Im Archipel GUPVI: Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956 9783205159797, 3486561197, 3702903992, 9783205780151

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Im Archipel GUPVI: Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956
 9783205159797, 3486561197, 3702903992, 9783205780151

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Karner • Im Archipel GUPYI

Kriegsfolgen-Forschung Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-lnstituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz-Wien Herausgegeben von Stefan Karner Band 1

Stefan Rarner

Im Archipel GUPVI Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956

1995 R. Oldenbourg Verlag Wien München

Meinen wissenschaftlichen Mitarbeitern am L. Boltzmann-Institut für KriegsfolgenForschung: Edda Engelke, Gertrud Rerschbaumer, Herbert Killian, Harald Knoll, Barbara Marx, Josef May, Irene Sajer, Ernst Trümmer, Alexander Zavorotnii, alle Graz - Wien, Alexander Malinkin und Nikita Petrov, beide Moskau, sei für ihre Unterstützung bei der Abfassung des Bandes ganz besonders gedankt. Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Karner, Stefan: Im Archipel GUPVI : Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956 / Stefan Karner. - Wien ; München : Oldenbourg, 1995 (Kriegsfolgen-Forschung) ISBN 3-486-56119-7 (München) ISBN 3-7029-0399-2 (Wien)

© 1995. R. Oldenbourg Verlag Wien. Alle Rechte vorbehalten. Umschlaggestaltung: Katharina Uschan, Umschlagabbildung: CChlDR Herstellung: Druckhaus Grasl, A-2540 Bad Vöslau ISBN 3-7029-0399-2 R. Oldenbourg Verlag Wien ISBN 3-486-56119-7 R. Oldenbourg Verlag München

INHALT VORWORT EINLEITUNG 1. DIE GEFANGENEN DES ARCHIPEL GUPVI Kriegsgefangene Die Rosaken als Teil der nach 1945 repatriierten Sowjetbürger „Mobilisierte und internierte Deutsche" Zivilverschleppte Der Transport in den Archipel 2. IM ARCHIPEL GUPVI Das System der GUPVI in den ersten Kriegsjahren Millionen für den Archipel: Die GUPVI ab 1944 Die Arbeitssonderbataillone Die Arbeitsbataillone Die GUPVI nach dem Krieg Leben im Lager Hunger, Krankheit, Tod Politische Umerziehung: ,/intifa", „Nationalkomitee Freies Deutschland" „Lagerkultur" Arbeit für den Wiederaufbau der Sowjetunion Die Arbeitsnorm Arbeit als Druckmittel der Kriegsgefangenen Korrektur des „Feindbildes" Zur Sowjet-Justiz gegen Kriegsgefangene und Zivilisten Die Sonderkommission Kriegsverbrecherprozesse Gefängnisse und GULAG-Lager Verbleib in Rußland

7 9 11 14 20 25 31 38 55 57 63 71 75 76 86 86 . 94 104 136 155 157 159 170 170 171 176 178

3. „SKORO DOMOJ" Zur Rückführung aus der Sowjetunion Die Repatriierung der österreichischen Kriegsgefangenen Die Repatriierung der deutschen Kriegsgefangenen Die großen Heimkehrerlager Wieder Zeit zu leben

187 191 195 201 205 210

ZUSAMMENFASSUNG UND BILANZ ANMERKUNGEN QUELLEN LITERATUR ABKÜRZUNGEN REGISTER

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VORWORT

Dieses Buch ist ein erstes Ergebnis meiner bisherigen Forschungen zur Kriegsgefangenschaft in der ehemaligen Sowjetunion in und nach dem Zweiten Weltkrieg, auf wesentlicher Grundlage von Quellen aus sowjetischen Archiven. Die Forschungen in den sowjetischen Archiven waren mir im Zuge der behutsamen Öffnung des staatlichen Archivfonds (GAF) 1990 ermöglicht worden. Inhalt des Buches ist eine Darstellung der Kriegsgefangenschaft von Deutschen und Österreichern in der Sowjetunion zwischen 1941 und 1956 in einigen wesentlichen Bereichen ihrer Entwicklung, insbesondere hinsichtlich des Lagersystems des Archipels GUPVI, der Arbeitsleistung der Kriegsgefangenen für die sowjetische Wirtschaft, des Lager-Alltags im Archipel, Krankheit und alltäglichem Tod, Hunger und verordneter „Lagerkultur" der Sowjet-Justiz gegen Kriegsgefangene und Zivilisten sowie der Repatriierung aus der Sowjetunion. Parallel dazu wird auch auf die z.T. zwangsweise Repatriierung von Millionen Sowjetbürgern Bezug genommen. Die Forschungen zur Kriegsgefangenschaft und Internierung sind derzeit in Österreich weiter gediehen als in Deutschland, weshalb im Buch besonders viele Österreich-Bezüge gebracht werden. Zum ersten Mal überhaupt wird der Lagerarchipel für Kriegsgefangene und Internierte, der sich mit rund 4000 Lagern und lagerähnlichen Einrichtungen über das ganze Land erstreckte, beim NKVD in Moskau seine Zentrale hatte und in dem etwa vier Millionen Menschen verzeichnet worden waren, vorgestellt. Zum ersten Mal können mit sowjetischen Dokumenten Blitzlichter auf das weitere Schicksal der von den Briten an die Sowjets übergebenen Kosaken geworfen werden: Die Anlage der Prozesse gegen ihre obersten militärischen Führer, die Deportation von über 800 Frauen und Kindern der Kosaken bis nach Sibirien. Zum ersten Mal wird der Umfang der Arbeitsleistungen für die Sowjetunion meßbar: Allein für die Wertschöpfung des Nachkriegs-Fünfjahresplans dürften die Kriegsgefangenen und Internierten etwa acht Prozent erbracht haben. Noch bis 1953 wurden in der Sowjetunion Todesurteile gegen Kriegsgefangene vollstreckt. Zwischen 1942 und 1953 wurden allein in Verfahren des NKVD 262 deutsche und österreichische Kriegsgefangene wegen angelasteter Kriegsverbrechen zum Tod verurteilt und hingerichtet. Für die Unterstützung und Hilfe bei der Bearbeitung des Themas schulde ich mehrfachen Dank: Zuerst meiner Frau Ernelinde, die nicht nur von Anfang an viele Archivforschungen in Moskau mitgemacht hat, sondern - zusammen mit Herrn Mag. Harald Knoll - 1991 auch an jener Pilot-Studie mitgearbeitet hat, die mir durch die EDV-Erfassung von über 120.000 österreichischen Vermißten und Kriegsgefangenen jene Erfahrungen erbracht hat, die ein gezieltes Herangehen und eine effiziente Bearbeitung der Moskauer Archivbestände überhaupt erst ermöglicht haben. Herr Anatolij Bykov ( t ) hat mir unter persönlichem Risiko erstmals Akteneinsicht im Archiv des Moskauer Außenministeriums gewährt. Der zentralen russi7

sehen Archiwerwaltung, „Rosarchiv", Rudolf Pichoja und Vladimir Tarassov; den Direktoren der russischen Archive und ihren Mitarbeitern, vor allem Viktor Bondarev, Sergej Mironenko, Manzur Muhamedzanov und Konstantin Nikischkin sei ebenfalls gedankt. Dank schulde ich auch allen Persönlichkeiten, die mir für teilweise langwierige Gespräche und Interviews zur Verfügung gestanden sind. Den österreichischen Landeshauptmännern, der Stadt Graz und dem Österreichischen Schwarzen Kreuz, die das wissenschaftliche Projekt wesentlich gefördert haben. Der Ludwig Boltzmann-Gesellschaft (Wien), die durch die Gründung und Grundausstattung des Instituts für Kriegsfolgen-Forschung (Graz - Wien) einen modernen Forschungsakzent gesetzt und die Infrastruktur zur Durchführung des Projektes geschaffen hat. Dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung für die Vergabe der zuvor erwähnten Pilotstudie, dem Innenministerium für die zu diesem Zweck mögliche Akteneinsicht, dem Justizministerium für die infrastrukturelle Förderung der Forschungsarbeiten in Wien, der deutschen Bundesregierung, dem Innenministerium und vor allem Herrn Dr. Günther Wagenlehner, Bonn, für die Übertragung wichtiger Forschungen zu den deutschen verurteilten Kriegsgefangenen, was mir viele Einsichten in Zusammenhänge ermöglichte. Besonders gedankt sei dem Verlag Oldenbourg für die Übernahme der Arbeit in den Verlag und die hervorragende, unter großem Zeitdruck stehende Lektorats-Betreuung. Das vorliegende Buch ist der erste Band einer wissenschaftlichen Publikationsreihe, die sich - gestützt auf Dokumente aus sowjetischen Archiven - in den nächsten Jahren in erster Linie mit den Aspekten der Kriegsgefangenschaft in der ehemaligen Sowjetunion beschäftigen wird. Denn die Zeit der Gefangenschaft blieb bis heute in der Erinnerung der Zeitzeugen ein wesentlicher Lebensabschnitt: Für sie selbst wie für ihre Angehörigen, ihre Frauen, Eltern und Kinder. Eine Zeit der Ungewißheit, die bis heute in vielen Fällen nicht abgeschlossen ist und die - besonders was die Sowjetunion betrifft - noch heute von einer Aura des Geheimnisvollen, Schrecklichen umgeben ist. Im Gegensatz zum großen öffentlichen Interesse an diesem Problemkreis hat die „Kriegsgefangenschaft" als Thema in der deutschen und österreichischen Zeitgeschichtsschreibung noch keine gewichtige Behandlung gefunden. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Das Quellenproblem der alliierten Materialien, die vor allem auf die Bearbeitung der Weimarer Zeit und des Dritten Reiches abzielende Zeitgeschichtsforschung, Befürchtungen, politischen Aufrechnungstendenzen Vorschub zu leisten, außenpolitische Rücksichtnahmen auf die Besatzer, Bündnisund Vertragspartner, Befürchtungen der Relativierung von NS-Verbrechen. Mit der zunehmenden Verlagerung der zeitgeschichtlichen Forschung auf die Bearbeitung der Nachkriegsphasen erscheint eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik der Kriegsgefangenschaft, namentlich in der ehemaligen Sowjetunion, dringlich. Wegen der verbesserten Quellenlage und weil ein Verstehen und Bewerten der Entscheidungsprozesse der Nachkriegszeit über ein Kennenlernen der Entscheidungsträger erleichtert wird. Viele von ihnen waren ehemalige Soldaten der Deutschen Wehrmacht und Kriegsgefangene. Graz, 1995

Stefan Karner 8

EINLEITUNG

Über zweieinhalb Millionen Deutsche und Österreicher - Kriegsgefangene, Zivilisten, „mobilisierte und internierte ,Volks'-Deutsehe", Frauen und Männer - wurden zwischen 1941 und 1956 gefangen genommen oder in die Sowjetunion verschleppt und in Lagern, Gefängnissen oder Arbeitsbataillonen festgehalten. Ein eigens für sie eingerichteter Archipel von Lagern - von der polnischen Grenze bis nach Ostsibirien - hatte sie aufgenommen. Für viele, Zivilisten und Kriegsgefangene, endete die Gefangenschaft erst nach Jahren. Keine andere Gewahrsamsmacht behielt deutsche und österreichische Kriegsgefangene so lange wie die Sowjetunion. Dort sollten sie für die sowjetische Rüstung und Wirtschaft das wiederaufbauen, was zuvor im Krieg zerstört worden war. Etwa acht bis zehn Prozent der Leistungen des ersten sowjetischen Naehkriegs-Fünfjahresplans dürfte von ihnen erbracht worden sein. Als der internationale Druck auf die Sowjetunion zur Freilassung ihrer Kriegsgefangenen stark wurde, verurteilte der Sowjetstaat 1949 Zehntausende als Kriegsverbrecher in Militär- und Sondergerichtsverfahren zu 25 Jahren „Besserungsarbeitslager", entzog ihnen damit den Status als „Kriegsgefangene" und konnte damit auch ihre Arbeitskraft weiter nutzen. Außer Deutschen und Österreichern waren noch rund zwei Millionen andere Gefangene aus allen Ländern Europas, aus den USA, Kanada oder Brasilien, die auf der Seite der Deutschen Wehrmacht gekämpft hatten oder als Kriegsgegner eingestuft worden waren, aber auch Japaner und Angehörige von mit ihnen verbündeten Armeen, in den sowjetischen Lagern des Archipel GUPVI registriert worden. Das NKVD1 bezifferte ihre Gesamtzahl mit knapp über vier Millionen, andere sowjetische Quellen sprachen von bis zu sechs Millionen Menschen.Hier muß auf das furchtbare Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen, „Fremd- und Ostarbeiter" hingewiesen werden, die teils angeworben, zum Großteil jedoch zwangsverpflichtet, „hilfswillig" oder kriegsgefangen im Herrschaftsbereich des Deutschen Reiches zur Arbeit eingesetzt wurden. Etwa die Hälfte von ihnen überlebte die Internierung und Gefangenschaft nicht, ein weiterer Teil der wieder in die Sowjetunion Repatriierten kam zur Zwangsarbeit in den Archipel GUPVI, später in den GULAG, wo wiederum viele verstarben.'' Während das Lagersystem des Archipel GULAG - vor allem durch die zahlreichen Publikationen Solzenicyns4 - weitgehend bekannt ist, blieb die Existenz des Archipel GUPVP des sowjetischen Innenministeriums (NKVD) im dunkeln. Aus Berichten von heimgekehrten Kriegsgefangenen und Zivilisten stammen lediglich ungefähre Angaben über einzelne Lager, den Alltag darin oder deren Struktur. Selbst grundlegende Publikationen 6 kennen den Terminus „GUPVI" oder die Struktur des Archipels nicht. Erst die Öffnung der ehemals sowjetischen Archive7 ermöglicht seit 1990 einen Zugang zu den als streng geheim eingestuft gewesenen Dokumenten des NKVD, ermöglicht allmählich einen Einblick in den Archipel GUPVI, seine Ausmaße, seine Strukturen und Mechanis9

men, ermöglicht es schließlich, den Archipel GUPVI als wesentlichen Teil stalinistischer Gewaltherrschaft zu begreifen8, mit seinen rund 4000 über das ganze Land verstreuten Lagern, Spezial-Spitälern (für Kriegsgefangene und Internierte) und Arbeitsbataillonen. Im Verantwortungsbereich der GUPVI des NKVD wurden Millionen von Menschen - zum größten Teil unter eklatanten Menschenrechtsverletzungen - festgehalten, abertausende verhungerten, zahllose erfroren oder wurden bereits auf dem Marsch und dem Transport in die Lager erschossen. Das vorliegende Buch versucht zum ersten Mal, auf der Basis von bislang nicht zugänglichen sowjetischen Dokumenten, einen kleinen Einblick in den Archipel GUPVI, das neben dem GULAG9 zweite Lagersystem des sowjetischen Innenministeriums, zu geben sowie die Kriegsgefangenschaft und Internierung von Deutschen und Österreichern in der Sowjetunion zu behandeln. Viele Themen müssen noch ausgeklammert werden, weil die Archive die Dokumente dazu noch nicht freigeben, viele andere Aspekte können in der hier gebotenen Kürze nicht dargestellt werden. Trotzdem versucht der Band, die 1995 ausgestrahlte Fernsehdokumentation des ORF vertiefend zu begleiten. Mit den wesentlichen Bereichen der Kriegsgefangenschaft in der ehemaligen Sowjetunion werden sich umfassend und detailliert die folgenden Bände der Buchreihe „Kriegsfolgen-Forschung" beschäftigen. Als unmittelbar nächste Bände sind Darstellungen zu folgenden Themen geplant: Die Lager der Kriegsgefangenen, die sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand, ihre Repatriierung und weiteres Schicksal in der Sowjetunion sowie die Kriegsgefangenen und Internierten in den Sondermappen Stalins, Molotovs und Berijas.

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1. DIE GEFANGENEN DES ARCHIPEL GUPVI

Die Gefangennahme, die Verhaftung oder das Aufgegriffen-Werden durch Soldaten der Roten Armee oder sowjetische Sondereinheiten, wie der SMERS10, war für jeden Soldaten und Zivilisten schicksalhaft für sein weiteres Überleben. Zu viele Einflüsse bestimmten das Verhalten derer, in deren Händen der Gefangene nun war: War der Soldat allein, in einer kleinen Gruppe oder in einem größeren Verband gefangen genommen worden? Nach einem harten und längeren Gefecht mit zahlreichen Opfern? Früh am Tag oder schon bei Einbruch der Dunkelheit? Wie weit und wie gefährlich für einen Gefangenen-Abtransport waren die Verbindungswege nach hinten, zur nächstgrößeren Einheit, zum Sammelplatz für Kriegsgefangene? War Order ausgegeben worden, an diesem Tag keine Gefangenen zu machen? Hatte der Gegner gerade einen Kameraden verloren, und war dadurch sein Haß auf den Gefangenen gestiegen?" Wie sah die Lebensmittelversorgung der kämpfenden Truppe aus? War der Gefangene verwundet, erschöpft? Wie groß war sein Überlebenswille? Die ideologische Kriegführung im Osten führte, zusammen mit dem von der NS-Propaganda entworfenen „Russenbild", zu großer Furcht vor der sowjetischen Gefangenschaft. Hitler hatte schon im März 1941 vor über 200 höheren Offizieren der Wehrmacht als ein Ziel des Krieges gegen die Sowjetunion die „Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz" und die Behandlung der GPUIJ -Mitarbeiter und Kommissare als „Verbrecher" deklariert: „[...] Im Osten sei Härte mild für die Zukunft." Demgemäß setzte man sich in Befehlen an die Truppe auch über geltendes Kriegsrecht und überlieferte Moral hinweg. Bekannt wurde etwa der „Kommissarbefehl" vom 6. Juni 1941'% der die Truppe anwies, die politischen Kommissare der Roten Armee, von denen man sich die stärkste Gegnerschaft erwartete, „wenn im Kampf oder bei Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen [...]". So entstünden, wie es in einem Befehl des Armeeoberkommandos 6 vom 10. Oktober 1941 hieß, „auch für die Truppe Aufgaben, die über das hergebrachte einseitige Soldatentum hinausgehen. Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee [...]•"" In der konkreten Sprache der „Mitteilungen an die Truppe" hieß es dazu etwa 1942: „Was Bolschewiken sind, das weiß jeder, der einmal einen Blick in das Gesicht eines der Roten Kommissare geworfen hat [...] Es hieße die Tiere beleidigen, wollte man die Züge dieser zu einem hohen Prozentsatz jüdischen Menschenschinder tierisch nennen. Sie sind die Verkörperung des Infernalischen, Person gewordener wahnsinniger Haß gegen alles edle Menschentum. Damit war auch das „Russenbild" eines Teiles der deutschen und österreichischen Soldaten bei der Gefangennahme geprägt von der NS-Propaganda vom „Untermenschen". 16 Dazu kamen von der NS-Propaganda verbreitete Meldun-

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Abb. 1.14. Streng geheimes Telegramm des Kommandanten des Lagers 127 im Gebiet Saratov, Obstlt. Dmitriev, an das NKVD-GUPVI in Moskau vom 4. Mai 1943. Es zeigt ungeschminkt die horrenden Todesraten unter den Kriegsgefangenen in der Frühphase der Lager. So verstarben aus einem auf drei Transporte verteilten Kontingent von insgesamt 8007 Gefangenen bereits 1526 während ihrer Verlegung ins Lager. Weitere 4663 starben in den folgenden sechs Wochen im Lager selbst. Todesursachen: Dystrophie 4326 Mann, Flecktyphus 54 Mann, Erfrierungen 162 Mann, Verwundungen 23 Mann, sonstige Ursachen 98 Mann. Quelle: CChlDK. 41

sollten mit Liegepritschen, Öfen, Toiletten und Eimern für das Trinkwasser ausgestattet sein. In die FPPL-Lager121 sollte Bekleidung für die Transportfähigen gebracht werden.122 Für die meisten Gefangenen blieb die Durchführung der geforderten Maßnahmen Utopie. Zu weit klafften Anordnungen und Realität auseinander. Obwohl die Kriegsgefangenen in den ersten Wochen nach ihrer Gefangennahme während der Fußmärsche und Transporte im Frontlager-Netz schon im Bereich des Archipel GUPVI waren und vom NRVD „betreut" wurden, hatten sie den Archipel eigentlich noch nicht gesehen. Sie waren erst am Eingang in ein System von tausenden Lagern, Spitälern und Arbeitsbataillonen, das jahrzehntelang offiziell gar nicht existierte. Die Kenntnis von den Lagern für Kriegsgefangene, ausländische Internierte und für eigene Soldaten, die zuvor in deutsche Kriegsgefangenschaft gekommen waren, sollte „für ewig" auf jene wenigen beschränkt bleiben, die selbst im Archipel mitgearbeitet hatten, oder auf jene, die in den Geheimarchiven die papierenen Zeugnisse des Lebens und Leidens in den Lagern aufbewahrten. Über drei Millionen Schicksale des Archipels GUPVI wurden in Personal- und Strafprozeßakten, in Lagerdokumenten und in Ukaz-Sammlungen der Herrschaftsorgane Stalins und Berijas dokumentiert.

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Abb. 1.15. Als Partisanen verdächtigte sowjetische Zivilisten müssen vor ihrer Erschießung den Inhalt ihrer Taschen vorlegen (Kisinev, 16./17. Juli 1941). Foto: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz.

Abb. 1.16. Für sie ist der Krieg zu Ende. Vor ihnen liegt der ungewisse Weg in die sowjetische Kriegsgefangenschaft. Foto: Süddeutscher Verlag.

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Abb. 1.17. Während ab 1945 die ersten Kriegsgefangenen aus sowjetischer Hand entlassen wurden, floß ein „Strom" von über fünf Millionen Sowjetbürgern, aber auch ehemaligen Emigranten und Staatenlosen, in die andere Richtung. Gemäß den Beschlüssen von Jalta waren die Westalliierten den Sowjets behilflich, auch ehemalige Sowjetbürger, die sich einer Repatriierung in die UdSSR widersetzten, „heimzuholen". Betroffen waren in erster Linie „Ostarbeiter" sowie sowjetische Kriegsgefangene und Zivilisten, aus nahezu allen Staaten Europas und aus Übersee, die während des Krieges zum Arbeitseinsatz in die vom Deutschen Reich kontrollierten Gebiete verschleppt worden waren. Sowjetische Kriegsgefangene wurden nach ihrer Rückkehr vielfach strafrechtlich verfolgt. Einheiten, die auf Seiten der Deutschen Wehrmacht gekämpft hatten, wie Kosaken und Vlassov-Truppen, wurden, soweit sie die Übergaben und die Transporte überhaupt überlebten, in der Sowjetunion als Kollaborateure und Kriegsverbrecher verurteilt und ihre Familien in GULAG-Lager verbracht. Karte zum Stand 1.1. 1946: GARF.

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Abb. 1.18. Im Sammellager „Stettin" in der französischen Besatzungszone Westdeutschlands hatten die Sowjets am 9. Mai 1945 eine Feier zum Sieg über Hitler-Deutschland organisiert. Zur raschen Zusammenfassung der zu repatriierenden Sowjetbürger wurden mit westalliierter Hilfe auch in den Westzonen eigene Sammelpunkte für die Zusammenstellung der Transporte in die Sowjetunion eingerichtet. Die Repatrianten passierten dabei teilweise jene Grenzlager, die einige Jahre später auch den Kriegsgefangenen als Entlassungslager dienten: Marmaros Sziget, Focsani, Lemberg/L'vov, Frankfurt an der Oder. Foto: GARF.

Abb. 1.19. Spital in Hemer, Westdeutschland. Der russische Original-Bildtext spricht der Realität Hohn: „Hier werden hunderte Sowjetbürger, die aus den faschistischen Konzentrationslagern befreit wurden, medizinisch versorgt. Im Park stehen Vitrinen mit sowjetischen Zeitungen sowie Landkarten mit den jeweiligen Frontverläufen. Bei einem Besuch im Spital erklärt ein sowjetischer Offizier den Patienten anhand der Landkarte die politische Lage." In Wirklichkeit wurden alle Sowjetbürger, die aus irgendeinem Grund oder völlig unschuldig, wenn auch nur für kurze Zeit, in die Hände westlicher Armeen oder gar unter deutsche Aufsicht geraten waren, von den Sowjets wie Vaterlandsverräter behandelt. Von den sowjetischen Kriegsgefangenen der Finnen, über die von den NS-Besatzern zwangsverpflichteten „Ostarbeiter" bis zu den aus NS-Konzentrationslagern als Antifaschisten befreiten russischen Kommunisten. Soldaten der Roten Armee trugen bei ihrer Gefangennahme nicht selten die entsprechenden Befehle Stalins bei sich. Noch heute führt ein russisches Geheimarchiv penibel die umfangreiche Kartei der wichtigsten, in der Sowjetunion seinerzeit als „Vaterlandsverräter" zu beobachtenden und zu verfolgenden Personen. Foto: GARF.

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Abb. 1.20. Propagandaveranstaltung in einem Repatriierungs-Lager für Sowjetbürger. Im Hintergrund rechts ein Plakat mit der zynischen Aufschrift: „Die Bürger der UdSSR haben ein Recht auf Erholung!" In Wirklichkeit wurden, nach seriösen Schätzungen, von den über 5 Millionen repatriierten Sowjetbürgern 20 Prozent zum Tode oder zum de facto langsamen Tod in 25-jähriger Lagerhaft verurteilt. 15 bis 20 Prozent bestrafte man mit 5 bis 10 Jahren Haft und Zwangsarbeit, 10 Prozent kamen für mehr als 6 Jahre in die äußersten und unwirtlichsten Gebiete Sibiriens, 15 Prozent verschickte man zur Zwangsarbeit in die Schwerindustriegebiete; sie durften auch nach Ablauf ihrer Strafzeiten nicht in ihre Heimat zurückkehren. 15 bis 20 Prozent durften heimkehren, fanden jedoch kaum Arbeit, weil sie nicht als Arbeitskräfte registriert worden waren. Das Schicksal der restlichen 15 bis 20 Prozent ist unklar. Foto: GARF.

Abb. 1.21. Registrierung von Sowjetbürgern in einem Sammellager in Frankreich durch die Hauptverwaltung für Spionageabwehr des Volkskommissariats für Verteidigung, SMERS. Das Akronym bedeutet „Tod den Spionen". Bei der Aufspürung und Zusammentreibung der zu repatriierenden Sowjetbürger spielte die Repatriierungskommission des Außenministeriums unter Golikov und Golubev nur eine vorgeschobene Rolle. Die eigentliche Arbeit und Organisation besorgten die SMERS (bzw. ab 1946 die Hauptabteilung für Gegenspionage GUKR) für jene, die sich im Ausland befanden, und das NKGß für jene, die innerhalb der sowjetischen Grenzen aufgegriffen wurden. Foto: GARF.

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Abb. 1.22. Auslieferung der Vlassov-Truppen in Judenburg an die Rote Armee. Foto: Museumsverein Judenburg.

Abb. 1.23. Übergabe einer berittenen Kosakenabteilung auf der Thalbrücke in Judenburg durch die britische Besatzungsmacht an die Sowjets. Foto: Museumsverein Judenburg.

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Abb. 1.24. Mitarbeiter der Auslandsabteilung der sowjetischen Repatriierungskommission zur Rückholung der Sowjetbürger. Sie unterstand dem sowjetischen Außenministerium und hatte kaum Befugnisse. Ihre Mitglieder waren Geheimpolizisten, die zur SMEFS gehörten, ihre Leiter, Generaloberst Filipp Golikov und General K. D. Golubev, waren innerhalb der Roten Armee als feige und unfähig bekannt und desavouiert. Möglicherweise zeigt sich gerade bei der Auswahl dieser beiden Generale der sadistische Feinsinn Stalins: die Repatrianten, denen Feigheit als Schuld angelastet worden war, in die Hände der von Stalin zu den feigsten und unfähigsten gezählten hohen Offiziere der Armee zu geben. Foto: GARF.

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Abb. 1.25. Russische Zivilistinnen, auch sie auf dem Transport ins Lager. Foto: Pfennig.

Abb. 1.26. Das NS-Konzentrationslager Buchenwald wurde nach der Befreiung durch die Rote Armee von den Sowjets in ein Speziallager für Regimegegner und Nationalsozialisten umfunktioniert. Nach Kriegsende durchliefen rund 32.000 Internierte das Lager, von denen mindestens 2100 in die UdSSR verschleppt wurden. Buchenwald war eines der insgesamt elf Speziallager in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ). Foto: Gedenkstätte Buchenwald.

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Abb. 1.27. Karl Fischer wurde 1947 von den Sowjets in Linz verhaftet und als Trotzkist zu 15-jähriger Zwangsarbeit in der Sowjetunion verurteilt. Während der NS-Zeit war Fischer bereits als Kommunist in NS-Konzentrationslagern interniert gewesen. Das Foto enstammt dem Personalakt des NKVD. Foto: CChlDK.

Abb. 1.28. Strafgefangene der Kolyma bei der Heuernte. Foto: Killian.

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Abb. 1.29. Strafgefangener Zivilist in Kolyma, Ostsibirien, Synonym für den sowjetischen GULAG. Hierher wurden zehntausende Sowjetbürger, aber auch tausende deutsche und österreichische Zivilisten, die von den sowjetischen Gerichten in den sowjetischen Zonen wegen verschiedenster Delikte verurteilt worden waren, verbracht. Die meisten konnten diese schwersten Haft- und Lagerbedingungen nicht überleben. Herbert Killian aus Wien war, etwa zwanzigjährig, wegen eines geringfügigen tätlichen Angriffs auf ein sowjetisches Besatzungskind zu drei Jahren Strafarbeitslager auf der Kolyma verurteilt worden. Nur mit viel Glück gelang ihm nach der Haftverbüßung die Rückreise nach Österreich im Zuge der Staatsvertragsverhandlungen. Foto: Killian.

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Abb. 1.32. Aus dem sowjetischen Personalakt von Margarethe Ottiiiinger: Order des Ministeriums für Staatssicherheit (MGB) zur Einweisung Ottiiiingers in das Innere Gefängnis des MGB, die Lubjanka in Moskau. Foto: Rarner.

Abb. 1.31. Die Zonengrenze an der Enns bei St. Valentin. Hier wurde Ottiiiinger verhaftet. Foto: Gemeindeamt St. Valentin/Matha.

Abb. 1.33. Dr. Margarethe Ottiiiinger, 1948 in Gegenwart von Minister Krauland auf der Ennsbrücke bei St. Valentin von der sowjetischen Spionageabwehr verhaftet, wurde nach monatelangen Verhören in Baden bei Wien zu 25 Jahren Strafarbeitslager verurteilt und in die Sowjetunion verbracht. Margarethe Ottiiiinger leitete bis zu ihrer Verhaftung die zentrale Planungssektion des Ministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, einer Schaltstelle der österreichischen Nachkriegswirtschaft. Sie war federführend an der Erstellung der österreichischen Rohstoff-, Stahl- und Energiepläne beteiligt, den Lenkungsinstrumentarien zur Überleitung der Wirtschaft von kriegs- auf marktwirtschaftliche Erfordernisse. In diesem Zusammenhang war Ottiiiinger auch mit den Planungen für den Marshall-Plan und die Bewertung der Betriebe des sowjetischen Vermögens in Österreich betraut. Das Foto wurde unmittelbar nach ihrer Verhaftung 1948 aufgenommen. Foto: CChlDK.

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Abb. 1.34. Knapp 200 von über 30.000 Gefangenen der Kämpfe am Volchov. Aus dieser Zeit sind die ersten Überläufe bei den Sowjets registriert worden. Quelle: F. Husemann, Die guten Glaubens waren, Osnabrück: Munin Verlag, 1971.

Abb. 1.35. Kriegsgefangenen-Zug durch die Straßen von Kazan'. Foto: Pfennig.

Abb. 1.36. Die Zivilbevölkerung interessiert sich für die Kriegsgefangenen aus der Fremde. Foto: Pfennig.

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2. IM ARCHIPEL GUPYI

Der Archipel GUPVI, die „Hauptverwaltung für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten", breitete sich zwischen 1939 und 1953 über die gesamte Sowjetunion, von den ersten Lagern hinter den Fronten in Mitteleuropa bis nach Sachalin und in die Goldgruben von Jakutien aus und umfaßte etwa 5000 Teillager, Spitäler und Arbeitsbataillone. Im Archipel GUPVI wurden Daten und Dokumente zu Schicksalen von über vier Millionen Kriegsgefangenen und Internierten aufbewahrt. Ein großer Teil wurde unter eklatanten Menschenrechtsverletzungen festgehalten, Hunderttausende überlebten nicht, weil sie verhungerten, erfroren, an Seuchen und Schwäche verstarben, zum Tod verurteilt wurden oder auf der Flucht aus dem Archipel umkamen. Die Errichtung der GUPVI als Zentrale für die Verwaltung des Archipels der Kriegsgefangenen und Internierten geht auf die Zeit unmittelbar nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zurück. Nur zwei Tage nach dem sowjetischen Einmarsch in Polen, am 19. September 1939, hatte Lavrentij P. Berija, als Volkskommissar des Inneren, mit Geheimbefehl 0308 die „Organisation von Kriegsgefangenenlagern" angeordnet12"' und die generellen Richtlinien für eine übergeordnete Verwaltung (UPVI) festgelegt: Als erstes unterstellte er die UPVI dem NKVD. Durch diese Maßnahme verfügte das sowjetische Innenministerium neben dem GULAG'-' nun über einen zweiten Archipel von Lagern. Das NKVD führte damit auch die operativ-geheimpolizeiliche Arbeit im Archipel der UPVILager durch, übernahm deren Finanzierung, Versorgung und Bewachung, um die sich vor allem Berijas Stellvertreter Cernysev und Maslennikov zu kümmern hatten. Den NKVD-Gebietsleitern, der ersten acht einzurichtenden Lager des Archipels wurde befohlen, die Lager gemeinsam mit dem Mobilisierungs-Plan des GULAG (Abteilung „Besserungsarbeits-Kolonien") aufzubauen, die personelle Ausstattung der Lager zu garantieren und zur Hilfestellung beim Aufbau der Lager in einzelne Gebiete „erfahrene" GULAG-Mitarbeiter abzukommandieren. Die ersten Lager des Archipels wurden vor allem in ehemaligen Klöstern und auf dem Areal von NKVD-Lagern und -Heimen aufgestellt. Zu ihnen zählten „Ostaskov" am Seliger-See für 10.000, „Kozel'sk" südlich von Moskau für 7000 bis 10.000, „Starobel'sk", nördlich von Vorosilovgrad für 5000 bis 8000 Gefangene und Oranki bei Niznyj Novgorod für 2000 bis 4000 Offiziere. Später, besonders 1944/45, mußten die Kriegsgefangenen zahlreiche Lager oder lagerähnliche Einrichtungen unter schwierigsten Bedingungen - mitten in der Halbwüste, in Dauerfrostböden, in Sumpfgebieten - und ohne vorhandene Basis-Infrastruktur selbst errichten. Angesichts der rund 230.000 von den Sowjets gefangenen Polen, Weißrussen und Balten1-'1, hatte Berija im September 1939 größten Zeitdruck: Binnen zwei Tagen mußte sein Stellvertreter Sergej N. Kruglov den Personal-Apparat der Verwaltung des Archipel der UPVI zusammenstellen. Petr K. Soprunenko, Major der

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Staatssicherheit 126 , wurde der erste Leiter der UPVI, die Gehälter der Lagerleiter und Mitarbeiter wurden im wesentlichen denen des GULAG-Apparates angeglichen.127 Von den polnischen und weißrussischen Kriegsgefangenen des Jahres 1939 sollen bis 1941 nur etwa 82.000 überlebt haben. Zu den ersten Toten aus dem Archipel GUPVI gehörten auch jene polnischen Offiziere und Intellektuellen, die 1940 in Katyn' vom NKVD erschossen wurden. In verschiedenen Transporten hatte man sie u. a. aus Starobel'sk, Ostaskov und Kozel'sk nach Katyn' gebracht und durch Genickschüsse ermordet. 128 Aufgabe der UPVI war es generell, die Kriegsgefangenen und Internierten im vorgeschobenen Frontlager-Netz zu erfassen, dem Inneren des Archipels zuzuführen, sie zu registrieren, ihre Mindestversorgung nach den vorgesehenen Normen des NKVD zu gewährleisten, sie physisch und politisch auszuwählen und zur Arbeit heranzuziehen. Die politische Umerziehung in der „Antifa" begann, besonders gegenüber den deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen, erst später. Zur effizienteren Unterbringung der Kriegsgefangenen wurden innerhalb der UPVI außer der Personal- und der politischen Abteilung noch vier weitere Abteilungen (1: Lagerregime und Bewachung, 2: Standesführung, 3: Versorgung, 4: Sanität) gebildet.129 Diese Struktur diente vor allem der Erfassung der polnischen, später der finnischen Kriegsgefangenen und blieb im wesentlichen bis zum Juni 1941 bestehen, wenngleich vier Kriegsgefangenen-Lager zwischenzeitlich verlegt worden waren.130 In den ersten Monaten des Jahres 1941, als die Deutsche Wehrmacht tief in sowjetisches Gebiet vordrang, herrschte innerhalb des UPVI-Systems völliges Chaos. Die Kriegsgefangenenlager des Archipels, von der Deutschen Wehrmacht binnen Wochen überrannt, wurden entweder aufgelöst oder verlagert. Gegen Ende 1941 existierten nur noch drei Lager mit einer angegebenen Aufnahmekapazität von 8000 bis 9000 Kriegsgefangenen. 131 In dieser Phase des raschen Vormarsches der deutschen Truppen gegen Moskau, Leningrad und den Donbas führte die UPVI ein Schattendasein: Die geheimdienstliche und geheimpolizeiliche Arbeit wurde der 2. Verwaltung des NKVD (Gegenspionage) übertragen, ein Politapparat zur politischen Arbeit in den Lagern fehlte gänzlich, die Versorgung der Lager selbst hatte der GULAG übernommen. Der gesamte zentrale Stab der GUPVI zählte nicht mehr als 39 Mitarbeiter. Darüber hinaus erfuhr der Archipel eine personelle Umbesetzung, da im Juni 1941 von der NKVD-Zentrale nunmehr Sergej N. Kruglov zum Aufseher über die Arbeit der UPVI bestellt wurde. Ihm folgte schon einen Monat später Ivan A. Serov, stellvertretender Volkskommissar für Inneres, nach.132 Petr K. Soprunenko blieb formell bis auf weiteres Chef der UPVI. Daran änderte auch der Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 20. Juli 1941 über die Vereinigung des NKVD und des NKGB (Volkskommissariat für Staatssicherheit) in ein Volkskommissariat: NKVD der UdSSR, nichts.133

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Das System der GUPVI in den ersten Kriegsjahren Eine entscheidende Wende erfuhr die Organisation des Archipels erst mit dem streng geheimen 1069. GOKO-Beschluß vom 27. Dezember 19411"'4, der die Integration von 26 Lagern von „besonderer Bedeutung" (Spezial-Lager) vorsah. Durch den vor Moskau ins Stocken geratenen deutschen Vormarsch war es der Roten Armee im Spätherbst nämlich gelungen, tausende ehemaliger Rotarmisten, die von der Deutschen Wehrmacht gefangen gehalten wurden oder zu ihr übergelaufen waren, zu rekrutieren. Die geheimdienstliche Überprüfung, Filtration und spätere Verurteilung der meist als Deserteure, Spione und Vaterlandsverräter bezeichneten Sowjetbürger nach dem Strafgesetzbuch der RSFSR1" (Artikel 58/1 b) brachte sie bis zum Juli 1944 in die Spezial-Lager des Archipel UPVI:"6 „Wir kennen keine Gefangenen, wir kennen nur Vaterlandsverräter", wird Stalin in diesem Zusammenhang immer wieder zitiert. Im Herbst und Winter 1941/42 gerieten auch die ersten Angehörigen der Deutschen Wehrmacht am Volchov, vor Moskau und im Süden Rußlands in Kriegsgefangenschaft. „Die Armee muß sich nun nicht mehr ungeordnet zurückziehen. [...] Fast täglich machen wir Gefangene, dabei ist die Tatsache erfreulich, daß wir den kläglichen Anblick des deutschen Soldaten mit eigenen Augen sehen können - schlecht gekleidet, oft hungrig, verlaust, dreckig, oft moralisch am Ende" 1 ", schrieb dazu am 8. November 1941 der Befehlshaber der 43. Armee, Generalmajor K. D. Golubev, an das GORO. Die ersten Erfolge der sowjetischen Armeen an der Voronez-, der Südwestund der Don-Front im Herbst 1942 führten zu einem weiteren Zufluß von Kriegsgefangenen der Deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten (etwa 30 Nationalitäten) in den nun sehr bald überbelegten Archipel. Die Neuerrichtungen von Lagern konnten mit dem Bedarf nicht Schritt halten. Hatte es zu Jahresbeginn 1942 nur sechs Kriegsgefangenenlager gegeben, so stieg ihre Zahl binnen eines Jahres auf dreißig, die Zahl der Aufnahmelager an der Front auf 44 an.™ Der Archipel UPVI bestand bis Jahresmitte 1942 aus zwei Hauptteilen und zwar - aus dem Frontlager-Netz (den Aufnahmepunkten für Kriegsgefangene, PPV) - und aus Lagern im Hinterland, die ihrerseits in Lager für Kriegsgefangene und Internierte und in Lager für die ehemaligen Rotarmisten unterteilt waren. Ab dem Sommer 1942 kamen zum Frontlager-Netz des Archipel noch die Front-Aufnahme-Durchgangslager (FPPL) hinzu, die ein Zwischenglied zwischen den ersten Aufnahmepunkten (PPV) und den stationären Lagern waren. Außerdem dienten sie der Überwachung und Leitung des Frontlager-Netzes.1"'9 In den FPPL, auch Verteilungslager (lageri razpredeliteli) genannt, wurden die Kriegsgefangenen und ehemaligen Rotarmisten ausgemustert und in die stationären Lager im Inneren des Archipel weitertransportiert. Ein deutliches Signal für die Ausbreitung und Maßnahmen zur Effizienzsteigerung des Archipels GUPVI war der NKVD-Befehl"0 vom 3. August 1942 zur UPVI-Verwaltung. Darin wurden die Aufgaben der UPVI-Verwaltung für die fest57

gehaltenen Kriegsgefangenen, Internierten und für die als „Spezialkontingent" zusammengefaßten Sowjets, die bereits in deutscher Gefangenschaft gewesen waren oder der Wehrmacht Hilfsdienste geleistet hatten, festgelegt: - Die Ausarbeitung der Mobilisierungspläne für die Bereitstellung der Aufnahmepunkte und Lager für Kriegsgefangene, Internierte und ehemalige Angehörige der Roten Armee, die in der Gefangenschaft und in der Umzingelung des Feindes waren; - die Organisierung der Aufnahme, Aufteilung nach den Lagern und Registrierung; - die Organisierung des Lager-Regimes und der Bewachung in den Lagern und Aufnahmepunkten sowie die Herausgabe der Instruktionen und Regelungen, die die Unterbringung bestimmen; - die Organisierung des Arbeitseinsatzes; - die Leitung der politischen Arbeit unter den Lagerinsassen; - die Organisierung der Versorgung und der medizinisch-sanitären Angelegenheit sowie der Alltagsbedürfnisse; - die Vorbereitung und Durchführung des Kriegsgefangenen- und Interniertenaustausches und ihre Repatriierung am Ende des Krieges in ihre Heimatländer und schließlich - die Übergabe des überprüften Spezialkontingents an das Volkskommissariat für Verteidigung (NKO). Im Laufe des Jahres 1942 hatte man, entsprechend dem gestiegenen Kriegsgefangenen-Arbeitskräfte-Angebot der UPVI, zusätzlich zu den Verwaltungsabteilungen noch eine Produktionsabteilung eingerichtet (siehe das Kapitel „Die Arbeitsnorm"). Sie sollte die Arbeitsleistung der Kriegsgefangenen für die Sowjetunion regeln und überwachen. Fast gleichzeitig inszenierte man unter den Kriegsgefangenen eine stärkere geheimdienstliche Tätigkeit. Die vor Jahresende 1942 gegründete „Operative"-Abteilung der UPVI (später „operativcekistische" Abteilung) hatte für die einzelnen gefangenen Nationalitäten eigene Unterabteilungen:141 die erste für die „Deutschen" (inklusive der Österreicher, Südtiroler und [„Volks"]Deutschen), die zweite für die Rumänen, die dritte für die Italiener, die vierte für die Ungarn, die fünfte für die Finnen und anderen Nationalitäten. Mit der entscheidenden Wende des Krieges in Stalingrad und dem sukzessiven Rückzug der Deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten 1943 nahm die Zahl der aktenmäßig feststellbaren Kriegsgefangenen rapide zu, obwohl etwa die Hälfte der Kriegsgefangenen in den stationären Lagern gar nicht mehr registriert werden konnte:142 Sie waren zwischen ihrer Gefangennahme und der Registrierung im stationären Lager, also noch im Eingangsbereich des Archipel GUPVI, ums Leben gekommen, verhungert, erfroren, total erschöpft, schwerst verwundet oder weil die entsprechende kämpfende Einheit der Roten Armee keine Gefangenen machte, kurzerhand erschossen worden. Die meisten der etwa 91.000 Gefangenen aus dem Kessel von Stalingrad litten an Dystrophie, also an Hunger und körperlicher Auszehrung. Ursache dafür war, daß die eingekesselte 6. Armee in den letzten Wochen der Schlacht kaum noch verpflegt worden war.143 Schon am 1. Dezember 1942 „wurde die Zuteilung [von Brot, Anm. d. V.] auf 300 Gramm gesenkt, später betrug die Ration 58

IffFUNG STALiNGKAD Abb. 2.1. M a d o n n a von Stalingrad, g e z e i c h n e t vom T h e o l o g e n und Arzt Dr. Kurt R e u b e r im Kessel von Stalingrad. Am Heiligen Abend 1942 v e r s a m m e l t e n sich Soldaten in Stalingrad vor d i e s e r Mutter mit dem Kind, um zu b e t e n . R e u b e r starb a m 2 0 . J ä n n e r 1944 in s o w j e t i s c h e r G e f a n g e n s c h a f t . Quelle: H. Schröter, Stalingrad ... bis zur letzten Patrone, Klagenfurt: N e u e r Kaiser Verlag, 1992.

200 Gramm, das heißt eine dicke, beziehungsweise zwei dünne Seheiben Brot täglich. [...] Gleichzeitig berichteten allerdings andere Stalingrader, sie hätten bereits ab Mitte Dezember 1942 nur noch 50 oder 100 Gramm Brot erhalten."" 4 Im Brief eines Stalingrad-Kämpfers vom 31. Dezember 1942 hieß es: „Seit vier Tagen habe ich schon kein Brot mehr zu essen und lebe nur von dem Schlag Mittagssuppe. Morgens und abends einen Schluck Kaffee, und alle zwei Tage 100 Gramm Büchsenfleisch oder eine halbe Büchse Ölsardinen oder, etwas Tubenkäse. - Hunger, Hunger, Hunger, und dann Läuse und Schmutz.""'' Weil der Archipel auf einen solchen Zufluß von Kriegsgefangenen unvorbereitet war, wurden die Kriegsgefangenen hunderte Kilometer im Umkreis von Stalingrad umhergeführt, bis für sie in irgendeinem Lager Platz gefunden wurde. Von den rund 91.000 Überlebenden der Schlacht starben in der ersten Zeit der Gefangenschaft etwa 27.000" 6 an Hunger, Krankheiten und Verletzungen als Spätfolgen der langen Einkesselung bzw. als Besultat der widrigen Verhältnisse in den Lagern. 59

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Abb. 2.2. Russische Übersetzung eines Briefs des nach der Kapitulation seiner 6. Armee gefangenen Generalfeldmarschalls Paulus an den Militärattache der Deutschen Botschaft in Ankara, Generalleutnant Bode. Darin ersucht Paulus, ihm einige Sachen für den persönlichen Gebrauch zukommen zu lassen. So bittet Paulus etwa dringend um ein Paar bequeme, wasserundurchlässige Stiefel, Größe 46, sechs Paar Socken, einen langärmeligen Pullover und ein Handköfferchen, sowie - weniger dringend - um „ein Paar Schulterstücke - (für einen Feldmarschall)", Bangabzeichen, Feldmütze u. a. Uniformstücke. Das Ersuchen von Paulus zeugt auch von seiner Ignoranz gegenüber dem Schicksal des Restes seiner halb erfrorenen und verhungerten Armee. Über 90.000 Soldaten kamen in Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft, nur wenige tausend überlebten. Quelle: CChlDK.

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Die sowjetische Archipel-Verwaltung gab an, daß mit 25. Februar 1943 insgesamt 256.918 Kriegsgefangene registriert worden waren, von denen 199.090 als arbeitsfähig und 57.828 als krank bzw. verwundet bezeichnet wurden. In Abhängigkeit von ihrem Gesundheitszustand und militärischen Rang wurden die Kriegsgefangenen auf die verschiedenen Lager aufgeteilt, wobei die Offiziere bevorzugt in den Lagern in Oransk, Elabuga und Suzdal' untergebracht wurden: Das Lager Oranki war für 3098 die Offiziere vorbereitet, Elabuga für 2000, Suzdal' für 1381. Suzdal' hatte eine Reserve für 450 Mann, zusätzlich bot noch Grjazovec ein Reservelager für 2000 Mann an. Gleichzeitig wurde versucht, die Kriegsgefangenen, besonders Offiziere, auch nach Nationalitäten zu unterteilen. So waren Oranki und Elabuga Lager für deutsche und österreichische Offiziere, Suzdal' für Italiener, Ungarn und Rumänien. Zur Organisierung der Offizierslager wurde GULAG-Personal abkommandiert. Anders war die Situation für einfache Soldaten und Unteroffiziere. Sie wurden über das ganze Land verteilt: 21.500 kamen in das Gebiet um Sverdlovsk (vor allem in das Lager 84 Monetno-Losinovsk), die anderen in die Gebiete Celjabinsk, Molotov (Perm), Karanganda (in Kasachstan), Ivanovo, Saratov an der Volga, nach Omsk in Sibirien sowie nach Udmurtien.'" Eine andere Aufstellung des NKVD führte mit dem Stand vom 1. Januar 1943 im Archipel UPVI40 Lager an, wovon neun als Spezial-Lager für ehemalige Rotarmisten und 31 für Kriegsgefangene geführt wurden (vier Offiziers- und 18 Unteroffiziers- bzw. Mannschaftslager und neun FPPL).148 Allerdings blieb diese Zahl kaum einen Tag lang stabil. Viele Lager wurden innerhalb kürzester Zeit verlegt, umnumeriert, aufgelöst und wiedereröffnet. Allein am 24. Februar 1943'49 wurden acht Lager aufgelöst, weil „sie ihrer Zielsetzung nicht entsprachen", was wiederum nicht bedeutete, daß dabei alle Teillager liquidiert worden wären. Es hieß lediglich, daß die Verwaltungen dieser Lager aufgelöst wurden. Die Teillager selbst konnten anderen Lagern übergeben werden und auf Basis von einigen konnten wiederum neue Verwaltungen mit untergeordneten Teillagern entstehen. So gebar der Archipel GUPVI immer wieder neue Lagerinseln und wurde immer größer, die Überschaubarkeit immer schwieriger. Immer öfter gelangten Direktiven aus der NKVD-Zentrale nicht mehr an die einzelnen Lagerverwaltungen, immer weiter klafften Anordnungen und Praxis auseinander. „Das unzulängliche Netz an Kriegsgefangenen-Lagern, die ungenügenden Bedingungen ihrer Gefangenschaft, das geschwächte und bis zum äußersten erschöpfte Kontingent an Kriegsgefangenen, die aus den umliegenden Einheiten der feindlichen Armeen bei Voronez und Stalingrad in die Lager kamen"150, wurde intern als Begründung für eine Neustrukturierung der UPVI angeführt. Diese begann mit einem Führungswechsel: UPVI-Chef Soprunenko mußte gehen. Zum neuen Chef der UPVI wurde der frühere Leiter der Verwaltung der NKVD-Truppen zur Bewachung des Hinterlandes der TVanskaukasischen Front, Generalmajor Ivan A. Petrov, ernannt. Soprunenko verblieb zwar im UPVISystem, doch in untergeordneterer Position. Das weiterführende Ziel, in kurzer Zeit einsatzfähige Arbeiter in beinahe jeder gewünschten Zahl zu erhalten und diese für den Wiederaufbau im Lande einzusetzen, wurde hier zwar nicht explizit genannt, läßt sich aber aus den ergriffenen Maßnahmen leicht ableiten. 61

Vordergründig ging es bei der Neustrukturierung der Hauptlagerverwaltung u m eine bessere Koordinierung zwischen UPVI, dem NRVD und den Stäben der Roten Armee zur effizienteren Rekrutierung der Gefangenen aus dem Bereich der unmittelbaren Front-Zone in die Aufnahme-Lager des NRVD, um eine deutliche Erweiterung des Lagernetzes und des Personalstandes der UPVI-Hauptverwaltung, u m die Einrichtung entsprechender Spitäler bzw. Lazarette und eine straffere Kontrolle der Lager und Lagerleiter durch das NKVD. Dazu wurde im einzelnen festgelegt: 1 " - Organisation der Auffanglager durch das NKVD, - eine ständige Verbindung zwischen GUPVI und den Armeestäben. - Hilfestellung durch die Roten Armee beim Transport der Kriegsgefangenen von den ersten Aufnahmepunkten (PPV) zu den Sammelpunkten für Kriegsgefangene (SPV) des Archipels, weiter über die FPPL bis zu den stationären Lagern im Inneren des Archipels, - Einbindung der UPVI in alle Entscheidungen, die das Frontlager-Netz betrafen. Insbesondere wurden die Kommandierenden der Fronten angewiesen, eine rasche Weiterleitung der Kriegsgefangenen zu gewährleisten. 152 Bis zum September 1944 hatte sich durch die angeführten Maßnahmen folgendes Schema der Frontlager herausgebildet: 1. Die PPV (20 bis 30 km von der Frontlinie entfernt, angeschlossen an den jeweiligen Armeeabschnitt, dienten zur Übernahme der Gefangenen). 2. Die SPV (50 bis 70 km von der Frontlinie entfernt, für folgende Aufgaben: Entlastung der PPV, erste sanitäre Versorgung der Kriegsgefangenen, ihre quantitative Registrierung, und ihre Verschickung in die FPPL). 3. Die FPPL (100 bis 150 km von der Frontlinie entfernt, wurden zu Hauptkonzentrationsorten der Kriegsgefangenen mit folgenden Aufgaben: Übernahme der Kriegsgefangenen von den SPV oder direkt von den PPV, wenn es die Frontlage gebot, Erstbefragung der Kriegsgefangenen, Erstellung der Personalkarten und -akten, medizinische Untersuchung der Gefangenen, Organisation der Evakuierung der Kriegsgefangenen in die stationären Lager des Archipels). Die Betreuung dieses Frontlager-Netzes fiel ab August 1944 in die Kompetenz der neugegründeten Frontabteilung der UPVI, deren Aufgabe in der EffizienzSteigerung beim Transport der massenweise gefangengenommenen Soldaten in das Innere des Archipels bestand. Damit sollte die UPVI nicht m e h r bloß reagieren, sondern im voraus planen, die ungefähre Anzahl der erwarteten Gefangenen feststellen, den Einsatz von Sanitätern fordern und die Transporte mitorganisieren können (sowohl Fußmärsche, als auch Eisenbahn-Transporte). Gleichzeitig wurde ein Netz von Spezial-Spitälern („Specgospitali") zur Behandlung von verwundeten und kranken Kriegsgefangenen eingerichtet 155 und mit den entsprechenden Instruktionen versehen, zumal die Spezial-Spitäler dem Verteidigungs-, Gesundheits- und Innenressort (UPVI) unterstellt wurden, was laufende Kompetenzprobleme geradezu herausforderte.

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Millionen fiir den Archipel: Die GUPVI ab 1944 Innerhalb der eigentlichen UPVI-Hauptverwaltung wurde eine weitere Abteilung für „materiell-technische Ausrüstung"154 installiert, die Verwaltungen und einzelnen Lager mit einheitlichen Formularen und Stempeln ausgerüstet, eine Abgleichung der Schnell-Berichte der Lager an die Zentrale vorgenommen, die Lagerordnungen für die Kriegsgefangenen Generäle und Offiziere ausgearbeitet und hinter jeder Front zumindest ein Aufnahme- und Durchgangslager sowie ein Sammelpunkt eingerichtet. 1 " Neben der Neuerrichtung von Lagereinheiten kam durch die laufenden Frontverschiebungen nach Westen der örtlichen Verlagerung von bestehenden Lagern und Lagerverwaltungen große Bedeutung zu. Grundsätzlich waren die einzelnen Lager der UPV1 in Lagerverwaltungen organisiert worden. Große Lagerverwaltungen, wie Kiev, hatten zeitweise bis zu vierzig Lager, diese wiederum zahlreiche Filialen. Einzellager sowie Filialen konnten bisweilen hunderte Kilometer voneinander entfernt sein. So war das spätere Hotel „Peking" am Moskauer Gartenring eine Filiale des Krasnogorsker Lagers 27, ebenso das Moskauer Stadion Dynamo am Leningrader Prospekt. Allein im Jahr 1943 wurden acht bestehende, stationäre Lagerverwaltungen für Kriegsgefangene verlagert und 540 Übersiedlungen von Aufnahmelagern durchgeführt. Zahlreiche ehemalige Kriegsgefangene berichten in diesem Zusammenhang, daß vielfach die Lager von den Kriegsgefangenen selbst angelegt werden mußten. Oft hausten die Kriegsgefangenen bis zur Errichtung der ersten Baracken in selbst ausgegrabenen Erdlöchern. Teilweise bestätigen die internen UPVI-Berichte diese Angaben. Zu Jahresbeginn 1944 verfügte der Archipel UPVI bereits über mehr als 52 Lager, zu denen noch das FrontlagerNetz und die „Spezial-Lager" für ehemalige Rotarmisten kamen (siehe Tabelle 1). Schon während des Jahres 1943 hatte man teilweise damit begonnen, die kriegsgefangenen Offiziere und Mannschaften auch nach Nationalitäten unterzubringen. So sollten etwa Italiener bevorzugt aus den kalten, nördlicheren Regionen nach Süd-Kasachstan (Lager Pachta-Aral), nach Uzbekistan (Lager Andizan) oder nach Mordowien (Lager Pot'ma) und Franzosen (v. a. Elsässer) nach Tambov transportiert werden. Deutschen und Österreichern wurden keine klimatisch ausgesuchten Gebiete zugewiesen.1'18 Diese Maßnahme steht im Gegensatz zur meist geübten Praxis der Sowjetunion, die Kriegsgefangenen unter großteils menschenunwürdigen Bedingungen unterzubringen. 1,7 In diesem Zusammenhang muß allerdings nachdrücklich auf das mindestens ebenso schwere Schicksal der sowjetischen GULAG-Häftlinge, Gefängnisinsassen und Repressierten hingewiesen werden. Ihnen wurden zumeist - wie auch Kriegsgefangene immer wieder berichten - selbst die Minimalrationen und die Minimalbehandlung der Kriegsgefangenen vorenthalten. Ähnliches galt in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren auch für größere Teile der Zivilbevölkerung, als besonders im Winter 1946/47 nach großen Mißernten die Lebensmittelversorgung praktisch zum Erliegen gekommen war. „Russische Frauen kamen zu uns auf die Baustelle. Sie brachten meist Tabak mit, um ein Stück Brot für ihre hungernden Kinder zu tauschen. So mancher Kriegsgefangene gab aus Mitleid sein letztes Stück Brot weg." Während die arbeitenden Kriegsgefange63

nen etwa 600 Gramm wässriges Schwarzbrot erhielten, hatte die russische Zivilbevölkerung oft nicht einmal das.158 Neben der Zusammenfassung der Kriegsgefangenen nach Nationalitäten versuchte die sowjetische Seite, die Kontingente auch nach militärischen Rängen grob zu gruppieren. So sollten Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften in gesonderten Lagern untergebracht werden, was mitunter zu Schwierigkeiten mit der Disziplin führte. Allein im Jahre 1943 hatten in den Lagern, gemäß den Angaben der UPVI, 3,5 Prozent der Kriegsgefangenen Vergehen gegen die Lagerordnungen begangen, die großteils hart bestraft wurden. Die Mehrzahl der Vergehen waren aus sowjetischer Sicht: Diebstahl, Verstöße gegen die innere Ordnung, Arbeitsverweigerungen und Simulierungen. Daneben gab es zahlreiche Vergehen wegen „faschistischer Agitation", Verbreiten „provokativer Gerüchte", Aufbewahrung verbotener Gegenstände wie Messer, Gabeln, Rasierklingen oder Waffenteile.159 Die UPVI reagierte mit einer entsprechenden Verstärkung der Bewachungsmannschaften, so daß zu Jahresende 1943 auf zehn Kriegsgefangene bereits im Schnitt ein Wachsoldat (innere Streitkräfte des NKVD) kam, was das Budget der Lager weiter schwer belastete, so daß nahezu alle Lagerhaushalte defizitär bilanzieren mußten. Zusätzlich hatte man in einem Umkreis von 100 km vom Lager Spezialeinheiten postiert; bis 1. März 1944 waren es immerhin bereits 11.126 Mann, die Flüchtende einfangen und zurückführen sollten. Oft verhalfen jedoch eher die unwirtlichen Wetterbedingungen den Wachmannschaften zu Erfolgen. So war etwa im Lager 362 (Raum Stalingrad) im Winter die Fluchtrate gleich Null.160 Der Erfolg der organisatorischen Maßnahmen selbst ließ jedenfalls zu wünschen übrig: So konnten - nach Angaben der Hauptverwaltung - unter dem neuen UPVI-Chef Ivan A. Petrov im 1. Vierteljahr 1944 in allen Lagern nur 26 flüchtende Kriegsgefangene gestellt werden. 161 Zusätzlich zu einer Änderung der Verwaltungsstruktur wollte das NKVD auch durch eine stärkere persönliche Verantwortlichkeit und eine direkte Unterstellung unter persönliche Befehlsgewalten die Lager besser kontrollieren. Im Juni 1943 unterstellte daher der stellvertretende NKVD-Chef der UdSSR, Kruglov, dem Leiter der UPVI-Hauptverwaltung, Petrov, persönlich haftende Stellvertreter mit Lagerverwaltungsbereichen.' 62 Sie hatten regelmäßig über ihre Bereiche und ihre Lager Bericht zu erstatten, wie auch nunmehr regelmäßig Offiziere der UPVI-Zentrale Kontrollen in den Lagern und Lagerverwaltungen durchführten. 163 Das Zurückdrängen der Deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten aus dem Gebiet der Sowjetunion im Laufe des Jahres 1944, bedeutete für hunderttausende Soldaten den Weg in die sowjetische Kriegsgefangenschaft: Um sieben Mal mehr, als in den Jahren 1942 und 1943 zusammen, will man den sowjetischen Angaben Glauben schenken. I6t Die UPVI, eben erst neu organisiert, war auf einen derart gewaltigen Ansturm keineswegs vorbereitet. Es mangelte nahezu an allem: an Unterbringungsmöglichkeiten, Lebensmitteln, Medikamenten, Transportmitteln und Bekleidung.165 Dabei benötigten rund ein Drittel der gefangengenommenen Soldaten eine Spitalsbehandlung. Vier Fünftel der Toten der kalten Monate Januar und Februar 1944 starben in den SpezialSpitälern an Dystrophie und Tbc, es folgten Herzbeschwerden und Flecktyphus als weitere häufigste Todesursachen. 166 64

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6«B. 1&3S—100CJ Abb. 2.3. Typischer NKVD-Umschlag des Personalakts eines Inhaftierten. Quelle: CChlDK.

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