt, dem nachzugehen, ernüchtert: Googelt man »Altenberatung«, erscheint am obersten Platz, rot geschrieben, die Nachfrage: »Meinten Sie Altenbetreuung?«, gefolgt von den allfälligen Anzeigen zu »Haushaltshilfen« und »24-Stunden-Seniorenbetreuung mit osteuropäischen Betreuungskräften (legal!)«. Googelt man »Seniorenberatung«, wird das Sujet ähnlich schnell eingeengt auf die anscheinend zentrale Herausforderung des Alters: »so lange wie möglich in der eigenen Wohnung und dem vertrauten Umfeld wohnen zu können« und gleichzeitig verbunden mit dem Angebot der Hilfe bei »der Suche nach Pflegeeinrichtungen, Pflegeplätzen, Dienstleistern für die häusliche Versorgung …«. Die einschlägigen Beratungsdienste befinden sich folglich in der Schnittstelle von »beraten« und »Hilfe vermitteln« und koppeln sich gern dort an, wo Dienstleistungen der Pflege und Betreuung vermarktet werden. Dieses erste Ergebnis führt zu der Frage nach den Rahmenbedingungen, unter denen Alten- oder Seniorenberatung heute erfolgt und erfolgen kann.

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Rechtliche Grundlage – gesellschaftliche Notwendigkeit Die rechtliche Grundlage und damit ihre Finanzierungsvoraussetzungen finden sich in § 71 SGB XII, Altenhilfe, und liegen in Verantwortung der Kommunen. »Altenhilfe soll dazu beitragen, Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, zu verhüten, zu überwinden oder zu mildern und alten Menschen die Möglichkeit zu erhalten, am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen« (Grube u. Wahrendorf, 2008). Beispielhaft werden aufgeführt: –– Beratung und Unterstützung in allen Fragen der Aufnahme in eine Einrichtung, die der Betreuung alter Menschen dient, insbesondere bei der Beschaffung eines geeigneten Heimplatzes, –– Beratung und Unterstützung in allen Fragen der Inanspruchnahme altersgerechter Dienste (vgl. Grube u. Wahrendorf, 2008, S. 451). Mit ihrer Platzierung innerhalb des SGB XII, also der Sozialhilfe, die allen anderen Hilfen – einschließlich der vom Einzelnen und seinen Unterhaltspflichtigen zu erbringenden Leistungen – nachrangig ist, findet sich »Altenhilfe« in den Kontext existenzieller sozialer Notlagen eingebettet. Sozialhilfe setzt also dort ein, wo andere Netze nicht mehr tragen; und das, was sie unter »Altenhilfe« versteht, nicht nur äußerst vage formuliert, sondern grundsätzlich einer defizitären Ausgangslage verpflichtet. Als »Soll-Leistung« drohen sie und die von ihr finanzierten Dienste zudem bei haushaltspolitischen Zwangslagen schnell auf die Kürzungsliste zu geraten. Zum Kontrast ein Blick in die Jugendhilfe: Das »Kindeswohl« ist als Rechtsgut im deutschen Familienrecht aufgeführt. Für dessen Gewährleistung hat der Gesetzgeber den Jugendämtern mit § 8 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes/ KJHG (Wiesner, 2011, S. 72) nicht nur ein »Wächteramt« verliehen, sondern setzt in § 11, Abs. 1 des KJHG für alle sich ergebenden Maßnahmen ein klares Ziel: die Förderung von Selbstverantwortung und Engagement. »Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zur gesellschaftlichen Mitverantwortung und zum sozialen Engagement anregen und führen« (S. 156). Während also die Altenhilfe im SGB  XII ihre Zielgruppe allenfalls dabei unterstützt, Zugang zu den ihr erforderlichen Diensten zu finden, geht es bei der Jugendhilfe um die selbstbestimmte Erfüllung der mit dieser Lebensphase verbundenen Entwicklungsaufgaben. Als die »Altenhilfe« in den späten 1960er Jahren (nachträglich) in das Sozialgesetz eingefügt wurde, konnte dies als durch-

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aus modern gesehen werden, wurde damit doch erstmals die Gruppe der Älteren mit einem Recht auf Teilhabe und Hilfe ausgestattet, das zuvor allein in der Verantwortung von Familie und allenfalls karitativen Organisationen lag. Mit der Verwissenschaftlichung der Altenhilfe durch die Gerontologie und der damit verbundenen Professionalisierung und Ausdifferenzierung von Angeboten ist es inzwischen zu einem breiten Spektrum an Angeboten für das Alter gekommen, in denen sich längst auch zeitgemäße Altersbilder durchgesetzt haben. Legion sind die Modellprojekte, in denen ältere Menschen Möglichkeiten der Aktivierung, Gestaltung und Selbstorganisation in den Bereichen Kunst, Weiterbildung, Gesunderhaltung, Stadtplanung, bürgerschaftlichem Engagement und Wohnen finden. Nichts davon ist dauerhaft als rechtlicher Anspruch verankert, sondern verdankt sich, wo denn eine Etablierung gelungen ist, der Erkenntnis, dass die wachsende Gruppe der zahlungskräftigen »Senioren« als Kunden von hoher Attraktivität sind. Paradigmenwechsel – von der »Entwicklungsaufgabe Integration« zum Versorgungsmanagement Während, wie oben dargestellt, die Beratung im Alter bis zur Einführung der Sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) ausschließlich im – allerdings sehr heterogen ausgestalteten – Verantwortungsbereich der örtlichen Sozialhilfeträger lag, entsteht mit der Professionalisierung der Pflege und der sich dabei als spezifisches Handlungsfeld herausbildenden »Pflegeberatung« ein Bereich, der sich gezielt auch mit den Belangen älterer Menschen in ihrer Rolle als Patienten befasst (Koch-Straube, 2008). Die 1995 eingeführte Pflegeversicherung/SGB XI (Klie u. Kramer, 2009) verfügte von Anfang an über ein Leistungssegment »Beratung«, das seither mit jeder Novellierung neue Differenzierungen erfährt. Gleich in der ersten Fassung beauftragte der Gesetzgeber in § 7 die Pflegekassen damit, –– die »Versicherten durch Aufklärung und Beratung über eine gesunde, der Pflegebedürftigkeit vorbeugende Lebensführung zu unterstützen und auf die Teilnahme an gesundheitsfördernden Maßnahmen hinzuwirken« und –– »insbesondere über die Leistungen der Pflegekassen sowie über die Leistungen und Hilfen anderer Träger zu unterrichten, zu beraten« (S. 107 ff.). Besondere beraterische Zuwendung erfahren diejenigen Versicherten in § 37 (3), die statt der ihnen zur (Teil-)Finanzierung eines ambulanten Dienstes zustehenden »Pflegesachleistung« das wesentlich geringere »Pflegegeld« wählen (S. 405). In Übereinstimmung mit den politischen Erwartungen und den versicherungs-

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mathematischen Hochrechnungen haben sie sich – bzw. hat sich der Versicherte – entschieden, die pflegerische Versorgung in eigener Verantwortung zu regeln. Mit der ihnen dafür gewährten pauschalisierten Aufwandsentschädigung gehen sie allerdings die Verpflichtung ein, in regelmäßigen Abständen eine von den Kassen zugelassene Pflegeeinrichtung (einen ambulanten Dienst) zur »Beratung« in die eigene Häuslichkeit zu rufen. Diese, von den Betroffenen schnell mit dem Begriff »Kontrollbesuch« bezeichnete Intervention erfreut sich nur eingeschränkter Beliebtheit und bleibt in ihrer Wirkung eher umstritten. Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz in der Endphase der großen Koalition und unter Gesundheitsministerin Ulla Schmidt wurde 2008 unter anderem bei der Beratung nachjustiert (Trilling, 2009): Erfunden wurden nicht nur die »Pflegestützpunkte«, sondern, sie geradezu konterkarierend, die Verpflichtung der Pflegekassen, eigene Personalressourcen für »Pflegeberatung« (§ 7a) zu schaffen bzw. Dritte hiermit zu beauftragen. Pflegestützpunkte sollen, so zumindest aus der Distanz Berliner Ministerien gedacht, die vor Ort bereits vorhandenen beraterischen Angebote bündeln und als neutrale Stellen ergänzen. Auszustatten sind sie hierfür auch mit Personal der Pflegekassen – ein in der Tat überfälliger Schritt im Dschungel des versäulten Systems sozialer Sicherung in unserem Lande. In der Umsetzung verhaken sich die Pflegestützpunkte allerdings fast in allen Bundesländern – so sie von diesen überhaupt eingeführt wurden – gern im Gestrüpp der Zuständigkeiten und Befindlichkeiten, der widerstreitenden Logiken von Versicherungen und Kommunen sowie der Interessen der bislang in der Beratung Älterer dominierenden Träger der Freien Wohlfahrtspflege, die oft gleichzeitig als Anbieter von Pflegeleistungen operieren. Vielleicht ungeduldig geworden angesichts der sich nur zögernd einstellenden Wirksamkeit der Pflegestützpunkte (siehe unter anderem Löcherbach u. Mennemann, 2012) oder – viel schlichter gedacht – einfach als Reaktion des liberalen Gesundheitsministers auf die einst gegen den Widerstand von CSU und FDP durchgeboxte neue Angebotsstruktur erweitert das Pflege-Neuorientierungsgesetz ab 2013 mit der Option von Beratungsgutscheinen die Wahlmöglichkeiten um eine weitere Vignette. »Freie Beratungskräfte« sollen jetzt dort einspringen, wo die Pflegekassen nicht schnell genug durch den Ausbau eigener Personalressourcen für prompte Bedienung sorgen. So häufig »Beratung« also im Kontext der Pflegeberatung aufgeführt wird, so eingeschränkt ist ihre Funktion. Ihre Aufgabe ist primär, für die Passung zwischen einem mehr oder weniger normierten Leistungskatalog und der individuellen Bewältigung von Pflege zu sorgen. Dabei sollte sie weder Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit noch die Sicherung einer Qualität aus den Augen verlieren,

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wie sie sich aus den jeweils pflegewissenschaftlich gesetzten Standards ableiten lässt. Mit einer – wenn auch sparsamen – Ausweitung der SGB-XI-Leistungen über den rein somatischen Bedarf hinaus, gewinnt das Instrument Beratung weiter an Bedeutung. Deutlich wird dies an der Konjunktur des Case Managements und der damit verbundenen Implementation von »Versorgungsplänen«. Unter dem Namen »Fallmanagement« trägt diese Art der Beratung bereits seit Einführung des SGB II (»Hartz IV«) dafür Sorge, arbeitsmarktferne Erwerbslose möglichst kollisionsfrei in die Erwerbstätigkeit zu steuern. Wenn auch 82 % aller Pflegebedürftigen älter als 65 Jahre sind, so ist Pflegebedürftigkeit nicht automatisch Altersschicksal, waren doch 2005 nur 5 % der 70bis 75-Jährigen pflegebedürftig im Sinne des SGB XI. Ein dramatischer Anstieg, vor allem bei den Frauen, erfolgt erst ab dem 80. Lebensjahr. Bei der Gruppe der 85- bis 90-Jährigen sind dann 40 % der Frauen und 27 % der Männer pflegebedürftig (Statistisches Bundesamt, 2013). Dennoch scheint Pflegebedürftigkeit inzwischen zum dominanten Topos geworden sobald es ums Alter geht, und lässt das bereits überwunden geglaubte Defizitmodell wieder auferstehen. In der Folge verengt sich die Beratung Älterer mehr und mehr auf pflegerische Fragestellungen und gewinnen die Pflegeprofessionen zunehmend an Bedeutung. Zudem sehen sich, wie erste Reaktionen zeigen, etliche Kommunen durch das Auftauchen der Pflegekassen in diesem, bislang allein von ihnen zu bespielenden Terrain entlastet. Wo etwa ein Pflegestützpunkt entsteht, geraten schnell einmal die bisher – etwa freien Trägern gewährten – kommunalen Mittel unter Begründungsdruck. Unter Begründungsdruck gerät damit allerdings nicht nur der Zuwendungstopf, sondern das gesamte Konzept der psychosozialen Beratung Älterer. Alles Pflege – oder etwa doch nicht? – Ein Fallbeispiel Die rüstige, klein gewachsene, schlicht wirkende 84-jährige Frau verhält sich sehr zuvorkommend und höflich, wirkt aber auch etwas eingeengt und schüchtern, sodass sich der Eindruck einstellt, ihr komme so schnell kein böses Wort über die Lippen. Sie schildert, dass sie sich in letzter Zeit übernommen habe, alles sei ihr zu viel. Sie befinde sich »auf dem absteigenden Ast«, komme ihrer Hausarbeit nicht mehr nach und mache sich dies zum Vorwurf, doch fühle sie sich wie blockiert. Sie ziehe sich zurück, verlängere – wenn es eben gehe – ihren Mittagsschlaf, vernachlässige sich, auch zum Friseur müsse sie dringend. Oft habe sie »lebensmüde Gedanken«, wenn auch eigentlich keine Suizidabsichten. Allerdings habe sie neulich auf der Treppe gestanden und gedacht, wie es wohl wäre, wenn sie jetzt springe. Beim Gedanken an Therapie-(Beratungs-)Gespräche sei sie dann wieder hinuntergegangen. Den Weg

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durch das Wohnviertel zu unseren Gesprächen genieße sie und betrachte die schönen Blumen in den Vorgärten. Hier könne sie reden und es überrasche sie, wie leicht ihr das falle. Bald wird eine überaus schwierige Lebensgeschichte deutlich: Sie hatte mit ihrem Mann ein Geschäft betrieben, das über viele Generationen hinweg in Familienbesitz gewesen sei. Doch die von ihnen vertriebene Ware werde heute nicht mehr nachgefragt, sodass man das Geschäft schon vor Jahren habe schließen müssen. Durch die Vermietung des Ladens habe das Geld gereicht. Sie selbst bekomme sehr wenig Rente und die Rente ihres Mannes gehe fast ganz für die private Krankenversicherung drauf. Der Mieter sei vor einem halben Jahr ausgezogen, und eine neue Vermietung habe sich nicht ergeben. Damit fehle das Geld zum Leben. Jetzt müsse wohl das Haus verkauft werden, und die Zukunft sei ganz ungewiss. Ihr Mann und sie müssten sich jetzt auf die eigene Wohnung beschränken, alles andere sei auszuräumen, wobei ihr die Tochter helfe. Diese halte sie immer wieder an, mehr zu tun, mehr anzupacken, doch sie sei zu »faul«, wie sie selbstkritisch, fast anklagend, feststellt. Sie traue sich nicht, der Tochter zu widersprechen, fühle sich oft gemaßregelt, müsse doch aber froh sein, wie diese sich um alles kümmere. Oben sei das Atelier ihres Mannes, der viel gemalt habe. Dann seien dort viele Bücher, ihre Tagebücher und vieles mehr. Alles müsse aussortiert, vieles weggegeben werden. Doch falle ihr jede Entscheidung schwer. Sie habe so vieles falsch entschieden in ihrem Leben. Ihr Mann könne sich an den Arbeiten nicht beteiligen, da er nur noch schlecht sehe und zunehmend vergesslich werde. Sie halte ihn für dement, habe auch einiges dazu gelesen. Er aber weigere sich, zum Arzt zu gehen. Er lehne das alles ab, wolle auf keinen Fall das Haus verlassen. Ihr Mann sei nur der Zweitmann. Eigentlich sei sie mit seinem Bruder zusammen gewesen, doch hätten sie sich im Krieg aus den Augen verloren, und er habe eine andere Frau kennen gelernt. Die Eltern hätten sie dann gedrängt, den Bruder zu heiraten. Es sei keine Liebesheirat gewesen, obwohl ihr Mann ein guter Mann sei. Sie selbst habe viele Interessen, lese gern und interessiere sich für Kultur, doch mit ihrem Mann habe sie dies nicht teilen können. Allein der Wohnwagen stelle ein gemeinsames Interesse dar, doch traue sie sich jetzt nicht mehr Auto zu fahren. Sie sei immer sehr engagiert gewesen, habe sich gern um die drei Kinder, Haushalt und Geschäft gekümmert. Auch sei sie immer sehr sportlich gewesen, einmal sogar Landesmeisterin. Ursprünglich habe sie Kinderkrankenschwester werden wollen, sei deshalb vor dem Krieg auf eine Frauenfachschule nach Berlin gegangen, wo sie den Kriegsbeginn einschließlich der ersten Bombenangriffe miterlebt habe. Darauf sei sie rasch ins Elternhaus zurückgekehrt.

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

Später habe sie ihre Mutter mitbetreut, diese dann jedoch ins Heim gegeben, weil sie es nicht mehr geschafft habe. Die Mutter sei depressiv gewesen und habe in der Psychiatrie behandelt werden müssen, wo sie sich dann auch umgebracht habe. Bis heute habe sie das Gefühl, damals eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Nachdem sie selbst einen Suizidversuch unternommen habe, sei auch sie in der Psychiatrie gewesen.

Das Fallbeispiel beleuchtet recht gut die Vieldimensionalität von Problemkonstellationen im Alter. Dem Leser mag schwindlig werden angesichts all der Erzählstränge, in denen sich eher alterstypische Belastungen wie die Versorgung eines kranken Ehemannes und finanzielle Nöte verknoten mit dem bilanzierenden Eingeständnis, das Leben mit dem falschen Mann verbracht zu haben. Entsprechend unterschiedlich lassen sich die Beratungsziele definieren und damit die Rolle, in der wir die Klientin jeweils ansprechen. Sehen wir in ihr zuerst die pflegende Angehörige, die Entlastung bei der Betreuung eines Demenzkranken braucht? Ist es die stets so starke Frau, die endlich Anerkennung für ihre Lebensleistung verlangt, damit sie zulassen kann, dass ihre Kräfte nachlassen? Oder braucht sie vor allem Raum, die Schuldgefühle abzubauen, die sie seit dem Suizid ihrer Mutter plagen, damit sie sich weniger ängstigen muss, selbst von ihren Kindern abhängig zu werden? Vielleicht geht es ihr im Grunde um spirituelle Fragen, die Frage nach dem Sinn, auf die sie mit ihren Interessen für Kultur und in ihrer Freude an der Natur schon immer Antworten suchte? Zwei gegenläufige Entwicklungen Die psychosoziale Beratung älterer Menschen führt – im Gegensatz zu anderen Bereichen der Beratung – ein eher bescheidenes Dasein als eigenständiges Berufsfeld, was sich unschwer aus der oben angesprochenen, rechtlich eher vagen Verankerung im SGB  XII erklären lässt. Kennzeichnend hierfür ist das Schicksal der 1991 gegründeten Bundesgemeinschaft Alten- und Angehörigenberatung (BAGA). Als Zusammenschluss der seit den 1980er Jahren verstreut sich etablierenden Beratungsstellen für Ältere war es ihr Anliegen, über den gemeinsamen Austausch fachliche Standards psychosozialer Beratung zu entwickeln und sich für die flächendeckende Schaffung von Senioren- und Angehörigenberatungsstellen als Regelangebote einzusetzen (Bruder, Matter u. Wolf, 2009). 2011 löste sich die BAGA auf, was durchaus als eine Konsequenz auf die mit der Pflegeversicherung einsetzende Verengung der Beratung im Alter auf die Pflege und – damit verknüpft – den Rückzug der Kommunen aus ihrer Verantwortung verstanden werden kann.

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Gleichzeitig lässt sich beobachten, wie sich bestehende, bislang eher auf eine jüngere Klientel ausgerichtete psychosoziale Beratungsangebote für die Belange älterer Menschen öffnen. Diese Entwicklung findet sich von den Evangelischen Familienberatungsstellen über die Schuldnerberatung bis hin zu Pro Familia. So könnte man von einer Gerontologisierung des Systems psychosozialer Beratung sprechen, das damit allerdings vor der Aufgabe steht, sich die entsprechenden fachlichen Qualifikationen anzueignen. Inwieweit dies tatsächlich erfolgt und dabei auch die Kenntnis der lokalen Altenhilfestrukturen umfasst, bleibt abzuwarten. Inwiefern sich die jeweilige Ausweitung der Klientel auf die finanzielle Ausstattung der Beratungsstelle auswirken mag, bleibt abzuwarten (Peters, 2009) und ist – angesichts der generellen Mittelkürzungen bei der psychosozialen Infrastruktur – eher mit Skepsis zu betrachten. Ansatzweise mag dies indes dort gelingen, wo – wie in der Erziehungsberatung – Großeltern in ihrer Eigenschaft als (Mit-)Erzieher zur Beratungsklientel gehören und damit nicht nur den Rechtsanspruch auf Erziehungsberatung haben, sondern auch die Abrechnungsgrundlage für die Beratungsstellen nach KJHG § 75, § 25 SGB VIII konstituieren. Je enger die Chancen der Finanzierung von psychosozialer Beratung allerdings mit dem Auftrag verknüpft sind, die (Erwerbs-)Arbeitsfähigkeit der Menschen zu sichern – sei es in der Vorbereitung, in der Stabilisierung oder der Wiedereingliederung –, desto schlechter stehen die Chancen einer an den individuellen Entwicklungsaufgaben ansetzenden Altenberatung. Das zeigt sich bei der Bildungsberatung, die – etwa über Bildungsberatungs-Gutscheine – stark an die Beratung bei beruflicher Aus- und Fortbildung geknüpft ist. Eine interessante Entwicklung lässt sich infolge des 2005 beschlossenen Zuwanderergesetzes feststellen, das die bisherig voneinander getrennten Systeme der »Aussiedlersozialberatung« und der »Ausländersozialberatung« in einem neuen Integrationskonzept vereinigt. Zuvor hatten die einzelnen Wohlfahrtsverbände arbeitsteilig nach den jeweiligen Herkunftsländern und Religionen der »Gastarbeiter« die Beratung geleistet. Diese war indes nicht auf Integration ausgerichtet, sondern verstand sich als quasi lebensphasenbegleitende Hilfestellung für die Arbeitsmigranten, die es schließlich in ihre Herkunftsländer zurückzuführen galt (Currle, 2008). Zweifellos war dieser Paradigmenwechsel der bundesdeutschen Einwandererpolitik überfällig, doch fallen dabei weitgehend die Einwanderergruppen durch die Wahrnehmungs- und Förderraster, die aufgrund ihres Lebensalters keine Erwerbstätigkeit mehr anstreben können, durchaus aber psychosozialen Beratungsbedarf haben. Diese Entwicklungen finden allerdings längst nicht so systematisch und flächendeckend statt, wie es die mit dem demografischen Wandel und die sich

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

aus den Lebenswelten alter Menschen ergebenden Beratungsanliegen erwarten ließen (Peters, 2004). Ein gelungenes Beispiel zum guten Schluss Angesichts der zunehmenden Diversifizierung der Lebensphase Alter mag es tatsächlich zutreffen, dass das Konstrukt einer »Altenberatung« nicht mehr zeitgemäß ist. Ohnehin tarn(t)en sich die einschlägigen Altenberatungsstellen auch vor der Ausbreitung der Pflegeberatung gern und euphemistisch als »Beratungsstellen für selbstständiges Leben im Alter«, als BeKo-Stellen (Beratungs- und Koordinierungsstellen) oder als »LiA« (Beratungsstellen Leben im Alter). Insofern ist die Integration der Altenberatung in den allgemeinen Beratungssektor möglicherweise eine sinnvolle Konsequenz. Eine der ältesten und etabliertesten Beratungsstellen im Alter, die Tübinger Beratungsstelle, hat den Verwerfungen der letzten Jahre tapfer getrotzt. Sie hat es geschafft, sich unterschiedliche Finanzierungstöpfe zu erschließen und hierbei ihr Angebot sukzessive in vier eigenständige, und vor allem mit einem eigenständigen Profil versehene, Bereiche zu gliedern (Braun u. Schmidt, 2006): –– einen Pflegestützpunkt gemäß der Pflegeversicherung, –– die Ehe-, Familien- und Lebensberatung (»efl«), –– die Gerontopsychiatrische Beratungsstelle bei psychischen/psychiatrischen Erkrankungen, die die Angehörigen in der Suche geeigneter Hilfen und dem Umgang mit den Kranken (»gpb«) unterstützen sowie –– »Selma« – betreutes Wohnen daheim, ein Unterstützungsangebot für ältere Menschen, die ihren Lebensabend in vertrauter Umgebung verbringen möchten. Damit gelingt in Tübingen, was eigenständigen Beratungsstellen mit ihrer knappen Personalausstattung von oft nur einer oder zwei Stellen nicht möglich ist: eine Diversifizierung, mit der sie ältere Menschen mit sehr unterschiedlichen Beratungswünschen ansprechen und diese gleichzeitig, dank ihrer breiten inhaltlichen Aufstellung, integriert über mehrere Problembereiche hinbegleiten können. Die oben geschilderte Klientin wäre hier wohl gut aufgehoben.

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Margarete Suschek

Beratung unter den Zwängen des aktivierenden Sozialstaats

Der folgende Beitrag stellt die soziale Beratung als Handlungsform Sozialer Arbeit und als sozialrechtliche Leistung in den Mittelpunkt und geht der Frage nach, welche Entwicklung diese im Zuge der aktuellen Umsetzung des Programms des sogenannten »aktivierenden Sozialstaats« nimmt. Wichtige Instrumente dieses neuen Sozialstaatsmodells sind verordnete Beratung und Sanktionen, die bei Nichtwahrnehmung oder offener Ablehnung der als Hilfe propagierten Verpflichtung drohen. Sie kommen vor allem im Kontext des SGB II zur Anwendung, dessen Inkrafttreten eine Folge des aktivierenden Sozialstaats ist. Soziale Beratung ist aber auch eine der wichtigsten Handlungsformen der Sozialen Arbeit. Sie wird zum einen in allen Handlungsfeldern informell neben anderen Handlungsformen eingesetzt, zum anderen wird sie als formelle Beratung zum Beispiel zielgruppen- und problemorientiert als Schuldnerberatung, Schwangerenberatung, als Suchtberatung oder, wenn auch viel zu selten, als allgemeine Sozialberatung angeboten. Dabei war die freiwillige Inanspruchnahme bisher ein wichtiges Prinzip. Auf diese formellen Angebote wird nun im Kontext des SGB II Bezug genommen. Sie können zu Inhalten von Maßnahmen werden, die die Leistungsempfänger von SGB-II-Leistungen zu ihrer Inanspruchnahme verpflichten. Durch diese Verfahrensweise wird Soziale Arbeit unter Zuhilfenahme ihrer Beratung zu einem ausführenden Organ der Leistungsbehörde und ist in Gefahr, eigene Handlungsspielräume und Eigenständigkeiten zu verlieren (Spindler, 2010). Sozialer Beratung wird in diesem Kontext eine Aufgabe zugewiesen, die kaum mehr mit ihrer ursprünglichen Zielsetzung zu vereinbaren ist. Sie war bisher vor allem der Umsetzung der Ziele Sozialer Arbeit verpflichtet, die durch ihre Verbindung zu den staatsleitenden Prinzipien der Sozialstaatlichkeit, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie festgelegt wurden. In Anlehnung an den Gedanken des bisherigen Sozialstaatsmodells, dem eher das Bild eines aktiv fürsorgenden Staates zugrunde liegt, soll Soziale Arbeit Bedürfnisnot-

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ständen entgegenwirken und die Umsetzung der Idee der gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilnahme, durch Erweiterung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, unterstützen. Hierfür sind die Durchsetzung und der Ausbau von Rechtspositionen wesentlich. Soziale Beratung hat sich dabei als wichtigstes Hilfsinstrument etabliert und ist eine der Bevölkerung vertraute und bekannte Hilfeform geworden. Unter den Leitlinien des Förderns und Forderns und im Kontext von Verpflichtung und Sanktionen im SGB II gerät sie nun in den Verdacht, als Erziehungsmaßnahme und bloßes Steuerungsinstrument im Dienst eines sich neu etablierenden Sozialstaatsmodells eingesetzt zu werden. Es besteht die Gefahr, dass sie das Vertrauen, das von Seiten der Ratsuchenden bisher in sie gesetzt wurde, und die emanzipatorische Kraft, die ihr innewohnt, verliert. Über Beratung im Zwangs- und Sanktionskontext wird im aktuellen Beratungsdiskurs kontrovers verhandelt und die in diesem Zusammenhang auftauchende Frage, ob Beratung unter Zwang und Androhung von Sanktionen noch Beratung sein kann, wird unterschiedlich beantwortet. Die folgenden Überlegungen nehmen diese Frage in Bezug auf das Selbstverständnis von Sozialer Beratung wieder auf und versuchen sie vor allem auch vor dem Hintergrund ihres gesetzlich begründeten Auftrags zu diskutieren. Einen guten Überblick über den allgemeinen Diskussionsstand vermitteln Bamler et al. (2012) in dem Schwerpunktheft der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie, »Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis«, zur Beratung in Zwangskontexten. Auf deren Beiträge und auf die diesbezügliche Stellungnahme des Forums Beratung der DGVT zur Beratung unter Zwang wird kurz Bezug genommen. Die ebenfalls im Fachdiskurs diskutierten Überlegungen, wie viel Zwang Beratung vertragen kann und wie Menschen unter Zwang doch noch für die Annahme des erzwungenen Angebots zu motivieren sein könnten, sollen hier nicht thematisiert werden. Angeregt durch den Beratungsdiskurs geht es vielmehr um die grundsätzliche Frage, wie viel Instrumentalisierung Sozialberatung als soziales Leistungsangebot von Seiten einer unter neoliberalen Vorzeichen geratenen Gesellschaft vertragen kann, um im Sinne der Sozialen Arbeit noch ein glaubwürdiges und wirkungsvolles Hilfsangebot darstellen zu können. Beratung im Zwangs- und Sanktionskontext: Diskussionsstand Während im Kontext der neuen sozialrechtlichen Reformen und der hinter diesen stehenden Formel des aktivierenden Sozialstaats schon seit längerem deren Einfluss auf Beratung problematisiert wurde (Spindler, 2007), ist das Thema im allgemeinen Beratungsdiskurs vor allem seit dem DGVT-Kongress im März 2010 nicht mehr zu übersehen (Nestmann, 2012). Buchbeiträge wie »Beratung

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

im Sanktionskontext« (Göckler, 2009) oder auch »Aktivierende Soziale Arbeit« (Gehrmann u. Müller, 2007) haben sich mit der Verbindung von Beratung und Zwang zwar schon zu einem früheren Zeitpunkt auseinandergesetzt. Dabei ging es aber eher um das Anliegen, ein wirkungsvolles methodisches Vorgehen zu entwickeln. Auf dem DGVT-Kongress 2010 wurde aber im Rahmen eines RoundTable-Gesprächs erstmals die grundsätzliche Frage gestellt, ob denn Beratung unter Zwang überhaupt Beratung sein kann (Bamler, Engel, Schürmann, Werner u. Wilhelm, 2012). Die Diskussion entwickelte sich vor allem vor dem Hintergrund zweier sich gegenüberstehender Argumentationslinien. Großmaß (2010) vertritt dabei die Ansicht, dass Beratung unter Zwang, vor allem im Kontext der sozialrechtlich legitimierten Zwänge durch das SGB II, keine Beratung ist, da zur Beratung auf jeden Fall ein gewisses Maß an Freiwilligkeit gehört. Sie macht wiederholt darauf aufmerksam, dass Freiwilligkeit eine Maxime der Beratung ist, die sich vor allem in einer gewissen Ergebnisoffenheit im Beratungsprozess zeigt. Dieser steht aber die Androhung von Sanktionen für den Fall, dass ein verordnetes Ziel nicht erreicht wird, entgegen. Das Forum Beratung in der DGVT hat diese Argumentation in der zweiten Frankfurter Erklärung zur Beratung ebenfalls aufgegriffen und sich eindeutig gegen den Einsatz von Beratung im Sanktionskontext gewandt (Bamler et al., 2012). Bezogen auf den Begriff der Freiwilligkeit geht Großmaß davon aus, dass es selbstverständlich Abstufungen derselben in Folge der Notlagen von Menschen gibt, die sie in und durch die Beratung angehen wollen. Jedoch muss ihr eigener Wille, Beratung in Anspruch zu nehmen, am Anfang jeder Beratung stehen. Dies ist für die Autorin ein grundsätzlich ethischer Aspekt und lässt sich aus der Entstehungsgeschichte professioneller Beratung schließen, die unter anderem auch mit sozialen Bewegungen und deren Forderungen nach Autonomie und sozialer Gerechtigkeit verbunden ist (Großmaß, 2010). Eine dieser Argumentationsweise entgegengesetzte Ansicht vertritt vor allem Marie-Luise Conen, die die Sinnhaftigkeit von Freiwilligkeit als Maxime und Voraussetzung von Beratung in Zweifel zieht. Vor dem Hintergrund ihrer Praxiserfahrungen und systemtheoretisch orientierten Überlegungen geht sie davon aus, dass auch unfreiwillige Beratung erfolgreich sein kann und Beratung darstellt. Zwanglosigkeit betrachtet sie eher als Mythos angesichts der vielfältigen Zwänge, in die die Individuen vor allem als Folgen der postmodernen Entwicklungen verstrickt sind. Sie setzt sich kritisch mit der Ansicht professioneller Helferinnen und Helfer auseinander, dass Klientinnen und Klienten, denen Hilfe verordnet wurde, unmotivierte Klientinnen und Klienten sein sollen (Conen, 2005; Conen u. Cecchin, 2007). Die Frage, ob aufgezwungene Hilfe dennoch Hilfe sein kann und in wel-

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cher Weise diese eingebracht werden kann, soll hier nicht weiter vertieft werden. Vielmehr geht es im Folgenden um die Gefahr der Instrumentalisierung von Beratung von Seiten des Staates. Diese Gefahr besteht seit den Anfängen professioneller Beratung, denn mit ihr wurden immer wieder auch bestimmte staatlich beabsichtigte Steuerungsprozesse verbunden (Duttweiler, 2007). Vor dem Hintergrund der verstärkt auftretenden Zwänge im Kontext der Gesetzesmaterie des SGB II wird die Instrumentalisierung nun gesetzlich festgelegt. Beratung wird im Rahmen des SGB II als persönliche Dienstleistung nicht allein den entsprechenden für die Umsetzung der rechtlichen Vorgaben zuständigen Behörden zugeordnet, sondern die verpflichtende Inanspruchnahme kann nun auch auf Beratungsangebote freier Träger der Sozialen Arbeit, wie etwa auf das Angebot von Schuldner- oder Suchtberatung, ausgedehnt werden (§ 16 Abs. 2 SGB II). Durch diese aktuelle Instrumentalisierung wird Soziale Beratung bezogen auf ihr Selbstverständnis und ihre gesellschaftliche Funktion in Frage gestellt. Soziale Beratung Der Gegenstand Sozialer Arbeit sind soziale Probleme von Menschen. Diese entwickeln sich durch Bewältigungsstrategien, die von den Individuen genutzt werden, um einer sie überfordernden Umwelt standzuhalten (Böhnisch, 2005), als Folge von Bedürfnisnotständen (Staub-Bernasconi, 2005) in Bezug auf nicht befriedigte Grundbedürfnisse oder sie zeigen sich als mangelnde Gestaltungsmöglichkeiten des Alltags in der Lebenswelt der Menschen (Thiersch, Grunwald u. Köngeter, 2005). Die Aufgabe für Soziale Arbeit, das Angehen gegen soziale Probleme, entwickelt sich aus ihrer Verbindung mit dem staatsleitenden Prinzip der Sozialstaatlichkeit in Verbindung mit den Prinzipien der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit gemäß Art. 20 und 28 GG. Diese bilden den Rahmen für die Menschen in unserem Gemeinwesen, entsprechend der Menschen- und hier geltenden Grundrechte leben zu können. Für die Erfüllung ihres Auftrags stehen der Sozialen Arbeit unterschiedliche Handlungsformen zur Verfügung, unter anderem auch Beratung, die angesichts der zu behandelnden sozialen Probleme als soziale Beratung oder Sozialberatung bezeichnet wird. Beratung im Kontext der Sozialen Arbeit vernachlässigt dabei nicht die Auswirkungen sozialer Probleme auf die psychische Befindlichkeit der Menschen. Sie sieht jedoch die Ursachen für die auftretenden Probleme in erster Linie in Umweltfaktoren, die sich in problematischer Weise auf die psychische Befindlichkeit und die Gestaltung der Lebenswelt, des Alltags und die Beziehungen der (mit-)betroffenen Menschen auswirken (Ansen, 2006).

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Im Beratungsprozess versuchen Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen nun vor allem auf die behindernden oder fehlenden förderlichen Umweltfaktoren Einfluss zu nehmen. Dabei bietet sich das Einnehmen einer sozialökologischen Perspektive an, indem zum Beispiel in Anlehnung an das sozialökologische Modell nach Bronfenbrenner (Nestmann, 1996) oder an das Life-Modell nach Germain und Gitterman (1999) die Wechselwirkungen zwischen den von sozialen Problemen betroffenen Individuen und ihrer Umwelt betrachtet werden, um deren Wirkungsraum zu erweitern. Denn, so die mit diesem Vorgehen verbundene Überzeugung, die Erfahrung von (wieder) erstarkter Selbstwirksamkeit, Sicherheit und Kontrolle über die eigene Lebensführung, selbst unter eingeschränkten Lebensbedingungen, kann aktive Teilnahme am nachhaltigsten ermöglichen. Der Versuch der Einflussnahme und die Erweiterung des Handlungsraumes sowie die Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit bezieht in der sozialen Beratung auch die Beachtung der Rechte, vornehmlich der sozialen Rechte, der Betroffenen mit ein. Die sozialen Rechte sind Inhalt des sozialen bürgerschaftlichen Status in diesem Gemeinwesen. Im Sinne von Thomas Marshall, dessen Überlegungen Sylvia Staub-Bernasconi (1995) mit den Aufgaben Sozialer Arbeit verbindet, gehört zu einer gelingenden Bürgerschaft, die in der Verantwortungsübernahme für die Gestaltung des eigenen Lebens und in der aktiven Teilnahme an der Gestaltung der Gesellschaft mündet, ein durch bürgerliche, wirtschaftliche und soziale Rechte ausreichend geschützter bürgerschaftlicher Status, der vor allem für demokratische Staaten richtungsweisend sein sollte. Ausreichend geschützt ist ein solcher durch grundrechtlich gesicherte Rechtspositionen. Hierzu gehören die Freiheitsrechte unseres Grundrechtskatalogs, die als negative Freiheitsrechte oder Abwehrrechte den privaten und politischen Handlungsraum der Bürgerinnen und Bürger vor staatlichen Eingriffen schützen und autonomes Handeln garantieren. Nach Marshall (1993) benötigt gelingende Bürgerschaft auch einen ebenso gesicherten sozialen Bürgerstatus, der die notwendige Sicherheit bietet, um die Freiheitsrechte in den entsprechenden gesellschaftlichen Bereichen überhaupt umsetzen zu können. Der soziale Bürgerstatus erfährt in unserem Gemeinwesen in Ermangelung expliziter sozialer Grundrechte jedoch keine ausreichende grundrechtliche Absicherung. Er manifestiert sich in veränderbaren sozialen Rechten, den sogenannten einfachen sozialen Gesetzen. Doch selbst in der in unserem Rechtssystem eher ungesicherten Form stellen diese wichtige Ressourcen für die Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilnahme dar und bilden häufig einen inhaltlichen Schwerpunkt von sozialer Beratung. In diesem Sinne ist soziale Beratung selbst eine wichtige Schlüsselressource. Sie stellt einen Raum dar, in dem Unsicherheiten

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durch eine überfordernde Umwelt und Bedürfnisnotstände thematisiert werden. Die Sorge um die Herstellung von Sicherheit, auch durch die Erleichterung des Zugangs zu den sozialen Rechten, sowie die Überlegungen zu ihrer Absicherung (Rappaport, 1985) als Voraussetzung für Bewegungs- und Handlungsfreiheit stehen dabei im Mittelpunkt des Beratungsprozesses. Diese der sozialen Beratung eigene und ihr Selbstverständnis bildende Aufgabe ist eng mit dem bisherigen Sozialstaatsgedanken und unserem Sozialrecht verknüpft. Anhand eines kurzen historischen Rückblicks soll daher nunmehr die Aufgabe der sozialen Beratung im Dienste der Umsetzung sozialer Rechte verdeutlicht werden. Der rechtlich begründete Auftrag der sozialen Beratung Soziale Beratung wird sowohl von Seiten der Sozialleistungsbehörden im Rahmen der von ihnen zu verwaltenden sozialrechtlichen Leistungen als auch von freien Trägern der Sozialen Arbeit angeboten. Die freien Träger der Sozialen Arbeit können sich bei ihrem Beratungsangebot auf das Sozialstaatsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip sowie die Menschenwürde berufen. Eine rechtliche Verpflichtung zur Beratung besteht aber gemäß § 14 SGB I lediglich für die Sozialleistungsbehörden. Auf den Inhalt und die Durchführung dieser behördlichen Pflichtleistung ging der BGH schon 1957 in einer als Grundsatzurteil1 in den Fachdiskurs eingegangenen Entscheidung ein und entwickelte wesentliche, die Qualität und Funktion von sozialer Beratung bestimmende Grundsätze. Beratung im Kontext des Sozialrechts gehört nach Ansicht des BGH zu den unbedingten behördlichen Pflichten und ist fest in den Grundgedanken unseres sozialen Rechtsstaates verankert (Giese, 1978). Wie bei Giese ausführlich darlegt, ist dabei besonderes Augenmerk auf die ausdrückliche Verbindung des Sozialstaatsprinzips mit dem Rechtsstaatsprinzip zu legen. Das bedeutet, dass der Staat auch auf die Umsetzung des sozialen Gedankens in Form von Rechten verpflichtet wird. Die in Anlehnung an den Liberalismus entwickelte Idee von Freiheit und Autonomie wird mit dem Anspruch auf Solidarität verbunden. Freiheit für alle ist ohne die Bedingungen für Sicherheit nicht möglich. Dafür haben der Staat und seine Organe Sorge zu tragen. Im Sinne einer sozialen Rechtsstaatlichkeit, so der BGH in seinem Urteil, gehört es zu den Amtspflichten der mit der Betreuung der »sozial schwachen Bevölkerungskreise« betrauten Beamten, diesen zur Erlangung und Wahrung der ihnen vom Gesetz zugedachten Rechte und Vorteile nach Kräften beizuste1

BGH in DÖV 1957, S. 868.

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

hen (BGH, 1957). Hierzu zählen, so Giese unter Bezugnahme auf den Urteilstext, die betreffenden Personen über die nach den bestehenden Bestimmungen gegebenen Möglichkeiten der Verbesserung ihrer Rechtsstellung zu belehren und sie zur Stellung entsprechender Anträge anzuregen (Giese, 1978). Beratung wurde in dieser Weise als soziale Dienstleistung bestimmt mit dem Ziel der Wahrung, Bestärkung und Erweiterung der Rechtsstellung der Menschen, vor allem derjenigen, die sich in einer materiellen Notlage befinden. Sie sollte als Instrument genutzt werden, die gesellschaftliche Teilhabe zu sichern und Autonomie sowie Gestaltungsmacht zu fördern. Um dies zu verstärken, wurde Beratung als sozialrechtliche Pflichtleistung ins Sozialrecht (§ 14 SGB I) übernommen. Sie unterstützt den geschützten persönlichen Lebens- und Entfaltungsraum (Giese, 1978). Im SGB I wird sie zudem von Auskunft und Aufklärung (§§ 13, 15 SGB I), weitere behördliche Pflichtleistungen im Rahmen der persönlichen Dienstleistungen, unterschieden. Aufklärung bezieht sich auf die Information einer unbestimmten Anzahl von Personen. Auskunft ist »die Antwort auf eine sachlich präzisierte Frage, deren Ziel vom Auskunftsersuchenden bereits vorgegeben ist« (Giese, 1978, S. 29). Im Gegensatz dazu konzentriert sich Beratung, in Umsetzung der grundsätzlichen Erwägungen des BGH, »auf konkrete Personen und deren besondere Lebenslagen, auf die Praxis des menschlichen Lebens« (Giese, 1978, S. 29). Im Zusammenhang des Sozialrechts wird Beratung beschrieben als Hilfe zur Orientierung über Mittel und Wege zur Erreichung eines Ziels. Das Ziel wird entweder vom Ratsuchenden angegeben oder für ihn oder zusammen mit ihm ermittelt (Giese, 1978). Beratung stellt mithin keine Überredung dar, um fremdbestimmte Ziele zu verfolgen. Die Bestimmung des § 14 SGB I und auch die grundlegenden Erwägungen des BGH haben noch heute Gültigkeit und wurden auch durch die aktuellen und hier im Mittelpunkt stehenden sozialrechtlichen Veränderungen nicht außer Kraft gesetzt. Beratung als soziale Leistung und soziales Recht steht immer noch in der Pflicht der Erfüllung der Aufgaben, die den sozialen Rechten in den §§ 1 und 2 SGB I zugewiesen werden. Danach haben die im SGB I aufgeführten sozialen Rechte, als Konkretisierungen des sozialen Rechtsstaats, die Aufgabe, die Grundrechte, allen voran die Menschenwürde, zu wahren und zur Herstellung sozial gerechter Lebensverhältnisse beizutragen. Das Recht auf Beratung als soziale Leistung wird von allen dem SGB I folgenden (SGB I–XII) sowie in § 68 SGB I aufgeführten, mit konkreten Rechtsansprüchen versehenen, sozialen Gesetzesmaterien aufgegriffen und dort in den Aufgabenbereich des jeweiligen konkreten Rechts und der Behörden gestellt, die zu seiner Umsetzung beauftragt werden. Bisher hatte der beschriebene Ideenhintergrund Einfluss auf die soziale Bera-

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tung sowohl als Pflichtangebot der Behörden als auch als Angebot der freien Träger der Sozialen Arbeit, wie konzeptionelle Überlegungen zum Selbstverständnis und zum Vorgehen der sozialen Beratung zeigen (Ansen, 2006; Langhorst u. Schwill, 2011). Vor dem Hintergrund dieser Leitlinien konnten die Menschen in Notlagen bisher darauf vertrauen, dass sie auf Beratung einen Anspruch haben, nicht aber zu einer solchen gezwungen werden. Beratung stellte bisher keine »Maßnahme« dar, die »ergriffen wird« (Großmaß, 2000, S. 13) und der sie sich unterziehen müssen. Die Inanspruchnahme setzt die eigene Einschätzung voraus, Orientierung, Information und Unterstützung bezogen auf eine Lebensführung in eigener Regie oder Hilfe bei der Sicherung der eigenen Existenzgrundlagen zu bedürfen. In Anlehnung an Duttweiler (2007) ist Beratung eine soziale Praxis, die Selbstbestimmung als Bedingung und Ziel vorsieht. Einfluss des aktivierenden Sozialstaats und der sozialrechtlichen Reformen auf die soziale Beratung Angesichts der angedeuteten sozialrechtlichen Veränderungen unter der Leitlinie des »Förderns und Forderns« als Praxis des »aktivierenden Sozialstaats« ist nach möglichen Veränderungen zu fragen, denen Beratung in Bezug auf ihr Selbstverständnis und ihre Funktion aktuell unterzogen wird. Dem Modell des aktivierenden Sozialstaats liegt, neben dem Ziel der Modernisierung der Verwaltung, das Bestreben zugrunde, dem Staat eine veränderte Rolle zuzuschreiben und über eine neue Verantwortungsverteilung in Gesellschaft und Staat nachzudenken sowie eine solche umzusetzen. Hierbei wird, so Dahme, Otto, Trube und Wohlfahrt (2003), vor allem das Individuum in das Zentrum der Modernisierungsüberlegungen gestellt. An dieses richten sich die Appelle, bezogen auf Selbstverantwortung, Leistungsorientierung und private Sorge um die Sicherung der Lebenslagen. Der Staat soll sich, unter Bezugnahme auf die Selbstregulierungskräfte in Wirtschaft und Gesellschaft, wieder auf seine wesentlichen Steuerungsaufgaben konzentrieren und sich nicht weiterhin als »all zuständiger« Leistungsstaat selbst überfordern (Dahme u. Wohlfahrt, 2007). Dem aktivierenden Sozialstaat liegt das Modell eines im weiteren Sinne aktivierenden, nicht mehr das eines fürsorgenden Staats zugrunde, der, so Spindler, »der Gesellschaft, ihren Individuen und auch seinen Bediensteten fordernd und fördernd gegenübertritt als eine Entwicklungsagentur in einer konzeptionell weiterentwickelten Bürgergesellschaft. Da, wo er die Verantwortung für Erbringung von Leistungen übernimmt, erwartet er Gegenleistung« (Spindler, 2010, S. 1). Dies steht im krassen Gegensatz zum bisherigen Sozialstaatsmodell,

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nach dem Hilfen und Leistungen zur gesellschaftlichen Teilnahme grundsätzlich ohne die Verpflichtung zur Gegenleistung zur Verfügung gestellt werden. Sozialstaatliche Leistungen wie sozialpolitisches Vorgehen wurden sozialethisch mit Bezug auf die Menschenwürde und die Herstellung sozial gerechter Lebensverhältnisse für alle Mitglieder des Gemeinwesens begründet. Im Kontext der Individualisierung von sozialen Notlagen geht es aber nicht mehr um soziale Gerechtigkeit, sondern um die Übertragung der bisherigen staatlichen Verantwortung für die Lebensbedingungen und die soziale Sicherung in den Verantwortungsbereich der Individuen. Diese sind nunmehr selber schuld, wenn sie erwerbslos werden und ihre Existenzsicherung in Frage steht. Dies wird nun anhand der konkreten sozialrechtlichen Reformen und ihren Auswirkungen im Folgenden verdeutlicht. Von den im Zeichen der Aktivierung der Bürgerinnen und Bürger stehenden Veränderungen wurden insbesondere die sozialen Leistungen, mithin die Soziale Sicherung als eine der Hauptquellen der beklagten staatlichen Überforderung, erfasst. In diesem Kontext wurde das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) abgeschafft und das SGB XII zur Regelung der Sozialhilfe eingeführt. Jedoch steht nun die Hilfe zum Lebensunterhalt in Form der Sozialhilfe, das vormals letzte Auffangnetz, nur noch einem wesentlich kleineren Personenkreis, bestehend aus nichterwerbsfähigen erwerbslosen Menschen, zur Verfügung. Die erwerbsfähigen erwerbslosen Personen und ihre nicht erwerbsfähigen Angehörigen fallen in den Leistungsbezug des neu eingeführten SGB II, zu dessen begünstigtem Personenkreis nunmehr sowohl ehemalige erwerbsfähige Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger als auch ehemalige Bezieherinnen und Bezieher der ebenfalls abgeschafften Arbeitslosenhilfe nach dem SGB III alter Fassung gehören. Dabei wurden alle finanziellen Leistungen dem Niveau der Sozialhilfe angepasst. Der größte Teil der Menschen ohne existenzsichernde Beschäftigungen erhalten nunmehr Leistungen nach dem SGB II in Form des Arbeitslosengeldes II. Ausgewiesenes Ziel der Leistungen des Gesetzes ist einzig die Eingliederung in Arbeit. Dabei geht es nicht um die Eingliederung in eine die Existenz sichernde Arbeit, sondern um die Verfügbarkeit vor allem für den an ungesicherten Arbeitsverhältnissen neu ausgerichteten Arbeitsmarkt (Reis, 2003). Einen Hinweis auf die Verknüpfung des SGB II mit den allgemeinen Zielen des Sozialrechts, im Sinne des Sozialstaatsmodells alter Prägung, wie die Beachtung der Menschenwürde, der persönlichen Freiheit, der Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit, sucht man vergebens, obwohl das durch das SGB II und SGB  XII ersetzte ehemalige BSHG einen solchen Bezug noch ausdrücklich enthielt. Zudem wird auch bei sozialen, existenziellen Notlagen nunmehr, entsprechend der Individualisierung von sozialen Problemen,

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eine Eigenbeteiligung der Notleidenden an ihrer Lebenslage unterstellt und der Mangel an Eigenverantwortung vermutet. Als Folge davon wurden verschärfte Kontrollen und Sanktionen eingeführt, die dann zu einer Verstärkung der sozialen Probleme und der prekären Lebenslagen der Betroffenen führen. Beratung kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zu. Sie wird unter diesen Vorzeichen jedoch ihr Selbstverständnis verändern. Beratung wird im SGB II in den § 14 (Zuweisung eines persönlichen Ansprechpartners), § 15 (im Rahmen der Eingliederungsvereinbarung), § 16 Abs. 2 Nr. 2, 3, 4 (als Leistung der Eingliederung durch freie Träger) erwähnt und dem Prinzip des »Förderns und Forderns« und der Aufgabe des SGB II unterstellt. Sie ist zudem in den erwähnten Sanktionskontext eingebunden. Dies gilt für die behördliche Beratung, aber auch für die Beratung freier Träger. In diesem Zusammenhang wirkt sich vor allem § 61 SGB II in problematischer Weise aus. Dieser Paragraph enthält die Verpflichtung, die Beurteilungen der Leistungsnehmerinnen und -nehmer, inklusive der einer Förderung entgegenstehenden Tatsachen, an die zuständige Leistungsbehörde bzw. die behördlichen Berater und Beraterinnen weiterzugeben. Die Auskünfte können dann Grundlage für Sanktionen und die Aberkennung von Leistungen sein. Dies ist vor allem auch im Hinblick auf datenschutzrechtliche Bestimmungen bedenklich und steht der Entwicklung einer für gelingende Beratung notwendigen Vertrauensebene entgegen. Sanktionen können, zum Beispiel bei fehlender Teilnahme an den verordneten Beratungen oder bei Vermutung der Verweigerung der Eingliederung in Arbeit (§ 31 SGB II) ausgesprochen werden. Auf diese Weise werden die freien Träger durch den Einbezug ihres Beratungsangebots zum Beispiel in die Eingliederungsvereinbarungen durch die Hintertür zu beauftragten Dienstleistern der Aktivierungspolitik und die neuen Ideen »durch die Aufnahme in die eigenen Bearbeitungsstrategien gewissermaßen legitimiert« (Dahme et al., 2003, S. 11). Die mit dem neuen Sozialstaatsmodell verbundenen Ideen sowie Beratung im Sanktionskontext vertragen sich aber nicht mit dem von der Sozialen Arbeit vertretenen solidarischen Menschenbild und ihren an einer demokratischen Herrschaftsordnung orientierten emanzipatorischen Zielen. Selbstverständlich musste Soziale Arbeit schon seit ihrem Bestehen immer wieder auch mit Zwangskontexten umgehen. Der Widerspruch zwischen Hilfe und Kontrolle macht einen wichtigen Aspekt ihrer Professionalität aus. Jedoch waren davon bisher nur die klassischen Bereiche wie Jugend- und Bewährungshilfe betroffen, in denen individuelles Fehlverhalten, Fremd- und Selbstgefährdung oder die Verletzung von Rechten Dritter Auslöser für die Kontrolle waren. Die Veränderungen durch das SGB II sind grundsätzlicherer Natur.

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

Beratung gilt als Instrument der Umsetzung von Rechten sowie der Erweiterung des Handlungs- und Gestaltungsspielraums. Nunmehr wird die Teilnahme am Beratungsprozess zur Voraussetzung für den Bezug sozialstaatlicher Leistungen. Selbstverständlich kann man sich auch für widerständiges Verhalten, für die Nichtteilnahme an dem angeordneten Beratungsprozess entscheiden, doch schwindet die reale Möglichkeit und wird bedeutungslos angesichts der gravierenden existenzbedrohenden Folgen der Weigerung und der drohenden gesellschaftlichen Ausschließung durch Leistungskürzung. Nestmann et al. führen hierzu aus: »Wenn z. B. mit der ordnungsgemäßen Teilnahme am Beratungsgespräch das Gewähren von Geldleistungen verbunden ist, die sonst nicht erfolgen, wird der Terminus Beratung zum Euphemismus für ein Pflichtprogramm und aus der noch subtilen ›geheimen Moral der Beratung‹ (Thiersch, 1995) wird der unverblümte Anspruch auf Wohlverhalten von Klientinnen und Klienten« (Nestmann et al., 2004, S. 601). Eigenverantwortung und Wohlverhalten soll ihnen vor allem über Beratung wieder nahegebracht werden. Folgen Berater jedoch der Unterstellung fehlender Verantwortungsbereitschaft, vermittelt sich in der Beratung ein Bild, das Empfängerinnen und Empfänger von ALG-II-Leistungen als Versagerinnen und Versager erscheinen lässt, als Personen, die Schuld an der eigenen Notlage haben. Für die Vermittlung derartiger Botschaften eignet sich Beratung besonders gut, da sie ja, wie oben erwähnt, grundsätzlich die selbstbestimmte Entscheidungsfindung der Ratsuchenden im Blick hat. In Ausübung ihrer Machtposition, die Beraterinnen und Berater vor allem bei verpflichtender Beratung innehaben, kann gerade über die Beziehungsebene im beratenden Gespräch auf die Einstellung und das Verhalten der zur Beratung Verpflichteten Einfluss ausgeübt werden. Sabine Duttweiler weist in ihren Erörterungen zur »Beratung als Ort neoliberaler Subjektivierung« auf Foucault hin, der in diesem Zusammenhang auf die beabsichtigte Selbstführung der Nutzerinnen und Nutzer von Beratung durch deren Führung im Beratungsprozess aufmerksam macht (Duttweiler, 2007). Die Selbstführung der zur Beratung Verpflichteten wird im Kontext des SGB II insofern »geführt«, als sie über den Appell an ihre Eigenverantwortung dazu bewegt werden sollen, jegliches Arbeitsangebot anzunehmen, um nicht noch mehr Schuld auf sich zu laden. Die Individuen werden dazu angeleitet und über Sanktionsandrohungen dazu angehalten, sich vermeintlich selbstbestimmt und selbstverantwortlich von staatlichen Leistungen unabhängig zu machen. Dies soll möglich sein, wenn sie dies wollen und sich in richtiger Weise darum bemühen. Wenn der Erfolg ausbleibt bzw. sie ihren Willen nicht zeigen, drohen Leistungskürzungen.

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In diesem Zusammenhang sind die Ergebnisse der Untersuchung von Ames (2010) erhellend, die sich auf Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen im Kontext des SGB II bezieht. Ames kommt zu dem Schluss, dass in den Verhaltensweisen, die nach § 31 SGB II sanktioniert werden, sich nicht, wie vermutet und unterstellt wird, mangelnde Bereitschaft ausdrückt, durch Erwerbsarbeit die eigene Existenz zu sichern. Die Untersuchung bezieht sich auf die konkreten Anforderungen, die nicht erfüllt wurden, und auf die Motive der Betroffenen sowie deren reale Handlungsmöglichkeiten. Die Erhebung zeigt auf, dass es vielfältige Motive gibt, die sich aber nicht in Begriffen wie Interaktivität, mangelnde Eigenverantwortung oder mangelnde Arbeitsbereitschaft erfassen lassen, sondern vor allem mit den behindernden Lebensumständen und Kompetenzdefiziten zusammenhängen, die der Erfüllung bestimmter Aufgaben und dem Befolgen von Maßnahmen entgegenstehen. Das vermeintliche Ziel, die Übernahme von Eigenverantwortung, kann somit entweder gar nicht erreicht werden, weil dies schon geschehen ist, oder sie kann sich mangels notwendiger Rahmenbedingungen gar nicht auswirken. Spindler kommt bei der Bewertung der bisherigen Erfahrungen mit der Umsetzung des SGB II daher zu einer anderen, dem behördlichen Vorgehen zugrunde liegenden Zielsetzung. Für sie steht die Absicht im Vordergrund, die Verfügbarkeit der Leistungsempfängerinnen und -empfänger auf dem Arbeitsmarkt nach den Bedürfnissen einer neoliberalen Wirtschaft zu steuern und sicherzustellen. Es geht nicht um deren Lebensführung unter menschenwürdigen Rahmenbedingungen oder um die Bestärkung ihrer Rechtspositionen. Die geforderte Eigenverantwortung wird lediglich darauf bezogen und daran festgemacht, ob sie sich erfolgreich vereinnahmen lassen (Spindler, 2010). Die aufgezeigten Veränderungen, an denen Beratung maßgeblich beteiligt ist, wirken sich somit vor allem verschärfend auf die Lebenslagen der Angehörigen der »sozial und ökonomisch gefährdeten und von der Spitzenentwicklung immer stärker abgekoppelten Schichten« (Dahme et al., 2003, S. 10) aus. Sie betreffen also in der Hauptsache die Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit und sozialer Beratung. Die mit den Umstrukturierungsmaßnahmen umgesetzten Sparprogramme und die gleichzeitige Einführung verstärkter Kontrollen lassen aber auch die Träger der Sozialen Arbeit nicht unbehelligt. Auch sie sind von Sparmaßnahmen, von Kontrollen (zum Beispiel ihrer Qualität, ihrer Erfolge) und von den neuen Steuerungsmitteln bei der Vergabe von Geldern (Trube, 2003), häufig auf Kosten der Qualität, betroffen. Raithel (2006) zeigt die Konsequenzen für die Beratungsangebote freier Träger auf, die von Kürzungen öffentlicher Mittel bis hin zu Schließungen von Beratungseinrichtungen reichen. Ein Grund mehr, innerhalb der Sozialen Arbeit wieder über Solidarität mit der eigenen Klientel nachzudenken.

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

Abschließende Bemerkungen Verordnete Beratung im Kontext des SGB II schafft also neue Probleme und Bedürfnisnotstände und macht soziale Beratung zur Orientierung und Entscheidungsfindung sowie zur Herausbildung von Handlungskompetenzen geradezu notwendig. Sie wirkt sich nicht mehr als Ressource aus, sondern engt den eigenen Gestaltungsrahmen ein. Sie baut Rechte ab, demontiert als Zwangsmaßnahme den bürgerschaftlichen Status von erwerbslosen Menschen und verhindert damit die Übernahme von Verantwortung im Sinne von gelingender Bürgerschaft. Ihre Verwendung als sozialpädagogische Intervention muss auch vor dem Hintergrund berufsethischer Überlegungen in Frage gestellt werden, denn es geht dabei nicht mehr um die eigentlichen Ziele Sozialer Arbeit, sondern um die Umsetzung der Vorgaben einer neoliberalen Politik, die Solidarität und sozialer Gerechtigkeit entgegenstehen. Beratung wird als pädagogische, aktivierende Hilfe, als Erziehungshilfe für Wohlverhalten (Reis, 2003) und gegen die Abhängigkeit von Sozialleistungen eingesetzt, nicht aber zum Ausbau und der Erweiterung von Zugängen zu denselben. Wie Reis feststellt, spielen rechtliche Interventionsformen, wie die Einräumung von Rechtsansprüchen oder Abwehrrechten, als Schutz gegen staatliche Eingriffe in der Beratung im Kontext des SGB II fast keine Rolle mehr. Wenn aber pädagogische Interventionen an die Stelle ökonomischer und rechtlicher Interventionen treten, wenn Beratung als Maßnahme verordnet wird, ohne aber als das, was sie dann ist, nämlich als Verwaltungsakt, gekennzeichnet zu werden, entziehen sich die Entscheidungen, die Vorgehensweise und die Inhalte, obwohl rechtlich verordnet und mit Sanktionen verbunden, der gerichtlichen Überprüfung. Es wird mit rechtlichen Mitteln an die Moral der Hilfebedürftigen appelliert, nichts zu beanspruchen, und wenn doch, dann mit der Verpflichtung zur Gegenleistung. Dies ist jedoch mit den Grundrechten, vor allem mit dem Grundrechtsschutz der Menschenwürde, nicht vereinbar. Somit kann für das als Beratung etikettierte, erzwungene Gespräch im Kontext des SGB II, vor allem auch vor dem Hintergrund des sozialrechtlichen Auftrags von sozialer Beratung, festgestellt werden, dass dies keine Beratung ist. Es hat bezogen auf seine Ziele mit der eigentlichen Zielsetzung von sozialer Beratung nichts mehr gemeinsam. Im Hinblick auf eine einzufordernde Rechtssicherheit sind aber auch für diese Art von Gesprächen Kriterien einzufordern, die eine Überprüfung, zum Beispiel innerhalb gerichtlicher Verfahren, möglich machen. Unabhängige soziale Beratung könnte sich als wichtige Schlüsselressource bei der Vorbereitung und für die Verarbeitung derartiger Gespräche und zur Unterstützung bei der Rechtsdurchsetzung erweisen. Insofern ist der schon

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2004 erhobenen Forderung der »Initiative zur Förderung unabhängiger Sozialberatung« zur Einrichtung unabhängiger sozialer Beratungsstellen unbedingt zuzustimmen (Initiative zur Förderung unabhängiger Sozialberatung, 2004). Literatur Ames, A. (2010). Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach dem § 31 SGB II. Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (NDV), 3, 111–117. Ansen, H. (2006). Soziale Beratung bei Armut. München: Reinhardt. Bamler, V., Engel, F., Großmaß, R., Lenz, A., Nestmann, F., Schürmann, I. (2012). Zweite Frankfurter Erklärung zur Beratung. Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis, 44 (1), 158–163. Bamler, V., Engel, F., Schürmann, I., Werner, J., Wilhelm, D. (2012). Beratung in Zwangskontexten – Beiträge zum Round Table im Rahmen des DGVT-Kongresses 2010. Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis, 44 (1), 11–21. Böhnisch, L. (2005). Lebensbewältigung. Ein sozialpolitisch inspiriertes Paradigma für die Soziale Arbeit. In W. Thole (Hrsg.), Grundriss Sozialer Arbeit (S. 199–215). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Conen, M.-L. (2005). Zwangskontexte konstruktiv nutzen. Psychotherapie im Dialog, 6 (2), 166–169. Conen, M.-L., Cecchin, G. (2007). »Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder los zu werden?« Therapie und Beratung mit unmotivierten Klienten und in Zwangskontexten. Heidelberg: Carl-Auer. Dahme, H.-J., Otto, H.-U., Trube, A., Wohlfahrt, N. (2003). Einleitung: Aktivierung als gesellschaftliche Metapher oder die Ambivalenz eines neuen Sozialmodells. In H.-J. Dahme, H.-U. Otto, A. Trube, N. Wohlfahrt (Hrsg.), Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat (S. 9–13). Opladen: Leske + Budrich. Dahme, H.-J., Wohlfahrt, N. (2007). Soziale Gerechtigkeit im aktivierenden Sozialstaat. Zur Entwicklung einer dezentralisierten und sozialraumorientierten Sozialpolitik. Zugriff am 22. 12. 2012 unter http://www.efh-bochum.de/homepages/wohlfahrt/pdf/Dahme-NDV.pdf Duttweiler, S. (2007). Beratung als Ort neoliberaler Subjektivierung. In R. Anhorn, F. Bettinger, J. Stehr (Hrsg.), Foucaults Machtanalyse und Soziale Arbeit (S. 261–275). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Gehrmann, G., Müller, K. D. (2007). Aktivierende Soziale Arbeit. Regensburg: Walhalla-Fachverlag. Germain, C., Gitterman, A. (1999). Praktische Sozialarbeit. Stuttgart: Enke. Giese, D. (1978). Rechtsfragen der Beratung. In D. Giese, G. Melzer (Hrsg.), Die Beratung in der Sozialen Arbeit (S. 13–69). Frankfurt a. M.: Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. Göckler, R. (2009). Beratung im Sanktionskontext. Tübingen: dgvt-Verlag. Großmaß, R. (2000). Psychische Krisen und sozialer Raum: eine Sozialphänomenologie psychosozialer Beratung. Tübingen: dgvt-Verlag. Großmaß, R. (2010). Hard to reach – Beratung in Zwangskontexten. In C. Labonte-Roset, H.-W. Hoefert, H. Cornel (Hrsg.), Hard to reach. Schwer erreichbare Klienten in der Sozialen Arbeit (S. 173–185). Berlin: Schibri-Verlag. Initiative zur Förderung unabhängiger Sozialberatung (2004). Initiative zur Förderung unabhängiger Sozialberatung im Zuge der Einführung der Sozialgesetzbücher II und XII. Zugriff am 22. 12. 2012 unter http://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/2004/initiative_sozialberatung. html Langhorst, K., Schwill, M. (2011). Grundlagen. In R. Krüger (Hrsg.), Sozialberatung – Werkbuch für Studium und Berufspraxis (S. 14–82). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Marshall, T. (1993). Bürgerrechte und Soziale Klassen. Frankfurt a. M. u. New York: Campus-Verlag.

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

Nestmann, F. (1996). Die gesellschaftliche Funktion psychosozialer Beratung in Zeiten von Verarmung und sozialem Abstieg. Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis, 28 (1), 5–10. Nestmann, F. (2012). Zwangsberatung ist keine Beratung – Beratung braucht die Freiheit der Wahl. Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis, 44 (1), 23–28. Nestmann, F., Engel, F., Sickendiek, U. (Hrsg.) (2004). Das Handbuch der Beratung. Bd. 2: Ansätze, Methoden und Felder (2. Aufl.). Tübingen: dgvt-Verlag. Raithel, J. (2006). Beratung. Im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit. In B. Dollinger, J. Raithel (Hrsg.), Aktivierende Sozialpädagogik. Ein kritisches Glossar (S. 41–50). Wiesbaden: VS Verlag. Rappaport, J. (1985). Ein Plädoyer für die Widersprüchlichkeit. Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 17 (2), 257–278. Reis, C. (2003). Workfare – internationale Erfahrungen und ihre Resonanz in Deutschand. Zugriff am 22. 12. 2012 unter http://www.good-practice.de/Workfare.doc Spindler, H. (2007). Aufgaben und Inhalte sozialer Beratung in Zeiten nach Hartz IV. Theorie und Praxis Sozialer Arbeit, 2, 36–42. Spindler, H. (2010). Bewältigungsstrategien freier Träger für die Gestaltung sozialer Arbeit im aktivierenden Sozialstaat. Zugriff am 22. 12. 2012 unter http://www.uni-due.de/edit/spindler/ Magdeburg.pdf Staub-Bernasconi, S. (1995). Das fachliche Selbstverständnis Sozialer Arbeit. Wege aus der Bescheidenheit Sozialer Arbeit als Human Rights Profession. In W.-R. Wendt (Hrsg.), Soziale Arbeit im Wandel ihres Selbstverständnisses – Beruf und Identität (S. 57–104). Freiburg: Lambertus. Staub-Bernasconi, S. (2005). Soziale Arbeit und soziale Probleme. Eine disziplin- und professionsbezogene Bestimmung. In W. Thole (Hrsg.), Grundriss Sozialer Arbeit (S. 245–258). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Thiersch, H. (1995). Lebenswelt und Moral. Beiträge zur moralischen Orientierung Sozialer Arbeit. Weinheim u. München: Juventa. Thiersch, H., Grunwald, K., Köngeter, S. (2005). Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. In W. Thole (Hrsg.), Grundriss Sozialer Arbeit (S. 161–179). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Trube, A. (2003). Aktivierender Sozialstaat – Programmatik, Praxis und Probleme. Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (NDV), 83 (8), 334–335.

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Stefan Grösch

Zwangsberatung – Rekonstruktionsversuch einer sozialrechtlichen Beratungsordnung

Das Sozialgesetzbuch zweiter Teil (SGB  II) mit dem Titel »Grundsicherung für Arbeitssuchende« stellt in seiner Gesamtheit ein sozialrechtlich modernes Sozialgesetzbuch dar, in dem der Leistungsträger dazu verpflichtet wird, Beratung als Hauptpflicht im Vorfeld weiterer Leistungserbringung durchzuführen. Darüber hinaus berühren spezielle Vorschriften des Sozialgesetzbuches erster Teil (SGB I) mit dem Titel »Allgemeiner Teil« beratungsrelevante Leistungen in allen Sozialgesetzbüchern, welche direkt oder indirekt sanktionsbewehrt sind. Beide Vorschriften werden in der Folge für das gesamte Sozialgesetzbuch (SGB) exemplarisch dargestellt um aufzuzeigen, wo und wie personenzentrierte Beratung in seiner administrativen Verregelungsstruktur als standardisiertes Sozialleistungsrecht mit Zwangs- oder Kontrollcharakter verortet ist und wie die institutionalisierte Umsetzung, aber auch die direkte, kooperativ ausgelegte Leistungserbringung durch die eingesetzte Fachkraft individuelle Beratung erschwert. Am Ende des Beitrags finden sich Hinweise zum Gelingen einer mitwirkungsoptimierten Beratung. Beratung im SGB – modern und ressourcenorientiert Im SGB werden Beratungsinhalte für Sozialleistungsträger, hier im gesetzlichen Rahmen des SGB  II für sogenannte Jobcenter, festgeschrieben und auch Beratungsmethoden administrativ verklausuliert. Beratung wird als erste Dienstleistung des Sozialleistungsträgers zur Einleitung und als erster Schritt zur Kooperation mit dem Antragsteller beschrieben. Nach Sennett (2012) definiere ich die anspruchsvolle Kooperation als den Versuch, Menschen zusammenzubringen, die möglicherweise unterschiedliche oder gegensätzliche Interessen verfolgen, die eventuell kein gutes Bild voneinander haben oder die sich nicht verstehen. Empathie spielt hier eine große Rolle, um auf andere Menschen zu deren eigenen Bedingungen einzugehen. Beratung im Sinne einer Kooperation steht in mehreren Teilbereichen des SGB im Kontext des Förderns und ist somit sozial-

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

rechtlich zuordenbar. Aufgrund der individuellen Bedarfslage, die zur Kontaktaufnahme mit dem Sozialleistungsträger führt, und der ebenfalls im SGB festgehaltenen Mitwirkungspflicht auf Seiten der Klientel ist diese sowohl sachlich als auch formal zur Kooperation im Beratungsprozess gezwungen. Die im SGB  II dezidiert als Hauptpflicht genannte Beratung wird ergänzt durch die Verpflichtungen gemäß § 14 SGB I. In dieser Vorschrift steht Beratung als Dienstleistung im Rahmen der sogenannten sekundären Nebenpflicht neben der Aufklärung und der Auskunft. Beratung im Sinne des SGB beinhaltet eine Anleitungsfunktion mit konkretem Individualbezug, entsprechend dem Leitgedanken des SGB »Hilfe zur Selbsthilfe«. Dies geht deutlich über die Mitteilung der Mitwirkungspflicht oder über das bloße Benennen von Gesetzestexten hinaus, was nach § 14 SGB I auch in Schriftform erfolgen könnte. Somit geht der Gesetzgeber bei Beratung von einem Gespräch und einem persönlichen Kontakt aus (Reinhardt, 2008). Inhaltlich soll in der Beratung auf Gestaltungsspielräume und Ressourcen hingewiesen werden, die von mündigen Sozialleistungsberechtigten potenziell genutzt werden würden. Hierbei sollen auch Gegebenheiten berücksichtigt werden, welche in der Zukunft eine Bedeutung haben könnten. Leitender Grundgedanke ist das Aufzeigen der optimalen Gestaltungsoption für den Klienten, wobei die Sozialleistungsträger nur für die jeweils eigenen Leistungsbereiche verantwortlich sind. Das heißt zum Beispiel, dass Leistungen zur Grundsicherung auch nur durch einen Sozialleistungsträger des SGB II bearbeitet werden sollen oder durch einen von ihm beauftragten Dritten. Die durch den Individualbezug unterschiedlich deklinierbare optimale Gestaltungsoption sowie die Maßgabe, Beratung nach bestem Wissen und Gewissen fehlerfrei zu tätigen, bedeutet wiederum für den Sozialleistungsträger, dass er Fachkräfte vorhalten muss, die ausreichend Rechtskenntnisse besitzen und darüber hinaus geeignete Methoden der Gesprächsführung beherrschen, um ein fachlich kompetentes Beratungsangebot gewährleisten zu können, welches nach § 14 SGB I verpflichtend ist (Barabas, 1999). Dazu gehören auch der richtige methodische Umgang mit sanktionsbewehrten Vorschriften und die Relationierungskompetenz des zugewiesenen Beraters in Bezug auf unmotivierte Klientel. Genauere Angaben zur Profession des Beraters macht der Gesetzgeber im SGB nicht, jedoch sind diverse Beratungsmethoden, etwa der systemische Beratungsansatz, aus den Gesetzeskommentierungen ableitbar. Der Einbezug der »Bedarfsgemeinschaft« (nach § 7 Abs. 2 & 3 SGB II) sei hier beispielhaft erwähnt. Beratung wird vom Gesetzgeber als kooperative Dienstleistung explizit beschrieben. Darüber hinaus weist der Begriff auf eine klientenorientierte Haltung hin, die von Beratern im sozialrechtlichen Leistungsbereich umgesetzt werden soll.

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Die in § 16a SGB II erwähnten Leistungen zur Unterstützung beinhalten unter anderem die Schuldnerberatung, die psychosoziale Betreuung und die Suchtberatung. In dieser Vorschrift wird die ganzheitliche und umfassende Betreuung und Unterstützung zur Eingliederung in Arbeit gefordert. Es soll die Eingliederung in Arbeit nicht an Schwierigkeiten der allgemeinen Lebensführung scheitern. Der Gesetzgeber berücksichtigt die Möglichkeit, dass diese Schwierigkeiten eine Erschwernis zur Eingliederung darstellen können, und fordert explizit Beratungsleistungen, die auch in kombinierter Form erforderlich sein können. Die Leistungen werden im Regelfall im Rahmen einer Sach- oder Dienstleistung von Beratungsstellen freier Träger erbracht. Als Berater sind dort vornehmlich Sozialarbeiter/-pädagogen eingesetzt. Klientenorientierte Beratungsgarantie durch zugeordneten Ansprechpartner Substanzielle Entscheidungen in Bezug auf soziale Rechte sind somit konstitutiv mit Beratung verbunden. Beratung wird durch »persönliche Ansprechpartner« erbracht und (im § 14 SGB  II) nach dem »Grundsatz des Förderns« vollzogen. Der »persönliche Ansprechpartner« hat die Aufgabe, institutionalisierte Dienstanweisungen und übergeordnetes Recht in Einklang zu bringen und auf die Individualebene zu transferieren. Diese Übersetzungsleistung ist im Beratungsprozess neben der Mitwirkungsoptimierung als Förderleistung herzustellen. Die besonderen Beratungs- und Unterstützungsleistungen für den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und dessen Bedarfsgemeinschaft (§ 14 Satz 2 SGB II) werden auf den »persönlichen Ansprechpartner« zugespitzt. Hier will der Gesetzgeber der schwierigen Arbeitsmarktlage Rechnung tragen, zudem ermöglicht er mit dieser Regelung eine personelle Kontinuität im Beratungsprozess, da der Prozess zur Wiedereingliederung in Arbeit eine komplexe Dienstleistung darstellt, die einen wahrscheinlich langwierigen Beratungs- und Unterstützungsprozess voraussetzt. Es wird eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und gute Interaktion zwischen Leistungsberechtigtem und Sozialleistungsträger angestrebt. Diese setzt auf Seiten der »persönlichen Ansprechpartner« sowohl Wissen über die psychosozialen Problemlagen der Klientel voraus als auch Methoden- und Verfahrenswissen. Da individuelle Druck- und Anreizfaktoren das Kommunikationsverhalten der Leistungsberechtigten bestimmen, gehört auch das Erkennen dieser handlungsleitenden Faktoren zum beraterischen Handwerkszeug (Kähler, 2005). Im Rahmen des inhaltlich nicht festgelegten Profilings soll dieses Fachwissen eine gemeinsame Zielfindung ermöglichen, die letztendlich in einer Eingliederungsvereinbarung (nach § 15 SGB II)

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

für beide Seiten verbindlich festgelegt werden kann. Das Profiling beinhaltet die beiden Elemente Beratung und Diagnose, wobei in der Vorschrift die beruflichen und persönlichen Merkmale des Klienten besonders hervorgehoben sind, was die individuelle Ausrichtung dieses kooperativen Prozesses unterstreicht (Schmidt-De Caluwe, 2008). § 14 Satz 3 SGB II stellt die Erbringung von Leistung zwar in unmittelbaren Zusammenhang zur Eingliederung in Arbeit, dennoch beinhaltet diese Vorschrift eine objektivrechtliche Erbringungspflicht für alle Leistungen, die im Einzelfall zur Eingliederung erforderlich sind. Da im Rückgriff auf die Leistungsgrundsätze (nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 SGB  II) die individuelle und familiäre Lebenssituation zu berücksichtigen ist, müssen diese auch im Beratungsprozess aufgenommen und behandelt werden. Zwangsberatung als Resultat aus fehlender Mitwirkung und eingesetzter Drohkulisse Das SGB  II sieht im Kontext der Verpflichtung zur Beratung die Sanktionsvorschriften der §§ 31, 31a, 31b und 32 vor. Im Vorfeld einer hierdurch möglichen Absenkung oder Streichung von Arbeitslosengeld II muss eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung erfolgen. Auf diese Weise wird die Warn- und Erziehungsfunktion gegenüber der Klientel ausreichend verdeutlicht (Berlit, 2011). Zum Tatbestand der Weigerung zur Mitwirkung genügt eine Ablehnung der Beratung durch den Klienten. Dies wird als vorsätzliches, sanktionierbares Fehlverhalten eingestuft (Derksen, 2008). Betroffene sehen diese Vorschriften primär als Sanktions- und Disziplinierungsnorm (Berlit, 2011). Der zunächst schriftlich zugestellten Sanktionsandrohung folgt in der Regel ein mitwirkungspflichtiges Beratungsgespräch, in welchem eine beraterische Anschlussfähigkeit erhalten oder wiederhergestellt werden soll. Schon allein durch ihre Existenz oder Androhung führen Sanktionsregeln zu zunächst konformem Verhalten bei der Klientel. Der Beratungsprozess unterliegt hier bereits ersten Verformungen. Darüber hinaus können die Sanktionsregelungen eine »allgemeine Atmosphäre des Drucks erzeugen«, die die Einwilligungsund Zugeständnisbereitschaft des Arbeitslosen bzw. des Leistungsberechtigten gegenüber einem potenziellen Arbeitgeber erhöhen (Kumpmann, 2009, S. 3). Die in §§ 31 ff. SGB II aufgeführten Sanktionierungsmöglichkeiten überstrahlen die gesamte Grundsicherung, zumal durch sie auch festgelegt ist, dass Klienten nun in Arbeitsverhältnisse gezwungen werden können, »die früher keiner gewagt hätte, bei der öffentlichen Arbeitsvermittlung überhaupt anzubieten« – Beschäftigungsmaßnahmen eingeschlossen (Spindler, 2011, S. 3).

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§ 32 SGB II regelt die Absenkung des Arbeitslosengeld II um 10 %, wenn der Hilfebedürftige nicht zu einem vorher anberaumten Beratungstermin erscheint. Durch die Vorschrift ist das körperliche Nichterscheinen des Leistungsberechtigten sanktionsbewehrt. Im späteren Beratungsprozess setzt dann die Mitwirkungspflicht nach §§ 60 ff. SGB I ein. Das bedeutet, dass das bloße Erscheinen während eines festgelegten Termins für einen Leistungsbezug nicht ausreicht; gefordert ist die aktive Teilnahme am Beratungsprozess. Deutlich mehr als 55 % der Sanktionierungsgründe fallen auf diese Vorschrift zurück (Schröder, 2011). Die Bestrafungshärte und -quote ist im Bereich der unter 25-Jährigen unverhältnismäßig höher als bei dem Rest der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Sie reicht bis hin zum vollständigen Versagen der Leistung. Im SGB II ist Beratung nur als Zwangsberatung denkbar, weil die latent vorhandene Kontroll- und Sanktionsmacht alle unterstützenden Leistungen überschattet. Existenzbedrohung durch Machtgefälle im Kooperationsprozess Formales Kooperationsproblem: Sozialleistungsträger – Leistungsberechtigter

Klient, Berater, Sozialrecht und Sozialleistungsträger sind die direkt oder indirekt involvierten Akteure der Beratung. Sanktionsrelevante sozialrechtliche Vorschriften werden dem Leistungsberechtigten vom Berater im Rahmen der Rechtsbehelfsbelehrung schnell zur Kenntnis gebracht. Der Sozialleistungsträger selbst wird in weiten Teilen der Bevölkerung aufgrund medialer Darstellungen oder biografischer Erfahrungen nicht selten per se als bedrohlich wahrgenommen. Auch der Berater gerät möglicherweise in Verdacht, Leistungen eher zu verhindern als passgenau zu ermöglichen. Zwangsberatung entsteht als Ergebnis aus der Verbindung zwischen dem Fördergedanken und der sanktionsgestützten Forderung, inklusive der erzieherischen Haltung und des latent vorhandenen Leistungsmissbrauchsverdachts, auf Seiten des Beraters einerseits und dem Erleben der Situation durch den Klienten andererseits. Fördern und Fordern, aber auch die erzieherische Haltung werden den Klienten im Beratungsgespräch transparent gemacht. Druck oder Zwang entsteht aber bereits dann, wenn der Klient um Unterstützung anfragt und dann sofort eine obligatorische Rechtsbehelfsbelehrung inklusive Strafandrohung unterschreiben muss. Spätestens hier beginnt die latente Unterstellung durch den Sozialleistungsträger, dass der Klient missbräuchlich Leistungen »ergattern« will. Der um Hilfe angefragte Sozialleistungsträger ist aus Sicht der Klienten schnell symbolisch »aufgeladen«, zeigt die Belehrung doch einen

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

eindeutigen Machtanspruch auf. In der Perspektive des Klienten bestätigt das Drohpotenzial dann die negative öffentliche Meinung vom Sozialleistungsträger. Durch die beschriebenen restriktiven gesetzlichen Regelungen wird Beratung immer mehr zu einer Zwangszusammenkunft. Im schwieriger werdenden institutionellen Aushandlungsprozess stellt das Setting eine direkte existenzielle Bedeutung für die jeweilige Klientel dar, denn unterhalb der Leistung nach dem SGB  II besteht kein weiteres sozialrechtliches Auffangnetz. Das heißt, bei wiederholter Beratungsverweigerung durch den Leistungsberechtigten droht die völlige Mittellosigkeit. Gleichwohl nutzt die Bundesagentur für Arbeit (BA) seit ihrer Umbenennung im Jahr 2004 (von »-anstalt« in »-agentur«) den positiv besetzten Begriff »Kunde« für ihre Klientel. Der Gesetzgeber stellt hiermit den Dienstleistungscharakter dieser Institution heraus und suggeriert zudem eine Wahlmöglichkeit, die in einer Kernfunktion des Sozialleistungsträgers nach dem SGB II faktisch nicht existiert bzw. eine direkt existenzbedrohende Bedeutung hat. Außerdem ist die zeitliche Taktung des Sozialleistungsträgers zunehmend kurzfristig orientiert. Der Druck des schnellen (Vermittlungs-)Erfolges sowie die tägliche Kontrolle der Berater durch statistische Meldungen an den eigenen Arbeitgeber stehen der individuellen zeitlichen Taktung des Leistungsberechtigten – und dem individuell auszurichtenden Beratungsverlauf – diametral gegenüber. Die Angst des Leistungsberechtigten, kurzfristig in einen zunächst nicht gewünschten Arbeitsplatz »beraten« zu werden, etwa auch in Zeit- oder Leiharbeit, erschwert die Kooperation auf dieser institutionellen Ebene zusätzlich. Formales und informelles Kooperationsproblem: Berater – Leistungsberechtigter

Die gefühlte eigene Unzulänglichkeit des Leistungsberechtigten, der am normalen gesellschaftlichen Leben nicht teilhaben kann, kann zu Projektionen führen, die sich am zugeteilten Berater entladen. Die Beziehung zwischen Kontrolle und/oder Sanktion und Beratung bedingt eine Kommunikationsstruktur, die als Zwangsberatung für beide Seiten des Tisches deutlich erlebbar wird. Neben isoliert beraterischen oder rein rechtlichen Überlegungen ist die Übersetzung des allgemeinen Leistungsrechts auf den Einzelfall ein Hindernis in der Beratung. Schwierigkeiten in der Kooperation zwischen Klientel und Berater resultieren vielfach aus dem Unvermögen des Beraters, die soziale Beziehung als Kooperation mit »Win-win-Charakter« zu gestalten bzw. sich von fragmentierenden Trägervorgaben zu lösen. Der Kooperationsprozess, welcher schließlich in der durch die Sanktionierungsmöglichkeit ungleich erlebten Situation stattfinden soll, muss somit auf

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Seiten des machtvolleren Beraters gestaltet werden. Ziel dieser Steuerung muss es sein, eine für beide Seiten weitgehend zufriedenstellende Sach- oder Lebenslage herzustellen. Es obliegt also der Beratungsfachkraft, auch in dieser schwierigen Ausgangssituation eine gute Übersetzungsarbeit zu leisten. Wie sieht aber diese Übersetzungsarbeit in der Praxis aus? Wegen der strukturellen Überforderung des eingesetzten Personals und aufgrund »divergierender Erwartungshaltungen« (Berlit, 2011, § 14 Rz 14) von Beratern und Klientel weist die Kooperation in der Beratungspraxis erhebliche Mängel auf. Dementsprechend wurden jüngst im Bericht über die Fallbearbeitung große Schwankungen in der Beratungsqualität, eine starke Dominanz der Fachkräfte im Beratungsprozess sowie »häufig eine fehlende Kundenperspektive« (Deutscher Bundestag, 2011) festgestellt. Vertrauen zwischen Beratern und Klienten kann unter diesen Voraussetzungen nur mühsam erreicht werden. Fühlt sich »der Kunde« nicht verstanden, kann er seinen Berater nur sehr schwer wechseln. Einen Anspruch auf einen bestimmten Ansprechpartner hat der Klient nicht. Nur aufgrund der »Besorgnis der Befangenheit« (§ 17 SGB X) kann der Leistungsberechtigte einen Wechsel der Ansprechperson herbeiführen. Dieser Schritt setzt auf Seiten der Klienten allerdings signifikante Kenntnisse, Fähigkeiten und Selbstbehauptungskompetenzen voraus. Das Fallmanagement wird, als Teilelement der gewünschten, qualitativ hochwertigen Beratung und Unterstützung, auch an sogenannte Fallmanager übergeben. Kolbe und Reis (2008) beschreiben in ihrer Studie eben jenes Fallmanagement als ersten Schritt, um eine solide soziale Basis zu schaffen, um von dort aus im zweiten Schritt auf eine berufliche Integration hinzuwirken. Kolbe und Reis stellten jedoch fest, dass in den durchgeführten Beratungsgesprächen kaum Raum und Zeit für die Aufnahme individueller sozialer Gegebenheiten und den Aufbau einer günstigen beraterischen Beziehung zum Klienten vorhanden ist. Dies wäre notwendig, um zum Beispiel ein mögliches Fernbleiben des Hilfebedürftigen oder etwa seine Drogenproblematik ansprechen zu können. Die Beratung im Fallmanagement scheint die angestrebte Bearbeitung individueller psychosozialer Problemlagen nicht zu leisten und lediglich institutionsgeleitete und arbeitsmarktzentrierte Aspekte zu berücksichtigen. Diese einseitige Bearbeitung von Problemlagen wird den hohen Ansprüchen des SGB II nicht gerecht. Die Bewältigung dieser institutionellen Dienstleistung ist eine große Herausforderung für die Beratungsfachkräfte. Die ausnahmslose Organisationsorientierung wird für den Beratungsprozess als kontraproduktiv angesehen (Göckler, 2009). Aufgrund eigener Befragungen konnte festgestellt werden, dass beratungsrelevantes Wissen zur Herstellung eines kooperativen Prozesses bei Beratern, die im Rahmen des SGB II tätig sind, so gut wie nicht vorhanden ist. Aus

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diesem Grund können auch motivierte Berater ihren eigenen Ansprüchen gar nicht gerecht werden. Stattdessen ziehen sich Berater aus Gründen des Selbstschutzes auf ihr bekanntes, institutionseigenes Terrain zurück. Sie haben die Sorge, im unbekannten, persönlichen Kliententerrain »gefährliche« Türen aufzustoßen, die dann möglicherweise im weiteren Beratungsprozess nicht mehr verschlossen werden können. Der hinzugekaufte Träger als »Dritter im Zwangsberatungsbund« Die beschriebene Zwangsberatung betrifft auch Beratungskräfte, die außerhalb des Sozialleistungsträgers ihre Dienstleistung erbringen. Die Beauftragung freier Träger (nach § 16a SGB II) birgt die Gefahr, dass sich die Berater dieser Träger aufgrund eigener fiskalischer Interessen dem stringent arbeitsmarktgeleiteten Handeln der Leistungsträger nach dem SGB  II zu sehr annähern. Durch die Übernahme von Leistungen (im Sinne des § 17 SGB II) von Dritten ergeben sich für die dortigen Mitarbeiter Auskunftspflichten zu Leistungen der Eingliederung in Arbeit (nach §§ 60, 61 SGB  II). Vom Grunde her sind hier dem Leistungsträger nur Tatsachen mitzuteilen, die Aufschluss darüber geben, ob Leistungen zu Recht erteilt werden und ob Maßnahmen ordnungsgemäß durchgeführt werden oder nicht. Mutmaßungen oder Spekulationen haben zu unterbleiben. Im Wortlaut der Vorschrift ist jedoch auch intendiert, dass Aufschluss über zu Unrecht erbrachte Leistungen gegeben werden soll, um so Tendenzen zu Leistungsmissbrauch zu begegnen (Schoch, 2011). Das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Klientel ist vordergründig geachtet, erzeugt aber für den eingesetzten sozialpädagogischen Berater auch ein Dilemma: Eine Ankündigung der besagten Weitermeldung zur Wahrung der Transparenz in der Beratung kann zu einem Vertrauensverlust führen, der eine kooperative Haltung in der Beratung erschweren kann. Der sozialpädagogische Berater offenbart sich hier in seiner Rolle als möglicher Kontrolleur. Im Rahmen des kooperativen Prozesses ist diese Transparenz jedoch unabdingbar. Von dem Berater, wie auch von dem Klient, muss die latente Kontrollfunktion erkannt und angenommen sein. Im Sinne dieser Kontrollfunktion muss ein Berater ständig abwägen, welche Informationen für den Auftrags-/Sozialleistungsträger relevant sind und welche Beratungsinhalte nicht unter die Maßgabe des Leistungsrechts fallen. Darüber hinaus muss sich zunächst der angefragte karitative/diakonische oder andere Träger hausintern für eine Anbindung an einen Leistungsträger nach dem SGB  II positionieren. Aufgrund eigener Interview-Recherchen im Rahmen der Masterthese sieht es zum Beispiel das Leitungspersonal eines

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Bezirkscaritasverbandes als gewinnbringend für die Klientel an, wenn eine Kooperation auf Basis trägereigener Beratungsstandards stattfindet. Die Sanktionierung selbst wurde in diesem Zusammenhang kontrovers diskutiert. Letztendlich berief man sich auf die Verpflichtung, gesetzkonform zu handeln, sowie auf die Eigenverantwortung der Klientel. Die im Sinne der Eigenverantwortung unbedingt erforderlichen Kenntnisse über die Rechte und Pflichten sollen im Rahmen der am eigenen Leitbild orientierten Beratung vermittelt werden. Einen Imageverlust der »Marke Caritas« – aufgrund der als repressiv eingeschätzten Haltung des beauftragenden Leistungsträgers – befürchteten die Verantwortlichen indes nicht. Die Abgrenzung zwischen Leistungsträger und freiem Träger wurde als hinreichend deutlich eingestuft. Die dort im Rahmen des Profilings auf der Beraterebene tätigen Mitarbeiter beschrieben indes ein gefühltes Dilemma: Sie sahen sich einerseits als »Anwalt des Klienten«, andererseits aber auch als Erfüllungsgehilfen des Jobcenters. Dieses Dilemma konnte im Verlauf der Beratungstätigkeit weitgehend abgebaut werden, da eine klare Trennung zwischen sozialanwaltlichen und sanktionsrelevanten Diensten zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer verabredet war, welche auch im Beratungsprozess transparent gemacht wurde. Hiervon unberührt blieb jedoch für die zugewiesene Klientel die Mitwirkungspflicht im Beratungsprozess. Dass hier die Beratungsleistungen nicht an Sanktionen und deren Androhung scheiterten, begründeten die Berater mit ihrer toleranten und vorurteilsfreien Haltung und ihren fachlich ausgewiesenen Beratungsqualifikationen (Grießmer u. Grösch, 2008). Auswege: Anerkennung des Zwanges im Beratungsprozess, Verlagerung der Beratungsleistung, Weiterqualifikation Da durch die in Aussicht gestellte Sanktionierung und durch die Möglichkeit, unter Zwang in prekäre Arbeitsverhältnisse gedrückt zu werden, eine Mitwirkung der Klienten generiert werden soll, erscheint die Herstellung der Motivation der Klienten zur Mitwirkung an einer Beratung erste Beraterpflicht zu sein. Berater versuchen dann, den Zwang von den Beratungsinhalten zu entkoppeln. Hierzu vorgegebene institutionelle Strukturen sollen die Komplexität individueller Fälle für den jeweiligen Berater leichter verarbeitbar machen (Göckler, 2009). Dieses Formalisieren führt schließlich zu einer Entpersonifizierung bzw. zu einer formalisierten und reglementierten Beratung, welche zwar die Beratungstätigkeit zunächst vereinfacht, jedoch die Förderung der Klienten und ihre gesellschaftliche Anschlussfähigkeit behindert. Die starre, institutionalisierte Beratung wird vom Gesetzgeber, wie aufgezeigt, nicht gewollt. Eine rein administrative Interpretation von Beratung im Sozialrecht fordert die sozialpä-

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Gesellschaftliche Einflüsse auf Beratung

dagogische/-arbeiterische Profession heraus, ihrerseits Einfluss auf beratungsrelevante Strukturen geltend zu machen. Dazu müssten sie den Zwang als mitwirkungsgenerierenden Faktor jedoch anerkennen. Zudem müssen Beraterinnen und Berater der jeweiligen Sozialleistungsträger in die Lage versetzt werden, jenseits der verregelten Rechts- und Dienstanweisungsrhetorik, dem Gegenüber Verständnis und Interesse aufzubringen und sich selbst zurückzunehmen, um so eine Grundlage für die weitere motivationsorientierte Arbeit zu schaffen. Gelingt dies nicht, muss im Sinne der klientenorientierten Selbstermächtigung eine Verschiebung dieses wichtigen Teils der Beratungsdienstleistung an andere Dienstleister aus der Wohlfahrt erfolgen. Sofern nach § 1 SGB I, in Verbindung mit Artikel 3 Grundgesetz, das Erlangen von Mündigkeit ein Beratungsziel sein soll, erfordert das eine breite Palette beraterischen Wissens. Hierbei ist es unerheblich, ob die beratende Person direkt bei einem Sozialleistungsträger eingesetzt ist oder bei einem freien Träger. Die spezifischen sozialrechtlichen Gegebenheiten müssen den Beratern und Beraterinnen bekannt sein. Darüber hinaus sind verschiedene methodische Ansätze als fachliches Rüstzeug unumgänglich. Die oben beschriebene familien- und lebensweltorientierte Ausrichtung weiter Teile des Sozialrechts setzt eine Auseinandersetzung mit der Theorie zur Lebenswelt- und Alltagsorientierung zwingend voraus (Nestmann u. Sickendick, 2005). Die klientenorientierte Beratungshaltung, »Motivierende Gesprächsführung« (Miller u. Rollnick, 2004), aber auch die fachliche Auseinandersetzung mit Beratungssettings, Kenntnisse über versteckte Anreiz- oder Druckfaktoren auf Seiten der Klientel (Kähler, 2005), das angeleitete eigene Erleben oder Durchleben einer Zwangssituation in Rollenspielen sowie das Erlernen kollegialer Austauschformen im Sinne eines kompetenten Fallmanagements sollten Bestandteil einer Qualifizierung für diese sehr anspruchsvolle Beratungsform sein. Literatur Barabas, F. K. (1999). Beratungsrecht. Frankfurt a. M.: Fachhochschulverlag. Berlit, U.-D. (2011). § 31 SGB II. In J. Münder (Hrsg.), Sozialgesetzbuch II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) – Lehr- und Praxiskommentar (4. Aufl.). Baden-Baden: Nomos. Derksen, R. (2008). Die Darstellung der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Stuttgart: Kohlhammer. Deutscher Bundestag (2011). Ausschuss für Arbeit und Soziales. Materialien zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen. Ausschussdrucksache 17(11)538. Berlin. Göckler, R. (2009). Beratung im Sanktionskontext. Tübingen: dgvt-Verlag. Grießmer, N., Grösch S. (2008). Die Veränderung eines kirchlichen freien Trägers nach einer vertraglichen Anbindung an einen Sozialleistungsträger des SGB II am Beispiel eines Bezirks-

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caritasverbandes des Bistums Limburg. Masterthese. Fachhochschule Frankfurt am Main, Fachbereich 4. Kähler, H. (2005). Soziale Arbeit in Zwangskontexten. München: E. Reinhardt. Kolbe, C., Reis, C. (2008). Die praktische Umsetzung des Fallmanagements nach SGB II. Frankfurt a. M.: Fachhochschulverlag. Krahmer, U. (Hrsg.) (2008). Sozialgesetzbuch I (Allgemeiner Teil) – Lehr- und Praxiskommentar (2. Aufl.). Baden-Baden: Nomos. Kumpmann, I. (2009). Im Fokus: Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger. Wirtschaft im Wandel, 6, 236–239. Miller, W. R., Rollnick, S. (2004). Motivierende Gesprächsführung (3. Aufl.). Freiburg: Lambertus. Mutschler, B., Bartz, R., Schmidt-De Caluwe, R. (Hrsg.) (2008). Sozialgesetzbuch III (Arbeitsförderung) – Großkommentar (3. Aufl.). Baden-Baden: Nomos. Münder, J. (Hrsg.) (2011). Sozialgesetzbuch II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) – Lehr- und Praxiskommentar (4. Aufl.). Baden-Baden: Nomos. Nestmann F., Sickendick U. (2005). Beratung. In H. U. Otto, H. Thiersch (Hrsg.), Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik (3. Aufl.). München u. Basel: Reinhardt. Reinhardt, H. (2008). §§ 13–15 SGB I. In U. Krahmer (Hrsg.), Sozialgesetzbuch I (Allgemeiner Teil) – Lehr- und Praxiskommentar (2. Aufl.). Baden-Baden: Nomos. Schmidt-De Caluwe, R. (2008). § 6 SGB III. In B. Mutschler, R. Bartz, R. Schmidt-De Caluwe (Hrsg.), Sozialgesetzbuch III (Arbeitsförderung) – Großkommentar (3. Aufl.). Baden-Baden: Nomos. Schoch, D. (2011). § 61 SGB II. In J. Münder (Hrsg.), Sozialgesetzbuch II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) – Lehr- und Praxiskommentar (4. Aufl.). Baden-Baden: Nomos. Schröder, P. M. (2011). SGB II-Sanktionen (Hartz IV). Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe e. V./BIAJ. Zugriff am 26. 11. 2012 unter www.biaj.de/archiv-materialien. Sennett, R. (2012). Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Berlin: Hanser. Spindler, H. (2011). Zumutbare Arbeit und Sanktionspraxis – Zu den Neuregelungen im SGB II, KOS-Tagungsbeitrag, 15.  – 17. 06. 2011. Zugriff am 31. 01. 2012 unter: www.nachdenkseiten. de/?p=10250

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2.  Institutionelle Einflüsse auf Beratung

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Angela Schmidt-Bernhardt, Heike Schnoor und Monika Sennekamp

Institutionelle Beratungsangebote im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Veränderungsdruck und individuellen Bedürfnissen

Der gesellschaftliche Wandel mit seinen chancenreichen, aber auch krisenhaften Modernisierungsprozessen erzeugt Irritationen, Unübersichtlichkeiten und Herausforderungen für alle Menschen. Für einen wachsenden Teil der Bevölkerung entstehen dabei auch prekäre Lebenslagen. Daher steigt auch die Nachfrage nach sozialen und psychosozialen Beratungen. Institutionelle Beratungsangebote haben die Aufgabe, die individuellen Folgen dieses gesellschaftlichen Veränderungsprozesses für ihre Klientel bearbeiten und auffangen zu helfen. Beratungen wollen Hilfe zur Selbsthilfe sein und dem Klienten eine Orientierungs-, Planungs-, Entscheidungs- und Bewältigungshilfe geben. Mit Beratungen verbindet sich der Anspruch, Menschen in die Lage zu versetzen, Handlungssicherheit zurückzugewinnen bei der Bewältigung ihres aktuellen Problems. Beratungen im pädagogischen Feld sind in der Regel institutionell eingebundene Hilfsangebote. Insofern nehmen Institutionen mit ihren offiziellen Aufträgen sowie ressourcenabhängigen Handlungsoptionen und Rahmenbedingungen Einfluss auf Beratungsprozesse. Im günstigen Fall stellen Institutionen einen passenden und sicheren Rahmen für Beratungsprozesse her. Jedoch gilt umgekehrt auch, dass Konflikte und Widersprüchlichkeiten in der Institution auch als Spannungen in Beratungsprozessen spürbar werden. Auch Beratungsinstitutionen sind in unterschiedlicher Weise von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen betroffen. Beispielsweise hat die Erhöhung oder die Reduzierung von finanziellen Ressourcen der öffentlichen Hand existenzielle Bedeutung für viele soziale Einrichtungen, aber auch die Veränderung bzw. Erweiterung der Aufgaben einer Institution produziert einen Veränderungsdruck in den Institutionen selbst. Darüber hinaus haben Institutionen den Auftrag, ein passgenaues Beratungsangebot für ihre Klientel zu schaffen. Wenn sich deren Lebens- und Problemlage ändert, müssen auch die Hilfsangebote auf die neue Anfrage hin neu ausgerichtet werden. Der gesellschaftliche Wandel erfasst also nicht nur die Klientel, sondern auch die Beratungsinstitutionen selbst und kann bei den Betroffenen ambivalente Gefühle auslösen. In

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Institutionelle Einflüsse auf Beratung

Beratungen werden Spannungsfelder der Klientel also nicht nur thematisiert und bearbeitet, sondern die Berater und Beraterinnen in ihren Institutionen stehen selbst auch im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Imperativen, institutionellem Reformdruck und individuellen Bedürfnissen. Sowohl die Klienten und Klientinnen als auch ihre Berater und Beraterinnen sind gefordert, diese Spannungen auszutarieren und ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Infragestellung eigener Überzeugungen und professionellen Routinen einerseits und dem Festhalten am Gewohnten andererseits. Es gibt nicht nur Klienten und Klientinnen, sondern auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Beratungsinstitutionen, die Veränderungsprozesse freudig und neugierig aufgreifen, und solche, die eine offen oder verdeckt blockierende Haltung dazu einnehmen. Es gibt Beratungsinstitutionen, die offensiv und bewusst mit den Veränderungsimperativen umgehen, und solche, die Veränderungsprozesse nicht oder nur zum Schein umsetzen. In jedem Fall haben sowohl die Mitarbeitenden als auch die Klienten die Folgen dieser Entscheidungen zu tragen und zu ertragen. Reibungen sind diesem Prozess notwendigerweise inhärent. Sie entstehen, weil gesellschaftliche Imperative mit den individuellen Bedürfnissen der Beratenden kollidieren können, aber auch, weil die reale Umsetzung den formulierten Anforderungen immer hinterherhinkt. Institutionelle Beratungsangebote sind also einerseits thematisch mit der Bewältigung dieser Unsicherheiten befasst, andererseits zugleich selbst davon betroffen. Keine Ebene kann sich der Dynamik gesellschaftlicher Umwälzungen entziehen. In den Beiträgen dieses Teils wird auf unterschiedliche Aspekte dieser institutionellen Spannungen eingegangen: Elisabeth Rohr weist an einem Fallbeispiel nach, wie gesellschaftliche Traumatisierungen Spuren in einer Beratungsinstitution hinterlassen und bis auf die Ebene der Mitarbeitenden durchschlagen. Hier zeigt sich exemplarisch, wie subtil und zugleich wirkungsvoll Institutionen durch gesellschaftliche Einflüsse geprägt werden. Ute Schaich zeigt am Beispiel der Kindertagesstätten auf, welche biografischen, kulturellen und sozialen Einflüsse in die Beratung von Eltern durch Erzieherinnen hineinwirken. Beatrice Kustor-Hüttl arbeitet anhand von Fallbeispielen bildungserfolgreicher Migrantinnen in Gymnasien heraus, auf welche Weise institutionelle Selektion stattfindet. Es zeigt sich, dass Beratungen berücksichtigen müssen, dass sich familiäre und institutionelle Benachteiligungen gegenseitig verstärken und im Ergebnis Bildungskarrieren von Schülerinnen behindern. Der Beitrag von Stefan Wißmach thematisiert die institutionellen Auswirkungen im Hinblick auf das methodische Vorgehen der Berater. Am Beispiel des psychodynamischen Beratungsansatzes arbeitet er detailliert heraus, welche methodischen Anpassungsprozesse den Beratern im Kontext unterschiedlicher Institutionen abver-

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Schmidt-Bernhardt, Schnoor, Sennekamp  |  Institutionelle Beratungsangebote

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langt werden. Monika Sennekamp und Angela Schmidt-Bernhardt zeigen jeweils an konkreten universitären Lehrangeboten auf, wie die Beratungsausbildung im Rahmen von Studiengängen umgesetzt werden kann. An diesen Beispielen wird zweierlei deutlich: zum einen, dass diese Lehrangebote eine Brücke zwischen den individuellen Bedürfnissen der Studierenden und den gesellschaftlichen Aufgaben der Institution Universität schlagen können, zum anderen aber auch, dass ihnen curriculare Anpassungsleistungen durch ihre institutionelle Einbettung in den Studiengang auferlegt werden. Trotz allem zeigt sich jedoch auch, welche Rückwirkungen diese Angebote auf die institutionelle Praxis haben können. Die Einflussnahme auf institutionelle Praktiken erfolgt demnach nicht einseitig durch veränderte gesellschaftliche Imperative, sondern durchaus auch umgekehrt von individueller Seite durch den Beratungsprozess. Auf diese Weise wird auch das Veränderungspotenzial von Beratung sichtbar. Letztlich wird anhand dieser exemplarischen Beispiele sichtbar, dass sich institutionelle Beratungsangebote immer im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Veränderungsdruck und individuellen Bedürfnissen bewegen. Es ist eine Herausforderung für Institutionen, in ihren Beratungsangeboten einen aufgeklärten und konstruktiven Umgang damit zu finden.

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Elisabeth Rohr

Überwachen und denunzieren Aspekte psychosozialer Traumatisierung in einer sozialen Organisation. Ein Fallbeispiel aus Guatemala

Psychoanalyse und Trauma Ein Blick in die psychoanalytischen Debatten der beiden letzten Jahrzehnte zeigt, dass theoretische wie auch konzeptionelle Überlegungen zum Verstehen und zur therapeutischen Behandlung von »Trauma« ein wiederkehrendes und die Diskussionen nach wie vor prägendes Thema sind. Nach Freuds Revision der Verführungstheorie (1897) hatte sich in der damals noch recht überschaubaren psychoanalytischen Gemeinschaft Schweigen ausgebreitet und nur wenige wagten es, Freuds Verdikt, dass allem Trauma ein unbewusster infantiler Konflikt zugrunde liege, in Frage zu stellen (Freud, 1916–1917). Einer der wenigen, die Freuds Meinung nicht teilten, war Ferenczi (1931/1972). Er behauptete, dass die Verleugnung aller äußeren und faktischen Realität zwangsläufig zu falschen Schlussfolgerungen und zu vorschnellen Erklärungen neurotischer Phänomene führen müsse. Heute gilt Ferenczi als einer der Pioniere der Traumaforschung und kaum ein Psychoanalytiker würde heute bezweifeln, dass Traumatisierungen nicht nur aus frühen Kindheitsfantasien und Konflikten resultieren, sondern oft Ergebnis und Folge der von Menschen herbeigeführten Katastrophen sind (Bohleber, 2000). Holocaust-Überlebende und ihre Kinder, Opfer von Terror und kriegerischer Gewalt sowie Frauen und Kinder, die sexuelle Gewalt erlebt haben, bewiesen dies im Übermaß. Doch nach wie vor verstummen die Kontroversen um das Thema »Trauma« nicht. Denn in der medizinischen Forschung hat eine relativ einseitige Fokussierung auf klinische Aspekte von Traumatisierung stattgefunden, wobei diese Perspektive durch die Aufnahme der »Post Traumatic Stress Disorder« (PTSD) in das diagnostische Handbuch der »American Psychiatric Association« noch eine Aufwertung erfuhr. Hierbei wird Trauma auf eine medizinische und vor allem auf eine entkontextualisierte Störung reduziert. Das kritisieren unter anderem Robben und Suárez-Orozco (2000), die betonen, dass die gegenwärtige diagnostische Klassifizierung von PTSD die Berücksichtigung des trauma-

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Rohr  |  Überwachen und denunzieren

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tischen Erfahrungskontextes ausschließt, also die Frage, ob das Trauma durch Einzelne oder Gruppen verursacht wurde, durch Naturkatastrophen, konventionelle Kriegsführung, Staatsterror oder durch willkürlich ausgeübte Gewaltakte einzelner Menschen. Die hegemoniale Anwendung des Konzeptes – so Robben und Suárez-Orozco (2000) – hat sich soweit durchgesetzt und die therapeutische Behandlung von einzelnen Patienten spielt eine so essenzielle Rolle, dass kollektive Ausdrucksformen und gesellschaftliche Folgewirkungen von Trauma bislang nur marginale, wissenschaftliche Berücksichtigung fanden. Einer der wenigen Wissenschaftler, der sich mit diesem bislang vernachlässigten Bereich der Traumaforschung befasst hat, ist Vamık Volkan (2000, 2003). Auf der Grundlage des von ihm entwickelten Konzeptes des »gewählten Traumas« gelang es ihm, die Einschränkungen einer klinisch fokussierten PTSDDiagnose zu überwinden und neue Perspektiven des Verstehens sozial unterschiedlicher Reaktionen auf massive Traumatisierungen zu eröffnen. Er war dabei zu der Erkenntnis gelangt, dass eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, Verluste und Demütigungen der Vergangenheit zu betrauern, eine mentale Repräsentanz von sich selbst als Opfer entwickelt und damit eine Identitätskonstruktion entwirft, die auf der Erfahrung von historischen Verlusten und Demütigungen aufbaut. Diese unbewusste Haltung ermöglicht es dann, historische Verluste und Demütigungen in ein machtvolles kulturelles Narrativ zu verwandeln – in ein gewähltes Trauma. Volkan führt weiter aus, dass dieses gewählte Trauma auf die nächste Generation übertragen werden kann, wenn die Gesellschaft keine Möglichkeit findet, ihre sozialen und politischen Verluste zu betrauern. Auf der Ebene des Individuums haben Wardi (1992), Laub (1998) sowie Gampel (2003, 2006) die transgenerationale Übertragung von Trauma erforscht und beschrieben. Der große Verdienst von Volkan (2000) besteht also darin, die soziale Wirkung massiver traumatisierender Erfahrungen als mentale Repräsentation eines gesellschaftlichen Verlustes oder einer Demütigung zu begreifen und damit ethnische, historische und politische Aspekte in sein Traumakonzept zu integrieren, ohne dabei grundlegende Annahmen der psychoanalytischen Theorie aufzugeben. Eine stärker politisch fokussierte Position nimmt Becker (1992, 2006) ein, der das PTSD-Konzept, wie auch seine hegemoniale Anwendung in Theorie und Praxis, kritisiert. Er geht davon aus, dass es nicht ausreicht, Trauma als einen komplexen und destruktiven intrapsychischen Prozess zu verstehen, der sowohl im Menschen selbst wie auch in der Gesellschaft schwerwiegende Schäden hervorruft. In Übereinstimmung mit Martín-Baró (1990) betont Becker (1992), dass Trauma nur im Sinne eines »psycho-sozialen Traumas« und nur in seinem

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Institutionelle Einflüsse auf Beratung

kulturellen und politischen Kontext zu verstehen ist und nicht nur individuelle, psychische Wunden, sondern auch gesellschaftliche Schäden hinterlässt. Sein Hauptargument gegen die Verwendung des PTSD als diagnostisches Kriterium richtet sich jedoch gegen die implizite Annahme einer posttraumatischen Periode, so wie dies PTSD begrifflich nahelegt. In seinen Überlegungen bezieht sich Becker dabei auf die Untersuchungen von Khan (1963), der darauf hingewiesen hat, dass Trauma ein kumulativer Prozess ist, sowie auf die Erkenntnisse von Keilson (1979), der auf die sequenziellen Prozesse von Traumatisierungen aufmerksam machte. Becker (1992) argumentiert, dass Trauma immer ein kontinuierlich wirkender, nie endender, schmerzhafter Prozess ist, dessen Symptome eventuell geheilt werden können, doch weder können das traumatische Erlebnis noch die Erinnerung daran jemals zum Verschwinden gebracht werden. Diesem Argument schließt sich auch Varvin (2003) an und schreibt: »In ernsten Fällen wird Trauma nicht nur spürbar bleiben als eine andauernde und alltägliche Erinnerung an das Erlebte, sondern es wird auch die Art und Weise beeinflussen, wie die Welt gesehen und erlebt wird, wie Beziehungen zu anderen erfahren und gestaltet werden und wie der Mensch sich selbst und in der Beziehung zu anderen erlebt« (Varvin, 2003, S. 209). Becker ist deshalb davon überzeugt, dass das PTSD-Konzept grundsätzlich falsch ist, da Trauma nur selten das Ergebnis einer einzigen traumatischen Erfahrung ist. Vielmehr entwickelt sich ein Trauma, so Khan (1963), erst als Konsequenz einer Reihe von Erfahrungen, ohne dass jede dieser einzelnen Erfahrungen zwangsläufig schon an sich eine traumatisierende Qualität hätte. Doch unter spezifischen Bedingungen mag dieses traumatisierende Erlebnis eine Intensivierung, eine Erweiterung oder eine Kondensierung erfahren und dadurch zum psychischen Zusammenbruch der Person führen. Dies hatte auch Keilson (1979) schon in seinen Behandlungen jüdischer Waisen in den Niederlanden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hervorgehoben. Er konnte zeigen, dass das Trauma dieser Kinder nicht mit dem Ende des Krieges endete, sondern dass es auch das repressive politische Klima, die Erfahrung eines administrativen und organisatorischen Missbrauchs und die emotionale Vernachlässigung dieser Kinder in der Nachkriegszeit waren, die zur Chronifizierung des Traumas führten. Von daher ist gerade das politische Klima in einer Nachkriegsgesellschaft und der politische Umgang mit den Kriegsgräueln ein entscheidender heilender oder nicht heilender Faktor in der psychotherapeutischen Behandlung eines traumatisierten Menschen. Nun können Menschen allerdings auch traumatisiert werden, obwohl sie nicht unmittelbar, sondern nur in ihrem sozialen Umfeld traumatisierende Erfahrungen erlebt haben. Von Figley (1995) als »Sekundäre Traumatisierung«

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bezeichnet, betrifft dies Menschen, die in ihrem engeren Familienzusammenhang oder in ihrem Freundeskreis traumatische Ereignisse gesehen haben oder die als professionale Helfer Zeugen von Traumatisierungen wurden. Denn wie Erikson (1995) schreibt, durchbricht »massives Trauma […] soziale Bindungen, untergräbt Gemeinschaft, zerstört alle existierenden Netzwerke, die Unterstützung anbieten könnten, und traumatisiert selbst jene Mitglieder einer Gemeinschaft […] die während der Katastrophe oder der Verfolgung gar nicht anwesend waren« (Erikson, 1995, S. 185). Das heißt, massives Trauma betrifft eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und niemand, der in dieser Gesellschaft lebt, kann sich dem entziehen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, »dass nicht alle, die einem Trauma ausgesetzt waren, auch posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln« (Varvin, 2003, S. 207). Die bisherigen Ausführungen zeigen also, dass es nicht nur auf das singuläre traumatisierende Ereignis ankommt, da Trauma immer das Ergebnis einer kumulativen Erfahrung und eines sequenziellen Prozesses im Rahmen eines konkreten politischen und sozialen Kontextes ist. Die Gesamtheit dieser Faktoren trägt dazu bei, dass Trauma sehr unterschiedlich erlebt wird, und zwar auch dann, wenn alle die gleiche traumatisierende Erfahrung erlitten haben. So haben Wardi (1992) und Gampel (2003) in ihren Studien über die zweite Generation von Holocoust-Überlebenden aufgezeigt, dass einige dazu tendierten, Leistungsträger ihrer Gesellschaft zu werden. Andere Kinder von Überlebenden hingegen entwickelten schwere psychische Probleme, etwa eingeschränkte Realitätswahrnehmungen und paranoide Träume (Grubrich-Simitis, 1981). Trauma beschädigt also nicht nur die Fähigkeit zu lieben und zu arbeiten, sondern auch die Fähigkeit, gesunde Aggressionen zu entwickeln. Aus diesem Grunde richten viele Opfer die Aggression gegen sich selbst. Denn traumatisiert zu sein bedeutet, nicht mehr in der Lage zu sein, gesellschaftlich akzeptierte Formen von Aggression, Wut und Ärger zu entwickeln oder Ambivalenzen zu ertragen, die aber als vitale Reaktion und wichtige Ressource unabkömmlich sind, wenn es darum geht Ambiguität und widersprüchliche Botschaften, die in jeder menschlichen Kommunikation auftauchen, zu entziffern. Es lässt sich also festhalten, dass Trauma die Fähigkeit, soziale Bindungen einzugehen, untergräbt, da »das soziale Gewebe einer Gemeinschaft auf eine ähnliche Weise beschädigt sein kann wie das Gewebe von Geist und Seele« (Erikson, 1995, S. 185). Trauma tendiert deshalb dazu, soziale Regeln, die unsere intimen menschlichen Beziehungen wie auch unsere sozialen und professionellen Bezüge regeln, außer Kraft zu setzen, sodass sich auch in Institutionen ­hochaggressive Dynamiken entwickeln, die zu einer Atmosphäre von Missgunst, Paranoia und Denunziantentum führen können.

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Im Weiteren möchte ich aufzeigen, wie massive Traumatisierungen, die nicht betrauert werden können, auch in Strukturen und Arbeitszusammenhänge von Organisationen eindringen und hier schwere, organisatorische Deformationen verursachen. Im Vordergrund steht hierbei ein persönlich erlebtes Fallbeispiel aus einem Workshop in Guatemala. Aus diesem Grunde ist es zunächst notwendig, die historische und gesellschaftliche Situation Guatemalas zu skizzieren, um so, zumindest ansatzweise, Hintergründe massiver Traumatisierungserscheinungen plausibel werden zu lassen. In einem zweiten Schritt geht es um eine Schilderung meiner Erfahrungen in einem Workshop in Guatemala, die einer ethnopsychoanalytisch konnotierten Gegenübertragungsanalyse unterzogen werden, um auf diese Weise Zugang zu verborgenen und tabuisierten organisationsimmanenten Konflikten zu erlangen. Die Nachkriegsgesellschaft in Guatemala Guatemala gilt als eines der landschaftlich reizvollsten Länder Zentralamerikas, mit zauberhaft bunten, indianischen Märkten und tief im Regenwald verborgenen Maya-Ruinen. Wenig bekannt ist jedoch, dass hier ein grausamer und 36 Jahre währender Krieg herrschte, dem mehr als 200 000 Menschen zum Opfer fielen (Jones, 2006, S. 77). Untersuchungen haben bestätigt, dass mehr als 400 indianische Dörfer ausgelöscht und mehr als 600 Massaker registriert wurden. Obwohl diese Menschenrechtsverletzungen von zwei verschiedenen Wahrheitskommissionen (REMHI, 1998; CEH, 1999) dokumentiert wurden, hat es bis heute keine offizielle politische Anerkennung dieses gegen die Maya-Bevölkerung gerichteten Genozids gegeben. Auch musste sich bislang keiner der ranghohen Militärs wegen der Verletzung von Menschenrechten vor Gericht verantworten. Siebzehn Jahre nach Beendigung des Krieges gilt Guatemala heute als eines der ärmsten und zugleich gewalttätigsten Länder des Kontinents: Bei einer Armutsrate von 30 % wird es nur noch von Haiti übertroffen und hinter Honduras und El Salvador weist Guatemala eine der höchsten Mordraten nicht nur des Kontinents, sondern der Welt auf (UNODC, 2012). Nur 2 % aller Morde werden aufgeklärt. Im Anschluss an die Unterzeichnung der Friedensverträge 1996 hatte sich die guatemaltekische Regierung zwar verpflichtet, einen Friedens- und Versöhnungsprozess zu initiieren, jedoch stand der Implementierung die Haltung der Militärs entgehen, die sich durch die Friedensverträge um ihren gerechten Sieg betrogen fühlten. Von daher kam es auch nach dem Krieg weder zu einem

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gesellschaftlichen, geschweige denn politischen Wandel. Die Gewalt des Krieges hat sich auf die Straßen und in die Familien und schließlich auch in die Institutionen des Landes verlagert. In manchen »Friedenszeiten« sind mehr Menschen ums Leben gekommen als während des bewaffneten Konfliktes. Die massiven Traumatisierungen, die während des Krieges entstanden, wurden bislang nicht betrauert, sondern nur tabuisiert, sodass sie in der Nachkriegsgesellschaft in den Gewaltexzessen virulent bleiben. Sie kommen jedoch symptomatisch in der Anomie, Polarisierung und Fragmentierung der Gesellschaft und in der Rigidität und der Willkür der autoritär regierten, hierarchisch strukturierten Organisationen zum Ausdruck. Ein schwacher Staat, aber auch weit verbreitete Korruption in Politik, Justiz und Polizei, Straflosigkeit, extreme Gewalt, hohe Jugendkriminalität sowie politische Parallelstrukturen und der zunehmende Einfluss mächtiger Drogenkartelle haben Demokratisierungs- sowie Friedens- und Versöhnungsprozesse in der Nachkriegsgesellschaft teilweise gänzlich verhindert. Deshalb hat sich eine Reihe von internationalen Organisationen in Guatemala engagiert, um die Regierung in ihrer Umsetzung der Friedens- und Demokratisierungsbemühungen zu unterstützen. Auch die deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ, heute GIZ), die schon lange in Guatemala tätig war, bot Unterstützung an, um den Friedens- und Demokratisierungsprozess voranzubringen. In diesem Programm für Frieden und Versöhnung (PCON) war ich seit 2000 als Kurzzeitexpertin tätig und ab 2005 zuständig für die Entwicklung eines Curriculums. Gemeinsam mit Dr. Vilma Duque war ich für die Durchführung einer psychosozialen Supervisionsausbildung verantwortlich, die 2008 endete und seither vom Evangelischen Entwicklungsdienst und einer guatemaltekischen NGO weitergeführt wird. Im Rahmen dieser Kurzzeiteinsätze leitete ich 2010 einen Workshop für die Mitarbeiter einer nationalen Organisation zum Thema »Psycho-emotionale Unterstützung und Stressmanagement«. Bei der Organisation handelte es sich um eine neu gegründete, landesweit operierende Einrichtung, die im Rampenlicht der politischen Öffentlichkeit stand, sollte sie doch das malade System der Strafverfolgung auf eine wissenschaftlich fundierte Basis stellen. Der politische Druck, der auf dieser Organisation lastete, war enorm und die Mitarbeiter ächzten unter der Arbeitsbelastung. Die Direktorin der Organisation nahm Kontakt zur GIZ auf und bat um Unterstützung. So kam die Idee auf, einen Workshop anzubieten, der einerseits emotionale Unterstützung, andererseits Techniken des Stressmanagements und, wie die Direktorin schriftlich mitteilte, auch Möglichkeiten individueller Katharsis anbieten sollte.

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Geplant waren zwei jeweils zweitägige Workshops für jeweils 16 Personen. Das Konzept des Workshops bestand aus einem Mix gruppendynamischer Übungen, theoretischer Inputs sowie Einheiten zur Reflexion arbeitsbezogener Erfahrungen und wurde mit beiden involvierten Organisationen abgestimmt. Der Workshop in Guatemala Als ich in Guatemala ankam, wurde mir vom Fahrer, der mich abholte, mitgeteilt, dass der Workshop am nächsten Morgen nicht wie geplant um neun, sondern um acht Uhr beginnen sollte. Eine Erklärung für die zeitliche Verschiebung gab es nicht. Am nächsten Morgen begegnete ich im Tagungshaus einer überraschend großen Gruppe von Anwesenden. Wie sich herausstellte, waren nicht nur die Direktorin der Organisation, sondern auch der Landeschef der GIZ, die Leiterin des Programms und eine Reihe weiterer Personen zur Begrüßung angereist. Mit kurzweiligen Reden wurden die Teilnehmer willkommen geheißen und auf das Ereignis, sprich den Workshop, eingestimmt. Diese unangekündigte und sicherlich als freudige Überraschung gemeinte Willkommens-Party hatte aber zur Folge, dass damit sowohl mein inhaltliches Konzept wie auch der zeitliche Rahmen unhaltbar geworden waren. Damit nicht genug: Als die Gäste endlich das Tagungshaus verließen und ich die Gruppe der Teilnehmenden in Augenschein nahm, sah ich mit Erstaunen, dass nicht 16 wie vereinbart, sondern 23 Personen anwesend und auch für den zweiten Workshop 25 Teilnehmer eingeladen waren. Mein Konzept war jedoch für eine Gruppe von 16 ausgelegt. Noch während ich versuchte diese Überraschungsaktion mit ihren Folgen zu realisieren, kam eine sehr smart aussehende, junge Frau mit Schreibblock und Stift in der Hand auf mich zu und sagte lächelnd: »Sie haben doch sicherlich nichts dagegen, wenn ich mich hinten in den Raum setze?« Nein, dachte ich, wir haben doch im Vorfeld ausdrücklich die Teilnahme einer Beobachterin ausgeschlossen, war aber so perplex, dass ich nur noch »okay« murmelte. Während der folgenden Arbeitssitzungen war ich damit beschäftigt, das Konzept von Minute zu Minute an die veränderte Zeitstruktur anzupassen, sodass ich die Beobachterin hinten im Raum vergaß. Die Gruppe schien die interaktiven und gruppendynamischen Übungen zu genießen, war sehr interessiert an den theoretischen Inputs und zeigte sich außerordentlich diskussionsfreudig, wenn es um die Verknüpfung von Theorie und konkreter Arbeitssituation und -erfahrung ging. Sie machten insgesamt einen zugewandten, freundlichen und hochmotivierten Eindruck.

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Inmitten unserer lebhaften Diskussionen bemerkte ich irgendwann einen Teilnehmer, der für einige Minuten auf seinem Stuhl einschlief. Nachdem dies mehrfach geschehen war, sprach ich ihn in einer seiner wachen Minuten an. Ob er müde sei, wollte ich wissen. »Ja«, sagte er. »Ich habe nur wenige Stunden geschlafen. Ich wurde gestern um zehn Uhr nachts angerufen und es wurde mir mitgeteilt, dass ich an diesem Workshop teilzunehmen hatte.« Da er fern der Hauptstadt wohnte, musste er schon um vier Uhr morgens aufbrechen, um rechtzeitig anzukommen. Seine Worte schienen ein Ventil zu öffnen. Mehrere Personen beklagten sich nun, dass sie ebenfalls kurzfristig zu diesem Workshop, dessen Thema sie noch nicht einmal kannten, eingeladen worden waren und sich nun fragten, warum man sie ausgewählt hatte, fürchteten sie doch, dass die Wahl auf sie gefallen sein könnte, weil sie gestresster wirkten als die Kollegen. Sie waren voller Schuldgefühle, da die Kollegen ihre Arbeit nun mit zu erledigen hatten. In der Organisation war es offenbar nicht ungewöhnlich, überfallartig Anordnungen zu erhalten, die sofort auszuführen waren, sodass jeder potenzielle Widerspruch im Keim erstickt wurde. Das hatte ich ja auch erlebt, und zwar gleich mehrfach. Nun wurde langsam deutlich, woher der Stress in dieser Organisation kam. Die Mitarbeiter berichteten nun weiter über den Druck, schneller zu arbeiten, sodass sie abends erschöpft nach Hause gingen, schon um acht Uhr im Bett lagen und nicht mehr in der Lage waren, zu sprechen. Einige waren den Tränen nahe, als sie von den enormen Belastungen sprachen, die mit ihrer Arbeit verbunden waren. Viele erzählten auch, dass sie ihre Arbeit ohne jedes Gefühl verrichteten, wie Automaten. Zugleich aber betonten sie, dass sie außerordentlich stolz waren auf ihre Arbeit, es war eine Pioniertätigkeit mit wissenschaftlichem Anspruch und sie arbeiteten für eine wichtige, nationale Organisation, für eine bessere Justiz und mehr Gerechtigkeit. Außerdem verdienten sie dreimal so viel wie zuvor. Sie waren sich darin einig, dass sie zur professionellen Elite ihres Landes gehörten, aber innerhalb ihrer Organisation keine Anerkennung erfuhren. Dann kam die Mittagspause und die junge Frau, die den ganzen Morgen über hinten im Raum gesessen hatte, verließ das Tagungshaus und ich sah, dass sie einen ganz mit Steno gefüllten Schreibblock im Arm hielt. Zu Beginn der Nachmittagssitzung war kein Überwachungspersonal zu sehen, wie ich mit Erleichterung feststellte. Doch dann öffnete sich plötzlich die Tür und eine andere, sehr adrett gekleidete Frau, mit Schreibblock und Stift in der Hand, machte Anstalten, zielstrebig auf den Stuhl im hinteren Teil des Raumes zuzusteuern. Ohne Nachzudenken sprang ich auf und bat sie, höflich, aber bestimmt, draußen zu warten. Sie hielt inne, erstarrte in ihrer Bewegung

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und verschwand mit einem verkrampften Lächeln auf dem Gesicht. Die Gruppe schien ebenfalls erstarrt und aus ihren Blicken sprach Verblüffung, Bewunderung, aber auch Scham. Niemand sprach ein Wort. Im Verlauf der Arbeit fiel mir jedoch auf, dass, wann immer jemand ansetzte, etwas zu sagen, er oder sie den Kopf nach hinten drehte, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich niemand mehr da saß, und erst dann wurde gesprochen. Diese Geste kam mir vor wie eine Bestätigung meiner Intervention, war ich doch davon überzeugt einen geschützten Raum für einen erfahrungsreichen Arbeitsprozess geschaffen zu haben. Am Ende des Tages kamen viele, um sich persönlich von mir zu verabschieden, mit Umarmungen und Küssen links und rechts auf die Wangen, so wie es in Guatemala üblich ist. Einige betonten, wie sehr ihnen der Workshop gefallen habe und dass sie bereits vieles gelernt hätten und sie sich auf den nächsten Tag freuten. Zurückgekehrt in das Büro der GIZ erwartete mich schon die Leiterin und fragte, wie denn der Workshop verlaufen sei. Ich teilte ihr meine Eindrücke mit und betonte, dass, soweit ich erkennen konnte, die meisten zufrieden schienen und die Gruppe sich, nach eigenem Bekunden, auf den nächsten Tag freute. Daraufhin wurde mir mitgeteilt, dass die Direktorin der nationalen Organisation angerufen und nicht nur den Workshop am nächsten Tag, sondern auch den zweiten Workshop abgesagt hatte. Es habe schwerwiegende Klagen von Seiten einiger Teilnehmer gegeben, die wissen ließen, dass sie unter keinen Umständen bereit wären, weiter an dem Workshop teilzunehmen. Ich hätte die Organisation verleumdet und deshalb sei es mir nicht mehr erlaubt, mit dem Workshop fortzufahren. Es schien unfassbar. Diese Mitteilung stand vollkommen im Widerspruch zu meinem Erleben im Workshop. Ich war den Tränen nahe. Was nur war geschehen? Als Gruppenanalytikerin war ich es doch gewohnt, Widerstand, Abwehr, Aggression, Hemmung und Angst in einer Gruppe wahrzunehmen. Hatte ich all dies übersehen und nichts davon wahrgenommen? Noch inmitten dieser Verwirrung begannen erste Bemühungen, die Vorfälle aufzuklären. Ergebnis der Überlegungen war, dass es falsch gewesen sei, 1. die Beobachterin aus dem Raum zu schicken, denn dies würde im guatemaltekischen Kontext als eine schwere Aggression verstanden, und 2. den Teilnehmenden erlaubt zu haben, über ihre arbeitsbedingten Schwierigkeiten zu sprechen, dies würde als Zeichen der Illoyalität begriffen. Diesem Verständnis konnte ich mich nur partiell anschließen und so bestand ich auf einer Klärung der Angelegenheit mit der Direktorin der Organisation.

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Nach mehreren Telefonaten, die von einem guatemaltekischen Mitarbeiter geführt wurden, einigten wir uns auf einen Kompromiss. Der bereits begonnene Workshop würde fortgesetzt, jedoch würden an dem zweiten Workshop maximal sechs Mitarbeiter aus der Verwaltung teilnehmen. Da der Vertrag mit der GIZ mich verpflichtete, zwei Workshops durchzuführen, gab es keine andere Möglichkeit, als dem zuzustimmen. Am nächsten Tag erschienen 24 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, gut gelaunt, scherzten und lachten mit mir, umarmten und küssten mich zur Begrüßung und waren begierig, mit dem Workshop fortzufahren. Ich hatte kaum geschlafen, saß erschöpft auf meinem Stuhl, schaute in die Runde und fragte mich, wer die Spione und Verräter in der Gruppe waren. Es war jedoch klar, dass diese Situation nicht ansprechbar war, und so begannen wir zu arbeiten, als ob nichts vorgefallen wäre. Es entwickelten sich lebhafte Diskussionen, wie am Tag zuvor, es bestand großes Interesse an den Inputs, es gab Spaß und Lachen bei den Übungen, allerdings auch tiefe Erschütterung und Tränen, wenn Einzelne von ihren Fällen, die sie betreuten, berichteten. Die am Ende des Tages durchgeführte anonymisierte Evaluation ergab ein Ergebnis zwischen sehr gut bis exzellent. Die einzige handschriftlich eingefügte Kritik bezog sich auf meine Spanischkenntnisse, die, so das Votum eines Teilnehmers, besser hätten sein können. Dem war absolut zuzustimmen. Denn tatsächlich reduzierten sich meine Spanischkenntnisse am zweiten Tag drastisch und die bislang vorhandene relativ fließende Beherrschung der Sprache wie auch jede linguistische Kreativität waren abhandengekommen. Die Bemühung, meine Gefühle zu kontrollieren, absorbierte alle Energie, auch die Fähigkeit zu kommunizieren. Störungen des Rahmens, Überwachung und Denunziation Neben den vordergründigen Fragen, wer die Spione und Verräter in der Gruppe waren und wie eine kulturangemessenere Intervention hätte aussehen können, fiel bei näherer Betrachtung auf, dass dieser Workshop von einer Reihe von irritierenden Auffälligkeiten gekennzeichnet war, die erklärungsbedürftig waren: 1. zunächst mehrfache, nicht abgesprochene Setting-Veränderungen, 2. eine dezidiert gegen unsere Vereinbarung durchgesetzte Überwachung des Workshops, 3. gezielte Denunziation. Die Setting-Veränderungen beinhalteten dabei sehr weitreichende Eingriffe in den von mir gesetzten Rahmen für die Arbeit:

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Zeiten wurden geändert, ohne vorherige Absprache, die Initiative den Workshop zu beginnen wurde mir verwehrt, die Zahl der Teilnehmenden war einseitig erhöht worden, Regelungen zur Wahrung der Vertraulichkeit waren gebrochen und eine zuvor explizit ausgeschlossene Überwachung war etabliert worden.

Diese auf den Rahmen der Veranstaltung zielenden Eingriffe beinhalteten zunächst einen Bruch aller zuvor getroffenen Vereinbarungen, aber darüber hinaus auch eine manifeste Aggression, einen Akt der Gewalt, die darauf zielte, mich in meiner Leitungsrolle zu depotenzieren und mir meine Abhängigkeit vor Augen zu führen. Es gab kein Vertrauen, keinen Dialog, nur ein Herrschaftsverhältnis und eine Direktorin, die Gehorsam und Unterordnung erwartete. Wurde in dieser Organisation so mit »Untergebenen« verfahren? So waren die Teilnehmer verpflichtet worden, an einem Workshop teilzunehmen, ohne dass ihnen der Titel mitgeteilt wurde und ohne zu begründen, warum sie als Teilnehmer ausgewählt worden waren. Das erzeugte Ärger, Widerstand und Unbehagen, Gefühle, die sich auch mir in diesem Workshop aufdrängten, die jedoch zu unterdrücken waren, galt es doch im Fall der Mitarbeiter, dankbar zu sein für das Privileg, an dem Workshop teilzunehmen und nicht arbeiten zu müssen. Als Leiterin des Workshops erlebte ich mithin einen kleinen Ausschnitt einer Realität, die die Mitarbeiter täglich erlebten. Sie waren nicht nur in ihrem beruflichen Alltag mit den Gewaltexzessen ihrer Gesellschaft befasst, sondern sie waren – trotz ihrer durchaus privilegierten Position – einem Herrschaftssystem unterworfen, das auf rigiden hierarchischen Strukturen und autoritären Machtverhältnissen beruhte. Sie hatten es zu ertragen, dass in ihrer Arbeit ständig Grenzen verletzt, lange Schichten gearbeitet und an Wochenenden Noteinsätze gefordert wurden und es dafür selbstverständlich keinerlei Ausgleich, noch nicht einmal Anerkennung gab. Sie hatten Berichte mit den absurdesten Details zu verfassen, ein tägliches Pensum an Fällen zu bearbeiten, was einem jedem Anspruch an Menschlichkeit Hohn sprach, und sich mit Fällen zu befassen, die sie zum Erbrechen brachten. Doch weder Kritik noch Klagen waren erlaubt, sie hatten einfach nur zu funktionieren. Bis zur Erschöpfung zu arbeiten und damit alle Empfindungen zu betäuben, war von daher eine Strategie des beruflichen Überlebens. Nur wenn sie ihre Belastbarkeit bis an die Grenzen der Erschöpfung ausdehnten, waren sie in der Lage, ihre extrem schwierige Arbeitssituation zu ertragen. Dann fühlten sie nichts mehr und alles Leid und aller Horror, den sie tagtäglich in ihrer Arbeit erlebten, verstummten im Zustand vollkommener Erschöpfung. Ihre

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Arbeit verrichteten sie nur noch automatisch, ohne Nachzudenken. Abends gingen sie nach Hause, schliefen und vergaßen. Sie waren, wie Wardi (1992) und Becker (2005) ausgeführt hatten, Hochleister, stolz, zur professionellen Elite des Landes zu gehören, und voller Sehnsucht nach Anerkennung. Dies aber machte es erforderlich, alle Gewalt, die ihnen täglich in ihrer Arbeit und in der Organisation begegnete, zu verleugnen. Die Aggression verwandelte sich in Autoaggression und drohte nun im Burnout zu enden. Die Störungen, die sich aus den Regelverletzungen ergaben, waren von daher ein getreuer Spiegel der Störungen und Verletzungen, die die Arbeitsbeziehungen in dieser Organisation kennzeichneten. Unausgesprochen bleiben musste vor allem die Gewalt, die ihnen in ihrer Arbeit und zugleich in ihren Arbeitsbeziehungen innerhalb der Organisation begegnete. Als sich im Workshop jedoch eine Möglichkeit zur Kommunikation ergab, brach sich das bislang unterdrückte Sprechbedürfnis Raum. Einige erzählten von ihren Erfahrungen, emotional tief berührt und getrieben von dem Wunsch, endlich über das zu sprechen, was sie bewegte. Andere schienen zurückgezogen und wagten oder wollten nicht daran teilhaben. Vielleicht war es ihre Art, zu protestieren gegen die Zwangsverpflichtung zur Teilnahme, vielleicht aber schüchterte der offene Raum auch ein und sie fürchteten, in den Bann des Erzählens gezogen zu werden und eigene Erfahrungen preiszugeben. Vielleicht war das auch der Grund, warum niemand gegen die Anwesenheit der jungen Frau protestiert hatte. Sie war wie ein Sicherheitsventil, das dafür sorgte, dass alle Türen geschlossen blieben und niemand ausbrechen würde aus dem Reigen des Schweigens. Mit ihrem Verschwinden aber entfiel diese Sicherheit und das löste Erleichterung, aber auch Angst und Schrecken aus, denn nun wurde ein Konflikt sichtbar, der weder zu verbergen noch zu verleugnen war. Meine Intervention zeugte zweifellos auch von Widerstand und Aggression, die sich gegen eine Mitarbeiterin der Organisation und damit indirekt auch gegen die Direktorin dieser Organisation richtete, die sicherlich diese Überwachungsmaßnahme angeordnet hatte. Ein offener Protest aber war generell in guatemaltekischen Organisationen undenkbar und wenn überhaupt, dann nur auf Umwegen möglich. Protest aber bedeutete Illoyalität und dies stellte Herrschaft, Macht und damit die autoritäre Ordnung innerhalb der Organisation in Frage und musste deshalb unterbunden werden, es hätte ja zur Nachahmung verführen können. Als im Workshop Kritik laut wurde, die sich gegen die täglich erfahrene Gewalt in ihrer Arbeit, aber auch gegen ein Management richtete, das nicht in der Lage war, Einladung und Auswahl der Teilnehmer transparent zu gestalten, löste das bei einigen Teilnehmenden vermutlich Angst aus. Die Organisa-

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tion, die sie zwar auch knechtete, die ständig sämtliche Grenzen des Zumutbaren überschritt, die ihnen aber auch ein ordentliches Gehalt zahlte, musste geschützt werden, ebenso die Direktorin. Die Denunziation war von daher ein Weg, Loyalität gegenüber der Vorgesetzten zu zeigen, gleichzeitig die im Workshop zu Tage getretenen Klagen ungeschehen zu machen und die Aggression zu verleugnen, indem sie auf mich gelenkt wurde. Die Denunziation bot von daher eine Möglichkeit, die Direktorin mit ihrem Herrschafts- und Machtanspruch zu rehabilitieren, schließlich hing von ihr immerhin Arbeit, Gelderwerb und Status ab, all das, worauf die Mitarbeiter stolz waren und was sie unter keinen Umständen verlieren wollten. Die Denunziation erlaubte von daher nicht nur eine Identifikation mit der Vorgesetzten und diente indirekt auch dem Selbstschutz, sondern darüber hinaus beinhaltete die Denunziation vor allem eine Identifikation mit dem Aggressor und bot einen Ausweg aus dem Konflikt. Was ich wusste, jedoch unterschätzt hatte, war der enorme Wunsch, in einem geschützten Raum, frei und ohne Angst zu sprechen über eigene Erfahrungen, über das, was einen belastete, verwirrte, ärgerte, was einem den Schlaf raubte. Jedoch gab es in Guatemala, das Tätern von Menschenrechtsverletzungen Freiheit statt Strafe gewährte und das nicht in der Lage war, die Leiden der Opfer offiziell anzuerkennen, keine geschützten Räume. Unter den gegebenen politischen Bedingungen war ein Raum, der zur Kommunikation aufforderte, gefährlich, denn er verführte zur Selbstpreisgabe und dies konnte, wenn schon nicht das Leben, so doch den Arbeitsplatz kosten. Genau dies wurde exemplarisch an mir und der versuchten Kündigung meiner Arbeit zum Ausdruck gebracht. Dann blieb nur das, was sich im Workshop am zweiten Tag reinszenierte: das Schweigen, die Verleugnung und das Einfrieren aller Gefühle, sodass selbst die Konflikte zum Schweigen gebracht wurden. Nur eine anonyme Kritik an meinen Sprachkenntnissen blieb als Hinweis auf einen Konflikt, der darauf hindeutete, dass ich eine Fremde war und von daher nicht zu ihnen gehörte. Vor diesem Hintergrund war auch die Denunziation ein wirksames Mittel und eine äußerst effektive psychologische Waffe der scheinbar Ohnmächtigen, um sich letztendlich selbst zu schützen. In Guatemala aber war Denunziation eine der am meisten gefürchteten und in aller Regel auch tödlichen Strategien der Kriegsführung. Denunziert zu werden endete fast immer im Tod. Denunziation war die Kriegswaffe der Schwachen, der Verzweifelten, die damit versuchten das eigene und das Leben der Familie zu retten.

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Spuren eines psychosozialen Traumas in einer Organisation Die Beschreibung und die Interpretation des Fallbeispiels macht ein Drama deutlich, das sich im Workshop reinszenierte: Die Setting-Änderungen, die Überwachung und die Denunziation weisen darauf hin, dass in diesem Workshop nicht nur Aggression und Gewalt, sondern darüber hinaus ein psychosoziales Trauma deutlich wurde, das alle Betroffenen in Mitleidenschaft zog. Es war ja nicht allein die deutlich spürbare Aggression, die in den Regelverletzungen und den Setting-Änderungen zum Ausdruck kam und die als ein erster Hinweis auf ein noch verborgenes Thema hätten gedeutet werden können. Sondern es war die Kombination von aggressiven Regelbrüchen, von autoritärem Verhalten, von Misstrauen, Kontrollbedürfnis und Überwachung sowie einer von Teilnehmern des Workshops inszenierten Denunziation, die schließlich einen auf mich projizierten Konflikt zum Ausbruch brachte. Dabei ging es um den Versuch, mich als Leiterin des Workshops über eine Denunziation abzusetzen. Es war ein Versuch, den Konflikt mit Gewalt zu lösen, in Guatemala eine durchweg übliche Variante. So blieben im Workshop die eigenen Konflikte in der Organisation, mit der Arbeit und mit den Vorgesetzten unsichtbar und es spiegelte sich ein Trauma wider, das die gesamte Organisation und alle Arbeitsabläufe überschattete. Dies kam auf unterschiedliche Art zum Ausdruck: –– Autoritäre Verhaltensmuster prägten alle Arbeitsbezüge. –– Gewalt ersetzte Dialog und Kommunikation. –– Ambivalenzen und Konflikte mussten unter allen Umständen vermieden werden. –– Gehorsam bis hin zur Unterwerfung wurde erwartet. –– Kritik und Protest schienen einer Kriegserklärung gleich. –– Hochleistung bis zur Erschöpfung diente der Konfliktabwehr. –– Denunziation und die Identifikation mit dem Aggressor sicherten das eigene Überleben. Im Verlauf des Workshops zeigte sich, dass diese Symptome eines psychosozialen Traumas nicht mit dem Ende des Krieges und mit der Unterzeichnung des Friedensabkommens geendet hatten. Sie zeigten sich vielmehr in den täglichen Erfahrungen der institutionellen Arbeitswelt in Form von Einschüchterung, von Degradierung, von Demütigung und kamen als verleugnete Trauer und als unterdrückte Aggression in Form von Stress und Prä-Burnout-Symptomen zum Ausdruck. Das Fallbeispiel aber zeigte auch, dass Menschen sehr unterschiedlich auf Traumatisierungsprozesse reagieren. Einige neigen dazu, sich mit dem Aggressor zu identifizieren, da sie sich zu verletzlich und zu schwach füh-

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len und deshalb nicht in der Lage sind, den Konflikt zu ertragen. Andere wiederum, die es wagen, ihre Wünsche und ihre Kritik zu äußern, geben schnell auf, da sie nicht auf Solidarität hoffen können. Wiederum andere verleugnen alle Regungen, Wünsche und Impulse, schließen ihre Augen und ziehen sich zurück, bleiben stumm und schlafen einfach ein. Die institutionelle Unfähigkeit zu trauern ist damit nur ein Spiegel der guatemaltekischen Gesellschaft, die ebenfalls unfähig ist zu trauern. Das psychosoziale Trauma in Guatemala hat also nicht nur die Gesellschaft als Ganzes, sondern auch Organisationen und schließlich das Arbeitsleben deformiert und hat damit Menschen und ihre Art zu lieben und zu arbeiten beschädigt. In vielen guatemaltekischen Organisationen herrscht deshalb das Prinzip des Improvisierens, das aber auf Dauer sowohl Effizienz wie Erfolg verhindert. Eine traumatisierte Institution aber kann keine demokratischen und effizienten Führungsstrukturen entwickeln. Die Angst vor Kontrollverlust ist zu überwältigend und so muss jeder kreative, innovative und selbstreflexive Impuls überwacht und am besten gleich im Keim erstickt werden. Von daher prägen Angst und Unsicherheit Leben und Arbeit. Literatur Becker, D. (1992). Ohne Hass keine Versöhnung. Das Trauma der Verfolgten. Freiburg: Kore. Becker, D. (2005). Auswirkungen organisierter Gewalt. Trauma(arbeit) zwischen individuellem und gesamtgesellschaftlichem Prozess. medico-report, 26, 148–161. Becker, D. (2006). Die Erfindung des Traumas – verflochtene Geschichten. Berlin: edition Freitag. Bohleber, W. (2000). Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 9/10, 797–839. CEH – Comisión para el Esclarecimiento Histórico de Guatemala. (1999). Guatemala. Memoria del Silencio. Guatemala. Erikson, K. (1995). Notes on trauma and community. In C. Caruth (Ed.), Trauma: Explorations in memory (pp. 183–199). Baltimore, MD: John Hopkins University Press. Ferenczi, S. (1931/1972). Kinderanalysen mit Erwachsenen. In Balint, M. (Hrsg.) (1972), Schriften zur Psychoanalyse, Bd. II (S. 274–289). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Figley, C. R. (1995). Compassion Fatigue: Coping with Secondary Traumatic Stress Disorder in those who treat the traumatized. New York: Brunner. Freud, S. (1916–1917). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. G. W. Bd. XI. Wien u. a.: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Gampel, Y. (2003). Reflections on the prevalence of the uncanny in social violence. In A. C. G. M. Robben, M. M. Suárez-Orozco (Eds.), Cultures under siege. Collective violence and trauma (pp. 48–69). Cambridge: Cambridge University Press. Gampel, Y. (2006). Esos padres que viven a través de mí. La violencia de estado y sus secuelas. Buenos Aires, Barcelona, México: Paidós. Grubrich-Simitis, I. (1981). Extreme traumatization as cumulative trauma: Psychoanalytic investigations of the effects of concentration camp experiences on survivors and their children. Psychoanalytic Study of the Child, 36, 415–450.

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Rohr  |  Überwachen und denunzieren

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Ute Schaich

Einflüsse auf die Beratung von Eltern von Kleinstund Kleinkindern in der Kindertagesstätte1

Die (zeitlich begrenzte) Trennung des Kleinst- und Kleinkindes von seinen Eltern, die der Krippenbesuch mit sich bringt, birgt eine hohe Krisen- und Störanfälligkeit, wie die psychoanalytische und bindungstheoretische Krippenforschung eindrucksvoll belegt. Eingewöhnungsmodelle wie das auf der Bindungstheorie beruhende »Berliner Modell« (Laewen, Andres u. Hédervári, 2003) fordern deswegen, dass die Eingewöhnung allmählich, auf das einzelne Kind abgestimmt und unter Mitwirkung der Eltern oder einer anderen primären Bindungsperson erfolgen soll. Dargestellt werden die Einzelheiten einer abgestuften, individuellen Gestaltung der Trennung unter Beachtung einer ausreichend langen Übergangszeit. Die Beteiligung der Eltern oder einer anderen vertrauten Person, auf deren Verfügbarkeit das Kind angewiesen ist, gilt dabei als entscheidender Gelingensfaktor. Gerade weil die begleitende Unterstützung durch die Eltern als sehr wesentlich erkannt wird, gilt es kritisch anzumerken, dass Hintergründe über eine eventuell unzureichende Partizipation kaum beleuchtet werden. Beller stellt hierzu fest: »Die Eingewöhnung darf sich nicht nur auf das Kind beziehen, denn man hilft ihm wenig, wenn man nur auf seine Bedürfnisse eingeht, an die beteiligten Erwachsenen aber lediglich Forderungen stellt und ihnen über ein ›Eingewöhnungsprogramm‹ Anweisungen für ihr Verhalten gibt« (Beller, 2002). Auf diese Weise wird »Elternverhalten, das anders ist, als von der Erzieherin erwartet, […] leicht zum Anlass für Schuldzuweisungen, was die Zusammenarbeit erschwert« (Schaich, 2011, S. 130). Zu beachten ist, dass es beim Aufbau einer triangulären Beziehungsgestaltung zwischen Kind, Eltern und Erzieherin eine Reihe möglicher Risikofaktoren gibt (Textor, 2011, S. 65 ff.). Dies können Schuldgefühle (zum Beispiel angesichts der Wirkmacht rein familienorientierter gesellschaftlicher Mutterbilder), Verlust- und Verlassenheitsängste der Eltern sowie Konflikte und Rivalitäten mit 1

Zur besseren Lesbarkeit wird die weibliche Form der Berufsbezeichnung Erzieherin verwendet.

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Schaich  |  Einflüsse auf die Beratung von Eltern

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den Erzieherinnen sein (Textor, 2011). Der Übergang des Kindes in die Tagesbetreuung stellt also auch für Eltern eine potenzielle Krise dar, für deren Bewältigung sie Unterstützung brauchen. Die dafür notwendige Beratung findet im Aufnahmegespräch, bei der Eingewöhnung, in kurzen Gesprächen beim Bringen und Abholen des Kindes, bei Elternabenden oder bei Gesprächen über die Entwicklung des Kindes statt. Auch auf Seiten der Fachkräfte ist von Störfaktoren auszugehen (Textor, 2011, S. 69 ff.). Benannt werden Ambivalenzen im Hinblick auf die außerfamiliäre Betreuung von Kleinst- und Kleinkindern, Konkurrenzgefühle, Kritik- und Vorwurfshaltungen gegenüber dem Erziehungshandeln mancher Eltern sowie ungünstige Rahmenbedingungen, die eine »bezugspersonenorientierte Eingewöhnung« (S. 75) erschweren. Um schwierige Interaktionsdynamiken zwischen Eltern und Erzieherinnen verstehbar zu machen, sollen sie in diesem Beitrag vor dem Hintergrund psychosozialer Belastungslagen der Eltern einerseits und den Haltungen der Fachkräfte andererseits problematisiert werden. Dabei gilt es zu beachten, dass die psychische Bewältigung der frühkindlichen Trennung nicht nur als individuelle und familiäre Anforderung, sondern auch als kulturelle und soziale Anpassungsleistung betrachtet werden muss, auf die sich die Einrichtungen einzustellen haben. Die Reaktivierung biografischer Trennungserfahrungen der Eltern Das folgende Fallbeispiel stammt aus einer qualitativen Beobachtungsstudie, in der die Autorin (Schaich, 2011) acht Eingewöhnungsgeschichten in zwei Kinderkrippen erhob und tiefenhermeneutisch auswertete. Der methodische Zugang erfolgte über teilnehmende Beobachtungen in der Kindergruppe, Leitfadeninterviews mit den Eltern und Expertinneninterviews mit den Erzieherinnen. Alle Namen wurden geändert und die Daten anonymisiert. Kevin ist 25 Monate alt, als er in die Krippe kommt. Im Elterninterview, das vier Wochen nach seinem Eintritt in die Krippe geführt wurde, erfährt die Autorin, dass sich die Eltern von Kevins Vater scheiden ließen, kaum dass er auf der Welt war. Kevins Vater, der in der DDR aufwuchs, hatte keinerlei Kontakt zu seinem leiblichen Vater. Zudem sah er seine Mutter ab seinem zweiten Lebensjahr nur am Wochenende oder abends, weil sie tagsüber arbeitete. So wuchs Kevins Vater überwiegend bei den Großeltern auf, bis die Mutter erneut heiratete.

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Institutionelle Einflüsse auf Beratung

Die Forscherin empfand das Interview mit ihm als äußerst zäh verlaufend und hatte den Eindruck, dass es ihm schwerfällt, Erinnerungen an seine Erlebnisse mit der Bedeutung seiner Erfahrungen in Verbindung zu bringen. Hierbei handelt es sich um ein Charakteristikum, das George, Kaplan und Main (1985) im Adult Attachment Interview (AAI) unsicher gebundenen Erwachsenen zuschreiben. Woher könnte seine Bindungsunsicherheit kommen? Nach Israel (2008, S. 16) war die Scheidungsrate in der DDR ausgesprochen hoch. Gleichzeitig bestand kaum ein Bewusstsein für den Schmerz und die Dauer kindlicher Trauer beim Verlust des Vaters, wohingegen in Studien über Trennung und Scheidung ausdrücklich auf die Trauer, Wut, Schuldgefühle, Angst und Scham der Kinder hingewiesen wird (Figdor, 1991, S. 34 ff.). Bei Kevins Vater, der zum Zeitpunkt der elterlichen Trennung erst wenige Monate alt war, ist anzunehmen, dass er sich im Verlauf der weiteren Kindheit die Frage stellte, warum der Vater ihn verließ und ob er es nicht wert gewesen sei, dass er mit ihm in Verbindung trat. Zurück bleibt dann, so Figdor, eine »narzißtische Wunde« (1997, S. 40). Auch zwischen Stiefvater und Stiefsohn schien sich keine emotional tragende Beziehung entwickelt zu haben. Er drückt seine Sehnsucht und die erlittene Versagung, ohne den Schutz, den Stolz und die Spiegelung des Vaters aufgewachsen zu sein, indirekt aus, als er sagt, dass die Beziehung zum Stiefvater nicht wie eine richtige Bindung zwischen einem richtigen Vater und Sohn gewesen sei. Auch gibt es in seinem Bericht keine Hinweise darauf, dass er mit seinen Gefühlen und Fragen zum Verlust des Vaters auf emotionale Resonanz gestoßen wäre, um sie verarbeiten zu können. Dieser Teil seiner Biografie ist insofern wichtig, als er während des Eingewöhnungsprozesses und danach kaum in der Lage war, seinen Sohn angemessen zu begleiten und zu schützen, so wie auch er vom Vater nicht begleitet und geschützt, sondern verlassen worden war. Stattdessen kommt der Abwehrmechanismus der »Identifikation mit dem Aggressor« (Freud, 1936/1996) zum Tragen, sodass Kevins Vater seinen eigenen Vater unbewusst nachahmt und seinen Sohn zum Opfer macht. Es erfolgen keine adäquate Wahrnehmung von Kevins innerer Realität und keine Reflexion seiner psychischen Motive. Diese Abwehr kam bereits am ersten Eingewöhnungsvormittag zum Tragen, an dessen Ende sich folgende Konfliktszene zwischen dem Vater und den Erzieherinnen ereignete, während über das weitere Eingewöhnungsverfahren gesprochen wurde: Die Kinder und die Erzieherinnen sitzen um den Tisch. Nach dem gemeinsam gesungenen Namenslied fragt Frau Heim den Vater nach den weiteren Plänen für die Eingewöhnung. Der Vater möchte, dass Kevin erst am kommenden Montag (heute ist Mittwoch) mit der Mutter wiederkommt. Die Mutter habe drei

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Tage (nächste Woche Montag bis Mittwoch) für die Eingewöhnung Zeit, dann solle Kevin ab Donnerstag nächster Woche von 7:30 Uhr bis 17:00 Uhr bleiben. Alle drei Erzieherinnen sagen, dass dies nicht zu schaffen sei. Der Vater erklärt, dass er und seine Frau keinen Urlaub hätten und dass es bei den anderen Kindern auch gehe. Frau Heim erinnert an das Erstgespräch, bei dem sie über den Sinn einer sukzessiven Eingewöhnung sprachen, auch daran, dass Eltern ihren Urlaub so planen sollten, dass sie bis zu zwei Wochen Zeit hätten. Dies stehe in den Unterlagen, die sie ihm mitgegeben habe. Der Vater besteht auf eine Verkürzung. Frau Heim antwortet, dass drei Tage zu wenig seien. Er lässt sich darauf ein, doch zu versuchen, ob er am nächsten oder übernächsten Tag um 10:00 Uhr für ein bis zwei Stunden mit Kevin kommen könne, die Woche danach müsse man schauen. Aber Kevin müsse damit klarkommen, wenn er geht. Die Erzieherinnen wirken sehr aufgebracht.

In diesem Konfliktgespräch, das ungünstigerweise im Beisein der Kinder stattfand, beharrte der Vater auf einer verkürzten Eingewöhnungszeit, die sich nicht am Einrichtungskonzept orientiert. Er ließ die Bedenken der Erzieherinnen an sich abprallen. Die Beobachterin fühlte sich an eine beinharte Verhandlung erinnert, in der der Vater stur auf seinen Forderungen bestand und die Erzieherinnen nicht an ihn herankamen. Argumente im Hinblick auf Kevins Wohl schienen ihn nicht zu erreichen. Sie fühlte sich ohnmächtig, war entsetzt und hatte den Eindruck, dass es den Erzieherinnen ebenso ging. Warum gelang es ihnen nicht, ihr Anliegen zu vermitteln? Vor dem Hintergrund der Biografie des Vaters kann die Szene im Sinne einer »projektiven Identifizierung« verstanden werden: Teile des Selbst werden abgespalten und auf eine andere Person projiziert, die sich gemäß den an sie gerichteten Erwartungen verhält. Anzunehmen ist, dass die Erzieherinnen und die Beobachterin in ihrem Gefühl der Ohnmacht und der Wut Anteile des unbewusst vom Vater abgewehrten Verlassenheitsschmerzes übernahmen, unter dem er als Kind im Zusammenhang mit der Tatsache, dass es keine Verbindung zwischen ihm und seinem Vater gab, litt und der jetzt in Kevins Trennungssituation reaktiviert wurde. Gleichzeitig handelt es sich bei der projektiven Identifizierung um einen interpersonalen Prozess, bei dem im Empfänger komplementäre Gefühle, die in ihm selbst zu finden sind, mobilisiert werden (Finger-Trescher, 2000, S. 134). Das bedeutet in unserem Fall, dass durch das abweisende Verhalten des Vaters in den Erzieherinnen kränkende Entwertungsfantasien in Bezug auf ihre professionelle Kompetenz aktiviert wurden, die sie in einen Zustand von Hilflosigkeit, Ohnmacht, Wut und Selbstzweifel versetzten und die ihre Handlungsfähigkeit einschränkten. Die Kommunika-

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Institutionelle Einflüsse auf Beratung

tion scheiterte und Kevins Eingewöhnung verlief langwierig und für alle Beteiligten sehr anstrengend. Der Fall macht deutlich, dass die Konfrontation mit der Trennungssituation in der Krippe nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den Eltern regressive Prozesse auslösen kann, die unverarbeitete biografische Trennungserfahrungen wiederbeleben und die Einfühlung in das kindliche Trennungserleben erschweren. Neben Scheidung oder Tod der eigenen Eltern betrifft dies auch die Erfahrung von Flucht und Migration (Schaich, 2011, S. 210 ff.). Die Reflexion dieses Konfliktpotenzials kann Erzieherinnen dabei helfen, mögliche Widerstände der Eltern besser zu verstehen und eine offene Haltung zu bewahren. Eltern mit Migrationshintergrund Für die Beratung und Zusammenarbeit mit Eltern aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten ist die Entwicklung eines kultursensiblen Umgangs unerlässlich. Hilfreiche Bezüge sind Auernheimers (2010) »heuristisches Modell zur Interpretation interkultureller Begegnungen«, Fragen zur vorurteilsbewussten Selbst- und Praxisreflexion (Wagner, 2008) sowie ein differenziertes Wissen über kulturelle Bedingungen des Aufwachsens (Keller, 2011). Auernheimer postuliert, »dass bei der Interpretation von interkulturellen Kontakten vier Dimensionen zu berücksichtigen sind: (1) Machtasymmetrien, (2) Kollektiverfahrungen, (3) Fremdbilder und (4) differente Kulturmuster oder Scripts« (Auernheimer, 2010, S. 45, Nummerierung eingefügt durch U. S.). (1) Bei den Machtasymmetrien benennt Auernheimer (2010) unter anderem Aspekte wie »Sprachmächtigkeit«, »institutionelle Strukturen«, »allgemeine gesellschaftliche Verhältnisse und politische Situationen«, außerdem »Status-, Rechtsungleichheit, Wohlstandsgefälle«, ungleiche Verteilung von Ressourcen sowie Macht aufgrund einer bestimmten institutionellen Rolle. Hier gelte es, »Sensibilität für Asymmetrien und negative Erfahrungen [zu entwickeln], ohne der Tendenz zum Paternalismus zu erliegen« (Auernheimer, 2010, S. 58). (2) Bei den Kollektiverfahrungen sind insbesondere Diskriminierungserfahrungen hervorzuheben, die Menschen, die einer Minderheit angehören, im Kontakt mit Personen der Mehrheitsgesellschaft gemacht haben und die in die Matrix der Minderheitengruppe eingegangen sind. Dies könne einhergehen mit einem »generalisierten Misstrauen« und einer »hohen Verletzlichkeit« (S. 50). Für Fachkräfte sei es geboten, eine sorgfältige Analyse der Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehungen vorzunehmen, das heißt, sowohl die eigenen Gefühle, Irritationen und Ängste, die man dem anderen gegenüber hat, wahrzunehmen als auch sich mit den (unbewussten) Erwartungen und Befürchtun-

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gen des Gegenübers auseinanderzusetzen sowie beides für das Verstehen der Kommunikation zu nutzen (Auernheimer, 2010, S. 51). (3) Fremdbilder sind zum Beispiel Bilder von »den Türken«, »den Franzosen« etc. Sie dienen der psychischen Entlastung, weil sie Komplexität reduzieren. Jedoch belasten sie die Beziehung, da sie den Blick auf den anderen verzerren (Auernheimer, 2010, S. 52). Das folgende Beispiel einer Elternberatung in der Kindertagesstätte soll dies verdeutlichen: Die beiden Töchter eines Vaters mit marokkanischem Migrationshintergrund und einer deutschstämmigen Mutter wurden nach einem Dreivierteljahr aus der Krippe abgemeldet, weil die Eltern seit Monaten die Beitragsgebühr nicht bezahlten. Der inzwischen arbeitslose Vater, der die Kinder brachte und abholte, weigerte sich, das zuständige Amt aufzusuchen, um dort über Lösungsmöglichkeiten zu sprechen, obwohl er von den Sachbearbeitern mehrmals dazu aufgefordert worden war und ihn die Einrichtungsleiterin und Erzieherinnen sogar dringend darum gebeten hatten. Die Kommunikation zwischen Institution und Familie scheiterte, sodass es zum Betreuungsabbruch kam.

Vor dem Hintergrund von Auernheimers (2010) Ausführungen ist davon auszugehen, dass Machtasymmetrien, hier unter anderem bedingt durch institutionelle Rollen (ungleiche strukturelle Machtverteilung zwischen der Institution bzw. dem Amt und dem Vater), mangelnde finanzielle Ressourcen und geringe Bildung der Eltern, auf die Interaktion zwischen dem Vater und der Leiterin der Tagesstätte einwirkten. Ebenso belasteten Diskriminierungserfahrungen die Situation. So war es zu verschiedenen Zwischenfällen gekommen, in denen die Eltern aus Sicht der Beobachterin teils zutreffend, teils unzutreffend, das Gefühl hatten, dass sie oder ihre Kinder von anderen Eltern bzw. den Erzieherinnen ausgegrenzt würden. Wahrnehmbar waren zudem eine hohe Anfälligkeit des Vaters für Kränkungen und die Tendenz, hinter Handlungen oder Äußerungen schnell Diskriminierung zu vermuten. All dies hatte Verunsicherungen zur Folge, die es ihm erschwerten, sachlich mit dem Problem umzugehen. Die Folge war, dass er zur Erfüllung der »Kommstruktur«, die zur Lösung des Konflikts erforderlich war, nicht auf die notwendigen autonomen Ich-Funktionen der Aktivität und des rationalen Handelns zurückgreifen konnte. Zu stark wirkten die Scham, Verletzung und Wut darüber, dass das Amt und die Leiterin der Kindertagesstätte ihn in diese erniedrigende Situation gebracht hatten. Stattdessen griff der Vater für die Kinderbetreuung auf das Familiensystem zurück. Das Gefühl der Beschämung, des persönlichen Versagens und der mangelnden Anerkennung

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sowie strukturelle Ungleichheit und Diskriminierungserfahrungen griffen in diesem Fall ineinander. Gleichzeitig mangelte es innerhalb der Institution an der Reflexion und Kontrolle eigener Vorurteile sowie an Angeboten zur niedrigschwelligen Unterstützung von Menschen in schwierigen Lebenslagen. Angesichts der Wirkung der bisher genannten Dimensionen interkultureller Kontakte (Machtasymmetrien, Kollektiverfahrungen, Fremdbilder, Vorurteile und Stereotypenbildung) ist für das Gelingen der Erzieherin-Eltern-Interaktion die vorurteilsbewusste Überprüfung der professionellen Haltung der Erzieherinnen unerlässlich. Hilfreich sind folgende Fragen zur interkulturellen Selbstund Praxisreflexion (Wagner, 2008, S. 207 ff.): –– Welche Situationen mit den Eltern empfinde ich als befremdlich oder irritierend? Wann fällt es mir schwer, ihnen gegenüber aufgeschlossen, zugewandt und einfühlsam zu sein? Was habe ich noch nicht verstanden? –– In welchen Situationen fühle ich mich von den Eltern missverstanden? Was verletzt mich? Was weiß ich über ihre Perspektive? –– Wie wirkt sich mein eigenes kulturelles, familiäres und individuelles »Gepäck« auf mein berufliches Handeln aus? –– Welche Vor- und Nachteile sind mit meinen eigenen Erziehungszielen und -praktiken verbunden? –– Welche Einseitigkeiten und Umstände für Diskriminierungen gilt es in unserer Einrichtung aufzudecken? –– Was weiß ich über kulturell unterschiedliche Erziehungsvorstellungen und Kommunikationsstile? (4) Um der Gefahr der Kulturalisierung entgegenzuwirken, werden in Auernheimers (2010) Modell die differenten Kulturmuster erst an vierter Stelle genannt. Kulturvergleichende Forschungen führen zu einer prototypischen Unterscheidung zwischen individualistischen (westlichen) und kollektivistischen (nicht westlichen) Identitätskonzepten (Oerter, 2008) bzw. zwischen den Modellen der Autonomie und Verbundenheit (Keller, 2011, S. 16). Im autonomieorientierten Modell, das insbesondere in der westlichen Mittelschicht praktiziert werde, sei elterliches Verhalten daran orientiert, das Kind in seiner Subjekthaftigkeit wahrzunehmen und zu bestärken. Die Eltern-Kind-Interaktion zeichne sich durch ein hohes Maß an Blickkontakt, Sprache und Objektstimulation aus (Keller, 2011, S. 50 ff.). Um die kindliche Individualität zu stärken, werde das Kind als gleichwertiger Partner betrachtet. Seine Wünsche, Befindlichkeiten, Vorlieben sowie positive Emotionalität erhielten hohe Beachtung. In kollektivistischen Identitätskonzepten spielen dagegen familiale Bezogenheit, Hierarchie, Loyalität und Verbindlichkeit eine viel größere Rolle (Keller, 2011, S. 17).

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Zu beachten ist, dass diese Terminologie weder polarisierend noch simplifizierend verwendet werden soll. Sie macht jedoch deutlich, dass Erziehungspraktiken und -stile vor dem Hintergrund des jeweiligen kulturellen Bezugsrahmens zu betrachten und zu hinterfragen sind. Borke, Döge und Kärtner (2011) nutzen sie, um zu beschreiben, wie pädagogische Schlüsselsituationen in der Krippe (Eingewöhnung, Schlafen, Essen, Spielen, Sauberkeitserziehung, Gespräche führen mit den Eltern) kultursensitiv reflektiert werden können. Dazu gehört zum Beispiel das Wissen darüber, dass Eltern aus hierarchieund verbundenheitsorientierten Kontexten auf dialogische Gesprächserwartungen der Erzieherin möglicherweise irritiert reagieren, weil die Institution als das Terrain der Pädagoginnen betrachtet wird und das Gebot der Nichteinmischung gilt. Hervorgehoben wird zudem die ethnozentrische Sichtweise des »Berliner Eingewöhnungsmodells« mit dem ihm zugrunde liegenden Bild einer exklusiven Bindung zwischen dem Kind und einer oder wenigen primären Bezugspersonen. Dagegen sei davon auszugehen, dass Kinder aus verbundenheitsorientierten Kulturen von Anfang an in multiplen Betreuungskontexten aufwachsen und an die Versorgung durch verschiedene Personen gewöhnt sind, wodurch sie kaum mit Stress auf die Kontaktaufnahme durch fremde Personen reagierten (Borke et al., 2011, S. 22 f.). Im Gespräch mit den Eltern sei deshalb zu erfragen, ob das Kind bereits Erfahrung mit mehrfachen Betreuungsarrangements habe, um zu prüfen, ob der stufenweise Beziehungsaufbau zu einer Bezugserzieherin notwendig ist. Auch wenn das Kind unterschiedliche Betreuungssettings gewohnt ist, sei es wichtig, für die Eingewöhnung genügend Zeit einzuplanen, damit sich Kind, Familie und Erzieherinnen gegenseitig kennenlernen und Fragen im Hinblick auf den pädagogischen Alltag austauschen können. Das Ziel einer sensiblen und individuellen Eingewöhnung des Kindes steht außer Frage. Empfohlen werden Leitfragen wie –– »Wie sieht außerhäusliche Betreuung von kleinen Kindern in dem Land aus, aus dem Sie stammen? –– Wie ging Ihr Kind mit bisherigen Trennungserfahrungen um? –– Was wünschen Sie sich bezüglich der Eingewöhnung hier und warum?« (Borke et al., 2011, S. 23). Fachkräfte müssen sich darauf einstellen, dass manche Eltern vollkommen andere Vorstellungen von Eingewöhnung haben, als in gängigen Modellen unter dem Stichwort »Miteinbezug der Eltern« subsumiert wird. Die Bereitschaft zur Mitwirkung kann mitunter nicht als Voraussetzung gesehen werden, sondern muss als Ziel definiert sein.

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Als weitere Informationsquelle dient nach Borke et al. (2011) die Beobachtung des Kontakts zwischen dem Kind und der begleitenden Bezugsperson: –– »Wie wird das Kind beruhigt? –– Wie spricht die begleitende Bezugsperson zu ihrem Kind? –– Wie werden Pflegeroutinen erledigt? –– Welche Rituale können von der Betreuungsinstitution, z. B. beim Schlafen, von der Familie übernommen werden?« (Borke et al., 2011, S. 24). Interkulturelle Beziehungen sind jedoch nicht nur durch eine ungleiche Verfügbarkeit von kulturellem, sondern auch von sozialem und materiellem Kapital gekennzeichnet. Im Folgenden wird deshalb erörtert, welchen Einfluss prekäre Lebenslagen auf die Interaktion zwischen Erzieherin und Eltern haben können. Familien in unterschiedlichen sozialen Situationen Die Arbeit mit Familien in sozioökonomisch benachteiligten Lebenslagen stellt besondere Anforderungen an die Kompetenzen und Ressourcen der Fachkräfte. Hilfreich sind Rauchfleischs (2001, S. 89 ff.) Ausführungen über Beratung und Therapie mit Menschen im psychosozialen Feld. Spezielle, auch für die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Erzieherinnen relevante Problemfelder sind demzufolge: hohe Anspruchshaltung und Ablehnung bzw. Entwertung des Engagements der Fachkraft durch die Klienten, impulsives Verhalten, Funktionalisierung der Beziehung, Resignation und Passivität. Um negative Gegenübertragungsreaktionen kontrollieren und professionell handeln zu können, ist es nach Rauchfleisch (2001) notwendig, sich stets die besondere Problematik von Menschen in schwierigen sozialen Lagen bewusst zu machen. So könnten reale Situationen des Zu-kurz-Kommens in Verbindung mit einer hohen psychischen Bedürftigkeit zu einer großen »Anspruchshaltung« (Rauchfleisch, 2001, S. 94) und dem Bestehen auf dem eigenen Recht führen. Gleichzeitig fühlten sich viele Professionelle in ihrem Engagement durch die Klienten entwertet. Mögliche psychodynamische Hintergründe lägen in der »Ablehnung, Zurückweisung und Entwertung« (S. 95), mit denen es die Betroffenen selbst zu tun hatten und die sie unbewusst auch in Situationen mit Menschen, die ihnen helfen wollen, wiederherstellen. Ebenso gelte es, impulsives, als unverschämt empfundenes Verhalten als ein »Agieren innerpsychischer Konflikte« (S. 96) zu verstehen, ohne dabei auf vereinbarte Regeln und Grenzsetzungen zu verzichten. Das kann für Erzieherinnen unter anderem heißen, dass sie versuchen, die Dynamik eines Konflikts zu ergründen, ohne despektierliches Verhalten von Eltern einfach hinzunehmen. Wichtig sei es ebenso, mit »funk-

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tionalisierten Kommunikationsformen« (S. 99) zu rechnen und eigene Wut und Enttäuschung in der Gegenübertragungsanalyse zu bearbeiten, um realistische Erwartungen für die Beratung zu entwickeln. Das bedeutet zum Beispiel, dass eine Einrichtungsleiterin, die sich sehr dafür einsetzt, dass Eltern »Hilfen zur Erziehung« in Anspruch nehmen, es zu verarbeiten hat, wenn sie diese ablehnen, ohne sich enttäuscht zurückzuziehen. Häufige Gegenübertragungsreaktionen sind: »zum einen eigene Resignation der Professionellen und Verlust jeglicher Hoffnung auf irgendeine positive Veränderung, zum anderen Ärger, bis hin zu Wut den Klienten gegenüber, die durch ihre Passivität das professionelle Handeln […] behindern« (Rauchfleisch, 2001, S. 100 f.). Ebenso wie es aber gilt, überhöhte Erwartungen von Eltern gegenüber der Arbeit in der Kindertagesstätte zu relativieren, ist es wichtig, eigene Hoffnungen auf Veränderungsmöglichkeiten der Eltern zu prüfen, um eine optimistische Grundeinstellung vermitteln zu können. Spezifische Konfliktpotenziale liegen jedoch nicht nur in der Interaktion mit Eltern in prekären Lebenslagen. Erzieherinnen erleben sie auch im Kontakt mit (bildungs-)privilegierten Eltern, die ihre soziale Distanz durch betont anspruchsvolles und überheblich wirkendes Verhalten zum Ausdruck bringen. Fazit Kleinst- und Kleinkinder sind in besonderer Weise auf wertschätzende verbale und nonverbale Signale zwischen Eltern und Erzieherinnen angewiesen, um neue Bindungen eingehen und die Trennung in der Kinderkrippe bewältigen zu können. Ein wesentlicher Gelingensfaktor dafür ist, dass Erzieherinnen Eltern in der Phase des Übergangs und danach beraten und unterstützen, um ihnen bei der Verarbeitung eigener Verlustgefühle zu helfen. Die offene und verstehende Haltung der Erzieherin stärkt die Erzieherin-Eltern-Beziehung, auf deren Grundlage es ihr leichter fällt, sich mit ihrer Gegenübertragung und der Geschichte des Kindes auseinanderzusetzen, was wiederum die Bindung zwischen ihr und dem Kind befördert. Dabei ist zu beachten, dass soziale und kulturelle Faktoren das Erleben der Fachkraft-Eltern-Interaktion beeinflussen (vgl. Datler, 2011). Falls die Dynamik dieser Einflüsse bei der Gestaltung des Übergangs nicht berücksichtigt wird, wachsen institutionelle Widerstände, die in Vorbehalten, Misstrauen, Ängsten, Überlegenheits- und Unterlegenheitsgefühlen sowie in einem eingeschränkten gegenseitigen Verständnis zum Ausdruck kommen. Maßnahmen wie Weiterbildung, Supervision und Institutionenberatung dienen dazu, die Fachkräfte bei der Entwicklung einer professionellen Haltung zu

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Institutionelle Einflüsse auf Beratung

unterstützen. Damit die belastenden Gefühle, die aus der Elternarbeit resultieren, gedeutet und neue Sichtweisen und Handlungsoptionen eröffnet werden können, gilt es, die psychodynamischen Entwicklungsaufgaben von Müttern und Vätern zur Übernahme ihrer Elternrolle ebenso in den Blick zu nehmen wie unterschiedliche kulturelle Bilder vom Kind und von Erziehung, unterschiedliche sozioökonomische Lebenslagen sowie die Wirkung spezifischer biografischer Trennungsthemen der Eltern wie Flucht, Migration, Tod oder Scheidung der eigenen Eltern. Zudem müssen die lebensweltorientierte Ausrichtung der Zusammenarbeit und eine auf Konsensfindung abzielende Kommunikation gefördert werden. Eine »respektvolle ethnologische Haltung« (Datler, 2011) ist die Grundlage für die Kommunikation und Beratung von Eltern im interkulturellen Kontext. Literatur Auernheimer, G. (2010). Interkulturelle Kommunikation, mehrdimensional betrachtet, mit Konsequenzen für das Verständnis von interkultureller Kompetenz. In G. Auernheimer (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität (3. Aufl., S. 35–67). Wiesbaden: VS Verlag. Beller, K. (2002). Eingewöhnung in die Krippe. Ein Modell zur Unterstützung der aktiven Auseinandersetzung aller Beteiligten mit Veränderungsstress. Zugriff am 19. 10. 2012 unter http:// www.liga-kind.de/fruehe/202_beller.php Borke, J., Döge, P., Kärtner, J. (2011). Kulturelle Vielfalt bei Kindern in den ersten drei Lebensjahren. Anforderungen an frühpädagogische Fachkräfte. München: Deutsches Jugendinstitut e. V. Datler, W. (2011). Entwicklung pädagogischer Professionalität unter den Bedingungen sozialer und kultureller Vielfalt. Vortrag am 18. 02. 2011 im Rahmen der Fachtagung »Jedes Kind mitnehmen – Soziale und kulturelle Vielfalt als Herausforderung an die pädagogische Professionalität« des »Eigenbetriebs Kindertagesstätten Offenbach (EKO)« in Offenbach. Figdor, H. (1991). Kinder aus geschiedenen Ehen. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag. Figdor, H. (1997). Scheidungskinder – Wege der Hilfe. Gießen: Psychosozial-Verlag. Finger-Trescher, U. (2000). Trauma und Reinszenierung in professionellen Erziehungsverhältnissen. In U. Finger-Trescher, H. Krebs (Hrsg.), Misshandlung, Vernachlässigung und sexuelle Gewalt in Erziehungsverhältnissen (S. 123–138). Gießen: Psychosozial-Verlag. Freud, A. (1936/1996). Das Ich und die Abwehrmechanismen. Frankfurt a. M.: S. Fischer. George, C., Kaplan, N., Main, M. (1985). Adult Attachment Interview. In G. Gloger-Tippelt, (Hrsg.) (2001), Bindung im Erwachsenenalter. Ein Handbuch für Forschung und Praxis (S. 364–387). Bern u. a.: Huber. Israel, A. (2008). Krippenbetreuung in der DDR. In A. Israel, I. Kerz-Rühling (Hrsg.), KrippenKinder in der DDR (S. 12–32). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Keller, H. (2011). Kinderalltag. Kulturen der Kindheit und ihre Bedeutung für Bindung, Bildung und Erziehung. Berlin u. Heidelberg: Springer. Laewen, H.-J., Andres, B., Hédervári, É. (2003). Die ersten Tage – ein Modell zur Eingewöhnung in Krippe und Tagespflege (4. Aufl.). Weinheim u. Basel: Beltz. Oerter, R. (2008). Kulturelle und ökologische Bedingungsfaktoren bei der Entwicklung des Menschen. In R. Oerter, L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (6. Aufl., S. 101–116). Weinheim u. Basel: Beltz.

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Schaich  |  Einflüsse auf die Beratung von Eltern

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Rauchfleisch, U. (2001). Arbeit im psychosozialen Feld. Beratung, Begleitung, Psychotherapie, Seelsorge. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schaich, U. (2011). Schwierige Übergänge. Trennungserfahrungen, Identität und Bildung in der Kinderkrippe. Risiko und Bewältigungsfaktoren aus interkultureller Perspektive. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Textor, M. R. (2011). Erziehungspartnerschaft mit Eltern unter Dreijähriger. In A. Eggert-Schmid Noerr, J. Heilmann, H. Krebs (Hrsg.), Elternarbeit. Ein Grundpfeiler der professionellen Pädagogik (S. 55–86). Gießen: Psychosozial-Verlag. Wagner, P. (2008). Vielfalt respektieren, Ausgrenzung widerstehen – aber wie? Anforderungen an pädagogische Fachkräfte. In P. Wagner (Hrsg.), Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung (S. 203–219). Freiburg: Herder.

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Beatrice Kustor-Hüttl

Schule – das Nadelöhr für den Bildungserfolg in der Migration Aspekte für die interkulturelle Beratung zur Förderung von schulischem Erfolg

»Und am Anfang gab es schon ausländische Kinder. Aber danach sind sie alle sitzen geblieben. Sie sind alle abgegangen. Das gibt es gar nicht, wie wenn so ein Obstbaum Obst verliert, so ganz heftig. Es waren mindestens sechs, die in unserer Klasse waren, und auf einmal war nur noch ich da. Ich fand es schon ziemlich schräg.« (Aussage einer bildungserfolgreichen Akademikerin mit Migrationshintergrund über ihre Erfahrungen in einem deutschen Gymnasium)

Dieser Satz einer Oberstufenschülerin stellt den Versuch dar, die schmerzhafte Erkenntnis zu verarbeiten, sich als einzige Schülerin mit Migrationshintergrund auf dem Weg zum Abitur zu befinden. Die Bedeutung dieser gefühlsmäßigen Anforderungen, denen die Schülerin Hala1 mit ihren eigenen Strategien begegnete, konnte sie weder mit ihren Eltern noch mit der Lehrerschaft in der Schule kommunizieren. Die Schule erwies sich für die Tochter türkischer Migranten als Nadelöhr für ihre Bildungskarriere, da der kreative Raum zur Entfaltung der eigenen Geschichte, die nicht gesehen und gehört werden konnte, fehlte. In den Schulen stoßen familiär geprägte Tendenzen der Erfolgs- oder Misserfolgserwartung, der Anstrengungsbereitschaft, das heißt bestimmte Coping-Strategien auf neue Situationen und Anforderungen. Schule kann als ein protektiver, fördernder Schutzraum oder als ein Ort der Beschädigung erlebt werden. Kinder aus Migrantenfamilien sind an Gymnasien und Realschulen noch immer deutlich unterrepräsentiert, während vor allem Jungen an den Haupt- und Sonderschulen überproportional stark vertreten sind (Toprak u. Nowacki, 2012). Mädchen und Jungen aus Migrantenfamilien sind in der Schule in zweifacher Hinsicht benachteiligt. Zum einen existiert eine herkunftsbedingte Form der Selbstdis1

Dieser Beitrag bezieht sich auf Ergebnisse aus meiner Dissertation, die ich im Rahmen des Forschungsprojektes »Weibliche Strategien der Resilienz, Bildungserfolg in der Migration« an der Universität in Marburg durchführen konnte. Die Namen der Befragten wurden verändert.

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kriminierung durch Bildungsentscheidungen in den Familien. Zum anderen bestehen institutionelle Mechanismen, die sich nachteilig auf den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auswirken können. Gomolla und Radtke (2007) haben vor allem auf die stereotypen Erwartungshaltungen der Lehrkräfte hingewiesen. Die Forschungsergebnisse zu resilienten Bildungsverläufen geben Hinweise auf die Beratung von Lehrkräften, von Kindern und Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund. Bislang sind es eher Mädchen und Frauen, die die Bedingungen in der Migration kreativ und erfolgreich nutzen können (Topcu, Bota u. Khue, 2012). An den Beispielen der bildungserfolgreichen Frauen Hala und Ezra möchte ich verdeutlichen, dass Lehrende wie Beratende über eigene, westlich geprägte Verhaltensvorstellungen für adoleszente Entwicklungsprozesse hinausdenken müssen, um Raum für eine erfolgreiche schulische Verortung von Kindern und Jugendlichen in der Migration zu schaffen. Im Rahmen des qualitativen Forschungsprojektes zu »Weiblichen Strategien der Resilienz« (Kustor-Hüttl, 2011) habe ich Hala und Ezra als bildungserfolgreiche Frauen mit einem Migrationshintergrund porträtiert, die die Anforderungen in der Schule eigenständig meisterten, weil ihre Eltern ihnen bei der inhaltlichen Bewältigung der schulischen Anforderungen nicht helfen konnten. Hala konnte aufgrund ihrer ausgeprägten kommunikativen Fähigkeiten einen guten Kontakt zur Lehrerschaft aufbauen. Die Fähigkeiten zur intuitiven Kommunikation erlernte Hala in ihrer Familie. Es ist das kulturelle Kapital der Familien in der Migration, das maßgeblich zur Bewältigung von Leistungsanforderungen in der Aufnahmegesellschaft beiträgt. Wenn in den Bildungsinstitutionen kein Raum zur Entfaltung dieses Kapitals vorhanden ist, das mit unterschiedlichen kulturellen Bewältigungsmustern korreliert, werden Mädchen und Jungen, aber auch junge Frauen und Männer schulisch wie später beruflich in der Aufnahmegesellschaft ausgebremst. Eine Beratung hat Hala nicht aufsuchen müssen, da sie die in der Schule und im Studium an sie gestellten Anforderungen feinsinnig aufspüren konnte. Als Schülerin konnte Hala gute Beziehungen zu Lehrerinnen und Lehrern aufbauen, sie erlernte die deutsche Sprache2 ohne Schwierigkeiten und konnte die Leistungsanforderungen in der Schule gut bewältigen. Diese Erfahrungen stärkten das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl von Hala und verschafften ihr die Überzeugung, dass sie im Leben Veränderungen gestaltend bewir2

Vgl. Gogolin (2007, 2008). Sie weist in ihren Studien nach, dass das emotional verankerte Erlernen einer Zweitsprache einen über Jahre andauernden Prozess darstellt. Das relativ schnelle Erlernen der deutschen Sprache durch Hala und Ezra, die Fähigkeit zur Kommunikation, diente psychisch gesehen sicherlich auch der Abwehr einer ohnmächtigen, sprachlosen Position.

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Institutionelle Einflüsse auf Beratung

ken könnte. Während der ersten Schuljahre waren die Eltern von Hala in der Lage, eine Brücke zur Schule ihrer Tochter zu schlagen. Die Verbindungen der Eltern zur Schule erwiesen sich als notwendige Voraussetzung für eine gelingende Schulkarriere. Im deutschen Schulsystem kommt dem Schulwechsel von der Grundschule auf eine weiterführende Schule große Bedeutung für die weitere Bildungskarriere zu. Ähnlich bedeutsam ist der Schritt für diejenigen Kinder, die nach einer Migration einen Seiteneinstieg in das deutsche Schulsystem vollziehen müssen (Gomolla u. Radtke, 2007). Quantitative Analysen zum Übergang auf eine weiterführende Schule hatten gezeigt, dass selbst bei gleicher Lernleistung Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund weitaus weniger Chancen im deutschen Schulsystem erhalten (Hradil, 2006). Die Ergebnisse meiner Studie bestätigen, dass die Befragten als Schülerinnen auf dem Weg zu einer höheren Schulbildung von familiärer wie auch von institutioneller Seite Hemmschwellen überwinden mussten, um eine gymnasiale Schulbildung zu erhalten. Unüberwindbare Rahmenbedingungen – der Seiteneinstieg Die Hemmschwellen erwiesen sich für diejenigen Schülerinnen als unüberwindbare Hürden, die zuvor bereits psychisch geschwächt waren, da sie einen Seiteneinstieg in das deutsche Schulsystem verkraften mussten. Die Analyse der Situation des Seiteneinstiegs offenbart, auf welche Weise der Übergang in das deutsche Schulsystem krisenhaft erlebt wird. Als Seiteneinsteigerin in die Grundschule erinnerte sich beispielsweise Ezra an Gefühle der Desorientierung, Kränkung und Beschämung. So kam das Mädchen mitten im Schuljahr in eine Klasse und vermisste traurig das Gefühl der kulturellen Zugehörigkeit sowie der religiösen Orientierung ihres Herkunftslandes. Sie erinnerte sich an das anfängliche Gefühl, sich im fremden Land nicht mehr mit Ritualen, Feiertagen und Festen auszukennen. Sie fühlte sich beschämt, dass sie nach ihrer Migration im Alter von zehn Jahren in die erste Klasse gesetzt wurde. Für die kränkende Erfahrung machte sie ihren Vater verantwortlich, den sie in der Folge aus seiner väterlichen Funktion entließ; bereits in der Grundschule sorgte sie fortan in schulischen Dingen für sich selbst. Die Erfahrung, schutzlos der verständnislosen Haltung von Lehrern und Lehrerinnen ausgesetzt zu sein, wiederholte sich in ihrem Leben. Ezra erlebte nach der Migration mit Eintritt in die deutsche Schule den Verlust haltgebender Rahmenbedingungen: der väterlichen Autorität sowie der stabilisierenden, kulturellen Einbindung und Orientierung.

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Die Verlusterlebnisse in Bezug auf Halt und Orientierung sowie auf die väterliche Autorität können als milde Traumatisierung (Grinberg u. Grinberg, 1990) nach einem migrationsbedingten Seiteneinstieg in die deutsche Schule verstanden werden. Für Ezra erwies sich der Seiteneinstieg in das deutsche Schulsystem nach einer Migration als Hochrisikofaktor für die Entwicklung ihres kindlichen Bildungspotenzials. Offensichtlich ist es für eine effektive Förderung der Kinder in der deutschen Schule notwendig, dass die Eltern bereits selbst einen Anpassungsprozess in der Migration durchlaufen haben. Erst auf dieser Basis kann eine Beziehungsaufnahme zur Lehrerschaft der Schulen gelingen. Es zeigte sich, dass Lehrerinnen und Lehrer ebenfalls fremdeln, das heißt verständnislos bleiben, wenn sie den Eltern von Seiteneinsteigern nach einer Migration begegnen. Eine institutionelle Förderung begabter Kinder bleibt unter diesen Umständen im deutschen Schulsystem weitgehend aus. Die Hürden beim Erreichen höherer Bildungsabschlüsse Hala wurde in Deutschland geboren und musste keinen Seiteneinstieg in das Schulsystem bewältigen, dennoch fehlte ihren Eltern das Selbstbewusstsein, ihre Tochter auf ein Gymnasium zu schicken. Obwohl die Familie schon lange in Deutschland lebte, fühlten sich die Eltern ängstlich, unsicher und stellten sich folgende Fragen: ob ihre Tochter den fachlichen Stoff würde bewältigen können und ob sie sich alleine auf einer höheren Schule würde bewähren können. Die gymnasiale Ausbildung wurde in der Familie durchaus als ein Schritt zu einer Anpassung an die Aufnahmegesellschaft gewertet, der eine Loslösung aus der sozialen, kulturellen und familiären Herkunft notwendig machen würde. Diese Gefühlslagen verunsicherten die Eltern in Bezug auf die Schulwahl für ihre Tochter. In der Familie kamen Rückkehrwünsche in die Heimat auf, die wie Fluchtfantasien anmuten. Die Tochter sollte im Herkunftsland in Sicherheit gebracht werden. Der Wechsel auf ein Gymnasium konnte von Hala bewältigt werden, weil ein Schulterschluss zwischen Familie und Schule erfolgen konnte. Der konstruktive Brückenschlag zwischen Elternhaus und Schule konnte entstehen, weil Hala in Deutschland geboren wurde und ihre gesamte Bildungskarriere in der Migration durchlaufen hatte. Die Eltern zeigten sich äußerst bildungsorientiert und wünschten sich eine weiterführende Schulbildung für ihre Tochter. Auf dieser Grundlage konnten nahe, fördernde Beziehungen zwischen Grundschule und Elternhaus entstehen. Die kommunikative Beziehung zwischen Elternhaus und Schule schuf eine Verbindung und ermöglichte es letztlich Lehrerinnen und Lehrern wie auch der Schulleitung, sich effektiv und fördernd für den Bildungsweg der Schülerinnen zu engagieren. Es gelang der Lehrerschaft, die Eltern von der

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Institutionelle Einflüsse auf Beratung

Begabung ihrer Tochter zu überzeugen und sie zu ermutigen, die Hochschulreife für sie anzustreben.

Bei Kindern, deren Eltern kurz nach der Migration mit den Fragen um einen Wechsel auf eine weiterführende Schule konfrontiert worden waren, konnte keine fördernde Beziehung zwischen Elternhaus und Schule zustande kommen, Lehrerschaft und Eltern hatten eine unüberwindbare Scheu voreinander. Unter diesen Umständen konnten sich die Eltern nicht in der Schule engagieren. Befürchtungen und Ängste behielten die Oberhand und manifestierten die Sprachlosigkeit zwischen Elternhaus und Schule, sodass das Bildungspotenzial der Mädchen im Übergang zur weiterführenden Schule nicht adäquat gefördert werden konnte. Letztlich ist zu vermuten, dass die zögernde, ängstliche Haltung der Eltern auch mit der schulischen Seite korrespondierte. Obwohl Ezra gute Leistungen zeigte, gab es keine fördernde Beratung der Eltern durch die Lehrerinnen und Lehrer. Die Eltern befürchteten das schulische Scheitern ihrer Tochter. Die zeitnahen schmerzlichen migrationsbedingten Trennungserfahrungen aus vielen Beziehungen im Herkunftsland ließen den Eltern keinen inneren Spielraum, ihre Tochter selbstbewusst im fremden Schulsystem so zu verorten, dass die Tochter sich vom Elternhaus würde entfernen können. Schule und Elternhaus hemmten die schulische Entwicklung des Mädchens. Kleinschrittig und mühevoll hat Ezra auf Umwegen ihre schulischen Abschlüsse errungen. Mit den Ängsten und Befürchtungen, die mit der schulischen Entwicklung einhergingen, musste sie eigenständig zurechtkommen. Die Folgen der ausgebliebenen Förderung beschäftigen sie noch bis in die Gegenwart hinein.

Es ist zu vermuten, dass viele begabte Schülerinnen und Schüler aufgrund der Verunsicherung der Eltern und − damit korrespondierend − auch der Lehrerinnen und Lehrer nicht ihr Leistungspotenzial in der Schule ausschöpfen können. Es bedarf einer institutionellen Förderung, um Eltern von Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen Elternhäusern einfühlsam zu ermutigen, ihre Kinder auf eine höhere Schule bzw. in die gymnasiale Oberstufe zu schicken. Durch Weiterbildung und Supervision müssen Lehrerinnen und Lehrer darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie aktiv und ermutigend auf Eltern mit Migrationshintergrund zugehen sollten, um sie zu ermutigen, die Hochschulreife für ihre Kinder anzustreben. Sie müssen das derzeitige System, dass die Hemmschwelle auf dem Weg zur Hochschule nur selbstbewusste Eltern mit ihren Kindern überwinden lässt, selbst ein Stück hinter sich lassen. Beratung und Schulung sind für Lehrerinnen und Lehrer in einer Weise notwendig,

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dass sie nicht mehr fremdeln und Eltern unterschiedlicher kultureller Herkunft angemessen begegnen können. Im Folgenden geht es um die Kompetenzen und Strategien von Hala, die es ihr erlaubten, ihren Weg in der Schule auch weiterhin erfolgreich zu meistern. Innere Distanz bei äußerer Nähe Schule und Elternhaus wurden von Hala als getrennte Welten erlebt. Auf der fachlichen Seite erhielt sie keine Unterstützung durch ihre Eltern. Dennoch wurde ihr schulischer Erfolg durch den Rückgriff auf ein durch das Elternhaus vorhandenes kulturelles Kapital (Bourdieu, 1983) überhaupt erst möglich. Auf der Basis besonderer kommunikativer Kompetenzen konnte sie die geforderten schulischen Leistungen erbringen. So bereiteten Hala die Anforderungen in der Schule keine Schwierigkeiten, weil sie intuitiv wusste, wann welche Leistung von den Lehrerinnen und Lehrern gefordert wurde. Sie wurde Klassensprecherin und später Schulsprecherin. In diesen Funktionen konnte sie erfolgreich Beziehungen im gruppenbezogenen Kontext eingehen. Mit dem Rückgriff auf kulturelles Kapital meisterte sie eine erfolgreiche Anpassung, die ihr schulisches Ansehen verschaffte. Psychisch gesehen konnte sie eine funktionierende Klammer für die Gefühle der Einsamkeit, der Ängste und Verunsicherung schaffen. Sie übernahm Verantwortung in der Schule, eine Haltung, der eine protektive Funktion im Diskurs zur Resilienz (Thomsen, 2002) zugeschrieben wird. Sie verfügte über ausgesprochen gute kommunikative Fähigkeiten. Obwohl sie in der Adoleszenz die unterschiedlichen Normen- und Wertesysteme deutlich wahrgenommen hatte, stellte Hala ihren Bildungserfolg nicht durch Konflikte im Elternhaus infrage und vermied Peerbeziehungen, triebhafte Anteile wurden im leistungsbezogenen Kontext der Schule sublimiert. Besondere psychische Anforderungen stellte die Situation in der Oberstufe, die einzige Schülerin mit Migrationshintergrund in der Klasse zu sein. Diese Erfahrung verdeutlichte Hala unübersehbar, dass sie sich durch den Schulbesuch aus ihrer sozialen, kulturellen und familiären Herkunft entfernt hatte. In der Adoleszenz musste sie mit dem Eindruck, anders zu sein, zurechtkommen. Innerlich blieb sie während ihrer gesamten Schulzeit in einer relativ isolierten Position, ohne sich gänzlich auf eine Peergroup im deutschen Klassenzimmer einzulassen. Sie bewegte sich durch die Schule gemeinsam mit ihren adoleszenten Mitschülerinnen und Mitschülern, aber blieb gleichzeitig loyal gegenüber ihrer kulturellen und familiären Herkunft. Für die muslimische Schülerin bedeutete dies, mit Beginn der Adoleszenz Abstand zu denjenigen Mädchen und Jungen zu wahren, denen andere körperliche Erfahrungsräume erlaubt

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Institutionelle Einflüsse auf Beratung

waren. Sie bewältigte ihre Schulzeit mit dem Ziel, ihren Bildungserfolg nicht durch Konflikte im Elternhaus infrage zu stellen. Diese schwierige Gratwanderung gelang ihr durch unterschiedliche Strategien: Sie träumte die Adoleszenz in der Bibliothek weg. An diesem schulnahen Ort zog sie sich innerlich zurück und bildete mit den großen deutschen Dichtern eine ideale, geistige Peergroup und ging lediglich eine einzige Freundschaft zu einem katholischen deutschen Mädchen ein, das einen ähnlichen Bewegungsradius wie sie selbst hatte. Erst im Studium fühlte sie sich soweit gefestigt, dass sie sich die verführerischen Verlockungen einer Adoleszenz in einer studentischen Peergroup nach westlichem Muster zu erleben erlaubte. Hala nahm sich eine leistungsbezogene Auszeit, die sie gegenüber dem Elternhaus verheimlichte. Durch die unterstützende Haltung einer Tutorin, einer positiven Mentorin, konnte sie das Studium erfolgreich abschließen. Hala kooperierte mit der Schule in Bezug auf die Leistungsanforderungen. Eine Entwicklung der Adoleszenz nach westlichem Muster verweigerte sie und schob Rebellion und Ablösung im Lebenskontext auf. Für die errungenen Leistungen erfuhr sie bestätigende Anerkennung in der Schule wie im Elternhaus. Triebhafte Regungen in der Adoleszenz wurden durch einen narzisstischen Rückzug, die Fähigkeit innere Distanz bei äußerer Nähe zu wahren, kontrolliert. Die Möglichkeit zum inneren Rückzug und zur innerlich distanzierten Haltung bei äußerer Nähe bezeichnen Anpassungsleistungen an westliche Verhaltensweisen in der Begegnung der Geschlechter und verweisen auf kulturelle Anpassungsprozesse, die Schülerinnen mit Migrationshintergrund in westlichen Schulsystemen durchlaufen. Erfolg in der Schule − Stärke und Einsamkeit Hala nahm ehrgeizig und zielgerichtet die schulischen Optionen wahr, die sich ihr boten. Sie entwickelte kreative Strategien, um die Schulzeit erfolgreich zu durchlaufen. Sie bewältigte eigenständig schwierige Gefühlslagen, organisierte sich selbst und meisterte fast ohne Unterstützung die notwendigen fachlichen Anforderungen. Die individuelle Bewerkstelligung dieser Anforderungen ließen adoleszente Gefühle der Grandiosität aufkommen, die einerseits stärkend auf das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl wirkten. Andererseits schimmerten in ihren Erzählungen immer wieder auch die Erfahrungen von Einsamkeit durch, denn die Bewältigung der gestellten Aufgaben erfolgte aufgrund einer frühen Verantwortung für den schulischen Werdegang. Die erfolgte Anpassung kann als Abwehrmodus gegen Erstarrung und Depression (Grinberg u. Grinberg, 1990) in der Migration betrachtet werden.

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Hala träumte sich in der Welt der Bücher und der Literatur weg aus der Realität und schuf sich selbst mit der Bibliothek quasi ein förderndes Elternhaus. Als Schulsprecherin setzte sie ihre Fähigkeiten aus einer gruppenbezogenen Gesellschaft zum Wohl der Gemeinschaft ein, ohne direkt in einen Freundeskreis eingebunden zu sein. Sie boxte sich gegen die Anfeindungen der Lehrerschaft durch die Schule hindurch. Sie organisierte sich schulische Unterstützung sowie ein förderndes Umfeld durch Inanspruchnahme einer Einrichtung der Jugendhilfe. Während der Schulzeit stellte Hala die Bindung zur Mutter nicht infrage. Der Schulbesuch erfolgte im Einverständnis mit den Eltern und wurde vor allem von der Mutter getragen. Innerhalb der Beziehung zwischen Mutter und Tochter war es möglich, Schule als Ort der Bildungsentwicklung für die Tochter positiv zu besetzen. Durch diese Möglichkeit zur Triangulierung in der engen MutterTochter-Beziehung entstand die Bildungsresilienz der Tochter. Beratung: ein angstfreier Raum für unterschiedliche Narrative Anhand der resilienten schulischen Entwicklung von Hala und Ezra wird deutlich, dass es in der Migration auch für die zweite Generation um die gelungene Verarbeitung von Gefühlen der Einsamkeit in der Migration, der Rückbindung an das Elternhaus und der Auseinandersetzung mit Ohnmachtsgefühlen geht. An den Schulen mussten die begabten Schülerinnen mit Migrationshintergrund mit belastenden Einsamkeitsgefühlen zurechtkommen; sie fühlten sich abgeschnitten von ihrer sozialen, kulturellen und familiären Herkunft. Im schulischen Bereich blieben sie sprachlos und konnten eigene Erfahrungen nicht in den Unterricht einbringen. Vor allem der Gymnasialbesuch erforderte die Beherrschung unterschiedlicher kultureller Welten. Aus dieser Perspektive erwies sich die Schulzeit als risikoreich. Die Einsamkeit wurde dadurch verstärkt, dass die in der Regel ängstlichen Eltern keine Integration in einen interethnischen Freundeskreis wünschten. Als regelrecht fatal erwies sich der verstärkende Kollusionseffekt geschwächter Elternhäuser und ausbleibender Förderung in der Schule. Die bildungserfolgreichen Schülerinnen des befragten Samples zeigten, dass ein partieller Anpassungsprozess an adoleszente Entwicklungen nach westlichem Muster mit Hilfe kulturell kompatibler Abwehrmechanismen dann erfolgen kann, wenn die kulturelle Rückbindung an das Elternhaus nicht in Frage gestellt wird. Letztlich ist es das sensible Austarieren der Beziehung zwischen Elternhaus und Schule, das zum Erfolg führt.3 3 Jungen gelingt eine kulturell kompatible Anpassung weitaus seltener. Mit dem kulturellen Habitus männlicher Machos gehören sie oft genug auf die Seite der Bildungsverlierer, da diese Verhaltensweisen vom deutschen Lehrpersonal negativ konnotiert werden.

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Institutionelle Einflüsse auf Beratung

Aus den vorliegenden Untersuchungsergebnissen ergeben sich Hinweise für Supervisions- und Beratungsprozesse mit dem Lehrpersonal wie auch für die Beratungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Lehrende fremdeln vor allem dann im Umgang mit Eltern und Schülerinnen und Schülern mit einem Migrationshintergrund, wenn die Eltern nicht in der Lage sind, für ihre Kinder eine fördernde Beziehung zur Schule aufzubauen. Die Lehrerschaft benötigt begleitende Beratungen und Supervision, um Sicherheit und Nähe im Kontakt mit Kindern, Jugendlichen und Eltern mit einem Migrationshintergrund zulassen zu können. Das Fremdeln überwinden bedeutet, das Phantasma aufzugeben, dass eine erfolgreiche Anpassung an die Aufnahmegesellschaft nur durch die Aufgabe der eigenen kulturellen Werte zu erreichen ist. Unterschiedliche kulturelle Welten können in der Schule nebeneinander existieren. Bildungserfolg stellt sich auf der Basis kulturell kompatibler Abwehrmechanismen ein. In der Beratung für Lehrende wie Kinder und Jugendliche kommt es auf die Erkenntnis an, dass die sichere Rückbindung der Kinder und Jugendlichen an das Elternhaus es diesen ermöglicht, eine getragene Beziehung zu den Institutionen der Aufnahmegesellschaft aufzunehmen. Beratungsprozesse stoßen hier oft an Grenzen, da für ein Umdenken in den Schulen auch die politischen Rahmenbedingungen Raum für veränderte Strukturen eröffnen müssten. Wenn Lehrende das Fremdeln überwinden, könnten sie ihren Schülerinnen und Schülern aus unterschiedlichen Herkunftskulturen notwendigen Raum für eigene Narrative aus ihrer sozialen, kulturellen und familiären Herkunft eröffnen. Die Entstehung eines narrativen Raumes erlaubt es, Brücken in die Gegenwart zu bauen, um bildungserfolgreich in der Aufnahmegesellschaft zu werden. Durch Beratungsprozesse und Fortbildungen könnten Lehrende die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Bedingungen ihrer Schülerinnen und Schüler sehen lernen, um auf diese Weise in der Schule einen fördernden kreativen Raum eröffnen zu können. Literatur Bourdieu, P. (1983). Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. Übersetzt von R. Kreckel. In R. Kreckel (Hrsg.), »Soziale Ungleichheiten«. Soziale Welt, Sonderband 2 (S. 183– 198). Göttingen: Schwartz. Gomolla, M., Radtke, F. (2007). Institutionelle Diskriminierung: die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Gogolin, I. (2007). Mehrsprachigkeit (2. Aufl.). Hagen: Fernuniversität. Gogolin, I. (2008). Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule (2. Aufl.). Münster u. a.: Waxmann. Grinberg L., Grinberg, R. (1990). Psychoanalyse der Migration und des Exils. München u. Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse.

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Hradil, S. (2006). Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich (2. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Kustor-Hüttl, B. (2011). Weibliche Strategien der Resilienz: Bildungserfolg in der Migration. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Thomsen, K. (2002). Building resilient students. Integrating resiliency into what you already know and do. Thousand Oaks, CA: Corwin Press. Topcu, Ö., Bota, A., Khue, P. (2012). Wir Neuen Deutschen. Wer wir sind, was wir wollen. Reinbek: Rowohlt. Toprak, A., Nowacki, K. (2012). Muslimische Jungen. Prinzen, Machos oder Verlierer? Freiburg: Lambertus.

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Stefan Wißmach

Psychodynamische Beratung in Institutionen Konzeptionelle Anpassungen in und aus Sicht der Praxis

Vorbemerkungen Da in der Beratungspraxis auf Methoden der Psychotherapie zurückgegriffen wird, stellt sich immer wieder die Frage, wie sich Beratung von Psychotherapie abgrenzen lässt. Am Beispiel des Psychodynamischen Beratungsansatzes soll dieser Frage im Folgenden nachgegangen werden. Die Diskussion um eine Abgrenzung von therapeutischen Verfahren der Psychoanalyse begleitet die Geschichte des psychodynamischen Beratungsansatzes schon seit vielen Jahren. Einige Autoren haben sich mit dieser Frage auseinandergesetzt, eigene Grenzlinien gezogen, Konzepte einer Theorie der psychodynamischen Beratung entwickelt und in der Praxis angewandt (Junkers, 1978; Lüders, 1974; Argelander, 1985; Vogt, 1980; Volger, 1998). Die Suche nach niederschwelligen Behandlungsangeboten wurde schon von Freud angeregt. Er vertrat die Ansicht, dass die Psychoanalyse einen Weg finden müsse den immer größer werdenden gesellschaftlichen Bedarf durch eine niederschwellige, flächendeckende Versorgung zu gewährleisten (Freud, 1940). Im Laufe der Zeit wurden neben der hochfrequenten Langzeitbehandlung, das heißt dem klassischen psychoanalytischen Setting, weitere klinische Behandlungsmethoden entwickelt, die niederfrequent und im sitzenden Setting durchgeführt wurden und mit einem kürzeren Stundenumfang auskamen. Dem Selbstverständnis nach wurde zunächst nicht zwischen Beratung und Therapie unterschieden. Beratung galt als »kleine Therapie« (Nestmann, 1981, S. 130) und wurde als eigenständiges Verfahren nicht erörtert. Erst später wurde Therapie als Teil des medizinischen Systems und Beratung als Teil der Pädagogik verortet (Großmaß, 2004; Körner, 2011). Aktuelle Publikationen beziehen sich auf Veröffentlichungen und Studien aus den 1970er und 1980er Jahren (zum Beispiel Junkers, 1978; Vogt, 1980; Houben, 1975; Argelander, 1985; Lüders, 1974; Leuzinger-Bohleber, 1985), weil aus den 1990er Jahren keine Veröffentlichungen zur psychodynamischen Beratung vorliegen. Erst in den letzten Jahren ist die Debatte wieder aufgegriffen worden. Vor allem die

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Frage, wo und wenn ja wie intensiv in der psychodynamischen Beratungspraxis Konzepte aus der Psychoanalyse Anwendung finden, wird gerade in letzter Zeit wieder stärker diskutiert (Schnoor, 2011; Körner, 2011; Dreyer u. Schmidt, 2008; Volger, 2013; Schnoor, 2013). Die unterschiedlichen Settings, in denen psychodynamische Behandlungen durchgeführt werden, können als Abstufungen einer Ergänzungsreihe begriffen werden, an deren einem Ende die hochfrequente Psychoanalyse und an deren anderem Ende die Beratung stehen (Dreyer u. Schmidt, 2008). Dreyer und Schmidt (2008) sprechen in diesem Zusammenhang von einem »Kontinuum« (Dreyer u. Schmidt, 2008, S. 7) und meinen damit auch, »dass Psychoanalytiker – bezogen auf Technik und Methode – nicht scharf zwischen hochfrequentem und niederfrequentem Arbeiten trennen«. Dadurch werden erst weiter voneinander entfernte Punkte als klar getrennt wahrgenommen (S. 7). 2008 führte ich im Rahmen meiner Abschlussarbeit an der Universität Marburg acht Interviews mit psychodynamisch arbeitenden Beratern durch. Im Mittelpunkt dieser Studie stand die Frage, welche Konzepte und Interventionsmethoden aus der Psychoanalyse sich in der Beratung wiederfinden und in welcher Weise sie angewendet werden. Im Ergebnis war es auffällig, dass die psychodynamische Arbeit nicht zuletzt auch durch die Unterschiedlichkeit der Institutionen, in der sie durchgeführt wird, beeinflusst wird. Dieser Zusammenhang soll in diesem Beitrag näher ausgeführt und diskutiert werden. Dazu wird der aktuelle Stand zum methodischen Vorgehen in der psychodynamischen Beratung, wie er in der Literatur zu finden ist, mit den Aussagen der interviewten Berater verknüpft. Interessant erscheint dies deshalb, weil die Institutionen, in denen die interviewten Berater tätig waren, auch innerhalb des Spektrums von Beratungsstellen und therapeutischen Ambulanzen angesiedelt waren. Das Kontinuum von Beratung und Therapie, wie es Dreyer und Schmidt (2008) beschreiben, spiegelt sich also auch auf der institutionellen Ebene wider. Institutionen auf dem Kontinuum Beratung – Psychotherapie Die insgesamt acht Interviewpartner arbeiteten zum Zeitpunkt der Erhebung in verschiedenen Institutionen. Auf dem Kontinuum Therapie – Beratung nimmt die Ambulanz eines psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Instituts in diesem Fall die nächstliegende Position zur Therapie ein. Ihre Aufgabe ist die Ausbildung von angehenden Psychotherapeuten in Anamnese und Erstgespräch. Dementsprechend besteht Beratung hier vor allem aus Anamnese, Indikationsstellung und der Weitervermittlung an andere Institutionen oder die freie Praxis (Wißmach, 2008). Auf dem Kontinuum in nächster Nähe zur Beratung stehen

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Beratungsstellen kirchlicher und nichtkirchlicher Träger. Dazwischen positionieren sich Zentren für Therapie und Beratung. Interviewpartner waren hier Mitarbeiter von Familienzentren für Paar- und Familientherapie sowie Familien- und Erziehungsberatung. Außerdem wurden Mitarbeiter in einem Verein für psychoanalytische Sozialarbeit sowie einer Institution für Kinder- und Jugendlichentherapie und -beratung interviewt. Sichtet man die Literatur, findet man neben der Vorstellung des Kontinuums von Beratung und Psychotherapie auch Positionen, die eine klare Trennung zwischen beiden Anwendungsgebieten der Psychoanalyse sehen. Körner (2011) positioniert Beratung zwischen Erziehung und Therapie, zwischen analytischer Psychotherapie und Pädagogik, zwischen regredienter, aufarbeitender und progredienter Erkenntnishaltung: »Während der Pädagoge mehr oder weniger klar erkennbar auf zukünftige Ziele hin orientiert ist, geht es dem Psychoanalytiker insbesondere darum, aufzuklären, wie es zu einer psychischen Fehlentwicklung kommen konnte, und erst dadurch dem Patienten die Möglichkeit an die Hand zu geben, sich zu ändern« (Körner, 2011, S. 38). Dabei spricht er keinesfalls von einer Gegenüberstellung; im Gegenteil, auch die Pädagogik versucht »seinen Klienten/Zögling aus seiner geschichtlichen Situation heraus zu verstehen« (Körner, 2011, S. 38). So sieht auch er ähnlich wie Dreyer und Schmidt (2008) keine klaren Grenzen zwischen Psychotherapie und Pädagogik. Die Nähe der Ambulanz zur Therapie als Bestandteil des medizinisch-therapeutischen Systems und die Nähe der Beratungsstellen zum pädagogischen System, nicht selten in der Organisation des Trägers in Bereichen der Erziehungshilfen eingegliedert, zeigen darüber hinaus, wie sich Körners Darstellung tatsächlich in der Praxis wiederfinden lässt. Zu den Interviews Die Interviews wurden im Rahmen einer Abschlussarbeit am Institut für Erziehungswissenschaften an der Universität Marburg durchgeführt (Wißmach, 2008). Insgesamt wurden acht Berater interviewt. Vier von ihnen arbeiteten zu diesem Zeitpunkt in Beratungsstellen, zwei in Familienzentren, einer in einem Therapiezentrum und einer in der Ambulanz eines psychoanalytischen Instituts. Alle haben eine oder mehrere Ausbildungen mit psychoanalytischem, tiefenpsychologischem Hintergrund an verschiedenen Instituten absolviert. Die Berufserfahrung reichte von sechs bis 33 Jahren. Bezogen auf die Fragestellung der Abschlussarbeit, der Abgrenzung von psychoanalytisch orientierter Therapie und Beratung, war der Vorteil dieser recht heterogenen Gruppe, das »Überindividuell-Gemeinsame« (Meuser u. Nagel, 1991,

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S. 452) herausarbeiten zu können. Bezogen auf die hier angesprochene Frage des institutionellen Einflusses sind es vor allem die Unterschiede in der analytischen Arbeit, bezogen auf Institution und Klientel, die dargestellt werden sollen. Methodisch handelt es sich bei den Interviews um telefonisch geführte, Theorie generierende Experteninterviews. Experten können mit ihrem Betriebswissen die Lücken in der Literatur auffüllen (Meuser u. Nagel, 1991). Zur Strukturierung der Interviews wurde auf einen Leitfaden (Flick, 2007) zurückgegriffen, der 26 Fragen auf acht Abschnitte verteilt beinhaltet und aus denen sich sinnhaft in der Analyse 22 Kategorien herleiten ließen. Aufnahme, Transkription und Analyse wurden mit Hilfe der Programme »No23«, »f4« und »MAXQDA« durchgeführt. Der Klient, der Berater und die Institution Einfluss auf die konzeptionelle und methodische Ausgestaltung der beraterischen Haltung und Arbeit nehmen sowohl der Berater als auch die Institution. Über die Wahl des Hilfsangebotes nimmt jedoch auch der Klient Einfluss auf das, was ihn als professionelle Leistung erwartet. Volger (2013) benennt zwei Faktoren, welche die Entscheidung des Klienten für das Aufsuchen eines Psychotherapeuten oder eines Beraters bestimmen: seine Krankheitseinsicht und sein Autonomiebestreben (Volger, 2013). Klienten mit einem hohen Bedürfnis nach Autonomie und geringer Bereitschaft, eigene Anteile in der aktuell schwierigen Situation zu sehen, werden sich eher an eine Beratungsstelle wenden. Werden hingegen eigene Anteile als auslösend für die aktuelle konflikthafte Situation gesehen und ist die Motivation da, sich auf einen kontinuierlichen längeren Prozess einzulassen, wählt der Klient eher eine Psychotherapie (Volger, 2013). Hat der Klient sich schließlich für eine Institution entschieden, wird der Berater im Rahmen der institutionellen Möglichkeiten nach eigener Indikationseinschätzung die psychodynamische Arbeit an die psychische Konstitution des Klienten anpassen. Auch die Weiterbildung und das Selbstverständnis des Beraters spielen eine Rolle bei der Wahl des weiteren methodischen Vorgehens. Die Weiterbildungen verorten sich auf dem Kontinuum Therapie – Beratung und umfassen das gesamte Spektrum von klassisch therapeutischen Weiterbildungen zum Psychoanalytiker oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut über Weiterbildungen zum Familienberater und -therapeut bis hin zu klassischen beraterischen Weiterbildungen der kirchlichen und nichtkirchlichen Träger. Die Institution ist in diesem Verständnis eine Stellschraube am Kontinuum Psychotherapie – Beratung, der Klient und der Berater sind zwei weitere. Alle

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drei entscheiden darüber, wie die Behandlung durchgeführt wird, das heißt, wo auf dem Kontinuum von Psychotherapie und Beratung sie konkret stattfinden wird. Dies soll anhand einiger zentraler Konzepte und Rahmenbedingungen darstellt werden. Zum Einfluss auf die Konzepte und Rahmenbedingungen Zum zeitlichen Rahmen

Bezogen auf den zeitlichen Rahmen finden sich relativ klare Aussagen, die einen Umfang von fünf bis zehn Stunden für den Beratungsprozess definieren (Schnoor, 2011; Volger, 2013). Volger schlägt vor, zunächst einen Kontrakt für fünf bis zehn Stunden zu vereinbaren, der gegebenenfalls auf weitere fünf bis zehn Sitzungen verlängert werden kann (Volger, 2013). »Institutionelle Zwänge« (Klüwer, 1983), wie zeitliche Vorgaben, beschränken zwar die Handlungsmöglichkeiten der Berater, aber haben auch den Vorteil, dass sie vom Klienten besser akzeptiert werden können (Klüwer, 1983; Leuzinger-Bohleber, 1985). Je nach Institution lassen sich auch abweichende Vorgehensweisen von dieser Regel finden. In der Ambulanz liegt die Stundenanzahl für eine Beratung mit durchschnittlich drei Stunden deutlich darunter, ein Umstand, der mit ihrer Hauptaufgabe, der Indikationsstellung mit anschließender Beratung im Erstgespräch (Argelander, 1985), erklärbar wird. Im Rahmen von Zentren, die sowohl therapeutisch als auch beraterisch arbeiten, wird die Stundenanzahl den Bedürfnissen der Klienten angepasst. Hier kann ein Prozess auch ausgedehnt werden: »von einer Stunde bis 100 Stunden, je nachdem. […] aber das geht dann schon mehr in die Therapie über« (I 2|8 in Wißmach, 2008, S. 66), so schildert es ein Berater. In Beratungsstellen scheinen hingegen eher klare Vorgaben, wie zum Beispiel fünf bis zehn Stunden, gemacht zu werden, so wie sie auch in der Literatur vorgeschlagen werden. Eine Beraterin sagt dazu: »Ich mache den Gesamtjahresbericht aller […] Erziehungsberatungsstellen. Da ist die mittlere Fallzahl, Stundenzahl pro Fall, acht bis 15 Stunden« (I 3|8 in Wißmach, 2008, 67). Mit Blick auf die Fragestellung wird deutlich, dass der zeitliche Rahmen sehr stark von der Institution beeinflusst wird. Ambulanz und Beratungsstelle haben zeitliche Vorgaben, während die Zentren für Therapie und Beratung sich tendenziell mehr Freiheiten nehmen. Zur Indikationsstellung

Die Indikation ist meines Erachtens einer der interessantesten, weil vielschichtigen Punkte in der konzeptionellen Anpassung an die psychodynamische Bera-

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tung. Ist es zum Beispiel der Mangel an persönlichen Ressourcen, der eine Beratung unmöglich macht, oder ist eben dieser Mangel ein Indikator für Beratung und gegen eine Psychotherapie, die für einige Klienten zu voraussetzungsreich ist (Schnoor, 2011)? Hilfreich erscheint es, nicht anhand der diagnostischen Hypothesen des Beraters zu unterscheiden, sondern anhand des subjektiven Krankheitskonzepts des Klienten (Volger, 2013). Ein zentrales Kriterium für eine Psychotherapie ist demnach die Bereitschaft des Klienten, sich auf einen intensiven Prozess einlassen zu können. Auch Vogt (1980) betont in diesem Zusammenhang die Motivation des Klienten, seinen Wunsch zur Veränderung (Vogt, 1980). Ist das subjektive Krankheitsempfinden des Klienten stark an einer »äußeren Verursachungstheorie« (Volger, 2013, S. 26) orientiert, kann dies zwar im beraterischen Kontext angesprochen werden, »stellt aber kein Ausschlusskriterium für eine Indikationsentscheidung dar« (S. 26). Dass eben dieser Klient einen therapeutischen Rahmen eher meiden wird, erscheint vor diesem Hintergrund einleuchtend (Schnoor, 2011). Im Rahmen des Erstgesprächs entscheiden Klient und Berater gemeinsam, welches Behandlungsangebot für den Klienten das richtige sein könnte. Dadurch wird auch der Klient auf dem Kontinuum Beratung – Therapie verortet. Wie unterscheiden sich die Institutionen im Hinblick auf die Indikationsstellungen? Die Stärke der Ambulanz liegt gerade in der gründlichen Indikationsstellung mit anschließender Beratung der Klienten bezüglich einer Weiterbehandlung in psychotherapeutischen Praxen oder Beratungsstellen (Wißmach, 2008). Einrichtungen, die therapeutische und beraterische Settings unter einem Dach vereinen, scheinen bezogen auf die Indikationsstellung anders auf den Klienten einzugehen. Der Berater entscheidet im Verlauf des Behandlungsprozesses, ob ein therapeutisches oder beraterisches Setting angebracht ist, der Klient bleibt in der Institution. Die folgenden Aussagen stammen von Beratern, die in Beratungsstellen tätig sind: »Es gibt zum Beispiel auch Leute, wo ich denke: Mensch, das ist ein Jammer wenn der oder die lange in der Beratung bleibt. Ist hoch motiviert, ist motiviert genug, ist krank genug, ist gesund genug, sich auf eine Therapie einzulassen. Dann kümmere ich mich relativ rasch drum, dass er oder sie eine Therapie macht« (I 6|8 in Wißmach, 2008, S. 69). Umgekehrt wären Klienten, die noch unentschlossen sind oder wenig zeitliche Ressourcen haben, in der Beratung besser aufgehoben, »die Anforderungen sind eigentlich niedriger« (I 5|8 in Wißmach, 2008, S. 70), so ein Berater. In den Beratungsstellen führt die Indikationsentscheidung des Beraters auch zum Ausschluss oder Verbleib des Klienten in der Institution.

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Zur Arbeit am inneren Konflikt und zur Fokusbildung

Im Folgenden soll die unterschiedliche Handhabung zentraler psychoanalytischer Methoden in der Beratung und in der Psychotherapie herausgearbeitet werden. Wie unterscheidet sich die Arbeit an der inneren Konfliktdynamik des Klienten in der Beratung von der in der Therapie? Mentzos (2000) veranschaulicht äußere und innere Konflikte anhand zweier Beispiele. Das Freiheitsbedürfnis eines Gefangenen steht im Konflikt zu den Einschränkungen des Gefängnisses. Hier handelt es sich um einen äußeren Konflikt. Die Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Ruhe und dem Streben nach Leistungserbringung ist demgegenüber als innerer Konflikt zu bezeichnen (Mentzos, 2000). Es stellt sich die Frage, ob in der Beratung neben der Thematisierung äußerer Konflikte auch innere bearbeitet werden können. Im Kontext der psychodynamischen Beratung findet sich bei Körner (2011) folgende Regel: »In psychodynamischer Beratung soll der Realitätsentwurf des Klienten fiktionalisiert werden, und zwar soweit, wie es nötig ist, um den unbewussten Konflikthintergrund zu erfassen, und soweit es möglich ist angesichts des Geltungsanspruchs und des Anforderungscharakters der Wirklichkeit« (Körner, 2011, S. 48). Mit »Fiktionalisierung« meint Körner in diesem Zusammenhang die unbewusste Wahrnehmung der Realität des Klienten: »z. B. die unbewusste Überzeugung [eines Schuldners, S. W.] ›Mir steht doch alles zu‹« (Körner, 2011, S. 47). Dieser Klient wird mit der Realität, nur kaufen zu können, wozu er auch finanziell in der Lage ist, konfrontiert. Sie steht aber mit seiner eigenen unbewussten Wahrnehmung, seiner Fiktion der Realität, im Konflikt: »Mir steht doch alles zu, deshalb bleibe ich niemandem etwas schuldig.« Dies verdeutlicht, dass innerer und äußerer Konflikt zwar immer zusammen zu verstehen sind, aber im Rahmen einer psychodynamischen Beratung abzuwägen bleibt, inwieweit der innere Konflikt thematisiert und bearbeitet werden kann. Ein wichtiger Punkt der Behandlungstechnik ist auch die notwendige strikte Fokussiertheit in der Beratung. Das Konzept des Fokus geht zurück auf Balint und Malan (1972), deren Gruppe von Psychoanalytikern sich eingehend mit dem Modell einer Fokaltherapie beschäftigt hat. Klüwer beschreibt den Fokus: »im Sinne einer Beschränkung auf einen Konfliktbereich […], der zum ausschließlichen Thema der Behandlung wird« (Klüwer, 2002, S. 210; s. a. Klüwer u. Lachauer, 2004). Volger spricht sich dafür aus, dass die psychodynamische Beratung bewusste und vorbewusste Konflikte bearbeitet, therapeutische Verfahren jedoch vorbewusste und unbewusste Themen behandeln (Volger, 2013). Aus diesem Grund wird in der Beratung ein »bewusstseinsnaher Fokus« und in der tiefenpsychologischen Therapie ein »unbewusster Fokus« zum Bezugspunkt der Behandlung gemacht (Volger, 2013, S. 29).

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Der Umgang mit dem Fokus unterscheidet sich je nach Auftrag der Institutionen: In der Ambulanz wird in der Tradition der Psychoanalyse nicht fokussiert gearbeitet. Ein Interviewpartner beschreibt dies folgendermaßen: »In der Analyse machen wir das ja eben nicht, weil es ja um die freie Assoziation geht und um die gleich schwebende Aufmerksamkeit« (I 4|8 in Wißmach, 2008, S. 76). Dies sind eindeutig »afokale Elemente« (Schnoor, 2011, S. 29), die in der psychodynamischen Beratung nur sehr eingeschränkt angewandt werden können. Die anderen Befragten sprechen hingegen mehr oder weniger deutlich von der Notwendigkeit der Fokussierung. »Ich kann ja nicht alles Mögliche aufdecken, aufreißen und dann muss er nachher gehen« (I 8|8 in Wißmach, 2008, S. 76). Ohne Fokus wäre ein so kurzes Verfahren wie das der Beratung nicht zu verantworten. Die Kürze des Verfahrens ist Anlass für eine starke Anpassung der psychoanalytischen Methode. Keine Fokussierung in der Beratung gilt hier als »unseriös« (I 2|8 in Wißmach, 2008, S. 76) und führt zu einer nicht zu verantwortenden »Uferlosigkeit« (I 3|8 in Wißmach, 2008, S. 77). Zum Umgang mit Übertragungen

»Unter Übertragung verstehen wir seit Freud im weitesten Sinne alle Phänomene der subjektiven Bedeutungszuschreibung innerhalb einer Begegnung mindestens zweier Personen« (Herold u. Weiß, 2002, S. 759). Im Setting der psychoanalytischen Langzeitbehandlung werden Übertragungsphänomene aktiv gefördert und für die therapeutische Arbeit genutzt (Herold u. Weiß, 2002). Ziel einer klassischen Analyse ist demnach, dass der Analysand das fiktionale, virtuelle seines Beziehungsentwurfs zum Analytiker versteht (Körner, 2011). Im Gegensatz zur Psychotherapie wird in der Beratung mit Übertragungsphänomenen nur sehr vorsichtig umgegangen. Der Berater tritt weniger als Objekt frühkindlicher Übertragungswünsche auf, er fördert vielmehr aktiv die Selbstheilungskräfte des Klienten (Schnoor, 2011; Volger, 2013). Ein weiterer Punkt ist die bewusstseinsnahe Thematisierung der Beratungsanliegen; die Beratungsrealität und damit auch die reale Beziehung zum Berater stehen im Vordergrund (Volger, 2013). In der Beratung soll das Übertragungsgeschehen nur dann angesprochen werden, wenn es »analog zu seinen [der Klient] maladaptiven Beziehungsentwürfen im Alltag steht« (Körner, 2011, S. 48). Entscheidend für die psychodynamische Beratung ist auch die Unterscheidung von positiven und negativen Übertragungen (zum Beispiel Leuzinger-Bohleber, 1985). Während positive Übertragungen auf befriedigenden primären Beziehungserfahrungen beruhen, sind die übertragungsbedingten Verwechselungen bei negativen Übertragungen konflikthafter, belastender Natur. Institutionen entscheiden mit ihrer Vorgabe eines zeitlichen Rahmens indirekt auch über den Umgang mit Übertragungen. Alle interviewten Berater bezie-

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hen Übertragungsphänomene nur sehr eingeschränkt in den beraterischen Prozess mit ein. In der Ambulanz gebe es aufgrund der wenigen Stunden lediglich »Andeutungen« (I 4|8 in Wißmach, 2008, S. 140), wobei dies natürlich auch zu einer ersten vollständigen Übertragungsdeutung führen könne. Auch die anderen Interviewten sehen den Einbezug von Übertragungen im Kontext des zur Verfügung stehenden zeitlichen Rahmens. Ein weiterer schon angesprochener Punkt ist die Unterscheidung von negativen und positiven Übertragungen, wie sie von einem Berater beschrieben wird: »Die negative Übertragung ein Stück weit zu spüren ist wichtig, weil sie die Arbeit stört. Eine milde positive Übertragung, die lässt man eigentlich mitlaufen, weil die die Arbeit fördert« (Wißmach, 2008, S. 81). Zum Umgang mit Widerständen

Widerstände sind unbewusste Kräfte, die sich gegen einen Fortschritt der psychoanalytischen Behandlung richten (Ermann, 2002). Es sind Phänomene, die sich, ebenso wie das beschriebene Übertragungsgeschehen, sowohl in der Therapie als auch in der Beratung finden. Formen und Erscheinungen unterscheiden sich nicht, der Umgang mit ihnen hingegen schon. Erstaunlich ist deshalb, dass sie in der Literatur kaum thematisiert werden. Das besondere Setting in der Ambulanz zeigt sich auch hier: Der Umgang mit Widerständen im Erstgespräch wird zum Test der Eignung des Klienten für das tiefenpsychologische Verfahren, anhand dessen das Maß an Reflexionsfähigkeit des Klienten spürbar und somit die Indikation für oder gegen ein analytisches Verfahren deutlich wird. Ein Interviewpartner beschreibt auch, dass nicht alle Klienten mit Hilfe eines tiefenpsychologischen Zugangs behandelbar sind: »Es ist ja bei vielen Leuten dann auch gar nicht möglich. Die meisten erreiche ich, aber es gibt auch Leute, die ich nicht erreiche. Die dann sagen, was reden sie da« (I 4|8 in Wißmach, 2008, S. 141). Bezogen auf die anderen beiden Institutionsformen lassen sich aus den Interviews keine Unterschiede herauslesen. Die Berater gehen eher vorsichtig mit Widerständen im Beratungsprozess um. Das heißt, aufgrund der Kürze des Beratungsprozesses würden Widerstände weniger thematisiert, ähnlich wie beim Umgang mit Übertragungen. Widerstände werden tendenziell eher respektiert, sagt ein Berater: »Das muss ich respektieren. Also, wenn ich in der Therapie wäre, müsste ich das hinterfragen. Aber bei einer Verweildauer, die so ist, wie sie hier ist, muss ich das respektieren« (I 7|8 in Wißmach, 2008, S. 83). Eine Besonderheit in der Beratung stellt die Beratung im Zwangskontext (siehe dazu auch Grösch und Suschek in diesem Band) dar. Sie ist typischerweise eine Einflussgröße, die vor allem in Beratungsstellen zu finden ist, in

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denen sich Klienten melden, die von Behörden, einem Gericht oder dem Jugendamt geschickt worden sind. In diesen Fällen sind die Widerstände der Klientel gegenüber der Beratung groß. Ein Berater schildert seinen Umgang mit diesen Widerständen im Kontakt mit dem Klienten so: »Sie kriegen natürlich eine Bescheinigung […]. Und wenn sie jetzt schon hier sind, können wir ja auch gucken, wie wir die Stunde sinnvoll verbringen« (I 6|8 in Wißmach, 2009, S. 85). Aber auch ohne »schickende« Institution spielt der Zwang im Beratungsalltag eine nicht zu unterschätzende Rolle: In der Paarberatung, in der nur ein Partner die Bereitschaft zur Beratung hat, oder in der Erziehungsberatung, in der Jugendliche oder Kinder von den Eltern »überredet« wurden, treten ebenfalls Widerstände auf. Ergebnis Die leitende Frage in diesem Beitrag, welchen Einfluss die Institution auf die Anwendung psychoanalytischer Konzepte in der psychodynamischen Beratung nimmt, wurde exemplarisch anhand zentraler Bausteine der Tiefenpsychologie verdeutlicht. Weil die Interviews in Institutionen geführt wurden, die sich auf unterschiedlichen Punkten des Kontinuums Therapie – Beratung verorten lassen (Ambulanz, Therapie- und Beratungszentren und Beratungsstellen) konnte herausgearbeitet werden, in welchem Setting welche Anpassungen der Behandlungsmethode notwendig wurden. Bezogen auf die Konzepte der Psychoanalyse und ihrer Anwendung in der Beratung lässt sich exemplarisch darstellen, wie die Institution mehr oder weniger Einfluss auf die Behandlungsmethode nimmt und welche anderen Faktoren hinzukommen. Ein wesentlicher Punkt in diesem Zusammenhang ist der Weg des Klienten in die Institution. Nach welchen Kriterien wählt er aus? Welche innerpsychischen Faktoren sind motivationsleitend? Die Erklärung Volgers mit Bezug auf Autonomie und Abhängigkeit und dem eigenen Krankheitsverständnis liefert dazu eine greifbare Erklärung. Gemeinsam mit dem Berater entsteht daraus eine Indikationsstellung, die den Klienten einer Institution zuordnet. Auch er bewegt sich demnach auf dem Kontinuum Therapie – Beratung. Dies bedeutet, dass bezogen auf die Indikationsstellung eine Triade, bestehend aus Berater, Klient und Institution, über die Verortung des Klienten auf dem Kontinuum entscheidet. Der zeitliche Rahmen ist in der Institutsambulanz, im Zentrum für Therapie und Beratung und in der Beratungsstelle vom Konzept und Auftrag der Institution geprägt. Die Ambulanz mit der Aufgabe der Indikationsstellung hat einen sehr kurzen zeitlichen Rahmen und beschränkt sich auf ein bis drei »Erstge-

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spräche«. In Zentren, die sowohl therapeutisch als auch beraterisch arbeiten, ist die Indikation gegen eine Beratung nicht gleichzeitig Ausschlusskriterium für die Zuständigkeit der Institution. Sowohl Klienten mit einer therapeutischen als auch solche mit einer Beratungsindikation können in der Institution ein Behandlungsangebot bekommen. Im Kontext der Abgrenzung von Therapie und Beratung zeigt sich aber auch, dass hier immer wieder die Grenzen zwischen beiden Hilfsangeboten verschwimmen. Dies zeigt sich auch im zeitlichen Umfang der Beratungsgespräche. Bezogen auf den zeitlichen Rahmen erscheint dagegen eine klare Festlegung im Sinne Volgers, Klüwers und Leuzinger-Bohlebers vernünftig, weil sie dem Klienten Sicherheit gibt. Die Arbeit am Konflikt wird grundsätzlich durch die Länge des Prozesses bestimmt. Zum einen wird in der Beratung sehr fokussiert gearbeitet, zum anderen wird dem äußeren Konflikt viel mehr Raum gegeben als in therapeutischen Verfahren. Bezogen auf die Frage nach dem Einfluss von Institutionen muss festgehalten werden, dass hier auch die begrenzte Zeit der entscheidende Faktor ist. In Fokusbildung, Übertragung und Widerstand sieht man eine starke Übereinstimmung bei den psychodynamisch arbeitenden Beratern und eine klare Abgrenzung zur Psychotherapie. Eine Fokusbildung wird als unumgänglich für die Beratung angesehen, ebenso wie beim Umgang mit Übertragungsund Widerstandsphänomenen sehr genau auf die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer Deutung geachtet wird. Es kann abschließend festgehalten werden, dass die Institution vor allem für die Rahmung der Beratung verantwortlich ist. Die Beratung in der Ambulanz besteht aus Anamnesegesprächen und dient der Indikationsstellung und Weitervermittlung der Klientel an geeignete Behandler. Hier werden die Methoden und Konzepte der analytischen Theorie fast uneingeschränkt angewandt, vor allem auch, um die Eignung des Klienten für ein tiefenpsychologisches Verfahren herauszufinden. Zentren, die Therapie und Beratung unter einem Dach anbieten, sind bezogen auf die institutionelle Rahmung freier und nehmen in Bezug auf den Zeitumfang der Gespräche und der Behandlungsmethode keine klare Trennung von Beratung und Therapie vor. Beratungsstellen hingegen haben eine klare zeitliche Vorgabe, die sich deutlich auf die Beratung auswirkt. Der Vorteil liegt in der Klarheit, die sowohl das Handwerk des Beraters, das heißt die Anwendung von Methoden und Konzepten betrifft, als auch die Sicherheit des Rahmens für den Klienten. Ein Nachteil könnte allerdings darin bestehen, dass der Klient eine Indikation gegen Beratung als Kränkung, als Abweisung oder Wegschicken empfindet und dadurch völlig aus dem therapeutisch-beraterischen System fallen würde.

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Angela Schmidt-Bernhardt

Gruppenanalytische Beratung und szenisches Verstehen in der universitären Lehrerbildung

Im Fokus dieses Beitrags steht die Frage, wie im Rahmen der universitären Ausbildung in Veranstaltungen zur Reflexion von Praxisphasen das Potenzial der Studierenden nachhaltig erweitert werden kann. Hierbei handelt es sich um doppelt kontextuell gebundenes Beratungshandeln. Das nachfolgend skizzierte Beratungshandeln steht im Kontext von zwei instituierten Ordnungen: der Schule und der Universität. Dabei kommt der Frage nach den Potenzialen des Beratungshandelns innerhalb dieser gleichzeitig instituierten Ordnungen besondere Bedeutung zu. Zunächst wird das Setting der vorliegenden Beratungssituation skizziert. Hierbei gehe ich auf die an der Beratung beteiligten Akteurinnen und Akteure ebenso ein wie auf den institutionellen Kontext der Beratungssituation und auf den Gegenstand der Beratung. Danach wird der gruppenanalytische Beratungsansatz erläutert. Im theoretischen Bezugsrahmen der Gruppenanalyse spielt das szenische Verstehen eine prominente Rolle. Anhand der konkreten Erörterung einer Beratungsvignette gehe ich auf das institutionell verankerte Spannungsfeld zwischen Beraten und Bewerten im schulischen und im universitären Kontext ein. Setting der Beratung Lehramtsstudierende bewegen sich in ihren Schulpraktika auf einem schmalen Grat zwischen dem Erleben vielfältiger Situationen innerhalb und außerhalb des Klassenraums, dem Erproben und Entwickeln ihrer eigenen Rolle in diesem beruflichen Feld und den Grenzziehungen durch Vorgaben der Institution Schule. Der ihnen aus Schülerinnen- und Schülersicht bekannte und vertraute Raum Schule stellt sich ihnen in ihrer neuen Rolle als angehende Lehrerinnen und Lehrer anders und neu dar und erfordert neue Handlungs- und Reflexionsmuster. Der Zwischenstatus als Praktikant/-in kann einerseits verunsichernd sein, da er bedeutet, weder zu den Schülerinnen und Schülern noch zu den Lehrerinnen und Lehrern zu gehören. Andererseits bietet er besondere

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Möglichkeiten der Reflexion des beruflichen Feldes und der Rolle im beruflichen Feld, da er es ermöglicht, den Blick aus verschiedenen Perspektiven auf das schulische Geschehen zu richten. Dazu bedarf es einer professionell angeleiteten reflektierenden Bearbeitung der Praktikumserfahrungen, die eine beratende Funktion hat. Dieser Reflexion des Praxisfeldes widmen sich universitäre Seminare zum szenischen Verstehen des Handlungsfelds Schule, die es den Studierenden ermöglichen, ihre Praxiserfahrungen nachhaltig zu bearbeiten und zu verarbeiten. In diesen Seminaren, die die Studierenden im Anschluss an das erste angeleitete Schulpraktikum besuchen können, wird ihnen Raum zur Reflexion gegeben: zur Verarbeitung ihrer eigenen Schulerfahrungen als Schülerinnen und Schüler, zur Reflexion des Rollenwechsels, zum Umgang mit unterschiedlichen Lerngruppen, zum Verhalten gegenüber den sogenannten schwierigen Schülern, zur Arbeit mit Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Alters- und Entwicklungsstufen, zur Gestaltung der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen. Die Themenbereiche werden anhand einzelner von den Studierenden eingebrachter Situationen aus ihren jeweiligen Praxiserfahrungen von der gesamten Seminargruppe erschlossen. Ziel der Seminare zur beratenden Reflexion der Praxiserfahrungen ist es, das Gespür für die Komplexität von Unterrichtssituationen zu wecken, die Selbstreflexion zu stärken, in die Analyse von Unterrichtssituationen anhand des Dreischritts Wahrnehmen – Verstehen – Handeln einzuführen, die eigene Rolle und das eigene Handeln in Unterrichtssituationen zu erfassen, die Verflechtungen persönlicher Erfahrungen mit institutionellen Bedingungen transparent zu machen und Handlungsalternativen und neue Handlungsmuster beratend zu entwickeln. Dieses Konzept beinhaltet eine Verbindung von beruflicher Reflexion und institutioneller Selbsterfahrung in einem ganzheitlichen kognitive und affektiv-emotionale Seiten umfassenden Reflexionsprozess. Arbeit an und mit Emotionen – ein im universitären Kontext ungewöhnliches Unterfangen – bedeutet Vielfältiges: Zunächst heißt es, achtsam zu sein für die eigenen Emotionen, sie als wertvoll und nicht als lästig und störend im Arbeitszusammenhang zu begreifen; sodann heißt es, die eigenen Emotionen in der Gruppe zu veröffentlichen, ein oftmals schambesetztes Unterfangen; anschließend gilt es, ausgehend von den eigenen Emotionen in der Gruppe, Übereinstimmungen und Differenzen wahrzunehmen, sich darüber auszutauschen, die eigenen Emotionen in Beziehung zu denen der anderen Gruppenteilnehmer und -teilnehmerinnen zu setzen und schließlich über diesen Austausch Distanz zur eigenen Gefühlswelt herzustellen und aus der Distanz heraus einen veränderten Blick auf das eigene Erleben und auf die berufliche Situation zu gewinnen (SchmidtBernhardt, Kustor-Hüttl u. Brambring, 2010).

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Der Zwischenstatus als Praktikant – ein besonderer Übergangsraum Die Universität, der Ort des Projekts, zeichnet sich durch ihren Doppelcharakter aus: Einerseits Grenzen setzend, Bedingungen für Examina setzend und Weichen für die Lebensgestaltung stellend, bietet die Universität andererseits innerhalb ihres Rahmens die Möglichkeit, kognitive und emotionale Erfahrungen zu bearbeiten und die Gruppe mit ihrem kreativen und haltenden Potenzial zu erleben; sie bietet die Chance, durch Reflektieren des eigenen Erlebens einen anderen Blick auf den künftigen Arbeitsplatz von Lehrerinnen und Lehrern, auf die Schulklasse zu erlangen. In diesem Sinne ist der Ausbildungsort Universität ein dialektischer Ort, der gleichzeitig Grenzen setzt und Möglichkeiten schafft. Für die Studierenden auf dem Weg in die Lehrerzimmer und Klassenräume hat er einen Übergangscharakter, ist er ein Übergangsraum. Die Studierenden im Schulpraktikum sind weder Schülerinnen und Schüler noch fertige Lehrerinnen und Lehrer. Sie haben gegenüber den Schülerinnen und Schülern Lehreraufgaben und sollen die Lehrerrolle ausfüllen, gleichzeitig sind sie vom Alter her manchen Schülern näher als den Lehrern und sind in der Uni in einer den Schülern vergleichbaren Situation. Dieser Zwischenstatus enthält, so er denn als solcher erkannt und adäquat reflexiv genutzt wird, vergleichbar dem Winnicott’schen Übergangsraum (Winnicott, 1972) vielfältiges kreatives Potenzial. Bietet sich den Studierenden die Möglichkeit zur Reflexion ihrer Erfahrungen im Übergangsraum Schulpraktikum, so legen sie den Grundstein für reflektiertes Lehrerhandeln, der ihnen als solides – und kreatives – Fundament für ihr künftiges Lehrerleben dienen kann. Das kreative Potenzial der Gruppe Die Gruppenanalyse geht als therapeutisches Instrument auf die 1940er Jahre in London zurück. Foulkes, ein deutscher Psychoanalytiker, der nach 1933 zur Emigration gezwungen war, entwickelte die gruppenanalytische Theorie und Praxis im Laufe seiner therapeutischen Arbeit (Foulkes, 1974; Foulkes, 1978). In der Folge entwickelte sich die Gruppenanalyse kontinuierlich weiter und über das Feld der therapeutischen Anwendung hinaus in Richtung Supervision, Selbsterfahrung, Beratung und Organisationsanalyse (Haubl, 1994). Diese Entwicklung impliziert einen kreativen Umgang mit den psychoanalytischen und gruppenanalytischen Erkenntnissen; gruppenanalytische Supervision und Beratung bedient sich der gruppenanalytischen Erkenntnisse und nutzt sie in ihren jeweiligen Bezugssystemen (vgl. dazu auch Raguse, 1990). Wirkfaktoren der

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Gruppenanalyse (Finger-Trescher, 1991) sind insbesondere der haltende Faktor der Gruppe, auch Holding-Function genannt (Foulkes, 1974), das kreative Potenzial der Gruppe, das es der Gruppe und den Einzelnen ermöglicht, über ihre Kommunikation hinter manifesten Inhalten bislang verborgene latente Inhalte zu entdecken, die zum Verstehen des Handelns und zur Erweiterung der Handlungsspielräume beitragen (Barthel-Rösing, 2005), und der Spiegeleffekt in der Gruppe, der den Teilnehmer/-innen zur Bewusstwerdung ihrer eigenen Anteile verhilft. Gerade »Spiegelphänomene sind ein wertvolles Mittel zur Orientierung und tragen zum Erleben von Evidenz und Erkenntnis bei« (Volhard, 2005). »Man kann leichter die Probleme der anderen als die eigenen erkennen. Die Verdrängung und das Verdrängte zum Beispiel kann erkannt werden, wenn es bei anderen aufgezeigt wird. Das wirkt aber gleichzeitig als analytische Kraft in einem selbst. Die Diskussion, Interpretation oder Analyse von derartigem Material wirkt sich gleichzeitig in einer ganzen Anzahl von Menschen aus, auch dann, wenn sie nur zuhören. Ein großer Teil der therapeutischen Wirkung, insbesondere auch Erleichterung von Angst- und Schuldgefühlen, kommt daher in Form von Projektion zustande. Abgesehen von einem Abbau des Narzissmus sind hier Kräfte von Identifikation und Kontrast am Werk. Wir haben das Bedürfnis, die einzelnen Faktoren voneinander zu unterscheiden, indem wir ihnen einen speziellen Namen geben, und wir schlagen die Bezeichnung ›Spiegelreaktion‹ (mirror reaction) vor« (Foulkes, 1974, S. 59). In der konkreten Beratungsarbeit in der Studierendengruppe entfaltet sich das besondere kreative Potenzial der Gruppe im gemeinsamen Bearbeiten einer von einer/einem Studierenden geschilderten Schulsituation, die sie/er in die Sitzung einbringt. Dadurch dass die – Gruppenteilnehmer/-innen vergleichbare Situationen während ihrer Praxiserfahrung erlebt haben und aktuell als Studierende und Seminarteilnehmer/-innen in einer vergleichbaren Situation sind, ist es ihnen möglich, in der Dialektik von Nähe zu der geschilderten Situation und Distanz als Nichtbetroffene die Situation in einem umfassenden Sinn zu verstehen und konstruktiv neue Handlungsalternativen zu entwickeln. Es handelt sich hier nicht allein um die kognitive Kompetenz der Gruppenmitglieder, sondern auch um die Kompetenz der Gruppe als Ganzes, die ihr bewusstes und unbewusstes Handeln umfasst. Das kommunikative Unbewusste in der Studierendengruppe trägt wesentlich zum Verstehen von Situationen bei, die ein Studierender erlebt hat und dient damit der Erweiterung der Handlungskompetenz (Mies, 2011). In der gemeinsamen Reflexion der Erfahrungen werden vielfältige Gruppenerfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen und aus unterschiedlichen Lebensbereichen aktiviert. So werden in der Gruppe neben den zunächst angesprochenen Gruppenerfahrungen im Praktikum auch die erin-

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nerten eigenen Schulgruppen und schließlich Erinnerungen an unterschiedliche Familiengruppen lebendig. In der Verbindung der verschiedenen Ebenen des Erlebens von Gruppen – im Hier und Jetzt und im Dort und Damals – liegt das wegweisende kreative Potenzial der Arbeit. Die aktuelle Gruppe im Seminarraum dient im Sinne Bions (2001) als Containing für ganz unterschiedliche schulische Biografien mit ganz unterschiedlichen familiären, sozialen und kulturellen Hintergründen. Die schulischen Sozialisationserfahrungen werden kommuniziert und können in der Gruppe nebeneinander bestehen bleiben. Ein Staunen darüber kommt auf, wie unterschiedlich Schule erlebt wurde. Angeregt durch diesen Erfahrungsaustausch erinnern die Studierenden andere Schüler aus ihrer Schulzeit, deren Verhalten sie nun nachträglich verstehen. So berichtet im Anschluss an eine geschilderte Praktikumserfahrung, in einer Klasse mit mehreren Kindern mit Migrationshintergrund, eine Lehramtsstudentin darüber, wie sie sich als einzige Schülerin mit Migrationshintergrund in der gymnasialen Oberstufe gefühlt hatte. In der Gruppe werden daraufhin Erinnerungen an fremde Schüler und Schülerinnen lebendig, deren Verhalten sie nachträglich als einsame Fremde im Klassenverband verstehen können. Die symmetrische Form der Kommunikation in der Studierendengruppe, die Raum für den Austausch gemeinsamer und trennender Schulerfahrungen lässt, eröffnet Anstöße für kreative Prozesse im Hinblick auf ganz individuelle Vorstellungen einer zukünftigen beruflichen Entwicklung. Die Möglichkeit sozial, familiär und kulturell unterschiedliche Perspektiven in Bezug auf Schulerfahrungen einzunehmen, erweist sich als äußerst sinnvoll und nützlich für den zukünftigen beruflichen Alltag. Durch die Gespräche entsteht eine kohäsive Gruppensituation (Yalom, 1996), die es erlaubt, Zweifel, Ängste, Wünsche und Sehnsüchte in Bezug auf den zukünftigen Beruf einzubringen. Wenn auch die Beratung in der Gruppe durch die Gruppe besonders bedeutsam ist, so darf doch die beratende gruppenanalytische Kompetenz der Leitung mit den daraus resultierenden Aufgaben nicht außer Acht gelassen werden. Die Gruppenleitung bildet den haltenden Gruppenrahmen, eine Funktion, die unabdingbar ist, um das Potenzial der Gruppe konstruktiv nutzen zu können. Andernfalls besteht in der Gruppe die Gefahr des Abgleitens in die Destruktivität, insbesondere dann, wenn die Tendenz in der Gruppe übermächtig wird, sich von einem Gruppenmitglied abzugrenzen, ein Gruppenmitglied auszugrenzen. Die Gruppenleitung hat die Aufgabe zu spüren, wann ein Steuern der Gruppe notwendig ist, um die Kreativität des Prozesses zu erhalten. Darüber hinaus gehört es zu den wesentlichen Eingangsaufgaben der Gruppenleitung, in die Arbeitsweise des Gruppengesprächs einzuführen. Der Dreischritt im Durcharbeiten Wahrnehmen – Verstehen – Handeln sollte zu Beginn verdeut-

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licht werden und immer wieder im Laufe der gemeinsamen Arbeit reaktiviert werden. Die theoretische Rahmung und die Einführung in die im universitären Kontext ungewohnte Kommunikation des freien Assoziierens gehören ebenfalls zu den prominenten Leitungsaufgaben. Der Hinweis auf das Gebot der Verschwiegenheit nach außen, eine Voraussetzung dafür, dass das freie Assoziieren in der Gruppe seinen sinnvollen Platz finden kann, sollte nicht fehlen. Verantwortlich ist die Gruppenleitung auch für methodische Entscheidungen. So bieten sich neben dem Gruppengespräch in der Gesamtgruppe die Arbeit mit Innen- und Außenkreis, die szenische Darstellung in Rollenspiel und Standbild, und das assoziative Schreiben als Hinführung zum freien Assoziieren an, um den Perspektivwechsel zu erleichtern. Und doch sollte sich die Seminarleitung bewusst sein, dass sie die Gruppe nicht nur von außen betrachtet und lenkt, sondern selbst zugleich außerhalb und innerhalb der Gruppe ist. Sie arbeitet in dem dialektischen Spannungsfeld, einerseits der Beratungsgruppe zu einem vertieften Verständnis der zu bearbeitenden Situationen zu verhelfen, andererseits immer auch selbst Teil des Prozesses zu sein (Schmidt-Bernhardt, 2009). Insofern ist die Gruppenleitung immer sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gruppe und muss sich von Allmachtsfantasien, die dahin gehen, den gesamten Gruppenprozess steuern zu können, verabschieden. »Das Chaos strukturiert sich nicht von alleine und auch nicht durch ein Programm des Supervisors, sondern durch die Gruppe, d. h. durch die Gruppe als Ganzes im Mitwirken jedes Einzelnen und begleitet vom Verstehen des gruppenanalytischen Supervisors. Dabei hat dieser eine Position an der Grenze der Gruppe inne. Als Gruppenanalytikerin habe ich nicht in jedem Moment und oft erst im Laufe der Sitzung den Überblick und Durchblick, immer aber das Vertrauen in die Gruppe und in die eigene Professionalität als gruppenanalytische Supervisorin. Die Gruppe, die immer mehr ist und weiß als die Summe der Einzelnen, enthält eine Kompetenz und ein inneres Regulationssystem, dessen sie sich am Anfang nicht bewusst ist, im Laufe des Supervisionsprozesses aber immer mehr bewusst wird. […] Der gruppenanalytische Prozess braucht Zeit, verändert jedoch die Gruppenkultur und bewirkt anhaltende Veränderungen in der Organisation« (Barthel-Rösing, 2005, S. 139 f.). Das szenische Verstehen Das Konzept geht auf den Psychoanalytiker Alfred Lorenzer (1984) zurück und ergänzt die Hermeneutik um eine wesentliche Komponente. Lorenzer entfaltete das szenische Verstehen als einen zentralen Zugang zum Verstehen von Interak-

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tionsprozessen. Die in einer Kommunikation enthaltenen Szenen können entschlüsselt werden und zum besseren Verständnis der Kommunikationsteilnehmer beitragen. Szenisches Verstehen bedeutet somit das vertiefte Verstehen von Interaktionsprozessen. Das Verstehen der Szene beinhaltet sowohl das Erkennen von immer wiederkehrenden Handlungsmustern als auch das Aufdecken in der Szene verborgener Wünsche und wiederkehrender Abwehrmechanismen. Der Analytiker ist nach Lorenzer nicht neutraler Beobachter der von seinem Patienten geschilderten Szene, sondern mit in die sich entwickelnde Szene eingebunden und nimmt als Mitspieler an der Szene teil. Psychoanalyse und Gruppenanalyse arbeiten mit dem szenischen Verstehen, das sowohl die Subjektivität der Handelnden als auch den manifesten und latenten Sinngehalt des Handelns in das Verstehen einbezieht. Das szenische Verstehen als ein tiefgehendes Verstehen der Interaktionsabläufe erfasst neben der Ebene der sprachsymbolischen Interaktionsformen auch die der sinnlich-symbolischen Interaktionsformen (Lorenzer, 1984). Auf die Psychoanalyse bezogen drückt Haubl das folgendermaßen aus: »Das Organ, mit dem der Analytiker Unbewußtes in den sprachlichen Mitteilungen erfassen kann, hat Reik (1976:170) bekanntlich das ›Dritte Ohr‹ genannt, das die ›geheimen Botschaften anderer‹ wahrnimmt, bevor er [der Analytiker] sie selbst bewußt versteht. Es ist ein ›Hören durch die Worte hindurch‹, auf das, was im ›Geflecht der Vieldeutigkeiten, der Metaphern und Nebenbedeutungen im Rhythmus und den Anklängen‹ (Küchenhoff u. Warsitz 1991, S. 31 ff.) zum Ausdruck kommt (Lothane 1981). Was derart Gehör findet, ist das Bildliche am Gesprochenen und das Leibliche am Sprechen: Wenn der Analytiker den Analysanden zum Beispiel mit fast tonloser Stimme wie beiläufig sagen hört, sein ganzes bisheriges Leben sei ein einziges ›Gewürge‹, dann spürt er dessen Bedrängnis als Atemnot und sieht eine Person, der etwas Ungenießbares im Halse steckt, das sie weder hinunterzuschlucken noch zu erbrechen vermag« (Haubl, 1999, S. 30). Ebenso wie der Analytiker als Akteur mit all seinen Sinnen und Empfindungen gefragt ist, um die Botschaften in der Szene wahrzunehmen, sind auch Berater und Beraterin in der gruppenanalytischen Beratung in ihrer Subjektivität gefragt. Erleben und Empfinden des Beraters/der Beraterin sind wertvolle Instrumente des Erkenntnisgewinns (Devereux, 1973). »Aus der szenischen Anteilnahme erwächst das szenische Verstehen« (Lorenzer, 1986b, S. 62). Wie in der therapeutischen Sitzung entschlüsselt sich auch in der gruppenanalytischen Beratungssituation die aktuelle Szene abduktiv, das heißt über eine freischwebende Bildung von Bedeutungshypothesen (Haubl, 1999). In der Beratungsgruppe ist es zunächst Aufgabe des Beraters/der Beraterin, mittels

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gleichschwebender Aufmerksamkeit die Szene zu verstehen. Seine/ihre selbstreflexive Introspektion ist hier unabdingbar. Den Studierenden ist die Introspektion zum Verstehen eines von einem anderen Gruppenmitglied eingebrachten Problems zunächst fremd. Von Seminarsitzung zu Seminarsitzung wird die Gruppe allmählich mit dem szenischen Verstehen vertrauter. Das szenische Verstehen beleuchtet die subjektive Lebenspraxis der Studierenden als Akteure im Kontext der gesellschaftlichen, kollektiven Praxis. Mit Hilfe des szenischen Verstehens findet die Gruppe nach und nach Antworten auf die Frage, wie die gesellschaftliche Realität von den handelnden Subjekten verarbeitet wird (Lorenzer, 1986a). In jeder Szene werden persönliche Anteile ebenso wie gesellschaftliche institutionelle Anteile verdeutlicht. Zwischen Beraten und Bewerten: ein Grundkonflikt in Schule und Universität Die gruppenanalytische Beratungssituation begreift das dynamische Geschehen in der Seminargruppe in Zusammenhang mit den institutionellen Prozessen. Eine Aufgabe der Leitung ist es, immer wieder die Wechselwirkung zwischen Gruppengeschehen und Institution zu thematisieren (Volhard, 2005). In der Beratungsgruppe zur Reflexion der Praxiserfahrungen sind beide symbolischen Ordnungen, die der Institution Schule ebenso wie die der Institution Universität, gleichzeitig präsent. Wie sich mit Hilfe des szenischen Verstehens diese institutionelle Verflechtung reflexiv bearbeiten und begreifen lässt, soll an einem Grundkonflikt in Schule und Universität, dem zwischen Beraten und Bewerten, exemplarisch verdeutlicht werden. An kaum einem anderen Punkt des schulischen und universitären Lernens und Lehrens ist der Einfluss der Institution so zum Greifen nahe. Lehrer sollen beides, so sieht es die institutionell festgeschriebene Aufgabe vor: Beraten und Bewerten – ihre Beratungstätigkeit ist immer von ihrer anderen Tätigkeit mitgefärbt. Eine saubere Trennung/der saubere Schnitt ist nicht möglich. In einer Person/einer Lehrerperson sind beide Funktionen verortet: Lehrer und Lehrerin haben beide Rollen, die des Beurteilers/der Beurteilerin ebenso wie die des Beraters/der Beraterin – die simultane Erfüllung beider Rollen führt zu Handlungsparadoxien. Durch eben diesen Grundkonflikt ist auch die universitäre Situation gekennzeichnet: Das Seminar zur Aufarbeitung der Praxiserfahrungen dient der Beratung, die Leistung der Studierenden wird am Semesterende bewertet. Leben mit diesem Grundkonflikt ist schulisches Leben ebenso wie universitäres Leben. Dies gilt für die Studierenden in ihrer Rolle als Lernende, Beurteilte und zu Beratende in der Universität ebenso wie für Schülerinnen und Schüler als Lernende, zu Beratende

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und Beurteilte und für Lehrende in ihrer Rolle als Beratende und Beurteilende in Schule und Universität gleichermaßen. Im universitären Beratungsseminar kann der Grundkonflikt wenn nicht aufgelöst, so doch bewusst gemacht werden und der mögliche handelnde Umgang mit dem Konflikt Platz finden. Sehen wir dazu in eine Seminarsitzung hinein: Eine Studierende, Frau Merten, regte sich auf, dass die Schülerinnen nicht mit ihrer Notengebung einverstanden waren, obwohl sie, die Praktikantin, sich doch gerade darum so besonders intensiv gekümmert hatte; außerdem hatte sie es unbedingt besser machen wollen als ihre Mentorin; sie hatte sich viel mehr Zeit genommen, sie hatte sich viel mehr Notizen gemacht, sie war viel einfühlsamer vorgegangen. Ihr ausgefeiltes Ergebnis hatte sie der Mentorin vorgelegt; die hatte sie gelobt; doch dann kam in der Klasse bei dem, was gemeinhin Notentransparenz heißt, die kalte Dusche: Eine Gruppe von befreundeten Mädchen fühlte sich ungerecht beurteilt. Die Mädchen argumentierten heftig, Frau Merten hielt dagegen, dann geriet sie ins Schleudern, dann begann sie zu stottern; schließlich brach die Mentorin die Diskussion ab. Frau Merten erzählte die Szene mit einem durchaus negativen Affekt gegen die Mädchengruppe, die sie als undankbar charakterisierte: »Es hätte doch viel schlechter für die drei ausgehen können« und ungerecht: »Die haben überhaupt nicht gesehen, was die anderen für Noten bekamen« und schließlich auch unverschämt: »Die haben sich mir gegenüber richtig doof verhalten«. Das Bearbeiten dieser Situation in der Seminargruppe förderte im Wesentlichen Folgendes zu Tage: Frau Merten schob den Ärger auf die drei Mädchen, um selbst unbeschadet davonzukommen. Sie nahm die Mädchen als Projektionsfläche für ihre negativen Gefühle. Sie verharrte im Entweder-oder: Hätten die drei Mädchen mit ihrer Kritik recht, dann hätte sie unrecht. Die Gruppe eröffnete ihr die Möglichkeit der Relativierung und des Perspektivenwechsels: Sie, die Praktikantin, konnte sehr bedacht und überlegt und pädagogisch gut gehandelt haben und gleichzeitig konnten doch einzelne Schüler und Schülerinnen nicht mit ihrem Handeln einverstanden sein und konnten sogar mit ihrer Kritik Recht haben. Dieses Sowohl-als-auch wurde in der Gruppe möglich, weil sich einzelne Gruppenmitglieder in die Mädchen hineinversetzt hatten, den Rollentausch vorgenommen hatten, mit den Stimmen der Mädchen zu Frau Merten gesprochen hatten. Dieses Sowohl-als-auch wurde ferner möglich durch den Transfer auf die universitäre Situation, das Erkennen der Parallelen, das Durchspielen der universitären Situation, in der Frau Merten bewusst wurde, dass sie bereits Vergleichbares erlebt hatte, dass sie sich ebenso wie die Mädchen über Referatsnoten geärgert hatte, und das, obwohl sie den Dozenten eigentlich »ganz in Ordnung« fand.

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Auch die Seminarleiterin war Teil der Szene: In der universitären Situation erlebt die Beraterin Vergleichbares wie Frau Merten in der schulischen Situation – den Grundkonflikt zwischen Beraten und Bewerten. Die Seminarleiterin, die zugleich Beraterin ist, empfindet das eigene Leiden, die eigene Zerrissenheit am Grundkonflikt; ihr professionelles Handeln ermöglicht es ihr, diese Empfindung zu reflektieren und in kognitive Erkenntnis umzusetzen. Auf das Empfinden folgt das Reflektieren, folgt das kognitive Analysieren. So gelingt es der Leiterin, den Konflikt zu skizzieren, zu verbalisieren, zu umreißen. Die Seminarleiterin teilt der Gruppe ihr Verstehen der Szene – ihr szenisches Verstehen – mit und trägt auf diese Weise zum Erkenntnisgewinn der Gruppe bei. Wesentlich ist aber auch, dass die Leiterin gleichzeitig mit allen Sinnen auf die Gruppe achtet, auf alles, was sich in der Gruppe abspielt: kognitiv, affektiv, gruppendynamisch. So kann die Leiterin gemeinsam mit der Gruppe zu einem vertieften Verstehen der Szene gelangen und den Konflikt sichtbar werden lassen. An diesem Beispiel wird das Potenzial gruppenanalytischer Beratung im Kontext der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung deutlich: Die Studierenden erleben und reflektieren das Praxishandeln in seiner institutionellen Einbettung; sie erspüren die entlastende Wirkung des Sowohl-als-auch gegenüber dem Entweder-oder; sie erfahren kognitiv und affektiv pädagogische Handlungsmöglichkeiten ebenso wie die Begrenztheit pädagogischen Handelns; sie machen sich ihre Empfindungen bewusst und lernen anhand ihrer Empfindungen ihr Handeln neu zu orientieren. Literatur Barthel-Rösing, M. (2005). Gruppenanalytische Supervision als Integration von Fallarbeit und Teamentwicklung. In R. Haubl, R. Heltzel, M. Barthel-Rösing (Hrsg.) (2005), Gruppenanalytische Supervision und Organisationsberatung (S. 121–140). Gießen: Psychosozial-Verlag. Bion, W. (2001). Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Stuttgart: Klett-Cotta. Devereux, G. (1973). Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fatzer, G. (Hrsg.) (1993). Supervision und Beratung – ein Handbuch. Köln: Edition Humanistische Psychologie. Finger-Trescher, U. (1991). Wirkfaktoren der Einzel- und Gruppenanalyse, Teil II. Stuttgart: frommann-holzboog. Foulkes, S. H. (1974). Gruppenanalytische Psychotherapie. München: Verlag J. Pfeiffer. Foulkes, S. H. (1978). Praxis der gruppenanalytischen Psychotherapie. München u. Basel: Ernst Reinhardt Verlag. Göppel, R., Hirblinger, A., Hirblinger, H., Würker, A. (Hrsg.) (2010). Schule als Bildungsort und ›emotionaler Raum‹. Der Beitrag der Psychoanalytischen Pädagogik zu Unterrichtsgestaltung und Schulkultur. Opladen u. Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich. Haubl, R. (1999). Die Hermeneutik des Szenischen in der Einzel- und in der Gruppenanalyse.

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Institutionelle Einflüsse auf Beratung

Inszenieren – szenisches Verstehen – szenisches Intervenieren. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 1, 17–53. Haubl, R., Heltzel, R., Barthel-Rösing, M. (Hrsg.) (2005). Gruppenanalytische Supervision und Organisationsberatung. Gießen: Psychosozial-Verlag. Haubl, R., Lamott, F. (Hrsg.) (1994). Handbuch Gruppenanalyse. Berlin u. München: Quint­essenzVerlags GmbH. Lorenzer, A. (1984). Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt a. M.: Fischer. Lorenzer, A. (1986a). Kultur-Analysen. Frankfurt a. M.: Fischer. Lorenzer, A. (1986b). Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In A. Lorenzer (Hrsg.), Kultur-Analysen (S. 11–98). Frankfurt a. M.: Fischer. Mies, T. (2011). Das kommunikative Unbewusste. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik. Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gruppenanalyse, 3, 151–166. Raguse, H. (1990). Supervision – angewandte Psychoanalyse? In G. Fatzer, C. D. Eck (Hrsg.), Supervision und Beratung – ein Handbuch (S. 171–180). Köln: Edition Humanistische Psychologie. Schmidt-Bernhardt, A. (2009). Lehrerinnen und Lehrer in der ›Matrix‹ der gymnasialen Schulklasse. Eine gruppenanalytische Perspektive. Psychosozial, 115, 61–70. Schmidt-Bernhardt, A., Kustor-Hüttl, B., Brambring, S. (2010). Lernprozessbegleitung – Bearbeitung schulischer Erfahrungen in einem universitären Curriculum. In R. Göppel, A. Hirblinger, H. Hirblinger, A. Würker (Hrsg.), Schule als Bildungsort und ›emotionaler Raum‹. Der Beitrag der Psychoanalytischen Pädagogik zu Unterrichtsgestaltung und Schulkultur (S. 238–245). Opladen u. Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich. Volhard, C. (2005). Gruppenanalytische Supervision in pädagogischen Institutionen. In R. Haubl, R. Heltzel, M. Barthel-Rösing (Hrsg.) (2005), Gruppenanalytische Supervision und Organisationsberatung (S. 249–271). Gießen: Psychosozial-Verlag. Winnicott, D. (1972). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta. Yalom, I. (1996). Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. München: Verlag J. Pfeiffer.

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Monika Sennekamp

Einflüsse auf die Schulung ärztlicher Beratungskompetenz am Beispiel der Ausbildung von Medizinstudierenden

Hintergrund Institutionell vorgegebene Rahmenbedingungen und Ressourcen haben einen erheblichen Einfluss auf die Inhalte und Umsetzungsmöglichkeiten in der universitären Ausbildung. Häufig herrscht eine Spannung zwischen den Inhalten auf der einen sowie den zeitlichen und organisationalen Rahmenbedingungen und Ressourcen auf der anderen Seite. Anhand der Ausbildung und Förderung professioneller Beratungskompetenz im medizinischen Bereich wird dieses Spannungsfeld hier näher beleuchtet. Im Folgenden wird die Entwicklung und Implementierung eines neuen Kurskonzeptes zur Förderung kommunikativer Kompetenzen im ärztlichen Kontext vorgestellt, bei dem der inhaltliche Fokus auf Anamnesegesprächen als ärztliche Beratungskompetenz liegt. Dieses neue Kurskonzept musste einerseits in das bestehende universitäre Curriculum des Medizinstudiums eingebunden werden und andererseits die wechselnden Klinikärzte als Dozenten integrieren. Die besondere Herausforderung bei der Implementierung dieses neuen Kurskonzeptes bestand darin, dass Ärzte als Dozenten tätig werden, die in diesem Bereich bisher selbst nicht ausgebildet wurden. Von daher war es für die Implementierung dieses Kurskonzeptes notwendig, eine Schulung der Beratungskompetenz dieser Dozenten durch professionelle Trainer vorzusehen (vgl. Abbildung 1).

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Institutionelle Einflüsse auf Beratung

     

Schult Arzt in Beratungskompetenz

Arzt /  Dozent

Trainer 

Vorbild / Lehrer für Student-Patient Gespräche

Medizinstudierender Vermittlung ärztlicher Gesprächsführung als Beratungskompetenz

Neues Beratungskonzept universitärer Fortbildung Tägliche Arbeit

Arztberuf

Patient  Gesellschaftliches Selbstverständnis des Arztberufes

Universitärer Lehrbetrieb Klinikalltag

Abbildung 1: Ebenen und Rollen des Arztes in seinem professionellen Handeln

Bedeutung der Beratungskompetenz für die ärztliche Tätigkeit Die tägliche Arbeit des Arztes als medizinischem Experten besteht primär aus Beratungsgesprächen mit seinem Patienten und Behandlungen. Dies spiegelt sich in der Ziffer 1 der GOÄ (Gebührenordnung für Ärzte) wider, die für »Beratung – auch mittels Fernsprecher« steht. »Es handelt sich hierbei um eine Leistung, die bei fast jedem Arzt-Patienten-Kontakt anfällt, so dass die Ziffer 1 zu den am häufigsten berechneten Gebührenpositionen zählt« (Ulmer, 2003). Der Arzt übernimmt hierbei also die Rolle eines »fachkundigen Beraters« (Hörmann, 2004, S. 173). Neben medizinischen Inhalten spielt in der originären ärztlichen Beratung aber insbesondere eine gelungene Kommunikation mit dem Patienten eine sehr wichtige Rolle. So haben Untersuchungen ergeben, dass ein Arzt circa 200.000 Patientengespräche in seinem Berufsleben führt und drei von vier Diagnosen allein durch ein gutes Anamnesegespräch richtig gestellt werden können (Kurtz, Silverman u. Draper, 2006, S. 14). Während der Aus- und Weiterbildung lernen angehende Ärzte eine Fülle medizinischen Fachwissens und üben regelmäßig verschiedene Behandlungs- und Untersuchungstechniken, deren Beherrschung sie auch in Form von praktischen Prüfungen zeigen müssen. Grundlagenwissen der ärztlichen Gesprächsführung sowie Möglichkeiten und Methoden, auch schwierige Kommunikationssituatio-

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nen zu üben, zu reflektieren und zu verbessern, sind in den universitären Curricula der Aus- und Weiterbildung bis jetzt jedoch nur ansatzweise verankert. In der Ausbildung der Medizinstudierenden wird im Rahmen der neuen Approbationsordnung für Ärzte (ÄAppO) von 2012 (Bundesgesetzblatt, 2012) dieses Defizit erkannt und verstärkt auf die Bedeutung ärztlicher Gesprächskompetenz hingewiesen. Es wird verlangt, dass diese in der Ausbildung der Medizinstudierenden vermittelt werden soll. In einer Pressemitteilung des Bundesrates vom 11. 5. 2012 heißt es: »Zur Verbesserung der psychosozialen und kommunikativen Fähigkeiten der angehenden Ärzte möchte er [der Bundesrat] auch die Vermittlung ärztlicher Gesprächskompetenz in der Ausbildung festgeschrieben sehen« (Bundesrat, 2012). Die hohe Relevanz guter ärztlicher Gesprächsführung wird auch in vielen wissenschaftlichen Studien für einen gelungenen Patientenkontakt nachgewiesen (vgl. Hobma, Ram, Muijtjens, van der Vleuten u. Grol, 2006; Kurtz et al., 2006; Maguire u. Pitceathly, 2002; Makoul, 2001; Simpson et al., 1991; Yedidia et al., 2003). Dies alles bedeutet, dass Medizinstudierende unbedingt in diesen Kompetenzen ausgebildet werden müssen. Hier stellt sich aber die Frage, wer die Studierenden in diesem Bereich ausbilden kann und soll. Die studentische Lehre im Fachbereich Medizin wird von Dozenten durchgeführt, die als Ärzte in ihren jeweiligen Kliniken und Instituten arbeiten. In ihrem jeweiligen Fachgebiet sind diese Ärzte oft hochspezialisiert und sehr gut ausgebildet. Als Experten veröffentlichen sie wissenschaftliche Publikationen und vermitteln als Dozenten »ihre« fachspezifischen Inhalte an Studierende und Kollegen weiter. Sollen die Studierenden nun im Bereich der ärztlichen Gesprächsführung ausgebildet werden, müssen die Lehrenden in einem Bereich aktiv werden, in dem sie selbst nie ausgebildet wurden. Daraus folgt, dass die Dozenten, die im Bereich des Beratungs- und Interaktionswissens nie ausgebildet wurden, in diesem Bereich zunächst geschult werden müssen, bevor sie die Studierenden unterrichten können. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Schulung der Dozenten. Es ist die Regel, dass die Dozenten in ihren jeweiligen Kliniken dazu verpflichtet werden, bestimmte Lehrveranstaltungen durchzuführen. Deshalb müssen sie innerhalb der bestehenden Strukturen und institutionsimmanenten Gegebenheiten die Möglichkeit haben, in diesem Bereich selbst ausgebildet zu werden. Das erfordert eine Implementierung neuer Denk- und Handlungsstrukturen in dem System, in welchem die Dozenten eingebunden sind. Formen der Beratung im ärztlichen Kontext Der Arzt berät den Patienten aufgrund seines Expertenwissens über dessen Erkrankung, mögliche Untersuchungen und Therapien. Aus beraterischer Per-

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spektive kann diese Form der Beratung als »halbformalisierte Beratung« (Nestmann, Engel u. Sickendiek, 2004, S. 548) charakterisiert werden. Nestmann, Engel und Sickendiek (2004) verstehen darunter Beratung »als genuinen Anteil unterschiedlicher pädagogischer, sozialer, psychologischer, gesundheitlicher oder auch juristischer und konfessioneller Berufe und professioneller Funktionen.« Beratung ist dabei »ein (oft wichtiger Bestandteil) anderer professioneller Interventionsformen (wie Unterrichten, Behandeln, Pflegen etc.). Sie wird auf dem Hintergrund von Erfahrungswissen, Fachexpertise im Handlungsfeld und vermehrt auch beraterischer Fortbildung und Trainings geleistet« (Nestmann et al., 2004, S. 548). Die Gespräche, welche die Ärzte täglich mit ihren Patienten führen, lassen sich also als Beratungsgespräche charakterisieren, auch wenn Beratung nur als »Querschnittsmethode« in das berufliche Handeln der Ärzte integriert ist (vgl. Nestmann et al., 2004, S. 34). Dies macht die beiden Quellen deutlich, aus denen sich Beratung speist: »zum einen aus dem Arbeitsfeld spezifischen Wissens und zum anderen aus eher feldunspezifischen Kommunikations- und Handlungskompetenzen«. Daher benötigen Berater eine »handlungsfeldspezifische Wissensbasis und eine feldunspezifische Kompetenzbasis und erst wenn beide vorhanden sind und zusammenwirken, sind zwei notwendige Grundvoraussetzungen professioneller Beratung erfüllt« (Nestmann et al., 2004, S. 35). Nestmann et al. (2004) bezeichnen dies als »Doppelverortung von Beratung«. Darunter verstehen sie zum einen das Beratungs- und Interaktionswissen (Kommunikationsmodelle, Handlungsmodelle, Beratungsmethoden etc.) und zum anderen das handlungsfeldspezifische Wissen (Faktenwissen zur jeweiligen Problemlage, Interventionsformen etc.). »Handlungsfeldspezifisches Wissen ist erforderlich, um die jeweilige Problemlage angemessen verstehen zu können. Hierzu ist es notwendig, am fachspezifischen Diskurs […] teilzunehmen« (Schnebel, 2007, S. 23). Durch die Verpflichtung, sich lebenslang medizinisch fortzubilden, nehmen Ärzte regelmäßig an Kongressen und Fach-Fortbildungen teil, sodass sie in diesem Bereich meist keine Defizite haben. Im Bereich der feldunabhängigen Beratungskompetenzen, welche das Fachwissen ergänzen und dazu dienen, dass der Beratungsprozess professionell gestaltet wird, sind jedoch nur die wenigsten Ärzte ausgebildet. Wenn deren Lehrtätigkeit gelingen soll, müssen sie neben ihrem handlungsfeldspezifischen medizinischen Fachwissen auch über Beratungs- und Interaktionswissen als feldunabhängige Kenntnisse und Handlungsmöglichkeiten verfügen. So schreibt Schnebel (2007) sehr treffend: »Kenntnisse im fachlichen Bereich sagen aber alleine noch nichts über die Qualität der Beratung aus. Es ist vielmehr erforderlich, dass Berater über Wissen und Kompetenzen verfügen,

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die dazu dienen, dass der Beratungsprozess professionell gestaltet wird und die Kommunikations- und Interaktionsprozesse entsprechend beraterischer Grundlagen verlaufen« (Schnebel, 2007, S. 23). Entwicklung und Implementierung eines neuen Kurskonzeptes zur Förderung ärztlicher Beratungskompetenz Um bereits im Studium die beraterischen Kompetenzen der Medizinstudierenden zu verbessern, ist ein Kurskonzept erforderlich, das eine fundierte Basisausbildung aller Studierenden in den Bereichen ärztlicher Gesprächsführung, Beratung und Anamneseerhebung gewährleistet. Im universitären Kontext ist dafür eine Verankerung ins Curriculum unabdingbar. Dies ist entweder durch die Implementierung eines neuen Kurses oder durch die Umstrukturierung eines bereits existierenden Kurses möglich. Im Sinne eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses ist nach Möglichkeit die Form der Umstrukturierung vorzuziehen. Außerdem besteht häufig das Problem, dass es keinen institutionellen Freiraum gibt, der einen neuen Kurs gewährleisten würde. Im vorliegenden Beispiel wurde deshalb der existierende Kurs mit dem Titel »Einführung in die klinische Medizin« (EKM) umstrukturiert. Während dieses Kurses, der in Gruppen von jeweils 13 Studierenden abgehalten wird, sollen den Studierenden Grundlagen der Anamneseerhebung vermittelt werden. Pro Jahrgang besuchen circa 400 Medizinstudierende diesen Kurs, was bedeutet, dass der Kurs parallel in circa 30 Gruppen durchgeführt wird. In der ursprünglichen Form wurden die Inhalte des Kurses sehr heterogen vermittelt, je nachdem in welcher Gruppe die Studierenden eingeteilt waren und welche Dozenten (Ärzte) sie unterrichteten; klare Lernziele gab es nicht. Die einzelnen Dozenten führten den Kurs entsprechend sehr individuell durch. Um das Hauptziel des neu gestalteten Kurses – eine fundierte Basisausbildung aller Studierenden im Bereich ärztlicher Gesprächsführung und Beratung zusätzlich zur reinen Anamneseerhebung – umsetzen zu können, musste zunächst eine einheitliche Gestaltung des Kurses in den verschiedenen Gruppen erreicht werden. Dies erforderte bei der Entwicklung der eingesetzten Lehrstrategien des Konzeptes die Berücksichtigung einiger spezifischer Rahmenbedingungen. Die einzelnen Kurse finden beispielsweise immer in den Räumen der jeweiligen Kliniken und Institute statt, deren Ausstattung sehr verschieden ist. Um diesen unterschiedlichen Gegebenheiten gerecht zu werden und die Dozenten zu unterstützen, wurde der Kurs in sieben konsekutive Module gegliedert und eine sogenannte »Toolbox« entwickelt. Diese enthält alle erforderlichen Kursmaterialien für den gesamten Kurs (vgl. Abbildung 2). Sie besteht aus sie-

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ben einzelnen Fächermappen (pro Modul eine Fächermappe), welche die folgenden Materialien beinhalten: –– Ablaufplan, in dem die Themen, Lernziele, der zeitliche Ablauf, die einzelnen Inhalte, die eingesetzten Methoden und die Materialien dargestellt sind; –– ausführliches Dozenten-Skript, in dem detaillierte Hintergrundinformationen zu den entsprechenden Modul-Inhalten zusammengestellt sind; –– Plakat mit den Lernzielen des Moduls, das zu Beginn des Kurses aufgehängt werden soll; –– vorgefertigte Plakate, Arbeitsblätter und Karten, die direkt im Kurs eingesetzt werden können; –– Beobachtungsbögen mit Beobachtungsaufgaben für die Studierenden, die als Grundlage für ein ausführliches, konstruktives Feedback dienen, und –– Evaluationsbögen für Dozenten und Studierende für eine kontinuierliche Qualitätssicherung und Optimierung des Kurses.

Abbildung 2: Die Toolbox mit allen Unterrichtsmaterialien für die Dozenten des Kurses

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Die einzelnen Module sind immer nach demselben Schema aufgebaut. Der Ablaufplan bietet den Dozenten in strukturierter, übersichtlicher Form einen Leitfaden durch die einzelnen Module. Neben einer Zeitschiene werden dort die Inhalte, Methoden und Materialien, welche für die einzelnen Abschnitte relevant sind, beschrieben. Ein Beispiel findet sich in Abbildung 3. Übersicht Module – Modul III

Zeit 10 Min.

Inhalte Begrüßung

Methoden

Materialien

Frontal

Vorstellung der Themen, Seminarablauf Lernziele

Vorgefertigtes Plakat (A3 ) oder PPP

Kurze Wiederholung der Inhalte der letzten Sitzung 40 Min.

Praktischer Teil -

2 Studierende führen nacheinander jeweils ein Anamnese-Gespräch mit einem Patienten (pro Gespräch stehen ca. 10 Min. zur Verfügung, der zweite Studierende ist beim ersten Gespräch NICHT dabei!)

-

die anderen Studierenden beobachten unter vorgegebenen Fragestellungen die Gespräche anhand der Feedbackbögen. Einteilung der Studierenden erfolgt automatisch durch verschiedene Farben der Feedbackbögen; Sie als Dozent ergänzen das Feedback der Studierenden mit Ihren Beobachtungen.

Gespräch mit Patienten

„Patienten“ Feedbackbögen für Studierende

Stattgefundenes Gespräch beurteilen nach folgenden Fragestellungen: 1. Selbsteinschätzung des „Arztes“  wie war das Gespräch für ihn? 2. Einschätzung des Patienten  wie war das Gespräch für ihn? 3. Feedback der Kommilitonen und des Dozenten zu: -

Anamneseerhebung

-

Ablauf des Gesprächs

-

Struktur des Gesprächs

Die Studierenden, die das Gespräch als Ärzte geführt haben, bekommen nach den Rückmeldungen die ausgefüllten Bögen ihrer Kommilitonen als schriftliches Feedback. 10 Min.

Klärung medizinischer Fragen

Plenum / Gespräch

Abbildung 3: Beispiel eines Ablaufplans eines Moduls (exemplarisch die erste Stunde des dritten Moduls)

In jedem Modul werden zunächst die Modul-Themen vorgestellt, die Lernziele erläutert sowie die Inhalte der letzten Sitzung kurz wiederholt. Danach führen jeweils zwei Studierende ein Anamnesegespräch mit einem Patienten. Die anderen Studierenden beobachten anhand speziell entwickelter Beobachtungsbögen diese Gespräche und geben ihren Kommilitonen im Anschluss Feedback. Die Beobachtungsbögen sind so gestaltet, dass sie inhaltlich die Themen beinhalten, die in den vorhergehenden Modulen theoretisch behandelt wurden. Wurden also beispielsweise im dritten Modul die Themen Fragetechniken und Fragetypen theoretisch behandelt, wird ab dem vierten Modul ein Beobachtungsbogen zu diesem Themenbereich an die Studierenden ausgeteilt. Auf diese Weise werden im Laufe der sieben Module die Beobachtungsaufgaben immer umfassender und komplexer. Mindestens ein Studierender beobachtet dabei jeweils einen Aspekt, sodass die Feedbackrunde abwechslungsreich ist, da von Modul zu Modul immer neue

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Rückmeldungen hinzukommen. In Abbildung 4 ist ein Beobachtungsbogen exemplarisch dargestellt. Fachbereich Medizin „Einführung in die klinische Medizin“ (EKM)

Themenbereich Fragen Wie lautete die erste Frage des Arztes?

Welche Fragetypen hat der Arzt hauptsächlich verwendet?

(offene Fragen, geschlossene Fragen, Alternativfragen, Rankingfragen, Suggestivfragen, Mehrfachfragen, Interpretationsfragen)

Sind die Fragen des Arztes verständlich?

Wie reagiert der Patient auf die Fragen des Arztes?

Abbildung 4: Beispiel eines Beobachtungsbogens, der als Grundlage für das Feedback dient

Danach wird kurz auf medizinische Fragen, die in dem Anamnesegespräch entstanden sind, eingegangen. Im Anschluss daran erfolgt die Vermittlung der neuen Lehrinhalte des jeweiligen Moduls im Bereich ärztlicher Gesprächsführung und Beratung. Auf der Grundlage moderner hochschuldidaktischer Grundsätze werden diese Inhalte methodisch abwechslungsreich unterrichtet.

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Da die methodische Gestaltung nicht im Fokus dieses Beitrags steht, wird hierauf nicht näher eingegangen. Schulungskonzept für die Beratungskompetenz der Dozenten Wie bereits erwähnt, sind die Dozenten dieses Kurses primär als Ärzte in ihrem jeweiligen Fachgebiet tätig. Als professionelle Berater, sowohl in der Arzt-Patient-Interaktion als auch in der Vermittlung dieser Tätigkeit im Bereich der studentischen Lehre, sind sie jedoch nie ausgebildet worden. Sollen sie nun Studierende im Bereich der ärztlichen Gesprächsführung ausbilden und auch als Vorbild in diesem Bereich fungieren, müssen sie zunächst selbst in diesen Kompetenzen geschult werden. Faltermaier (2004) fasst dies treffend zusammen: »Die Hauptprobleme dieser Ansätze einer ärztlichen Gesundheitsberatung liegen somit in der mangelnden psychologischen Beratungskompetenz von Ärzten (fehlende bzw. zu kurze Ausbildung) und in der zu geringen Intensität der Beratung« (Faltermaier, 2004, S. 1078). Um diesen Problemen entgegenzuwirken, müssen die institutionell vorgegebenen Rahmenbedingungen so genutzt und gegebenenfalls geändert werden, dass dies möglich ist. In Form einer Dozentenschulung sollen die neuen Kursdozenten optimal auf die Inhalte und die Methoden des Konzeptes vorbereitet werden. Diese Schulung soll gewährleisten, dass das neue Kurskonzept in den verschiedenen Studierendengruppen einheitlich unterrichtet wird. Da die Dozenten durch die an den einzelnen Kliniken und Instituten existierenden Rahmenbedingungen häufig sehr stark in einen »vollen« Ärztealltag eingebunden sind, kann eine Teilnahme an dieser Schulung nur gelingen, wenn sie als Vorbereitung verpflichtend eingeführt wird und die Dozenten dafür freigestellt werden. Im vorliegenden Beispiel hat es sich als sehr hilfreich erwiesen, dass gemeinsam mit dem Studiendekan des Fachbereichs Medizin ein Einladungsschreiben an die Direktoren der einzelnen Kliniken und Institute versendet wurde. Einerseits wurde so die Bedeutung des Kurses deutlich gemacht, andererseits auch auf die Verpflichtung der teilnehmenden Dozenten zur Schulung hingewiesen. Auch bei der Dozentenschulung ist es wichtig, die Rahmenbedingungen möglichst optimal zu gestalten. So war beispielsweise ein entscheidendes Kriterium die Wahl des Schulungsortes außerhalb des Klinikgeländes. Das verhinderte, dass die Teilnehmer während des Kurses per Funk oder Telefon herausgerufen wurden, um »mal kurz« auf ihre Station zu gehen. Nach anfänglicher Skepsis von Seiten der Dozenten und einigen Nachfragen bezüglich des Ortes der Schulung wurden in der Abschlussrunde der Schulung häufig folgende Rückmeldungen gegeben: »Sehr gutes Konzept, vor allem da ungestört außerhalb des Klinik­alltags.« »Der

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Veranstaltungsort hat sich als geeignet und sehr vorteilhaft erwiesen (Abstand zum Klinikum).« Anforderungen an den Arzt als Berater Die Dozenten erwerben durch die Schulung Kompetenzen, die sie einerseits an die Studierenden weitergeben, andererseits aber auch selbst in ihrem eigenen Berufsalltag einsetzen können. Was müssen die Dozenten also lernen? Was muss inhaltlich sowohl in der Schulung der Berater als auch später im Kurs der Medizinstudierenden verankert werden? Schnoor (2006) fasst einen wesentlichen Aspekt in folgendem Satz zusammen: »Beratung geht ins Leere, wenn es den Beratern nicht gelingt, sich auf die Realität des Klienten und seine Problemsicht einzulassen und dies zum Ausgangspunkt für den gemeinsam zu erarbeitenden Problemlöseprozess zu machen« (Schnoor, 2006, S. 50). Dies bedeutet, dass die Dozenten sich bewusst machen müssen, dass das Arzt-Patienten-­Gespräch immer auch gleichzeitig ein Beratungsgespräch ist, bei dem der Patient für seine Heilung mitverantwortlich ist. Bezieht der Arzt ihn nicht ein und schafft er es nicht, die Sicht des Patienten zu eruieren, wird der Heilungserfolg sehr wahrscheinlich gemindert werden. Der Arzt sollte folglich im Gespräch die Beschwerden und individuellen Vorstellungen seines Patienten explorieren, um daraufhin Veränderungsprozesse anstoßen zu können (Faltermaier, 2004). Konkret bedeutet dies, dass die Ärzte über »gute zwischenmenschliche Fähigkeiten in Bereichen wie Kommunikation, Zuhören und nonverbale Verhaltensweisen verfügen [müssen].« »Beratungskompetenz beruht zudem auf der Fähigkeit, bestimmte Techniken angemessen einsetzen zu können« (McLeod, 2004, S. 445). Diese Anforderungen an Berater bilden die Grundlage für die inhaltliche Gestaltung des Kurskonzeptes. Entsprechend der Kompetenzen, über die die Ärzte in ihrem Berufsalltag verfügen müssen, wurden die in Tabelle 1 dargestellten Inhalte in das Konzept aufgenommen.

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Tabelle 1: Inhalte des Kurskonzeptes Inhaltliche Gliederung Modul I

–– Einführung in das Thema Anamneseerhebung –– Was macht einen »guten« Arzt aus? –– Ärztliche Schweigepflicht

Modul II

–– Ärztliche Gesprächsführung in der Anamnese –– Feedback

Modul III

–– Fragetechniken und Fragetypen

Modul IV

–– Grundlagen der verbalen und nonverbalen Kommunikation

Modul V

–– Aktives Zuhören und Gesprächstechniken –– Grundhaltungen nach Rogers

Modul VI

–– Arzt-Patienten-Beziehung –– Der Ansatz der Partizipativen Entscheidungsfindung –– Compliance/Adhärenz

Modul VII

–– Der »schwierige« Patient

Die Ärzte lernen also in der Dozentenschulung zum einen die Inhalte, die eine gelingende Beratung im Rahmen des Arzt-Patienten-Gespräches ermöglichen und zum anderen aktivierende Methoden, wie sie die Inhalte des Kurses als Dozenten in ihrem Unterricht mit den Studierenden möglichst abwechslungsreich und interessant gestalten können. Evaluationsergebnisse des Konzeptes Unter Berücksichtigung der beschriebenen Voraussetzungen wurde das neue Kurskonzept im Jahr 2007 erstmals implementiert. Seitdem wird es kontinuierlich differenziert evaluiert und auf Grundlage der Evaluationsergebnisse weiter verbessert. Die Evaluationen, welche die Studierenden und Dozenten nach Abschluss des Kurses jedes Jahr ausgefüllt haben, spiegeln eine hohe Zufriedenheit mit dem Kurs wider. Das entsprechende Item (»Zufriedenheit mit dem Kurs«) wurde in beiden Evaluationsbögen auf einer sechsstufigen Likert-Skala von 1 (»sehr zufrieden«) bis 6 (»sehr unzufrieden«) bewertet. Die Mittelwerte liegen bei den Studierenden-Evaluationen zwischen 1,81 und 2,26 über den Erhebungszeitraum von 2007–2011. Bei den Dozenten liegen die Mittelwerte während der Jahre 2008–2011 zwischen 1,67 und 2,08. Insgesamt wurde das Item von Jahr zu Jahr besser bewertet. Diese kontinuierliche Verbesserung der Ergebnisse ist sicherlich mit der kontinuierlichen Weiterentwicklung des Kurses nach jeder Evaluation zu erklären.

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Institutionelle Einflüsse auf Beratung

Auch die verpflichtende, eintägige Dozentenschulung wird seit Beginn des neuen Kurses im Jahr 2007 kontinuierlich in Form eines schriftlichen Evaluationsbogens bewertet. Der longitudinale Vergleich über den Erhebungszeitraum von fünf Jahren zeigt insgesamt eine deutliche Verbesserung in allen Bereichen: So verbesserte sich die Struktur der Dozentenschulung von einem Mittelwert von 1,92 auf einen Mittelwert von 1,0. Die Durchführung bewerteten die Teilnehmer zunächst im Mittel mit 2,04, später mit 1,0. Auch die Seminarleitung wurde zunächst mit einem Mittelwert von 1,73, drei Jahre später hingegen mit 1,0 bewertet. Ebenso spiegeln die Freitext-Antworten der Dozenten eine hohe Zufriedenheit mit der Schulung wider, wie beispielsweise folgende Aussagen zeigen: »Die Toolbox ist eine tolle Idee und nimmt dem Dozenten viel Arbeit ab!!!« »Hochmotivierte Leiter der Dozentenkurse, denen ihre Aufgabe am Herzen lag und dies auch an mich weitergegeben haben und ich auch hoffentlich an meine Studenten.« »Sehr professionell, angenehme Atmosphäre, gute Gruppengröße, fantastischer Veranstaltungsort.« »Da wünscht man sich, selbst noch mal Student zu sein.« Schlussfolgerungen Eine Schulung ärztlicher Beratungskompetenz im Kontext institutionell vorgegebener Rahmenbedingungen kann gelingen, wenn zum einen die Voraussetzungen, welche die Ärzte mitbringen, und zum anderen die vor Ort herrschenden Regeln und Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Der Arzt ist immer in verschiedene Kontexte eingebunden, in denen er gleichzeitig agieren muss. Im Sinne der »Doppelverortung von Beratung« benötigt der Arzt neben seinem bestehenden Fachwissen zusätzlich »feldunabhängige Beratungskompetenzen«, um sowohl seine Gespräche mit den Patienten als auch den Unterricht mit den Studierenden professionell gestalten zu können. Um dies umsetzen zu können, muss er in seiner Beratungskompetenz geschult werden. Häufig unterliegen Berater nämlich »dem Vorurteil, lediglich zu informieren, verfügen sie schließlich über spezielles, ihrem Arbeitsfeld angepasstes Fachwissen und fachliche Kompetenz in Bezug auf die jeweiligen Fragestellungen und Probleme ihrer Klienten« (Broermann, 2012, S. 8). Und leider ist dieses Vorurteil bei Ärzten mit einer herkömmlichen Ausbildung oft nicht unbegründet. Die Schulung der Beratungskompetenz von Ärzten kann dann gelingen, wenn diese das Gefühl haben, bei der Schulung etwas »für sich mitzunehmen«. Sie haben meist keine Zeit und auch nicht das nötige Hintergrundwissen, um sich selbst ein Konzept zu erarbeiten. Daher sind ein umfangreiches, detailliertes Konzept mit beispielsweise einer »Toolbox« sowie eine ausführliche Schu-

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lung der Dozenten im Bereich ihrer Beratungskompetenz gute Möglichkeiten, sie so weit wie möglich zu unterstützen. Daneben müssen die entsprechenden Rahmenbedingungen berücksichtigt und gegebenenfalls neu geschaffen werden. »Verbündete« in Schlüsselpositionen sind bei der Umsetzung eines solchen Konzeptes äußerst hilfreich, wie im vorliegenden Beispiel der Studiendekan. Eine bindende Verpflichtung (hier die Integration ins Curriculum in Form eines Pflichtkurses) macht die Relevanz des Themas sowohl für die Dozenten als auch für die Studierenden deutlich. Im beschriebenen Beispiel ist es gelungen, einen gut strukturierten Kurs für knapp 400 Studierende im Regelstudiengang zu implementieren, der fundierte Basiskenntnisse in ärztlicher Gesprächsführung, Beratung und Anamneseerhebung vermittelt. Die Neukonzeption des bestehenden Kurses hat sich hinsichtlich der durchweg guten Evaluationsergebnisse als deutliche Verbesserung der bisherigen Kursstruktur erwiesen. Studierende und Dozenten sind mit dem neuen Kurs sehr zufrieden und die Dozenten bewerten die verpflichtende Dozentenschulung mit »sehr gut«. Durch die Dozentenschulung konnten über die speziellen Themen des Konzeptes hinaus Synergieeffekte erzielt werden: So findet während der Dozentenschulung immer wieder eine Vernetzung der Dozenten untereinander statt, die dazu führt, dass innerhalb der Institution (des Klinikums) die Inhalte des Kurskonzeptes an Kollegen weitergegeben werden. Auch verbessert sich die Lehrkompetenz der Dozenten insgesamt durch die neuen Methoden, welche die Dozenten lernen. Über die Jahre hinweg konnte beobachtet werden, dass sich die Haltung der Dozenten zur Lehre durch das neue Konzept insgesamt verändert hat. Fragte ein Dozent in der ersten Schulung 2007 beispielsweise: »Ist das dieser verpflichtende Kurs, an dem ich teilnehmen muss?«, so sagte eine Dozentin 2010 exemplarisch: »Danke, dass ich an diesem Kurs teilnehmen darf.« Literatur Broermann, M. (2012). Entwicklung eines Selbstverständnisses von Beratung als Disziplin und Profession. Diplomarbeit, Philipps-Universität Marburg. Marburg. Bundesgesetzblatt (2012). Erste Verordnung zur Änderung der Approbationsordnung für Ärzte, Bundesanzeiger Verlag. Zugriff am 22. 10. 2012 unter http://www.bgbl.de/Xaver/media.xav?SID=anonymous3509154041258&name=bgbl%2FBundesgesetzblatt%20Teil%20I%2F2012%2FNr.%20 34%20vom%2023. 07. 2012%2Fbgbl112s1539.pdf&bk=Bundesanzeiger_BGBl Faltermaier, T. (2004). Gesundheitsberatung. In F. Nestmann, F. Engel, U. Sickendiek (Hrsg.), Das Handbuch der Beratung. Bd. 2: Ansätze, Methoden und Felder (2. Aufl., S. 1063–1081). Tübingen: dgvt-Verlag. Hobma, S., Ram, P., Muijtjens, A., van der Vleuten, C., Grol, R. (2006). Effective improvement of doctor-patient communication: A randomised controlled trial. British Journal of General Practice, 56 (529), 580–586.

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Institutionelle Einflüsse auf Beratung

Hörmann, G. (2004). Gesundheitswissenschaften/Medizin und Beratung. In F. Nestmann, F. Engel, U. Sickendiek (Hrsg.), Das Handbuch der Beratung. Bd. 1: Disziplinen und Zugänge (2. Aufl., S. 171–180). Tübingen: dgvt-Verlag. Kurtz, S., Silverman, J., Draper, J. (2006). Teaching and learning communication skills in medicine (2. Aufl.). Oxford: Radcliffe. Maguire, P., Pitceathly, C. (2002). Key communication skills and how to acquire them. BMJ, 325 (7366), 697–700. Makoul, G. (2001). Essential elements of communication in medical encounters: the Kalamazoo consensus statement. Acad. Med., 76 (4), 390–393. McLeod, J. (2004). Counselling – eine Einführung in Beratung. Tübingen: dgvt-Verlag. Nestmann, F., Engel, F., Sickendiek, U. (Hrsg.) (2004). Das Handbuch der Beratung. Bd. 1: Disziplinen und Zugänge (2. Aufl.). Tübingen: dgvt-Verlag. Schnebel, S. (2007). Professionell beraten. Beratungskompetenz in der Schule. Weinheim u. Basel: Beltz. Schnoor, H. (Hrsg.) (2006). Psychosoziale Beratung in der Sozial- und Rehabilitationspädagogik. Stuttgart: Kohlhammer. Simpson, M., Buckman, R., Stewart, M., Maguire, P., Lipkin, M., Novack, D. (1991). Doctor-patient communication: the Toronto consensus statement. BMJ, 303 (6814), 1385–1387. Ulmer, M. (2003). Abrechnung einer Beratung nach der GOÄ-Nr. 1 und Abgrenzung gegenüber einer Leistung nach der GOÄ-Nr. 2, Landesärztekammer Baden-Württemberg. Zugriff am 02. 11. 2012 unter http://www.aerztekammer-bw.de/10aerzte/42goae/10entscheidungen/abgrenzung.html Yedidia, M. J., Gillespie, C. C., Kachur, E., Schwartz, M. D., Ockene, J., Chepaitis, A. E. (2003). Effect of communications training on medical student performance. JAMA, 290 (9), 1157–1165.

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3.  Professionelle Einflüsse auf Beratung

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Uta-Kristina Meyer, Heike Schnoor und Carolin Tillmann

Psychosoziale Beratung im Spannungsfeld disziplinärer und professioneller Deutungshorizonte

Teil drei dieses Buches fokussiert die Einflüsse unterschiedlicher professioneller Deutungshorizonte auf Beratung. Sowohl hinter spezifischen Beratungskonzepten und Problemlösungsstrategien als auch hinter spezifischen Perspektiven auf Klientengruppen stehen professionelle Vorstellungen, die normativ aufgeladen sind und Kategorisierungen enthalten. Sie beeinflussen den Umgang der Berater und Beraterinnen mit ihrer Klientel. Deutungshorizonte spielen für die Entstehung und das Verständnis der Probleme aus Sicht der Klientel eine zentrale Rolle. Heike Schnoor analysiert in ihrem Beitrag darüber hinaus, wie in einer Beratung aus den Anliegen der Klientel ein bearbeitbares Problem gemacht wird und welche Einflüsse diesen Organisationsprozess gestalten. Dabei zeigt sich, dass disziplinäre und professionelle, aber auch subjektive Deutungshorizonte der Berater, die wiederum in lebensweltlich, kulturell und institutionell geprägte Ordnungen eingebunden sind, sowohl das Problemverständnis als auch die Gestaltung des Problemlösungsprozesses formen. Spannungsfelder entstehen dann, wenn in Beratungen konkurrierende Deutungshorizonte zum Tragen kommen. Diese zeigen sich zum Beispiel in Form divergierender Perspektiven von Beratern und Klienten, aber sie sind auch in den verschiedenen Beratungskonzepten und -methoden zu finden. Da viele Berater eklektizistisch arbeiten, das heißt, unterschiedliche Beratungskonzepte in ihrem praktischen Vorgehen mischen, bewegen sie sich auch in ihrer professionellen Beratungspraxis im Spannungsfeld unterschiedlicher Deutungshorizonte. Spannungen können auch darin begründet sein, dass in den grundständigen Studiengängen und anschließenden Weiterbildungen der Berater unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Burkard Thiele untersucht in seinem Beitrag exemplarisch, inwiefern sich zentrale pädagogische Ziele mit den Anliegen der systemischen Beratung in Einklang bringen lassen. Dies ist angesichts der großen Zahl systemisch beratender Pädagogen ein relevantes Beispiel. Professionelle Beratung wendet sich traditionell an autonome, gesunde, in aktuellen Krisen oder Entscheidungskonflikten befindliche Menschen. Diese

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Professionelle Einflüsse auf Beratung

Personen sollen mit Hilfe einer Beratung eine Orientierungs-, Planungs-, Entscheidungs- und Bewältigungshilfe bekommen, die ihre Handlungssicherheit bei der Bewältigung ihres Problems erhöht. Personen, die als verrückt, krank, behindert oder unkooperativ gelten, wurden vor diesem Hintergrund nicht als Adressaten von Beratung in Betracht gezogen, sondern als abhängige Objekte expertokratischer Hilfe betrachtet: Sie wurden erzogen, versorgt, behandelt oder therapiert, jedoch nicht beraten. Das beschriebene Phänomen trifft auf viele ausgegrenzte und stigmatisierte Klientengruppen zu, aber auch auf solche, die als zu jung oder zu alt für Beratungsangebote angesehen wurden. Uta-Kristina Meyer verdeutlicht dies in ihrem Beitrag beispielhaft an einer Klientel, die wegen ihres Alters aus dem Blick zu geraten droht. Kinder, die von Trennung und Scheidung betroffen sind und Klienten der Erziehungs- und Familienberatung werden, können entweder zur vergessenen Größe oder zum zentralen Subjekt in der Beratung werden. Dies ist abhängig von einer Reihe von Einflussfaktoren: die Rechtsgrundlage spielt eine Rolle, aber auch individuelle Faktoren der Kinder und ihrer Eltern. Auch weitere in den »Fall« involvierte Institutionen nehmen hier Einfluss. Darüber hinaus führen auch die unterschiedlichen Konzepte der Erziehungs- und Familienberatung dazu, dass die jungen Klienten entweder als autonome, entscheidende Subjekte wahrgenommen oder aus dem Blick verloren werden. Da professionelle Vorstellungen selbst durch gesellschaftliche Annahmen beeinflusst werden, sind diese Bilder historischen Wandlungsprozessen unterworfen. Derzeit gibt es Bemühungen, stigmatisierende Bilder von ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen zu verflüssigen, um ihnen einen Zugang zu Entwicklungsund Emanzipationsprozessen zu ermöglichen. Die Verflüssigung festgefügter, traditioneller Bilder scheint gerade in postmodernen Zeiten möglich, weil diese Epoche eine Pluralisierung kulturell geprägter Vorstellungen zulässt und unterschiedlichste Lebensentwürfe erlaubt. Am Beispiel behinderter Menschen kann der Prozess der Konstruktion und Dekonstruktion disziplinärer Vorstellungen über die Klientel exemplarisch dargestellt werden: Der Prozess der Dekonstruktion beginnt damit, dass Betroffene die Definitionsmacht Professioneller über die Vorstellungen von Behinderung in Frage stellen. Sie fordern, dass das professionelle Vorverständnis über Klienten transparent gemacht, reflektiert und dekonstruiert wird. Dies hat auch Folgen für Beratungen in diesem Feld: Solange behinderte Menschen Objekte von Fürsorge und Pflege sind und andere über ihr Leben bestimmen, bezieht sich ein Beratungsbedarf höchstens auf ihre Angehörigen, gesetzliche Betreuer oder Pflegekräfte. Ein Beratungsbedarf der Betroffenen selbst entsteht erst dann, wenn diese in die sie betreffenden Entscheidungsprozesse aktiv eingebunden werden, das heißt, wenn sie selbst bestim-

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Meyer, Schnoor, Tillmann  |  Disziplinäre und professionelle Deutungshorizonte

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men können, welche Hilfe sie in Anspruch nehmen möchten. Erst ab diesem Moment wird es notwendig, die Betroffenen über ihre Möglichkeiten und Rechte zu informieren und mit ihnen gemeinsam nach Wegen zu suchen, ihr Leben nach ihren Wünschen zu gestalten. Gelingt also die Dekonstruktion des Bildes behinderter Menschen und sieht man sie als autonom entscheidende Subjekte, gewinnt die Hilfeform Beratung für diese Klientel an Bedeutung. Carolin Tillmann zeigt am Beispiel des Peer Counseling, welchen Einfluss das Engagement von Aktivisten und Aktivistinnen der Selbsthilfe- und Bürgerrechtsbewegung auf die Entwicklung der Beratungslandschaft im psychosozialen Bereich hatte. Der Einsatz behinderter Menschen hat dazu geführt, dass sich Peer Counseling als Beratungsform etablieren konnte und langsam institutionalisiert wird. Diese Entwicklung verdeutlicht, dass sich der Blick auf die Klientel der behinderten Menschen, durch das Engagement der Behindertenbewegung, von einem zu rehabilitierenden Objekt auf ein auf selbstbestimmtes Leben ausgerichtetes Subjekt verschoben hat: Behinderung soll nicht länger als schicksalhaftes, persönliches Unglück gedeutet werden, dem mit einer medizinisch-therapeutischen Behandlung begegnet werden muss. Vielmehr geht es darum, sie als soziale Konstruktion zu begreifen und entsprechend damit umzugehen. Die Methode des Peer Counseling wird insofern als Mittel zum Empowerment, zur Selbstermächtigung, betrachtet und ist beispielhaft für den Einfluss von Betroffenen auf die professionelle Beratungslandschaft und darüber hinaus auf die Entwicklung der Disziplin der Sozial- und Rehabilitationspädagogik.

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Heike Schnoor

Was nicht passt, wird ausgeklammert – Was nicht passt, wird passend gemacht Vom Anliegen der Klienten zum organisierten Problemlösungsprozess in der Beratung

In dem Moment, in dem ein Klient die Beratungsstelle aufsucht und einer Beraterin gegenübertritt, formiert sich ein professionell gestalteter Interaktionsprozess, der dazu beitragen soll mit dem Ratsuchenden ein tieferes Verständnis für die Ursachen seiner Problemlage zu erarbeiten sowie Lösungsansätze zu entwickeln und erfolgreich umzusetzen. Diesen Problemlösungsprozess optimal zu gestalten obliegt in erster Linie den Beratern und der Institution, welche die konzeptionelle Verantwortung für die Gestaltung des Beratungsangebots tragen. Dieser Problemlösungsprozess soll im Folgenden hinsichtlich seiner Einflüsse untersucht werden. Einflüsse auf die Organisation eines Problems Ich greife in meiner Argumentation auf Erkenntnisse von Michael Balint zurück, der in seinem Klassiker »Der Arzt, sein Patient und die Krankheit« den Interaktionsprozess zwischen Hausärzten und ihren Patienten untersucht hat (Balint, 1964/1984). Einige seiner Erkenntnisse können durchaus auch auf psychosoziale Beratungsprozesse übertragen werden. Balint ging von der Beobachtung aus, dass Krankheiten nicht einfach vorhanden sind, sondern einen Organisationsprozess durchlaufen, bei dem die Interaktion mit dem Arzt eine zentrale Rolle spielt. Patienten bieten ihrem Arzt eine Reihe von Symptomen an, die der Arzt aufgreifen, negieren oder relativieren wird. Die Reaktion des Arztes auf das Angebot des Patienten ist ein wichtiger Faktor für das Schicksal der sich entwickelnden Krankheit. Beide einigen sich dann auf eine Krankheit, die als Kompromiss für beide annehmbar erscheint und behandelt werden soll (Balint, 1964/1984). Eine Krankheit wird, so die These von Balint, sozial organisiert (Balint, 1964/1984). Übertragen auf den Beratungsprozess kann man davon sprechen, dass Klienten zwar schon mit mehr oder weniger organisierten Problemen (zum Beispiel gewachsene Eheprobleme) in die psychosoziale Beratung kommen, dass in

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der Beratung jedoch eine Fortsetzung dieses Organisationsprozesses stattfindet. Zum Teil kristallisiert sich in der Beratung auch aus einer unorganisierten Gemengelage unterschiedlichster Beratungsanliegen der Klientel erst ein Problem heraus, welches dann zum Gegenstand der Beratung gemacht und dort organisiert wird. Das organisierte Problem ist immer ein Kompromiss zwischen dem Anliegen der Klienten und dem, was Helfer anbieten können. Es ist eines, dass sowohl dem Klienten als auch dem Helfer annehmbar erscheint, das im Rahmen des Settings der Beratung handhabbar ist und für das sich die jeweilige Institution zuständig fühlt. Beratung ist zwar ein professionell organisiertes Hilfsangebot aber nicht der Ort zum Lösen eines Problems. Berater lösen das Problem auch nicht stellvertretend für Klienten, sondern sie stellen einen Rahmen zur gemeinsamen Reflexion zur Verfügung. Beratung ist dann der Ort der Betrachtung und Analyse, der kommunikativen Validierung und sozialen Aushandlung von Problemlagen. Klienten behalten dabei das Recht und die Pflicht, ihr Leben eigenverantwortlich zu regeln. Der Organisationsprozess eines Problems wird durch viele Einflüsse gesteuert, die den Erfolg oder Misserfolg einer Beratung bedingen. Dieser vielschichtige Organisationsprozess erfolgt einerseits im Rahmen gesellschaftlicher Einflüsse und andererseits zwischen weiteren Faktoren wie diesen: 1. Klienten richten ihr Handeln innerhalb und außerhalb der Beratungssituation nach eigenen Regeln aus, die ihnen jedoch nur in Teilen bewusst sind. Diese Regeln sind lebensweltlich, kulturell und weltanschaulich geprägte Ordnungen, in denen sie sich so fraglos bewegen wie die Fische im Wasser. Diese Ordnungen sind auch für die Entstehung der Problemlagen mit verantwortlich. Klienten kommen mit ihren Symptomen bzw. Problemlagen, einer biografisch (psychisch und sozial) geprägten Vorgeschichte und einer spezifischen Einstellung gegenüber dem Beratungsangebot in die Sprechstunde. 2. Berater und Beraterinnen treten ihrerseits mit einer gewachsenen Persönlichkeit und mit inneren Haltungen, persönlichen Einstellungen und Glaubenssätzen ihren Klienten gegenüber. Balint spricht in diesem Zusammenhang von einer apostolischen Mission (Balint, 1964/1984). Zur apostolischen Mission zählt beispielsweise die Vorstellung, wie ein Klient sich verhalten sollte, wie viel Leid er ertragen können sollte, wie viel Unterstützung er vom Berater verlangen darf und wie viel Dankbarkeit er dafür zeigen sollte. In diesen Einstellungen spielt auch das Selbstverständnis der Berater zu ihrem Beruf eine Rolle: Sehen sie sich als Mentoren, als Erzieher, als neutrale Wissenschaftler oder als autoritäre Elternfiguren? Die apostolische Mission zeigt sich in der Art und Weise, wie Berater ihren Klienten gegenübertreten und

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Professionelle Einflüsse auf Beratung

wie sie versuchen, ihre Klienten nach ihren Einstellungen hin auszurichten. Die Reaktionsbereitschaft der Patienten auf dieses Beziehungsangebot reicht von Unterwerfung bis Auflehnung, von einer Idealisierung bis zu einer Entwertung des Beraters. Hier schlagen sich auch alte Beziehungserfahrungen der Klienten nieder, die via Übertragung im Hier und Jetzt aktualisiert und reinszeniert werden. Als Konsequenz entstehen ganz individuelle Passungen zwischen Beratern und ihrer jeweiligen Klientel. 3. Weitere Faktoren sind die institutionelle Einbindung des Beratungsangebots, das geprägt ist durch einen gesetzlich definierten formalen Auftrag, spezifische konzeptionelle Überlegungen, aber auch eine Organisationsstruktur zur Umsetzung der Aufgabe. Mitarbeiter müssen einen Umgang mit diesem institutionellen Setting finden: Sie können mit ihm übereinstimmen oder sich mit ihm arrangieren, ihn korrigieren oder zu unterwandern suchen. Im Ergebnis werden die institutionellen Einflüsse über das gestaltete Setting an Klienten herangetragen, die wiederum in der für sie typischen Weise darauf reagieren. Die hier nur stichpunkthaft vorgetragenen Einflüsse begründen Passungen, aber auch Verwerfungen zwischen dem Beratungsangebot und den Bedürfnissen der Klienten und sie wirken auf den Organisationsprozess von Problemlagen in der Beratung. Entstehung subjektiver Sinnhorizonte Klienten kommen in die psychosoziale Beratung mit diversen Anliegen. Diese beruhen nicht nur auf einem Mangel an sächlichen Ressourcen oder auf konfligierenden Interessen, sondern sind immer auch Ausdruck der individuellen Bewertung dieser Welterfahrungen. Erst im Abgleich mit gesellschaftlichen und privaten Sinnhorizonten erscheint etwas als Problem. Auch faktische Problemlagen entfalten ihre Wirkung also erst vor dem Hintergrund spezifischer Einstellungen. Alle Beratungsakteure bewegen sich im Horizont privater Sinngefüge, die als symbolische Ordnungen begriffen werden können. Nach Alfred Lorenzer (1981) sind Einstellungen symbolischer Natur und in ihrer Genese sozial konstruiert. Ein Symbol ist ein Stellvertreter für etwas Symbolisiertes, genauer: ein Vehikel zur Vorstellung von etwas Symbolisiertem. Sprache, aber auch Religion, Kultur, Kunst und alle Theorien sind symbolische Formen. Symbole enthalten über ihren kulturellen Kontext hinaus auch eine psychische Bedeutung für ihre Verwender: Fantasien und Einstellungen sind innere Repräsentanzen von Wirklichkeit. Symbole stehen zwischen Individuum und Gesellschaft und

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ermöglichen ein Wechselspiel zwischen der inneren Welt der Gedanken und Gefühle und deren sinnlich begreifbaren Bedeutungsträgern (Lorenzer, 1981). Sprache als eine wesentliche Symbolform ist auch die Voraussetzung für die Bildung eines Bewusstseins und die Basis für bewusstes Handeln. Erst durch den Gebrauch von Symbolen erlangt ein Mensch eine spielerische Verfügung über die Situation (Lorenzer, 1981). Nach Lorenzer sind alle Symbole Produkte menschlicher Praxis, weil die Symbolbildung eines Menschen das Ergebnis eines Sozialisationsprozesses ist, der früh in der Ontogenese der Menschen seinen Ausgangspunkt nimmt. Schon während der Embryonalzeit führen vorsprachliche Erlebnisse des Kindes mit seiner Mutter zur Bildung sinnlich-symbolischer Erlebnisstrukturen. Sie finden ihren Niederschlag in der menschlichen Psyche, bleiben dort jedoch über weite Strecken unbewusst. Auf diese frühen, sensomotorisch-organismischen Verhaltensformen aufbauend entwickeln sich mit der Einführung des Kindes in die Sprache Sprachsymbole. Sprachsymbole und Interaktionsformen verbinden sich zu symbolischen Interaktionsformen (Lorenzer, 1981). Da die Mutter mit ihrem Erleben und Verhalten in gesellschaftlichen Zusammenhängen steht, vermitteln ihre Interaktionsformen dem Kind automatisch kulturspezifische Verhaltensmodelle (Lorenzer, 1981). Auch mit dem Erwerb der Sprache werden Kindern die in der Sprache enthaltenen gesellschaftlichen Praxisanweisungen und -deutungen nahe gelegt. Der normale Entwicklungsprozess der Symbolisierung kann jedoch durch den gegenläufigen Prozess der Desymbolisierung konterkariert werden. Desymbolisierung entsteht, wenn Interaktionsformen und Sprachfiguren sich in realen Lebenssituationen nicht miteinander verbinden lassen. Symbolische Interaktionsformen zerfallen dann wieder zu sprach- und emotionslosen Interaktionsformen. Desymbolisierte Interaktionsformen werden dem subjektiven Erleben fremd, koppeln sich vom Selbstverständnis ab und werden unbewusst (Lorenzer, 1981). Sie bleiben so lange konfliktlos, wie die Realität keine Versuchungssituationen bereithält. Wenn das Verdrängte jedoch aktiviert wird, kommt es zur Wiederkehr des Verdrängten. Symptome sind das Ergebnis eines Konfliktes zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Sie sind als Ersatzbefriedigungen auch verhüllte Befriedigungsversuche. Ungelöste Konflikte produzieren Ersatzbefriedigungen: Der Wunsch darf sich in der realen Situation nicht zeigen, wird geopfert und die Person arrangiert sich unter Zwang. Das Symptom ist ein Kompromiss: sozial tolerabel und für das Individuum erträglich, aber letztlich immer ein fauler Kompromiss. Hinsichtlich ihrer unbewussten psychischen Bedeutung müssen Symptome erst entschlüsselt werden (Lorenzer, 1981).

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Professionelle Einflüsse auf Beratung

Beratung in symbolischen Ordnungen Klienten, die eine professionelle Beratung aufsuchen, wissen in der Regel nicht mehr, wie sie ihr Problem praktisch beeinflussen können. Sie stecken in ihrer Problemkonstellation fest und fühlen sich ihm hilflos ausgeliefert. Ihre organisierte, das heißt chronifizierte Problemlage hat dazu geführt, dass sich ihr gesamtes Leben um diese Problemlage herum gruppiert hat. Beratung bietet Hilfe auf zwei unterschiedlichen Ebenen an: Einmal werden auf einer konkreten Ebene Informationen und praktische Unterstützungsangebote für die Betroffenen angeboten. Darüber hinaus versucht psychosoziale Beratung das zunächst distanzlos als faktisches Unglück empfundene einem Reflexionsprozess zuzuführen. Der erste Ansatz kann als stützend charakterisiert werden. Er ist für solche Klienten zentral, die keinen inneren Abstand zum Problem aufbauen können und deshalb auf einer sehr konkreten Ebene Entlastung erfahren müssen. Ihnen gelingt keine sogenannte therapeutische Ichspaltung. Dabei handelt es sich um die Fähigkeit eines Klienten, zwischen einem erlebenden und einem beobachtenden Ich zu unterscheiden (Auchter u. Strauss, 1992). Ist diese Fähigkeit vorhanden, sind Klienten auch in einer Problemsituation nicht in ihr gefangen, sondern können sich gedanklich daraus lösen und eine reflektierende Haltung zum Geschehen einnehmen. Dies führt auch zu einer Entlastung in der Problemsituation. Die zweite Hilfsstrategie kann als aufdeckende Intervention gekennzeichnet werden. Hier wird ein Reflexionsprozess initiiert, in dem man das Problem auf eine andere – eine symbolische – Ebene hebt und dort bearbeitet. Der Mensch ist ein symbolbildendes Wesen. Lebensereignisse werden im Laufe des Lebens immer wieder neu durchdacht, geordnet, bewertet und dies geschieht in der Beratung auch. Beratung bietet einen Raum für die Reflexion persönlicher Erfahrungen und Einstellungen. Vor dem Hintergrund erweiterter bzw. neuer Sinnhorizonte erscheint das Erlittene in einem neuen Licht. Dieser Prozess ist an Sprache gebunden und wird in der Beratung teilweise auch durch Methoden der Veranschaulichung symbolisch unterstützt. Der qualitative Sprung von einer faktischen zu einer symbolischen Betrachtungsebene ermöglicht es Klienten, eine innere Distanz zu den mit dem Problem assoziierten Affekten aufzubauen und einen Spielraum für bislang undenkbare Problemlösungen zu entwickeln. Symbolische Ordnungen sind also in mehrfacher Weise in Beratungen präsent: Beratung ist ein Raum in dem Klienten ihre subjektiven (Un-)Ordnungen reflektieren, aber zugleich vollzieht sich dieser Prozess selbst in einem symbolisch aufgeladenen institutionellen Rahmen. Ein Beratungsangebot kann von

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Klienten als Privileg oder Strafe, als Ort des Zwangs oder der Sicherheit und Freiheit empfunden werden. Selbst das Setting von Beratung kann symbolisch aufgeladen sein (wie in der Therapie die Analysecouch). Wenn man zum Beispiel davon ausgeht, dass klassische freiwillige Beratungsangebote überwiegend von Mittelschichtangehörigen in Anspruch genommen werden und Beratungsangebote für Klientel aus der Unterschicht mit Zwang und Kontrolle gekoppelt werden (zum Beispiel bei der Beratung im Kontext von Hartz IV), dann könnte man die These wagen, dass sich die soziale Ordnung der Ungleichheit auch über den Hilfeansatz Beratung verfestigt. In jedem Fall beeinflusst die symbolische Einbettung eines Beratungsangebots die Nutzung durch die Klientel. Zusammenfassend könnte man davon sprechen, dass Beratungen die symbolische Ordnung der Klienten durch die Konfrontation mit den in den Beratungstheorien, Methoden und Settings eingelagerten symbolischen Ordnungen zur Disposition stellen und gemeinsam mit den Klienten im Beratungsprozess reflektieren. Symbolisches wird in Beratungen also sowohl verändert als auch hervorgebracht. Auf diese Weise wird ein Problem in der Beratung neu organisiert. Diagnostik und die Organisation des Beratungsanliegens Um ein Problem in relativ kurzem Zeitraum bearbeitbar zu machen, muss eine Fokussierung auf eine überschaubare und bearbeitbare Fragestellung stattfinden. Die Diagnostik bzw. die Problemanalyse spielt in der Beratungspraxis eine zentrale Rolle (Deutsche Gesellschaft für Beratung – DGfB, 2010). Auch wenn der Begriff »Diagnostik« ursprünglich aus dem klinischen Kontext stammt, so kann er letztlich doch auf jede Form systematischer Problemerfassung angewendet werden. Das Anliegen jeder Diagnostik ist es, auf schnelle Weise zu entscheidungsrelevanten Daten zu kommen und die darauf fußende zielgerichtete Behandlung zu begründen bzw. im Sinne einer Prozessdiagnostik zu evaluieren. Natürlich gibt es in jeder Diagnostik das Problem ihrer Fehleranfälligkeit. Die falsche Handhabung durch den Berater ist die eine Ebene. Weitreichender ist die Frage, was als relevante Daten angesehen wird und wie man sie seriös erhebt. Diagnostik ist eine Form systematischer Mustererkennung, aber nach welchen Mustern wird gesucht? Da soziale, psychische und pädagogische Problemlagen multifaktoriellen Ursprungs sind und nicht alle Ursachen in Beratungen gleichermaßen erfasst und behoben werden können, ist Diagnostik notwendigerweise ein selektiver Prozess mit dem Ziel der Komplexitätsreduktion. Es ist der Versuch, in den Symptomen relevante Muster zu erkennen. Diese notwendige Selektion erfolgt nach theoretischen Gesichtspunkten, aber daneben auch nach disziplinären, professionellen und organisationalen Perspektiven. Jeder

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Professionelle Einflüsse auf Beratung

dieser Gesichtspunkte fußt auf spezifischen Annahmen über Ursache- und Wirkungszusammenhänge. Organisationen bieten umschriebene Dienstleistungen für eine spezifische Klientel an. Diagnostiziert wird deshalb, ob der Ratsuchende in dieses Organisationsraster fällt und der Zugang zu einer Hilfeleistung eröffnet werden kann. Veränderungen in der Hilfelandschaft führen deshalb auch zu einer veränderten diagnostischen Perspektive mit entsprechenden Folgen (zum Beispiel Umetikettierung von Klienten). Andersherum kennen wir auch erfahrene Klienten, die ihr Verhalten strategisch so zu steuern verstehen, dass sie die jeweiligen diagnostischen Zugangshürden zum Hilfesystem nehmen können. Diagnostik spiegelt jeweils disziplinäre und professionelle Logiken wider, muss diese jedoch auch mit der Subjektperspektive der Klienten vermitteln. In der Diagnostik spiegeln sich Sinngebungsprozesse, vor deren Hintergrund die angebotenen Probleme der Klientel bewertet werden und auch der Erfolg der Maßnahme eingeschätzt wird. Eine Diagnose beinhaltet eine Deutung der Problemlage. Jede Disziplin und Profession entwickelt je eigene Kriterien und Raster zur Mustererkennung. An einigen Beispielen lässt sich dies veranschaulichen: Die Beratung in sonderpädagogischen Beratungs- und Förderzentren befasst sich beispielsweise mit der Optimierung von Lernprozessen unter behinderungsbedingt erschwerten Voraussetzungen. Die klassische Sonderdiagnostik hat einen Selektionsauftrag. Man führt Schüler, die im Regelsystem auffällig werden, spezifischen Sonderschulen zu. Dazu erfasst man schulrelevante Lernprozesse und -ergebnisse. Als Instrumente werden zum Beispiel systematische Beobachtungen, Testverfahren zur Messung der Intelligenz oder Probeunterricht eingesetzt. Demgegenüber betrachtet ein Sozialpädagoge den Menschen in seinen sozialen Bezügen und den Problemlagen, die in diesem Kontext entstehen. Von daher werden Mensch-Umwelt-Diagnosen im Mittelpunkt stehen und zur Grundlage für Beratungen gemacht. In der psychologischen Diagnostik wird nach psychischen Problemmustern gesucht und zum Beispiel durch standardisierte oder projektive Testverfahren, systematische Verhaltensbeobachtungen oder Interaktionsanalysen erforscht. Die Diagnose ist ein wichtiger Baustein für die Organisation eines Problems. Sie gibt dem Leiden nicht nur einen Namen, sondern sie ist auch mit einem Hof an Bedeutungen umgeben, der Schuldzuweisungen, Zukunftsaussichten oder soziale Ein- und Ausschlussprozesse umfasst. Insofern produzieren und vermitteln Diagnosen auch Bedeutung und sind immer mit einer Nebenwirkung für Klienten verbunden (Balint, 1964/1984). Diagnosen sind ohne die symbolische Ordnung, in die sie eingebunden sind, nicht verstehbar. Für alle Disziplinen gilt: Ändern sich die Bezugsgrößen einer

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Disziplin und Profession, dann ändern sich die Kriterien, auf die geschaut wird, und damit zwangsläufig auch die Diagnostik. Diagnostik ist deshalb immer in Bewegung und Veränderung. Jede Dekonstruktion theoretischer Grundannahmen bringt neue Kriterien für die Diagnostik ins Spiel. Beratungstheorien als Organisationsprinzipien der Beratung Beratungen sind notwendigerweise fokussierte Problemlösungsprozesse, weil sie in relativ kurzer Zeit zum Ergebnis kommen müssen. Berater suchen bei ihren Klienten nach Fragestellungen, die im Rahmen ihres theoretischen Bezugssystems, im Rahmen der von ihnen beherrschten Beratungsmethoden und im Kontext ihres institutionellen Settings Erfolg versprechend bearbeitet werden können. Was diese Kriterien nicht erfüllt, bleibt unbearbeitet. Der Organisationsprozess beginnt schon mit der Frage, welches Anliegen der Klienten aufgegriffen und zum Thema der Behandlungen gemacht wird. Die einer Beratung zugrunde gelegte Theorie spielt hier eine entscheidende Rolle: Die Beratungslandschaft in der Postmoderne bietet diverse Beratungskonzeptionen und -methoden an, die auf jeweils unterschiedlichen theoretischen Prämissen beruhen. Jede Beratungstheorie kann als eine symbolische Ordnung verstanden werden: Sie stecken Sinnhorizonte ab und vermitteln Bedeutungszuweisungen. Wobei sich alle Vorannahmen auf der Ebene der Wirklichkeit zweiter Ordnung (Watzlawick, 1976/1985) bewegen, das heißt, dass sie keinen Wahrheitsanspruch für sich reklamieren können. Die in Theorien eingelagerten symbolischen Ordnungen organisieren einen Beratungsprozess mit der ihr eigenen Logik: Sie strukturieren die Wahrnehmung des Beraters, die Rekonstruktion der Problemgenese, die Zielbestimmung und den Problemlösungsprozess von Beratungen. Solange noch keine umfassende Beratungstheorie entwickelt wurde, gehören psychologische und psychotherapeutische Ansätze zu den klassischen Bezugstheorien der psychosozialen Beratung. Es macht jedoch einen Unterschied, ob man vor dem Hintergrund des systemischen, humanistischen oder psychodynamischen Denkens berät. Lässt man sich von einer pathogenetischen oder einer salutogenetischen Perspektive leiten? Sucht man nach Inkongruenzen im Klienten, nach szenischen Reproduktionen unbewusster Konfliktmuster oder nach diffusen Grenzen verstrickter Systeme? Zielt man in einer konstruktivistischen Tradition auf die Entwicklung einer nützlichen Wirklichkeitsperspektive oder in einer psychodynamischen Perspektive auf die Erweiterung der Wirklichkeitsperspektive um unbewusste Aspekte? Sucht man nach den Ursachen von Problemen oder nach den verbliebenen Ressourcen des Ratsuchenden?

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Professionelle Einflüsse auf Beratung

Jeder Beratungsansatz nimmt andere Aspekte des Problems in den Fokus und steuert damit den Beratungsprozess: Durch die Wahl des Beratungsthemas und methodischen Vorgehens sowie durch die Gestaltung des Settings organisiert der Berater die Beratung und das weitere Schicksal der Problemorganisation. Beratungsmethoden und die Gestaltung des Problemlösungsprozesses Der Verzicht auf eine theoretische Orientierung führt in eine praxeologische Sackgasse, die unreflektierte Anwendung einer symbolischen Ordnung begünstigt eine verkürzte, dogmatische Verengung der Handlungsperspektive. Beide Klippen gilt es zum Nutzen der Klienten reflektiert und ausgewogen zu umschiffen. Weil Klienten mit unterschiedlichsten Problemlagen in die Beratung kommen, sind erfahrene Berater in der Lage, ihr methodisches Rüstzeug an ihre jeweiligen Ratsuchenden anzupassen und so ein stimmiges Hilfsangebot für eine breite und unterschiedliche Klientel bereitzustellen. Aus diesem Grund arbeiten viele Berater eklektizistisch, das heißt, sie sind mit einem breiten Repertoire von Beratungsansätzen und -methoden vertraut und können sie flexibel zum Einsatz bringen. Jeder Beratungsansatz entfaltet im Rahmen der ihm eigenen symbolischen Ordnung eine eigene Perspektive. Kein Beratungsansatz ist in der Lage, die Vielschichtigkeit eines Problemlösungsprozesses in Gänze zu erfassen. In ihren Aus- und Weiterbildungen werden angehende Berater in die jeweiligen symbolischen Ordnungen spezifischer Beratungsansätze eingeführt. Es ist notwendig, dass sie sich in einer symbolischen Ordnung beheimaten können und die aus dem Ansatz abgeleiteten Beratungsmethoden wirklich solide beherrschen. Die in Beratungsstellen üblichen multiprofessionellen Teams vereinen dann Mitarbeiter unterschiedlicher Aus- und Weiterbildungen. Dies eröffnet die Möglichkeit, disziplinäre, professionelle und theoretische Perspektiven zu relativieren und im Sinne einer Perspektiverweiterung zu ergänzen. Diese Ressource ist jedoch erst dann zu nutzen, wenn alle Beteiligten einen seriösen und souveränen Umgang mit diesen Ordnungen gefunden haben. Das ist jedoch leichter gesagt als getan, weil dabei eingeschliffene Perspektiven eben auch irritiert werden müssen. Die Protagonisten müssen eine gemeinsame Sprache finden, das heißt, sich gegenseitig ihre jeweiligen symbolischen Ordnungen soweit übersetzen, dass sie zu einer Perspektiverweiterung kommen und zu einem abgestimmten Handeln fähig sind.

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Vom Anliegen der Klienten zum organisierten Problemlösungsprozess in der Beratung Ich habe herauszuarbeiten versucht, dass Beratung keine neutrale Hilfeform, sondern ein professionell organisierter Hilfeprozess ist, der in einer Gemengelage unterschiedlichster Einflüsse stattfindet. Die Mikroebene konkreter Beratungsgespräche ist eingebettet in die Meso- und Makroebene institutioneller und gesellschaftlich-kultureller Ordnungen. Berater bewegen sich im Kontext gesellschaftlicher Rahmungen, eines organisationalen Gefüges mit einem spezifischen Auftrag, begrenzten Ressourcen und definierten (offiziellen, aber auch »heimlichen«) Regeln. Auf Seiten der Berater verbinden sich spezifische Ausund Weiterbildungen, theoretische Orientierungen, berufliche Erfahrungen und subjektive Einstellungen zu einem professionellen Habitus und entfalten ihre Wirkung. Problemwahrnehmungen und -lösungen basieren sowohl beim Klienten als auch beim Berater auf Einstellungen, die in symbolische Ordnungen eingebettet sind. Sie prägen Wahrnehmungen, Haltungen und Einstellungen der Akteure, lassen manches in den Blick kommen, blenden anderes aber auch aus und sie begründen Spannungsfelder, die bis auf die konkrete psychosoziale Beratung durchschlagen. Psychosoziale Beratungen thematisieren und bearbeiten also nicht nur die Spannungsfelder ihrer Klientel, sondern sie bewegen sich selbst darin. Eine gemeinsame Basis ist für die Zusammenarbeit aller Akteure notwendig. Diese kann sich naturwüchsig ergeben, wenn eine große Ähnlichkeit in ihren symbolischen Ordnungen besteht. Sind die Ordnungen der Klientel und die des Beratungsangebots nicht kompatibel, wird es ein Ringen um diese Schnittflächen geben, die das Risiko der Verwerfungen, aber auch die Chance zu beiderseitigen Weiterentwicklungen in sich tragen. Entsteht bei divergierenden Wertesystemen keine überzeugende Basis zwischen den symbolischen Orientierungen der Akteure, dann ist das Risiko des Scheiterns von Beratungsprozessen groß. Die Wahl des Beratungsansatzes mit den dazugehörigen Interventionstechniken und deren Anpassung auf die spezifischen Bedürfnisse der Klientel sind deshalb von entscheidender Bedeutung für den Verlauf und den Erfolg einer Beratung. Zum Abschluss möchte ich noch einmal auf die Ausgangsthese von Balint zurückkommen. Ein Problem ist nichts naturwüchsiges, sondern das Produkt eines psychosozialen Organisationsprozesses, mit dem die Klienten schon in die Beratung kommen. Das organisierte Problem trifft in der Beratung auf einen Problemlösungsprozess, der einen Kompromiss darstellt zwischen dem Anliegen der Klienten und dem, was der Helfer innerhalb des durch die Organisation gestalteten Settings anbieten kann. Es ist eines, das sowohl dem Klienten als

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Professionelle Einflüsse auf Beratung

auch dem Helfer annehmbar erscheint, das im Rahmen des Settings der Beratung handhabbar ist und für das sich die jeweilige Institution zuständig fühlt. Wobei die psychodynamische Perspektive auch darauf verweist, dass man sich diesen Prozess nicht nur rational gesteuert vorstellen darf, sondern auch latente Beweggründe im Spiel sind. Was nicht passt, wird ausgeklammert – was nicht passt, wird passend gemacht. Literatur Auchter, T., Strauss, L. V. (1992). Kleines Wörterbuch der Psychoanalyse. Göttingen: Vanden­ hoeck & Ruprecht. Balint, M. (1964/1984). Der Arzt, sein Patient und die Krankheit (6. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Deutsche Gesellschaft für Beratung (DGfB) (2010). Essentials einer Weiterbildung Beratung. Köln. Lorenzer, A. (1981). Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt. Watzlawick, P. (1976/1985). Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (13. Aufl.). München u. Zürich: Piper.

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Burkard Thiele

Mündigkeit und Emanzipation als Ziel systemischer Beratung?

Zahlreiche der in Deutschland tätigen systemischen Therapeuten und Berater sind Pädagogen. Ein Grund dafür ist, dass der pädagogische Hochschulabschluss eine gängige Einstiegsvoraussetzung ist, um bei einem Mitgliedsinstitut der »Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie und Familientherapie« (DGSF) oder der »Systemischen Gesellschaft« (SG) eine Weiterbildung zum Therapeuten oder Berater zu besuchen. Nachdem der Wissenschaftliche Beirat für Psychotherapie im Jahre 2008 die systemische Therapie als ein wirksames Verfahren anerkannt hat, um psychische Störungen zu bewältigen, hat diese erheblich an Ansehen gewonnen. Empirische Studien hatten schon Jahre zuvor die Wirksamkeit der systemischen Therapie bei der Behandlung psychischer Störungen nachgewiesen (Sydow, Beher, Retzlaff u. Schweitzer, 2007). Die Akzeptanz des systemischen Ansatzes beschränkt sich nicht nur auf die Psychotherapie, sondern erstreckt sich auf weite Felder sozialer Beratung und auf die Supervision. Systemische Grundhaltungen und Methoden erweitern die eigene Entscheidungs- und Handlungskompetenz und können befähigen, selbst sehr schwierige Herausforderungen in unterschiedlichen Berufsfeldern überzeugend zu bewältigen. Aus diesem Grund bieten zahlreiche Hochschulen eigene Seminare und Veranstaltungen über systemische Beratung an. Vor diesem Hintergrund stellt sich aus pädagogischer Perspektive vermehrt die Frage, welchen Stellenwert explizit pädagogische Erkenntnis- und Handlungsinteressen bei der Theorie und Praxis des systemischen Ansatzes einnehmen. Werden die in der Pädagogik geltend gemachten und den Studierenden vermittelten Ziele und Anliegen von diesen auf die systemische Beratung übertragen und dort weiterentwickelt? Oder gibt es mit Blick auf die geltend gemachten Ziele, Erkenntnisse, Grundhaltungen und Methoden einen Bruch zwischen der Pädagogik einerseits und der systemischen Beratung andererseits?

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Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität in der Pädagogik Das Ziel der Pädagogik besteht darin, den Menschen zur Selbst- und sozialen Mitbestimmung zu befähigen. Bildung, Mündigkeit und Emanzipation sind leitende Zweckbestimmungen des pädagogischen Denkens und Handelns (Claußen, 1999, S. 7). Mit dieser Festlegung stellt sich die Pädagogik explizit in den Traditionszusammenhang der Aufklärung. Aufklärung, die von Kant einst als »der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« (Kant, 1978, S. 53) definiert wurde, strebt ein selbstbestimmtes Leben des Menschen in einer freien und humanen Gesellschaft an. Menschen sollen ihr Leben frei gestalten können, ohne dass überkommene Traditionen und Autoritäten ihre Denk- und Handlungsfreiheit einschränken. Geltungsansprüche werden generell auf ihre sachliche und ethische Berechtigung hin überprüft. Das Medium dieser Prüfung ist die vorbehaltslose Kritik. Geltungs- und Herrschaftsansprüche werden nur dann akzeptiert, wenn sie einer vorangegangenen kritischen Prüfung standgehalten haben. Da die Lebensbedingungen des Menschen gesellschaftlich bedingt sind, sind Freiheit, Mündigkeit und Emanzipation immer unter historisch bedingten gesellschaftlichen Verhältnissen auszulegen. Gesellschaftliche (Macht-)Strukturen und Prozesse werden ebenso wie Autoritäten und Traditionen einer vorbehaltlosen Gesellschafts- und Ideologiekritik ausgesetzt, sodass unnötige und somit ungerechtfertigte Herrschaft ebenso wie inhumane Zustände erkannt und verändert werden können. Freiheit und Würde des Menschen lassen sich konsequent nur in einer humanen und demokratischen Gesellschaft verwirklichen (Klafki, 1982, S. 18). Die vordringliche Aufgabe der Pädagogik besteht demnach darin, Menschen zu befähigen, ihr Leben in Freiheit und Würde zu gestalten und sich aktiv mit anderen an der Verwirklichung einer vernünftig organisierten, also einer humanen und demokratischen Gesellschaft, zu beteiligen. Die Fähigkeit, kritisch zu denken und gemäß der eigenen Überzeugungen zu handeln, wird über Bildung vermittelt. Bildung wird von Blankertz dementsprechend definiert als die »Befreiung des Menschen zu sich selber, zu Urteil und Kritik« (Blankertz, 1982, S. 75). Klafki versteht Bildung als die Fähigkeit des Menschen zu Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität: »Bildung muss m. E. heute als selbständig erarbeiteter und personal verantworteter Zusammenhang dreier Grundfähigkeiten verstanden werden: –– als Fähigkeit zur Selbstbestimmung jedes einzelnen über seine individuellen Lebensbeziehungen und Sinndeutungen zwischenmenschlicher, beruflicher, ethischer, religiöser Art;

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–– als Mitbestimmungsfähigkeit, insofern jeder Anspruch, Möglichkeit und Verantwortung für die Gestaltung unserer gemeinsamen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse hat; –– als Solidaritätsfähigkeit, insofern der eigene Anspruch auf Selbst- und Mitbestimmung nur gerechtfertigt werden kann, wenn er nicht nur mit der Anerkennung, sondern mit dem Einsatz für diejenigen und dem Zusammenschluß mit ihnen verbunden ist, denen eben solche Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeiten aufgrund gesellschaftlicher Verhältnisse, Unterprivilegierung, politischer Einschränkung oder Unterdrückungen vorenthalten oder begrenzt werden« (Klafki, 2007, S. 52). Freiheit muss von Menschen unter den konkreten Bedingungen ihres gesellschaftlichen Daseins immer wieder neu gedeutet und gegen die Widerstände gesellschaftlicher Mächte geltend gemacht und erkämpft werden: »Mit den Zielformeln ›Selbst- und Mitbestimmung‹ in Verschränkung mit ›Sozialität‹ bzw. ›Solidarität‹ sind keine ›ein für allemal‹ zu realisierenden, überhistorisch geltenden Persönlichkeits- und Gesellschaftsvorstellungen verbunden; es handelt sich vielmehr um regulative Prinzipien, die im geschichtlich-gesellschaftlichen Prozess immer wieder neu interpretiert und diskutiert und – entsprechend dem jeweils erreichten Stand der technischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen Möglichkeiten und des Bewußtseins – politisch und pädagogisch konkretisiert und verwirklicht werden müssen« (Klafki, 1982, S. 20). Daraus ergeben sich auch die Kriterien, mit denen pädagogische und andere Maßnahmen untersucht werden. Tragen sie dazu bei, die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität auszuweiten? Mit Blick auf die systemische Beratung stellt sich die Frage: Trägt die systemische Beratung zur Entwicklung von Mündigkeit und Emanzipation bei? Die systemische Beratung Entwicklungswege: von der Familientherapie zum systemischen Ansatz

Der systemische Ansatz hat sich unter vollkommen anderen Bedingungen entwickelt als die Pädagogik. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die klinische Praxis bei der Behandlung schizophrener Patienten. An verschiedenen Orten der USA wurde in den 1950er Jahren etwa zur gleichen Zeit unabhängig voneinander beobachtet, dass die Familienangehörigen schizophrener Patienten einen maßgeblichen Einfluss auf die Genesung des Patienten haben. Häufig stießen medizinische Heilungsfortschritte auf den Widerstand der Familienangehörigen. Zum Teil waren die Angehörigen des Patienten verärgert darüber, dass bei

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diesem Veränderungen einsetzten, die aus medizinischer Sicht erwünscht waren. Diese Reaktionen der Angehörigen waren irritierend, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen mit dem Familiensystem in einem engen Zusammenhang steht. Störungen haben nämlich häufig die Funktion, die Homöostase, also das Gleichgewicht, der gesamten Familie herzustellen und aufrechtzuerhalten. Für das Gleichgewicht der Familie können psychische Störungen eines Angehörigen wichtig und förderlich sein. Durch die Gesundung des Patienten in den Kliniken wurde nun dieses Gleichgewicht gefährdet. Daher reagierten die Angehörigen verärgert über Heilungsfortschritte in den Kliniken. Angesichts dieser Erkenntnisse wurden die Angehörigen vermehrt in die therapeutische Behandlung mit einbezogen, um bei dem Patienten auf Dauer angelegte Heilungsprozesse zu ermöglichen (Steiner, Brandl-Nebehay u. Reiter, 2002, S. 9). Die Entstehung der Familientherapie basiert also auf den Erfahrungen der klinischen Praxis. Die bereits vorhandene Praxis wurde von klinisch tätigen Ärzten und Psychologen reflektiert, sodass neue Erkenntnisse gewonnen wurden. Diese neuen Erkenntnisse führten zu einer neuen und veränderten Praxis. In den folgenden Jahren legten mehrere Pioniere Beiträge vor, in denen sie ihre Erfahrungen reflektierten und die Familientherapie konzeptionell weiter­ent­ wickel­ten (dazu gehören zum Beispiel G. Bateson, J. Haley, M. Selvini Palazzoli, I. Boszormenyi-Nagy, V. Satir, S. Minuchin). Die Grundannahme ist, dass Menschen häufig dann psychische Auffälligkeiten und Störungen entwickeln, wenn die familiären Beziehungen und Interaktionen, unter denen sie aufwachsen, erheblich gestört sind. Die Aufgabe der familientherapeutischen Intervention besteht dann darin, diese Interaktionen so zu erschüttern, dass in dem Familiensystem neue Interaktionen möglich werden. Im Zentrum der familientherapeutischen Aufmerksamkeit steht also nicht das gestörte Individuum, sondern vielmehr die Beziehungen und Interaktionen aller Angehörigen des Familiensystems (Steiner, Brandl-Nebehay u. Reiter, 2002, S. 7–8). Mitte der 1980er Jahre vollzog sich ein Paradigmenwechsel, sodass sich die Familientherapie zur systemischen Therapie weiterentwickelte. Großen Einfluss hatten dabei gewonnene Erkenntnisse der Systemtheorie sowie der Kybernetikforschung. Aufgrund der rezipierten Beiträge wurde der Übergang von der Kybernetik erster Ordnung zur Kybernetik zweiter Ordnung vollzogen (siehe unten). Außerdem wurden Beiträge postmoderner Philosophien mit ihrer Modernitätskritik aufgegriffen (siehe unten). Unter programmatischer Perspektive sind zwei Unterschiede zwischen der Familientherapie und der systemischen Therapie von gravierender Bedeutung:

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1) Annahme des Konstruktivismus: Der systemische Ansatz bezieht sich erkenntnistheoretisch auf den Konstruktivismus. Demnach existieren natürliche und soziale Erscheinungen, Ordnungen und Regeln nicht an sich, sondern werden erst durch den Beobachter konstruiert: »Ein System wird nicht als etwas angesehen, das es ›gibt‹, sondern als etwas, von dem nur dann sinnvoll gesprochen werden kann, wenn man es in Beziehung zu demjenigen sieht, der es erkennt. Damit wird der Beobachter (und natürlich auch die Beobachterin) in die Theorie eingeführt« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 146). Auch das Verständnis von Systemen ist von den Konstruktionen des Beobachters abhängig. Erst durch ihre Konstruktionen ihrer Welt gestalten Menschen ihre Ordnung, Stabilität und Sinn. Aussagen über die Welt und über Systeme werden somit nicht als objektiv wahr verstanden, sondern werden als Ausdruck der gedanklichen Konstruktion eines Beobachters betrachtet (Simon, Clement u. Stierlin, 1984, S. 53). Unabhängig von der hier nicht zu vertiefenden Frage, ob es möglich ist, die natürliche und soziale Welt objektiv zu beschreiben, zu erklären und zu verstehen, enthält der radikale Konstruktivismus durchaus emanzipatorische Momente. Wenn nämlich davon ausgegangen wird, dass Systeme erst von Menschen konstruiert und entwickelt wurden, dann können diese Systeme auch neu konstruiert und anders entwickelt werden. Die gegenwärtige Realität ist also nicht gottgewollt, unveränderlich und unantastbar. Auch Traditionen, bestehende Ordnungen und Geltungsansprüche können somit durch neue Konstruktionen überwunden werden. 2) Übergang von der Kybernetik erster Ordnung, die der Familientherapie zugrunde lag, zur Kybernetik zweiter Ordnung, die von der systemischen Therapie vertreten wird: Die Kybernetik beschäftigt sich mit der wissenschaftlichen Untersuchung und dem Ablauf systemischer Prozesse. Die Kybernetik erster Ordnung macht dabei Aussagen über objektive Anordnungen und Funktionen eines Systems. Der Familientherapie lagen die Grundannahmen dieser Kybernetik erster Ordnung zugrunde. Die Aufgabe des Therapeuten bestand demnach darin, die objektiv bestehenden Strukturen und Interaktionen eines Familiensystems zu erkennen, um diese dann durch gezielte Interventionen so zu erschüttern, dass das System insgesamt neu organisiert werden konnte. Es wurde angenommen, dass es möglich sei, die Strukturen und Interaktionen der Familien nicht nur objektiv zu erkennen, sondern auch durch gezielte Eingriffe in einer gewünschten Weise zu verändern: »Ein […] ganz entscheidender Punkt in der Theorieentwicklung waren die Suggestionen der Kybernetik erster Ordnung hinsichtlich der Steuerung und Beherrschbarkeit von Systemen« (Fischer u. Schweitzer, 1994, S. 81). Nach dem Verständnis der Kybernetik zweiter Ord-

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nung ist Erkenntnis immer an die Position des Beobachters und seine Konstruktionen gebunden, weshalb der Anspruch objektiver Erkenntnis somit nicht mehr vertreten wird. Systeme werden als sich selbst konstruierend verstanden, die auch ihr Verständnis von sozialer Realität konstruieren. Der systemische Berater hat keine Kontrolle darüber, wie seine Interventionen von den Angehörigen des Systems wahrgenommen werden und welche Konsequenzen sie daraus ziehen. Diese Hinwendung zur Kybernetik zweiter Ordnung hat weitreichende Konsequenzen für systemische Interventionen: Das Eingeständnis, nicht über objektiv wahres Wissen zu verfügen, weil dies schon aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht möglich ist, führt zu dem Verzicht auf technokratische Eingriffe in das System. Technokratische Interventionen lassen sich nämlich auf der Grundlage eines ungesicherten Wissens nicht rechtfertigen. Es ist daher den Angehörigen vorbehalten, Entscheidungen über ihr Leben auf der Grundlage eigener Konstruktionen zu treffen. Die Familie ist somit nicht das Objekt der Erkenntnis und der Intervention eines anderen, sondern wird als ein selbstständig tätiger Akteur verstanden. In den letzten Jahren wurde die Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung durch neuere Ansätze und Theorieströmungen bereichert, dazu gehören unter anderem lösungsorientierte, hypnosystemische oder narrative Ansätze sowie verschiedene Varianten der Familienaufstellung bzw. der Familienchoreographie. Ziele, Grundhaltungen und Methoden

Obwohl es innerhalb des systemischen Ansatzes eine Vielfalt unterschiedlicher Zugänge und Verfahren gibt, besteht doch Einigkeit darüber, dass es das Anliegen der systemischen Beratung ist, den Möglichkeitsraum der Klienten zu erhöhen: »›Handle so, dass Du die Zahl der Möglichkeiten vergrößerst‹ – dieser basale ›systemische Imperativ‹ […] bedeutet in der Psychotherapie: ›Hilf die Denk- und Handlungsspielräume Deiner Klienten zu erweitern‹« (Schweitzer, 2012, S. 310). Die gedanklichen Konstruktionen der Klienten werden mit Hilfe verschiedener Verfahren und Methoden offen thematisiert und die Klienten ermutigt, für ihr Leben neue Konstruktionen zu entwickeln: »Im weitesten Sinne ist es das Anliegen systemischer Praxis, die Beschreibungen zu hinterfragen, über die Wirklichkeit als problematisch erfahren wird« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 200). Die systemische Beratung ist keine funktionale Anwendung bestimmter Techniken und Verfahren. Vielmehr zeichnen sich systemische Interventionen im Wesentlichen durch bestimmte Grundhaltungen aus, die der Berater verinnerlicht hat und die er in seinem Handeln authentisch ausdrückt. Neben Grundhaltungen wie zum Beispiel der Zirkularität und dem Respekt vor den

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Selbstorganisationen der Klienten nehmen folgende Grundhaltungen eine zentrale Bedeutung ein: –– Neutralität/Allparteilichkeit: Die Neutralität (oder Allparteilichkeit) des Beraters bezieht sich sowohl auf Personen als auch auf Ideen. Jeder Klient soll während des Beratungsprozesses erfahren, dass der Berater ihn selbst mit seinen Positionen genauso wertschätzend und neutral behandelt wie die anderen Angehörigen des Systems mit den von ihnen jeweils vertretenen Positionen. –– Ressourcenorientierung: Der Beratungsprozess orientiert sich vor allem an den Stärken und Fähigkeiten der Klienten. Diese Ressourcen werden den Klienten bewusst gemacht und im Zuge des Beratungsprozesses verstärkt und weiterentwickelt. –– Lösungsorientierung: Der Berater richtet seine Aufmerksamkeit auf das, was dem Klienten schon gelingt. Gelungene Lösungswege werden eingehend thematisiert, sodass Lösungen auch auf andere Herausforderungen übertragen werden können. Generell steht die Lösung im Zentrum der Auseinandersetzung, nicht hingegen die Probleme und Schwierigkeiten. Besonders deutlich hat Steve de Shazer (2008) diese Haltung zum Ausdruck gebracht: Problem talk creates problems. Solution talk creates solutions. Die systemische Beratung hat daran anknüpfend über Jahrzehnte hinweg ein reiches Repertoire spezieller Methoden und Verfahren entwickelt. Dazu gehören unter anderem spezielle Fragetechniken, Genogramme, die Familienskulptur, die Familienaufstellung oder das Familienbrett. Mündigkeit und Emanzipation beim systemischen Ansatz

Mit Blick auf Mündigkeit und Emanzipation scheint der systemische Ansatz sprachlos zu sein. Zumindest das von Simon, Clement und Stierlin (1984) herausgegebene Wörterbuch »Die Sprache der Familientherapie«, das im deutschen Sprachraum als Grundlagenwerk zur Erläuterung systemischer Begriffe anerkannt ist, erwähnt diese Begriffe nicht. Auch in dem von von Schlippe und Schweitzer 1996 vorgelegten und 2012 vollständig überarbeiteten »Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012), das in Deutschland mittlerweile den Status eines Klassikers innehat, nehmen die Begriffe Aufklärung, Freiheit, Mündigkeit und Emanzipation keinen Raum ein. Dennoch gibt es inhaltliche Anknüpfungspunkte. Deutlich wird dies, wenn sich von Schlippe und Schweitzer mit der Philosophie der Modernitätskritik auseinandersetzen und die dort geäußerte Kritik übernehmen. Das Ende der großen Visionen, der heilsversprechenden Weltanschauungen und Zukunftsent-

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würfe sowie das Wegbrechen tradierter Lebensformen und Institutionen führt dazu, dass sich der Mensch bei seiner Lebensplanung und -gestaltung nicht mehr auf die Gültigkeit tradierter Werte und Lebensmuster verlassen kann. Stattdessen sieht sich der Einzelne mit der Aufgabe konfrontiert, sein Leben nach eigenen Vorstellungen entwerfen und gestalten zu müssen. Der Mensch wird zum Konstrukteur seiner eigenen Biografie. Vor diesem Hintergrund liefern die postmodernen Philosophien der systemischen Beratung »ein weiteres Argument dafür, mit ganz unterschiedlichen Wirklichkeitsentwürfen in Familien, Gruppen, Organisationen zu spielen und keine für richtiger als die andere zu halten. Beratung heißt, weitere, zusätzliche Geschichten zu erzählen und damit Komplexität anzubieten, aus denen sich die Ratsuchenden neuen Sinn konstituieren können« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 125). Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Feststellung als zweischneidig. Einerseits gibt es hier inhaltliche Verbindungen zur Pädagogik. So bringt die proklamierte Anerkennung unterschiedlicher Sinnkonstrukte, Lebensentwürfe und Lebensstile das von der Pädagogik angestrebte Ziel individueller Selbstbestimmung zum Ausdruck. Problematisch ist andererseits die Auffassung, bei den konstruierten Wirklichkeitsentwürfen sei »keine […] richtiger als die andere« (von Schlippe u. Schweitzer 2012, S. 125). Vordergründig könnte diese Aussage als weltoffen und tolerant erscheinen, weil alle Wirklichkeitsentwürfe als gleich richtig anerkannt werden. Im Zuge einer kritischen Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die proklamierte Gleichbehandlung aller konstruierten Wirklichkeitsentwürfe auch bedeutet, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung und Bewertung dieser Entwürfe auf der Grundlage rationaler und ethischer Kriterien nicht erfolgt. Der systemische Ansatz ist offenbar nicht hinreichend in der Lage, Wirklichkeitsentwürfe auf der Grundlage anerkannter Kriterien sachlich und ethisch zu prüfen. Praxis systemischer Beratung

Die Frage, in welchem Verhältnis Theorie und Praxis zueinander stehen, hat die Pädagogik seit jeher eingehend beschäftigt. Die Klärung des Verhältnisses von Theorie und Praxis ist dementsprechend eines der anspruchsvollsten Themen der wissenschaftlichen Pädagogik überhaupt. Grundlegende Bedeutung nehmen hier die von Weniger (1964) vorgelegten Beiträge ein. Dieser hat mit Blick auf die Pädagogik die Theorie differenziert in eine Theorie ersten Grades, zweiten Grades und dritten Grades aufgeteilt. –– Die Theorie ersten Grades ist »die unausdrückliche Anschauung, in der die Wirklichkeit gegenständlich wird, die Voreinstellung, die unausgesprochene Fragestellung, die an die Wirklichkeit und die Aufgabe herangebracht wird«

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(Weniger, 1964, S. 16). Es handelt sich hier um sprachlich noch nicht formulierte und von dem Praktiker häufig unbewusst vertretene Annahmen. –– »Theorie zweiten Grades ist alles, was auf irgendeine Art formuliert im Besitz des Praktikers vorgefunden und von ihm benutzt wird, in Lehrsätzen, in Erfahrungssätzen, in Lebensregeln, in Schlagworten und Sprichwörtern und was es so gibt« (Weniger, 1964, S. 17). Hier können Auffassungen schon verbal formuliert werden. –– Die Theorie dritten Grades ist die wissenschaftliche Theorie. Die Aufgabe dieser Theorie besteht darin, dass sie mit Blick auf die Theorien ersten und zweiten Grades »dieses Verhältnis von Theorie und Praxis in der Praxis aufklärt« (Weniger, 1964, S. 19). Auf der Grundlage dieses differenzierten Verständnisses von »Theorie« ist es nach Weniger gar nicht möglich, Theorie und Praxis vollständig voneinander zu trennen. Praxis ist immer durchdrungen von Theorie, weil ihr stets theoretische Grundannahmen zugrunde liegen: »Jede Praxis, in unserem Falle also die erzieherische Einwirkung im ›pädagogischen Akt‹, ist geladen mit Theorie, fließt heraus aus Theorie, wird gerechtfertigt durch Theorie – aber nun durch die Theorie des Praktikers, über die er verfügt, die er gewonnen und sich erarbeitet hat, die ihm aus seiner Umgebung zufließt, aus der Überlieferung seines Standes, der Schule, seines Volkes usw. Der Praktiker handelt in Wahrheit ständig aus Theorien, und das kann auch gar nicht anders sein, es ist vollständig in der Ordnung« (Weniger, 1964, S. 11 f.). Auf der Grundlage dieses Verständnisses lässt sich auch die systemische Beratungspraxis daraufhin untersuchen, welche theoretischen Annahmen ihr zugrunde liegen. Da es hier nicht möglich ist, das gesamte Spektrum systemischer Beratung zu thematisieren, werden im Folgenden drei Aspekte exemplarisch herausgegriffen: die Auftragsklärung, das systemische Fragen und das Familienbrett. Auftragsklärung

Wenn Menschen einen systemischen Berater aufsuchen, stehen sie in der Regel unter einem erheblichen Leidensdruck, und sie sind häufig nicht in der Lage, ihren Zustand selbstständig, das heißt, ohne die Hilfe eines anderen grundlegend zu verändern. Nüchtern betrachtet befinden sie sich damit in einem Zustand eingeschränkter Freiheit, ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung ist mit Blick auf ihr Anliegen eingeschränkt. Zu Beginn des systemischen Beratungsprozesses erfolgt eine Auftragsklärung. Dabei wird erkundet, welche Anliegen die Klienten geltend machen und welche Ziele sie anstreben. Dabei werden die Anliegen

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der Klienten mit den Angeboten des Beraters aufeinander abgestimmt. Geltend gemachte Probleme können durchaus zu unterschiedlichen Zielen führen. Der systemische Berater prüft, ob es erstrebenswert ist, die an ihn gerichteten Aufträge anzunehmen. Er hat zudem die Möglichkeit, eigene Angebote zu unterbreiten, die von den Klienten auf freiwilliger Grundlage angenommen werden können. Im gemeinsamen Diskurs wird geprüft, welche Anliegen und Aufträge für alle Seiten akzeptabel sind, bevor schließlich eine Vereinbarung über das weitere Vorgehen getroffen wird. Ein Beispiel: In einer Erziehungsberatungsstelle wird der neunjährige F. von seiner Mutter vorgestellt. Dieser lebt bei seinen Eltern. Bei F. wurde eine hyperkinetische Störung (F90) diagnostiziert. F. könne sich nicht konzentrieren, verhalte sich in vielen Situationen impulsiv und sei motorisch unruhig. Er störe in der Schule andere Kinder, mache seine Hausaufgaben zu Hause nicht und halte sich nicht an Regeln. Im Zuge einer Auftragsklärung könnten verschiedene Aufträge bzw. Ziele vereinbart werden: –– Ein Ziel der Beratung könnte sein, dass F. seine Hausaufgaben zu Hause sorgfältig erledigt, er andere Kinder im Unterricht nicht mehr stört und dass F. die von seinen Eltern aufgestellten Regeln befolgt. Dieser Auftrag würde eindeutig F. in den Fokus der Beratung setzen. –– Ein anderes Ziel der Beratung könnte darin bestehen, die Eltern von F. zu befähigen, ihrem Sohn eindeutige Regeln zu erteilen und auf die Einhaltung dieser Regeln zu bestehen. Bei diesem Auftrag würde bereits die Interaktion zwischen den Eltern und F. zum Thema der Beratung werden. Auch das Verhalten der Eltern würde in der Beratung aktiv angesprochen werden, damit es sich ändern kann. –– Ein weiteres Ziel der Beratung könnte sein, dass alle Angehörigen der Familie ihre Beziehung wieder als angenehm erfahren und wertschätzend miteinander kommunizieren. Bei diesem Auftrag würden alle Angehörigen der Familie in gleicher Weise angesprochen werden. Bereits im Zuge einer Auftragsklärung erweitert sich zumeist das Problembewusstsein der Klienten. Der Berater erweitert mit Hilfe systemischer Fragen die Perspektiven der Klienten. Über die Angebote des Beraters, die Situation neu wahrzunehmen, werden Reflexionsprozesse angeregt, die zu einer erweiterten Entscheidungs- und Handlungskompetenz führen.

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Praxisbeispiel systemisches Fragen

Systemische Fragen zählen nicht nur zu den interessantesten, sondern auch zu den anspruchsvollsten Interventionsmethoden systemischer Therapie und Beratung. Fragen dienen hier nicht nur dazu, von den Klienten Informationen zu erhalten. Vielmehr enthält jede Frage auch ein Verständnis der Wirklichkeit. Wenn der Berater dem Klienten eine systemische Frage stellt, so wird ihm damit zugleich ein Angebot unterbreitet, die vom Klienten beschriebene Wirklichkeit auch anders sehen zu können. Bei dem Gespräch wird der Klient über die systemischen Fragen mit neuen Wirklichkeitskonstruktionen konfrontiert, die dazu beitragen können, seine Konstruktion der Welt zu erschüttern. Somit kann die vom Klienten zunächst vertretene Sichtweise relativiert werden, wenn er sich mit den Angeboten einer neuen Wirklichkeitsbetrachtung reflexiv auseinandersetzt. Systemische Fragen können auf diese Weise zur Entwicklung neuer Wirklichkeitskonstruktionen beitragen. Von Schlippe und Schweitzer (2012) erläutern das systemische Fragen anhand eines Beispiels: »Eine Mutter kommt mit ihrem Kind zur Therapie und legt ihre Wirklichkeitssicht dar: ›Mein Junge ist böse!‹ Bereits mit der Frage ›Was tut Ihr Sohn, was Sie böse nennen?‹ wird eine neue Beschreibung angeboten: Es ist ein ›Verhalten‹, und zwar ein ›von jemanden benanntes Verhalten‹ statt einer Eigenschaft. Wenn nun weiter gefragt wird: ›Wann zeigt Ihr Junge dieses Verhalten?‹, dann wird die Eigenschaftsbeschreibung weiter dekonstruiert: Das Verhalten taucht eventuell nur zu bestimmten Zeiten auf. In ihrer Antwort könnte die Mutter dieses Angebot leicht zurückweisen: ›Mein Sohn benimmt sich ständig so!‹ – von der Eigenschaftsbeschreibung ist sie dann jedoch bereits abgerückt. Sie könnte aber auch sagen: ›Er ist ständig böse!‹, und damit alle Angebote verwerfen. Nun wäre es möglich, systemisch weiter zu fragen: ›War das eher vor oder nach dem Tode der Großmutter, dass Ihr Sohn entschieden hat, sich öfter ›böse‹ zu verhalten?‹ oder ›Wer in der Familie regt sich darüber am meisten auf?‹ (Angebot: ›Böse‹ ist eine Form von Entscheidung des Sohnes – für die gibt es Gründe und Hintergründe – und diese Entscheidung steht mit Beziehungen im Zusammenhang und in diesen Beziehungen gibt es Differenzierungen.) ›Angenommen, Ihr Sohn würde sich entscheiden, sich weniger ›böse‹ zu zeigen, würden Sie und Ihr Mann dann weniger oder mehr streiten?‹ (Angebot: ›Böse‹ ist nicht nur eine Entscheidung, sondern auch veränderbar; und es steht mit der Beziehung der Eltern im Zusammenhang.) ›Wenn ich Sie bitten würde, zum Beispiel Ihren Sohn jetzt dazu zu bringen, dass er sich ›böse‹ verhält, wüssten Sie, wie Sie das machen könnten?‹ (Angebot: Es gibt für ›böse‹ bestimmte Kontextbedingungen,

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und diese liegen zumindest teilweise auch in Mutters Hand.)« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 249).

Die eingangs beschriebene Konstruktion der Mutter, ihr Sohn sei böse, wird durch die systemischen Fragen des Beraters zunehmend fragwürdig. Die mit diesen Fragen vermittelten Angebote können dazu beitragen, bei der Mutter ein deutlich erweitertes Verständnis der Gesamtproblematik zu entwickeln. Auf dieser Grundlage wird sie zunehmend befähigt, selbst Einfluss auf die Gestaltung der Situation zu nehmen. Praxisbeispiel Familienbrett

Das Familienbrett ist ein in der Familiendiagnostik und -therapie weit verbreitetes Verfahren, bei dem die Familienbeziehungen der Angehörigen einer Familie dargestellt werden. Dabei werden auf einer Grundfläche, die zum Beispiel durch ein Holzbrett oder durch ein Blatt Papier gebildet wird, die Angehörigen einer Familie jeweils stellvertretend mit Figuren aufgestellt. Die Beziehungen von Erwachsenen und Kindern, Männern und Frauen, Mädchen und Jungen lassen sich stellvertretend mit Figuren gut darstellen. Ein Vorteil des Familienbretts besteht darin, dass Erwachsene und Kinder ihre Wahrnehmung und Beurteilung der Familie nonverbal ausdrücken können. Nähe und Distanz, Zuneigung und Ablehnung werden also nicht nur auf kognitiver und sprachlicher Ebene zum Ausdruck gebracht, sondern mit Hilfe von Spielfiguren ganzheitlich dargestellt. Gefühlsmäßige Bindungen und Spannungen sind bei den Aufstellungen gut erkennbar. Die Aufstellung auf dem Familienbrett wird nur von einer Person vorgenommen, nicht von allen Angehörigen gemeinsam. Bei der Durchführung wird zunächst ein Mitglied der Familie vom Berater gebeten, sich stellvertretend für jedes Familienmitglied eine Figur auszuwählen. Dann soll er stellvertretend mit diesen Figuren seine Angehörigen auf dem Familienbrett aufstellen. Dabei hat er die Möglichkeit, über seine Aufstellung der Figuren Nähe und Distanz zwischen seinen Angehörigen auszudrücken. Der Klient benötigt für seine Aufstellung in der Regel nur eine kurze Zeit, zumeist reichen einige Sekunden oder wenige Minuten vollkommen aus. Die Erfahrung zeigt, dass Aufstellungen, die mehr Zeit benötigen, zumeist auf Probleme des Klienten oder der Familie hindeuten. Möglicherweise sind in diesem Fall die Beziehungen und Grenzen innerhalb der Familie nicht hinreichend geklärt. Die mit den Figuren zustande gekommene Aufstellung bringt gut sichtbar zum Ausdruck, wie der Klient die Beziehungen und Interaktionen seiner Familienangehörigen zueinander wahrnimmt und beurteilt. Für die Auswertung

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der Aufstellung auf dem Familienbrett können folgende Kriterien zugrunde gelegt werden: 1. Die Entfernung zwischen den aufgestellten Figuren wird als Ausdruck der emotionalen Nähe und Kontakthäufigkeit verstanden. 2. Die Blickrichtung gilt als Indikator für die Intensität der Beziehung. 3. Eine weitere Bedeutung liegt in der Gestalt der Familie, die auf dem Brett abgebildet wird. Hier lassen sich mit den Figuren aller Angehörigen die Bilder eines Kreises, eines Halbkreises, einer Ellipse, eines Dreiecks und einer Linie unterscheiden. Je nachdem, in welcher Form die Angehörigen aufgestellt werden, lässt sich dies als ein Ausdruck von gegenseitiger Nähe, Gleichberechtigung, Harmonie, Disharmonie oder als Entfernung interpretieren. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass das Familienbrett keine wissenschaftlich präzisen Aussagen über die objektiven Beziehungen der Familienangehörigen zueinander macht, sondern die subjektiv bedeutsamen Familienbeziehungen aus Sicht der aufstellenden Person darstellt. Die erstellte Aufstellung bringt die familiäre Situation fast immer gut erkennbar zum Ausdruck. Bereits die Tätigkeit des Aufstellens ist für alle Angehörigen der Familie nicht nur interessant, sondern auch aufschlussreich: –– Bereits bei der Auswahl der Figuren zeigt sich, wer aus Sicht des Aufstellenden zur Familie gehört und wer nicht. Hier entstehen Fragen, die entschieden werden müssen: Sind die Großeltern fester Bestandteil der Kernfamilie? Ist die streitbare und leider im gleichen Haus lebende Schwiegermutter ein Teil der Familie oder nicht? Gehört der biologische, aber auswärts lebende Vater der Kinder zur Familie? Oder ist dies stattdessen der im Haushalt lebende Stiefvater dieser Patchworkfamilie? Von den einzelnen Angehörigen einer Familie könnten diese Fragen unterschiedlich beantwortet werden. Bei der Entscheidung des jeweils Aufstellenden, wer als Teil der Familie anerkannt wird und wer nicht, drücken sich seine Loyalitäten, Bindungen und inneren Verwerfungen aus. Häufig entscheiden Elternteile, Eheleute, Partner und Kinder jeweils anders, wer nach ihrem Verständnis zur eigenen Familie gehört. Es kann dem besseren gegenseitigen Verständnis dienen, wenn diese Unterschiede bei den Bewertungen bekannt sind und im Gespräch besprochen werden. –– Die Anordnung der Figuren auf dem Familienbrett zeigt, wie derjenige, der die Figuren aufstellt, die Beziehungen und Interaktionen seiner Angehörigen untereinander wahrnimmt. Bei der Aufstellung werden emotional enge Beziehungen ebenso deutlich wie tiefgreifende Verwerfungen oder ein gleichgültiges Beisammensein. Es kann für die Familienmitglieder mit-

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unter erschütternd sein, über eine Aufstellung klar vor Augen geführt zu bekommen, wie ein anderes Familienmitglied die Beziehungen in der Familie beurteilt (wie zum Beispiel der minderjährige Sohn die Ehe seiner Eltern wahrnimmt und auf dem Familienbrett darstellt). –– Eine Aufstellung kann mit Blick auf die geltend gemachten Anliegen der Angehörigen viel zum Erkenntnis- und Lösungsprozess beitragen. Hierfür ist es geboten, gemeinsam Gespräche zu führen. Dabei werden möglicherweise auch Fragen und Themen angesprochen, die entweder noch nie oder seit langer Zeit nicht mehr offen besprochen wurden. Durch die Auseinandersetzung mit bislang nicht hinreichend thematisierten Fragen können Prozesse gegenseitigen Verständnisses sowie Reflexionen angestoßen werden. Daraus können neue Perspektiven und Lösungswege entwickelt werden. Der Berater begleitet und unterstützt diesen Klärungs- und Erkenntnisprozess auch mit Hilfe systemischer Fragen. Resümee Die Ausgangsfrage, ob die zentralen Ziele der Pädagogik – die Fähigkeit des Menschen zu mehr Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität zu entwickeln – auch von der systemischen Beratung geteilt und umgesetzt werden, ist differenziert zu beantworten. Auf der Ebene der wissenschaftlichen Theorie gibt es nur vereinzelt inhaltliche Bezugspunkte zwischen der Pädagogik und der systemischen Beratung. Es gibt zudem kaum Hinweise darauf, dass die angestrebten Ziele der Pädagogik bei der systemischen Beratung eine tragende Rolle spielen. Die Begriffe Mündigkeit und Emanzipation werden selbst in den einschlägigen Standardwerken nicht erwähnt. Der vom systemischen Ansatz vertretene Konstruktivismus verfügt über keine inhaltlich und ethisch ausgereiften Kriterien, mit denen eine gesellschafts- und ideologiekritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität möglich ist. Anders stellt sich die Gesamtsituation in der Praxis der systemischen Beratung dar. Obwohl auch die systemische Beratung die Entwicklung der Fähigkeit zu Selbst- und Mitbestimmung sowie zur Solidarität nicht ausdrücklich als Ziel und Maßstab des eigenen Handelns erwähnt, ist die systemische Beratung doch durchdrungen von diesen Intentionen. Das primäre Anliegen der systemischen Beratung besteht darin, den Möglichkeitsraum der Menschen zu erweitern. Ihre Grundhaltungen, Methoden und Verfahren sind dementsprechend daraufhin angelegt, bei den Menschen Reflexionsprozesse anzuregen, die dazu beitragen können, neue Wirklichkeitskonstruktionen zu entwickeln und Gestaltungsmög-

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Thiele  |  Mündigkeit und Emanzipation als Ziel systemischer Beratung?

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lichkeiten zu erschließen. Damit erweitert sich das Maß menschlicher Selbstund Mitbestimmungsmöglichkeit. Die Praxis der systemischen Beratung ist durchdrungen von den Annahmen und dem Ziel der systemischen Berater, ihre Klienten zu befähigen, neue Wirklichkeitskonstruktionen zu entwickeln, und die Klienten zu ermutigen, ihre Situation aktiv zu gestalten und zu verändern. Im Ergebnis kann somit festgestellt werden, dass die systemische Beratung in Theorie und Praxis einen Beitrag zu mehr Mündigkeit und Emanzipation leistet. Literatur Blankertz, H. (1982). Pädagogische Theorie und erzieherische Praxis im Spiegel des Verständnisses von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis. In E. König, P. Zedler (Hrsg.), Erziehungswissenschaftliche Forschung: Positionen, Perspektiven, Probleme (S. 65–79). Paderborn u. München: Schönigh u. Fink. Claußen, B. (1999). Bildung und Emanzipation. In S. Bethe, W. Lehmann, B. Thiele (Hrsg.), Emanzipative Bildungspolitik. Münster: LIT. de Shazer, S. (2008). Der Dreh. Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie (10. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Fischer, H., Schweitzer, J. (1994). Zur Rezeption von Philosophie durch systemische Praktiker. Eine kritische Anmerkung. In J. Schweitzer, A. Retzer, H. Fischer (Hrsg.), Systemische Praxis und Postmoderne (2. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kant, I. (1978). Werkausgabe, Band XI. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Klafki, W. (1982). Thesen und Argumentationsansätze zum Selbstverständnis ›kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft‹. In E. König, P. Zedler (Hrsg.), Erziehungswissenschaftliche Forschung: Positionen, Perspektiven, Probleme (S. 15–52). Paderborn u. München: Schöningh u. Fink. Klafki, W. (2007). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik (6. Aufl.). Weinheim u. Basel: Beltz Verlag. Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (2012). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schweitzer, J. (2012). Systemische Therapie. In W. Senf, M. Broda (Hrsg.), Praxis der Psychotherapie. Ein integratives Lehrbuch. (5. Aufl., S. 244–255). Stuttgart: Thieme. Simon, F., Clement, U., Stierlin, H. (1984). Die Sprache der Familientherapie. Ein Vokabular (6. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Steiner, E., Brandl-Nebehay, A., Reiter, L. (2002). Die Geschichte. Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive. In M. Wirsching, P. Scheib (Hrsg.), Paar- und Familientherapie. Berlin u. a.: Springer. Sydow, K., Beher, S., Retzlaff, R., Schweitzer, J. (2007). Die Wirksamkeit der Systemischen Therapie/Familientherapie. Göttingen u. a.: Hogrefe. Weniger, E. (1964). Theorie und Praxis der Erziehung. In E. Weniger (Hrsg.), Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis (3. Aufl., S. 7–22). Weinheim: Julius Beltz.

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Uta-Kristina Meyer

Von der vergessenen Größe zum zentralen Subjekt: Kinder in der Trennungs- und Scheidungsberatung

Trennungen und Scheidungen (TuS) gehören zunehmend zur Realität von Familien in Deutschland. Von 1950 bis 2006 ist die Scheidungsquote nahezu kontinuierlich angestiegen. Gesamtgesellschaftlich ist ein Fünftel aller Kinder bis zur Volljährigkeit von Scheidung betroffen (Statistisches Bundesamt, 2012). Nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) haben betroffene Kinder, Jugendliche und Eltern ein Recht auf Beratung (BfJ, 2012a). In der Erziehungs- und Familienberatung (EFB) zeigt sich dies in erhöhten Anmeldezahlen dieser Klientel. So war 2010 bei jedem dritten in der EFB angemeldeten Kind TuS als Beratungsanlass angegeben. Der Anteil der betroffenen Kinder in der EFB war somit höher als der Anteil gesamtgesellschaftlich betrachtet (Statistisches Bundesamt, 2011). Grund genug, den Fokus auf diese Klienten zu richten: Was beeinflusst Berater/-innen bei der Arbeit mit ihnen? Wann drohen Kinder eine vergessene Größe zu sein, wie werden sie zum zentralen Subjekt? Im Folgenden wird zunächst die Auftragslage der Beratung von TuS-Kindern näher betrachtet: Welcher Einfluss entsteht durch die Rechtsgrundlage, die Eltern, Situation und Hilfebedarf der Kinder oder Aufgaben und Funktionen weiterer beteiligter Institutionen? Schließlich steht in einem letzten Punkt die inhaltliche Ausgestaltung von Beratung im Mittelpunkt: Nach welchen Konzepten werden von TuS betroffene Kinder in der EFB (nicht) einbezogen? Einfluss durch die Rechtsgrundlage Vergleicht man Rechte von Kindern 1977 mit Rechten von Kindern heute, so ist die Überschrift des Beitrags »Von der vergessenen Größe zum zentralen Subjekt« auch als Überschrift dieses Abschnitts passend. Während Kinder in der Rechtsprechung der 1970er Jahren keine Beachtung fanden, haben sie heute, insbesondere durch die Rechtsreformen der 1990er Jahre, eine zentralere Position. Als einer der ersten Staaten der Welt hat Deutschland am 26. Januar 1990 die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) unterzeichnet (Unicef, 2012). In Artikel 3

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Meyer  |  Kinder in der Trennungs- und Scheidungsberatung

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der Konvention verpflichten sich die Vertragsstaaten, »dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten seiner Eltern, seines Vormunds oder anderer für das Kind gesetzlich verantwortlicher Personen den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind« (Unicef, 2012). Unterstützung bei der Gewährleistung von Schutz und Fürsorge wurde im ebenfalls 1990 verabschiedeten KJHG in den Hilfen zur Erziehung beschrieben. § 28 des KJHG implementiert EFB als eine solche Hilfe: »Erziehungsberatungsstellen […] sollen Kinder, Jugendliche, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme und der zugrunde liegenden Faktoren, bei der Lösung von Erziehungsfragen sowie bei Trennung und Scheidung unterstützen« (BFJ, 2012a, Hervorhebungen U.-K. M.). § 28 KJHG räumt Kindern also das grundsätzliche Recht auf EFB im Fall von TuS ein. Nach § 8 Absatz 3 des KJHG wird Mädchen und Jungen in einer Not- oder Konfliktlage dieses Recht auch ohne Kenntnis der Personensorgeberechtigten gewährt (Bundeskonferenz für Erziehungsberatung – BKE, 2012). Hierbei kann festgehalten werden, dass rechtlich zwar ein strukturelles Fundament für die Beratung von betroffenen Kindern besteht, aber keine Aussagen zur konzeptionellen Umsetzung getroffen werden. Neben diesen Rechtsgrundlagen finden sich im Bereich des Sorge- und Umgangsrechts weitere Einflüsse auf die Beratungsarbeit mit betroffenen Kindern. Bis zum Jahr 1977 galt bei Scheidungen das Schuldprinzip. Spätestens mit dem Richterspruch wurde entschieden, wer das Scheitern einer Ehe verschuldet hatte. Die Zuweisung von Schuld hat die Kinder in hohem Maße betroffen, denn der schuldig Gesprochene wurde »infolge seines Versagens moralisch als nicht geeignet für die Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung be-/verurteilt und rechtlich vom Sorgerecht für die Kinder ausgeschlossen« (Witte, Sibbert u. Kesten, 1992, S. 36). Der Wandel vom Schuld- zum Zerrüttungsprinzip 1977 ging mit einem gesellschaftlichen Perspektivwechsel einher. Spätestens die Ergebnisse der Scheidungsfolgenforschung in den 1980er Jahren verdeutlichten, dass das Fortbestehen des Kontaktes zu beiden Elternteilen dem Kinderschutz dient (Helmut Mader Stiftung, 2008). Dass Elternschaft über eine TuS der Eheleute hinaus bestehen kann und sollte, hat sich seither auch in der Rechtsprechung etabliert. Ab 1982 war gemeinsames elterliches Sorgerecht nach einer Scheidung möglich, seit 1998 ist es obligatorisch (Weber, 2009). Dies drückt sich auch im Umgangsrecht aus. Nach § 1684 des BGB haben Kinder ein Recht auf Umgang mit beiden Elternteilen, die wiederum zum Umgang verpflichtet sind (BfJ, 2012b). Wie dieses Umgangsrecht im Detail umgesetzt wird, ist rechtlich nicht vorgeschrieben und lässt sich somit auf die Situation einer Familie indi-

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viduell angleichen. § 17 und § 18 des KJHG beinhalten das Recht für Mütter und Väter, sich bei Fragen zur Ausgestaltung von Umgang und Sorgerecht beraten zu lassen. Zunächst ist dies als Elternrecht zu lesen, das die Förderung und Wahrnehmung von Elternverantwortung schaffen soll (Weber, 2001). In § 17 Absatz 2 und § 18 Absatz 3 werden Kinder jedoch auch berücksichtigt. Dies fußt auf Artikel 12 der KRK, der »dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu [sichert, U.-K. M.], diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern« (Unicef, 2012) In § 17 Absatz 2 des KJHG wird dies wie folgt aufgegriffen: »Im Fall der Trennung und Scheidung sind Eltern unter angemessener Beteiligung des betroffenen Kindes oder Jugendlichen bei der Entwicklung eines einvernehmlichen Konzepts für die Wahrnehmung der elterlichen Sorge und der elterlichen Verantwortung zu unterstützen« (BfJ, 2012a). Die Formulierungen in § 18 Absatz 3 scheinen direkter: »Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts« (BfJ, 2012a). Wie zu § 28 gibt es auch zu den § 17 und 18 keinen Hinweis darauf, wie diese Beteiligung in der EFB konzeptionell umzusetzen ist. Einfluss der Eltern auf die EFB mit Kindern Das Recht auf Beratung ist bei Kindern nicht gleichbedeutend mit einem freien Zugang zur EFB. Denn zum einen bedeutet das Bestehen von Kinderrechten und Beratungsstellen nicht, dass Kinder auch von deren Existenz wissen, zum anderen erfolgt eine Anmeldung in der EFB in der Regel über die Eltern. »Das bedeutet: Die Beteiligung von Kindern im Kontext von Beratungsleistungen bei Trennung und Scheidung ist zunächst von der Entscheidung der Eltern abhängig, ob sie eine Beratung in Anspruch nehmen. Wenn sie sich dazu entschließen, geschieht eine Beteiligung der Kinder wiederum nur auf ihren Wunsch oder mit ihrer Zustimmung – dann, wenn ein Berater vorschlägt, das Kind einzubeziehen, und wenn die Eltern damit einverstanden sind« (Weber, 2004, S. 126). Was beeinflusst Eltern, Beratung aufzusuchen und ihre Kinder dabei einzubeziehen? Aus den aktuellen Diskursen wird deutlich, dass insbesondere Strittigkeit den Blick der Eltern lenkt. Die Ergebnisse einer Studie des Deutschen Jugend Instituts, des Instituts für angewandte Familien-, Jugend-, und Kindheitsforschung e. V. und der BKE im Jahr 2009, in deren Rahmen neben umfassender Literaturrecherchen auch Erhebungen mit Berater/-innen, Eltern und Kindern durchgeführt wurden, zeigen einen Zusammenhang zwischen der Strittigkeit der Eltern und dem Empfinden der Kinder sowie der Strittigkeit der Eltern und deren Einschätzung zur Belastung der Kinder (BKE, 2009): Je strittiger die Eltern eingestuft wurden, desto destruktiver bewerteten die

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Kinder den Konfliktstil ihrer Eltern und desto hilfloser fühlten sie sich. Bröning, Krey, Normann und Walper (2012) weisen darauf hin, dass demnach ausschlaggebend ist, wie gestritten wird. Negative Auswirkungen steigen, je häufiger und intensiver Konflikte sind, wenn sie mit verbal oder körperlich aggressivem Verhalten verbunden sind, sich ums Kind drehen und nicht gelöst werden. Sie weisen ebenfalls darauf hin, dass sich mit steigendem und anhaltendem Konfliktniveau Wut, Trauer und Angst der Kinder intensivieren, die Beziehung zu den Eltern belastet und das Gefühl von Sicherheit langfristig untergraben wird (Bröning et al., 2012). Die im Rahmen der Studie befragten Eltern schätzen bei steigendem Konfliktniveau ihre Kinder zunächst auch als zunehmend belastet ein. Interessant zum Fokus der Beeinflussung von Beratungsprozessen ist hierbei, dass Eltern auf dem höchsten Konfliktniveau ihre Kinder als gering belastet bezeichnen, »so dass zu vermuten ist, dass eine ihre Situation wahrnehmende Sicht auf die Kinder in dieser Gruppe verloren geht« (BKE, 2009, S. 5). Die am höchsten belasteten Kinder drohen somit auch in der Beratung aus dem Blick zu geraten. Statt zum zentralen Subjekt werden sie mit zunehmender Strittigkeit zur vergessenen Größe ihrer Eltern. Einfluss durch Situation und Hilfebedarf der betroffenen Kinder »Es ist gerade so, als ob die beiden Piloten eines Flugzeugs sich vorne im Cockpit in die Haare geraten, die Maschine zu trudeln beginnt und die Passagiere in Angst und Schrecken verfallen« (Jaede, 2006, S. 48). So beschreibt Jaede die existenziellen Ängste, die TuS bei Kindern auslösen können. Auf diese Verunsicherung reagieren Kinder, je nach Alter und Geschlecht, mit Symptomen wie beispielsweise Regression, Schulversagen, Rückzug, impulsivem Ausagieren, Gefühlen von Schuld, Enttäuschung und Ohnmacht. Diese Reaktionen sind jedoch nicht pathologisch zu bewerten, sondern als gewöhnliche Reaktion auf eine schwierige Situation zu sehen (Jaede, 2006). Doch wenngleich TuS als existenziell bedrohlich wahrgenommen werden kann, gehört dieses Erlebnis nach Cowan (1991, zit. nach Helmut Mader Stiftung, 2008) zu normativen Lebensereignissen. Folgt man seinem familiensoziologisch-psychologischen Theoriemodell zur Einbettung von TuS in die familiäre Entwicklung, so ist diese als Übergang, Transition, zu betrachten, dessen Bewältigung durch die Auseinandersetzung mit hierbei auftretenden Entwicklungsaufgaben geschieht. Jaede, Wolf und Zeller-König (1996) definieren diese Entwicklungsaufgaben für Kinder: 1. Das Scheitern der elterlichen Ehe anerkennen und verstehen. 2. Verlust-, Ablehnungs- und Schuldgefühle verarbeiten.

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3. Mit Zorn umgehen, eine emotionale Balance zwischen den Gefühlen Wut und Liebe finden. 4. Den Eltern verzeihen. 5. Die Dauerhaftigkeit der TuS akzeptieren. 6. Eine positive Zukunftsperspektive entwickeln. 7. Zum eigenen Lebensstil und zu eigenen Gewohnheiten zurückfinden (Jaede et al., 1996, S. 23 f.). Die Auseinandersetzung mit diesen Aufgaben wird von Schutzfaktoren im Leben des Kindes befördert und durch Risikofaktoren gebremst. Bestehen mehr Schutzals Risikofaktoren, kann trotz schwieriger Umstände eine positive Entwicklung stattfinden. Das Kind zeigt dann Widerstandskraft, Resilienz (Opp u. Fingerle, 2008). Bestehen mehr Risikofaktoren, steigt die Gefahr, dass Kinder nicht nur kurzzeitig unter den Folgen der familiären Veränderung leiden, sondern auch von Langzeitfolgen betroffen sind, wie sie beispielsweise in der Scheidungsfolgenstudie von Wallerstein und Lewis (2002) beschrieben werden. Zentrales Ergebnis dieser 25 Jahre umfassenden Studie ist, dass 50 % der Adoleszenten, die von den Forscher/-innen befragt wurden und die in ihrer Kindheit von TuS der Eltern betroffen waren, ein positives Modell von funktionierender Partnerschaft fehlte. Dies drückte sich beispielsweise darin aus, dass den Probanden unklar war, wie ihre eigene Partnerschaft gelingen könnte. Für sie war es schwierig, eine Balance zwischen dem Bedürfnis nach Bindung und Liebe und der Furcht, verlassen zu werden, herzustellen. In der Folge wechselten einige Probanden ihre Partner/innen sehr häufig, auch wenn diese von ihnen als harmonisch beschrieben wurden. Andere verharrten in sehr destruktiven Beziehungsstrukturen. Die Ergebnisse stützen die Relevanz von Schutzfaktoren, die kindliche Bewältigung unterstützen, und von Hilfen, wenn diese nicht vorhanden sind. Beim Kind selbst ist ein bedeutsamer Schutzfaktor, dass es ausreichende Strategien zur Stressbewältigung, Coping-Strategien, zur Verfügung hat. Jaede et al. (1996) unterscheiden zwischen defensiven Strategien wie Verleugnung, Regression, Rückzug und impulsives Ausagieren und Strategien zur aktiven Auseinandersetzung wie Altruismus, Humor, körperliche oder psychosomatische Beschwerden und Sublimierung (S. 20). Im sozialen Umfeld profitieren betroffene Kinder insbesondere von Kontinuität in Institutionen und Beziehungen. Auf der institutionellen Ebene bedeutet dies, dass das Kind weiterhin die gewohnte Kita oder Schule besucht und an den gewohnten Freizeitaktivitäten teilnimmt. Auf der Beziehungsebene sind zum einen fürsorgliche Erwachsene außerhalb der Familie wichtig, an die das Kind sich wenden kann, und zum anderen Gleichaltrige/Freunde (Jaede, 2006).

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Auf der familiären Ebene ist der zentralste Schutzfaktor, wie bereits beschrieben, eine niedrige Strittigkeit der Eltern. Diese lässt neben gegenseitigem Respekt, gegenseitiger Achtung und Empathie dem Kind gegenüber auch kompetentes Erziehungsverhalten wahrscheinlicher werden, das ebenfalls ein wichtiger Schutzfaktor ist. Eine weitere wichtige Ressource auf der familiären Ebene sind stabile, gute Geschwisterbeziehungen (Jaede, 2006). Ein Kind, das auf möglichst viele der aufgezeigten Schutzfaktoren zugreifen kann, hat eine gute Chance, den familiären Übergang zu bewältigen, ohne langfristig belastet zu sein. EFB kann besonders dann relevant werden, wenn in mindestens einem Bereich nicht genügend Ressourcen zur Bewältigung zur Verfügung stehen. Aufgabe von EFB ist es dann, kindliche Resilienz und die Auseinandersetzung mit Entwicklungsaufgaben zu unterstützen. Einfluss durch weitere beteiligte Institutionen Weber (2004) weist darauf hin, dass EFB nur eine mögliche Institution ist, die in den TuS-Prozess eingebunden werden kann. –– Richter/-innen des Familiengerichts können Kinder befragen, Jugendliche haben ab dem 14. Lebensjahr sogar ein Recht darauf, angehört zu werden (Baumann, 2011). –– Können Eltern sich hinsichtlich der Ausgestaltung von Sorge und Umgang vor Gericht nicht einigen, steht dem Kind nach § 158 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) Verfahrensbeistandschaft zu, die dem Kind als Ansprechpartner/-in zur Verfügung steht, sich also mit dem Kind auseinandersetzt und dieses aktiv vertritt. –– Darüber hinaus kann durch das Gericht ein psychologisches Gutachten in Auftrag gegeben werden. Der/Die Gutachter/-in hat dann die Aufgabe, das Kind und seine Bedürfnisse kennenzulernen. –– Reicht ein Paar bei Gericht die Scheidung ein, informiert dieses das zuständige Jugendamt, das Eltern auf die im KJHG beschriebenen Rechte und Möglichkeiten aufmerksam macht, sie bei Bedarf berät und hierbei gegebenenfalls auch das Kind hinzuzieht (Weber, 2004). Sowohl Jaede (2006) als auch Weber (2004) heben hervor, dass es wichtig ist, dass sich beteiligte Institutionen vernetzen und zu ihrem Vorgehen austauschen. Somit kann beispielsweise verhindert werden, dass Kinder entweder aus dem Blick oder zu sehr in den Blick geraten, denn die Auflistung der beteiligten Institutionen zeigt eindrucksvoll, dass es ein Kind enorm fordern würde, wenn es an

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allen Stellen beteiligt würde. Weber spricht hierbei von multiplem Strapazieren des Kindes (Weber, 2004). Konzeptionelle Einflüsse Bei der Sichtung der thematisch relevanten Literatur wird deutlich, dass es kein einheitliches Konzept der EFB zur Partizipation von TuS-Kindern gibt. Es besteht eine Vielfalt an Methoden und Meinungen, ob und wie diese sinnvoll sein kann. Hierbei lassen sich fünf verschiedene Modelle herausfiltern: Modell 1: Kinder partizipieren durch die Beratung ihrer Eltern

Dass Kinder nicht direkt in Beratungsprozesse einbezogen werden müssen, sondern durch die Beratung ihrer Eltern partizipieren und profitieren, ist ein Modell, dass beispielsweise durch das Konzept des Elternkurses »Kinder im Blick« vertreten wird, das 2007 den Präventionspreis der »Deutschen Liga für das Kind« erhielt. »Wir sehen den Ansatzpunkt […] nicht primär bei den Kindern, sondern im Wohlbefinden und der Kooperation der Eltern und nehmen an, dass eine Elterngruppe für das kindliche Wohlbefinden wirksamer ist als eine Kindergruppe ohne Elternarbeit« (Bröning et al., 2012, S. 224). Die Kurse bestehen aus sechs Einheiten à drei Stunden und beinhalten drei Schwerpunkte: Die eigene TuS-Verarbeitung, die elterliche Kooperation und der Umgang mit dem Kind. Ergebnisse der Wirkungsforschung zu diesem Angebot, die aus der Befragung von 137 Eltern gewonnen wurden, zeigen auf der Elternebene Verbesserungen im eigenen Wohlbefinden, der Elternbeziehung sowie der Konfliktintensität. Keine Verbesserungen zeigen sich bei der Häufigkeit von Konflikten, der Elternallianz, dem Erziehungsverhalten sowie der Qualität der Eltern-KindBeziehung. Gleichwohl berichteten die Eltern »in Bezug auf alle untersuchten Aspekte der kindlichen Entwicklung von signifikanten Verbesserungen« (S. 236). Davon ausgehend, dass die Einschätzung der Kinder durch ihre Eltern bei TuS durch deren Strittigkeit und Eigeninteressen im Konflikt geprägt sein können, bleibt die Frage offen, wie die Kinder der teilnehmenden Eltern selbst ihre Lage einschätzen würden. Bröning et al. (2012) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Kinderinterviews geführt wurden, deren Auswertung allerdings noch aussteht. Der Ausblick der Autorinnen, dass ein »begleitendes oder anschließendes Zusatzangebot für Kinder (KIB-Kids)« in Planung sei, da dies »von den Eltern häufig angeregt« wurde, legt die Hypothese nah, dass die Eltern den eigenen Kursbesuch als Hilfe für ihre Kinder als nicht ausreichend empfanden (Bröning et al., 2012, S. 240). Abzuwarten bleibt somit, ob sich KIB künftig als Beispiel zu Modell 2 zuordnen lässt.

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Modell 2: Beratung der Kinder wird Beratung der Eltern an die Seite gestellt

Figdor (2008) sieht den Schwerpunkt der (psychoanalytisch-pädagogischen) EFB ebenfalls in der Beratung der Eltern. Er konstatiert, der Weg zum Kind führe ausschließlich über deren emotionale Situation. »Die Eltern können erst dann auf ihr Kind eingehen, wenn wir auf sie eingegangen sind« (Figdor, 2008, S. 73). Figdor ist dennoch beispielhaft für Modell 2, weil er ergänzend dazu ein Angebot für Kinder fordert, das der Elternarbeit »an die Seite gestellt wird«, »weil […] es Kindern erleichtert, ihre Gedanken, Sorgen und Gefühle in die Interaktion mit den Eltern einzubringen« (S. 31 ff.). Hierbei sollen im Beratungsprozess psychoedukativ Inhalte vermittelt werden, die den Kindern das Scheitern der Ehe ihrer Eltern, den Unterschied zwischen einer Liebes- und einer Eltern-Kind-Beziehung erläutern sowie Vorgehen vor Gericht vermitteln und ihnen verdeutlichen, dass sie an der TuS keine Schuld tragen (Figdor, 2008). Modell 3: Kinder partizipieren wegen ihres eigenen Hilfebedarfs

Dass Kinder, die eine TuS erleben, einen eigenen Hilfebedarf haben und somit auch eines eigenen Angebots bedürfen, entspricht den Aussagen von Weber (2004). Er kritisiert, dass »im Falle der Trennungs- und Scheidungsberatung die Beteiligung von Kindern (noch) nicht Standard ist« (Weber, 2004, S. 136). Dies sei damit zu begründen, dass die Verantwortung bei den Eltern gesehen werde und Kinder bei diesem Thema lediglich Beiwerk seien. Er weist darauf hin, dass »kritisch reflektierte Regelungen der Eltern zur Lebenssituation des Kindes eben noch nicht die gesetzlich gewollte Beteiligung des Kindes« (S. 127) bedeuten und dass gerade die Situation von TuS es notwendig mache, »die Sicht der Kinder selbst kennen zu lernen« (S. 136). Für ihn ist die Beteiligung des Kindes Maxime für die Vorgänge bei der Beratung. Sein Best-Practice-Modell besteht aus einer engen Verzahnung von Eltern- und Kindangeboten: Während ein Teammitglied die Eltern berät, arbeitet ein weiteres mit den Kindern. Elternberatung und eine länger andauernde Einzelbetreuung des Kindes bzw. die Teilnahme an Gruppenintervention finden somit parallel statt und können bei Bedarf verknüpft werden, beispielsweise indem die Interessen der Kinder durch die Kinder selbst und/oder deren Berater in die Elternberatung eingebracht werden (Weber, 2004). Modell 4: Mitglieder einer Familie partizipieren gleichberechtigt

Dass Beratung für alle Betroffenen Unterstützung bietet und einzelne Mitglieder oder Generationen der Familie dabei nicht per se hervorgehoben werden,

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ist Grundlage von Konzepten, die die Beratung der ganzen Familie umfassen (Plass, 2000; Holzheuer, Lederle u. Roßberger, 1994; Lederle, 1997). Plass (2000) bezeichnet Familienberatung im Kontext von Trennung und Scheidung dementsprechend »als Beratung von Familien vor, während und nach der Trennung und juristischen Scheidung« (Plass, 2000, S. 1). Holzheuer, Lederle und Roßberger (1994) weisen hierbei auf den Widerspruch hin, den es zu bewältigen gilt, »nämlich sich als Paar möglichst fair zu trennen und als Eltern möglichst gut für das Wohl der Kinder zusammenzuarbeiten« (S. 131). In Bezug auf Kinder ergänzt Plass (2000), dass dem Kindeswohl entsprechende Entscheidungen »noch am ehesten zu verwirklichen [sind], wenn man auch das Wohl der gesamten Familie, das heißt aller relevanten Familienmitglieder in die Überlegung mit einbezieht« (Plass, 2000, S. 1). Plass (2000) argumentiert hierbei aus einer systemischen Perspektive, bei der der/die Berater/-in sich allparteilich zeigt und somit die unterschiedlichen Bedarfe und Interessen einzelner Familienmitglieder einbeziehen kann. Modell 5: Kinder partizipieren durch die Teilnahme an Gruppenintervention

»Die Arbeit mit Kindergruppen im Bereich der Trennung und Scheidung ist eine besonders wichtige Arbeit, die Kindern in unterschiedlichen Situationen von Trennung und Scheidung Entlastung und Unterstützung bietet. Entlastung und Unterstützung und somit Überwindung der durch die Trennung verursachten Probleme ist das erklärte Ziel aller Angebote« (Goldstein, Placke-Brüggemann, Pfeifer, Reinartz u. Winkler, 2000, S. 90). Das Zitat von Goldstein et al. (2000) verdeutlicht den Stellenwert, den Kindergruppen in der EFB einnehmen. Verschiedene Beiträge zur EFB bei TuS haben gemein, dass Gruppenintervention als geeignetes und favorisiertes Angebot für die betroffenen Kinder hervorgehoben wird (beispielsweise Bröning et al., 2012; Weber, 2004; Helmut Mader Stiftung, 2008; Goldstein et al., 2000). Konzeptionen für diese Gruppen bestehen seit Ende der 1970er Jahre. Sie wurden zunächst in den USA entwickelt und dort an Schulen durchgeführt. Seit den 1990er Jahren gibt es sie auch für die EFB in Deutschland. Bis heute sind es vor allem die Programme von Fthenakis et al. (1995) und Jaede et al. (1996), die in der EFB in Deutschland hauptsächlich angewendet werden (Dahmani, Michel u. Röhrle, 2001). Die Arbeit mit Kindergruppen eignet sich im Beratungssetting, da diese von Kindern als natürliches Lebensumfeld wahrgenommen wird. Sie leben und lernen in ihnen, wie beispielsweise in Kindergärten, Vereinen oder der Schule. Die Gruppe wirkt hierbei als Medium von Verhaltensänderungen durch Feedbackschleifen und Modelle. Durch sie kann sich das soziale Netzwerk erwei-

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tern und das Selbstbewusstsein des Kindes verbessern, beispielsweise wenn es einen eigenen Platz in diesem neuen sozialen Gefüge findet und seine Meinungen und Wertvorstellungen mit anderen Kindern gleichberechtigt teilen kann (Geldard u. Geldard, 2003). Die spezifischen Angebote von Fthenakis et al. (1995) und Jaede et al. (1996) richten sich hierbei an sechs bis acht Kinder in der Vorpubertät, die wöchentlich an 90-minütigen Sitzungen über 12–14 Wochen teilnehmen. Ziel der Programme ist, dem Chaos von TuS eine stabile Struktur entgegenzusetzen, eine bessere Anpassung an die Lebenssituation zu unterstützen, das soziale Netzwerk zu erweitern und einen Erfahrungsaustausch unter den Kindern zu ermöglichen. Außerdem soll scheidungsbezogenes Wissen, beispielsweise zu Sorgeund Umgangsrecht, vermittelt, Ressourcen gestärkt und Coping-Strategien eingeübt werden. Zur besseren Übertragbarkeit der erlernten Inhalte in den Familienalltag weisen die Autoren auf die Notwendigkeit von begleitender Elternarbeit hin, die bei Jaede et al. (1996) aus zwei und bei Fthenakis et al. (1995) aus vier Elternabenden besteht. Zu beiden Programmen wurden Evaluationen publiziert. Näger, Liebald, Schmidt-Denter und Beelmann (2000) haben im Rahmen ihrer Evaluation des Programms von Jaede et al. (1996) zwei Gruppen sowie eine Kontrollgruppe bewertet. Sie stellten fest, dass sich die Ergebnisse der TuS-Kinder im Bereich erhöhtes auffälliges Verhalten an die der Kontrollgruppe anglichen oder diese unterschritten. Außerdem konnten Verbesserungen in den Bereichen Reduzierung von Kontaktangst und Erlangen eines realistischen Selbstbildes erreicht werden. Sowohl Struktur als auch Themen der Sitzungen haben nach Näger et al. (2000) zur Effektivität des Programms beigetragen. Dahmani, Michel und Röhrle (2001) evaluierten das Programm von Fthenakis et al. (1995). Einbezogen wurden Gruppen, die insgesamt von 23 Kindern besucht wurden. Die Ergebnisse zeigen eine signifikante Verbesserung im Scheidungserleben und eine deutliche Abnahme von Verhaltensauffälligkeiten, die sich insbesondere auf die Bereiche Kontaktangst, unangepasstes Sozialverhalten und instabiles Leistungsverhalten bezogen. Dahmani et al. (2001) bezeichnen die Ergebnisse zusammenfassend als ermutigend und ziehen das Fazit, »dass entsprechende Maßnahmen bei Risikopopulationen einzusetzen sind« (S. 183).

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Professionelle Einflüsse auf Beratung

Schlussfolgerung Wie werden TuS-Kinder von der vergessenen Größe zum zentralen Subjekt, damit sie in der EFB Hilfe und Unterstützung erhalten? Bei der Diskussion dieser Frage wurde im Rahmen des Beitrags zunächst deutlich, dass Kinder ein Recht auf Beratung und Beteiligung haben. Ob sie dieses Recht geltend machen können, hängt zunächst von ihren Eltern ab, da diese in der Regel über eine Anmeldung zur EFB entscheiden. Liegt eine Anmeldung vor, werden Art und Umfang der Partizipation vor allem durch Konzepte des Beraters zu einem sinnvollen Einbezug beeinflusst. Unter Punkt fünf wurden fünf verschiedene Modelle des kindlichen Einbezugs vorgestellt. Sie reichen von ausbleibendem oder indirektem Einbezug über Modelle, in denen Elternberatung ein Angebot für Kinder zur Seite gestellt wird, und Modelle, die Kinder und Eltern gleichermaßen berücksichtigen, bis hin zu Kindergruppenkonzepten, bei denen die Kinder im Mittelpunkt stehen und Elternabende ein Beiwerk darstellen. Hierbei scheint im Sinne einer Förderung der kindlichen Entwicklung wünschenswert, dass Kinder auf Berater treffen, die die Entscheidung zu Art und Umfang des Einbezugs bewusst treffen und bei dieser sowohl berücksichtigen, welche weiteren Institutionen einbezogen sind als auch welchen Hilfebedarf das Kind hat, also auf welche Schutzfaktoren es zurückgreifen kann und welchen Risikofaktoren es ausgesetzt ist. Literatur Baumann, P. (2011). Das aktuelle Scheidungsrecht. Finanzen – Kinder – Unterhalt (15. akt. Aufl.). Regensburg: Walhalla und Praetoria. BfJ (Bundesministerium für Justiz) (2012a). Kinder- und Jugendhilfegesetz. Zugriff am 06. 07. 2012 unter http://www.gesetze-im-internet.de/kjhg/index.html BfJ (Bundesministerium für Justiz) (2012b). Bürgerliches Gesetzbuch. Zugriff am 02. 11. 2012 unter http://www.gesetze-im-internet.de/bgb/ BKE (Bundeskonferenz für Erziehungsberatung) (2009). Hilfen für Hochkonfliktfamilien. Kinderschutz bei hoch strittiger Elternschaft: Ein Verbundprojekt des DJI, des IFK und der BKE. Informationen für Erziehungsberatungsstellen, 2(09), 3–7. BKE (Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e. V.) (2012). Inanspruchnahme von Erziehungsberatung bei gemeinsamer elterlicher Sorge nach Trennung und Scheidung. Informationen für Erziehungsberatungsstellen, 2 (12), 14–19. Bröning, S., Krey, M., Normann, K., Walper, S. (2012). Kinder im Blick. Ein Gruppenangebot für Familien in Trennung. In K. Menne, H. Scheurer-Englisch, A. Hundsalz (Hrsg.), Jahrbuch für Erziehungsberatung, Band 9 (S. 222–242). Weinheim: Juventa. Dahmani, S., Michel, A., Röhrle, B. (2001). Evaluation eines Gruppeninterventionsprogramms für Scheidungskinder. Zeitschrift für Gesundheitspsychologie, 9 (4), 180–185. Figdor, H. (2008). Hoch strittige Scheidungsfamilien und Lösungsstrategien für die Helfer. In H. Scheurer-Englisch, A. Hundsalz, K. Menne (Hrsg.), Jahrbuch für Erziehungsberatung, Bd. 7 (S. 57–79). Weinheim: Juventa.

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Carolin Tillmann

Potenzial zum Empowerment von kranken und behinderten Menschen: Peer Counseling

Freie Verbände und Selbsthilfegruppen hatten immer wieder maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der Sozial- und Sonderpädagogik (Rohrmann, 1999). In diesem Beitrag soll der Einfluss von Bürgerrechtsbewegungen am Beispiel der Behinderten- und Selbsthilfebewegungen auf die Beratungslandschaft entfaltet werden. Nach einer Klärung, was die Empowerment-Philosophie beinhaltet, wird ein diesem Ansatz zugrunde liegendes neues Menschenbild von behinderten Menschen1 präsentiert. Danach wird Peer Counseling als ein Potenzial zur Selbstermächtigung von behinderten Personen unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung betrachtet. Ausgehend vom Engagement betroffener Menschen sollen spezielle Aspekte und Grundlagen des Peer Counseling und eines in vielen Bereichen veränderten Beratungsverständnisses nachvollzogen werden. Die zusammenfassende kritische Würdigung des Konzeptes wird durch einen Ausblick auf dessen Chancen abgerundet. Empowerment-Konzepte Es gibt viele unterschiedliche Verständigungen des Empowerment-Konzeptes, eine einheitliche Anleitung existiert weder in der psychosozialen Praxis noch im wissenschaftlichen Diskurs (Herriger, 2002). Auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht, bezeichnet dieser Begriff »[…] Entwicklungsprozesse in der Dimension der Zeit, in deren Verlauf Menschen die Kraft gewinnen, derer 1

In diesem Beitrag wird, wenn von behinderten Personen/Menschen gesprochen wird, von einem erweiterten Behindertenbegriff ausgegangen, der nicht auf eine fixe biologische Tatsache reduzierbar ist. Entsprechend der Sichtweise in den Disability Studies werden körperliche Phänomene wie etwa chronische und vorübergehende Erkrankungen, Allergien, visuelle Beeinträchtigungen usw. unter dem Begriff der Behinderung zusammengefasst, solange der abweichende Körper als ein sozialer Prozess betrachtet wird (Arbeitsgemeinschaft Disability Studies in Deutschland, 2012). Um zu visualisieren, dass Behinderung in diesem Beitrag als sozialer Prozess verstanden wird, wird das Wort »Behinderte« stets kursiv geschrieben; es geht um Menschen, die behindert werden.

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sie bedürfen, um ein nach eigenen Maßstäben buchstabiertes ›besseres Leben‹ zu leben« (S. 11). Höchst unterschiedliche normative Lager finden sich in diesem Konzept wieder, was dem Begriff eine gewisse Attraktivität und einen »populistischen Reiz« (Herriger, 2002) verleiht. So lassen sich Zukunftsvorstellungen von einer Umverteilung der Macht ebenso hier einordnen wie rückwärtsgewandte Heilserwartungen. Die mangelnde Begriffsschärfe belastet den aktuellen Empowerment-Diskurs. Es fällt schwer, sich auf gemeinsame Grundlagen und Zielsetzungen festzulegen. Eine wissenschaftliche Konzeptionierung und Ableitung für die soziale Praxis ist unter diesen Bedingungen schwierig, weshalb im Folgenden nicht von dem Empowerment-Konzept, sondern von verschiedenen Konzepten gesprochen wird. Herriger (2002) betrachtet den Begriff in unterschiedlichen Definitionsversuchen aus politischer, lebensweltlicher, reflexiver und transitiver Perspektive, eine ausführliche Darstellung dieser Sichtweisen würde allerdings den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Das dem Begriff des Empowerment zugrunde liegende Menschenbild stellt eine prinzipielle Kritik der defizitorientierten Sichtweise auf Menschen dar, die sich in Randlagen der Gesellschaft befinden, wie zum Beispiel behinderte oder kranke. Diese Perspektive ist in der sozialarbeiterischen, psychosozialen, therapeutischen, rehabilitativen und heilpädagogischen Praxis weit verbreitet (Theunissen, 1999). Als Bezugsrahmen für eine defizitorientierte Betrachtung des behinderten Menschen kann das individuelle Modell von Behinderung gesehen werden. Das individuelle Modell von Behinderung ist die vorherrschende lebensweltliche Perspektive und findet sich in medizinischen, pädagogischen, psychologischen und soziologischen Diskursen. Dabei wird Behinderung mit individueller Einschränkung gleichgesetzt. Behinderung wird somit als schicksalhaftes persönliches Unglück gedeutet, das individuell bewältigt werden muss. Die Lösung für den Umgang mit dem »persönlichen Defizit« liegt nach diesem Verständnis in einer medizinisch-therapeutischen Behandlung. Gesellschaftliche Aspekte kommen hier nur insofern zur Geltung, als die vorhandenen Vorurteilsstrukturen als hinderlich für das individuelle Bewältigungsverhalten gesehen werden (Waldschmidt, 2006). »Weitere Prämissen des individuellen (präziser wohl: individualistischen) Modells sind die Expertendominanz im rehabilitativen Versorgungssystem und das Verwiesensein der Behinderten auf Sozialleistungen, deren Empfang an soziale Kontrolle und Disziplinierung gekoppelt ist« (Waldschmidt, 2006, S. 85).

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Konträr dazu gründet das Menschenbild der »Empowerment-Philosophie2« (Theunissen, 1999, S. 104) auf dem tiefen Vertrauen in die Stärken, Kompetenzen und Fähigkeiten des Gegenübers. Diese andere, positive Perspektive auf behinderte Menschen lässt sich durchaus mit einem Blick in die Geschichte der Empowerment-Konzepte erklären. Aus historisch-rekonstruierender Sicht eröffnen sich zwei Traditionslinien: zum einen Empowerment als Selbstermächtigung im Kontext der Bürgerrechtsund Selbsthilfebewegung und zum anderen Empowerment als Kennzeichen eines neuen, professionellen Handlungsprogramms der psychosozialen Praxis (Herriger, 2002). Zeitgeschichtliche Verankerung – internationale Einflüsse Für die Beschäftigung mit Peer Counseling3 als Potenzial zum Empowerment von kranken und behinderten Menschen ist die erste Traditionslinie von besonderer Bedeutung, da die Geschichte des Empowerment direkt mit den sozialen Bewegungen, zu denen auch die Behindertenbewegung zählt, in den USA verknüpft ist. Erste Formen des Nachdenkens über diese Konzepte können in der Tradition der Bürgerrechtsbewegungen (zum Beispiel Friedensbewegung) der USA, beginnend in den 1960er Jahren, gesehen werden (Herriger, 2002). Alle Bewegungen hatten eine Gemeinsamkeit: Es ging den Aktivisten darum, Einfluss zu nehmen: auf ihre direkten Lebensumstände und insbesondere auf Politik und Gesellschaft. Dies geschah durch den Versuch direkter Mitsprache, Mitgestaltung und Kontrolle (Theunissen, 1999). Einen weiteren Beitrag zur »demokratischen Entmachtung und Entlegitimierung« (S. 101) von Politik haben die von Theunissen (1999) als moderne Selbsthilfebewegungen bezeichneten Gruppierungen und deren Aktivisten geleistet. Hierunter sind Zusammenschlüsse zu verstehen, die sich als eine emanzipatorische Gegenströmung zu etablierten Selbsthilfe-Verbänden verstehen. Zu nennen sind zum Beispiel die Krüppelbewegung, die Behindertenbewegung oder auch Selbsthilfe-Initiativen von Eltern behinderter Kinder (Theunissen, 1999). Ähnlich wie bei den Empowerment-Konzepten bietet auch die zeitgeschichtliche Verortung des Peer-Counseling-Konzeptes viele Erklärungsansätze für 2 Theunissen (1999) bezeichnet mit dem Begriff der »Empowerment-Philosophie« sozialphilosophische Überlegungen, die sich aus der Analyse und kritischen Reflexion verschiedener Empowerment-Entwürfe speisen und die er für eine tragfähige Konzeptentwicklung zusammengestellt hat. 3 Im wissenschaftlichen Diskurs werden die Begriffe »Peer Counseling«, »Peer Support« und »Peer Education« synonym verwandt (Wienstroer, 1999).

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formulierte Ziele und Grundsätze. Folgende Definition der »Study Group on Peer Counseling as a Rehabilitation Resource« aus dem Jahre 1981 beschreibt, worum es von Anfang an ging: »Peer Support ist Hilfe, die von einer behinderten Person zur Verfügung gestellt wird, die über behinderungsbedingte Erfahrungen und Kenntnisse sowie über Fähigkeiten, mit der eigenen Behinderung umzugehen, verfügt. Sie assistiert anderen behinderten Individuen und entscheidenden anderen Personen im Umgang mit ihren behinderungsspezifischen Erfahrungen« (zit. nach Miles-Paul, 1992, S. 22). Demnach kann unter Peer Counseling die Beratung von Betroffenen durch Betroffene verstanden werden. Peer Counseling hatte von Beginn an eine Doppelfunktion: Zum einen diente es dem einzelnen Menschen in seiner Weiterentwicklung und zum anderen galt es als treibende Kraft im Kampf um politische und soziale Gleichberechtigung (van Kan u. Doose, 1999). Seit den 1980er Jahren wird Peer Counseling als Empowerment-Methode für behinderte Menschen genutzt. Die Idee, dieses Konzept im Bereich der Arbeit mit behinderten Menschen anzuwenden, wurde von der US-amerikanischen Independent-Living-Bewegung (Synonym: Selbstbestimmt-Leben-Bewegung) Anfang der 1960er Jahre entwickelt, wobei das Peer Counseling-Konzept im Kontext der Arbeit der Anonymen Alkoholiker bereits im Jahr 1939 erstmalige Erwähnung fand (Hermes, 2006). Im Gegensatz zum traditionellen Rehabilitationsparadigma richten die Vertreter der Independent-Living-Bewegung den Fokus nicht auf die Defizite, sondern auf die Fähigkeiten von behinderten Menschen. Es geht im Peer Counseling um die Ermächtigung des Kunden, weshalb das Prinzip des Empowerment zum Tragen kommt (Rösch, 2008). Die Begriffe »Klient« und »Patient« werden an dieser Stelle bewusst nicht verwandt, stattdessen wird auf den Begriff des »Kunden« rekurriert. Der Begriff des »Kunden« deutet sowohl einen Anspruch als auch eine Wahlmöglichkeit an, die Betroffene haben, welche Dienstleistungen annehmen. Außerdem wird verdeutlicht, dass es um ein Dienstleistungsverhältnis geht, das zweifelsfrei zwischen Beratern und Kunden besteht. Das Wort »Klient« wird aus dem lateinischen »cliens« abgeleitet, was mit »der Hörige« und »jemand, der Ablehnung gefunden hat« übersetzt wird (Bibliographisches Institut, 2012a). Das Wort »Patient« stammt ebenfalls aus dem Lateinischen und kann mit »erdulden, leiden« übersetzt werden (Bibliographisches Institut, 2012b). Mitte der 1960er Jahre hatten behinderte Studierende in den USA größere soziale und praktische Probleme zu überwinden als in der heutigen Zeit. Behinderte Studierende begannen als Pioniere der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, sich regelmäßig an der Universität Berkley zu treffen und sich Zeit füreinander

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zu nehmen. Sie nutzten die Treffen, um über ihre Erfahrungen im Umgang mit Ausgrenzung und Diskriminierung in unterschiedlichen Bereichen zu reden. Die Treffen funktionierten nach einem bestimmten Prinzip: Eine Person redete und die anderen hörten ihr zu, dann folgte eine kurze Pause und die nächste Person sprach, während die anderen zuhörten. Diese Unterstützung durch Zuhören und Reden wurde in den folgenden Jahren von immer mehr behinderten Menschen innerhalb und außerhalb der Universität aufgegriffen. Dabei wurden zunehmend Teile der humanistischen Therapieformen mit Techniken vermischt, die sich in anderen emanzipatorischen Bewegungen als erfolgreich erwiesen hatten. Peer Counseling wurde so zu einem äußerst wichtigen Werkzeug zur Befähigung behinderter Menschen (van Kan u. Doose, 1999). Die Independent-Living-Bewegung kämpfte – unterstützt und inspiriert von der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner, der Frauen und der Homosexuellen – für die Verwirklichung ihrer Bürgerrechte. So wie es für Nichtbehinderte selbstverständlich war, forderten nun auch die Behinderten ihr Recht auf die gleichberechtigte Teilnahme am öffentlichen Leben und Zugangsmöglichkeiten zu staatlichen und privaten Institutionen ein. Angestrebt wurde ein selbstbestimmtes Leben außerhalb ausschließender Sondereinrichtungen, öffentliche Aufmerksamkeit wurde durch unterschiedliche Aktionen und Demonstrationen erzeugt. Die beispielgebende Antidiskriminierungsgesetzgebung der USA ist unter anderem als Resultat dieser Bemühungen zu sehen. Fortan stand die gesellschaftliche Diskriminierung von Behinderten im Mittelpunkt des politischen Kampfes, Behinderung wurde nicht länger als individuelles Schicksal begriffen. Hiermit verbunden war die Konsequenz, sich nicht länger von nichtbehinderten Fürsprechern der Wohlfahrtsverbände bevormunden zu lassen, sondern sich selbst als politische Wesen zu verstehen, die Partei für sich ergreifen und für ihre Rechte eintreten (Rösch, 2008). 1972 wurde von den zuvor erwähnten Studierenden in Berkley das erste »Center for Independent Living« (CIL) gegründet, welches als Beratungs- und Dienstleistungszentrum von Behinderten für Behinderte im Sinne eines selbstbestimmten Lebens agierte. Dieses Projekt fand in vielen amerikanischen Orten Nachahmer. Peer Counseling hat sich als fester Bestandteil einer Agenda etabliert, um zu einem selbstbestimmten Leben der Menschen beizutragen (Rösch, 2008). Zeitgeschichtliche Verankerung – nationale Einflüsse In der Bundesrepublik vollzog sich die Entwicklung anders. Während es bis in die 1950er Jahren noch ausschließlich die Kriegsopferverbände waren, die sich für die Verbesserung der Lebensumstände von behinderten Kriegsopfern ein-

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setzten, so entstanden erst in den 1950er Jahren vermehrt Initiativen von sogenannten Zivilbehinderten, zum Beispiel 1955 die Selbsthilfe Körperbehinderter, und Organisationen, die durch Angehörige von Menschen mit Behinderungen gegründet wurden, wie die 1958 gegründete »Lebenshilfe«. Diese Verbände, in denen sich vor allem Eltern zusammenschlossen, können jedoch aus der Perspektive der Betroffenen durchaus kritisch bewertet werden (Wienstroer, 1999). Wienstroer versteht sie unter anderem als Form der Bevormundung behinderter Menschen, da hier keine emanzipatorische Selbstorganisation stattfand, sondern Angehörige für Behinderte tätig wurden. Fandrey (1990) sieht die Entwicklung dieser Elternverbände vor dem gesellschaftlichen Hintergrund der Nachkriegssituation in Deutschland. Familienverbände wurden zunehmend kleiner, selbstständige Familien- und Bauernverbände lösten sich auf und Frauen wurden öfter berufstätig. Die familiäre Versorgung von Menschen mit Behinderungen wurde zunehmend schwieriger und im Ausland traten neue Vorbilder in Erscheinung wie zum Beispiel der 1930 gegründete einflussreiche US-Lebenshilfeverein (Fandrey, 1990). Begünstigt durch die Aufbruchsstimmung der 1960er Jahre entstand – als Konsequenz der Kritik an den Elternverbänden – der Club 68. Hier trafen sich Menschen mit und ohne Behinderungen. Dieser Club gilt als Vorläufer des Clubs der Behinderten und ihrer Freunde, den es auch heute noch in zahlreichen Städten gibt (Wienstroer, 1999). Aktivitäten, die sich aus dem Zusammenschluss in diesen Clubs ergaben, bedeuteten für viele Mitglieder eine Verminderung oder Aufhebung bisheriger persönlicher und sozialer Isolation (Fandrey, 1990). 1974 leiteten Gusti Steiner und Ernst Klee einen Volkshochschulkurs in Frankfurt/Main, in dem erstmals behinderte und nichtbehinderte Dozenten und Lernende aufeinandertrafen. Ziel war es, Behinderte zu Subjekten eigenen Handelns werden zu lassen und somit die Rolle des fremdbestimmten Objekts abzulegen. Im Gegenzug sollten Nichtbehinderte für die Situation von Menschen mit Behinderungen sensibilisiert werden. Daraus erwuchs eine Vielzahl politischer Aktionen und Demonstrationen (Steiner, 1999). Selbstkritisch wurden bisherige Reaktionsmechanismen behinderter Menschen, die sich als eine Mischung aus Demut und Dankbarkeit bezeichnen lassen, über Bord geworfen und durch ein selbstbewusstes Auftreten in einer durch Behindertenfeindlichkeit geprägten Welt ersetzt (Wienstroer, 1999). Das Frankfurter Landgericht entschied am 25. 02. 1980 in einem Urteil, dass die Anwesenheit von Behinderten am Urlaubsort den Erholungswert schmälert. Hintergrund war die Klage einer Dame, die eine Teilminderung ihrer Reisekosten forderte, weil eine Gruppe schwedischer Behinderter in demselben Hotel untergebracht war wie sie. Es folgten Proteste, wie sie bis dahin in dieser

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Größenordnung noch nicht in der Bundesrepublik zu diesem Thema zu finden waren. Verschiedene Behinderteninitiativen schlossen sich überregional zu gemeinsamen Aktivitäten zusammen. Das gebildete Netzwerk fungierte als gute Grundlage für spätere Proteste der Behindertenbewegung und ist als eine wichtige Wurzel der Behindertenbewegung anzusehen (BM-Online, 2012). In sehr kurzer Zeit konnte eine Großdemonstration in Frankfurt/Main mit 4000 Teilnehmenden organisiert werden, bei der Menschen aus ganz Deutschland ihren Widerstand gegen dieses »Schandurteil« (Steiner, 1999, S. 142) zum Ausdruck brachten. Behinderte Menschen traten zunehmend undankbar auf und gründeten sogenannte Krüppelgruppen. Dabei wurde der Begriff »Krüppel« gewählt, um Nichtbehinderten die Chance zu verwehren, sich hinter dem Begriff der Behinderung mit einer Art Scheinintegration zu verstecken (Maskos, 2011). Die UNO-Generalversammlung rief das Jahr 1981 als »Internationales Jahr der Behinderten« aus, der Leitslogan war die »volle Partizipation und Gleichberechtigung« für Behinderte (Humanrights.ch, 2012). Aus Sicht der Vertreter der emanzipatorischen Selbsthilfebewegung ging es bei den entsprechenden Veranstaltungen in erster Linie um eine Beweihräucherung von Politikern und Verbandsfunktionären, die betonten, was sie alles Gutes zum Wohle der Behinderten täten. Behinderte Menschen selber sollten nicht zu Wort kommen, verschafften sich aber durch unterschiedliche Protestaktionen Gehör (Steiner, 1999). Angesichts des weit verbreiteten Systems der Aussonderung tauften die Krüppelgruppen das Jahr 1981 zum »Jahr der Behinderer« (Maskos, 2011). Bei der nationalen Eröffnungsveranstaltung zum internationalen Jahr der Behinderten in Dortmund besetzten sieben behinderte Menschen mit Unterstützung von 100 Aktivisten die Hauptbühne; von dort sollten der damalige Bundespräsident Carl Carstens und andere prominente Gäste sprechen. Die Demonstranten wollten damit ihrer Sorge um den Verlust der mühsam erkämpften Selbstvertretungsansprüche durch Mitleid und Helfertum Ausdruck verleihen (Rohrmann, 1999). Das Jahr endete mit dem sogenannten Krüppeltribunal, für das Krüppelgruppen und Gruppen aus allen Regionen Menschenrechtsverletzungen dokumentiert hatten und diese nun zur Anklage brachten (Maskos, 2011). Dieses Jahr, voller regelverletzender Aktionen, kann als Höhepunkt der Bewegung betrachtet werden. Maskos (2011) betont, dass die Tribunalteilnehmer von damals sehr viel erreicht haben. Durch den Kontakt mit Aktivisten des »Independent Living Movement« aus den USA gründeten viele in Orientierung an den »Centers for Independent Living« deutsche Zentren für selbstbestimmtes Leben. Hier schließt sich der Kreis, um auf das Thema Peer Counseling zurückzukommen, da an diesen Orten Betroffene durch Betroffene im Sinne des Peer Counseling beraten

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werden (Maskos, 2011). Unter dem Dachverband »Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland e. V.« existieren 25 Zentren, die Peer Counseling anbieten (Hermes, 2006). Mittlerweile wird Peer Counseling auch von Behindertenorganisationen und freiberuflichen Beratern angeboten. Im europäischen Raum ist es jedoch immer noch ein Angebot, das nur wenigen Menschen mit Behinderung zur Verfügung steht (van Kan u. Doose, 1999). Etablierung des Peer Counseling Im Jahr 1995 trafen sich Peer Counseler aus ganz Europa in Erlangen und befürworteten die Frage nach der Standardisierung von Peer Counseling; das von van Kan und Doose (1999) publizierte Handbuch entstand im Anschluss an diese Initiative. Zwei zentrale Aspekte prägen das Peer Counseling: Zum einen bietet dieser Ansatz einen speziellen Zugang zu den Schwierigkeiten und Herausforderungen ähnlich betroffener Menschen, zum anderen bezieht sich Peer Counseling immer auf eine spezielle Technik (van Kan u. Doose, 1999). Van Kan und Doose (1999) beschreiben zentrale Bestandteile des Peer Counseling, die stets vor dem Entstehungshintergrund dieser Beratungsform gesehen werden müssen. Demnach heißen in diesem Zusammenhang Menschen »Peers«, die zu ihrer Behinderung stehen und auf die Lebenserfahrung, mit einer Behinderung in dieser Gesellschaft zu leben, zurückgreifen können. Die Behinderung allein wird nicht als Qualifikation gewertet, sondern ist eine Voraussetzung; die Kandidaten müssen weitere Anforderungen erfüllen (van Kan u. Doose, 1999): –– Sie müssen Erfahrung im Umgang und der Arbeit mit Menschen besitzen, die in professionellen Settings oder Selbsthilfegruppen gesammelt wurden. –– Die Kandidaten müssen sich als »behindert« definieren und zu ihrer Behinderung stehen. –– Eine emotionale Bearbeitung und Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung muss erfolgt sein. –– Der Berater muss in der Lage sein, als Rollenmodell zu fungieren, dazu sind soziale Integrationsfähigkeit und innere Unabhängigkeit notwendig. Diese Grundlagen sind die Voraussetzung für den direkten Austausch in einer entspannten Atmosphäre, wobei die Gespräche auf dem Prinzip der Schweigepflicht beruhen. In dieser Beratungsform kommen unterschiedliche Techniken (zum Beispiel Dialog, Körperarbeit) zum Tragen, deren Einsatz von der Annahme geleitet wird, dass Menschen in der Regel selber dazu in der Lage sind, ihre Probleme zu lösen und Ziele zu erreichen. Trotz der unterschiedli-

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Professionelle Einflüsse auf Beratung

chen Rollen im Beratungssetting gelten Beratende und Kunde auf Grundlage der gemeinsamen Lebenserfahrung als gleichberechtigte Partner (van Kan u. Doose, 1999). Diese bekennende Beratung birgt die Möglichkeit, dass sich eine symmetrische Beziehung entwickelt, was in anderen professionellen Beratungssituationen untypisch ist (Borgetto, 2004). Bei Unterstützungsbedarf, der nicht über die Beratenden abgedeckt werden kann, wird an andere Stellen verwiesen. Die Begegnung auf Augenhöhe gilt in der Einzelberatung ebenso wie in der Gruppensitzung. Die Beratung soll ermöglichen, manches – zunächst als individuell und personenbezogen wahrgenommenes Problem – auf die Ebene eines allgemeineren, sozialen, politischen oder kulturellen Kontextes zu heben (van Kan u. Doose, 1999). Hier zeigt sich die enge Verknüpfung zur Behindertenbewegung der 1960er Jahre, die den Blick weg von den individuellen Einschränkungen hin zur Analyse und Beseitigung diskriminierender gesellschaftlicher Bedingungen richtete (Hermes, 2006). Ausgehend von einer Beratung durch einen Menschen, der ähnliche Erfahrungen wie der Ratsuchende gemacht hat, wird es behinderten Ratsuchenden ermöglicht, ihr Problem nicht ausschließlich als individuell anzusehen, sondern die gesellschaftliche Dimension dahinter zu entdecken und festzustellen, dass diese Probleme auch auf politischer Ebene angegangen werden können (Berufsverband Peer-Counseling e. V., 2012). Dies erfordert im Prinzip viele Berater mit unterschiedlichsten Lebenserfahrungen und Beratungsqualitäten und zeigt somit eine Grenze auf. Die Forderung nach einer wünschenswerten Professionalisierung der Berater scheint dem entgegenzustehen und mit fehlenden finanziellen Ressourcen in diesem Arbeitsbereich nicht vereinbar. In den USA wird dieses Problem gelöst, indem hauptamtlich und ehrenamtlich Tätige in diesem Beratungsfeld aktiv sind (Wienstroer, 1999). Als weitere Schwierigkeit dieses Beratungskonzeptes ist zu sehen, dass Beratende sich möglicherweise aufgrund eigener Betroffenheit besonders schwer abgrenzen können. Auf der anderen Seite kann es für den Kunden selbst schwierig sein, mit der Einschränkung eines Beraters konfrontiert zu werden, insbesondere dann, wenn der Ratsuchende noch am Anfang seiner eigenen Auseinandersetzung mit der Einschränkung steht (Wienstroer, 1999). In Amerika ist Peer Counseling eine akzeptierte und geschätzte Ergänzung zu anderen Hilfsangeboten. Bei europäischen Behörden, Regierungsstellen und in der emanzipatorischen Behindertenbewegung steigt die Wertschätzung und Bekanntheit dieser Methode (van Kan u. Doose, 1999). Bereits um das Jahr 1970 wurden in amerikanischen Hochschulen Peer-Counseling-Ausbildungsprogramme zur gegenseitigen Unterstützung weiblicher Studierender entwickelt. Inzwischen gibt es an US-amerikanischen Hochschulen Peer-Counseling-Angebote für Homosexuelle und Behinderte (Rösch, 2008).

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Tillmann | Peer Counseling

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Paradigmenwechsel durch Betroffenenberatung In der zuvor beschriebenen Beratungsform kann ein Potenzial zur Verbesserung der Qualität im Gesundheitssystem gesehen werden. In der Zusammenfassung der Studie von Bachl et al. weist Borgetto (2004) darauf hin, dass die Beratung durch Betroffene soziale Dienstleistungen und Unterstützung in einer Form miteinander verbindet, wie dies in der Beratung durch Nichtbetroffene nicht möglich ist: »Die Beratung von Betroffenen ergänzt die professionelle Beratung in sinnvoller Weise; keine Beratungsform kann die andere ersetzen« (Borgetto, 2004, S. 220). Die geringe wissenschaftliche Beachtung des Themas Peer Counseling und die schlechte finanzielle Ausstattung entsprechender Beratungsstellen verdeutlicht, dass es diesem Beratungsansatz an angemessener gesellschaftlicher und professioneller Anerkennung fehlt (Hermes, 2006). Nicht selten bedarf es der in mühevoller Kleinarbeit aufgebauten Selbsthilfe, um den »Mainstream« eines Faches in eine andere Richtung zu lenken (Rohrmann, 1999). Während heute kaum jemand mehr die grundsätzliche Bildungs- und Erziehungsfähigkeit von Menschen, die wir heute geistig behindert nennen, infrage stellen dürfte, so war dies in den 1950er und Anfang der 1960er Jahre noch ganz anders. Damals forderten die Eltern solcher Kinder ein derartiges Verständnis ein, stießen aber auf das nahezu einhellige Unverständnis der Heil- und Sonderpädagogik und deren Nachbardisziplinen, die zu dieser Zeit noch auf das Kraepelin’sche Unverstehbarkeits- und Unerziehbarkeitsdogma zurückgriffen. Schon oft konnten aus einer Kritik heraus durch Selbsthilfebewegungen Praxisformen entwickelt, etabliert und wissenschaftlich abgesichert werden, die zunächst auf den erbitterten Widerstand renommierter Vertreter des Faches stießen (Rohrmann, 1999). Da der Peer-Counseling-Ansatz von Kunden und Beratern als äußerst effektive Methode zum Empowerment behinderter Menschen erlebt wird (Hermes, 2006; Rösch, 2008) und zu einem »[…] Paradigmenwechsel vom bevormundeten, unmündigen Behinderten hin zum mündigen, selbstbestimmten Bürger« (Rösch 2008) beiträgt, bleibt zu wünschen, dass es sich mit diesem Ansatz genauso verhält. Literatur Arbeitsgemeinschaft Disability Studies in Deutschland (2012). Was sind die Disability Studies? Zugriff am 13. 05. 2012 unter http://www.disabilitystudies.de/studies.html Berufsverband Peer-Counseling e. V. (2012). Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter. 11. Weiterbildung Peer Counseling. Zugriff am 09. 08. 2012 unter http:// www.peer-counseling.org/

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Professionelle Einflüsse auf Beratung

BM-Online e. V. (2012). Geschichte Frankfurter Reise-Urteil – Die Bewegung formiert sich. Zugriff am 22. 08. 2012 unter http://www.behinderte.de/1981/81idx.htm Bibliographisches Institut GmbH (2012a). Duden. Klient. Zugriff am 22. 08. 2012 unter http://www. duden.de/rechtschreibung/Klient Bibliographisches Institut GmbH (2012b). Duden. Patient. Zugriff am 22. 08. 2012 unter http://www. duden.de/rechtschreibung/Patient Borgetto, B. (2004). Selbsthilfe und Gesundheit. Analysen, Forschungsergebnisse und Perspektiven. Bern: Hans Huber. Fandrey, W. (1990). Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland (1. Aufl.). Stuttgart: Silberburg. Hermes, G. (2006). Peer-Counseling – Beratung von Behinderten für Behinderte als Empowerment-Instrument. In H. Schnoor (Hrsg.), Psychosoziale Beratung in der Sozial- und Rehabilitationspädagogik (S. 74–85). Stuttgart: Kohlhammer. Herriger, N. (2002). Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung (2. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Humanrights.ch (2012). Konventionen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Zugriff am 24. 08. 2012 unter http://www.humanrights.ch/de/Instrumente/UNO-Abkommen/ Behinderte/index.html Maskos, R. (2011). Endlich undankbar. Vor 30 Jahren legte das Krüppeltribunal in Dortmund die Grundlage der Behindertenbewegung. Zugriff am 28. 08. 12 unter http://jungle-world.com/ artikel/2011/50/44516.html Miles-Paul, O. (1992). »Wir sind nicht mehr aufzuhalten.« Beratung von Behinderten durch Behinderte. Vergleich zwischen den USA und der Bundesrepublik. München: Spak. Rohrmann, E. (1999). Vom »brüllenden Löwen« zum »kläffenden Schoßhund.« Zur Institutionalisierung und Professionalisierung von Selbsthilfegruppen im Behindertenbereich. In P. Günther, E. Rohrmann (Hrsg.), Soziale Selbsthilfe. Alternative, Ergänzung oder Methode sozialer Arbeit (S. 51–68)? Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter. Rösch, M. (2008). Private Angelegenheiten und Politik behinderter Menschen – Peer Counseling und Independent Living. In: Berufsverband Peer-Counseling e. V./Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland e. V. (Hrsg.), Festschrift. 10 Jahre Berufsverband Peer Counseling. Fachtagung 31.10./01. 11. 2008. Erfurt. Zugriff am 09. 08. 2012 unter http://www. peer-counseling.org/ Steiner, G. (1999). Selbsthilfe als politische Interessenvertretung. Zum Konzept der politischen Selbsthilfe. In P. Günther, E. Rohrmann (Hrsg.), Soziale Selbsthilfe. Alternative, Ergänzung oder Methode sozialer Arbeit (S. 127–143) Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter. Theunissen, G. (1999). Weg aus der Hospitalisierung. Empowerment in der Arbeit mit schwerstbehinderten Menschen (4. Aufl.). Bonn: Psychiatrie-Verlag. Van Kan, P., Doose, S. (1999). Zukunftsweisend. Peer Counseling & Persönliche Zukunftsplanung. Kassel: bifos Schriftenreihe. Wienstroer, G. N. (1999). Peer Counselling [sic!]. Das neue Arbeitsprinzip emanzipatorischer Behindertenarbeit. In P. Günther, E. Rohrmann (Hrsg.), Soziale Selbsthilfe. Alternative, Ergänzung oder Methode sozialer Arbeit (S. 165–180). Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter.

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4.  Individuelle Einflüsse auf Beratung

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Denise Bergold-Caldwell, Helga Krüger-Kirn, Monika Lang, Heike Schnoor und Jasmin Scholle

Psychosoziale Beratung als intersubjektiver Prozess und die Fiktion beraterischer Neutralität

Psychosoziale Beratung ist eine Hilfeform, die im Dialog zwischen Klientin und Beraterin gemeinsam erarbeitet wird. Beratung kann folglich als Ergebnis eines intersubjektiven Geschehens zwischen Klient und Berater verstanden werden. Auch wenn die in diesem Teil versammelten Beiträge unterschiedliche theoretische Zugänge haben, stimmen die Autorinnen doch darin überein, dass Beratung auf der Basis einer humanistischen Grundhaltung auf Selbstbestimmung des Klienten gründen muss und einen dialogischen – nicht manipulativen – Verständigungsprozess beinhaltet. Dieses dialogische Paradigma stößt jedoch auf vielfältige Grenzen, die kritisch reflektiert werden sollen. Die Einflüsse auf den Dialog sind nicht nur biografisch geprägt, sondern auch Folge der beruflichen Sozialisation – zu der auch die Beratungsausbildung gehört – und der gesellschaftlichen, institutionellen, disziplinären und professionellen Kontextuierung, in die Beratung eingebettet ist. Eine Reflexion und Relativierung dieser Einflüsse kann als entscheidendes Kriterium beraterischer Professionalität gelten, dennoch – auch wenn die Folgen methodisch durch Selbsterfahrung und Supervision eingegrenzt werden können – bleibt eine Neutralität der Beraterin letztlich eine Fiktion. Es ist üblich, die Einflüsse der Klienten auf den Interaktionsprozess in der Beratung zu thematisieren. Unser Anliegen in diesem Teil des Buches ist es jedoch, der Frage nach den Einflüssen durch die Beraterinnen selbst nachzugehen. Es stellt sich die Frage, welche Rolle die persönlichen Haltungen, Lebenseinstellungen und -erfahrungen, (Vor-)Urteile und Wertvorstellungen von Beraterinnen und Beratern in der Begegnung und Beziehung mit den Klienten im Beratungsprozess spielen. Jeder Mensch – auch die Beraterin und der Berater – lebt und arbeitet in einer spezifischen Bezugnahme auf die Welt und auf die eigene Person. Diese Bezugnahme äußert sich in inneren Bildern, Stimmungen oder Körperreaktionen und hinterlässt Spuren in den Interaktionsprozessen mit der Klientel. Dies begründet die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion der Position des Beraters als gestaltendes Gegenüber innerhalb des Beratungs-

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Individuelle Einflüsse auf Beratung

prozesses. So wird zwar mittlerweile diskutiert, wie die Interaktion zwischen Berater und Ratsuchendem genutzt werden kann, dabei bleiben jedoch gerade Themenbereiche, die an existenzielle Fragen wie Geschlecht, ethnische Herkunft oder Krankheit und Tod anknüpfen, ausgeblendet oder rufen bestenfalls zu Auseinandersetzungen und Kontroversen auf. Entlang eines Beratungsfalls aus der Jugendhilfe zeigen Jasmin Scholle und Denise Bergold-Caldwell auf, wie subtil aber wirkungsmächtig gesellschaftlich geteilte Bilder über die Klientel sind. Hierfür nehmen sie beispielhaft rassistische Zuschreibungen und ihren Einfluss auf den Beratungsprozess in den Blick. Sie berühren die Frage, wie dem Gegenüber zugehört, wie nach Verknüpfungen gesucht wird bzw. welche Verknüpfungen und Handlungsspielräume durch den eingeengten Blick nicht in Betracht gezogen werden. Dies kann bis hin zu einem Nichterkennen der tatsächlichen Problemlagen der Klientel führen. In der Summe ermöglichen oder verunmöglichen diese gesellschaftlich geteilten Bilder den Beratungsprozess und damit die Begegnung und Zusammenarbeit in der Beratung. Werden diese Vorannahmen reflektiert und findet eine Begegnung auf Augenhöhe statt, dann kann Beratung zu einem unterstützenden und stärkenden Moment werden. Da die Selbstbestimmung mit Bezug auf die Intersubjektivität des Menschen streng genommen immer nur eine relative sein kann, wird es vor diesem Hintergrund auch möglich, über das Symptomverständnis und die Kriterien für Beratungserfolge differenzierter nachzudenken. Denn dann wird auch deren gesellschaftliche Kontingenz deutlicher und verändert unter Umständen den Blick auf die Symptomatik bzw. die Erfolgskriterien. Im Beitrag von Helga KrügerKirn wird dieser Zusammenhang exemplarisch am Beispiel von Paarberatungen aufgezeigt. Mit Blick auf die gesellschaftliche Verwobenheit des individuellen Leidens kann dessen soziale Bedingtheit, aber auch subjektive Sinnhaftigkeit deutlich werden. Insofern können die Symptome der Klienten nicht nur pathologisch, sondern auch im Zusammenhang der familiären, sozialen und gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge verstanden werden. Mit dem Beitrag von Monika Lang lässt sich noch eine weitergehende Problematisierung der Fiktion des neutralen Beraters aufzeigen. So kann es Formen und Situationen von Beratung geben, in denen gerade die bewusste und reflektierte Offenlegung eigener Welt- und Sinnorientierung durch die Beraterin, die Entwicklung eines Reflexionsraumes auf Seiten des Klienten überhaupt erst ermöglichen oder zumindest unterstützen kann. Vorgegebene Neutralität kann dann sogar eher verunsichern oder die Entwicklung eines Reflexionsraumes auf Seiten des Klienten verhindern. Dies gilt vor allem dann, wenn Beratungsbereiche bzw. Fragestellungen berührt werden, in denen sich jeder Mensch in

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Bergold-Caldwell, Krüger-Kirn, Lang, Schnoor, Scholle  |  Intersubjektiver Prozess

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irgendeiner Weise selbst orientieren muss, weil er in seiner eigenen menschlichen Existenz betroffen ist (zum Beispiel wenn es um Fragen des eigenen Sinnhorizontes, des Selbst- und Weltbezuges, des Umgangs mit Krankheit und Tod geht). Der Beitrag von Monika Lang macht deutlich, dass ein für den Klienten nicht greifbarer, aber doch vorhandener Orientierungsrahmen der Beraterin, Verunsicherung und Irritation auslösen und die Entwicklung von Vertrauen und Sicherheit in der Beratungsbeziehung stören oder sogar unmöglich machen kann. Genauso, wie ein Klient durch eine bestimmte offen kommunizierte Werthaltung einer Beraterin in der Entwicklung einer eigenen Orientierung beeinflusst werden kann, wirkt auch eine angebliche Neutralität auf diesen Prozess verändernd ein. Erschwerend kann unter der Neutralitätsvorgabe für den Klienten aber hinzukommen, dass diese professionelle Einwirkung eher verdeckt erfolgt und kaum fassbar ist. Eine ergebnisoffene Beratung, die einen Reflexionsraum für die Klientel eröffnet, ist zwar das allseits akzeptierte Ziel einer Beratung, aber ihre Realisierung scheint nur mehr oder weniger umsetzbar. Voraussetzung wäre auf Seiten der Berater und Beraterinnen die Bereitschaft, über eigene Haltungen und Vorurteile nachzudenken und die Bereitschaft zu entwickeln, die Bilder des Gegenübers überhaupt entdecken zu wollen. Dies impliziert eine selbstkritische Haltung auf der Beraterseite. Am Beispiel somatischer und biografischer Resonanzen beschreibt Susanne Maurer, wie diese Ungleichheiten und Differenzen in Beratungen zum Ausgangspunkt der Reflexion und neuer Erfahrungen werden können.

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Jasmin Scholle und Denise Bergold-Caldwell

Beratung als macht- und vorurteilsbewusstes Handlungsgeschehen?! Eine Perspektive auf differenzmarkierende Subjektivierungsprozesse

Beratung unter Einflüssen zu betrachten bedeutet auch persönliche und gesellschaftliche Einflüsse auf den Beratungsprozess in den Blick zu nehmen. In diesem Beitrag wollen wir aufzeigen, dass Vorurteile, die wir im vorliegenden Text als gesellschaftlich geteilte Bilder beschreiben möchten, den Beratungsprozess auf mehreren Ebenen beeinflussen und in einen differenzmarkierenden Subjektivierungsprozess münden können. Exemplarisch werden wir dies an rassistischen Zuschreibungen aufzeigen. In diesem Beitrag geht es darum, Diskriminierungen und ihre subjektivierenden Folgen herauszuarbeiten. Diskriminierungen erfolgen häufig über und in Form von Sprache. Deshalb ist es uns wichtig, genau hier sehr differenziert auf diese Prozesse hinzuweisen und dies auch in Form der von uns gewählten Sprache zu verdeutlichen.1

1

Zu den oben erwähnten Einflüssen gehören auch Zuordnungen, die über die Kategorie Geschlecht erfolgen. Uns ist daran gelegen, Geschlecht als gesellschaftlich wirksame Kategorie zu kennzeichnen und gleichzeitig in einer Bandbreite von unterschiedlichen Geschlechtern darzustellen. Wir sind dabei auf die Sprache beschränkt, die uns, in all ihrer Enge, zur Verfügung steht. Daher haben wir in diesem Beitrag den Weg gewählt, die Sprache (soweit möglich) nicht zu vergeschlechtlichen, um nicht auf sprachlicher Ebene die (Zwangs-)Norm der Zweigeschlechtlichkeit zu (re-)produzieren. Außerdem möchten wir mit unserer Sprache bestehende Undifferenziertheiten (die sich zum Beispiel hinter dem Wort Migrationshintergrund verbergen) hinterfragen, wodurch es zu einer Irritation im Lesefluss kommen kann und soll.  Wir bedienen uns, um in rassismuskritischer Absicht die dichotome Positioniertheit von Menschen/Gruppen als Teil historisch gewachsener Herrschaftsverhältnisse sichtbar zu machen, der Bezeichnungen Schwarz und weiß auf einer politisch-symbolischen Ebene. Schwarz verweist hier auf die Deprivilegierung innerhalb rassistischer Verhältnisse und bringt, als Eigenbenennung, zugleich Widerstand zum Ausdruck (Ha, Lauré al-Samarai u. Mysoreka, 2007; Lauré al-Samarai, 2011). Um auf das widerständige und empowernde Potenzial dieser Eigenbenennung hinzuweisen, schreiben wir Schwarz im weiteren Verlauf mit großem Anfangsbuchstaben. Auch um einer Re-naturalisierung der Bezeichnungen (zur Beschreibung von Hautfarben) entgegenzuwirken, verwenden wir die Begrifflichkeiten Schwarz/weiß wo möglich mit direktem Verweis auf die Positionierung/Positioniertheit.

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Scholle, Bergold-Caldwell  |  Beratung als Handlungsgeschehen?!

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Gesellschaftliche Verhältnisse Im Jahre 2002 startete das Langzeitprojekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit der Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer, das Einstellungen der deutschen Bevölkerung zu bestimmten, von Diskriminierung betroffenen und/ oder gefährdeten Gruppen innerhalb der Gesellschaft untersuchte. Im Jahr 2011 endete dieses Projekt. Die empirischen Ergebnisse weisen auf eine deutliche Abwertung bestimmter Gruppen hin. So bejahten im Jahr 2011 beispielsweise 61,2 % der Befragten die Äußerung: »Ich finde es empörend, wenn sich die Langzeitarbeitslosen auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen« (Heitmeyer, 2011, S. 38). 38 % stimmten der Aussage zu »Die Obdachlosen in den Städten sind unangenehm«, 11,3 % »Viele Forderungen von Behinderten finde ich überzogen« und 25,3 % »Es ist ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen« (Heitmeyer, 2011, S. 38 f.). Bezogen auf rassialisierende Einstellungen (die Heitmeyer in seiner Studie in Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Etabliertenvorrechte, Islamfeindlichkeit, Antiziganismus und Abwertung von Asylbewerbern aufgliederte) bestätigten insgesamt 47,1 % die Äußerung »Es leben zu viele Ausländer in Deutschland«, 11, 3 % »Die Weißen sind zu Recht führend in der Welt«, 32,2 % »Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land« (Heitmeyer, 2011, S. 38). Die Ergebnisse lassen auf die tiefe Verankerung einer Ideologie der Ungleichwertigkeit in der Gesellschaft schließen. Grundannahmen vorurteilsbewusster Erziehung und Bildung (Anti-Bias) Zur macht- und vorurteilsbewussten Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen und persönlichen Denk- und Handlungsweisen beziehen wir uns auf den Anti-Bias-Ansatz, der einen erfahrungsorientierten Ansatz diskriminierungskritischer (Bildungs-)Arbeit darstellt. Die Entwicklung des Ansatzes begann Anfang der 1980er Jahre in den USA. Eine zentrale Weiterentwicklung erfolgte in den 1990er Jahren in Südafrika (Schmidt, 2009). Dabei waren die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse ausschlaggebend für die (Weiter-) Entwicklung des Ansatzes. Grob zusammengefasst handelte es sich in beiden Ländern um eine Transformation von einem old fashioned racism (basierend auf der Festschreibung rassistischer Verhaltensweisen und Praktiken in Gesetzen, Institutionen und Strukturen), hin zu modern forms of racism. Hier finden negative affektive Resonanzen weiß positionierter gegenüber Schwarz positionierten Menschen auch nach Abschaffung rassistischer Gesetzgebungen wei-

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Individuelle Einflüsse auf Beratung

terhin, nun auf subtile und verdeckte Weise, Ausdruck (Batts, 2001). Der AntiBias-Ansatz geht davon aus, dass die Ideologie von Unter- und Überlegenheit in die Gesellschaft eingeschrieben ist, diese strukturiert und das Zusammenleben sowie das Selbstverständnis von Menschen durchzieht (Schmidt, 2009). In diesem Ansatz werden Vorurteile nicht als Fehlurteile Einzelner verstanden, sondern als Ausdruck einer Ideologie, die als Bilder und Vorstellungen von den Anderen gesellschaftlich geteilt und erlernt werden. Der Ansatz betrachtet neben dem Komplex rassistischer Kategorisierung weitere Differenzlinien (wie beispielsweise Geschlecht, sozialer Status, Gesundheit etc.) (Batts, 2001; Schmidt, 2009) und nimmt verschiedene Ebenen von Diskriminierung (persönliche, zwischenmenschliche, strukturell/institutionelle, diskursiv/ideologische) und ihre Wechselwirkungen in den Blick (Schmidt, 2009). Des Weiteren liegt dem Ansatz die Auffassung zugrunde, dass Diskriminierung alle Menschen betrifft, da Unterdrückung wie Dominanz von den jeweiligen Subjekten verinnerlicht werden und beide Positionierungen in das System der Unterdrückung eingeschlossen sind (Batts, 2001). Auch wird davon ausgegangenen, dass aufgrund der Vielzahl an gesellschaftlichen Positioniertheiten und Kontexten alle Menschen auf Erfahrung in der dominanten wie auch der unterdrückten Position zurückgreifen können (Schmidt, 2009). Differenzlinien Differenzlinien verstetigen sich in einer Gleichzeitigkeit von Hervorbringung der Differenzen und einer Unsichtbarmachung des historischen und sozialen Kontextes in dem sie entstanden sind. Die Naturalisierungen der darauf basierenden Zuschreibungen und Praktiken besitzen für alle gesellschaftlich geteilten Differenzierungen (Differenzlinien) Gültigkeit (zum Beispiel bei den Kategorien Geschlecht, Klasse, Ethnizität und Begehren). Die Verdeckung des Gewordenseins der jeweiligen Differenzkategorie führt, wie weiter unten am Beispiel Rassismus beschrieben, dazu, dass Diskriminierung nicht als solche wahrgenommen wird (oft weder von den Diskriminierten noch von den Diskriminierenden) und dennoch wirkmächtig ist. Der Konstruktion dieser gesellschaftlich geteilten und wirksamen Differenzierungen sind je spezifische Grunddualismen immanent, anhand derer die Ausstattung mit Privilegien/Deprivilegierung verläuft. Sie sind des Weiteren dafür verantwortlich, ob eine Person/Gruppe innerhalb dieser Kategorie zum Ziel von Diskriminierung werden kann (Schmidt, 2009). Die Grunddualismen dienen dabei zum einen als soziale Platzanweiser und schaffen zugleich Identitäten (Leiprecht u. Lutz, 2009). Es ist uns bewusst, dass durch die Benennung

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der jeweiligen Positioniertheiten die Möglichkeit besteht, diese noch tiefer zu verankern und festzuschreiben. Zudem ist eine klare Zuordnung zur einen oder anderen Seite der hier vorgestellten Dualismen in der Realität oft schwierig und birgt die Gefahr, Positionierungen, die sich in einem Dazwischen befinden bzw. innerhalb des Modells nur teilweise erfasst sind, unsichtbar werden zu lassen. Trotz dieser Gefahren halten wir es bezüglich unseres Anliegens, ein tieferes Verständnis von Diskriminierung hinsichtlich eines Macht- und Vorurteilsbewusstseins zu erarbeiten, für bedeutsam, mit dem vorgeschlagenen Denkgerüst der Differenzlinien zu arbeiten. Dieses Anliegen im Blick, zielt die Benennung und Sichtbarmachung von Differenzlinien und Grunddualismen darauf ab, eine Entnaturalisierung und Entindividualisierung unterschiedlicher Lebenschancen voranzubringen und durch die Aufdeckung des Positioniertwerdens und des dadurch stets Gewordenseins innerhalb eines Systems aus Macht und Herrschaft die Möglichkeit zur Veränderung zu eröffnen. Andersherum betrachtet, möchten wir uns mit Lutz und Leiprecht (2009) gesprochen auf »die Suche nach theoretischen Konzepten [begeben], die Verflüssigungen individueller Subjektpositionen zulassen, ohne gleichzeitig die strukturellen Dimensionen von Privilegierung/Deprivilegierung und Einschließung/Ausschließung aus dem Auge zu verlieren« (Leiprecht u. Lutz, 2009, S. 179). Intersektionalität Jedoch ist die Betrachtung einer einzelnen (Differenz-)Kategorie nicht ausreichend. Vielmehr ist es das Zusammenspiel unterschiedlicher Differenzlinien, welche die jeweiligen Subjektpositionen markieren und diese abhängig von Situation und Kontext auf unterschiedliche Weise wirksam werden lassen. Deshalb möchten wir im Folgenden auf das Analysemodell der Intersektionalität zu sprechen kommen. Historisch betrachtet gründet die Debatte um Intersektionalität in der Kritik Schwarzer Frauen in den USA seit Ende der 1970er Jahre an einem weißen Feminismus der Mittelschicht. Schwarze Frauen machten deutlich, dass die alleinige Thematisierung von Unterdrückung qua Geschlecht nicht ausreicht, um ihre Erfahrungen in einer rassistischen, sexistischen und klassistischen (und auch hier müssen weitere Differenzlinien wie sexuelle Orientierung, [Dis-]Ability etc. betrachtet werden) Gesellschaft zu beschreiben. Vielmehr werde die Existenz dieser Differenzlinien durch den alleinigen Fokus auf Geschlecht unsichtbar gemacht (Winker u. Degele, 2010; Combahee River Collective, 1982). Es ging darum, die Verwobenheit unterschiedlicher Unterdrückungsverhältnisse herauszuarbeiten. In den 1990er Jahren wurde zur Beschreibung dieser Verwobenheit

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Individuelle Einflüsse auf Beratung

und der wechselseitigen Ausblendung unterschiedlicher Differenzlinien der Begriff der intersectional analysis von der Schwarzen US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw eingeführt. Crenshaw nahm Gerichtsfälle zu Diskriminierungspraktiken von Firmen in den Blick. Sie stellte dabei fest, dass die Diskriminierungserfahrungen Schwarzer Frauen keine Beachtung fand, da sich entweder allein auf die Differenzlinie Geschlecht oder auf Rassialisierung bezogen wurde und keine Analyse der Verkreuzung dieser stattfand (Winker u. Degele, 2010). Zusammenfassend erscheint uns die Betrachtung einzelner Differenzlinien sowie ihre Abhängigkeit und Verwobenheit für die Entwicklung einer vorurteilsbewussten Beratung zentral. Dies, da Bilder von Personen/Gruppen entlang gesellschaftlich wirksamer Differenzierungen täglich hergestellt werden, sich als gesellschaftlich geteilte Bilder in die Köpfe der Menschen (auch der professionell pädagogisch Tätigen) einschreiben und stets aufs Neue Wirklichkeit produzieren. In der Beratung kann dies auf interaktioneller Ebene, auf institutioneller Ebene, auf struktureller Ebene (unterschiedliche Verteilung von Rechten entlang der Differenzlinien, beispielsweise Staatsbürgerschaft) und auf diskursiver Ebene (beispielsweise durch Beschreibung der Zielgruppe in Anträgen zur Finanzierung oder in der Öffentlichkeitsarbeit) geschehen (Melter, 2009). Rassismus als gesellschaftliches Strukturprinzip Wie oben dargestellt, wird Rassismus aus einer rassismuskritischen Perspektive nicht, wie dies im gesellschaftlichen Diskurs oft der Fall ist, als individuelle Fehlleistung (beispielsweise rechtsextremer Jugendlicher) betrachtet, »sondern als Strukturprinzip gesellschaftlicher Wirklichkeit« (Scharathow u. Leiprecht, 2009, S. 10). Rassismustheorien, die Rassismus als Ideologie in den Blick nehmen (vergleiche hierzu unter anderem Miles, 2000; Hall, 2000), haben herausgearbeitet, dass durch rassistische Erklärungssysteme ein Wissen zur Verfügung gestellt wird, welches rassistische Diskriminierungen nicht mehr als solche erkennen lässt, weil eine Naturalisierung der jeweiligen Subjektpositionierung stattfindet. Dies bedeutet, dass rassistische Zuschreibungen und die aus ihnen erwachsenen kulturellen und sozialen Praktiken nicht mehr in ihrem sozialen und historischen Zusammenhang betrachtet, sondern als von Natur aus gegeben und unveränderbar dargestellt werden (Hall, 2000). Die so geschaffenen Bilder und Imaginationen erscheinen als Selbstverständlichkeit »in einem von kolonialen, nationalistischen und eben rassistischen Schemata beeinflussten gesellschaftlichen Zusammenhang« (Scharathow u. Leiprecht, 2009, S. 11), der sie selbst hervorgebracht hat und diese Hervorbringung zugleich unsichtbar werden lässt. Wie prägend rassistische Strukturen in der Gesellschaft sind, zeichnet Mau-

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reen Maisha Eggers (2005) in ihrer Dissertation »Rassifizierung und kindliches Machtempfinden« nach. Sie stellt fest, dass »gesellschaftliche Bewertungen von Differenz und hierarchisch komplementäre Positionierungen in hohem Maße signifikante Themen darstellen für Identifikationsprozesse und die Persönlichkeitsbildung von Kindern« (Eggers, 2005, S. 358). Subjekt-Werdung und Subjektivierung Wenn wir hier über Subjekt-Werdung oder Subjektivierung sprechen, dann ist damit ein Prozess gekennzeichnet, in dem das Subjekt etwas Gewordenes und Unterworfenes ist (Reckwitz, 2008). »Das Wort Subjekt hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, welches der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht, und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht« (Foucault, 1994, S. 294). Mit dieser Setzung zeigt Foucault (1994) auf, dass Subjekte nicht als autonom betrachtet werden können, sondern in ihrer Verwobenheit in gesellschaftliche Diskurse und Praktiken zu sehen sind. Subjekte sind abhängig von diskursiven, ideologischen und praxeologischen Setzungen, die sie umgeben: »Subjekte sind damit als immer wieder neu unterworfen (sub-jected) zu denken« (Mes­ serschmidt, 2008, S. 293). Diese Denkrichtung lenkt den Blick auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Zumutungen des Subjektseins. Foucault entwickelte diese Denkrichtung des Subjektseins durch die Analyse gesellschaftlicher Ausschlüsse, Marginalisierungen und Prekarisierungen (Foucault, 1978, 1993, 2008a, 2008b). Er bezieht sich auf Louis Althusser (1977), wenn er das Subjekt als ein Subjekt der Anrufung darstellt. Mit dem Subjekt der Anrufung verweist er darauf, dass etwas durch eine diskursive Handlung hergestellt wird. Nur indem das Subjekt sich als das zu erkennen gibt und sich so verhält, wie die Umwelt annimmt, dass es schon ist, wird es Subjekt. Judith Butler (2009) schreibt in einem Essay über Foucaults Tugenden: »Man könnte auch sagen, das Subjekt ist gezwungen sich in Praktiken zu formen, die mehr oder weniger schon da sind. Vollzieht sich diese Selbst-Bildung jedoch im Ungehorsam gegenüber den Prinzipien, von denen man geformt ist, wird Tugend jene Praxis durch welche das Selbst sich in die Ent-Unterwerfung bildet, was bedeutet, dass es seine Deformation als Subjekt riskiert und jene ontologisch unsichere Position einnimmt, die von Neuem die Frage aufwirft: Wer wird hier Subjekt sein und was wird Leben zählen?« (Butler, 2009, S. 249).

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Ideologie (auch eine rassistische) ist mit Althusser betrachtet nicht »räuberisch […]. Vielmehr ist Ideologie produktiv. Sie erzeugt und ermöglicht Subjekte […]« (Broden u. Mecheril, 2010, S. 8). Ideologien mit Foucaults Machtbegriff gedacht, erzeugen ein dichtes und genau beschreibbares In-der-Welt-Sein. Über Ideologien erkennt das Subjekt die jeweilige Position und Möglichkeit des Agierens und des Seins. Welt- und Selbstverhältnisse finden hier ihren konstitutiven Ausgang (Broden u. Mecheril, 2010). Eine Naturalisierung sozialer oder kultureller Lebensverhältnisse, eine Homogenisierung heterogener Gruppen, außerdem eine Dichotomisierung zu anderen Gruppen und eine abschließende Hierarchisierung liegt einer rassistischen Ideologie immer zugrunde. Alle vier sind Bestandteile dieser Ideologie und konstituieren sie. Innerhalb dieses Prozesses entstehen genaue Vorstellungen von dem, wie diese Menschen sind, wie sie sich verhalten, welches Temperament sie haben. Sogar bis in privateste Bereiche wie der Sexualität werden Bilder über Annahmen geschaffen (Oguntoye, Opitz u. Schultz, 1986). Diese Vorstellungen werden diskursiv vermittelt. Sie finden Anschluss an Medienbilder, an Alltagsbilder und meist auch an Alltagserleben. Sie haben einen hohen Wiedererkennungswert, weil sie aus stereotypen, immer wiederkehrenden Bildern bestehen. So werden aus Individuen Menschen, die zu einer Gruppe gehören und die von dieser Gruppenzugehörigkeit anscheinend so stark geprägt sind, dass sie außerhalb dieser Gruppenzugehörigkeit keine Deutung erfahren (Messerschmidt, 2008). Es entstehen dichotome Gruppenzugehörigkeiten – ein Diejenigen und die Anderen (Scholle, 2011). Auch Menschen, die von dieser Ideologie überwiegend negativ betroffen sind (die Ge-Anderten), erkennen sich in ihr wieder. Sie werden durch sie geprägt, weil auch Handlungen an ihnen, die aufgrund der rassistischen Struktur erfolgen, nicht außerhalb des Machtfeldes der Ideologie stattfinden. Die rassistische Ideologie und die daraus entstehende rassistische Anrufung subjektiviert alle: die einen in die privilegierte Subjektposition, die anderen in die weniger privilegierte Position. Subjektivierung in der Beratung Da Subjektivierungsprozesse auch durch und innerhalb von Institutionen entstehen und geschehen, kann eine Beratungsstelle als Ort von Subjektivierungen gelten und in dieser Funktion analysiert werden. So arbeitete Stephanie Duttweiler (2007) beispielsweise die Gefahr einer neoliberalen Subjektivierung in Beratungsprozessen heraus (Duttweiler, 2007; Margarete Suschek in diesem Band). Auch Anrufungen qua Geschlecht und/oder Klasse können Teil der Vorausset-

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zung eines Beratungsprozesses sein und konkretisieren damit auch Identitäten. Auch hier durchläuft ein Subjekt den Prozess, dass es sich »in Praktiken form[en muss], die mehr oder weniger schon da sind« (Butler, 2009, S. 246). Um eine Anerkennung der jeweiligen Subjektposition zu bekommen, muss es sich auch in dieser darstellen; Geschlecht bzw. die Zuordnung muss performt werden (Butler, 2001). Gleichzeitig gibt es innerhalb der Beratungsinstitution eine Vorstellung davon, wie Geschlecht (zum Beispiel Männlichkeit) zu sein hat. Subjekte, die hier in ihrem Handeln nicht diesen Vorstellungen entsprechen, riskieren diese Subjektposition. Über die Ansprachen in der jeweiligen Position und in der stillschweigenden Erwartung, diesen Anrufungen immer wieder zu entsprechen, verfestigt sich die Subjektposition und die ihr inhärenten Strukturen. Nationale, ethnische und kulturelle Zugehörigkeiten oder die rassistische Zuschreibung dieser sind grundlegende Strukturkategorien unserer Gesellschaft (Mecheril, 2003), weshalb davon ausgegangen werden sollte, dass rassistische Ideologien auch Beratungspraktiken beeinflussen. Rassistische Anrufungen und daraus erfolgende Subjektivierungen können innerhalb eines Beratungsprozesses stattfinden, wenn sich Beratende der eigenen Prägung und Sozialisation innerhalb einer rassistisch strukturierten Gesellschaft nicht bewusst werden (vgl. hierzu auch eine ähnliche Argumentation bei Mecheril, 2004). So können beispielsweise kulturrassistische Zuschreibungen dazu führen, Möglichkeiten der Problemlösung zu übergehen oder diese systematisch auszublenden. Professionalität in der Beratung zeigt sich auf zwei Ebenen: zum einen auf einer sachlich-fachlichen Ebene (mit inhaltlichen Informationen zu Thematiken der Beratung) und zum anderen auf der Ebene der Beratungskompetenz. Ein gelingender Beratungsprozess erfordert eine grundsätzliche Offenheit gegenüber Thematiken der zu Beratenden und zudem die Fähigkeit, Problematiken auf einer übergeordneten Ebene in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Voraussetzungen zu reflektieren. Beratung in der Jugendhilfe, die als eine funktionale Querschnittskompetenz pädagogisch Tätiger betrachtet wird, muss Jugendliche sachlich in eingegrenzten Thematiken wie der Arbeitsplatzsuche und Lebensgestaltung beraten; sie muss weiterhin eine Offenheit gegenüber den Lebensthemen der Jugendlichen zeigen. Rassismuserfahrungen innerhalb eines (sozial-)pädagogischen Beratungssettings Der Fall Timo: Der 17-jährige Timo wird seit einiger Zeit in der Jugendhilfe betreut, an die er im Nachgang einer Gerichtsverhandlung verwiesen wurde. Timos biologischer Vater ist Schwarzer Kubaner, seine biologische Mutter weiße Deut-

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sche. Er wurde Anfang 1990 in Ostdeutschland geboren und zog 1998 mit seiner Familie nach Norddeutschland. Timo berichtet von massiven rassistischen Diskriminierungen (einhergehend mit verbaler und physischer Gewalt) durch seinen Stiefvater (einem weißen Kubaner) und durch Jugendliche, die er über die Schule in seinem früheren Wohnort kannte. Timo scheint häufiger versucht zu haben sich zur Wehr zu setzen, zunächst verbal (auch mit Rückmeldungen an Pädagogen in der jeweiligen Schule, die ihn aber ignorierten) und im Weiteren mit physischer Gewalt. Melter (2009) schreibt: »Bezogen auf seine aktuelle Lebenssituation und vergangene Diskriminierungserfahrungen fällt auf, dass Timo seine Diskriminierungserfahrungen relativiert und verharmlost und sich als junger Mann präsentiert, der seine Konflikte aktiv selbst lösen kann. Diese Handlungsstrategien hat er sich möglicherweise als Überlebensstrategie und als Selbstschutz angeeignet, um die Rassismuserfahrungen nicht als permanent kränkend zu erleben« (Melter, 2009, S. 282). Über Rassismuserfahrungen spricht der Pädagoge nur am Rande mit Timo, weil er glaubt, dass dies kein zentrales und damit wichtiges Thema für Timo ist. Dass Timo auch aktuell rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt ist und Schwierigkeiten mit dem eigenen Zugehörigkeitsgefühl hat, will der Pädagoge scheinbar nicht wissen – zumindest sieht er hier keinen Gesprächs- und Handlungsbedarf. Er kommentiert: »Es ist mir scheißegal, ob du aus Kuba kommst, adoptiert bist oder schwarz, wie auch immer« (Melter, 2009, S. 284). Melter geht davon aus, dass der Pädagoge den jungen Menschen innerhalb der Betreuung als nichtrassialisiertes Subjekt sehen möchte, obwohl von Seiten der Mutter und auch von Timo deutlich hervorgehoben wird, wie wichtig dieses Thema ist.

Der Blick auf Differenzlinien und deren Verkreuzungen In der oben kurz umrissenen Biografie Timos werden einige gesellschaftlich wirksame Differenzierungen sichtbar, die auf eine prekäre Ausstattung der Subjekt-Position verweisen. Zu nennen wären hier: ostdeutsche Herkunft, Adoption, Trennung der Eltern, Herkunft und Deprivilegierung durch Rassismus des biologischen Vaters, Herkunft des Stiefvaters, Straffälligkeit, eigene Deprivilegierung durch Rassismus sowie Alter. Zugleich wird an Timos Beispiel die Möglichkeit des Positioniertseins in einem Dazwischen bzw. eines sich in Transition Befindens deutlich. So verändert sich beispielsweise durch den Umzug nach Norddeutschland das direkte Betroffensein der Familie von einer strukturellen Diskriminierung der Bundesländer im Osten. Dabei kommt jedoch eine andere Form von Diskriminierung hinzu, die mit Blick auf Batts (2001) als modern form of discrimination beschrieben werden kann und sich auf sub-

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tile Weise in Vorstellungen, Bildern und entsprechenden Verhaltensweisen in Westdeutschland gegenüber Menschen aus Ostdeutschland äußert. Obwohl wir unsere Analyse, in Anlehnung an Melter (2009), vorwiegend auf das Wiedererleben rassistischer Diskriminierung insbesondere in Form eines sekundären Rassismus des betreuenden und beratenden Pädagogen (Melter, 2009) fokussieren, ist das Zusammenspiel der eingangs dargelegten Differenzlinien bedeutsam. Dies ist gerade bezogen auf die Kategorie Geschlecht zentral. Auf den ersten Blick erscheint die Einordnung Timos als männlich im System der Zweigeschlechtlichkeit als privilegierte Positionierung und sie kann als eine zentrale Ressource der Rückgewinnung gesellschaftlicher Macht und der Verteidigung gegen diskriminierende Verhältnisse gelten. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass gerade in Verbindung mit der Zuschreibung eines Migrationshintergrunds und der Kategorie Alter (Jugendlicher mit Migrationshintergrund) gesellschaftliche Diskurse über Kriminalität und Gewalt verbunden sind, die genau in diesem Zusammenspiel auch die privilegierte Positionierung über die Kategorie Geschlecht prekär erscheinen lassen. Sekundärer Rassismus und Color-Blindness als Bestandteile verinnerlichter Dominanz In seiner Untersuchung hat Melter (2009) herausgearbeitet, dass die von ihm befragten Pädagogen auf bestimmte Strategien zurückgreifen, um sich nicht mit den Rassismuserfahrungen der Jugendlichen auseinanderzusetzen (Melter, 2009). Eine Strategie der bewussten Color-Blindness besteht darin, die Positionierung der Jugendlichen als rassialisierte Subjekte anzusprechen und gleichzeitig zu verleugnen. Dies wird insbesondere an folgendem Zitat deutlich, das der Beschreibung des oben kurz umrissenen Falls von Timo entnommen wurde: »Das ist mir scheißegal, ob du aus Kuba kommst, adoptiert bist oder Schwarz, wie auch immer« (Melter, 2009, S. 285). Rassistische Anrufungen können in diesem Fall als Double-Bind (Velho, 2010) dargestellt werden. Die Anrufungen des Pädagogen postulieren zum einen Gleichheit und ein Nicht-Vorhandensein von Rassismus als (De-)Thematisierungsstrategie (Thattamannil, 2010). Gleichzeitig spricht der Pädagoge von der Hautfarbe und Herkunft des Jungen (und markiert damit ein relevantes Anderssein) ohne dabei seinen Rassismuserfahrungen Geltung zu verschaffen. Bezüglich der Kommunikationspraxis und Haltung der Pädagogen spricht Melter auch von sekundärem Rassismus. Dies bedeutet, dass zwar offene Abwertungen vermieden, jedoch »strukturelle, institutionelle, durch Individuen oder Gruppen ausgeübte sowie diskursive Diskriminierung« (Melter, 2009, S. 285)

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nicht thematisiert und von den Jugendlichen berichtete Rassismuserfahrungen, geleugnet werden. Mit dem Modell der Internalisierung von Machtverhältnissen betrachtet, können die aufgezeigten Praktiken der interviewten Pädagogen als Teil der Verinnerlichung von Dominanz beschrieben werden (Schmidt, 2009). So werden »[u]nterschiedliche Zugehörigkeiten und Lebensrealitäten ignoriert« (Schmidt, 2009, S. 90) und »[S]trukturelle (politische, historische, ökonomische, psychologische und soziale) Auswirkungen durch Differenzierungen (Unterdrückung) [ge]leugne[t]/nicht [verstanden]« (Schmidt, 2009, S. 90). Es kommt zu einer »Schuldzuweisung an die Benachteiligten« (Schmidt, 2009, S. 90). Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass den interviewten Jugendlichen von Seiten der Pädagogen zumeist das Leiden an einem Kulturkonflikt unterstellt wurde, während in den Interviews zum Vorschein kam, dass diese vielmehr mit alltagsrassistischen Ausgrenzungen als mit konkurrierenden Kulturen zu kämpfen hatten (Melter, 2009). Melters Einschätzung folgend, »fühlen sich [die Pädagogen] durch das Thema Rassismus indirekt oder direkt belästigt, setzen sich nicht aktiv mit ihm auseinander oder fühlen sich selbst angegriffen« (Melter, 2009, S. 285). Subjektivierungen unter Bedingungen rassistischer Anrufungen Die Haltung der Pädagogen, die Melter (2009) als Color-Blindness bezeichnet und die wir im Weiteren als (De-)Thematisierungsstrategie betrachten, ruft, bezogen auf die Subjektposition und deren Anrufung, unterschiedliche Effekte hervor. Durch eine Anerkennung des Status als rassialisiertes Subjekt und damit den Einordnungen der Rassismuserfahrungen, die Timo macht, wäre es für ihn möglich, den gesellschaftlichen Zusammenhang zu sehen und die Problematik nicht individualisiert auf seine eigene Person zu beziehen. Der Pädagoge unterstützt Timo nicht dabei, seine Erlebnisse in einen globalen Zusammenhang einzuordnen, sondern er unterlässt die Anerkennung dessen, was Timo als Akt der Gewalt widerfahren ist. Diese Haltung muss so interpretiert werden, dass der Jugendliche dazu angehalten wird, die Situation alleine zu bewältigen. Für die Subjekt-Position und deren Handlungsinstrumente (mögliche Gegenwehr durch Austausch, Zusammenschluss mit anderen und vieles mehr) ist diese Situation prekärer als sie durch die Kreuzung unterschiedlicher Differenzlinien und deren Zusammenwirken ohnehin schon ist. Timos Erfahrungen werden individualisiert, seine Problematik steht scheinbar in keinem gesellschaftlichen Zusammenhang. Er zeigt sich Melter im Interview »als junger Mann […], der seine Konflikte aktiv selbst lösen kann« (Melter, 2009, S. 282). Timo greift dabei auf Strategien zurück, die möglicherweise seine Zuordnung im Hinblick auf Geschlecht stärken soll, weil er mit einer männlichen Dominanz seinen Ohn-

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machtserfahrungen, resultierend aus der rassistischen Deprivilegierung, begegnen kann. Beide Differenzlinien wirken auf die Subjektivierung, indem sie dem Subjekt einen, durch die Identität oder durch die Identifizierung, hervorgerufenen, Handlungsspielraum ermöglichen. Die Erfahrung von verinnerlichter Unterdrückung, die im Gegensatz zu verinnerlichter Dominanz steht, ist sicher keine unbekannte Erfahrung für Timo, auch sie beeinflusst seine Subjekt-Werdung. Eine immer wiederkehrende Verleugnung und Nicht-Anerkennung seiner Gewalterfahrungen und die Begegnung mit der verinnerlichten Dominanz der Pädagogen, müssen in Timo bewirken, dass er seinen Platz in der rassistischen Hierarchie kennt und gegen diese Platzanweisung keine Sprache und kaum eine Möglichkeit des Handelns hat. Grada Kilomba spricht von einer »brutal mask of speechlessness« (Kilomba, 2007, S. 95). Dem Subjekt wird seine Position in der rassistischen Hierarchie verdeutlicht und gleichzeitig wird ihm eine Art Maske auferlegt, die es daran hindert zu sprechen und zu artikulieren, welche Taten ihm angetan wurden. Diese Vorgehensweise entstammt einer kolonial-rassistischen Praxis, die, wie Kilomba (2007) nachgewiesen hat, bis heute existiert. Schlussbemerkungen Subjekt-Werdung und Subjektivierungen werden nicht nur durch Diskurse und Macht-Wissen beeinflusst, sondern auch durch Technologien des Selbst (Foucault et al., 1993) geformt. Diese Technologien, die auch eingesetzt werden können, um sich selbst in einer Ent-Unterwerfung zu konstituieren (sich also ein wenig unabhängig von der zugewiesen Identität zu bewegen), können nur zum Einsatz kommen, wenn Anrufungen hinterfragt, die Subjekt-Zumutungen und Verwobenheiten in einen klaren Zusammenhang gebracht und Macht-Wirkungen deutlich werden. Der Pädagoge hätte die Möglichkeit, mit Timo seine Wahrheiten aufzuarbeiten und ihn dabei zu unterstützen, die Maske wahrzunehmen, sowie mit ihm an Handlungsmöglichkeiten zu arbeiten, die ihm Raum für neue Ausdrucksmöglichkeiten geben. Mit Michel Foucault gesprochen könnte sich Timo darüber die Möglichkeit erarbeiten, »nicht auf diese Weise und nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault, 1992, S. 10).

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Helga Krüger-Kirn

Paarberatung in Zeiten postmoderner Beziehungswelten Eine psychoanalytische und geschlechterkritische Annäherung

Empirische Grundlage dieses Beitrags ist die Erfahrung in der Praxis der Paarberatung, dass den Konflikten der Paare eine große Diskrepanz zwischen ihren Beziehungs- und Familienvorstellungen und den Anforderungen der Familienund Berufswelt zugrunde liegen. Dabei stoßen nicht nur emanzipatorische Errungenschaften und Ideale der beruflichen Flexibilität und Selbstbestimmung mit traditionellen Beziehungsmustern aufeinander, zudem geraten sie mit familiären Versorgungspflichten in Konflikt. Die ausgemachten Konflikte in der Auseinandersetzung um berufliche und familiäre Selbstbestimmung und wechselseitige geschlechtliche Anerkennung können unter dem Druck der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht mehr nur als individueller Kampf innerhalb des Paares verstanden werden, sondern als konflikthafte Zuspitzung des Geschlechterverhältnisses in Bezug auf die Mutter- und Vaterbilder wie auch in Bezug auf die Erwerbstätigkeit. Wenngleich auf einer gesellschaftspolitischen Ebene die Berufstätigkeit beider Eltern unterstützt wird, werden Diskrepanzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit deutlich, wenn man sich die Problemfelder der Paar- und Familiengegenwart vor Augen führt. Am markantesten können diese Widersprüche an den seelischen und körperlichen Symptomen der Kinder und der Eltern sowie den Trennungs-und Scheidungsraten abgelesen werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch für die institutionalisierte Paarberatung, als Ort der Klärung für Beziehungskrisen und Trennungskonflikte, die Aufgabe, ihre bisherigen Positionen zu beziehungsrelevanten und familiären Fragestellungen zu reflektieren. Während auf der theoretischen Ebene die Bedeutung der beraterischen Selbstreflexion gegenüber den eigenen Verstrickungen als konsensfähig gilt und via Supervision institutionalisiert ist, bleibt eine geschlechtersensible Reflexion der Deutungsmuster der Paarkonflikte sowie deren zugrunde gelegten theoretischen Konzepte bis heute unterbelichtet. In meinem Beitrag wird argumentiert, dass ein geschlechterkritischer Blick auf die impliziten Beziehungsvorstellungen und Geschlechterzuschreibungen von Seiten der Beratung notwendig ist, um Schuldzuschreibungen und (Re-)

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Krüger-Kirn  |  Paarberatung in Zeiten postmoderner Beziehungswelten

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Traditionalisierungstendenzen im Spannungsfeld von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie Vater- und Mutterbildern zu vermeiden. Erst dann ist es möglich, für die Beziehungskonflikte nicht (nur) individuelle Schwächen auszumachen, sondern tief in die gesellschaftliche Geschlechterordnung eingeschriebene Strukturen herauszuarbeiten. Diese begründen Spannungsfelder, die nicht nur in jeder subjektiven Biografie einen bedeutsamen Einfluss auf geschlechtertypische Identifizierungen ausgeübt haben, sondern auch auf die Gegenwart zutreffen. In der Beratungspraxis markieren die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen subjektiven Beziehungsvorstellungen und hegemonialen Diskursen eine Schnittstelle zwischen innen und außen und gelten im Folgenden als Ausgangspunkt für verschiedene Perspektiven. Paradigmatisch wird der Konflikt um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewählt. Zum einen handelt es sich hier um ein brisantes aktuelles Konfliktfeld, zum anderen tritt darüber das Spannungsfeld zwischen bewussten und unbewussten Geschlechterbildern deutlich zu Tage. In einem ersten Schritt werden ausgehend von der gegenwärtigen Beziehungswelt der Paare strukturelle Bedingungen für potenzielle Vereinbarkeitskonflikte beleuchtet. Mit Blick auf das Wissen um die psychische Bedeutung identitätsstiftender Identifizierungen und die Wirksamkeit des Unbewussten werden in einem zweiten Schritt entlang einer psychoanalytischen Perspektive auf die Paardynamik die in den Identitätskonzepten wirksamen unbewussten Geschlechtertradierungen und Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie guter Vater- und Mutterschaft aufgezeigt. Vor diesem Hintergrund werden die Konflikte der Paare auch als unbewusste, geschlechterkritische Infragestellung von (neoliberalen) Identitätsforderungen gelesen. Dies führt abschließend zu Überlegungen für die Beratungspraxis und die Aufgabe einer gesellschafts- und geschlechterkritischen Reflexion. Egalitäre versus hierarchische Partnerschafts- und Familienbilder Im Zuge der Auflösung von starren Geschlechterbildern und einer gesellschaftlichen Anerkennung weiblicher Berufstätigkeit wird die Paarbeziehung zu einem hochbrisanten Verhandlungsort geschlechtlicher Anerkennung und Problematisierung der Geschlechterhierarchien. Traditionelle Deutungsmuster für eine gelingende Paar- und Elternbeziehung – geprägt von Werten der selbstlosen Fürsorge und verbindlichen Verpflichtungen – werden vor dem Hintergrund eines neuen Frauen- und Mutterbildes sowie eines neoliberalen Leitbildwandels auf eine Weise ineinander verwoben, in der sich die Partner eher als Unternehmer ihrer Selbst (Bröckling, 2007) denn als Teil einer gemeinsamen Beziehung erleben. Diese Strukturen kulminieren in einem Autonomiebegriff, der spätestens

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mit der Geburt des ersten Kindes zu Konflikten führt. Denn die Versorgung der Kinder und deren Entwicklungsbedürfnisse benötigen Zeitstrukturen und Umgangsweisen, die sich nur schwer mit dem beruflichem Alltag vereinbaren lassen. Trotz eines gemeinsamen Kinderwunsches geht der Übergang von der Zweierbeziehung zur Familie mit krisenhaften Beziehungserfahrungen einher, die die partnerschaftlichen und egalitären Vereinbarungen erschüttern und enorme Auswirkungen auf die Beziehungszufriedenheit zeitigen. Unzureichend unterstützt durch staatliche Angebote, müssen die Lösungen bezüglich der Aufgabenverteilung zwischen Kindererziehung/Haushalt und Geldverdienen bis heute im familiären Rahmen gefunden werden. Eine zusätzliche Belastung erfährt das Paar durch bislang unbewusste geschlechtsspezifisch verinnerlichte Rollenzuschreibungen und familiäre Loyalitäten, die durch die Geburt eines Kindes in den Partnern aktiviert werden und meist quer zu den bewussten Selbstentwürfen liegen. Wenngleich sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Erwerbstätigkeit der Frau und Mutter zunehmend verändert haben (BMFSFJ, 2006), gestaltet sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bis heute problematisch. Erschwerend kommt hinzu, dass trotz zunehmender Berufstätigkeit der Mütter und einer Diskursivierung von Mutterschaft und Familie seit der zweiten Frauenbewegung die Figur des Mütterlichen in unserer Gesellschaft an die Frau gebunden bleibt. Daran hat auch eine zunehmende Rückbesinnung auf die Bedeutung des Vaters für die kindliche Entwicklung (Franz, Lieberz, Schmitz u. Schepank, 1999) sowie gesellschaftspolitische Maßnahmen wie das Elterngeld kaum etwas geändert. Zwar ist ein Anstieg von Vätern, die Elternzeit nehmen, zu verzeichnen – von 2,1 % 2001 auf 15,5 % 2009 (zit. nach Seiffge-Krenke, 2010) fällt dieser aber insgesamt betrachtet noch sehr gering aus. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass zwar das gesellschaftliche Ideal der Vereinbarkeit von Beruf und Familie etablierte Rollenbilder zunehmend in Frage stellt, aber bisher noch nicht zu einer partnerschaftlichen Auf- und Umverteilung der mütterlichen und häuslichen Aufgaben geführt hat. Die Organisation von Versorgungslücken bleibt in weiblich-mütterlicher Hand und wird – sofern es die finanziellen Ressourcen erlauben – auf Arbeiterinnen (Migrantinnen) verschoben. In Folge findet die Arbeitsteilung der reproduktiven Arbeitsfelder weiterhin unter Frauen statt, nun auf internationaler Ebene entlang eines kolonialen Nord-Süd-Gefälles (Parreñas, 2001). Demgemäß bleibt die geschlechtliche Arbeitsteilung in Bezug auf die Reproduktionsarbeit weitgehend erhalten und setzt so traditionelle Geschlechtermuster fort. Zunehmend lässt sich hier eine Tendenz feststellen, in der die Mütter die Problematik der Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiterhin auf ihren eigenen Schultern austragen. Einziger Unterschied dabei ist, dass das soziale Leitbild weiblich-mütterlicher Selbstlosigkeit

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nun einem neoliberalen Credo der Eigenverantwortung gewichen ist. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Hausarbeit bzw. nicht bezahlte Reproduktionsarbeit der Frau eine zentrale Säule kapitalistischer Strukturen ausmacht und auf diese Weise weiterhin verschleiert bleibt. Bis heute wird den Reproduktionstätigkeiten gegenüber dem klassischen Arbeitsbegriff kein wertschöpfender produktiver Stellenwert zugeschrieben. Ein historischer Blick auf die Trennung in produktive, hochwertige und minderwertige, reproduktive Arbeit zeigt, dass diese im Zuge der Industrialisierung seit Ende des 18. Jahrhunderts mit Beziehungsformen von Ehe und Familie einhergeht, die im Interesse des patriarchalen Staates als Institution unter einem besonderen Schutz stehen. Solange daher eine Unterscheidung in bezahlte und nicht bezahlte Arbeit (Reproduktion/Produktion) patriarchal-kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten folgt, gehen die Reproduktionstätigkeiten und damit auch die damit verbundenen Gefühle, Eigenschaften und Haltungen mit einer Abwertung einher (Scholz, 2011). Vor dem Hintergrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsaufteilung und Hierarchisierung von Produktion und Reproduktion wundert es nicht, dass sich eine geschlechtliche Arbeitsteilung im Haus- und Pflegebereich nur sehr langsam vollzieht und nicht zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb des Paares beiträgt. Deutlich zeigt sich dieses Gefälle sowohl in der Praxis der Paarberatung als auch im 7. Familienbericht (BMFSFJ, 2006). Mit Bezug auf die komplexe Verwobenheit von Beziehungsformen und ökonomischen Strukturen wird deutlich, dass individuelle Lösungen der Konflikte nicht von tragfähiger Dauer sein können, sondern struktureller gesellschaftspolitischer Veränderungen bedürfen. So ist auch Hays zu verstehen, wenn sie schreibt: »Es ist besonders in einer Gesellschaft, in der die Logik des eigennützigen Profitstrebens das Verhalten in so vielen Lebensbereichen zu lenken scheint, verwunderlich, dass das Verhalten von Müttern durch die Logik uneigennütziger Fürsorge bestimmt« wird (Hays, 1998, S. 22). Damit sind insbesondere grundsätzliche Fragen zum Stellenwert der Fürsorgetätigkeiten und der Arbeitskraft der Frau thematisiert, auch wenn die Praxis der Paarberatung zeigt, dass damit Ambivalenzen und Widersprüche einhergehen, die eng mit transgenerationalen Mustern von Männlichkeit und Weiblichkeit verwoben sind und eine gesellschaftliche Anerkennung sowie partnerschaftliche Umverteilung der Fürsorgetätigkeiten blockieren. Als klassisch weiblich tradierte Tätigkeiten stehen sie tradierten Mustern von Männlichkeit gegenüber und tragen bis heute zu konflikthaften Spannungen innerhalb des Paares bei. Während die strukturelle und psychische Verwobenheit dieser Barrieren bis in die 1990er Jahre im gesellschaftspolitischen Diskurs durchaus präsent war, ist in den letzten Jahren ein erneutes Wiederaufflammen von Mutterideologien

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festzustellen, das sowohl bewusst wie unbewusst Geschlechterhierarchien und den elterlichen Anerkennungskonflikt zwischen Mutter- und Vaterrolle schüren. Aktuell scheint der gesellschaftliche Trend ein Mutterbild zu lancieren, das via pädagogische und psychologische Rhetorik eine umfassende Versorgung und Förderung der Kinder fokussiert. Ausgehend von der Kompetenz des Säuglings (Dornes, 1993) wird dabei ein Bild von kindlicher Entwicklung entworfen, das auf Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Übernahme entsprechender Verantwortung angelegt ist. So ist im Leitfaden der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zu lesen: » Wenn Sie ihr Baby als Partner betrachten und ihm viel von sich und seiner Welt mitteilen, werden Sie ein Team fürs Leben sein« (BZgA, 2007). Trotz einer geschlechtsneutralen Sprache ist nicht zu übersehen, dass diese Argumentationsfiguren erneut die Mütter in die Verantwortung für die intellektuelle, soziale Entwicklung und spätere Konkurrenzfähigkeit ihrer Kinder nehmen. Dass daraus eine besondere Verpflichtung erwächst und insbesondere Mütter in ihren unbewussten und jahrhundertealten tradierten Mutterbildern anspricht, fällt auf die Paarbeziehung zurück und erschwert den Wandel im Geschlechterverhältnis. Zugleich wird hier erneut eine Mutterdominanz zementiert, die nicht nur egalitäre Partnermodelle konterkariert, sondern auch der Anerkennung geschlechtlicher Gleichwertigkeit zuwiderläuft. Dies begünstigt eine bestehende Schieflage, in der bis heute – trotz einer zunehmenden väterlichen Elternbereitschaft – das väterliche Verhalten zu sehr an mütterlichen Einstellungen gemessen wird und mit Zuschreibungen väterlicher Inkompetenz einhergeht (Gaunt, 2008). Väterliche Abwertung und Abwesenheit wirken sich auf die geschlechtliche Entwicklung von Jungen und Mädchen grundsätzlich problematisch aus. Denn psychoanalytisch betrachtet führt eine unerfüllte väterliche Identifikationssehnsucht zu kompensatorischen Identitätsentwürfen, die besonders bei Jungen mit destruktiven Zügen und nicht zuletzt einem negativen Frauenbild einhergehen. Hierbei geht es nicht um einen Rekurs auf ein traditionelles Familienbild, sondern um eine strukturelle Anerkennungsproblematik geschlechtlicher Differenz, die sich auf heterosexuelle, schwul-lesbische oder Einelternfamilien gleichermaßen bezieht. Psychoanalytische Paarberatung Im Folgenden werden die beschriebenen Spannungsfelder in ein Verhältnis zu unbewussten Geschlechtertradierungen gestellt und psychoanalytisch untersucht. Um die konzeptionellen Grundlagen der psychoanalytischen Paarberatung nachzuvollziehen, wird ein kurzer Bezug auf die zugrunde gelegten Annahmen vorangestellt. Ausgangspunkt bildet ein psychoanalytisches Subjektverständnis, das in

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kritischer Auseinandersetzung mit Freud einen Zusammenhang zwischen Identität, Lebensgeschichte und historischem Kontext konzeptualisiert. Dabei wird ein intersubjektives Verständnis von menschlicher Entwicklung, den bewussten und unbewussten Konflikten sowie deren Bedeutungen und Auswirkungen im sozialen Kontext zugrunde gelegt. Unter Berücksichtigung der bewussten und unbewussten Dimensionen wird die Identitätsbildung in einem kontinuierlichen Zusammenspiel von Vergangenheit und Gegenwart als immerwährender Prozess verstanden. Da jede Identifizierung mit einer Abwehr von Aspekten einhergeht, die nicht in diese Identifizierung passen, gilt das Unbewusste nicht nur als Ort abgewehrter Wünsche und Impulse, sondern ist als das Nichtidentische gleichsam immer mitthematisiert (Bohleber, 1997). Dieser Zusammenhang ist im Hinblick auf die Anerkennung der Geschlechterdifferenz, die – wie gezeigt wurde – in den Paarkonflikten eine zentrale Rolle spielt, besonders bedeutsam. Auf diese Weise können die weiblichen und männlichen Identifizierungen sowohl vor dem Hintergrund der heterosexuellen Matrix als auch mit dem Konzept der Abwehr als zwei Seiten eines dialektischen Prozesses gelesen werden. Während also die bewusste Identität vom Subjekt aus gesehen ein Konzept von männlichem oder weiblichem Selbst und sozialer Welt repräsentiert, geht die unbewusste Identität mit abgewehrten Anteilen einher, die sich auf jene Aspekte beziehen, die nicht in der bewussten und sozial kompatiblen Identität aufgenommen bzw. anerkannt werden konnten. Dieses Abgewehrte-Ausgeschlossene ist demzufolge psychisch nicht annihiliert, sondern konstituiert gegenüber der bewussten Identität die dazugehörige Negativfolie. Damit geht die Annahme einher, dass jeder Identitätsbildung ein Verlust zugrunde liegt und als die Kehrseite der zugänglichen Identifizierungen ausgemacht werden kann.1 Dazwischen ergeben sich identitätsinhärente strukturelle Spannungen und induzieren unterschiedliche Tendenzen, die einer doppelseitigen Dynamik von Festhalten am Status quo und Veränderung entsprechen (Schneider, 2008). Damit sind auch geschlechterhierarchische Spaltungen von Männlichkeit und Weiblichkeit verbunden, die solange nur schwer in geschlechterübergreifende, psychische Strukturen transformiert werden können, bis diese Spaltungen durch gesellschaftliche Strukturen validiert werden. Diese dialektische Sichtweise von geschlechtlicher Identität und Gesellschaft wird auch in einer paaranalytischen Perspektive auf die Ebene der Paarbeziehung übertragen. Daraus folgt für eine Reflexion der Beziehungskonflikte, dass 1

Dieses Modell weist Parallelen zu Butlers späteren Subjekttheorien auf, in denen sie eine Theorie normativer Weiblichkeit entwirft und von einer »Kultur der Geschlechtermelancholie« spricht (Butler, 2001).

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sowohl die bewussten wie auch die unbewussten Ebenen der geschlechtlichen Identitätskonzepte der Partner untersucht werden. Neben Kommunikationsschwierigkeiten, die in unterschiedlichem Maße für alle Paare bzw. Beziehungen gelten, wird zudem davon ausgegangen, dass die je individuellen Strukturen beider Partner bisher verdrängte Anteile mobilisieren. Besonders in Bezug auf die geschlechtlichen Identifizierungen zeigt eine Analyse der abgewehrten Anteile unbewusste gegengeschlechtliche Aspekte auf. Um diese Prozesse zu verstehen, sind psychoanalytische Theoreme der Abwehr wie Projektion und Verschiebung sehr hilfreich. Denn über die Art, wie die Partner ihre biografische Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden, also in die Sprache und in die Beziehung bringen, können nicht nur die subjektive Lebensgeschichte, sondern in einem weiteren Schritt auch die in den Geschlechterbildern wirksamen kulturellen und sozialen Aspekte aufgezeigt werden. Hinsichtlich der Paarkonflikte kann nun argumentiert werden, dass die abgewehrten Anteile – jene, die nicht in das Selbstkonzept aufgenommen werden konnten – vorzugsweise auf den Partner projiziert werden. Diese an die Geschlechterbilder assoziierten Verhaltensweisen sind mit Aspekten aufgeladen, die kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen entspringen, beispielsweise die weibliche Gebärfähigkeit mit dem Kinderwunsch zu koppeln und als biologische Tatsache zu begründen. Damit wird es möglich, die aktuellen Paarkonflikte über eine individuelle Dynamik hinaus auf strukturelle, gesellschaftliche Geschlechterkonstellationen und darüber induzierte Beziehungskonflikte zu beziehen. Machtkämpfe und Rivalisierungen zwischen den Partnern, enttäuschte Ideale und fundamentalistisch anmutende Geschlechterpolarisierungen oder Trennungswünsche können nun von individuellen Schuldzuweisungen entlastet und sowohl mit unbewussten Identifizierungen wie gesellschaftlich-strukturellen Aspekten in Bezug gesetzt werden. Denn die Bemühungen und Konflikte der Paare nach einem partnerschaftlichen Geschlechterverhältnis werden zwar durch verdrängte geschlechtliche Identifizierungen und kindliche Loyalitäten mit den Elternfiguren sabotiert, aber insbesondere dadurch, dass diese erneut durch gesellschaftliche Strukturen abgestützt werden. Auf diese Weise rückt die Frage der Verschränkung, wie geschlechtliche Identitätsaspekte nicht nur von innen heraus subjektiv wirksam werden, sondern durch aktuelle Diskurse und Praktiken von außen auf die Individuen einwirken, in den Mittelpunkt. Beispielhaft diskutiert wurde diese Verwobenheit an der beschriebenen Konflikthaftigkeit um die Beteiligung der Väter an der Erziehungs- und Hausarbeit. Theoretisch gewünscht und begründet scheitert eine geschlechtliche Arbeitsaufteilung sowohl an einer fehlenden gesellschaftlichen Anerkennungspraxis sowie transgenerationalen unbewussten Identifizierungen, die dann weiterhin über berufliche Notwendigkeiten rationalisiert werden.

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Diesen Zusammenhang von biografischer Geschichte und gesellschaftlichen Machtverhältnissen in ihrer Wirkungsweise auf die Paarkonflikte zu erkennen, braucht nicht nur Zeit, sondern bedarf der Bereitschaft zu Eigenreflexion sowohl bei den Paaren als auch bei dem Berater. Beides passt nicht in den Zeitgeist. Dementsprechend begegnen wir in der Beratungspraxis einem Druck der Paare nach schnellen und gesellschaftlich anerkannten Lösungen sowie einer Tendenz der Berater, auf normative Techniken mit klar definierten Vorstellungen von geschlechtlicher und elterlicher Identität zurückzugreifen. Dass damit die Gefahr verbunden ist, die Verflechtung von gesellschaftlichen Anrufungen mit unbewussten Mutter- und Vateridentifikationen zu verkennen und tief in die gesellschaftliche Struktur und Geschlechterordnung eingeschriebene Paarstrukturen zu perpetuieren, soll abschließend an einer in der Beratungspraxis besonders häufigen Konfliktkonstellation veranschaulicht werden. Hier geht es um die Identifikation mit der Position des Kindes, sowohl auf Seiten des Elternpaares als auch der Beratung. Die kindlichen Probleme werden dabei als Hauptkonflikt ausgemacht und der Berater – nun identifiziert mit der Kind-Position – wird in dem nachvollziehbaren Wunsch, das Beste für das Kind zu wollen, alles versuchen, damit sich das Kind und damit die Familien- bzw. Paarstruktur wieder stabilisieren. Entsprechend der kindlichen Problematik – nehmen wir beispielhaft Lernschwierigkeiten oder das populäre Symptom ADS – wird er mit Nachdruck Verhaltensänderungen, professionell eingekleidet in eine Rhetorik pädagogisch sinnvollen Handelns, empfehlen. Diese zielen neben einer inflationären Medikalisierung auf strukturgebende Verhaltensweisen, die, so sinnvoll sie im Einzelnen auch sein mögen, ganz im Sinne gesellschaftlicher Retraditionalisierungstendenzen geschlechtliche Elternstereotypien implizieren. Unübersehbar werden damit gleichzeitig potenzielle Schuldgefühle der Eltern hinsichtlich ihrer Erwerbstätigkeit und geschlechtergerechten Selbstverwirklichungsversuche verstärkt, die bei den Paaren meist in wechselseitigen Vorwürfen und nicht zuletzt in Trennungsimpulse münden. Auf diese Weise werden nicht nur Spaltungen innerhalb des Paares und im Beratungssetting begünstigt, weitaus folgenreicher wirkt – um wieder zur Perspektive des Paares zurückzukehren – die damit einhergehende Entmündigung des Paares in seinem unbewussten Bemühen, seine Konflikte zu verstehen und zu lösen. Um zu einer Klärung der elterlichen Projektionen sowie Geschlechterpolarisierungen beitragen zu können, müssen diese Prozesse bearbeitet werden. Dies jedoch setzt einen Berater voraus, der bereit ist seine Verwicklungen mit dem Kind/Paar als eigene innere Konflikte vor dem Hintergrund ungeklärter geschlechtlicher Identifikationen mit Mutter- und Vaterbildern zu reflektieren. Dabei geht es nicht nur um seinen subjektiven biografischen Kontext, sondern

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auch um den Bezug auf den historischen Kontext der angeeigneten Geschlechterbilder. Auf diese Weise kann der Berater zu einer fragenden und forschenden Haltung den Konflikten des Paares (und des Kindes) gegenüber zurückfinden und deren selbsterforschende Problemklärung unterstützen. Indem die konflikthaften Erfahrungsebenen des Paares mit gesellschaftlichen Identitätszuschreibungen in Bezug gesetzt werden, kann ein erweiterter Möglichkeitsraum entstehen, um über die bewussten und unbewussten geschlechtlichen Rollenbilder und damit verbundenen Kompetenzzuschreibungen nachzudenken. Von hier aus werden auch jene Paradoxien in den gegenwärtigen Praxen der Paare sichtbar, die angesichts neoliberaler Ideologien spezifischen Anforderungen an Emanzipation folgen und dabei sozialpolitische (Ausbeutungs-)Verhältnisse und Retraditionalisierungen kaschieren. Mit dieser Einstellung können die angestrebten Konfliktlösungen mit den subjektiven wie auch psychischen Konsequenzen verbunden werden und als selbstbestimmte emanzipatorische Praktiken in den paardynamischen Kontext integriert werden. Schlussbemerkungen Die unerhörten Botschaften der gegenwärtigen Paarkonflikte und deren Symptome können mit Bezug auf den psychoanalytischen Subjektbegriff nicht nur als Ausdruck von innerer und äußerer Realität, sondern auch als konflikthafte Anpassungsstrukturen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Diskursen von Paar- und Familienstrukturen kritisch beleuchtet werden. Um die implizite emanzipatorische und widerständige Qualität der Paarkonflikte auch in ihrer politischen Relevanz zu erkennen, müssen sie in einen Kontext gesellschaftlicher und ökonomischer Imperative gestellt werden. Von diesem Standpunkt aus können die geforderten Anpassungsleistungen – vorzugsweise unter dem Begriff der Identitätsarbeit (Kolpp u. Höfer, 1997) verhandelt – als gesellschaftlich legitimierte Individualisierungstendenzen problematisiert werden. Quer zu konstruktivistischen Identitätsauffassungen, in denen Identität über Sprache und kulturelle Zusammenhänge sozial konstruiert und damit unendlich wandelbar erscheint, wird nicht nur eine hohe Skepsis gegenüber der Vormachtstellung von Rationalität und selbstoptimierenden Zumutungen formuliert, sondern auch vor den damit einhergehenden Retraditionalisierungen gewarnt. Psychoanalytische und geschlechterkritische Reflexionen müssen daher in meiner Lesart als Aufforderung an die Beratungspraxis übersetzt werden, das kulturelle Eingebettetsein von Deutungsmustern als zentrales Forschungsparadigma in das beraterische Denken und Handeln zu integrieren und die Beratungsperspektiven konzeptionell um gesellschaftliche und geschlechterkritische Diskurse zu

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erweitern (Krüger-Kirn, 2013). Die Kenntnis um die Verwobenheit von psychischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen in den partnerschaftlichen Konflikten und Symptomen sollte nicht nur zu einer weiteren Effektivierung von Beratungstechniken führen, sondern zu einer Rückbesinnung auf basale Grundlagen psychischer Entwicklung. Denn weder kindliche Entwicklung noch (elterliche) Paarbeziehungen lassen sich beliebig effektivieren und rationalisieren. Demzufolge geht ein kritischer Blick auf die gesellschaftliche Anerkennung von reproduktiver Familien- und Fürsorgetätigkeit nicht nur mit konkreten politischen Folgerungen in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit einher, sondern impliziert auch neue Vater- und Mutterbilder, die unsere Gesellschaft so dringend benötigt. Die Auswirkungen für das partnerschaftliche Zusammenleben wären enorm. Denn sie gelten als wesentliche Voraussetzung, um eine Ethik des wechselseitigen geschlechtlichen Respekts, partnerschaftliche Anerkennung (Moeller, 1986) und letztendlich zwischenmenschliche Kooperation zu etablieren. Literatur Bohleber, W. (1997). Zur Bedeutung der neueren Säuglingsforschung für die psychoanalytische Theorie der Identität. In H. Kolpp, R. Höfer (Hrsg.), Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung (S. 93–119). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bröckling, U. (2007). Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform (3. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2006). 7. Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Zugriff am 25. 11. 2012 unter http://www. bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung2/Pdf-Anlagen/7.-familienbericht,property=pdf,berei ch=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (2007). Das Baby – Ein Leitfaden für Eltern. Zugriff am 25. 11. 2012 unter http://www.bzga.de/infomaterialien/kinder-und-jugendgesundheit/?addinfo=1 Butler, J. (2001). Melancholisches Geschlecht. In J. Butler (Hrsg.), Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (S. 125–141). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dornes, M. (1993). Der kompetente Säugling. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag. Franz, M., Lieberz, K., Schmitz, N., Schepank, H. (1999). Wenn der Vater fehlt. Epidemiologische Befunde zur Bedeutung früher Abwesenheit für die psychische Gesundheit im späteren Leben. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 45, 113–127. Gaunt, M. (2008). Maternal gatekeeping. Antecedents andconsequences. Journal of Family Issues, 29, 373–395. Hays, S. (1998). Die Identität der Mütter. Stuttgart: Klett-Cotta. Kolpp, H., Höfer, R. (1997). Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Krüger-Kirn, H. (2013). Zum Verhältnis von Körperinszenierungen und weiblicher Körperlichkeit. In M. Thielen (Hrsg.), Körper – Gruppe – Gesellschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag. Moeller, M. L. (1986). Die Liebe ist das Kind der Freiheit. Reinbek: Rowohlt. Parreñas, R. S. (2001). Servants of Globalization. Women, Migration and Domestic Work. Stanford, Calif.: Stanford Univ. Press.

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Individuelle Einflüsse auf Beratung

Schneider, G. (2008). Psychoanalytische Identität früher und heute. Forum der Psychoanalyse. Zeitschrift für klinische Theorie und Praxis, 24, 289–298. Scholz, R. (2011). Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Kapitals. Bad Honnef: Horlemann. Seiffge-Krenke, I. (2010). Familie – nein danke?! Entwicklungspsychologische Betrachtungen zu einer »aussterbenden Spezies«. Psychoanalytische Familientherapie, 11 (20/21), 53–76.

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Monika Lang

Religiöser Glaube und Spiritualität Chancen und Grenzen einer Einbeziehung in Beratungsprozesse am Beispiel von Eltern mit einem Kind mit Behinderung

Einleitung und Fragestellung Mit Bezug auf die Bereiche Beratung und Psychotherapie bezeichnete Miller Spiritualität bereits 1999 als »the professional elephant in the living room« (Miller, 1999), von dem jeder weiß, dass er da ist, über den aber keiner laut spricht. Am Beispiel der Bewältigungsprozesse von Eltern von Kindern mit Behinderung soll in diesem Beitrag der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung hier dem Bereich des religiösen Glaubens und der Spiritualität zukommen kann. Leitend ist dabei vor allem auch der Blick auf den Umgang der Eltern mit Fragen von Normalität, Anderssein, Leid und Glück sowie mit der Erfahrung des Unkontrollierbaren im eigenen Leben und die Verbindung mit religiösen und spirituellen Bezugssystemen. Wie eine systematische und reflektierte Einbeziehung religiöser und spiritueller Sinnwelten in den Beratungsprozess von Seiten des Beraters gestaltet werden kann, soll in diesem Beitrag ebenfalls thematisiert werden. Die familiäre Bewältigungssituation in der wissenschaftlichen Wahrnehmung Mit Blick auf deutschsprachige Veröffentlichungen zur familiären Bewältigungssituation kann man im neuen Jahrtausend von einem deutlichen Wandel in der Forschungsausrichtung sprechen (zum Beispiel Seifert, 1997; Lang, 1999; Eckert, 2008; Retzlaff, 2010). Mit Bezug auf das stresstheoretische ABC-X-Modell, den Resilienzansatz und die Salutogeneseperspektive rücken nun, neben den Anforderungen und Belastungen, auch die Ressourcen und positiv bewerteten familiären Erfahrungen verstärkt ins Zentrum professioneller Wahrnehmung. Die Neigung zur »Problemtrance« (von Schlippe, zit. nach Retzlaff, 2010) auf Seiten der Fachleute wird langsam überwunden. Es öffnet sich der Blick für die Wahrnehmung der familiären Lösungen und die jeweiligen »Prozesse der Sinngebung« (Retzlaff, 2010, S. 10).

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Individuelle Einflüsse auf Beratung

Im Rahmen der stresstheoretisch orientierten Coping-Forschung wird der Frage nach dem jeweiligen individuellen und familiären Deutungsrahmen und Sinnhorizont eine zentrale Bedeutung für den Verlauf des gesamten Bewältigungsprozesses zugewiesen. Pargament (1997) definiert Coping in der Folge auch als »search for significance« (Pargament, 1997, S. 104) und unterscheidet vier verschiedene Formen der Sinnerhaltung bzw. -wiedergewinnung im Kontext einer krisenhaften Erfahrung. Im Rahmen eines Coping-Prozesses werden relevante Sinnkategorien und Lebensziele entweder mit Hilfe der bisher genutzten Ressourcen (Preservation) bzw. durch eine Ressourcenerweiterung (Reconstruction) beibehalten, oder die Frage nach dem Sinn wird neu gestellt und in veränderter Weise beantwortet (Re-Valuation). Die Coping-Strategie ReCreation würde dann eine grundlegende Neuausrichtung der jeweiligen individuellen Sinnfindung und der Mittel und Wege, diese zu realisieren, beinhalten. Religiöser Glaube bzw. Spiritualität als ein möglicher umfassender Deutungsrahmen und Sinnhorizont (vgl. auch schon früh bei Frankl, 1974) wird dabei im Rahmen der internationalen Coping-Forschung bereits seit den 1990er Jahren berücksichtigt (vgl. unter anderem Pargament, 1997). Der Frage nach der Relevanz dieses Bereiches für die Beratungspraxis in verschiedenen Arbeitsfeldern, und hier insbesondere für Beratungsangebote für Eltern von Kindern mit Behinderung, wird im deutschsprachigen Raum aber erst im vergangenen Jahrzehnt verstärkt nachgegangen (vgl. unter anderem Lang, 1999; 2013 (in Vorbereitung); Schweiker, 2001). Religiöser Glaube und Spiritualität – Definitionsversuche Mit Oser und Bucher (2002) kann man Religionen als »symbolische Sinnwelten, die in die großen Transzendenzen hineinreichen (Herkunft des Seins, Tod etc.) und dem Menschen bestenfalls plausible Deutungsmuster für die existenziellen Fragen nach dem Woher, dem Wohin und Wozu geben«, beschreiben (Oser u. Bucher, 2002, S. 940). Nach Utsch (1998) wird im religionspsychologischen Bereich zwischen Religiosität und Religiössein unterschieden. Religiosität beschreibt in der englischsprachigen Forschung tendenziell eher übersteigerte Ausprägungen eines religiösen Glaubens, Religiössein dagegen existenziell glaubhaft verankerte Frömmigkeitsformen. Als mögliche Alternative oder Ergänzung wird in den letzten Jahren zunehmend der Begriff »Spiritualität« verwendet. Aber so wie bei Religion, wo schon 1912 James Leuba 48 Definitionen unterschied (Batson u. Ventis, 1982), scheint auch Spiritualität kaum in eindeutiger Weise fassbar zu sein und wird daher auch als »fuzzy concept« (Spilka, 1993, S. 1) bezeichnet, dessen Brauchbarkeit in der

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empirischen Forschung in Frage gestellt wird (Gorsuch u. Miller, 1999). In der religionspsychologischen Literatur finden sich dennoch verschiedene Versuche, dem schwierigen Definitionsunterfangen gerecht zu werden. So beschreiben Peter und Nelson (1987) Spiritualität als »the transcendent relationship between the person and a Higher Being, a quality that goes beyond a specific religious affiliation« (Peter u. Nelson, 1987, zit. nach Turner, Lukoff, Robert, Barnhouse u. Lu, 1995, S. 435). Auch Utsch (1998) betont die Unabhängigkeit von institutionell gefassten Religionen, geht aber noch einen Schritt weiter, wenn er von einer spirituellen Dimension als einem »eigenständigen Persönlichkeitsbereich« oder einer »eigendynamischen Ichfunktion« spricht (Utsch, 1998, S. 103) und den Vorteil des Spiritualitätsbegriffs gerade in seiner »inhaltlichen Offenheit und Unvorherbestimmtheit« sieht (S. 100). Utsch erkennt in einem solchen Begriffsverständnis gute Anknüpfungspunkte für empirische Untersuchungen, denn der offenere Begriff der Spiritualität, der mit einer religiösen Orientierung einhergehen kann, aber nicht muss, zieht immer sofort auch die Frage nach sich, welche Form bzw. welcher Inhalt genau gemeint ist. Spiritualität wird mit Verweis auf Barth (1993) als das umfassendere Konzept angesehen, das sich im Unterschied zur Religiosität nicht auf spezifische Handlungen und Lehren bezieht, sondern auf »eine transzendente, spirituelle Dimension als speziellen Erfahrungsmodus innerhalb der menschlichen Entwicklung«. Dieser Erfahrungsmodus scheint vor allem in einer »Krisen-, Verlust- oder Veränderungssituation« aktiviert zu werden, dann, wenn es in verschärfter Weise um die Frage nach dem Sinn und der existenziellen Bedeutung von neuen herausfordernden Lebenserfahrungen geht (Utsch, 1998, S. 97). Religiöser Glaube/Spiritualität und psychische Gesundheit Einen besonders wichtigen Beitrag zur verstärkten Annäherung an das Phänomen des religiösen Glaubens hat die empirische Mental-Health-Forschung geliefert. Im Rahmen der Erforschung der möglichen Auswirkungen eines religiösen Glaubens auf Gesundheit und Wohlbefinden wurde in vertiefender Weise auch nach dem Bereich der Stress- und Krisenbewältigung gefragt. In der Folge entwickelte sich international mit Religious/Spiritual Coping ein eigener Forschungsbereich. In verschiedenen Metaanalysen (Larson et al., 1992; Koenig u. Larson, 2001) wird eine signifikant leicht positive Beziehung zwischen dem Vorliegen eines religiösen Glaubens und psychischer Gesundheit bzw. seelischem Wohlbefinden festgestellt. Koenig und Larson benennen drei Aspekte als mögliche Erklärung für diese eher salutogenen Wirkungen eines religiösen Glaubens:

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–– Ein religiöser Glaube kann ein optimistisches, positives Weltbild unterstützen und einen Deutungsrahmen für die Bewertung und Einordnung persönlicher Erfahrungen geben, der die Wahrnehmung von Hoffnung und Sinnhaftigkeit fördert. –– Die meisten religiösen Lehren betonen Vergebung, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und gegenseitige Unterstützung als zentrale Werte. Dieser Blick auf die Bedürfnisse und die Lebenssituation des Mitmenschen relativiert vielleicht die eigenen schwierigen Erfahrungen und kann so zu einer Verminderung der wahrgenommenen emotionalen Belastung beitragen. –– Religiöser Glaube kann einen Beitrag zur Stärkung der familiären Beziehungen leisten und auch das soziale Netzwerk erweitern, sodass in Krisensituationen in verstärktem Maße auf soziale Unterstützung zurückgegriffen werden kann. (Koenig u. Larson, 2001). Payne et al. weisen bereits 1991 daraufhin, dass es besonders wichtig sei, die mehrdimensionale Natur eines religiösen Glaubens zu berücksichtigen. Wenn aber in einer Untersuchung dazu lediglich ein einzelner Wert erhoben wird (zum Beispiel Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs oder Selbsteinschätzung des Grades des religiösen Glaubens auf einer fünfstufigen Rating-Skala), wird eher von einer einheitlichen bzw. uniformen Struktur ausgegangen. Im Zuge der Forderungen nach einem kulturell sensitiveren diagnostischen Klassifikationssystem wurde die Kategorie »Religious or spiritual problems« 1994 durch die American Psychiatric Association (APA) im DSM-IV verankert. Turner et al. (1995) zählen die religiösen und spirituellen Dimensionen einer Kultur zu den wichtigsten Faktoren, die die menschliche Erfahrung, das Wertesystem, Einstellungen und Verhaltensweisen sowie Krankheitsvorstellungen beeinflussen und strukturieren. Sie betonen daher, wie wichtig es ist, die religiöse Dimension nicht ausschließlich pathologiezentriert zu erfassen, sondern Raum zu lassen für die Zuordnung und Bearbeitung religiöser und spiritueller Krisen und Probleme und diese nicht automatisch im klinischen Sinne als Anzeichen einer psychischen Störung zu betrachten. Religiöses und spirituelles Coping bei Eltern von Kindern mit Behinderung Auffällig ist, dass spirituelle und religiöse Aspekte in verstärkter Weise in denjenigen empirischen Untersuchungen thematisiert werden, in denen auch nach positiven Erfahrungen und Auswirkungen im Zusammenhang mit der Behinderung eines Kindes gefragt wird. In einer Studie von Stainton und Besser (1998)

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findet sich »Source of increased spirituality« in einer Liste von neun Kernthemen, die von zufällig ausgewählten Eltern einer Elternselbsthilfevereinigung in Interviews angesprochen wurden. Auch in einer Untersuchung der »good copers« von Scorgie und Sobsey (2000) wird in der Kategorie der »Personal transformations« der Aspekt »Stronger spirituality/convictions« genannt. Von 77 untersuchten Eltern bewerten 53,3 % diesen Veränderungsbereich als wichtig oder sehr wichtig. Die Eltern dieser Antwortgruppe unterscheiden häufig zwischen konfessionell orientierter Religiosität und einer individuelleren Form von Spiritualität und berichten alle von einer vertiefenden bzw. intensivierenden Wirkung des Zusammenlebens mit ihrem behinderten Kind auf diese Bereiche. Vorwiegend geht es dabei aber um eine Vertiefung bzw. Weiterentwicklung einer zuvor bereits vorhandenen religiösen oder spirituellen Orientierung und weniger um eine grundlegende Neuorientierung im Sinne eines Re-construction-Prozesses. Poehlmann, Clements, Abbeduto und Farsad (2005) untersuchen in einer Interviewstudie den Bewältigungsprozess von 21 Müttern von jungen Erwachsenen mit Behinderung (hier Down-Syndrom oder Fragiles-X-Syndrom). Der mütterliche Blick auf das eigene Kind ist dabei deutlich positiver, als es die Autoren selbst zuvor vermutet hatten. Bei der Frage, welche Bewältigungsstrategien von den befragten Frauen genutzt werden, unterscheiden die Autoren in ihrer Analyse zwischen ihrerseits negativ bewerteten emotionszentrierten (zum Beispiel »self-blame, depression, denial, and dismissing developmental concerns«, vgl. Poehlmann et al., 2005, S. 262) und positiv bewerteten problemzentrierten Strategien. Hierzu zählen sie vier Bewältigungsstrategien: –– »Treating the child normally«, –– »Relying on faith or religion«, –– »Seeking social support«, –– »Identifying with child« (Poehlmann et al., 2005, S. 262). Auch im Bereich der neueren Forschung zur Lebensqualität von Familien mit behinderten Kindern wird die religiöse und spirituelle Orientierung im Bereich der individuellen Faktoren bei »Emotional well-being« mit einbezogen. Individuelle Faktoren werden nur dann zum Bereich der familiären Lebensqualität gezählt, wenn die befragten Personen hier Auswirkungen auf die familiäre Situation feststellen. Explizit genannt wird dabei der Bereich »Spiritual and cultural beliefs« als eigene Dimension in einer Drei-Länder-Studie zur familiären Lebensqualität mit einem behinderten Kind in Australien, Kanada und Israel (Postonet al., 2003). In Verbindung mit dem bereits genannten stresstheoretisch orientierten ABC-X-Modell fragen Patterson und Garwick bereits 1994 verstärkt nach der

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Bedeutung des »meaning making process« in der Auseinandersetzung mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung eines Kindes. Sie unterscheiden dabei drei Ebenen der Bedeutungs- und Sinnzuschreibung, die für den Bewältigungsprozess relevant sein können: die situative Ebene, in der es um die Bewertung konkreter Anforderungssituationen geht, die Ebene der familiären Identität und die abstrakteste und meist nur indirekt erschließbare Ebene des familiären Weltbezuges. Bei letzterem geht es vor allem um die Frage, wie die Familienmitglieder ihre Lebenswirklichkeit interpretieren, welche existenziellen Überzeugungen ihr Bezugssystem prägen und in welchem Maße diese miteinander geteilt werden. Die Vielfalt familiärer World-View-Konzepte beschreibt Patterson (1988) mit Hilfe von fünf Dimensionen: –– »shared purpose«: das Maß, in dem eine Familie eine gemeinsame Grundüberzeugung hat; –– »collectivity«: das Maß, in dem eine Familie als etwas gesehen wird, was das eigene individuelle Leben übersteigt; –– »frameability«: das Maß, in dem eine optimistische (aber doch auch realitätsgerechte) Weltsicht geteilt wird; –– »relativism«: das Maß, in dem in der Gegenwart gelebt wird und die gegenwärtigen Bedingungen berücksichtigt werden; –– »shared control«: das Maß, in dem interne Kontrollmöglichkeiten ausbalanciert werden durch das Vertrauen in andere (Patterson, 1988, S. 295). Vor allem die Dimension des »shared control« scheint dabei im Zusammenhang mit religiösem Glauben oder Spiritualität zu stehen, da viele Familien durch die Auseinandersetzung mit der Behinderung ihres Kindes die Erfahrung machen, dass ihre persönlichen Kontrollmöglichkeiten begrenzt sein können. Eltern betonen einerseits ihre Verantwortung und ihr Engagement für die Entwicklung und soziale Integration ihres Kindes, sprechen andererseits aber auch vom Loslassen bisheriger Ziele und Überzeugungen und der Wichtigkeit des Vertrauens in andere sowie in eine »höhere Macht« (Lang, 1999; 2013 in Vorb.). Sie scheinen in diesem Rahmen einen hilfreichen Umgang mit häufig unbeantwortbaren Fragen (zum Beispiel: Warum ist gerade mein Kind behindert?) im Zusammenhang mit der Behinderung ihres Kindes entwickeln zu können. Wege zu finden, mit dem Unkontrollierbaren und Unerklärlichen im eigenen Leben umzugehen, ist dabei vor allem in den westlichen Industriestaaten für viele Menschen eine besondere Herausforderung, da die Mehrzahl im Sinne einer stark ausgeprägten »mastery orientation« (Patterson, 1988, S. 296) gewöhnt ist, in häufig erfolgreicher Weise ihre Lebensbedingungen verändern und kontrollieren zu können (zum Beispiel im Sinne der Überzeugung, dass jeder seines Glückes Schmied

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sein kann). Im Zusammenhang mit der Behinderung ihres Kindes stehen Eltern dann vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben vor einer existenziell bedeutsamen Situation, die sie in ihrem Kern nicht verändern können. Im deutschsprachigen Raum finden sich zwei umfangreichere empirische Untersuchungen, in denen religiöses oder spirituelles Coping in Zusammenhang mit der Behinderung eines Kindes untersucht wird. In der Studie von Lang (1999) werden 47 Mütter von erwachsenen Söhnen und Töchtern mit einer sogenannten geistigen Behinderung mit Hilfe von leitfadenzentrierten Interviews und Fragebogenerhebungen zu ihrem Bewältigungsprozess insgesamt befragt. Im Rahmen der Analyse, der genannten Ressourcen, Anforderungen und Belastungen zeigt sich, dass 43 Frauen ihre religiöse oder spirituelle Orientierung als wichtige, häufig neben dem Ehepartner auch als zentrale Ressource und Bewältigungshilfe bewerten. Auffällig ist, dass nahezu alle Frauen angeben, dass diese Ebene ihres Bewältigungsprozesses von professioneller Seite in den vergangenen Jahrzehnten nie nachgefragt oder in Beratungsangeboten berücksichtigt wurde. In der Studie von Schweiker (2001) wird ebenfalls nach dem Stellenwert der lebensanschaulichen bzw. religiösen Dimension innerhalb des Deutungs- und Bewältigungsprozesses von 56 Müttern und 40 Vätern eines Kindes mit Behinderung (hier Kinder mit Down-Syndrom) gefragt. Auch hier weisen 43 % der Eltern ihrer Lebensanschauung einen großen Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche und auch auf den Umgang mit der Behinderung des Kindes zu. Insgesamt zwei Drittel beschreiben Veränderungen in verschiedenen Bereichen, dabei beantworten 79 % der befragten Eltern die Frage nach dem »Sinn der Behinderung« bzw. dem »Wozu?« mit Äußerungen, die überwiegend den Kategorien »Lernchance« und »Herausforderung« zugeordnet werden konnten. Die Konfrontation mit Emotionen mit ungeahnter Wucht (zum Beispiel Angst, Verzweiflung) ist einerseits bedrohlich, wird andererseits retrospektiv auch als Chance zu einem vertieften, reichhaltigeren emotionalen Leben erkannt. Der bisherige Blick auf das eigene Leben, bzw. die menschliche Existenz insgesamt, wird teilweise als »ver-rückt« wahrgenommen und in aller Verunsicherung eröffnen sich neue, bisher nicht vorstellbare Perspektiven (Schweiker, 2001). Das Deutungsmuster vom Kind mit Behinderung als »Lehrmeister« für seine Familie und die gesamte Gesellschaft erinnert auch an das Bild des »Transformer Man«, das Neil Young (1982) zur Beschreibung der positiven Entwicklungs- und Veränderungskräfte seines behinderten Sohnes in einem Lied gewählt hat. Bei der Frage, welche Form der Lebensanschauung für den Deutungsprozess eine Rolle spielt, wird der hohe Stellenwert eines religiösen Glaubens bzw. von Spiritualität erkennbar, denn bei circa einem Drittel ist von einer »dezidiert religiöse[n] Grundlage« auszugehen und bei insgesamt circa 70 % zumindest von

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religiösen Einflüssen (Schweiker, 2001). Personen mit einer hohen Religionsverbundenheit weisen überwiegend eine transzendente Grundanschauung auf, die im Kern bestimmt wird durch den Glauben an einen persönlichen Gott und die in signifikanter Weise mit der Häufigkeit der Wozu-Frage korreliert, das heißt, »Eltern mit einer transzendenten Anschauung wählen tendenziell eher die Deutungssymbole Nutzen, Lernchance, Herausforderung und Aufgabe als Eltern, die ein immanentes Weltbild teilen« (S. 267). Deutliche Unterschiede zwischen transzendenzgläubigen (Theismus/Deismus) und immanentgläubigen (Naturalismus/Nihilismus) Eltern ergeben sich nach Schweiker (2001) bei der Frage nach dem Beratungs- und Unterstützungsbedarf. Dieser ist vom Umfang her ähnlich, aber in seiner inhaltlichen Ausrichtung deutlich unterschiedlich. Während er bei den immanentgläubigen Eltern vorwiegend auf den pragmatisch-handlungsbezogenen Bereich ausgerichtet ist, ergibt sich bei den transzendenzgläubigen Eltern ein deutlich heterogeneres Bild, das bei einem Teil auch die Auseinandersetzung mit Anschauungsfragen, und hier speziell der Theodizee-Frage (Wie kann Gott das zulassen?), mit einschließt (Schweiker, 2001, S. 269 f.). In einer aktuellen ebenfalls stresstheoretisch orientierten Untersuchung von Lang (2013, in Vorb.) zum Bewältigungsprozess von 16 Müttern und vier Vätern von Kindern mit Behinderung im Alter von vier bis 14 Jahren beschreiben diese im Rahmen von leitfadenzentrierten Interviews in differenzierter Weise vielfältige Anforderungen und Belastungsquellen und die bisher erschlossenen Ressourcen und Bewältigungsstrategien. Dabei wird deutlich, dass die Eltern neben den erheblichen Belastungen in großem Maße auch positive Auswirkungen des Zusammenlebens mit ihrem Kind mit Behinderung beschreiben. Positiv bewertete Veränderungsprozesse (»transformations«) in verschiedenen Identitätsbereichen, unter anderem persönlichkeits-, beziehungs- und einstellungsbezogene Veränderungen, stehen dabei im Mittelpunkt der elterlichen Einschätzungen. Vor allem das vertiefte Einfühlungsvermögen in das Verhalten und Erleben anderer Menschen (nicht ausschließlich von Menschen mit Behinderung) und die Stärkung des eigenen Selbstvertrauens bzw. Durchsetzungsvermögens sowie gelockerte Kontrollüberzeugungen und andere Maßstäbe für Glück, Normalität und Erfolg sind persönlichkeitsbezogene Veränderungen, die als Ausdruck eines psychischen Reifungsprozesses und letztlich als persönlicher Gewinn betrachtet werden. Hierzu gehört auch eine von Elternseite häufig beschriebene Veränderung der eigenen elterlichen Rolle, die verstärkt von einem anwaltschaftlichen Verständnis und der aktiven Zurückweisung der »Opferrolle« geprägt ist. Der Wille und die Notwendigkeit in kritischer und selbstbewusster Weise für die Rechte und Bedürfnisse ihres Kindes mit Behinderung einzutreten, wird von

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den hier befragten Eltern häufig als starker Motor ihrer eigenen Persönlichkeitsentwicklung eingeschätzt. Bei 16 von zwanzig Befragten spielen religiöse oder spirituelle Orientierungen eine Rolle, bei vier Personen nur in schwacher Ausprägung und nur bei der Hälfte wird sie an Kontakten zu einer religiösen Institution (zum Beispiel Kirchengemeinde) äußerlich sichtbar. Die Frage, ob diese religiöse Orientierung einen Einfluss auf die Bewältigung der Behinderung ihres Kindes hat, bejahen 13 von 16 Personen. In der Analyse der Interviewäußerungen zu dieser Thematik konnten vier verschiedene Wirkbereiche herausgearbeitet werden: –– Zugang zu einem positiven Deutungsrahmen: Religiöser Glaube bzw. Spiritualität als Deutungswerkzeug für die Einordnung des nichtnormativen Lebensereignisses »Behinderung des Kindes« ermöglicht einen im Kern positiv getönten Blick auf ein Leben mit Behinderung. Die Aussage »Jeder Mensch ist von Gott gewollt und in seinem Sosein bejaht« kann dabei als Ankersatz benannt werden (acht Eltern). –– Emotionale Unterstützung: Hier stehen Erfahrungen wie »Gott gibt mir Halt, Hilfe, Trost, Kraft, Hoffnung und Ruhe« im Zentrum der Beschreibungen. Der Glaube wird als erweiterter Hoffnungs- und Sinnhorizont und zusätzliche innere Kraftquelle erfahren, die gerade dann wirksam ist, wenn die eigenen menschlichen Kräfte an ihre Grenze gelangen und die Eltern nicht mehr weiterwissen (elf Eltern). –– Soziale Unterstützung: Soziale Kontakte im Rahmen einer religiösen Organisation werden vor allem durch die regelmäßige und selbstverständliche Einbeziehung des Kindes und der Familie in Gottesdienste, Feste, Ausflüge und Gruppen als unterstützend erlebt (sechs Eltern). –– Handlungsorientierende Wirkung: Die Betonung eines nicht einseitig auf materielle Werte, Gesundheit und hohe Leistungsfähigkeit ausgerichteten Menschenbildes und die Akzeptanz anderer Menschen in ihrem Sosein bilden eine Wertebasis, die im Alltag deutlich handlungsorientierend wirkt und auch gesellschaftliches Engagement (zum Beispiel im Rahmen von Elternselbsthilfe) mit einschließen kann (acht Eltern). Die Mehrzahl der Eltern benennt jeweils ein oder zwei Bereiche für sich als zutreffend, bei vier Personen finden sich aber Äußerungen zu allen vier Wirkbereichen, sodass bei ihnen von einem besonders vielschichtigen und umfassenden Einfluss der religiösen Orientierung auf den Bewältigungsprozess ausgegangen werden kann. Neben diesen von den Eltern positiv bewerteten Auswirkungen darf aber nicht übersehen werden, dass eine Minderheit auch belastende und entwicklungshemmende Aspekte beschreibt; hier ist mit Verweis auf Parga-

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ment (1997) vor allem die »red flag« des Coping-Prozesses zu nennen, nämlich die Vorstellung, die Behinderung des Kindes sei eine Strafe Gottes. Gefühle von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit finden sich ebenfalls verstärkt im Zusammenhang mit der Erfahrung fehlender Unterstützung durch die religiöse Gemeinschaft, der man angehört. Die Einbeziehung von religiösem bzw. spirituellem Coping in Beratungsangebote für Eltern von Kindern mit Behinderung Wie kann nun mit Religiösem Glauben/Spiritualität als dem »Elefant im Beratungswohnzimmer« in professioneller Weise umgegangen werden? Miller plädierte bereits vor über zehn Jahren unter dem Stichwort »diversity education« für eine systematische Berücksichtigung der religiösen und spirituellen Dimension in allen dafür relevanten Ausbildungsinhalten im Bereich Beratung und Therapie (Miller, 1999). Die Entscheidung des Redaktionsbeirats des »Psychotherapeutenjournals« (2012), der Frage nach dem Verhältnis von Psychotherapie und Religion/Spiritualität einen eigenen Themenschwerpunkt zu widmen, zeigt deutlich, dass die fachliche Diskussion dieser Frage nun auch im deutschsprachigen Raum verstärkt in Gang kommt. In dem genannten Heft bewertet Grom in der Bezugnahme auf den Coping-Ansatz und das biopsychosoziale Modell zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit, Religiosität/Spiritualität als »potenziell bedeutende[n] Schutzfaktor« sowie als »eine soziale und personale Ressource psychischer Gesundheit« für gläubige Menschen (Grom, 2012, S. 196). In der Folge unterscheidet er vier unterschiedliche Typen der Bezogenheit von Psychotherapie und Religiosität/Spiritualität, diese reichen von einem freiwillig nutzbaren zusätzlichen Angebot (Therapiekonzept der Klinik Langenthal; Grom, 2012) über Formen einer konkreten und aktiven Einbeziehung in herkömmliche Therapiekonzepte bis hin zu verschiedenen Therapierichtungen, in denen Religiosität/Spiritualität eher die Basis darstellen und herkömmliche Therapiemethoden noch ergänzend bzw. auch überhaupt nicht einbezogen werden. Zunehmend finden sich auch Behandlungsformen, die einzelne Komponenten aus religiösen Traditionen entnehmen und zu eigenen therapeutischen Ansätzen weiterentwickeln (unter anderem nennt Grom hier die Achtsamkeitsbasierte Psychotherapie) (Grom, 2012). Pargament (1997) beschreibt ebenfalls vier unterschiedliche Formen professioneller Orientierung im Umgang mit Religion und Spiritualität im Bereich von Beratung und Therapie. Die Form des »Religious Rejectionism« bezeichnet nach Pargament eher ablehnende und überwiegend pathologieorientierte Sichtweisen in Bezug auf Religion (unter anderem nennt er hier beispielhaft Freud,

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1930 und Ellis, 1986) und er fragt, ob unter solchen Voraussetzungen überhaupt eine tragfähige Beratungsbeziehung zu einem religiös orientierten Klienten entwickelt und die ethischen Richtlinien der American Psychological Association (APA) von 1993 für einen kultursensiblen Umgang mit heterogenen Adressatenkreisen eingehalten werden können. Dem entgegengesetzt wird bei der Form des »Religious Exclusivism« auf der Anbieterseite eine bestimmte religiöse Orientierung vorab als Basis für die Beratung bzw. Therapie festgelegt. Meist führt dies dazu, dass nur Klienten, die eine ähnliche religiöse Ausrichtung haben, solche Angebote in Anspruch nehmen (diese Form entspricht vielleicht am ehesten dem Typ III bei Grom, 2012). Die Frage, ob eine eigene religiöse Orientierung eine notwendige Voraussetzung für einen gelingenden Beratungs- oder Therapiekontakt darstellt, wird von Vertretern des »Religious Constructivism«-Ansatzes verneint. Pargament sieht diese Form als eine Möglichkeit, in einer pluralisierten Welt mit verschiedenen Klientengruppen in ethisch angemessener und kultursensibler Weise arbeiten zu können. Im Rahmen einer konstruktivistischen Sicht befasse ich mich als Berater dann mit dem religiösen Orientierungssystem eines Klienten, wenn ich feststelle, dass seine Probleme und vielleicht auch ihre Lösung bzw. Veränderung eng mit einem religiösen Glauben verknüpft sind. Der Berater muss die religiöse Orientierung seines Klienten nicht teilen, aber kennen und respektieren. Die Bereitschaft und Fähigkeit, sich mit dem jeweiligen religiösen Orientierungssystem auseinanderzusetzen und dessen Bedeutung für den Klienten in empathisch-sensibler Weise zu erkunden, ist dabei eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung einer tragfähigen Arbeitsbeziehung. Bei der vierten Form des »Religious Pluralism« gibt der Berater/Therapeut nicht vor, religiös neutral zu sein, sondern lässt seine eigene Orientierung in offen kommunizierter und respektvoller Weise in die gemeinsame Arbeit mit einfließen. Dabei ist nach Pargament besonders darauf zu achten, dass der Berater seine meist stärkere Position in der eher asymmetrischen Beratungsbeziehung nicht missbraucht, um den Klienten in Richtung seiner eigenen religiösen oder spirituellen Überzeugungen zu lenken. Eine gemeinsame Glaubensbasis kann andererseits aber die Entwicklung von Vertrauen und Sicherheit auf Seiten des Klienten unterstützen und so sinnvolle und heilsame Veränderungen erst ermöglichen. Pargament (1997) bezeichnet diesen Ansatz als den vielversprechendsten, allerdings setzt er voraus, dass verschiedene religiöse oder spirituelle Zugänge zur Transzendenz von Beraterseite als gleichwertig angesehen werden. Entscheidet man sich als Berater für eine Einbeziehung von Religion und Spiritualität, steht man vor der Aufgabe, in nichtoffensiver und achtsamer Weise die Bedeutung dieses Bereiches für den Klienten und seinen individuellen und

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familiären Bewältigungsprozess zu erkunden. Bei Pargament (2011) finden sich hier Ansätze für eine spirituelle Exploration und auch Grom (2012) nennt aktuelle Beispiele (Kaiser, 2007; Mohr u. Huguelet, 2009). Mit Bezug auf Mathews führen Koenig u. Pritchett (1998) vier Screeningfragen an, die im Rahmen einer Beratung hilfreich sein können: –– Ist religiöser Glaube ein wichtiger Bereich Ihres Lebens? –– Wie hat Ihr Glaube in Vergangenheit und Gegenwart Ihr Leben beeinflusst? –– Sind Sie Mitglied einer religiösen oder spirituellen Gemeinschaft? –– Gibt es irgendwelche spirituellen Bedürfnisse, die Sie mir mitteilen möchten? (Koenig u. Pritchett, 1998, deutsche Übersetzung M. L.). Einen konzeptionellen Rahmen für eine weitere Vertiefung dieser Fragen im Zusammenhang mit der familiären Bewältigung der Behinderung eines Kindes kann im deutschsprachigen Raum der Ansatz der »Verstehenden Krisenbegleitung« von Schweiker (2001) bieten. Auf der Basis eines systemisch verstandenen doppelten ABC-X-Modells betont Schweiker den hohen Stellenwert der Lebensanschauung und bezieht Religiosität und Spiritualität dabei in systematischer Weise mit ein. Die »hermeneutische Kunstfertigkeit« basiert auf fünf professionellen Grundkompetenzen: dem Hinein-Fühlen, Hinein-Denken, Hinein-Begeben, Aus-Kennen und Aus-Sprechen (Schweiker, 2001). Neben übergreifenden existenziellen Fragen fokussiert dieser Ansatz vor allem das existenzielle Deuten des Ereignisses und der Ressourcen. Dabei kommt es bei letzterem »darauf an, Betroffene zu unterstützen, die Kraft ihrer eigenen Lebensanschauung und ihres religiösen Glaubens zu nutzen und sich von den alternativen Vorstellungen ihrer Weltanschauungssysteme zu einer lebensanschaulichen Re-Organisation bzw. Re-Deutung inspirieren zu lassen« (Schweiker, 2001, S. 334). Am Beispiel einer Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom, die sich die Frage stellt, »[…] warum Gott ihr Gebet während der Schwangerschaft um ein gesundes Kind nicht erhört habe«, verdeutlicht Schweiker (2001), dass in einer solchen Beratungssituation die Glaubens- und Lebensanschauung in differenzierter Weise einbezogen werden muss, wenn man hilfreich begleiten will. Der Autor spricht von einem »Defizit an professioneller Unterstützungsleistung« in diesem Bereich und plädiert für eine systematische und interdisziplinär ausgerichtete »erfahrungs- und praxisorientierte Einübung der hermeneutischen Krisenbegleitung« in allen heilpädagogischen Ausbildungs- und Studienstrukturen (Schweiker, 2001, S. 342). Wie bereits Miller (1999) kommt Grom (2012) zu dem Schluss, dass eine Einbeziehung von Religiosität/Spiritualität »am sichersten sowie mit dem breitesten Indikationsspektrum« erfolgen kann, »wenn sie in eine bewährte professionelle Psychotherapie integriert wird« (Grom, 2012,

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S. 200). Diese Einschätzung kann auch auf den Bereich der Beratung von Eltern von Kindern mit Behinderung übertragen werden. Gerade in der professionellen Begleitung der Eltern in den potenziell krisenhaften familiären Schwellensituationen (Diagnoseeröffnung, Frühberatung, Übergang Schule, Wohnen, Arbeit des Familienmitglieds mit Behinderung) und unter Berücksichtigung der zunehmend heterogenen familiären Lebenssituationen und kulturellen Kontexte (vgl. unter anderem Lanfranchi, 1998) kann die religiöse/spirituelle bzw. lebensanschauliche Dimension in der Beratung von Bedeutung sein. Die verschiedenen bereits existierenden und professionell erfahrenen Strukturen der Beratung und Begleitung für Menschen mit Behinderung und ihrer Angehörigen sollten daher ebenfalls den »Elefant im Beratungswohnzimmer« stärker in den Blick nehmen. Literatur Batson, C. D., Ventis, W. L. (1982). The religious experience. A social – psychological perspective. New York: Oxford University Press. Eckert, A. (2008). Mütter und Väter in der Frühförderung – Ressourcen, Stresserleben und Bedürfnisse aus der Perspektive der Eltern. Frühförderung interdisziplinär, 27, 3–10. Frankl, V. E. (1974). Der unbewusste Gott. Psychotherapie und Religion. München: Kösel. Gorsuch, R., Miller, W. R. (1999). Assessing spirituality. In W. R. Miller (Ed.), Integrating spirituality into treatment (pp. 47–64). Washington D. C.: American Psychological Association. Grom, B. (2012). Religiosität/Spiritualität – eine Ressource für Menschen mit psychischen Problemen?. Psychotherapeutenjournal, 3, 194–201. Huguelet Ph., Koenig, H. G. (Eds.) (2009). Religion and spirituality in psychiatry. New York: Cambridge University Press. Kaiser, P. (2007). Religion in der Psychiatrie. Eine (un)bewusste Verdrängung? Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Koenig, H. G. (Ed.) (1998). Handbook of religion and mental health. San Diego, CA: Academic Press. Koenig, H., Larson, D. (2001). Religion and mental health: Evidence for an association. International Review of Psychiatry, 13, 67–78. Koenig, H. G., Pritchett, J. (1998). Religion and psychotherapy. In H. G. Koenig (Ed.) (1998), Handbook of religion and mental health (pp. 323–336). San Diego, CA: Academic Press. Lanfranchi, A. (1998). Vom Kulturschock zum Behinderungsschock. Beratung in der Frühförderung mit »Fremden«. Frühförderung interdisziplinär, 17, 116–124. Lang, M. (1999). Geistige Behinderung – Bewältigung und Religiöser Glaube. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Lang, M. (2013, in Vorb.). »Das andere Glück« – Bewältigungs- und Transformationsprozesse bei Müttern und Vätern von Kindern mit Behinderung unter besonderer Berücksichtigung von Religious Coping. Larson, D. B., Sherill, K. A., Lyons, J. S., Craigie, F. C., Thielman, S. B., Greenwold, M. A., Larson, S. S. (1992). Associations between dimensions of religious commitment and mental health reported in the American Journal of Psychiatry and Archives of General Psychiatry: 1978–1989. American Journal of Psychiatry, 49, 557–559. Miller, W. R. (Ed.) (1999). Integrating spirituality into treatment. Washington, D. C.: American Psychological Association.

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Susanne Maurer

Somatische und biografische Resonanzen – eine Chance zur Überbrückung von Ungleichheit und Differenz in der Beratungssituation?1

In diesem Buch wird untersucht, inwiefern und wie genau gesellschaftliche, institutionelle und zwischenmenschliche Einflüsse Beratungssituationen und -prozesse (mit-)bestimmen. Es geht also darum, diese Einflüsse weder zu tabuisieren noch zu ignorieren, sondern sie genau(er) in den Blick zu nehmen, um sie auf diese Weise der Reflexion und (Um-)Gestaltung zugänglich zu machen. Einige Beiträge thematisieren Asymmetrien und Herrschaftsaspekte in spezifischen Beratungssettings oder Ungleichheit und Differenz als Herausforderung für das Beratungshandeln. Wenn Beratung als Kopräsenz von Verschiedenen aufgefasst wird, kann die Begegnung im Hier und Jetzt als (mögliche und aufgegebene) Überbrückung der Verschiedenheiten in den Blick genommen werden. Die folgenden Überlegungen fragen danach, ob die bewusste Wahrnehmung (und möglicherweise auch Kommunikation) von somatischen und biografischen Resonanzverhältnissen eine spezifische Möglichkeit der Überbrückung darstellen kann. Somatische und biografische Resonanzen ereignen sich in der Gegenwart, auch wenn sie auf Lebens- und Körpergeschichte(n) verweisen. Der gegenwärtige Moment birgt die Möglichkeit des Neuen, die Möglichkeit des Entkommens aus der eigenen Lebensgeschichte, die oft auch als Verhängnis, als unentrinnbares Schicksal erfahren wird. Die Auffassung, die den hier formulierten Überlegungen zugrunde liegt (nicht zuletzt dem »Human Potential Movement«

1

Erste Überlegungen zur Frage der »biografischen Resonanz« habe ich im Kontext einer Fachtagung zur pädagogischen Biografieforschung vorgetragen, die von Anne Schlüter im Jahr 2003 in Duisburg veranstaltet wurde (vgl. Schlüter u. Schell-Kiehl, 2004). Das Phänomen der »somatischen Resonanz« habe ich insbesondere in der Zusammenarbeit mit dem Psychologen und Neurowissenschaftler Lars Täuber fokussiert. Einige Abschnitte dieses Beitrags basieren auf entsprechenden gemeinsamen Vorarbeiten (Maurer u. Täuber, 2009 sowie Maurer u. Täuber, 2010); Lars Täubers profunde Kenntnisse der neurowissenschaftlichen Forschung haben deshalb maßgeblich zu den hier formulierten Überlegungen beigetragen.

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entstammend, vgl. Severin, 1996), geht davon aus, dass Menschen das Potenzial haben, ihre bisherige Geschichte zu anderen Möglichkeiten hin zu öffnen. Als Sozialpädagogin nehme ich die gesellschaftlichen Kontexte und auch institutionellen Rahmungen der Lebenssituationen von Betroffenen sehr bewusst und scharf in den Blick. Lebenslagen (wie Armut oder Ausgeschlossensein) können nicht einfach verlassen werden, ihre strukturellen Ursachen und ihre gesellschaftliche Bedingtheit dürfen nicht ignoriert werden. Dennoch können Unterstützungsangebote wie Beratung dazu beitragen, dass die Betroffenen auch andere, ihre Lebenslage tendenziell überschreitende, zumindest relativierende Erfahrungen machen und von da aus neue Blickwinkel einnehmen können, um ihre Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Körpersensible Arbeit kann einen solchen Vorgang noch verdeutlichen und verstärken und auch zu konkreter Handlungsfähigkeit maßgeblich beitragen. Auch deshalb wird in diesem Beitrag neben der biografischen die körperlich-leibliche Dimension des Beratungsgeschehens dezidiert zum Thema gemacht – im Versuch, implizites Wissen des (auch eigenen) Körpers in der Beratungssituation einer kritisch-konstruktiven Reflexion zugänglich zu machen. Mein Interesse an der körperlich-leiblichen Dimension speist sich aus durchaus verschiedenen Quellen: einer feministischen Kritik an der Spaltung und Hierarchisierung von Körper und Geist; einer kritischen Analyse von disziplinierenden und normalisierenden Praktiken und Politiken, die am Körper ansetzen bzw. die Körper und (auch leiblich vermittelten) Lebensweisen regulieren/regieren; dem Wissen um die Prozesse der Verkörperung und Habitualisierung des Sozialen, dem Wissen um das Körpergedächtnis (zum Beispiel im Kontext individueller oder kollektiver Traumatisierung); den (neo-)reichianischen Metatheorien über die Verankerung psychosozialer, neurotischer Konflikte in erstarrten Körperprozessen; solchen Forschungsergebnissen neurowissenschaftlicher Tradition, die die Bedeutung des Körpers für unterschiedliche psychische Prozesse hervorheben. Beratung als vielschichtiges zwischenleibliches Geschehen Wenn Beratung auch als Einladung verstanden wird, eine andere körperliche/ emotionale/soziale Erfahrung zu machen, dann korrespondiert sie in dieser Hinsicht mit therapeutischer Arbeit. Letztlich geht es darum, wieder in Fluss zu kommen – auch in dem, was wir für möglich halten. In Körper(psycho)therapie wie in Beratungssettings können Strategien entwickelt werden, die eine solche Öffnung unterstützen. Somatische Resonanz kann in diesem Zusammenhang sowohl zum Medium der Wahrnehmung von Blockierungen als auch zur

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Quelle für hilfreiche Interventions- bzw. Veränderungsimpulse werden. Bevor ich auf das Phänomen der somatischen Resonanz näher eingehe und es auch von neurowissenschaftlicher Seite her beleuchte, möchte ich die Bedeutung des Körperlich-Leiblichen noch einmal grundlegender ansprechen: Beratung kann grundsätzlich als zwischenmenschliches und damit auch zwischenleibliches Geschehen gefasst werden. Das lässt sich nicht nur pädagogisch-anthropologisch oder philosophisch begründen, sondern auch neurowissenschaftlich. (Hier zeigt sich im Übrigen ein Forschungsdesiderat, denn gerade die zwischenleibliche Dimension spielt in der konkreten Beratungssituation zwar eine nicht unbedeutende Rolle, wird aber noch kaum reflektiert und ist bislang so gut wie nicht erforscht.) In körperpsychotherapeutischen Settings ist die bewusste Wahrnehmung des eigenen Körpers seitens des Therapeuten/der Therapeutin eine effektive und nicht wegzudenkende Informationsquelle für ein tieferes Verständnis des therapeutischen Prozesses. »Somatische Resonanz« beschreibt dabei ein Phänomen des gegenseitigen Einstimmens, der spontanen Spiegelung körperlichseelischer Zustände des Klienten/der Klientin im Körper des Therapeuten/der Therapeutin und kann als wichtiges Diagnostikum interventionsleitend eingesetzt werden. Das lässt sich am Beispiel der Körperhaltungen verdeutlichen. In der Tradition der Körperarbeit werden die Körperhaltungen auch als »Postures of the Soul« bezeichnet: »Die äußere Form eines Menschen reflektiert seine innere Stimmung. Wenn sich diese Form verändert, kann sich auch die Stimmung verändern. Dies ist die einfachste Sicht in den Kern der somatischen Psychologie« (Boadella, 2000, S. 13). Mit äußerer Form sind hier ganz explizit die veränderlichen Formen der emotionalen Ausdrucksaktivität gemeint – der Gesichtsausdruck oder die Körperhaltung, die vom inneren Zustand eines Menschen erzählen. Das körperliche Ausdrucksverhalten kann dabei frei, fließend und spontan sein oder in eingeschränkten und einschränkenden Mustern fixiert bleiben. Diese Muster entstehen, der körperpsychotherapeutischen Neurosentheorie zufolge, durch langandauernde ungelöste sozio-emotionale Konflikte insbesondere in der frühen Kindheit. Diese werden bewältigt, indem Erlebens- und Verhaltenweisen unterbunden werden, die mit dem konfligierenden Bedürfnis und seinen vermittelnden Ausdruckshandlungen in Verbindung stehen. Derartige Schutzreaktionen spiegeln sich dann in einer chronischen Einschränkung des muskulären Ausdrucks von Bedürfnissen und Emotionen wider. Körperliche »Haltemuster« (Keleman, 1990) speichern sozusagen das verdrängte emotionale Material, das durch die Arbeit mit dem Körper deshalb auch effektiv angesprochen und neu verarbeitet werden kann, sodass eine Lösung dualer Fixierungen in polares Pulsieren hinein möglich wird (Boadella, 1991).

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Die Berücksichtigung des körperlichen Ausdrucksverhaltens im psychodynamischen Prozess unterscheidet die tiefenpsychologisch orientierte Körperpsychotherapie seit ihren Anfängen mit Reich (1979) von rein verbal arbeitenden Ansätzen. Als allgemeinste Wirksamkeitserwartung kann vor diesem Hintergrund die Chance formuliert werden, eine andere – möglicherweise auch ganz neue – Erfahrung zu machen. Aktuelle Studien im Kontext der Neurowissenschaften unterstützen eine solche Erwartung. Auch das Beratungsgeschehen ist ein »körperlicher Dialog« im Sinne Kelemans (1990), ein Dialog, wie er zum Beispiel im Rahmen der Biosynthese (natur-) wissenschaftlich wie therapeutisch untersucht, weiterentwickelt und praktisch zum Einsatz gebracht wird. (Möglichst) Ohne herrschaftliche Interpretation werden hier noch die kleinsten Impulse in Gestik, Mimik und Körperhaltung der Wahrnehmung zugänglich und als weitere Bewegungsmöglichkeiten fruchtbar gemacht (vgl. hierzu die exemplarische Analyse von Kaiser, 2011). Mit Hilfe von Konzepten wie den »Motorischen Feldern« (Mair, 2011), »Impulsqualitäten« (Hoppe, 2011; Laban, 1988), »Elementen der Berührung« oder auch den »Lebensfeldern der Erfahrung« (IIBS, 2012) lässt sich der gemeinsame Arbeitsprozess strukturieren, gestalten und reflektieren. Körperempfindungen stellen sich in den entsprechenden Arbeitsprozessen als eine oft weniger belastete Dimension dar (soweit sie ihrerseits nicht mit traumatischen Erfahrungen verknüpft sind). Auch über die Mitteilung, was gerade auf Körperebene wahrgenommen und empfunden wird, kann sich ein Dialog entfalten, lässt sich weitergehend ins Gespräch kommen, können Aspekte in den Blick geraten, die zuvor nicht bemerkt worden sind. Anders als biografische Erfahrungen entstehen Körperempfindungen immer wieder neu und sind in der Regel nicht mit Bedeutung überfrachtet, werden in der Regel nicht sofort normativ eingeordnet und beurteilt. Im Dialog können Körperempfindungen deshalb auch als Bezugspunkt für die Anerkennung des Soseins des/der jeweils Anderen dienen. Das erschließt sich – zunächst eher indirekt – im folgenden Beispiel: Ritas Geschichte Im Kontext meiner eigenen Biosyntheseausbildung hatte ich zusammen mit einer anderen Ausbildungsteilnehmerin die Aufgabe, an der jeweiligen Familiengeschichte zu arbeiten. Wir hatten uns gegenseitig für diese Paararbeit ausgesucht, weil unsere Biografien sehr verschieden waren: Rita kam aus einer Familie im ländlichen Raum, war dort mit ihren eigenen Bildungsinteressen als Mädchen sehr entmutigt worden und arbeitete sich nun Schritt für Schritt, sozusagen von Ausbildung zu Ausbildung, zu einer selbstbestimmteren Existenz – auch im Verhältnis zu ihrer jetzigen Familie – vor. Zu Beginn der Ausbildung

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wagte sie es kaum vor den anderen zu sprechen, und gegen Ende war sie eine derjenigen, die beindruckend kreative und sprechende Bilder für alles fanden, was sie wahrnahmen und ausdrücken wollten. Mein eigener Werdegang, und vor allem meine jetzige berufliche Situation als Wissenschaftlerin und Hochschullehrerin, unterschieden sich sehr von Ritas Geschichte. Als jede von uns mit Hilfe strukturierender Fragen und fokussierender Aufgabenstellungen ihre Familiengeschichte erzählte und die andere ihr jeweils dazu Rückfragen stellen konnte, erlebten wir allerdings an mehreren Stellen feine Resonanzen: So konnte ich den bäuerlichen Anteil in meiner eigenen Familiengeschichte deutlicher wahrnehmen und auch in seinen Qualitäten anerkennen, während Rita die abenteuerlichen und kreativen Aspekte bei ihren Eltern auf neue Weise zur Kenntnis nahm und würdigte.

Dieses Beispiel zeigt, wie beim Hören einer anderen Lebensgeschichte auch die eigene Biografie vielschichtiger und reicher werden kann. Dabei geht es nicht darum, sich in der anderen einfach wiederzuerkennen. Vielmehr kann ein solcher Vorgang gerade auch angesichts deutlicher Verschiedenheit der beteiligten Personen und Geschichten stattfinden. Eine aufmerksame und zugewandte, besonders auch im Hinblick auf somatische Resonanzen geschulte Kopräsenz im Zuhören kann ermöglichen, die Sehnsüchte, Konflikte und Potenziale in der Familiengeschichte der jeweils anderen so wahrzunehmen und widerzuspiegeln, dass sie sich für die andere deutlicher erschließen. Diesen Zusammenhang bezeichne ich als »biografische Resonanz«. Möglich wird sie nicht zuletzt über ein somatisches Mit-Fühlen, das sich der vorschnellen Deutung und Beurteilung enthält. Die Erfahrung, sich mit einer eigenen Wahrnehmung mitteilen zu können und damit gleichzeitig als Gegenüber wahrgenommen und gewürdigt zu werden, bildet in meinen Augen eine wichtige Basis für die nichtherrschaftliche Kommunikation unter Verschiedenen. Beratung als Brücke zwischen unterschiedlichen »konjunktiven Erfahrungsräumen« Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung sind insbesondere im Kontext der Psychoanalyse sehr differenziert herausgearbeitet worden (vgl. zu deren Reflexion im körpertherapeutischen Kontext zum Beispiel Warnecke, 2011). Dabei wurde deutlich, dass sie ebenso schwierig wie hilfreich für einen Unterstützungsprozess sein können: Ersteres im Fall unbewusster Projektionen oder Verstrickungen, Letzteres, wenn die Übertragungsprozesse wertvolle

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Hinweise auf zugrunde liegende Erfahrungen, Beziehungsmuster und Konflikte geben, die dann im weiteren therapeutischen Prozess bearbeitet werden können. In diesem Beitrag spreche ich bewusst über Resonanzverhältnisse, weil es mir nicht um den – wenn auch unbewussten – Akt der Übertragung geht, sondern um ein Geschehen, das die gemeinsam erlebte Situation (zum Beispiel der Beratung) erst zu einer solchen macht. In der Beratungssituation stehen sich ja zunächst einmal zwei verschiedene Menschen gegenüber, die nicht (unbedingt) über dieselben Erfahrungen verfügen, die nicht (unbedingt) von denselben Problematiken betroffen sind. In feministischen oder auch antirassistischen Kontexten wurde (und wird) teilweise davon ausgegangen, dass Menschen, die nicht in gleicher Weise von tiefgreifenden Herrschaftsverhältnissen gezeichnet worden sind, letztlich keinen Zugang zur Erfahrung der »Anderen« haben (können). Dass aus der scharfen Grenze zwischen höchst unterschiedlichen Erfahrungen auch eine Brücke werden kann, zeigt das folgende Beispiel. Tagung im Thüringer Landtag Im Rahmen eines DFG-Projektes nahm unsere Forschungsgruppe an einer Fachtagung des »Runden Tisches Heimerziehung« im Thüringer Landtag teil. Das Besondere dieser Tagung bestand darin, dass neben den Experten und Expertinnen und politisch Verantwortlichen auch Betroffene mit ihren Erinnerungen, (Leidens-)Erfahrungen und Sichtweisen zu Wort kamen. Bei dieser historisch wie menschlich in meinen Augen sehr bemerkenswerten Veranstaltung fiel mir auf, dass eine Frau mittleren Alters neben bzw. zwischen ehemaligen Heimkindern saß, gelegentlich auch eine Hand hielt oder auf andere Weise eine unterstützende Geste zeigte. Diese Frau schien ganz bewusst und gleichzeitig sehr selbstverständlich ihren Platz einzunehmen, eine – auch in der körperlichen Nähe zum Ausdruck kommende – Vertrautheit ließ mich zunächst annehmen, es handle sich um eine Verwandte oder nahe Freundin der neben ihr sitzenden Betroffenen. Später stellte sich heraus, dass sie für manche der ehemaligen DDR-Heimkinder als Therapeutin fungierte (oder fungiert hatte), und schließlich sprach ein Betroffener noch explizit an, warum er sich ihr hatte anvertrauen können: Sie selbst kam aus dem Westen, hatte also den DDR-Kontext nicht mitgelebt und konnte gerade deshalb zum hilfreichen Gegenüber für viele werden. Vor dem Hintergrund, dass viele Betroffene Psychiater/-innen, Ärztinnen und Ärzte, Psychologen und Psychologinnen, Erzieher/-innen als Vertreter/-innen eines in spezifischer und bedrückender Weise staatlich funktionalisierten Hilfesystems erlebt hatten, brauchten sie offenbar möglichst andere Personen, die ihren konjunktiven Erfahrungsraum nicht teilten.

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Das eben erzählte Beispiel zeigt, wie Sich-Anvertrauen gerade aufgrund eines möglichst großen Abstands der jeweiligen biografischen Kontexte möglich wird. Dabei können gleichzeitig somatische Resonanzverhältnisse wahrgenommen werden. Die körperliche Kopräsenz zeigt sich als bedeutsam und hilfreich. Dies trifft meines Erachtens auch auf die Beratungssituation zu: Soll im Kontext von Beratung gemeinsam mit deren Adressaten und Adressatinnen an einer gelingend(er)en Lebensgestaltung gearbeitet werden, so müssen die Fachkräfte für ihr Gegenüber auch spürbar sein. Gerät das alltäglich gelebte Leben in den Fokus, so können dabei auch die konkreten Körper in ihrer Praxis wahrgenommen werden. Die Anstrengungen der Lebensbewältigung sind mit Körpererleben verbunden, und auch dafür gilt es im Kontext von Beratung einen Raum zu schaffen und eine Sprache zu finden. Damit dies gelingen kann, müssen die Professionellen die Qualität und Dynamik des Körperunbewussten, die sie ja am eigenen Leib erfahren, allerdings auch reflektiert haben (Jessel, 2008). Dafür braucht es eine Wissensbasis, die im Folgenden kurz angesprochen werden soll. Das Phänomen der somatischen Resonanz in Pädagogik und Neurowissenschaften Neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse können Wissen über bestimmte Darstellungen von Körperprozessen beisteuern, pädagogisches Denken setzt dieses Wissen in Bezug zu realen, alltäglichen sozialen Prozessen. In pädagogischphilosophischer Perspektive kann menschliches Leben in seinen Körper-LeibSeele-Geist-Relationen, auch in gesellschaftlichen Kräftefeldern und sozialen Bedingtheiten, wahrgenommen und thematisiert werden. In einer Perspektive der Vernunftkritik wird zudem an der Möglichkeit antihierarchischer Relationen zwischen Geist und Körper gearbeitet; Leiblichkeit erscheint hier als Regulativ, der Körper als Erinnerung an die menschliche Verletzlichkeit. Der Körper wird gleichzeitig zum Medium der Bewegung, der Transformation, und damit auch zur (potenziell) kritischen Kraft (Maurer, 2005). In einer dekonstruktiven oder auch machtanalytischen Perspektive werden Körperpraktiken untersucht und neu entwickelt, die das – etwa im Tanz – ermöglichen; so kann zum Beispiel über eine spezifische Bewegungsarbeit offenbar daran gearbeitet werden, die eingekörperte individuelle oder auch kollektive Geschichte des Rassismus und Kolonialismus für einen Prozess der Rehabitualisierung zu öffnen (Zeus, 2005). Nicht zuletzt feministische Beiträge thematisieren den »diskursiven Körper« als erfahrbare Realität (Grosz, 1994). In der pädagogischen Anthropologie spielt die physiologische Verfasstheit des Menschen eine zentrale Rolle: Sie lässt pädagogische Bemühungen (Erzie-

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hung, Bildung) notwendig und sinnvoll erscheinen, um Entwicklung, Reifung und Ausbildung von – auch körperlichen – Fähigkeiten und Ressourcen zu ermöglichen und zu unterstützen. Bindungsforschung und jüngste neurowissenschaftliche Befunde legen nahe, dass Entwicklung und Beziehung durch komplexe, somatisch vermittelte Resonanzen ermöglicht und organisiert werden. Dieses Wissen lässt sich sehr gut pädagogisch nutzen und reflektieren – solange es in seiner offenen, dynamischen Qualität und auch in seiner Begrenztheit erkennbar bleibt. Neurowissenschaftliche Theorien können einbezogen werden, um biologische Komponenten des Erlebens aufzuzeigen.2 So wird in aktuellen neurowissenschaftlichen Modellen der Körperwahrnehmung eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Sie erfolgt gemäß dieser Konzeptionen über die Rückmeldung physiologischer Prozesse an hierfür sensitive Gebiete des Gehirns. So stellt etwa Antonio Damasio dar, wie ein solches »Körperfeedback« zum Erleben bewusster Gefühle (Damasio, 2003) sowie zur Entscheidungsfindung und anderen kognitiven Prozessen beiträgt (Damasio, 1997). Reaktionen des Körpers auf bestimmte Ereignisse oder Situationen verleihen diesen eine körperlich gefühlte Bedeutung. Assoziationen zwischen bedeutsamen Situationen bzw. ihren Konsequenzen und den durch sie ausgelösten körperlichen Reaktionen führen zu physiologischen Lernprozessen, die im Körpergedächtnis gespeichert werden. Später können ähnliche Situationen die assoziierten körperlichen Prozesse deshalb erneut auslösen. Die Rückmeldungen dieser Reaktionen an das Gehirn (oder auch nur ihre Simulation im Gehirn) beeinflussen dann verschiedene kognitive Prozesse, wie zum Beispiel die Entscheidungsfindung (Damasio, 1997): Eine frühere Entscheidung mit problematischen Folgen treffen wir in einer neuen Situation unter anderem deshalb nicht erneut, weil uns ein ungutes Bauchgefühl an die möglichen Konsequenzen erinnert. Damasios Beiträgen ist zu entnehmen, dass spontane körperliche Reaktionen wichtige Informationen über die Bedeutung einer Situation enthalten können. Einige der im Gehirn repäsentierten Körperreaktionen können als bewusste Gefühle oder auch als diffusere Empfindungen wahrgenommen werden, wenn die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt wird. Körperliche Reaktionen spielen auch in dyadischen, sozialen Interaktionen eine wichtige Rolle, wie die Forschungen zum Spiegelneuronen- und orbitofrontalen System deutlich machen. Im Detail stellen beide Modelle dar, wie cerebrale Repräsentationen unseres Körpers, oder unsere körperlichen Zustände selbst, 2 Der folgende Abschnitt basiert vor allem auf den von Lars Täuber konzentriert zusammengefassten Darlegungen im gemeinsam verfassten Beitrag in Abraham und Müller (2010).

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vom Körper unserer Interaktionspartner/-innen beeinflusst werden können. Das soll im Folgenden kurz ausgeführt werden. Im Gehirn von Primaten existieren Nervenzellen, die nicht nur dann aktiv sind, wenn eine Handlung ausgeführt oder ein Zustand erlebt wird, sondern auch, wenn diese Handlung oder dieser Zustand bei anderen Personen beobachtet wird (Rizzolatti u. Sinigaglia, 2008). Solche »Spiegelneuronen« simulieren offenbar Handlungen oder Zustände im Gehirn derjenigen, die beobachten. Neben dem visuellen Eindruck werden den Betrachtenden so zusätzlich Informationen darüber bereitgestellt, wie sich die beobachtete Handlung oder der beobachtete Zustand im eigenen Körper anfühlen würde (Wilson, 2006). Auf diese Weise wird eine Art Innenperspektive des Gesehenen vermittelt (Bauer, 2005), die einerseits das Beobachtungslernen unterstützt, andererseits zu einem tieferen Verständnis der Intentionen von Handlungen und zu empathischen Reaktionen führen kann. Aus Forschungen über die neurobiologischen Grundlagen des AttachmentProzesses schließt der Psychoanalytiker und Entwicklungsneuropsychologe Allan Schore (1994) auf eine ähnliche Funktion des orbitofrontalen Kortex (OFC). Diese hochdifferenziert arbeitende Region des Gehirns ist offenbar in der Lage, auf automatischem, unbewusstem Weg nonverbale Kommunikationssignale eines Gegenübers zu interpretieren und auf diese mit einer Anpassung körperlicher Prozesse zu reagieren. So kann es in einer dyadischen Interaktion zu einer Einstimmung oder Synchronisation der psychophysiologischen Zustände beider Interaktionspartner/-innen kommen (zum Beispiel zwischen Kleinkind und Pflegeperson). Es ist aber auch möglich, dass ein durch nonverbale Signale evozierter körperlicher Zustand durch die rekursive Aktivität des OFC verändert wird. Der voll entwickelte OFC einer erwachsenen Bezugsperson ist zum Beispiel in der Lage, eigene stressreiche Körperzustände, die durch die Interaktion mit einem gestressten Kleinkind hervorgerufen wurden, zu regulieren und abzuschwächen. Die Bezugsperson sendet dann beruhigende nonverbale Signale aus, die den Stress des Babys – vermittelt über dessen OFC – mildern. Somit ist nicht nur gegenseitige Einstimmung möglich, die im Fall negativer Emotionen zu einer reziproken Verstärkung führen würde, sondern auch eine gegenseitige Regulation emotionaler Zustände. Auf diese Weise können Kleinkinder autonome Regulationsfähigkeiten erlernen. Schore (2003a, 2003b) vermutet, dass derartige Prozesse auch in den Interaktionen im Rahmen anderer (asymmetrischer) Beziehungen eine Rolle spielen, wie etwa in der psychologischen Therapie oder in der pädagogischen Arbeit. Für im psychosozialen Bereich arbeitende Menschen kann daher das bewusste

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Erspüren und Wahrnehmen der eigenen körperlichen Resonanz ein differenziertes Hilfsmittel in Bezug auf die Einschätzung und Regulation einer sozialen Situation, aber auch in Bezug auf die Registrierung eigener Schwierigkeiten und Grenzen darstellen. Allerdings erfolgt die Einstimmung der Erwachsenen oder Professionellen weder automatisch noch selbstverständlich. Es bedarf vielmehr eines aktiven Sich-Einlassens, damit Resonanzen die Möglichkeit haben, sich auszubilden. So kann eine sichere Bindung bzw. ein klarer und als sicher empfundener pädagogischer Bezug entstehen, die/der dann die Ausbildung autonomer Regulationsfähigkeiten bei Kindern (oder auch bei Adressaten zum Beispiel in der Beratung) unterstützen. Im negativen Prototyp einer nicht eingestimmten und damit unsicheren Bindung bleibt das Kind mit seinen unregulierten Emotionen allein und entwickelt defensive sekundäre Anpassungsstrategien an eine inadäquate Umwelt. Dieses bindungstheoretische Wissen weist starke Parallelen zum – bereits weiter oben gekennzeichneten – körperpsychotherapeutischen Modell der Charakterneurose im Sinne Wilhelm Reichs auf, demzufolge frühkindliche sozio-emotionale Bedürfniskonflikte über eine starre Einschränkung von entsprechenden Erlebens- und Ausdrucksweisen bewältigt werden. Abschließend seien verdichtend einige Aspekte genannt, die meines Erachtens zur Erweiterung pädagogischer Handlungsfähigkeit auch im Kontext von Beratung beitragen können. So ist die Wahrnehmung der eigenen leiblichen Zustände und Prozesse nicht zuletzt hilfreich zur Selbstregulierung (Burn-out-Prävention) und zur Regulierung des Nähe-Distanz-Verhältnisses im professionellen Kontakt. Die Wahrnehmung des Körperausdrucks, der Körperhaltungen und -spannungen, der Bewegungsimpulse bei anderen ist hilfreich für das Verstehen des/der Anderen; sie kann zum Ausgangspunkt für Dialog, konkrete Rückfragen, eine Re-Flexion im wörtlichen Sinne werden, zum Ansatzpunkt für eine mögliche konkrete Intervention. Diese Intervention kann auch in einer Einladung zur Selbstwahrnehmung bestehen, zur bewussten Gestaltung eines eigenen Impulses, kann zum Ausprobieren einer Veränderung ermutigen. Auch auf der Körperebene können Ressourcen von Adressaten/Adressatinnen (und Fachkräften), aber auch deren Begrenztheit, wahrgenommen werden. Körpersensible Beratung kann dabei unterstützen, diese Grenzen zu reflektieren, oder auch zu verschieben, und damit zu einer Erweiterung oder gar Wiedergewinnung von Handlungsfähigkeit beitragen. Somatische Resonanz kann in diesem Zusammenhang zu mehr Genauigkeit führen: Die Fragen »Wie fühlt etwas sich gerade körperlich an? Was macht körperlich freier? Was erleichtert und hilft? Was stärkt? Was motiviert?« ermöglichen einen bewussteren Umgang

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mit Bewegung und (Körper-)Ausdruck, eröffnen verschiedene (Bewegungs- und Haltungs-)Optionen und vertiefen das Verständnis für ihre (subjektive) Bedeutung. So werden auch die bereits vorhandenen offenen Stellen deutlicher wahrnehmbar, die eine Veränderung überhaupt erst zulassen. Verletzlichkeit ist dabei ein reales Problem. Aufgabe einer körpersensiblen Beratung ist es von daher vor allem auch einen schützenden Raum und Rahmen zu kreieren, in dem die Impulse der Adressatinnen und Adressaten zugelassen und mit Wertschätzung versehen werden können. Beratung als Geschehen »auf der Grenze« Unter der Denkvoraussetzung bzw. dem realen Umstand Rechnung tragend, dass Beratungssituationen prinzipiell von Differenz und Ungleichheit durchzogen sind, hat dieser Beitrag versucht, somatische und biografische Resonanzen als Überbrückungsmöglichkeiten zu kennzeichnen, die einen Dialog unterstützen, der die Gleichrangigkeit im Menschsein anerkennt (und auch zu mehr Gleichheit im gesellschaftlichen Kontext beitragen möchte). Bedeutsame Aspekte waren in diesem Zusammenhang die Wahrnehmung und Reflexion spontan empfundener, aber auch sich erst allmählich zeigender somatischer und biografischer Resonanzen. Dabei wurde auch die Frage nach der Qualität des Kontaktes in der konkreten Situation der Begegnung als Bezugspunkt für das Beratungshandeln in neuer Weise gestellt. Kontaktvolle Kopräsenz erhält ihren Sinn als Zeugenschaft, Dialog und Ermutigung. In der Biosynthese wird dieser Zusammenhang folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: »Zu seiner Entwicklung braucht ein Mensch in jeder Lebensphase kontaktvolle Bezugspersonen […] die empathische, lebendige und antwortende Gegenwart eines anderen Menschen« (IIBS, 2012). Hier zeigt sich ein professionelles Selbstverständnis, das auch mit einem bestimmten Menschenbild verbunden ist und sich nicht zuletzt auf das »dialogische Prinzip« im Sinne Martin Bubers (1979) gründet. Der Theologe und Philosoph Paul Tillich (1936/1962) hat die Gegenwart als Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheit gekennzeichnet, auf der wir leben. In dieser Gegenwart zeigen sich – oft klein(st)e – Impulse, die wertvolle Informationen oder Hinweise auf Veränderungswünsche und mögliche Öffnungen geben. Im Beratungshandeln können diese Impulse, vermittelt über biografische und somatische Resonanzen, achtsam und bewusst aufgegriffen werden und damit die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden – in der Hoffnung, damit zu erweiterten Handlungsmöglichkeiten und freieren Lebensverhältnissen in dieser Zukunft beizutragen.

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Individuelle Einflüsse auf Beratung

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Maurer  |  Somatische und biografische Resonanzen

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Heike Schnoor

Psychosoziale Beratung unter Einfluss: Absichten – Einsichten – Aussichten

Absichten Dieses Buch zielt auf die Sensibilisierung gegenüber Einflüssen auf Beratungsprozesse, die bis auf die Ebene des Klientenkontaktes durchschlagen und Spannungen erzeugen können, welche die Problemlösung in der Beratung nachhaltig behindern, im Extrem sogar auch verhindern können. Durch die Beiträge dieses Buches werden gesellschaftliche, institutionelle und professionelle Einflüsse, aber auch persönliche Einstellungen der Berater und Beraterinnen als potenzielle Störungsquellen identifiziert. Eine Verleugnung dieser Einflüsse lässt Beratung als quasi neutrale Sozialtechnologie erscheinen und viele Schwierigkeiten in der Praxis dieser Hilfsangebote bleiben dann unverstanden. In der Argumentation der Beiträge entfaltet sich ein erziehungswissenschaftliches Reflexionspotenzial auf Beratung, das quer zu den Publikationen liegt, die sich spezifischen Beratungsansätzen oder Beratungsfeldern zuwenden. Indem Einflüsse auf Beratungen in unterschiedlichen pädagogischen Praxisfeldern, bei einer unterschiedlichen Klientel und in unterschiedlichen Beratungskonzeptionen exemplarisch entfaltet werden, wird die Ubiquität und Universalität dieser Phänomene sichtbar. Diese werden zwar im sozialwissenschaftlich ausgerichteten Beratungsdiskurs nicht bestritten, aber sie sind seit den 1970er Jahren aus dem Blick geraten und werden aktuell nur selten thematisiert. Einsichten Der Einfluss der Klientel auf Beratungen

Da Beratung nicht allein Wissen vermitteln, sondern vor allem einen Entwicklungs- und Problemlösungsprozess bei der Klientel anstoßen möchte, sind die Klientel nicht nur Konsumenten oder Objekte von Beratung, sondern deren Hauptakteure. Ihre Motive, Bedürfnisse und Handlungsprämissen – inklusive ihrer Eigensinnigkeiten – können in der Beratung nicht übersprungen werden.

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Beratungsprozesse sollten von daher so gestaltet sein, dass Klienten in ihrem Such- und Lösungsprozess optimal unterstützt werden. Beratung möchte einen Rahmen schaffen, in dem Klienten Klarheit über ihre verbliebenen Handlungsoptionen gewinnen können. Hier entwickeln sie alternative Perspektiven auf, und mögliche Wege aus ihren aktuellen Lebenssituationen und wägen deren Vor- und Nachteile ab. Das Klären eigener Ressourcen und die kritische Auseinandersetzung mit Sinnfragen und Selbstdeutungen des Lebens gehören dazu (Schrödter, 2004). Klienten kommen in die Beratung, weil sie mit ihren bisherigen Problemlösungsversuchen gescheitert sind. In einer Beratung wird also Neuland betreten (Thiersch, 2004). Dies erfordert, dass Beratungen Suchbewegungen der Klienten initiieren und zulassen können, in denen »vielperspektivische Fallhypothesen gedankenexperimentell erwogen, mitgeteilt, kontrastiert und diskutiert, auf Plausibilität geprüft, verworfen oder umgebaut werden; darin gehen in ungezwungener Weise eigene lebensgeschichtliche Erfahrungen, allgemeine lebenspraktische Vorannahmen und Elemente theoretischen Wissens ein. Am zwischenzeitlichen Ende der Bemühungen steht, so sie gelingen, ein qualitatives Mehr an Freiheit zu Fühlen, Denken und Handeln, d. h. genau das, was auch das Ende eines guten Beratungsprozesses ausmacht« (Schrödter, 2004, S. 462). Diese hermeneutische Suchbewegung ist notwendigerweise ergebnisoffen. Weil Beratungsprozesse in Lebenskontexte eingebunden und in ihrer Wirkung situations- und kontextabhängig sind, können sie vom Berater zwar begrenzt optimiert, aber nicht absolut gesteuert werden. Es kann deshalb keine Erfolgsgarantie einer Beratung geben. Auch die Ziele einer Beratung können nur relativ und nicht absolut festgelegt werden. Der gesellschaftliche Einfluss auf Beratungen

Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive heraus betrachtet ist der Hilfeansatz Beratung immer in einen gesellschaftlichen Rahmen gestellt. Dies gilt sowohl für die Genese der Problemlagen der Klientel, die zum Gegenstand einer Beratung werden, als auch für die Entstehung, Veränderung und Rezeption von Beratungsangeboten selbst. Wird die Prämisse akzeptiert, dass Problemlagen der Klientel ohne den gesellschaftlichen Kontext, in dem sie entstehen, sich verfestigen und zuspitzen, nicht verständlich sind, dann erweitert sich eine individuumzentrierte Perspektive von Beratung zwangsläufig um eine lebensweltliche Dimension (vgl. Beiträge von Stach und Krüger-Kirn). Die Entstehung von Problemlagen folgt gesellschaftlichen Trends. In der Postmoderne geht beispielsweise der Einfluss autoritär-hierarchischer Gesellschafts- und Lebensformen zurück, und vielfältige Lebensentwürfe werden

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möglich und legitim. Lebensläufe flexibilisieren sich mit all den damit verbundenen Chancen und Gefahren. Spannungen entstehen, wenn Individuen zwar mit den Risiken dieser Entwicklung konfrontiert werden, aber nicht über die Ressourcen verfügen, die damit verbundenen Freiheiten konstruktiv zu nutzen. Überforderungssituationen machen Unterstützungsangebote erforderlich. Beratung hat dann den Auftrag, zwischen gesellschaftlichen und sozialpolitischen Anforderungen auf der einen Seite und den individuellen Bedürfnissen der Klientel auf der anderen Seite zu vermitteln. Damit arbeitet Beratung an der durch widersprüchliche Anforderungen geprägten Schnittfläche zwischen gesellschaftlichem Veränderungsdruck und individuellen Bedürfnissen. Schon aus diesem doppelten Mandat ergeben sich Spannungen, die in jeder Beratung ausbalanciert werden müssen. Die Autonomie des Einzelnen – des Beraters wie des Klienten – ist immer nur eine relative. Die Spannungsfelder, in denen sich auch Beratungsprozesse bewegen, zu ignorieren, würde nicht nur einen unaufgeklärten Pragmatismus, sondern auch einer geheimen Moral Vorschub leisten, »die ihre eigenen gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht wahrhaben will und deshalb Gefahr läuft, blind-affirmativ zu agieren« (Schrödter, 2004, S. 465). Erst eine Reflexion dieser gesellschaftlichen Kontextuierung kann ein aufklärerisches Potenzial von Beratung begründen. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich notwendigerweise eine Offenheit der Beratungsangebote für gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen. Beratungsanliegen gruppieren sich um gesellschaftlich problematisierte Themen: Der Drogenberatung liegt der unerwünschte Drogenkonsum, der Schuldnerberatung liegt das Problem der privaten Überschuldung unter gesellschaftlichen Bedingungen intensiver Konsumanreize zugrunde. »In der Etablierung von Beratungsangeboten kommen immer auch gesellschaftliche Interessen der Konfliktlösung oder -beruhigung zum Ausdruck« (Großmaß, 2004, S. 489). Werden neue konfliktreiche gesellschaftliche Felder ausgemacht und in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung ausgewiesen, entstehen auch entsprechende neue Beratungsangebote (vgl. Beitrag von Hafeneger, Becker, Schläger). Da die öffentliche Finanzierung dieser Dienstleistung nur erfolgt, wenn die Beratungsanliegen mit sozialpolitischen Zielen in Deckung zu bringen sind, wird der gesellschaftliche Einfluss schon über die Finanzierung dieses Hilfsangebotes zur Geltung gebracht. In der Postmoderne scheint Beratung zu einem Allheilmittel für die Regulierung gesellschaftlicher Konflikte zu werden. Es ist zu beobachten, dass die Beratungsanlässe und -formen zunehmen, aber auch ihre administrative Regulierung und gesellschaftliche Funktionalisierung. Dadurch ändert sich der Charakter von Beratung: Beratung wird zu einer instrumentellen Unterstützungsform für genau definierte und eng umgrenzte Problembereiche. Komplexe

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psychosoziale Zusammenhänge und ihre gesellschaftliche Kontextuierung können unter diesen Bedingungen kaum thematisiert werden (vgl. Beitrag von Peters und Trilling). Zudem wird Beratung von einem freiwillig in Anspruch genommenen »Möglichkeitsraum« der Klienten zu einem Rechtsanspruch und im Kontext des aktivierenden Sozialstaates auch zu einem Zwangsangebot (vgl. Beiträge von Suschek und Grösch). Beratung, ursprünglich eine attraktive Hilfeform für die Klientel, wird anfällig für eine offene oder verdeckte instrumentelle Nutzung in Bereichen, die nicht das Wohl der einzelnen Klienten in den Mittelpunkt der Bemühungen stellen. Die interessengeleitete Verkaufsberatung ist in vielen Branchen bekannt (Versicherungen, Banken). Zugleich wird durch ökonomische Anreizsysteme auch die Beratung in Bereichen gesteuert, die bislang als allein auf die Interessen der zu Beratenden ausgerichtet schien. Beispielhaft sei die Patientenberatung durch Ärzte genannt. Diese Beispiele zeigen eine sehr grobe interessengesteuerte Einflussnahme auf Beratungen. In sozialpädagogischen Beratungsfeldern ist zudem zu beobachten, dass Beratungsangebote in das Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle geraten. Nicht nur die Klientel, sondern auch die beteiligten Berater und Beraterinnen geraten unter Druck, weil sie in knapper Zeit vorgeschriebene Fallzahlen erfüllen müssen. Ob unter diesen restriktiven Rahmenbedingungen überhaupt noch Handlungsspielräume bestehen, die unter Einsatz eines spezifischen Beratungssettings konstruktiv genutzt werden können, wird von den Autoren dieses Bandes unterschiedlich eingeschätzt (vgl. Beiträge von Suschek und Grösch). Der institutionelle Einfluss auf Beratungen

In der Regel sind es zunächst Initiativen, die ein gesellschaftliches Problem skandalisierend in die Öffentlichkeit bringen und Beratungs- und Unterstützungsangebote aufbauen (vgl. Beiträge von Hafeneger, Becker, Schläger sowie Tillmann). Eine Verstetigung und Absicherung dieses Angebots erfordert dann eine tragfähige und berechenbare Finanzierung und Institutionalisierung dieses Angebots. Institutionen haben den Auftrag, einen passenden und sicheren Rahmen für Beratungsprozesse herzustellen. Über den Prozess der Institutionalisierung nehmen jedoch auch gesellschaftliche und sozialpolitische Vorgaben Einfluss auf Beratungsinstitutionen und die in ihnen arbeitenden Berater und Beraterinnen (vgl. Beitrag von Peters und Trilling). Dies erfolgt natürlich zuerst über gesetzliche Grundlagen und ihre Ausführungsbestimmungen (vgl. Beiträge von Suschek sowie Grösch). Aber der gesellschaftliche Einfluss kann auch auf ganz subtile, den handelnden Personen nicht bewusste Weise in Beratungsinstitutionen und Beratungsprozesse hineinwirken (vgl. Beitrag von Rohr).

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Die Arbeit von Beratern und Beraterinnen bewegt sich in diesem Spannungsfeld. Sie vermitteln und moderieren zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und individuellen Bedürfnissen der Klientel, aber sie können diese Widersprüche nicht grundsätzlich auflösen. Sie sind damit beschäftigt, Antinomien und Paradoxien auszubalancieren und gleichwohl konstruktive Konfliktlösungen anzubieten (vgl. Beitrag von Schmidt-Bernhardt). Es bleibt nicht aus, dass Konflikte und Widersprüchlichkeiten in der Institution über die Person der Berater und über die Rahmenbedingungen der Beratung in die Interaktionen mit der Klientel hineinwirken. Loyalitätskonflikte können nicht grundsätzlich vermieden werden. Bisweilen taucht deshalb auch die Forderung auf, dass die berufsethische Verpflichtung der Berater wieder stärker das Wohl der Klienten in den Mittelpunkt rückt und der Gesellschaftsbezug vor dem Hintergrund universeller Normen menschlicher Sozialität relativiert wird (Schrödter, 2004). Da sich Institutionen auf die veränderten Lebens- und Problemlagen ihrer Klientel einstellen und ihr Beratungsangebot darauf abstimmen müssen, sind auch Beratungsinstitutionen von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen betroffen. Der institutionelle Umgang mit diesen Herausforderungen kann einen Schatten auf die Beratungsprozesse werfen (vgl. Beitrag von Peters und Trilling). Zudem ist der Handlungsspielraum in jeder Institution begrenzt und die Macht zur Festlegung, Verteilung und Umverteilung dieser Handlungsspielräume ist ein relevantes institutionelles Konfliktfeld (vgl. Beitrag von Sennekamp). Beratung, als professionelle Dienstleistung, ist ebenso wie ihre Klientel selbst Subjekt, aber auch Objekt von gesellschaftlichen Umbrüchen. In Anlehnung an einen Werbeslogan könnte man davon sprechen, dass sie mittendrin sind und nicht nur dabei. Der Einfluss disziplinärer und professioneller Deutungshorizonte auf Beratungen

Im Unterschied zur Psychotherapie stützt sich Beratung auf unterschiedliche disziplinäre Wissensbestände und Verfahrensschulen: psychologische, erziehungs- und sozialwissenschaftliche, theologische, rechtliche, philosophische und medizinische Erkenntnisse werden herangezogen. Die Deutsche Gesellschaft für Beratung (DGfB, 2010) bekennt sich zu dieser multiperspektivischen und interdisziplinären Verortung und spricht davon, dass all diese Theorien wichtige Beiträge für Beratung geleistet haben. Auf dieser breiten und heterogenen theoretischen Grundlage setzt sich Beratung dann mit unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben und multifaktoriell bestimmten Problem- und Konfliktsituationen ihrer Klientel auseinander und entwickelt ein interdisziplinär fundiertes Handlungskonzept, das tätigkeitsfeld- und aufgabenspezifisch ausdiffe-

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renziert wird (DGfB, o. J.). Beratung versucht also unterschiedliche disziplinäre und professionelle Deutungshorizonte und Handlungsansätze zu integrieren und auf diese Weise die »Entwicklung, Begründung und Unterstützung von beraterischer Fach- und Methoden-Kompetenz« zu begründen (DGfB, 2010, S. 7). Jede Beratungstheorie entwickelt jedoch spezifische Begründungszusammenhänge. Sowohl das Fallverstehen als auch der konkrete Einsatz von Beratungsmethoden basieren auf disziplinär und professionell geprägten Deutungshorizonten. Diese beeinflussen den professionellen Umgang der Berater und Beraterinnen mit ihrer Klientel, weil sie den Blick für Problembereiche schärfen und in einem spezifischen Licht erscheinen lassen. Deutungshorizonte organisieren Beratungsprozesse: Sie ermöglichen es, aus den Anliegen der Klientel ein in der Beratung bearbeitbares Problem herauszuarbeiten (vgl. Beitrag von Schnoor). Beratung bewegt sich im Spannungsfeld unterschiedlicher Deutungshorizonte. Dieses Vorgehen birgt Chancen und Risiken: Zu den Vorteilen zählt die fast unbegrenzte Anschlussfähigkeit von Beratung an unterschiedlichste disziplinäre und professionelle Ansätze. Dies unterstützt ihre Verbreitung. Zudem können Berater aus dem großen Arsenal unterschiedlichster Deutungshorizonte Perspektiven schöpfen, die sie ihren Klienten zur Reflexion anbieten. Das stärkste Argument besteht darin, dass multifaktoriell bedingte Problemlagen der Klientel auch multiperspektivische Betrachtungen auf das Problem erfordern und unter Umständen auch die Kombination mehrerer Hilfeansätze. Die Verengung auf einen Ansatz könnte in diesen Fällen zu kurz greifen. Aber dieses Vorgehen leistet auch einem polypragmatischen und eklektizistischen Umgang mit Beratungsmethoden Vorschub, der heute in weiten Teilen psychosozialer Beratung üblich ist. Das Vorgehen birgt die Gefahr von Beliebigkeit, einem unverbindlichen Spiel mit unterschiedlichen Konstruktionen, einem postmodernden »anything goes«. Spannungen entstehen, wenn konkurrierende Deutungshorizonte zum Tragen kommen, wenn zum Beispiel die disziplinäre Verortung der Berater mit den Prämissen ihrer postgradualen Weiterbildung kollidiert (vgl. Beitrag von Thiele). Eine weitere Gefahr besteht darin, dass die meist aus psychotherapeutischen Ansätzen entliehenen Methoden ohne Berücksichtigung ihres konzeptionellen Deutungshintergrundes mechanisch angewendet werden. »Entkontextuierte Methodenfixierung« gilt als Scharlatanerie (Nestmann, 2004). Auch die Grenzen zwischen Beratung und Psychotherapie können dabei verschwimmen (vgl. Beitrag von Wißmach). Angestrebt wird deshalb kein wahlloses Kombinieren unterschiedlichster Ansätze und Methoden, sondern eine kontrollierte Kombination und Integration verschiedener Verfahren (Nestmann, 2004). Dies wird jedoch dadurch erschwert, dass bislang noch keine eigene Beratungstheorie entwickelt werden konnte.

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Der Einfluss persönlicher Einstellungen der Beratenden auf Beratungen

Beratung ist ein intersubjektives Geschehen zwischen Klient und Berater. Jeder zwischenmenschliche Kontakt und auch jedes Beratungsgespräch basiert auf Grundhaltungen bzw. Einstellungen der Beteiligten. Sie prägen auf Seiten der Klientel die Motive, eine Beratung in Anspruch zu nehmen, und auf Seiten der Beratenden die Idee davon, was hilfreich sein könnte. Selbst der Prozess des Fallverstehens erfolgt letztlich normorientiert, weil es kein wertfreies Beschreiben anderer Personen gibt. Von daher ist es sinnvoll, nicht nur den Einfluss der Klientel auf den Beratungsprozess, sondern auch den Einfluss zu untersuchen, der von den Beratenden selbst ausgeht. Beratende begegnen ihren Klienten mit ihren persönlichen Werten und Lebenseinstellungen. Diese sind nicht nur biografisch geprägt, sondern auch Folge ihrer beruflichen Sozialisation mit den daraus erwachsenen disziplinären und professionellen Haltungen. Sie beeinflussen die Art und Weise, mit der sich Beratende ihrer Klientel zuwenden, wie sie ihnen zuhören und nach welchen sinnkonstruierenden Verknüpfungen gesucht wird. Dazu gehört auch das Selbstverständnis der Berater hinsichtlich ihrer Rolle: Beruhen Expertenberatungen auf der Idee des Rettens unwissender Ratsuchender, so verstehen sich die Berater von Prozessberatungen eher als Mentoren, die gemeinsam mit der Klientel einen Suchprozess verfolgen und Ressourcen sowie Kompetenzen wiederentdecken oder entwickeln wollen (Stark, 2004). Beratung setzt voraus, dass Berater sich der Person und der Problemlage ihrer Klientel empathisch zuwenden können. Je weiter die Lebensrealitäten und Wahrnehmungsmuster der Berater von denen der Klientel abweichen, je vorurteilsbehafteter diese Einstellungen sind, desto schwieriger ist dies. Letztlich beeinflussen die Einstellungen auch, wie Berater mit Nichtverstehen, Fremdheit und Befremden umgehen und ob sie dazu eine Haltung des Respekts entwickeln können. Beratungen sind kulturell geprägte Räume, die milieuspezifisch sind. Spannungen können entstehen, wenn die lebensweltlichen Hintergründe der Klientel von den persönlichen Einstellungen und dem institutionell-professionellen Verhalten der Berater stark abweichen und sich vor diesem Hintergrund kein tragfähiges Arbeitsbündnis entwickeln kann (vgl. Beiträge von Schaich und Kustor-Hüttl). Bewegen sich die Einstellungen Professioneller in Übereinstimmung mit gesellschaftlich geteilten Vorurteilen, werden sie von den Beratenden selbst unter Umständen überhaupt nicht bemerkt und kritisch hinterfragt (vgl. Beitrag von Scholle und Bergold-Caldwell). Das beginnt schon mit der Frage, wer ein Beratungsangebot erhält. Da sich Beratung an autonome, gesunde, in aktuellen Krisen oder Entscheidungskonflikten befindliche Menschen richtet, fallen

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Personen, die diesem Bild nicht entsprechen, als Klientel für Beratungsangebote heraus (vgl. Beitrag von Meyer). Sie werden als abhängige Objekte expertokratischer Hilfe angesehen und erzogen, versorgt, behandelt oder therapiert, aber nicht beraten. Für eine Reihe ausgegrenzter und stigmatisierter Klientengruppen sind aus diesem Grund keine Beratungsangebote entwickelt worden. Dagegen regt sich von Seiten einiger Betroffenengruppen Widerstand. Am Beispiel der sozialen Bewegung behinderter Menschen lässt sich aktuell beobachten, wie ein Prozess der Konstruktion und Dekonstruktion professioneller Vorstellungen über Menschen mit Behinderung stattfindet. Die Protagonisten dieser Bewegungen erstreiten sich einen Subjektstatus im sozialen System und entwickeln spezifische Beratungsangebote für ihre Problemlagen, die dann wiederum um Anerkennung, Finanzierung und Institutionalisierung bemüht sind (vgl. Beitrag von Tillmann). Während in der Beratung also zumeist von der Annahme einer Neutralität der Berater ausgegangen wird, machen die Beiträge dieses Buches deutlich, dass sich diese Vorstellung als Fiktion erweist. Vorgespielte Neutralität kann Klienten verunsichern und die Entwicklung eines Reflexionsraumes verhindern. Wenn Klienten der eingeengte Blick der Berater nicht transparent ist, haben sie keine Möglichkeit, das Verhalten der Berater kritisch zu hinterfragen und für sich zu relativieren (vgl. Beitrag von Lang). Eine Reflexion und Relativierung dieser Einflüsse ist deshalb ein entscheidendes Kriterium beraterischer Professionalität. Selbsterfahrungselemente als Bestandteil der Beraterweiterbildung und Supervisionen als Standard professioneller Beratertätigkeit sind aus diesem Grund unverzichtbar. Zudem haben einzelne Ansätze auch Methoden der Reflexion der Interaktionsprozesse entwickelt (vgl. Beitrag von Maurer). Gleichwohl ist eine ergebnisoffene Beratung zwar das allseits akzeptierte Ziel einer Beratung, aber ihre Realisierung scheint nur ansatzweise umsetzbar. Aussichten Beratung ist heute unbestritten eine Grundform pädagogischen Handelns und findet in nahezu allen pädagogischen Handlungsfeldern Anwendung. Als Teil demokratischer Erziehungspraxis bekommt sie sogar ein zunehmend größeres Gewicht. Zudem kann eine erfolgreiche Beratung auch als ein Bildungsprozess betrachtet werden, da eine Problemlösung nicht nur neues Wissen erfordert, sondern auch eine Erweiterung der Handlungskompetenzen. Trotzdem ist, wie Engel (2004) richtig konstatiert hat, das Verhältnis von Beratung und Erziehungswissenschaft ein vernachlässigtes Thema. Er führt dies auf den Umstand zurück, dass Beratung bis heute konzeptionell, theoretisch und methodisch mit

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wenigen Ausnahmen einen psychologischen bzw. psychotherapeutischen Import in die Erziehungswissenschaft darstellt. Trotz vieler Anschlussstellen zwischen Erziehungswissenschaft und Beratung ist Beratung in pädagogischen Debatten eher randständig vertreten. Engel spricht gar von Beratung als »Fremdkörper« in der Erziehungswissenschaft (Engel, 2004). Die zumeist aus der Psychotherapie stammenden Interventionsmethoden werden in der Beratung jedoch in einen sozial- und erziehungswissenschaftlichen Interpretationszusammenhang gestellt. Die erziehungswissenschaftliche Perspektive auf Beratung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie einen reflexiven, kritisch-diskursiven Beitrag zum Verständnis von Beratungsprozessen liefert (Engel, 2004). Erziehungswissenschaft kann eine Reflexionsfolie zum professionellen Beratungshandeln beitragen und so die Spannungsfelder, in denen Beratung sich bewegt, in ihren Ursachen sichtbar machen. Indem Beratung als transdisziplinärer Handlungsansatz erziehungswissenschaftliche Wissensbestände integriert, kann die »vernachlässigte Relation« (Engel, 2004, S. 105) zwischen Beratung und Erziehungswissenschaft zu einer sich ergänzenden Relation weiterentwickelt werden. Durch die kritische Auseinandersetzung mit den Einflüssen auf das Beratungsgeschehen möchte dieses Buch die Einbindung von Beratung in pädagogische Diskurse ein Stück weit voranbringen. Literatur Deutsche Gesellschaft für Beratung e. V. (DGfB) (2010). Essentials einer Weiterbildung Beratung/ Counceling. Köln. Deutsche Gesellschaft für Beratung e. V. (DGfB) (o. J.). Beratungsverständnis. Köln. http://www. dachverband-beratung.de/dokumente/Beratung.pdf Engel, F. (2004). Allgemeine Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Beratung. In F. Nestmann, F. Engel, U. Sickendiek (Hrsg.), Das Handbuch der Beratung, Bd. 1: Disziplinen und Zugänge (S. 103–114). Tübingen: dgvt-Verlag. Großmaß, R. (2004). Beratungsräume und Beratungssettings. In F. Nestmann, F. Engel, U. Sickendiek (Hrsg.), Das Handbuch der Beratung, Bd. 2: Ansätze, Methoden und Felder (S. 487–496). Tübingen: dgvt-Verlag. Nestmann, F. (2004). Beratungsmethoden und Beratungsbeziehungen. In F. Nestmann, F. Engel, U. Sickendiek (Hrsg.), Das Handbuch der Beratung, Bd. 2: Ansätze, Methoden und Felder (S. 783–796). Tübingen: dgvt-Verlag. Schrödter, W. (2004). Ethische Richtlinien für Beratung. In F. Nestmann, F. Engel, U. Sickendiek (Hrsg.), Das Handbuch der Beratung, Bd. 2: Ansätze, Methoden und Felder (S. 453–468). Tübingen: dgvt-Verlag. Stark, W. (2004). Beratung und Empowerment – empowerment-orientierte Beratung? In F. Nestmann, F. Engel, U. Sickendiek (Hrsg.), Das Handbuch der Beratung, Bd. 2 (S. 535–546). Tübingen: dgvt-Verlag. Thiersch, H. (2004). Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Beratung. In F. Nestmann, F. Engel, U. Sickendiek (Hrsg.), Das Handbuch der Beratung, Bd. 1 (S. 115–124). Tübingen: dgvt-Verlag.

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Die Autorinnen und Autoren

Becker, Reiner, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Marburg. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Landeskoordinator des »beratungsNetzwerks hessen – Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus«, Projektleiter »Rote Linie – Hilfen zum Ausstieg vor dem Einstieg«. Bergold-Caldwell, Denise, Erzieherin, Diplom-Pädagogin, freiberuflich in der Antidiskriminierungsarbeit, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Marburg. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Rassismuskritik, Anti-Bias/vorurteilsbewusste Erziehung und Bildung, Schwarz-Sein in Deutschland, Rassismuskonstruktionen und deren Wirken auf Subjektivierungsprozesse. Grösch, Stefan, Master of Arts in Beratung und Sozialrecht, Case Manager (DGCC), Diplom-Sozialpädagoge, Erzieher. Seit 1999 Berater und Referent für Jugendberufshilfe in Limburg, Lehrer und Lehrbeauftragter in der Sozialassistenten-, Erzieher- und Sozialarbeiterausbildung (ARS-Limburg & RheinMainHochschule Wiesbaden), Lehrberater (FH Frankfurt am Main), Entwickler sowie für drei Jahre Leiter und Berater in einer freien Beratungsstelle für einen Sozialleistungsträger des SGB II. Hafeneger, Benno, Dr. phil., Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt »außerschulische Jugendbildung« am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Marburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Lernfelder der Jugendarbeit/-bildung, Jugend, Gewalt und Rechtsextremismus, Professionalisierung und Professionalität. Krüger-Kirn, Helga, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Lehranalytikerin (DGPT), Dozentin für Paar- und Familientherapie, Körperpsychotherapie.

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Die Autorinnen und Autoren

Lehrbeauftragte der Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Genderkritischer weiblicher Körper- und Identitätsdiskurs, Mutterschaft. Kustor-Hüttl, Beatrice, Dr. phil., Soziologin und Pädagogin, Gruppenanalytikerin, Lehrerin an einer Berufsfachschule, Beratung von Kindern, Jugendlichen und Familien mit Migrationshintergrund im Rahmen der Erziehungshilfe. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Sozialpsychologie, Resilienz. Lang, Monika, Priv.-Doz. Dr. phil., habil., Diplom-Psychologin, Integrative Gestalt-Körpertherapeutin, Privatdozentin für Rehabilitationspsychologie und -pädagogik sowie Beratung an der Universität Marburg. Gründerin des Instituts für Rehabilitationspsychologie und Autismus IRA Gießen. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Familiäre Coping-Prozesse, Beratung bei Autismus-SpektrumStörungen, Projektentwicklung und -begleitung. Maurer, Susanne, Prof. Dr. phil. habil., Diplom-Pädagogin, Biosynthese-Therapeutin, Professorin für Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik an der Universität Marburg. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Körperbezogene Arbeit in der Pädagogik im Theorie-Praxis-Verhältnis, Kritische Theorie und reflexive Historiographie Sozialer Arbeit. Meyer, Uta-Kristina, Diplom-Pädagogin, wissenschaftliche Mitarbeiterin von Prof. Heike Schnoor im Bereich Beratung am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Marburg. Peters, Meinolf, Prof. Dr. phil., Diplom-Psychologe, psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, Honorarprofessor an der Universität Marburg, niedergelassen in eigener Praxis, leitender Psychologe im Funktionsbereich Gerontopsychosomatik in der Klinik am Hainberg in Bad Hersfeld, Mitinhaber und Geschäftsführer des Instituts für Alternspsychotherapie und Angewandte Gerontologie, Mitherausgeber der Zeitschrift »Psychotherapie im Alter«, zahlreiche Veröffentlichungen und Vortragstätigkeit zum Thema Alter. Rohr, Elisabeth, Professorin für Interkulturelle Erziehung an der Universität Marburg, Gruppenanalytikerin und Supervisorin in nationalen und internationalen Arbeitsbereichen. Verantwortlich für das wissenschaftliche Programm des IAGP-Kongresses in 2015 in Rovinje (Kroatien) und für die Granada-Akademie im Juni 2013. Arbeitsschwerpunkte: Migration, Fundamentalismus, Gender und Supervision.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462676 — ISBN E-Book: 9783647462677

Die Autorinnen und Autoren

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Schaich, Ute, Dr. phil., Diplom-Pädagogin, Gruppenanalytikerin (IGAH, D3G), Supervisorin (DGSv). Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Pädagogik der frühen Kindheit, Professionalisierung in der Frühpädagogik, interkulturelle und geschlechtsspezifische Sozialisation, Gruppenprozesse. Schläger, Grete, Diplom-Pädagogin, war wissenschaftliche Mitarbeiterin im »beratungsNetzwerk hessen – Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus« und ist jetzt wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Rechtsextremismus, Migration, Vorurteile, Diskriminierungen und Rassismus. Schmidt-Bernhardt, Angela, Dr. phil., Lehrerin, Gruppenanalytikerin (IGA Heidelberg), pädagogische Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik, Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Marburg. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: interkulturelle Pädagogik, kreatives Schreiben, gruppenanalytische Supervision und Beratung. Schnoor, Heike, Prof. Dr. phil. habil., Lehrerin, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin (DPV), Professorin für Rehabilitationspsychologie und -pädagogik sowie Beratung an der Universität Marburg. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Qualitätszirkel, psychosoziale und psychodynamische Beratung. Scholle, Jasmin, Diplom-Pädagogin, freiberuflich in der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit (Anti-Bias), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Marburg. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Anti-Bias in der Sozialpädagogik, Gender & Queer Studies, Rassismuskritik, Körper/Leib in diskriminierenden Verhältnissen. Sennekamp, Monika, Diplom-Pädagogin und Lehrerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Arbeitsbereichsleiterin am Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt am Main. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Entwicklung von Kursen sowie Schulung und Beratung von Ärzten und Studierenden im Bereich kommunikative Kompetenzen, didaktische und methodische Beratung von Lehrenden, Promotionskolleg (Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens) für Studierende. Stach, Anna, Dr. phil. habil., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bergischen Universität Wuppertal im Schwerpunkt Gender und Diversity in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Gestalttherapeutin. Arbeitsschwerpunkte:

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462676 — ISBN E-Book: 9783647462677

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Die Autorinnen und Autoren

Geschlechtersozialisation, Beratung, tiefenhermeneutische Medienanalyse, soziale Bewegungen, Bildungsgleichheit. Suschek, Margarete, Dr. phil., Ass. Jur., Diplom-Pädagogin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Praktikumsbeauftragte im Masterstudiengang Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Schwerpunkt Sozialpädagogik, Recht in der Sozialen Arbeit, Ethik, Theorien der Sozialen Arbeit, psychosoziale und soziale Beratung. Thiele, Burkard, Dr. phil., Diplom-Pädagoge, Diplom-Soziologe, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Klinischer Hypnotherapeut (DGH), Systemischer Therapeut (DGSF, SG), Verhaltenstherapeut (DGVT). Freiberuflich tätig in eigener Praxis als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und als gerichtlicher Sachverständiger bei der Erstellung familienpsychologischer Gutachten. Tillmann, Carolin, Diplom-Pädagogin, Heilpädagogin, Erzieherin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Marburg. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Disability Studies, Krankheit und Behinderung. Trilling, Angelika, Diplom-Pädagogin, Altenhilfeplanung bei der Stadt Kassel, Publikationen zu den Bereichen Beratung, Sozialplanung, Pflege und Biografiearbeit. Wißmach, Stefan, Diplom-Pädagoge, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Marburg, Arbeitsbereich Sozial- und Rehabilitationspädagogik. Arbeitsschwerpunkte: stationäre Erziehungshilfen, universitäre Weiterbildung.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462676 — ISBN E-Book: 9783647462677