Erziehung und »Unerziehung« in der Sowjetunion: Das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie im Vergleich [1 ed.] 9783666310942, 9783525310946

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Erziehung und »Unerziehung« in der Sowjetunion: Das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie im Vergleich [1 ed.]
 9783666310942, 9783525310946

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Kathleen Beger

Erziehung und »Unerziehung« in der Sowjetunion Das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie im Vergleich

© 2020 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109//9783666310942 | CC BY-NC-ND 4.0

Schnittstellen Studien zum östlichen und südöstlichen Europa Herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Ulf Brunnbauer Band 19

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Kathleen Beger

Erziehung und »Unerziehung« in der Sowjetunion Das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie im Vergleich

Vandenhoeck & Ruprecht © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109//9783666310942 | CC BY-NC-ND 4.0

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der Universität Regensburg. Zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 2018 D 355 Die Arbeit wurde im Jahr 2018 von der Fakultät für Philosophie, Kunst-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. NE: GT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Umschlagabbildung: Drei Mädchen im Pionierlager Artek, 1936 (RGAKFD, Foto-Nr. 0-33007) Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2566-6614 ISBN (Print) 978-3-525-31094-6 ISBN (PDF) 978-3-666-31094-2 https://doi.org/10.13109/9783666310942

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Erziehung in staatlichen Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Forschungsstand und theoretischer Zugang . . . . . . . . . . . . . . . 13 Quellen und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Begriffe und Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 I. Das »Neue Kind« in Wissenschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . 35 1. Die soziale Katastrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.1 Industrialisierung, Krieg und Hungersnot . . . . . . . . . . . 39 1.2 Herausforderung besprizornost’ . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Wissenschaft als Wegbereiter der Transformation . . . . . . . . . 49 2.1 Der Wille zum Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.2 Pädologie: Die Wissenschaft vom Kind . . . . . . . . . . . . . 54 2.3 Vom Reiz-Reflex-Schema zur Kontrolle des Verhaltens . . . . 58 2.4 Mit dem »Freudismus« der Psyche auf der Spur . . . . . . . . 62 2.5 »Defektologie« oder: Die Inklusion von Devianz . . . . . . . . 66 2.6 Aus der »NOT« wird eine Tugend gemacht . . . . . . . . . . . 69 2.7 Der Anfang vom Ende der Pädologie . . . . . . . . . . . . . . . 76 3. Politik zwischen Idealismus und Realität . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.1 Kämpfe um Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.2 Besprizornost’: Ein chronisches Problem . . . . . . . . . . . . 91 3.3 Der Ton wird rauer: Härtere Strafmaßnahmen . . . . . . . . . 94 3.4 Besprizorniki – Feinde des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . 101 II . Erziehung und »Unerziehung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

1. Ortsgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1.1 Hoffnungen und Sorgen an der Peripherie . . . . . . . . . . . 112 1.2 Vom Zeltlager zum Lagergiganten . . . . . . . . . . . . . . . . 119 1.3 Im Schatten des Gulag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Gesundheit und Hygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2.1 Durch ozdorovlenie zum novyj byt . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2.2 Versorgungsengpässe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109//9783666310942 | CC BY-NC-ND 4.0

Inhalt

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3. Informelle Hierarchien, Repression und Gewalt . . . . . . . . . . . 147 3.1 Personal als Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3.2 Ein Archipel aus Kolonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4. Neustart oder: Vom Fortbestand pädologischer Ideen . . . . . . . 164 4.1 Auf dem Weg zur allseitig entwickelten Persönlichkeit . . . . 164 4.2 Anspruch und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 III . Zwischen Öffnung und Abschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

1. Momente der Öffnung in der Archangelsker Arbeitskolonie . . . . 189 1.1 Inspektoren und ihre Berichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1.2 Kontakte zwischen Zöglingen und Angehörigen . . . . . . . . 194 1.3 Kultur- und Sportveranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2. Momente der Öffnung im Pionierlager Artek . . . . . . . . . . . . 204 2.1 Politische Touristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2.2 Vom proletarischen Internationalismus zur Völkerfreundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2.3 Internationale Sommerlager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 2.4 Destabilisierung der Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 2.5 Chancen und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Schluss oder: Ein Ende ohne Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Personen-, Sach- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

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Einleitung

Ein sowjetisches Kinderbuch berichtete 1938 über fünf Pioniere aus verschiedenen Unionsrepubliken, die zwei Jahre zuvor, im Sommer 1936, ins Pionierlager Artek auf der Halbinsel Krim gefahren waren. Unter ihnen befanden sich Mamlakat Nachangova aus Stalinabad (heute: Duschanbe) in Tadschikistan, Lëša Fadeev aus der Oblast Leningrad, Vitja Vojdal’skij aus der Oblast Tver’, Barasbi Chamgokov aus Kabardino-Balkarien und Miša Kulešov aus der Oblast Moskau. Alle fünf waren junge Ordensträger, die Taten vollbracht hatten, für die sie 1935 in Moskau von niemand Geringerem als Iosif Stalin (1878–1953) persönlich ausgezeichnet und mit einem Aufenthalt in Artek belohnt wurden. Mamlakat hatte Höchstleistungen bei der Baumwollernte erbracht, Lëša sich als Jugendaktivist verdient gemacht, Vitja hatte 75 Kälber einer Kolchose aufgezogen, Barasbi hatte ein Rennpferd trainiert, das bei Wettkämpfen als Sieger hervorgegangen war, und Miša hatte die Pflege von mehreren Fohlen und Kälbern übernommen. Was diese fünf Jugendlichen, die aus einfachen Verhältnissen und entfernten Gegenden stammten, erlebt und gefühlt haben, als sie sich auf die weite Reise begaben und welche Eindrücke das unter Palmen an der Schwarzmeerküste gelegene, paradiesisch anmutende Artek in ihnen hervorgerufen haben mag, lässt sich heute kaum noch erahnen.1 Ganz sicher steht es aber in scharfem Kontrast zu den Erfahrungen, die Sergej und Vladimir N., Vladimir P. und Boris S. aus dem Dorf Lal’sk in der Nördlichen Region (Severnyj kraj), etwa 900 Kilometer südöstlich von Archangelsk, gemacht haben. Im Dezember 1934 haben die Jungen acht Kilogramm Brot, 500 Gramm Machorka, Wäsche und andere Dinge im Wert von 107 Rubel gestohlen. Ende Januar 1935 entwendeten sie einer Passantin vier Kilogramm Brot, eineinhalb Liter Kerosin, einen Koffer und weitere Gegenstände im Wert von 49 Rubel und 80 Kopeken. Anfang Februar folgte ein Wohnungseinbruch, wobei sie ein Messer erbeuteten. Einen Tag später drangen sie nachts in die Schule des Ortes ein und bemächtigten sich zehn Paar Ski im Wert von 200 Rubel, von denen sie ein Paar zu zehn Rubel weiterverkauften. Wie die kriminalpolizeilichen Untersuchungen ergaben, hatten die Jungen, die zwischen 1919 und 1922 geboren waren, noch mehr auf dem Kerbholz. Der Akte zufolge beging Sergej N. seit 1929 – damals war er nicht älter als sieben Jahre – wiederholt Diebstähle. Er hatte mehrfach seinen Vater 1 Kotov, A.: V lagere sčastlivych. Artek. Moskau 1938, 16–18.

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Einleitung

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um Geld und Lebensmittel betrogen. Der Vater selbst ist 1934 wegen Veruntreuung von 3.500 Rubeln zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Seither sicherten Sergej N., sein Bruder Vladimir N. sowie Vladimir P. und Boris S. ihren Lebensunterhalt nahezu täglich durch Diebstähle. Am 13. März 1935 entschied eine Kommission für die Angelegenheiten Minderjähriger (Komissija po delam nesoveršennoletnich – Komones), Sergei N. in eine Arbeitskolonie für Minderjährige zu überweisen, die dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (Narodnyj komissariat vnutrennich del – NKVD) unterstand. Hier sollte er so lange verbleiben, bis er den Weg der Besserung eingeschlagen hätte. Das Schicksal der drei anderen Jungen ist nicht bekannt. Ebenso ist unklar, in welche Kolonie Sergej N. transferiert wurde.2 Da 1934 auf einer Insel im Dwina-Delta unweit von Archangelsk eine Arbeitskolonie für minderjährige Delinquenten gegründet worden war, ist es durchaus möglich, dass er hier seine Strafe verbüßen musste.3 Hinter den beiden Episoden verbergen sich Schicksale, wie sie auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht hätten sein können. Während die einen für herausragende Leistungen mit einem für die damalige Zeit unverschämt luxuriösen Aufenthalt im angesehensten Pionierlager des Landes belohnt und zu Propaganda-Ikonen für mustergültiges Pionierverhalten erhoben wurden, drohten den anderen für die Verübung wiederholter Gelegenheitsdiebstähle, mit denen sie nichts anderes als ihr tägliches Auskommen zu sichern suchten, Freiheitsstrafen in Arbeitskolonien. Beide Begebenheiten beschreiben zwar diametral zueinanderstehende Extrema und lassen die Bandbreite an »durchschnittlichen« sowjetischen Kindheits- und Jugenderfahrungen außer Acht. Doch waren sie keinesfalls untypisch. Sie können als Ausdruck des ambivalenten Umgangs gelten, den der sowjetische Staat den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft zuteilwerden ließ. Die Arbeit versteht sich als kontrastive sozialgeschichtliche Mikrostudie zweier diametral zueinanderstehender sowjetischer Institutionen für Kinder und Jugendliche. Anhand des Pionierlagers Artek und der Archangelsker Arbeitskolonie fragt sie nach der praktischen Umsetzung sowjetischer Erziehungsvorstellungen sowie nach den Resultaten, Implikationen und Folgen, die ein Aufenthalt in ihnen für die Pioniere und Zöglinge hatte. Trugen die beiden Einrichtungen tatsächlich zur Erziehung beziehungsweise Umerziehung der Kinder und Jugendlichen bei oder bewirkten sie vielleicht sogar Gegenteiliges und führten zu ihrer »Unerziehung«? Machte die Unterbringung in Artek oder der Kolonie die Situation für die Pioniere respektive Zöglinge wirklich besser oder schadete sie ihnen vielmehr als sie nützte? 2 GAAO, F. R-2383, Op. 1, D. 220, Ll. 94 f. 3 Bubličenko, Vladimir: Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.). Uchta 2010, 59 f.

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Erziehung in staatlichen Institutionen 

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Um dies herauszufinden, nimmt die Arbeit die Beziehungs- und Interessengeflechte in den Blick, die die beiden Institutionen nach innen und außen umspannten. Indem der Faktor Mensch in Relation zu den Faktoren Zeit und Raum gesetzt wird, versucht die Arbeit, die Theorie der »totalen Institution« zu erweitern. Welche Rolle spielten die Menschen in ihnen – Kinder und Jugendliche, Erzieher, Aufseher, Pionierleiter und Direktoren –, die geografische Lage und die jeweils vorherrschende Zeitepoche für ihr Funktionieren oder Nicht-Funktionieren? Inwieweit hängen die drei Faktoren zusammen? In­ wieweit beeinflusste ein Faktor die anderen und damit die Funktionsweise des Pionierlagers Artek respektive der Archangelsker Arbeitskolonie? Anders gefragt: Wie sensibel oder störanfällig ist das System »totale Institution«? Lassen sich hieraus möglicherweise allgemeingültige Aussagen ableiten? Um Brüche, Kontinuitäten und Wandel darzustellen, erstreckt sich der Untersuchungszeitraum des Vergleichs auf die Periode zwischen 1925, dem Gründungsjahr des Pionierlagers Artek, und 1960, dem Jahr der Schließung der Archangelsker Arbeitskolonie. Da beide Institutionen nicht nur eine theoretisch-konzeptionelle Vorgeschichte, sondern auch ein Nachleben besitzen, unternimmt die Arbeit zu Beginn Rückblicke in die Zeit vor 1925 und am Ende Ausblicke bis in die unmittelbare Gegenwart. An diesen Stellen wird der Rahmen des historischen Vergleichs verlassen.

Erziehung in staatlichen Institutionen Die Arbeit widmet sich den Ausprägungen, die aus dem paradoxen Wesen sowjetischer Kinder- und Jugendpolitik resultierten, indem sie ihnen anhand des 1925 auf der Halbinsel Krim errichteten Pionierlagers Artek und der 1934 in Archangelsk gegründeten Arbeitskolonie für minderjährige Delinquenten nachspürt. Beide Institutionen können als Antipoden begriffen werden und stellten »Paradebeispiele« ihrer Art dar. Während Artek aufgrund seiner malerischen Lage rasch zum prestigeträchtigsten Pionierlager der Sowjetunion avancierte und den Ruf einer Kaderschmiede erwarb, war die Archangelsker Arbeitskolonie landesweit berüchtigt für ihren besonders strengen Umgang mit den Zöglingen. Trotz ihrer Andersartigkeit, vor allem ihrer divergierenden Zielgruppen – jungen Pionier-Eliten auf der einen und minderjährigen Straftätern auf der anderen Seite –, verfolgten beide Institutionen ein und dieselbe grundlegende Aufgabe. Die in ihnen untergebrachten Kinder und Jugendlichen sollten hier (um-)erzogen und diszipliniert werden, um aus ihnen loyale Mitglieder der Gesellschaft zu machen, die sich produktiv am Aufbau des Sozialismus beteiligten. © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109//9783666310942 | CC BY-NC-ND 4.0

Einleitung

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Kinder und Jugendliche spielten in der Ideologie und Politik der Sowjetunion eine wichtige Rolle. Dies ist insofern nicht ungewöhnlich, als kaum ein moderner Staat existiert, dessen Tun und Handeln nicht in mehr oder minder starkem Maße von der Vorstellung geprägt ist, wonach Kinder und Jugendliche die Hoffnungsträger der Zukunft repräsentieren.4 Die junge Generation nahm aus vielerlei Gründen eine Schlüsselfunktion im Projekt des sozialistischen Aufbaus ein, nicht zuletzt deshalb, weil sie einen beachtlichen Anteil an der Bevölkerung ausmachte. Der Volkszählung von 1926 zufolge lebten in der gesamten Sowjetunion etwa 147 Millionen Menschen. Davon waren 71 Millionen, also knapp die Hälfte der Einwohner, unter 19 Jahren alt.5 Die mit dem Aufbau des Sozialismus einhergehende, alle Lebensbereiche umfassende Transformation versprach nur dann von Erfolg gekrönt zu sein, wenn die Bolschewiki diese zahlenmäßig bedeutsame Gruppe für ihre Sache gewinnen konnten.6 Angesichts des quantitativen Gewichts stellten die bolschewistischen Parteiführer, wie Corinna Kuhr-Korolev dargelegt hat, alsbald einen Konnex zwischen Kindheit, Jugend und Zukunft her und »übernahmen [damit] […] eine in Westeuropa populäre Denkfigur«7, die im 19. Jahrhundert aufgekommen war. Kuhr-Korolev zufolge bezeichneten die Begriffe Kindheit und Jugend für sie nicht einfach nur entwicklungsbiologische und -psychologische Lebens­ abschnitte, sondern vielmehr »Lebensideale«, die »als freie Projektionsfläche für gesellschaftliche und politische Hoffnungen und Pläne« dienten.8 Kinder und Jugendliche galten angesichts ihres zarten Alters als diejenige Bevölkerungsgruppe, die am wenigsten von der vorrevolutionären Gesellschaftsordnung geprägt war und damit – ähnlich einer Tabula rasa – verhältnismäßig leicht neu »programmiert« werden konnte. Sie standen sinnbildlich für das Neue, für Aufbruch, Zukunft und den Kampf gegen das Alte. Als Avantgarde der Revolution sollten sie mit bestem Beispiel voranschreiten, den Älteren ihr Fehlverhalten aufzeigen und auf der Durchsetzung sozialistischer Leitbilder bestehen.9 Im Gegenzug bot sich ihnen die verheißungsvolle Aussicht,

4 Bernstein, Seth: Raised under Stalin. Young Communists and the Defense of Socialism. Ithaca, NY 2017, 2. 5 Central’noe statističeskoe upravlenie SSSR – Otdel perepisi: Vsesojuznaja perepis’ naselenija 17 dekabrja 1926 g.: kratkie svodki. Vyp. 7: Vozrast i gramatnost’ naselenija SSSR . Moskau 1928, 8–13. 6 Gorsuch, Anne E.: Youth in Revolutionary Russia. Enthusiasts, Bohemians, Delinquents. Bloomington, IN 2000, 1; Kuhr-Korolev, Corinna: Gezähmte Helden. Die Formierung der Sowjetjugend 1917–1932. Essen 2005, 7. 7 Ebd., 8. 8 Ebd. 9 Gorsuch, Youth in Revolutionary Russia, 1, 185.

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Erziehung in staatlichen Institutionen 

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die erste Generation zu sein, die noch zu Lebzeiten »die Früchte der eigenen Mühen ernten« und den Ruhestand im Sozialismus würde genießen können.10 Was sich in der Theorie simpel und naheliegend angehört haben mag, stellte die Bolschewiki in der Praxis vor enorme Herausforderungen. Die Zustände, die sich ihnen nach der Machtübernahme darboten, entsprachen in keiner Weise ihren ideologischen Vorstellungen.11 Krieg, Krankheiten, Seuchen, Hunger, Armut und Elend hatten Kinder und Jugendliche so schwer gezeichnet, dass sie den ihnen zugedachten Aufgaben nicht annähernd gewachsen waren. Hinzu kommt, dass die Bolschewiki die ohnehin desolate Situation in den ersten Jahren ihrer Herrschaft verschlimmerten, Bürgerkrieg und Hungersnot das Land in den völligen Ruin trieben. Der Aufbau der neuen Gesellschaft durch eine neue junge Generation verlangte zunächst nach der Schaffung »Neuer Kinder und Jugendlicher«.12 Wie Lisa A. Kirschenbaum treffend formuliert hat, verkörperten die Jüngsten nicht nur revolutionäre Träume und Hoffnungen, sondern konfrontierten die Bolschewiki auch mit akuten Problemen und gravierenden Missständen.13 Kinder und Jugendliche litten in besonders starkem Maße unter den anhaltenden Kriegszuständen und den damit verbundenen sozialen Verwerfungen. Ein gewaltiges Problem stellten die sogenannten beznadzorniki und besprizorniki dar. Bei ersteren handelte es sich um aufsichtslose Kinder und Jugendliche, die sich, weil sie den Großteil des Tages ohne Aufsicht (abgeleitet von bez nadzora) waren, vagabundierend auf den Straßen herumtrieben. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Einberufung der Männer  – und Väter – waren in unzähligen Familien die Hauptverdiener weggefallen, sodass die Mütter, nicht selten auch die älteren Kinder, zur Erwirtschaftung des Familieneinkommens beitragen mussten, wodurch die Betreuung der jüngeren Vernachlässigung erfuhr. Besprizorniki (Fürsorgelose, abgeleitet von bez prizora14 – ohne Fürsorge) dagegen war eine Bezeichnung für Kinder und Jugendliche, die im Zuge der Verwüstungen und des Chaos der Kriegsjahre ihr Zuhause und ihre Eltern verloren hatten oder von ihnen weggelaufen waren und daraufhin in oft völlig verwahrlostem Zustand auf der Straße lebten, wo sie ihr Auskommen durch kriminelle Erwerbsformen sicherten.

10 Kuhr-Korolev, Gezähmte Helden, 7. 11 Neutatz, Dietmar: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München 2013, 161. 12 Gorsuch, Youth in Revolutionary Russia, 1, 13. 13 Kirschenbaum, Lisa A.: Small Comrades. Revolutionizing Childhood in Soviet Russia, 1917–1932. New York, NY 2001, 2. 14 Das Substantiv prizor ist im Russischen heute nicht mehr gebräuchlich. Siehe Sorokoletov, F. (Hg.): Slovar’ russkich narodnych govorov. Vypusk tridcat’ pervyj. Počestno–Prisut’. Sankt Petersburg 1997, 229.

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Einleitung

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Bürgerkrieg und Hungersnot hatten die Zahl beider Gruppen Anfang der 1920er Jahre explosionsartig in die Höhe schnellen lassen, wodurch beznadzornost’ und besprizornost’, die Nicht-Beaufsichtigung und Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen, zu Massenphänomenen gerieten.15 Zum Ende der 1920er Jahre hin ging die Zahl der beznadzorniki und besprizorniki zwar kontinuierlich zurück. Doch hatten die sowjetischen Machthaber bis in die frühen 1950er Jahre hinein mit dem Problem zu kämpfen. Die Ursachen liegen in der Zwangskollektivierung und im Stalinschen Terror sowie im deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 begründet – Ereignisse, die immer wieder neue Wellen von beznadzorniki und besprizorniki hervorriefen. Dass das Bild und das Verständnis von Kindheit und Jugend ambig waren, spiegeln die sowjetischen Diskurse wider. Bereits in den 1920er Jahren beinhalteten die beiden Begriffe unterschiedliche Konnotationen. Lisa A. Kirschen­ baum und Anne E.  Gorsuch zufolge konnten sie von »enthusiastisch« und »gemeinschaftlich« über »unschuldig«, »verletzlich« und »bemitleidenswert« bis hin zu »korrumpierbar, undiszipliniert und ›infektiös‹« reichen.16 Diesen Sachverhalt führen die zu Beginn erwähnten Episoden exemplarisch vor Augen. Während Mamlakat, Lëša, Vitja, Barasbi und Miša dem Ideal des sowjetischen Kindes und Jugendlichen entsprachen, verkörperten Sergej und Vladimir N., Vladimir P. und Boris S. sein unerwünschtes Gegenstück. Erschwerend kam hinzu, dass die Bolschewiki zum Zeitpunkt ihrer Machtübernahme keine explizite Kinder- und Jugendpolitik besaßen.17 Die Belange der jüngsten Gesellschaftsmitglieder haben vor der Revolution noch nicht als eigenständige Sektion auf ihrer politischen Agenda gestanden und sind allenfalls im Zuge der Frauen- und Familienpolitik18 diskutiert worden. Die Bol15 Eine der ersten und umfangreichsten Studien zu besprizorniki und beznadzorniki hat Alan M. Ball vorgelegt: Ball, Alan M.: And Now My Soul is Hardened. Abandoned Children in Soviet Russia, 1918–1930. Berkeley, CA 1994. 16 Kirschenbaum, Small Comrades, 5; Gorsuch, Youth in Revolutionary Russia, 12. 17 Kuhr-Korolev, Gezähmte Helden, 10; Bernstein, Raised under Stalin, 2. 18 Das Ziel der Frauen- und Familienpolitik bestand darin, traditionelle Familienmuster zu durchbrechen, Frauen die gleichen Rechte wie Männern zu gewähren und sie von ihrer Dreifachbelastung (Haushalt, Kindererziehung, Arbeit) zu befreien. Kollontai, A.: The Family and the Communist State (1918). In: Rosenberg, William G. (Hg.): Bolshevik Visions. 1. Phase of the Cultural Revolution in Soviet Russia. Ann Arbor, MI 1984, 79–88. Auch Lenin sah »die Unterdrückung der Frau in erster Linie in ihrer Existenz als ›Haussklavin‹ begründet […], die sie an die Küche und das Kinderzimmer fesselt und die ihre Schaffenskraft durch eine geradezu barbarisch unproduktive, kleinliche, entnervende, abstumpfende, niederdrückende Arbeit vergeuden läßt«. Damit sie einen Beruf ausüben, sich weiterbilden und dem sozialistischen Staat dienen konnte, sprach er sich für die »massenhafte Umgestaltung hauswirtschaftlicher Kleinarbeit zum vergesellschafteten Großhaushalt« aus. So sollten künftig bezahlte Arbeiter in öffentlichen Gemeinschaftsküchen, Speisesälen und Wäschereien sowie Lehrer, Erzieher und Pflegekräfte in Krippen, Kindergärten und -heimen, Schulen, Sanatorien und Heilanstalten sämtliche im

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Forschungsstand und theoretischer Zugang 

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schewiki standen deshalb vor der Herkulesaufgabe, soziale Realität und Utopie in Einklang zu bringen. Sollte ihr ambitioniertes Transformationsvorhaben gelingen, konnten sie soziale Missstände wie beznadzornost’ und besprizornost’ nicht länger ignorieren, sondern mussten aktiv gegen sie vorgehen.19 Da die Bolschewiki die »bourgeoise« Institution der Familie für eine überkommene Tradition hielten, suchten sie ein weites Netz unterschiedlicher staatlicher Erziehungseinrichtungen aufzubauen, in denen die Jüngsten politisch-ideologisch geformt werden sollten. Dahinter verbarg sich ein tiefes Unbehagen gegenüber der Erziehung innerhalb der Familie, insbesondere durch Mütter, denen sie die Erfüllung dieser ambitionierten Aufgabe nicht zutrauten.20 Das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie sind somit als Orte des »Social Engineering«21 zu sehen. Hier sollten revolutionär-sozia­ listische Vorstellungen verwirklicht und Erscheinungen nonkonformen wie devianten Verhaltens mittels stringenter Disziplinierungsmaßnahmen besei­ tigt werden, um Kinder und Jugendliche dazu zu befähigen, an der Realisierung der Utopie mitzuwirken.

Forschungsstand und theoretischer Zugang Die Arbeit kann sich auf eine Reihe bestehender Literatur stützen, die sich mit diversen Fragen und Aspekten hinsichtlich der Formierung und Disziplinierung sowjetischer Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener auseinandergesetzt und dabei auf die Divergenz zwischen Utopie und Realität hingewiesen Haushalt und in der Kindererziehung anfallenden Tätigkeiten übernehmen, für die einst ausschließlich Frauen zuständig gewesen waren. Raether, Gabriele: Alexandra Kollontai zur Einführung. Hamburg 1986, 44; Goldman, Wendy Z.: Women, the State and Revolution. Soviet Family Policy and Social Life, 1917–1936. Cambridge 1993, 3–5. 19 Bernstein, Raised under Stalin, 2. 20 Ball, And Now My Soul is Hardened, xiii, 87. 21 Als Orientierung dient hier eine allgemeine Begriffsdefinition, die Thomas Etzemüller vorgelegt hat. Er vertritt die These, »dass das social engineering nur in einer spezifischen Phase der neueren Geschichte seine Wirkmächtigkeit entfalten konnte, nämlich zwischen dem Ersten Weltkrieg und den 1960er-Jahren. Seine Vorläufer reichen bis ins späte 19. Jahrhundert zurück, als die Industrialisierung erhebliche Veränderungen und Verwerfungen der sozialen und politischen Beziehungen mit sich brachte, die entstehenden Natur- und Ingenieurswissenschaften aber eine technokratische Antwort auf diese Herausforderungen zu erlauben schienen. Das social engineering entstand als ein Versuch neben anderen, die Folgen der Moderne zu bewältigen, indem die sozialen Beziehungen in Form einer Gemeinschaft restabilisiert werden sollten, um die vermeintlich drohende Desintegration der Gesellschaft abzuwenden«. Etzemüller, Thomas: Social Engineer­ing, In: Docupedia-Zeitgeschichte. URL : http://docupedia.de/zg/etzemueller_ social_engineering_v1_de_2010 (am 18.7.2017).

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hat. Studien, die die frühsowjetische Periode zwischen 1917 und 1932 umfassen, haben die Historikerinnen Anne E. Gorsuch22, Lisa A. Kirschenbaum23 und Corinna Kuhr-Korolev 24 sowie der Historiker ­Matthias Neumann25 vorgelegt. Sie richten ihren Blick auf die vom Komsomol (Kommunističeskij sojuz molodëži – Kommunistischer Jugendverband) und von der Partei an Jugendlichen vorgenommenen Erziehungsmaßnahmen, mit denen »Neue Menschen« für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft geschaffen werden sollten. Zugleich machen sie deutlich, dass die Jugend eigene Lebensvorstellungen und Interessen hatte, die denen des Staates nicht selten zuwiderliefen. Anne E. Gorsuch demonstriert diesen Sachverhalt am Beispiel einer der ersten sowjetischen Jugendkulturen, den sogenannten Flappers. Aufgekommen in den USA, begeisterten sich die jungen Anhänger für Foxtrott und Jazz, feierten exzessive Partys und vollführten ausgefallene erotisierende Tanzbewegungen. Frauen, die eine Vorliebe für kurze Röcke und provokante Bobfrisuren besaßen,26 standen im Ruf, frivol zu sein. In der Sowjetunion waren diese Trends in den 1920er Jahren während der liberaleren Phase der Neuen Ökonomischen Politik (Novaja Ėkonomičeskaja Politika – NĖP)27 aufgekommen. Sie stießen bei den Partei- und Komsomoleliten aber rasch auf Kritik.28 Um sich dem Zugriff staatlicher Institutionen und ihrer Amtsträger zu entziehen, flüchtete sich die Jugend nicht nur in alternative Gegenkulturen. Wie zahlreiche Beiträge in einem von Corinna Kuhr-Korolev, Stefan Plaggenborg und Monica Wellmann herausgegebenen Sammelband gezeigt haben, fand die jugendliche Rebellion auch in Gewalt und Hooliganismus ihren Ausdruck.29 Dass das Verhältnis zwischen Kindern beziehungsweise Jugendlichen und staatlichen Institutionen nicht nur in der Stalin-, sondern auch in der Chruščëv22 23 24 25 26 27

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Gorsuch, Youth in Revolutionary Russia. Kirschenbaum, Small Comrades. Kuhr-Korolev, Gezähmte Helden. Neumann, Matthias: The Communist Youth League and the Transformation of the Soviet Union, 1917–1932. London 2011. Ausführlicher zur Mode der Flappers siehe Kiaer, Christina: The Russian Constructivist Flapper Dress. In: Critical Inquiry 28/1 (2001), 185–243. Weiterführend zur Epoche der NĖP siehe Ball, Alan M.: Russia’s Last Capitalists. The Nepmen, 1921–1929. Berkeley, CA 1987; Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Russia in the Era of NEP. Explorations in Soviet Society and Culture. Bloomington, IN 1991 sowie Siegelbaum, Lewis H.: Soviet State and Society Between Revolutions, 1918–1929. Cambridge 1992, insb. 135–187. Gorsuch, Youth in Revolutionary Russia, 116–138, insb. 130–136. Žuravlev, Sergej V.: Sowjetjugend im Spannungsfeld unterschiedlicher Gewaltformen. In: Kuhr-Korolev, Corinna / Plaggenborg, Stefan / Wellmann, Monica (Hg.): Sowjetjugend 1917–1941. Generation zwischen Revolution und Resignation. Essen 2001, 83–102 sowie Gorsuch, Anne E.: »Smashing Chairs at the Local Club«: Discipline, Order, and Soviet Youth. In: Kuhr-Korolev, Corinna / Plaggenborg, Stefan / Wellmann, Monica (Hg.): Sowjetjugend 1917–1941. Generation zwischen Revolution und Resignation. Essen 2001, 247–262.

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Forschungsstand und theoretischer Zugang 

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und der Brežnev-Ära ähnlich konfliktreich war, haben unter anderem die Historiker und Historikerinnen Seth Bernstein30, Juliane Fürst31, Gleb ­Tsipursky 32 und Donald J.  Raleigh33 demonstriert. Zu vergleichbaren Ergebnissen sind der Politikwissenschaftler Steven Lee Solnick34 und der Anthropologe Alexei Yurchak in ihren Untersuchungen gelangt. Letzterer hat am Beispiel von Komsomolfunktionären in eindrucksvoller Weise belegt, dass das Verhältnis zwischen Jugend und Staat ein wechselseitiges war, aus dem sich durchaus Spiel- und Freiräume ergeben konnten.35 Von großer Bedeutung für diese Arbeit sind zudem die Aufsätze und Monografien über besprizornost’ und beznadzornost’, die Alan M.  Ball36, Dorena Caroli37, Andrej Slavko38 und Mirjam Galley 39 verfasst haben. Hierin 30 Bernstein, Raised under Stalin. 31 Fürst, Juliane: Stalin’s Last Generation. Soviet Post-War Youth and the Emergence of ­Mature Socialism. Oxford 2011. 32 Tsipursky, Gleb: Socialist Fun. Youth, Consumption, and State-Sponsored Popular Culture in the Soviet Union, 1945–1970. Pittsburgh, PA 2016. 33 Donald Raleigh verdeutlicht dies am Beispiel der Generation der sowjetischen Baby­ boomer, die zwischen 1948 und 1950 geboren wurden. Seine Studie inkludiert 60 ehemalige Schüler und Schülerinnen zweier Eliteschulen, von denen sich die eine in Moskau und die andere in Saratov befand. Bei den Eltern der Kinder handelte es sich mehrheitlich um mittlere Parteifunktionäre oder Angehörige der Intelligenzija. Raleigh zeigt hierbei auf, dass sich die Schüler und Schülerinnen im Laufe ihrer Jugend sukzessiv vom Staat entfremdeten, eine kritische Haltung ihm gegenüber einnahmen, ihren eigenen Interessen nachgingen (Privat- und Freizeitleben, Popmusik, Reisen) und schließlich Michail Gorbačëvs Perestroika und Glasnost begrüßten. Siehe Raleigh, Donald J.: Soviet Baby Boomers. An Oral History of Russia’s Cold War Generation. Oxford 2011. 34 Der Politikwissenschaftler Steven Lee Solnick blickt in seiner Untersuchung auf das Verhältnis von Macht und Autorität innerhalb sowjetischer bürokratischer Strukturen. Solnick richtet dabei den Fokus auf einzelne Personen und ihre Entscheidungsgewalt. Ihm zufolge diente die opportunistische Haltung zahlreicher Bürokraten vor allem zur Durchsetzung eigener Interessen. Entscheidungsträger wie Partei- und Komsomolfunktionäre auf den untersten lokalen Ebenen verfügten über einen gewissen Machtspielraum, da sie bestimmen konnten, welche der ihnen bekannten Informationen ihre Vorgesetzten auf den mittleren und höheren Ebenen erreichen sollten. Überdies oblag es ihnen, ob und wie offizielle Anordnungen von oben auf den untersten Leveln implementiert wurden. Solnick, Steven Lee: Stealing the State. Control and Collapse in Soviet Institutions. Cambridge, MA 1998, 4 f., 13. 35 Yurchak, Alexei: Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation. Princeton, NJ 2005. 36 Ball, And Now My Soul is Hardened; ders.: The Roots of Besprizornost’ in Soviet Russia’s First Decade. In: Slavic Review 51/2 (1992), 247–270. 37 Caroli, Dorena: L’enfance abandonneé et délinquante dans la Russie soviétique (­ 1917–1937). Paris 2004. 38 Slavko, Andrej: Detskaja besprizornost’ v Rossii v pervoe desjatiletie sovetskoj vlasti. Moskau 2005. 39 Galley, Mirjam: »Wir schlagen wie eine Faust«: Die Bande als Lebensform sowjetischer Straßenkinder unter Stalin. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64/1 (2016), 26–53.

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Einleitung

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beleuchten sie die Folgen und Implikationen, die der frühsowjetische und der Stalinsche Repressionsapparat auf Kinder und Jugendliche hatte. Auch Wendy Z. Goldman hat den besprizorniki in ihrem Buch Women, the State and Revolution40 ein Kapitel gewidmet. In diesem Kontext ist zudem Olga Kucherenkos Monografie Soviet Street Children and the Second World War zu erwähnen, die den Mythos der sowje­ tischen Wohlfahrts- und Fürsorgebemühungen gegenüber Kindern und Jugendlichen dekonstruiert. Kucherenko gelingt es zu verdeutlichen, dass die Unterbringung in staatlichen Erziehungseinrichtungen während des Zweiten Weltkrieges den Jüngsten häufig vielmehr schadete denn nützte.41 Nicht zuletzt stellen die Publikationen von Catriona Kelly, einer britischen Historikerin, die sich am intensivsten mit russischer und sowjetischer Kindheit beschäftigt hat, einen wichtigen Bezugspunkt für diese Arbeit dar. Kelly ist der Disziplinierung und Formierung von Kindern und Jugend­ lichen42 ebenso nachgegangen wie ihrer politischen Instrumentalisierung,43 ihrem Leiden unter Gewalt und Terror sowie ihrem Leben in sowjetischen Erziehungseinrichtungen.44 Zum Pionierlager Artek und der Archangelsker Arbeitskolonie existieren ebenfalls erste Veröffentlichungen. Hierzu gehört eine Dissertation von Evelin Eichler mit dem Titel Pionierlager in der Sowjetunion,45 in der Artek breiten Raum einnimmt, sowie ein Aufsatz der russischen Anthropologin Anna Kozlova, der sich Artek aus erinnerungskultureller Perspektive nähert.46 Die Schriften des russischen Historikers Vladimir Bubličenko befassen sich mit den Arbeitskolonien im europäischen Norden der Russischen Sozialistischen 40 Goldman, Women, the State and Revolution. 41 Kucherenko, Olga: Soviet Street Children and the Second World War. Welfare and Social Control under Stalin. London 2016. 42 Kelly, Catriona: Grandpa Lenin and Uncle Stalin: Soviet Leader Cult for Little Children. In: Apor, Balázs / Behrends, Jan C. / Jones, Polly / Rees, E. A. (Hg.): The Leader Cult in Communist Dictatorships. Stalin and the Eastern Bloc. Basingstoke, New York, NY 2004; dies.: Shaping the »Future Race«: Regulating the Daily Life of Children in Early Soviet Russia. In: Kiaer, Christina / Naiman, Eric (Hg.): Everyday Life in Early Soviet Russia. Taking the Revolution Inside. Bloomington, IN 2006, 256–281 sowie dies.: A Joyful Soviet Childhood: Licensed Happiness for Little Ones. In: Balina, Marina / Dobrenko, Evgeny (Hg.): Petrified Utopia. Happiness Soviet Style. London 2009, 3–18. 43 Kelly, Catriona: »The Little Citizens of a Big Country«. Childhood and International Relations in the Soviet Union. Trondheim 2002 sowie dies.: Defending Children’s Rights, »In Defense of Peace«. Children and Soviet Cultural Diplomacy. In: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 9/4 (2008), 711–746. 44 Kelly, Catriona: Children’s World. Growing Up in Russia, 1890–1991. New Haven, CT 2007, 198–237. 45 Eichler, Evelin: Pionierlager in der Sowjetunion. Berlin 2015. 46 Kozlova, Anna: »Fairy Tale for Pioneers«. Deconstruction of Official Ideologies in Me­ mories About Artek 1960s-1980s. In: European Education 48/3 (2016), 170–186.

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Forschungsstand und theoretischer Zugang 

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Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) zwischen 1935 und 1956 – einem Gebiet, das die Archangelsker Arbeitskolonie einschließt.47 Da sich das Thema Kindheit und Jugend in der Osteuropaforschung wachsenden Interesses erfreut, liegt inzwischen auch zu anderen sozialistischen Ländern48 entsprechende Sekundärliteratur vor, etwa zu Bulgarien,49 Jugo­ slawien,50 der Tschechoslowakei (ČSSR)51 und zur Deutschen Demokratischen Republik (DDR).52 Diese Arbeit baut auf der bestehenden Sekundärliteratur auf, indem sie explizit einen institutionellen Fokus einnimmt. Den theoretischen Rahmen bildet eine Kombination aus soziologischen, sozial- und mikrogeschichtlichen Ansätzen. Als Orientierung und Vorbild dient ein Aufsatz von Maria Cristina Galmarini-Kabala, der deutlich gemacht hat, dass eine solche Kombination produktiv und überzeugend sein kann. Galmarini-Kabala hat anhand einer Mikrostudie zum psycho-neurologischen Schulsanatorium in Perm analysiert, in welcher Beziehung Psychiatrie, Gewalt und das sowjetische 47 Bubličenko, Vladimir: Proizvodstvennaja dejatel’nost’ detskich trudovych kolonij NKVD Evropejskogo Severa Rossii v gody Velikoj Otečestvennoj vojny. In: Trudy Komi Otdelenija AVIN 6 (2008), 38–46; ders.: Čislennost’ nesoveršennoletnich v detskich trudovych kolonijach NKVD -MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii v 1940-e gg. In: Žerebcov, I. (Hg.): GULAG na Severe Rossii: Materialy Vserossijskoj naučnoj konferencii s meždunarodnym učastiem (27–28 oktjabrja 2009 g., Uchta). Syktyvkar 2011, 96–100 sowie ders., Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.). 48 Silova, Iveta / Piattoeva, Nelli / Millei, Zsuzsa (Hg.): Childhood and Schooling in (Post) Socialist Societies. Memories of Everyday Life. Cham 2018; Hranova, Albena: »Loan Memory«: Communism and the Youngest Generation. In: Todorova, Maria / Dimou, Augusta /  Troebst, Stefan (Hg.): Remembering Communism. Private and Public Recollections of Lived Experience in Southeast Europe. Budapest 2014, 233–250 sowie Mihalache, Cătălina: Talking Memories of the Socialist Age: School, Childhood, Regime. In: Todorova, Maria /  Dimou, Augusta / Troebst, Stefan (Hg.): Remembering Communism. Private and Public Recollections of Lived Experience in Southeast Europe. Budapest 2014, 251–266. 49 Koleva, Daniela / Elenkov, Ivan (Hg.): Detstvoto pri socializma. Političeski, institucionalni i biografični perspektivi. Sofia 2010. 50 Duda, Igor: Danas kada postajem pionir. Djetinjstvo i ideologija jugoslovenskoga socijalizma. Zagreb, Pula 2015. 51 Henschel, Frank: »All Children Are Ours« – Children’s Homes in Socialist Czechoslovakia as Laboratories of Social Engineering. In: Bohemia 56/1 (2016), 122–144. 52 Gatzemann, Andreas: Der Jugendwerkhof Torgau. Das Ende der Erziehung. Berlin 2009; Benz, Angelika: Umerziehung in Heimen der DDR . In: Benz, Wolfgang / Distel, Barbara (Hg.): »Gemeinschaftsfremde«. Zwangserziehung im Nationalsozialismus, in der Bundesrepublik und der DDR . Berlin, Dachau 2016, 187–218; Mothes, Jörn / Fienbork, Gundula / Pahnke, Rudi / Balzer, Thomas (Hg.): Beschädigte Seelen. DDR-Jugend und Staatssicherheit. Bremen 1996 sowie Tost, Madeleine: »Hyäne bedroht durch ’ne Maus«. Die Staatsmacht und die erste Generation des Punk-Rock in der DDR (1979–1985). In: Pullmann, Michal / Zimmermann, Volker (Hg.): Ordnung und Sicherheit, Devianz und Kriminalität im Staatssozialismus. Tschechoslowakei und DDR 1948/49–1989. Göttingen 2014, 327–359.

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Einleitung

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Transformationsprojekt in den 1920er Jahren standen. Gestützt wird ihre Untersuchung durch »Michel Foucault’s and Ervin [sic] Goffman’s theories of deviance, social control, and the ›total institution‹«.53 In Anlehnung hieran versteht diese Arbeit das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie als »totale Institutionen«, deren grundlegende Aufgabe in der Ausübung sozialer Kontrolle und der Eliminierung von Devianz bestand.54 Der Begriff der »totalen Institution«, den der Soziologe Erving Goffman geprägt hat, dient zur Bezeichnung von Institutionen, die einen totalen oder allumfassenden Charakter besitzen wie beispielsweise psychiatrische Anstalten oder Gefängnisse. Sie gelten deshalb als total oder allumfassend, weil in ihnen die Trennung der drei Lebensbereiche Arbeit, Freizeit und Schlaf aufgehoben ist. Laut Goffman wird die für »die modern[e] Gesellschaft grundlegende soziale Ordnung, nach der der einzelne an verschiedenen Orten schläft, spielt, arbeitet – und dies mit wechselnden Partnern, unter verschiedenen Autoritäten und ohne einen umfassenden rationalen Plan«55 –, in »totalen Institutionen« pervertiert. Hier finden, wie er schreibt, [a]lle Angelegenheiten des Lebens […] an ein und derselben Stelle, unter ein und derselben Autorität statt. […] Die Mitglieder der Institution führen alle Phasen ihrer täglichen Arbeit in unmittelbarer Gesellschaft einer großen Gruppe von Schicksalsgenossen aus […] Alle Phasen des Arbeitstages sind exakt geplant […] und die ganze Folge der Tätigkeiten wird von oben durch ein System expliziter formaler Regeln und durch einen Stab von Funktionären vorgeschrieben. […] Die verschiedenen erzwungenen Tätigkeiten werden in einem einzigen rationalen Plan vereinigt, der angeblich dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen.56

Michel Foucaults Theorie der »Heterotopie« tendiert insofern in eine ähnliche Richtung, als mit ihr Orte beschrieben werden, die als »tatsächlich verwirklichte Utopien« gelten können.57 Zwar ist nicht jede »Heterotopie« zugleich eine »totale Institution«, da Foucault ganz verschiedene Orte unter dem Terminus gefasst hat  – psychiatrische Anstalten, Gefängnisse und Kasernen ebenso wie Friedhöfe, Kinos, Theater, Gärten und Museen. Doch lassen sich das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie unter beiden 53 Galmarini-Kabala, Maria Cristina: Psychiatry, Violence, and the Soviet Project of Transformation: A Micro-History of the Perm’ Psycho-Neurological School-Sanatorium. In: Slavic Review 77/2 (2018), 307–332, insb. 309. 54 Ebd., 309 f. 55 Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1981, 17. 56 Ebd. 57 Foucault, Michel: Von anderen Räumen. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan / Doetsch, Hermann (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. 7. Aufl. Frankfurt am Main 2012, 320.

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Forschungsstand und theoretischer Zugang 

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Termini fassen. Gemein ist ihnen insbesondere ihr ordnungssystematischer Charakter, der dazu dient, »Insassen« zu überwachen und deviantes Verhalten zu korrigieren.58 Eine weitere Eigenschaft, die »totale Institutionen« ebenso aufweisen wie »Heterotopien«, ist das paradoxe Verhältnis ihrer physischen Isoliertheit von und ihrer gleichzeitigen Zugehörigkeit zur Gesellschaft.59 Wie Foucault formuliert hat, besitzen »Heterotopien« ein »System der Öffnung und Abschließung […], das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht.«60 Ähnliches hat Goffman für »totale Institutionen« festgehalten. Auch sie sind keine »völlig abgeschlossene Welt […], sondern [unterhalten] gewisse bürokra­ tische und Subordinationsbeziehungen mit der Organisation der Außenwelt […].«61 Zudem weisen beide, »Heterotopien« ebenso wie »totale Institutionen«, Zeitpunkte auf, zu denen sie gezielt für Außenstehende geöffnet werden.62 Bezogen auf das Pionierlager Artek und die Archangelsker Artek bedeutet dies, dass sie einerseits eine gewisse Eigenlogik und Resilienz besaßen, weil sie nur ausgewählten Personen Zutritt gewährten und im Laufe der Zeit spezifische Strukturen und Praktiken entwickelten. Andererseits funktionierten sie nicht vollkommen unabhängig von den Entscheidungen der Partei-, Komsomol- und NKVD -Eliten in Moskau. Hiervon zeugt der zu Beginn erwähnte Artek-Besuch von Mamlakat, Lëša, Vitja, Barasbi und Miša. Obwohl er nicht mit »gewöhnlichen« Kindheitserfahrungen der 1930er Jahre zu vergleichen ist, stand er unter dem Eindruck damals vorherrschender politischer Leitlinien und Propagandakampagnen. Dass die Kinder aus weit entfernten Regionen auf die Krim reisten und unterschiedlichster Herkunft waren, kann als Ausdruck der von Stalin 1935 zur neuen Maxime erhobenen Freundschaft der (Sowjet-)Völker (družba narodov) gewertet werden.63 Und ihre erbrachten Höchstleistungen, denen sie den Aufenthalt in Artek verdankten, verdeut­lichen, dass die 1934 aufgekommene Stachanov-Bewegung auch vor den Jüngsten nicht haltmachte.64 58 59 60 61 62 63

Ebd., 322. Ebd., 320, 325. Ebd., 325. Goffman, Asyle, 105. Foucault, Von anderen Räumen, 325 f.; Goffman, Asyle, 100–104. Kelly, Defending Children’s Rights, »In Defense of Peace«, 724; dies., »The Little Citizens of a Big Country«, 15. 64 Die Bezeichnung geht auf den sowjetischen Bergarbeiter Andrej Stachanov zurück, der während der Nachtschicht vom 30. auf den 31. August 1935 etwa 102 Tonnen Kohle gefördert und damit die Norm zu 1457 Prozent erfüllt haben soll. Hieraus entwickelten die Parteiführer eine Propagandakampagne zur Steigerung der (Arbeits-)Produktivität, welche die Arbeiter zur Erbringung höherer Leistungen anspornen sollte. Hildermeier, Manfred: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, 521–525.

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Einleitung

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Wiewohl das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie zwei sowjetische Institutionen waren, die im Kontext der sozialistischen Trans­ formation standen, so können sie doch zugleich als typische Erscheinungen der Epoche der Moderne gelten. Mit ihnen verbanden sich die Hoffnungen und Ambitionen des modernen »Gärtnerstaats«, dessen Ziel es Zygmunt Bauman zufolge war, »Ordnung zu schaffen und zu bewahren«, »Freunde zu erwerben und Feinde zu bekämpfen«, um »sich von der Ambivalenz zu befreien.«65 Die Gründung des Pionierlagers Artek und der Archangelsker Arbeitskolonie ist somit vor dem Hintergrund des landläufigen Glaubens zu sehen, wonach Menschen »gezüchtet« und in ein vorgegebenes System gezwängt werden können. Diese Vorstellungen besaßen unterschiedliche Spielarten und Ausprägungen, sodass sie ihren Niederschlag – überspitzt formuliert – sowohl in Ferienlagern als auch in Arbeitskolonien fanden. Wie die historische Forschung gezeigt hat, kann das 20. Jahrhundert als ein »Jahrhundert der Lager«66 betrachtet werden, weil es »totale Institutionen« zu einer »Erfolgsgeschichte«67 hat werden lassen und mannigfaltige Arten von Lagern überall auf der Welt hervorgebracht hat, in Diktaturen ebenso wie in Demokratien.68 Allerdings beschränkte sich der Fokus der Forschung bisher im weitesten Sinne auf Internierungs-, Konzentrations- und Vernichtungslager.69 Die vorliegende Arbeit wagt nun den Versuch, die Perspektive zu erweitern, indem sie zwei vermeintlich ganz verschiedene sowjetische Insti­ tutionen für Kinder und Jugendliche in den Blick nimmt, von denen die eine die Antipode der jeweils anderen verkörperte. Was nahezu alle Generationen von Parteiführern zeit des Bestehens der Sowjetunion einte, war ihre Angst vor Nonkonformität und Devianz sowie ihre Skepsis gegenüber Individualismus und Liberalität.70 »Totale Institutionen« erschienen ihnen daher als probates Mittel, um ihrer Besorgnis und ihrem Missbehagen Abhilfe zu verschaffen oder – mit den Worten Baumans ausgedrückt – jegliche Ambivalenzen auszumerzen, die zu einer Bedrohung für die Politik und Ideologie der Sowjetunion hätten geraten können. Sie verhießen »beste« ideologische Voraussetzungen, um erdachte Möglichkeiten 65 Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 2005, 48. 66 Die Bezeichnung hat Zygmunt Bauman geprägt. Siehe außerdem Kotek, Joël / Rigoulot, Pierre: Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung. Berlin 2001. 67 Siehe Greiner, Bettina / Kramer, Alan (Hg.): Welt der Lager. Zur »Erfolgsgeschichte« einer Institution. Hamburg 2013. 68 Kramer, Alan: Einleitung. In: Greiner, Bettina / Kramer, Alan (Hg.): Welt der Lager. Zur »Erfolgsgeschichte« einer Institution. Hamburg 2013, 7. 69 Kotek / Rigoulot, Das Jahrhundert der Lager, 20–22. 70 Gorsuch, Youth in Revolutionary Russia, 12.

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Forschungsstand und theoretischer Zugang 

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Realität werden zu lassen und soziale Beziehungen in »besonderer Reinheit« zu verwirklichen. Zwar stellten das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie an der Peripherie gelegene und auf den ersten Blick unbedeutende Orte dar. Doch ist eine Gesellschaft letztlich nichts anderes als die Summe ihrer Mikrogeschichten.71 Die Betrachtung einer Gesellschaft von ihren Rändern her erlaubt es, unterschiedliche soziale Gefüge sichtbar zu machen. Wie Hans Medick treffend formuliert hat, besteht der Mehrwert der Mikro-Historie darin, dass durch die möglichst vielseitige und genaue Durchleuchtung historischer Besonderheiten und Einzelheiten für die Gesamtheit der Individuen des untersuchten Bereichs die Wechselbeziehungen kultureller, sozialer, ökonomischer und politisch-herrschaftlicher Momente als lebensgeschichtlicher Zusammenhang in den Blick gerät.72

Medick zufolge ermöglicht die Mikro-Historie eine experimentelle Untersuchung sozialer Beziehungsnetze und Handlungszusammenhänge, freilich nie nur in der Fixierung auf diese selbst, sondern immer auch im Blick auf die gesellschaftlichen, ökonomischen, kulturellen und politischen Bedingungen und Verhältnisse, die in ihnen und mit ihnen, durch und auch gegen sie zur Äußerung und zur Wirkung kommen.73

Orientiert an Medicks Ausführungen besteht das Ziel der Arbeit darin, die realen Ausprägungen der utopischen Vorstellungen aufzuzeigen. Hierzu werden die im Pionierlager Artek und der Archangelsker Arbeitskolonie erdachten Erziehungs- und Disziplinierungsmaßnahmen dargelegt und in Relation zu den in ihnen vorherrschenden sozialen Beziehungen gesetzt. Von Interesse ist dabei nicht nur das Verhältnis zwischen Beherrschten und Beherrschenden, zwischen Kindern und Jugendlichen auf der einen, ihren Erziehern und Aufsehern auf der anderen Seite, sondern das gesamte Beziehungs- und Interessengeflecht, das sich über beide Institutionen erstreckt hat. Die Arbeit adressiert dabei sowohl das Verhältnis der Kinder und Jugendlichen untereinander als auch die hierarchischen Strukturen, die sich auf lokaler Ebene zwischen den Erziehern und Direktoren der Einrichtungen sowie zwischen Peripherie und Zentrum manifestierten, sprich: zwischen den Direktoren 71 Die Bezeichnung Mikro-Historie oder Mikrogeschichte kam Ende der 1970er Jahre erstmals auf, geht auf Giovanni Levi zurück und wurde insbesondere von Carlo Ginzburg populär gemacht. Medick, Hans: Mikro-Historie. In: Schulze, Winfried (Hg.): Sozial­ geschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion. Göttingen 1994, 40; Ginzburg, Carlo: Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß. In: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag 1/2 (1993), 169. 72 Medick, Mikro-Historie, 44 f. 73 Ebd., 45.

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der Einrichtungen und den Funktionären des Komsomol sowie des NKVD respektive des Innenministeriums (Ministerstvo vnutrennich del – MVD) in Moskau. Bezugnehmend auf Alf Lüdtkes Studien zum »Eigen-Sinn« und zur »Herrschaft als sozialen Praxis« werden die sozialen Beziehungen innerhalb des Pionierlagers Artek und der Archangelsker Arbeitskolonie als ein »Kräftefeld« aufgefasst, »in dem Akteure in Beziehung treten und stehen, in dem sie miteinander umgehen, auch wenn sie einander ausweichen oder sich zu ignorieren suchen.«74 Macht und Herrschaft werden hier nicht als Konstante, sondern vielmehr als Prozess verstanden, weil die beteiligten Akteure sie immer wieder neu aushandelten. Auch wenn sich Herrschende und Beherrschte gegenüberstehen, kann Lüdtke zufolge mittels der Annahme eines »Kräftefeldes« beschrieben werden, dass sich »die Herrschenden ihrerseits in Abhängigkeiten finden« und »auch die Beherrschten […] mehr als passive Adressaten der Regungen der Herrschenden« sind, wodurch sich »Ungleichheiten und Widersprüche […] zwischen Herrschenden, ebenso wie zwischen Beherrschten« zeigen.75 Ähnliche Ansätze finden sich in der neueren Forschung zur Institutionentheorie. Laut dem Soziologen Robert Seyfert, der den doppeldeutigen Charakter von Institutionen hervorgehoben hat, beschreiben sie zwar »gesellschaftliche Fixierungen und Stabilisierungen sozialer Phänomene, die eine gewisse Permanenz aufweisen« und der »Ausschaltung struktureller Veränderungen und dem Schutz gegen Unordnung bzw. Irritation« dienen.76 Als solche suchen sie »bestimmte Verhaltensweisen [zu] normalisieren und diese damit auf eine spezifische soziale Ordnung hin an[zu]legen«.77 Doch versteht Seyfert Institutionen nicht nur als Formen sozialer Kontrolle, des Zwangs, der Einschränkung von Individualismus und Egoismus. In Anlehnung an die positive Institutionentheorie macht er auf den Widerspruch zwischen »fixierter institutioneller Ordnung und fluider menschlicher Subjektivität« aufmerksam und hebt hervor, dass Institutionen »genauso strukturiert […] wie fluide« sind, sich zwischen De-Institutionalisierung und Re-Institutionalisierung, zwischen Stabilisierung und Dynamisierung bewegen.78 Im Gegensatz zum Gros der existierenden historischen Forschungslitera­ tur werden Kinder und Jugendliche hier also nicht als passiv Erleidende, sondern als handlungsfähige Akteure verstanden. Keinesfalls soll damit in 74 Lüdtke, Alf: Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis. In: Lüdtke, Alf (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien. Göttingen 1991, 12. 75 Ebd., 13. 76 Seyfert, Robert: Das Leben der Institutionen. Zu einer Allgemeinen Theorie der Institutionalisierung. Weilerswist 2011, 12. 77 Ebd., 12. 78 Ebd., 13 f.

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Quellen und Methoden 

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Abrede gestellt werden, dass viele von ihnen nicht zugleich Opfer staatlicher Repressionen und Gewalt waren. Doch besaßen selbst die Zöglinge in der Archangelsker Arbeitskolonie stets einen mehr oder minder großen Aktionsradius. In Bezug auf Kinder und Jugendliche, die in staatlichen sowjetischen Erziehungseinrichtungen untergebracht waren, ist diese Perspektive  – abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen – bisher weitgehend vernachlässigt worden. So fassen Catriona Kelly und Olga Kucherenko sie in ihren Monografien überwiegend als Opfer des Stalinschen Terrors und der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges auf.79 Ein anderer Blickwinkel findet sich dagegen bei Mirjam Galley. In ihrem Aufsatz erachtet sie besprizorniki explizit als »eigenständige Akteure« und macht auf ihre hierarchischen Bandenstrukturen aufmerksam.80 In Ansätzen findet sich diese Herangehensweise auch bei Alan M. Ball, Wendy Z. Goldman und Anne E. Gorsuch, und zwar an den Stellen, an denen sie ihren Fokus auf die Lebensformen, Überlebensstrategien und Gruppendynamiken der besprizorniki richten.81 Eine Ausnahme stellt der Aufsatz von Maria Cristina Galmarini-Kabala dar, indem die Autorin verschiedene Situationen beschreibt, in denen die Zöglinge des Permer psycho-neurologischen Schulsanatoriums eigenmächtig handelten. Hierzu gehören vor allem die unzähligen Fälle von Diebstahl und Gewaltausbrüchen, die Galmarini-Kabala als Formen ihrer Aktion versteht. So schrieb auch einer der Lehrer des Schulsanatoriums, dass die Kinder sich mitunter aufführten »›as though they were the masters‹«.82

Quellen und Methoden Die Arbeit basiert auf einer Vielzahl an Quellenarten. Den Großteil bilden Archivalien, die in Russland aufbewahrt werden. Die Mehrheit ist von Brill (Pionierlager Artek)83 und der Hoover Institution (Arbeits- und Erziehungs79 Siehe Kelly, Children’s World, insb. 198–237; Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War. 80 Galley, »Wir schlagen wie eine Faust«: Die Bande als Lebensform sowjetischer Straßenkinder unter Stalin, 27 f. 81 Ball, And Now My Soul is Hardened, 22–28; Gorsuch, Youth in Revolutionary Russia, 148–158; Goldman, Women, the State and Revolution, 84–90. 82 Galmarini-Kabala, Psychiatry, Violence, and the Soviet Project of Transformation: A Micro-History of the Perm’ Psycho-Neurological School-Sanatorium, 312, 328 f. 83 Brill: World of Children  – Artek Pioneer Camp Archives, 1944–1967 Online. URL : https://primarysources.brillonline.com/browse/world-of-children-in-the-ussr-camp-​ archives (am 28.04.2019).

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kolonien)84 mikroverfilmt worden und kann inzwischen sogar über die Bayerische Staatsbibliothek in München bezogen werden. Bezüglich des Pionierlagers Artek sind dies allgemeine statistische Berichte sowie Monats- und Jahresberichte, sozial- und gesundheitspolitische Dokumente, administrative, medizinische und finanzielle Aufzeichnungen, Materialien für die im Lager durchzuführende politisch-ideologische Arbeit, Mitschriften von Versammlungen und Sitzungen der Mitarbeiter, Tagebücher und Notizen von Pionierleitern über die von ihnen betreuten Gruppen sowie Briefe und Grußkarten von Kindern aus aller Welt.85 Die Archivalien zur Archangelsker Arbeitskolonie umfassen statistische Daten über die Anzahl ihrer Mitarbeiter und Zöglinge, über ihren Haushalt, ihre Funktionsweise, Sicherheit, Versorgung sowie ihren allgemeinen Zustand, Quartals- und Jahresberichte über ihre Produktionstätigkeit, das Niveau ihrer Schul- und Berufsausbildung sowie über ihre Freizeitangebote für die Kinder und Jugendlichen, über die Situation der Gesundheitsversorgung und die hygienischen Bedingungen.86 Da nicht alle Archive respektive Archivalien zugänglich waren, sind Lücken, die sowohl konkrete Zeitabschnitte als auch inhaltliche Aspekte betref­ fen, unvermeidlich. Für das Pionierlager Artek fehlen Dokumente für die Jahre zwischen 1934 und 1944 sowie für die 1970er und 1980er Jahre. Ähnlich verhält es sich mit der Archangelsker Arbeitskolonie. Auch hier konnten keine Unterlagen für die Periode zwischen 1934 und 1943 eruiert werden.87 Des Weiteren mangelt es an Personeninformationen. Aus Datenschutzgründen 84 Hoover Institution Archives: Guide to the Archives of the Soviet Communist Party and Soviet State Microfilm Collection: State Archives of the Russian Federation. Fond R-9412, The Department of Children’s Labor and Educational Colonies of the USSR Ministry of Internal Affairs, 1941–1960. URL : http://pdf.oac.cdlib.org/pdf/hoover/GARF.pdf (am 28.04.2019). 85 Brill, World of Children – Artek Pioneer Camp Archives, 1944–1967 Online. 86 Hoover Institution Archives, Guide to the Archives of the Soviet Communist Party and Soviet State Microfilm Collection: State Archives of the Russian Federation. 87 Nach der Annexion der Halbinsel Krim durch Russland im März 2014 war ein Besuch im bis heute existierenden Lager Artek nicht möglich. Aussagen von Mitarbeitern des Russländischen Staatsarchivs für sozio-politische Geschichte (Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeskoj istorii – RGASPI ) zufolge lagern hier Archivalien zum Pionierlager Artek, die die 1970er und 1980er Jahre umfassen. Verwehrt blieb der Autorin auch der Zugang zum Informationszentrum der Verwaltung des Innenministeriums der Russländischen Föderation für die Oblast Archangelsk (Informacionnyj centr Upravlenija ministerstva vnutrennich del (IC UMVD) Rossii po Archangel’skoj oblasti), das weitere Dokumente zur Archangelsker Arbeitskolonie beherbergt. Im Jahr 2011 hat es in diesem Archiv einen juristischen Präzedenzfall gegeben, der vom Russländischen Inlands­ geheimdienst (Federal’naja služba bezopasnosti – FSB) gesteuert worden sein soll. Siehe Ramazašvili, Georgij: Kto i začem ograničivaet dostup k archivnym fondam? (K itogam odnogo sudebnogo dela). In: Novoe literaturnoe obozrenie 6 (2012), 429–440.

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Quellen und Methoden 

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war es nicht möglich, Akten zu bestellen, die Aufschluss über die Hintergründe des Personals sowie der Kinder und Jugendlichen beider Einrichtungen hätten geben können. So bleibt weitestgehend unklar, welcher Herkunft sie waren, wie und warum sie in das Pionierlager Artek oder in die Archangelsker Arbeitskolonie gelangten. Über die Mitarbeiter ist häufig nicht bekannt, inwieweit sie eine berufliche oder universitäre Ausbildung absolviert hatten, die sie für ihre Tätigkeit im Lager oder der Kolonie qualifizierte. Hilfreich für die Untersuchungen zur Archangelsker Arbeitskolonie er­ wiesen sich daher drei publizierte Quellensammlungen. Die umfangreichste von ihnen ist Deti GULAGA,88 die Semën Vilenskij herausgegeben hat. Sie enthält Beschlüsse oberster staatlicher Instanzen, Anordnungen diverser Volkskommissariate beziehungsweise Ministerien und Behörden ebenso wie Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen der Opfer. Wenige Jahre später folgte mit Children of the Gulag 89 eine englischsprachige Ausgabe, die ein ähnlich breites Spektrum an Dokumentenarten wie Deti GULAGA umfasst, allerdings in weitaus geringerer Anzahl. The Littlest Enemies von Deborah Hoffman90 dagegen beinhaltet fast ausschließlich Ego-Dokumente. Eine weitere wichtige Quelle stellen sowjetische Tages- und Wochenzeitungen, Periodika sowie die Schriften bolschewistischer Revolutionäre, Theoretiker, Pädologen und Wissenschaftler dar, vor allem die von Aron Zalkind (1888–1936), Nadežda Krupskaja (1869–1939), Pavel Blonskij (1884–1941), Lev Vygotskij (1896–1934), Zinovij Solov’ëv (1878–1928) und Fëdor Šišmarëv (1879–1942). Nützliche Informationen halten auch die zahlreichen Bücher bereit, die ab den späten 1930er Jahren regelmäßig über das Pionierlager Artek erschienen sind, um sowjetische Kinder mit seiner Geschichte und seinen Besonderheiten vertraut zu machen.91 Dank der veröffentlichten Memoiren der Pionierleiterin Nina Chrabrova lässt sich die Geschichte des Lagers zwischen 1941 und 1944 ansatzweise rekonstruieren.92

88 Vilenskij, Semën (Hg.): Deti GULAGa. 1918–1956. Moskau 2002. 89 Frierson, Cathy A. / Vilenskij, Semen: Children of the Gulag. New Haven, CT 2010. 90 Hoffman, Deborah (Hg.): The Littlest Enemies. Children in the Shadow of the Gulag. Bloomington, IN 2008. 91 Siehe etwa Kotov, V lagere sčastlivych; Tajc, Jakov / Gračev, Georgij: Artek. Pionerlager’ na otdyche. Dlja mladšego vozrasta. Moskau, Leningrad 1938; Kolesnikov, S. / Romanov, N. /  Smirnov, V.: Artek. Moskau 1940; Kondrašenko, Leonard: Artek. Simferopol’ 1966 sowie Rybinskij, Evgenij: Pionerskaja respublika Artek. Fotoal’bom. 2. Moskau 1976. 92 Mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 musste Artek evakuiert werden. Nach mehreren Zwischenstationen fand das Lager im Altaigebirge vorübergehend einen sicheren Platz. Nina Chrabrova, eine junge Pionierleiterin aus Est­ land, hat sämtliche Evakuierungsetappen von Anfang bis Ende miterlebt. Siehe Chrabrova, Nina: Moj Artek. Zametki pionervožatoj. Tallinn 1983.

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Bezüglich Arteks kommen außerdem Quellen zum Einsatz, die im Rahmen von acht biografisch-narrativ angelegten Oral-History-Interviews93 entstanden sind. Unter den Zeitzeugen befinden sich zwei Männer (Grigorij94 und Boris) und drei Frauen (Oksana, Inna und Svetlana) aus der ehemaligen Sowjetunion, eine Frau (Gisela) aus der ehemaligen DDR sowie ein Mann und eine Frau (Peter und Monika) aus der Bundesrepublik Deutschland. Die anhand der Interviews erhaltenen Informationen dienen hier vor allem als zusätzliche historische Quellen, um einige der oben angesprochenen Lücken zu füllen. Vor allem sollen sie das Zusammenleben während der internationalen Sommerlager, die ab den späten 1950er Jahren regelmäßig in Artek stattfanden, detaillierter und von verschiedenen Standpunkten aus beleuchten. Sie sind jedoch nicht notwendigerweise als historische Faktenbeschreibungen zu verstehen. Die Methode der Oral-History zwingt grundsätzlich zu kritischer Refle­ xion, weil meist größere Abstände zwischen einer Erzählung und dem Ereignis, auf das sie sich bezieht, liegen. Die Interviewpartner riefen sich mehrheitlich ein Geschehen ins Gedächtnis, das sie als Kinder und Jugendliche im Alter zwischen zwölf und 15 Jahren erlebt hatten und das inzwischen 30 bis 50 Jahre zurücklag. Da Oral-History-Interviews immer einen Bezug zur Gegenwart und damit zur Metaebene des Erinnerns besitzen, ist die Erinnerung eines Zeitzeugen, wie Alessandro Portelli formuliert hat, »not  a passive depository of facts, but an active process of creation of meanings.«95 Da die Interviewpartner ihre Aufenthalte in Artek unter verschiedenen Voraussetzungen erlebt haben, sie aus sozialistischen ebenso wie aus westlichen Ländern in das Pionierlager auf der Krim gereist sind, ist es vonnöten, sowohl die Gegenwart ihres Erinnerns, ihre aktuelle Lebenssituation und soziale Einbettung als auch ihre Vergangenheit zu berücksichtigen. An den entsprechen93 Die Oral-History nahm ihren Anfang in den späten 1930er Jahren in den USA . Im Laufe der Zeit entwickelte sie sich zu einer Methode, um Angehörigen marginalisierter Gruppen, die in der Geschichtsschreibung bisher keine Rolle gespielt hatten, etwa Frauen, Homosexuelle, Minderheiten und Menschen mit Behinderung, eine Stimme zu geben. Abrams, Lynn: Oral History Theory. London 2010, 4. 94 Die Namen aller Zeitzeugen wurden anonymisiert, Ortsnamen und Jahresangaben dagegen beibehalten. Die Aufzeichnung der Interviews mit Gisela, Peter und Monika erfolgte auf Deutsch, mit Grigorij, Boris, Inna, Svetlana und Oksana auf Russisch. Direkte Zitate aus letzteren Gesprächen werden in dieser Arbeit stets in deutscher Übersetzung, vorgenommen von der Autorin, wiedergegeben. 95 Portelli, Alessandro: What Makes Oral History Different. In: Perks, Robert / Thomson, Alistair (Hg.): The Oral History Reader. Abingdon, Oxon 2016, 53 f. Obwohl Alessandro Portellis Aufsatz bereits 1979 zum ersten Mal veröffentlicht worden ist, ist er auch heute noch aktuell und kann als Klassiker unter den Grundlagentexten zur Oral History gelten. Ebd., 48. Für weitere Grundlagentexte siehe Obertreis, Julia (Hg.): Oral History. Stuttgart 2012.

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den Stellen im Text werden deshalb Anmerkungen vorgenommen, die der Frage nachgehen, wie und auf welche Art und Weise erinnert wird.96 Sofern möglich, werden sie mit anderen Quellenarten in Beziehung gesetzt. Dieses Vorgehen erlaubt tiefere Einblicke in konkrete Sachverhalte, macht dichtere Beschreibungen möglich, Geschichte(n) erzählbarer und für den Leser lebendiger wie greifbarer, da mit ihr verarbeitete Geschichte und Realgeschichte kombiniert werden können.97 Bei den Interviews mit Svetlana und Grigorij bleibt zu erwähnen, dass insofern eine Besonderheit vorliegt, als hier die Grenzen zwischen biografischnarrativem und (systematisierendem) Experteninterview98 verschwimmen. Svetlana und Grigorij waren nämlich zunächst als 14- beziehungsweise 15-jährige Pioniere in Artek, kehrten jedoch im Erwachsenenalter in das Lager zurück und begannen, als Pionier- und Lagerleiter zu arbeiten. Damit haben sie die Seiten gewechselt, weg vom Jugendlichen, der hier einst diszipliniert und geformt wurde, hin zum Betreuer, der nun selbst Pioniere disziplinierte und formte. Aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeiten erhielten Svetlana und G ­ rigorij Einblick in die Arbeits-, Organisations- und Funktionsstrukturen Arteks, 96 Grundsätzlich besteht eine Reihe von Faktoren, die den Ablauf eines Interviews und damit auch das, was erinnert und erzählt wird, beeinflussen. Da hier nicht auf alle Faktoren eingegangen werden kann, sei an dieser Stelle auf weiterführende Literatur verwiesen. Hilfreiche Übersichten bieten Quinlan, Mary Kay: The Dynamics of Interviewing. In: Ritchie, Donald A. (Hg.): The Oxford Handbook of Oral History. Oxford 2012, 23–36; Portelli, Alessandro: The Battle of Valle Giulia. Oral History and the Art of Dialogue. Madison, WI 1997 und Kurkowska-Budzan, Marta / Zamorski, Krzysztof (Hg.): Oral History. The Challenges of Dialogue. Amsterdam, Philadelphia, PA 2009. Nicht zuletzt spielt die Beziehung zwischen Interviewer und Interviewtem eine Rolle. Siehe Abrams, Oral History Theory, 9–11. 97 Dieses Vorgehen fand zunächst unter anglo-amerikanischen Historikern Verbreitung. Wie Alexander von Plato in einem 2007 erschienenen Aufsatz deutlich gemacht hat, war die Kombination aus biografischen Forschungen und Erinnerungen auf der einen und Aktenüberlieferungen auf der anderen Seite bei Kollegen aus dem deutschsprachigen Raum zunächst noch umstritten. Im Rahmen seines Projekts zur Sklaven- und Zwangsarbeit mussten er und sein Team jedoch erkennen, dass sich eine solche Kombination als produktiv erweisen und neue Sachverhalte ans Tageslicht bringen kann. Plato, Alexander von: »Es war moderne Sklaverei«. Erste Ergebnisse des lebensgeschichtlichen Dokumentationsprojekts zur Sklaven- und Zwangsarbeit. In: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 20/2 (2007), 279–281. 98 Der Terminus »Experteninterview« wird hier nach der Definition von Alexander Bogner und Wolfgang Menz verwendet, denen zufolge »der Experte […] über technisches, Prozess- und Deutungswissen [verfügt], das sich auf sein spezifisches professionelles oder berufliches Handlungsfeld bezieht.« Bogner, Alexander / Menz, Wolfgang: Das theoriegenerierende Experteninterview. Erkenntnisinteresse, Wissensformen, Interaktion. In: Bogner, Alexander / Littig, Beate / Menz, Wolfgang (Hg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Opladen 2002, 46.

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wodurch sie im Besitz von Expertenwissen sind. Wie Alexander Bogner und Wolfgang Menz dargelegt haben, besteht das Expertenwissen nicht allein aus systematisiertem, reflexiv zugänglichem Fach- oder Sonderwissen, sondern es weist zu großen Teilen den Charakter von Praxisund Handlungswissen auf, in das verschiedene und durchaus disparate Handlungsmaximen und individuelle Entscheidungsregeln, kollektive Orientierungen und so­ ziale Deutungsmuster einfließen.99

Anhand der mit Svetlana und Grigorij durchgeführten Interviews lassen sich somit zusätzliche Informationen über Geschehnisse und praktische Vorgänge im Pionierlager Artek gewinnen, über die die Archivalien keine Auskunft geben. Bezüglich Arteks fand zudem die Methode der teilnehmenden Beobachtung Anwendung. Hierzu hat die Autorin an Treffen der »Artek-Alumni-Community« teilgenommen.100 Bei dem Begriff »Artek-Alumni-Community« handelt es sich nicht um eine Eigen-, sondern eine von der Verfasserin gewählte Bezeichnung, sprich: um eine Fremdbezeichnung.101 Die Gruppenmitglieder selbst nennen sich artekovcy (Singular: artekovec102). Zu ihrer »imagined community« gehören alle, die mindestens einmal in Artek gewesen waren oder es aktuell sind, ehemalige Pioniere sowie Mitarbeiter. Die Gruppe setzt sich überwiegend aus Personen zusammen, die das sowjetische Artek kennengelernt haben. Ihre Zahl ist angesichts der Masse an Pionieren und Personal, die das Lager zeit seines Bestehens durchlaufen hat, schwindend gering. An einer anlässlich des 90-jährigen Jubiläums von Artek organisierten Veranstaltung in Moskau im Mai 2015 haben nicht mehr als 100 Personen teilgenommen. Die Zahl derjenigen, die regelmäßig auch andere kleinere Zusammenkünfte aufsucht, fällt um ein Vielfaches geringer aus. 99 Ebd. 100 Allgemein zur Methode der teilnehmenden Beobachtung siehe Girtler, Roland: Methoden der Feldforschung. 4. Aufl. Wien u. a. 2001, 65–146; Hauser-Schäublin, Brigitta: Teilnehmende Beobachtung. In: Beer, Bettina (Hg.): Methoden ethnologischer Feld­ forschung. 2. Aufl. Berlin 2008, 37–58. 101 Hinsichtlich der Methode der teilnehmenden Beobachtung unterscheiden die Sozialwissenschaften zwischen einer emischen und einer etischen, einer Innen- und Außenperspektive, je nachdem, ob die Person, die eine bestimmte soziale Gruppe beobachtet, zu ihr gehört oder nicht. Diese Differenzierung, die Kenneth Pike in den 1950er Jahren eingeführt hat, löste heftige Debatten aus. Dabei ging es nicht zuletzt um die Frage der von den Forschern verwendeten Begriffe und Zuschreibungen, in denen sich ebenfalls emische und etische Perspektiven widerspiegeln. Siehe Headland, Thomas N. / Pike, Kenneth L. / Harris, Marvin (Hg.): Emics and Etics. The Insider / Outsider Debate. Newbury Park, CA 1990 sowie Jardine, Nick: Etics and Emics (Not to Mention Anemics and Emetics) in the History of the Sciences. In: History of Science 42/3 (2004), 261–278. 102 In der DDR waren zwei deutsche Entsprechungen in Gebrauch: Arteker und Artekist.

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Für die Archangelsker Arbeitskolonie konnten keine Interviewpartner ausfindig gemachen werden. Abgesehen davon, dass Oral-History in diesem Umfeld angesichts der gegenwärtigen politischen Situation in Russland ein heikles Unterfangen darstellt, darf nicht vergessen werden, dass die Kolonie auf der Insel im Dwina-Delta bereits 1960 geschlossen wurde. Selbst wenn einige der letzten minderjährigen Zöglinge damals nicht älter als 14 Jahre gewesen wären, hätten sie heute ein Alter von über 70 Jahren. Unter Berücksichtigung der statistischen Lebenserwartung von Männern in Russland ist es unwahrscheinlich, dass sich noch Zeitzeugen hätten finden lassen.103 Wie anhand der Ausführungen zur Quellensituation hervorgeht, bestehen für das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie nicht nur zeitliche und inhaltliche Lücken. Zwischen ihnen herrscht auch ein Ungleichgewicht hinsichtlich des Quellenvolumens. Die vorliegende Arbeit strebt allerdings nicht danach, die Geschichte und Entwicklung beider Einrichtungen in ihrer Gesamtheit zu präsentieren, sondern orientiert sich am Modell des aspekthaften historischen Vergleichs und konzentriert sich daher auf vereinzelte Phänomene, Themen und deren Ausprägungen.104 Nicht immer ist es möglich, die Erzählung integrativ beziehungsweise symmetrisch vergleichend anzulegen, sodass das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeits­kolonie an einigen Stellen getrennt voneinander beleuchtet werden. Obendrein ist es aufgrund der mageren Quellenlage zu letzterer Einrichtung mitunter notwendig, den Blick beispielhaft auf andere Kolonien zu werfen. Der Mehrwert des historischen Vergleichs besteht, wie Thomas Welskopp dargelegt hat, darin, dass er »Blindflecken« aufdecken kann, die sich bei Einzelbetrachtung des Pionierlagers Artek respektive der Archangelsker Arbeitskolonie nicht erkennen lassen. Außerdem trägt er dazu bei, die »Ausprägungen eines [untersuchten] Phänomens« – in diesem Falle die Erziehungs- und Disziplinierungsmaßnahmen beider Einrichtungen  – sichtbar zu machen,

103 Der russländischen Statistikbehörde Rosstat zufolge betrug die Lebenserwartung für Männer im europäischen Teil der RSFSR , die 1926/27 geboren worden waren, etwa 40 Jahre. Die nächste Berechnung erfolgte erst für die Jahre 1961/62. Damals belief sich die statistische Lebenserwartung für Männer auf knapp 64 Jahre. 2016 lag sie bei 66,5 Jahren. Rosstat: Naselenie. Demografija. Estestvennoe dviženie naselenija. Ožidaemaja prodolžitel’nost’ žizni pri roždenii. URL : http://www.gks.ru/wps/wcm/connect/ rosstat_main/rosstat/ru/statistics/population/demography/# (am 1.5.2018). 104 Kocka, Jürgen: Comparison and Beyond. In: History and Theory 42/1 (2003), 41 f. Zum historischen Vergleich siehe außerdem Kaelble, Hartmut: Historischer Vergleich, In: Docupedia-Zeitgeschichte. URL : http://docupedia.de/zg/Historischer_Vergleich (am 2.5.2018) sowie Welskopp, Thomas: Vergleichende Geschichte, In: Europäische Geschichte Online (EGO). URL : http://ieg-ego.eu/de/threads/theorien-und-methoden/ vergleichende-geschichte (am 9.5.2018).

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Einleitung

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wodurch »gemeinsame Grundmuster« und Unterschiede herausgearbeitet werden können.105

Begriffe und Definitionen In der vorliegenden Arbeit wird mit einer Reihe von Begriffen operiert, die einer Definition und Erklärung bedürfen, um Missverständnisse und Fehlinterpretationen zu vermeiden. Ein Schlüsselterminus ist Institution, der in den Sozialwissenschaften unterschiedlich ausgelegt wird. Im Allgemeinen bezeichnet er nicht nur gesellschaftliche und staatliche Einrichtungen wie Behörden, Ämter, Gerichte, Universitäten, Schulen, Internate, Gefängnisse und dergleichen, sondern auch Regelsysteme zur Ordnung und Normierung des Verhaltens und Handelns von Individuen und Gruppen. Sofern nicht anders angegeben, meint der Begriff in dieser Arbeit sowohl die physischen Orte des Pionierlagers Artek und der Archangelsker Arbeitskolonie als auch ihr Regelwerk. Dasselbe gilt für den Terminus Einrichtung, der hier zur sprachlichen Variation synonym zu Institution verwendet wird. Ein ebenso wichtiger Begriff ist Devianz, der für die Betrachtung der besprizorniki und beznadzorniki eine wesentliche Rolle spielt. Orientierung bietet die Verwendung und Definition von Devianz, wie sie in GalmariniKabalas Monografie The Right to Be Helped. Deviance, Entitlement, and the Soviet Moral Order zu finden ist. Galmarini-Kabala, die neben verhaltens­ auffälligen Kindern und Jugendlichen auch alleinerziehende arbeitslose Mütter, Blinde und Gehörlose in ihre Untersuchung einbezieht, versteht unter Devianz nicht nur »illegal behavior or delinquency«, sondern »bodies, sexualities, and socioeconomic behaviors that differ from a set norm.«106 Weiterhin hebt sie hervor, dass diese Personengruppen formal betrachtet zwar nicht zwangsläufig Delinquenten waren, dass sie aber als prädestiniert dafür galten to slip into nonconformist and illegal activities that in the Soviet Union were considered counterrevolutionary – such as begging, private trading, fortune-telling, public singing for alms, homelessness and vagrancy, alcoholism and drug addiction, if not thieving and prostitution. In the eyes of [Soviet] power, they were always ›deviating‹ […], that is, departing from the imagined norm of able-bodiedness, working capacity, disciplined behavior, and gender uprightness [or] […] seen as maliciously ›refraining‹ from contributing to the collective.107 105 Ebd., Abschnitte 11 und 13–15. 106 Galmarini-Kabala, Maria Cristina: The Right to Be Helped. Deviance, Entitlement, and the Soviet Moral Order. DeKalb, IL 2016, 4. 107 Ebd.

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Begriffe und Definitionen 

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Galmarini-Kabalas Beobachtung, wonach sie einerseits Mitleid hervorriefen, andererseits ein Problem für die innere Ordnung darstellten, spiegelt sich auch am staatlichen Umgang mit besprizorniki und beznadzorniki wider.108 In diesem Kontext bedürfen die Begriffe Kinder und Jugendliche einer Altersabgrenzung. Problematisch ist dies insofern, als der sowjetische Staat hierfür unterschiedliche Maßstäbe angelegt hat, zum einen bezüglich der Zugehörigkeit zur Pionierorganisation und zum Komsomol, zum anderen hinsichtlich des sowjetischen Jugendstrafrechts. Die Pionierorganisation umfasste im Grunde Kinder, nämlich die Oktoberkinder (oktjabrjata), bestehend aus der Altersgruppe der Sieben- bis Neunjährigen, und die (Lenin-)Pioniere der Altersgruppe der Zehn- bis 14-Jährigen.109 Der Beitritt zum Komsomol erfolgte als Jugendlicher ab dem 14. Lebensjahr. Bis 1936 war die Mitgliedschaft jungen Erwachsenen bis zu einem Alter von 24 Jahren,110 später bis zu einem Alter von 28 Jahren vorbehalten.111 Die Strafmündigkeit Minderjähriger erlebte mehrfach Veränderungen. Galten unmittelbar nach der Oktoberrevolution alle unter 18-Jährigen als nicht strafmündig, wurde die Grenze 1926 auf 14 und 1935 sogar auf zwölf Jahre herabgesetzt. Anders formuliert: Ein zwölfjähriges Kind konnte heute noch Pionier sein und morgen für eine Straftat rechtlich verurteilt werden. Schwieriger zu definieren sind die Begriffe Lager und Kolonie. Weshalb Einrichtungen wie die Archangelsker Arbeitskolonie als Kolonie und nicht als Lager bezeichnet wurden, obwohl sie ihren großen Brüdern des Gulag, der Hauptverwaltung der Lager (Glavnoe upravlenie lagerej), nachempfunden waren, lässt sich nicht eindeutig klären. In den 1920er Jahren hatten zunächst sogenannte Arbeitshäuser (trudovoj dom) und Arbeitskommunen (trudovaja kommuna) für minderjährige Delinquenten existiert. Der Terminus Arbeitskolonie (trudovaja kolonija)  kam erst Mitte der 1930er Jahre mit der Entstehung dieser Art von Institutionen auf. Im Unterschied zu Arbeitshäusern und -kommunen, die sich in Städten oder unweit urbaner Zentren befanden, erfolgte die Gründung von Arbeitskolonien in abgelegenen Gegenden. Der Begriff Kolonie ist in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie (Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija – BSĖ ) von 1938 in der Bedeutung einer Erziehungsund Besserungsanstalt nicht enthalten, auch nicht in Verbindung mit den Attributen detskaja (Kinder-) oder trudovaja kolonija (Arbeitskolonie). Stattdessen beschränkt sich der Eintrag auf die »imperialistische« Politik des Kolonialismus und ihren ausbeuterischen Charakter. Die Definition, die der 108 Ebd. 109 Kassof, Allen: The Soviet Youth Program. Regimentation and Rebellion. Cambridge, MA 1965, 1. 110 Neumann, The Communist Youth League and the Transformation of the Soviet Union, 1917–1932, 5. 111 Kassof, The Soviet Youth Program, 52 f.

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Einleitung

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Autor für den Terminus Kolonie gibt, ist dennoch nicht uninteressant. Demnach ist der Begriff vom Lateinischen colonia abgeleitet und bezeichnet seiner ursprünglichen Bedeutung nach eine »mehr oder weniger organisierte Massensiedlung von Bürgern eines Staates außerhalb der Grenzen ihrer Heimat«, wozu Regionen in Übersee ebenso wie benachbarte und dünn besiedelte Randgebiete gehören.112 Dass kolonialistische Beweggründe auch bei der Gründung von Arbeitskolonien in der Sowjetunion eine Rolle gespielt haben könnten, ist durchaus anzunehmen. Da im flächenmäßig größten Staat der Welt zu wenigen Menschen zu viel Raum zur Verfügung stand, könnte die Errichtung von Arbeitskolonien in dünn besiedelten oder unbewohnten Gebieten dazu gedient haben, Macht über sie zu erlangen und Souveränitätsprobleme zu beseitigen. Ähnlich diffus verhält es sich mit dem Terminus Lager. Auch hier fehlt die Bedeutung der Straf- und Besserungsinstitution. Stattdessen stellt der zugehörige Eintrag in der BSĖ einen Konnex zum Bereich des Militärs her. Lager werden hier als temporäre oder konstant befestigte (Römer-)Lager definiert, aus denen später Städte hervorgegangen sind.113 Wie ein Blick in das enzyklopädische Wörterbuch von Brockhaus-Efron verrät, waren die Begriffe Kolonie und Lager Ende des 19. beziehungsweise Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch auch in anderen Bedeutungen bekannt. Unter dem Eintrag Schulhygiene (Škol’naja gigiena) findet sich ein Absatz zu sogenannten Schulkolonien (škol’naja kolonija) und Sommerkolonien für Kinder (letnjaja detskaja kolonija). Hierbei handelte es sich um naturnahe Erholungsangebote für bedürftige Schüler aus Städten, die es ihnen ermöglichten, für kurze Zeit der erbärmlichen und gesundheitsschädigenden Umgebung, in der sie aufwuchsen, zu entfliehen. Aufgekommen 1876 in der Schweiz, hielt die Idee der Sommerkolonien weniger später auch im Russländischen Reich Einzug.114 Worin die Ursache dafür liegt, dass sich die sowjetischen Parteiführer für die Bezeichnungen Pionierlager und nicht Pionierkolonien sowie Arbeits­ kolonien statt Arbeitslager entschieden haben, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Denkbar ist, dass die Straf- und Besserungseinrichtungen mit dem Begriff Kolonie bewusst vom Vorbild des Gulag abgegrenzt werden sollten, um eine Differenzierung zwischen minderjährigen und erwachsenen Insassen herzustellen. Möglich erscheint zudem, dass der Begriff Pionierlager dazu beitragen sollte, den Terminus Lager positiv zu besetzen. 112 Daševskij, G.: Kolonii i kolonial’naja politika. In: Šmidt, Otto (Hg.): Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija. Tom tridcat’ tretij. Klassy-konkurencija. Moskau 1938, 423 (Übersetzung aus dem Russischen – K. B.). 113 Lager’. In: Šmidt, Otto (Hg.): Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija. Tom tridcat’ pjatyj. »Krest’janskaja gazeta«-Larson. Moskau 1937, 653 f. 114 Ostrovskij, V.: Škol’naja gigiena. In: Brokgauz«, F. / Efron«, I. (Hg.): Ėnciklopedičeskij slovar’. Tom« XXXIX . Šen’je-Šujskij monastyr’. Sankt Petersburg 1903, 643.

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Aufbau der Arbeit 

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Abschließend bleibt anzumerken, dass russischsprachige Bezeichnungen sowie Orts- und Personennamen, für die keine entsprechende deutsche Schreibweise im Duden existiert, hier nach den Regeln der wissenschaftlichen Transliteration wiedergegeben werden.

Aufbau der Arbeit Das erste Kapitel zeichnet im weitesten Sinne die Entstehungskontexte der beiden Einrichtungen nach. Im Fokus steht dabei das Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik. Da die Bolschewiki Kinder und Jugendliche zu Galionsfiguren der Revolution erhoben, zum Zeitpunkt ihrer Machtübernahme aber noch keine explizite Kinder- und Jugendpolitik formuliert hatten und sich zu allem Überfluss mit immensen sozialen Problemen, allen voran mit besprizornost’ und beznadzornost’, konfrontiert sahen, setzten sie ihre Hoffnungen in die Wissenschaften. Mit der sogenannten Pädologie (pedologija), der Wissenschaft vom Kind, schufen sie eigens eine neue Disziplin, die verschiedene Fachrichtungen unter ihrem Dach vereinte. Ihre Aufgabe bestand darin, die besonderen Entwicklungsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zu erforschen. Von ihren gewonnenen Erkenntnissen versprachen sich die Bolschewiki nicht nur Antworten auf dringende soziale Missstände, sondern auch praktische Anleitungen zur Schaffung »Neuer Kinder«, die in staatlichen Einrichtungen, in Kindergärten, Schulen, Heimen, Pionierlagern, Arbeitshäusern und -kommunen, zur Anwendung kommen sollten. Als sich zusehends abzeichnete, dass die Pädologie nicht imstande sein würde, kurzfristig umfassende und praktikable Lösungen für die dringendsten sozialen Missstände zu finden, ließ das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei (Central’nyj komitet Vzesojuznoj Kommunističeskoj Partii bol’ševikov – CK VKP(b)) sie 1936 liquidieren. Parallel dazu wandelte sich der staatliche Umgang mit besprizorniki und beznadzorniki. Hatte er anfangs humane und für die damalige Zeit bemerkenswert fortschrittliche Züge getragen, nahm er ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre sukzessiv repressiveren Charakter an. Ihren Höhepunkt erreichte die Entwicklung Mitte der 1930er Jahre, als die Parteiführer harsche Jugendstrafgesetze erließen und unionsweit Arbeitskolonien für minderjährige Delinquenten errichteten. Junge Straftäter und besprizorniki blieben damit vom Projekt des sozialistischen Aufbaus ausgeschlossen. Das zweite Kapitel knüpft an diese Ausführungen an und richtet seinen Blick auf die im Pionierlager Artek und der Archangelsker Arbeitskolonie unternommenen beziehungsweise nicht-unternommenen Disziplinierungsund Erziehungsmaßnahmen. Dass beide Einrichtungen ihrer eigentlichen © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109//9783666310942 | CC BY-NC-ND 4.0

Einleitung

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Aufgabe häufig nicht einmal annähernd nachkamen, war nicht zuletzt das Resultat ihrer peripheren Lage. Während Kriegszuständen und Hungersnöten sahen sie sich angesichts ihrer Abgeschiedenheit mit akuten Versorgungsschwierigkeiten sowie mit Fluktuation und Personalmangel konfrontiert. Infolgedessen blieben die Kinder und Jugendlichen sich selbst überlassen, was dazu führte, dass die beiden Institutionen zu Räumen avancierten, in denen sich inoffizielle Hierarchien und Strukturen herausbildeten, die Selbstermächtigung, Missbrauch und Gewalt begünstigten. Gleichwohl bedeutete dies nicht, dass es keine konkreten Erziehungspläne gegeben hätte. Die entsprechenden Maßnahmen lassen wohldurchdachte Überlegungen erkennen, die in erheblichem Maße von der Pädologie beeinflusst waren und über ihr Verbot hinaus fortbestanden, auch wenn sie zuweilen keine Umsetzung fanden. Das dritte und letzte Kapitel widmet sich dem für »totale Institutionen« – und »Heterotopien«  – charakteristischen Mechanismus von Öffnung und Abschließung. Trotz ihres kontrollierten Zugangs waren weder das Pionierlager Artek noch die Archangelsker Arbeitskolonie von dem sie umgebenden Raum abgeschlossen. Um ihrer Existenz, ihrem Tun und Handeln Legitimität zu verleihen, suchten sie explizit nach Interaktionsmöglichkeiten mit der Außenwelt. Um dabei nicht Gefahr zu laufen, dass Außenstehende einen unerwünschten Blick hinter ihre Kulissen warfen oder ihre innere Ordnung unterminierten, setzten die beiden Institutionen alles daran, ungewollte Vorkommnisse durch perfekte Planung und Organisation a priori zu unterbinden. Was in der Theorie bestens überlegt gewesen sein mag, führte in der Praxis immer wieder zu Paradoxien. Um die mit diesem Vorgehen verbundenen ambivalenten Erscheinungen aufzuzeigen, finden für die Archangelsker Arbeitskolonie jene Momente der Öffnung Betrachtung, die sich auf innersowjetischer Ebene zwischen Zentrum und Peripherie abspielten, beispielsweise in Form von Inspektoren- und Verwandtenbesuchen. Dagegen werden hinsichtlich Arteks die Momente der Öffnung auf internationaler Ebene ins Visier genommen, da das Lager zeit seines Bestehens ausländische Gäste empfing. Mit Beginn von Chruščëvs Tauwetterperiode hielt es internationale Sommerlager von beachtlichen Dimensionen ab, die bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion den alljährlichen Höhepunkt Arteks darstellten. Der Schlussteil präsentiert nicht nur die Ergebnisse der Arbeit, sondern wirft auch einen Blick in die unmittelbare Gegenwart, da Artek bis heute existiert und Russland nach wie vor Erziehungskolonien für delinquente Minderjährige betreibt. Dadurch können sowjetische Entwicklungen in Relation zu postsowjetischen gesetzt und Brüche, Kontinuitäten und Neuanfänge sichtbar gemacht werden, die im Zuge der Transformation nach 1991 aufgetreten sind. Zudem wird der Versuch unternommen, allgemeingültige Aussagen über die Funktionsmechanismen »totaler Institutionen« abzuleiten. © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109//9783666310942 | CC BY-NC-ND 4.0

I.

Das »Neue Kind« in Wissenschaft und Politik Der Mensch muss zur Gänze wissenschaftlich entblößt werden, in all seiner dialektischen Schärfe – nur so kann die Revolution sich ihn wirklich umfassend zu Nutze machen. Aron Zalkind1

Im Zuge ihrer Machtübernahme mussten die Bolschewiki erkennen, dass Kinder und Jugendliche eine sozial benachteiligte Gruppe darstellten, die spezielle Bedürfnisse hatte, besonderen Schutz und Fürsorge benötigte. Viele Revolutionäre erachteten sie als Leidtragende der gegebenen Umstände und sahen den neuen Staat in der Pflicht, ihnen uneingeschränkt und vorbehaltlos zu helfen.2 Obschon die bolschewistischen Parteiführer gleich drei Volks­ kommissariate, nämlich das für Gesundheit (Narodnyj komissariat zdravoochranenija  – Narkomzdrav), das für Sozialfürsorge (Narodnyj komissariat social’nogo obespečenija – Narkomsobes) und das für Bildung (Narodnyj komis­sariat prosveščenija – Narkompros), zuständig für die Angelegenheiten von Minderjährigen erklärten,3 hatten sie insgesamt doch nur vage Vor­ stellungen von der Schaffung der ersten sozialistischen Generation.4 Sie sahen sich folglich nicht nur mit einer, sondern mit zwei gewaltigen und nur schwer in Einklang zu bringenden Herausforderungen konfrontiert. Zum einen verlangte das »Neue Kind« noch nach seiner Entdeckung. Zum anderen mussten dringend Lösungen für die Unzulänglichkeiten der sozialen Realität gefunden werden.5 Unterstützung erhofften sich die bolschewistischen Machthaber seitens der Wissenschaften. Beflügelt von den bahnbrechenden Leistungen, die diese seit dem 19. Jahrhundert stetig hervorbrachten,6 hingen sie einem unerschütter1 Zalkind, Aron: Organizacija pedologičeskoj obščestvennosti. In: Pedologija Serija B, 2 (1928), 4 (Übersetzung aus dem Russischen – K. B.). 2 Goldman, Women, the State and Revolution, 61 f. 3 Kelly, Children’s World, 196 f.; Ball, And Now My Soul is Hardened, 88 f. 4 Bernstein, Raised under Stalin, 2. 5 Die neuere historische Forschung hat inzwischen vermehrt darauf hingewiesen, dass es den Bolschewiki grundsätzlich an konkreten Handlungsstrategien zur Staatsbildung mangelte. Siehe Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, 118; Neutatz, Träume und Alpträume, 168 sowie Hoffmann, David L.: The Great Socialist Experiment? The Soviet State in Its International Context. In: Slavic Review 76/3 (2017), 619–628. 6 Ihren Aufstieg verdankten die Wissenschaften den Großen Reformen (Velikije reformy), die Zar Aleksandr II . Mitte des 19. Jahrhunderts initiiert hatte. So war es Forschern wie

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Das »Neue Kind« in Wissenschaft und Politik

lichen Fortschrittsglauben und Zukunftsoptimismus an.7 Die kontinuierliche Genese neuen Wissens lieferte ihnen den Beweis dafür, dass die bestehende Ordnung nicht gottgegeben und unumstößlich, sondern veränderbar ist. Dasselbe galt ihrer Überzeugung nach für den Menschen, den sie vielmehr für ein Produkt seiner Umwelt denn seiner Erbanlagen hielten. Hieraus speiste sich die Auffassung, dass der Mensch grenzenlos optimiert und durch adäquate Erziehung zum Bezwinger von Natur, Raum und Zeit gemacht werden kann.8 Dass Kinder und Jugendliche in diesem Kontext als Galionsfiguren der Revolution fungierten, resultierte daraus, dass sie weniger vorgeprägt waren als Erwachsene und die Verheißung auf nahezu unbegrenzte Formbarkeit boten.

dem Chemiker Dmitrij Mendeleev (1834–1907), dem Zoologen Il’ja Mečnikov (1845– 1916), dem Biologen Kliment Timirjazev (1843–1920) oder dem Physiologen Ivan Sečenov (1829–1905) gelungen, mittels ihrer Entdeckungen internationales Ansehen zu erwerben und in engen Kontakt mit ausländischen Kollegen zu treten. Stökl, Günther / Alexander, Manfred: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 6. Aufl. Stuttgart 1997, 557 f.; Aust, Martin: Russland und Europa in der Epoche des Zarenreiches (1547–1917), In: Europäische Geschichte Online (EGO). URL : http://www.ieg-ego.eu/ austm-2015-de (am 22.8.2017). Eine detaillierte Darstellung zur Bedeutung der Großen Reformen für die Wissenschaften hat Guido Hausmann am Beispiel der Gründung der Universität von Odessa vorgenommen. Hausmann, Guido: Universität und städtische Gesellschaft in Odessa, 1865–1917. Soziale und nationale Selbstorganisation an der Peripherie des Zarenreiches. Stuttgart 1998. Kurz vor der Jahrhundertwende war das Russländische Reich von der Industrialisierung erfasst worden. Obgleich die Modernisierungsprozesse des Landes von der Fachwelt kontrovers beurteilt werden, sind Fortschritte nicht zu verkennen, darunter insbesondere der Ausbau des Kommunikations- und Verkehrsnetzes. Ein Überblick über die Industrialisierung und ihre Implikationen findet sich bei Neutatz, Träume und Alpträume, 21–88. 7 Graham, Loren R.: Science in Russia and the Soviet Union. A Short History. Cambridge 1993, 57 f. 8 Gestwa, Klaus: Social und soul engineering unter Stalin und Chruschtschow, 1928–1964. In: Etzemüller, Thomas (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009, 241–277; Rüting, Torsten: Pavlov und der neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland. München 2002, 57 f. Die Unterwerfung von Natur, Raum und Zeit galt über Jahrzehnte hinweg als eines der Kernelemente sowjetischer Innen- und Außenpolitik und sollte national wie international die Überlegenheit des ersten sozialistischen Staates der Welt demonstrieren. Zu den sowjetischen Prestige­ projekten ist reichlich Forschungsliteratur erschienen, darunter Josephson, Paul R.: Physics and Politics in Revolutionary Russia. Berkeley, CA 1991; ders.: The Conquest of the Russian Arctic. Cambridge, MA 2014; Kotkin, Stephen: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization. Berkeley, CA 1995 sowie Schlögel, Karl: Terror und Traum. Moskau 1937. 2. Frankfurt am Main 2011. Für den Spätstalinismus, die Chruščëv- und die BrežnevÄra siehe Gestwa, Klaus: Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967. München 2010; Hale-Dorrell, Aaron: Corn Crusade. Khrushchev’s Farming Revolution in the Post-Stalin Soviet Union. New York, NY 2019 sowie Grützmacher, Johannes: Die Baikal-Amur-Magistrale. Vom BAMlag zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev. Berlin, Boston 2012.

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Getrieben vom bedingungslosen Willen zur Veränderung, der zu den Grundfesten bolschewistischer Ideologie und Politik gehörte,9 riefen führende Kräfte aus Politik und Wissenschaft mit der Pädologie eine Disziplin ins Leben, die sich als holistische Lehre von der Entwicklung und dem Verhalten, von der Physis und Psyche des Kindes verstand und sämtliche hiermit verbundenen Wissenschaften, insbesondere Medizin, Biologie, Psychologie, Psychiatrie, Physiologie und Pädagogik, unter ihrem Dach vereinen sollte.10 Da jeglicher gesellschaftlicher Wandel nur vom Menschen ausgehen konnte, oblag es den Experten der einzelnen Fachgebiete, die facettenreichen Wesen von Kindern und Jugendlichen zu ergründen und herauszufinden, welche Bedingungen die bestmögliche Entfaltung ihrer Fähigkeiten erlaubten. Die gewonnenen Erkenntnisse sollten nichts Geringeres als die Grundlage zur Schaffung des »Neuen Menschen« bilden, der bereit, kompetent und gewillt sein würde, den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft voranzutreiben. Da die hierfür geeigneten Strategien und Methoden noch ausfindig gemacht und erprobt werden mussten, war die frühe Phase der bolschewistischen beziehungsweise sowjetischen Herrschaft eine Zeit des wissenschaftlichen und politischen Experimentierens und Suchens, das zu weiten Teilen nach dem Prinzip von Trial-and-Error funktionierte. Als sich immer mehr offenbarte, dass die Wissenschaften nicht in der Lage sein würden, kurzerhand umfassende und praktikable Antworten auf die dringendsten sozialen Probleme zu finden, sahen sie sich zunehmendem politischen Druck ausgesetzt. In diesem Kontext veränderte sich auch der staatliche – und gesellschaftliche – Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Zwar hatte die Vorstellung, wonach sie zu glühenden Anhängern und Erbauern des Sozialismus (um-)erzogen werden könnten, weiterhin Bestand. Doch vollzog sich ein Kurswechsel hinsichtlich der Mittel und Wege, wie dieses Ziel erreicht werden sollte. Am eindrücklichsten lässt er sich anhand des Umgangs mit besprizorniki ablesen. Einst als unschuldige Opfer der Umstände ihrer Zeit angesehen, die bedingungslos staatlicher Unterstützung bedurften, hatten die Eliten aus Wissenschaft und Politik zunächst humanistische und reform­pädagogische Ansätze verfolgt, um sie wieder auf den »rechten« Weg zu bringen. Seit Mitte der 1920er Jahre nahm der Staat sie jedoch verstärkt als Bedrohung für die innere Sicherheit wahr.11 Er entzog ihre Belange der Verantwortlichkeit diverser Fürsorgeanstalten und übertrug sie dem NKVD. 9 Etkind, Alexander: Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Rußland. Leipzig 1996, 330 f. 10 Ebd., 231; Kuhr-Korolev, Gezähmte Helden, 105. 11 Einen ähnlichen Wandel hat Peter Skyba am Umgang der DDR mit ihrer Jugend festgestellt, weshalb seine Monografie den Titel Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko trägt. Skyba, Peter: Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko. Jugend in der DDR und Jugendpolitik der SED 1949–1961. Köln 2000.

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Das »Neue Kind« in Wissenschaft und Politik

Spätestens Mitte der 1930er Jahre verband sich mit den Begriffen Kind und Jugendlicher nicht mehr nur das Bild des revolutionären Hoffnungsträgers, sondern auch das des Staatsfeinds12, dem mit Repression und Gewalt begegnet werden musste. Dieses Kapitel nimmt dieses Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik in den Blick und analysiert, wie die beiden Bereiche im Verlauf der ersten zwei Dekaden sowjetischer Herrschaft versuchten, die sozialen Missstände, die der Transformation im Wege standen, zu beseitigen, um »Neue Kinder« zu schaffen. Es rekonstruiert die Ursachen und Stufen des Wandels im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, indem es die maßgeblichen wissenschaft­ lichen Disziplinen vorstellt und ihren Forschungsinteressen nachspürt. Dabei lässt sich Daniel Beers Feststellung, wonach die modernen Wissenschaften ebenso Heilsbringer wie Problemerzeuger waren, auch anhand der Pädologie beobachten.13 Sie war zwar bestrebt, Antworten auf bestehende Probleme zu finden. Doch hat sie angesichts ihrer Neigung zur Pathologisierung dazu beigetragen, dass Staat und Gesellschaft bestimmte Sachverhalte überhaupt erst als Probleme wahrnahmen. Obendrein waren ihre Forschungsfragen von derart hoher Komplexität, dass ihre Beantwortung Jahre, wenn nicht Jahrzehnte intensivster wissenschaftlicher Arbeit erfordert hätte. Da der Bezug zur sozialen Realität dadurch verloren ging, brachte die Pädologie kaum praktikable Lösungen für die bestehenden Unzulänglichkeiten hervor. Ihr Unvermögen sollte nicht nur ihr selbst, sondern auch ihrem »Untersuchungsgegenstand« zum Verhängnis werden. Das heißt nicht, dass der Pädologie die alleinige Schuld am zunehmend repressiven Umgang mit besprizorniki zukommt. Kritische Stimmen, die sich für erbarmungslose Härte und Strenge mit ihnen aussprachen, hat es seit jeher gegeben. Doch genoss die Pädologie Autorität und Deutungshoheit, aufgrund derer sie implizit soziale 12 Hinsichtlich des Begriffs des Feindes orientiert sich die Arbeit an einer Definition, die Jörg Baberowski vorgenommen hat. Ihm zufolge schöpfte »der stalinistische Terror aus einem Denkstil […], der menschliches Handeln in eine Teleologie der Erlösung ein­ ordnete und Ambivalenz als Widerstand von Feinden deutete. Und diese Deutung ergab sich aus der Konfrontation eschatologischer Heilserwartungen mit widerständigen Realitäten.« Baberowski, Jörg: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus. München 2003, 13. Da die hegemoniale Kultur laut Baberowski »keine Wirkung aus[übte]«, entwickelte sich zwischen Staat und Untertanen kein Austausch, sondern ein »Zwangsumtausch, der den Unterworfenen abverlangte, sich ihrer Kultur vollständig zu entledigen.« Ebd. In diesem Zusammenhang stellt Baberowski einen Konnex zur Moderne und ihrem »Streben nach Eindeutigkeit« her. Er betont, dass die Bolschewiki von der Vorstellung getrieben waren, wonach »Feinde vernichtet werden [müssten], um kulturelle Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln«, was in die »unablässige Terrorisierung von Lebensverhältnissen« mündete. Ebd., 15. 13 Beer, Daniel: Renovating Russia. The Human Sciences and the Fate of Liberal Modernity, 1880–1930. Ithaca, London 2008, 6 f.

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Die soziale Katastrophe 

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Ängste vor der Bedrohung der Gesellschaft durch deviante und delinquente Minderjährige schürte und dadurch in gewisser Weise dem drakonischen Vorgehen des Staates gegen sie den Weg ebnete.14

1.

Die soziale Katastrophe

1.1

Industrialisierung, Krieg und Hungersnot

Dass sich die Bolschewiki infolge ihrer Machtübernahme nicht nur der Zukunftsplanung widmen konnten, sondern sich auch mit den Altlasten ihrer Vorgängerregierungen auseinandersetzen mussten, offenbarte wohl kaum ein Moment deutlicher als das der sozialen Frage, auf die bis dahin noch niemand eine zufriedenstellende Antwort gefunden hatte. Als die Industrialisierung im Russländischen Reich Ende des 19. Jahrhunderts allmählich Fahrt aufnahm, geschah dies nicht ohne negative Begleiterscheinungen. Da immer mehr Bauern in die Städte zogen, um sich als Arbeiter in den Fabriken zu verdingen, der Wohnungsbau mit dem Zuzug aber nicht Schritt halten konnte, waren sie gezwungen, unter katastrophalen Bedingungen zu leben. Gab es im Jahr 1860 gerade einmal 3,96 Millionen Arbeiter im ganzen Land, stieg ihre Zahl bis 1900 auf 10,38 Millionen und erreichte 1913, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, einen Stand von 17,8 Millionen. Sankt Petersburg und Moskau, aber auch Odessa und Rostow am Don platzten aus allen Nähten. Die Folgen waren Enge und Überbelegung, schlechte Luft, Feuchtigkeit und Dreck – Faktoren, die den Ausbruch von Krankheiten und Seuchen begünstigten und die Sterblichkeitsrate von Kindern erhöhten.15 Mit der Abwanderung der Bauern vom Land in die urbanen Zentren wandelten sich auch soziale Strukturen und Praktiken. Familienbande und dörfliche Hierarchien lösten sich auf, sodass traditionelle Werte und Normen an Verbindlichkeit verloren. In den Städten mehrte sich die Angst vor steigender (Jugend-)Kriminalität, vor Hooliganismus16, Gewalt, Diebstahl, Alkoholis14 Ebd. 15 Hildermeier, Manfred: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. 2. Aufl. München 2013, 1181, 1189, 1194 f. 16 Der Begriff chuliganstvo (Hooliganismus) ist um 1900 aus dem Englischen (hooliganism) ins Russische entlehnt worden. Wie Joan Neuberger dargelegt hat, verwendete ihn die Sankt Petersburger Boulevardpresse als Oberbegriff für verschiedene Vergehen und Verbrechen. Hierzu gehörten öffentliche Unruhen, Rüpelhaftigkeit, Trunkenheit und Beschimpfungen, aber auch bewaffnete Überfälle und Schlägereien. Neuberger, Joan: Hooliganism. Crime, Culture, and Power in St. Petersburg, 1900–1914. Berkeley, CA 1993, 1.

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Das »Neue Kind« in Wissenschaft und Politik

mus und Prostitution. Joan Neuberger konnte in diesem Zusammenhang überzeugend nachweisen, dass Sankt Petersburg zwischen 1900 und 1914 von einer regelrechten »moral panic«, einer Angst vor Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung erfasst worden war.17 Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges nahm die Lage ungleich drama­ tischere Dimensionen an. Die Oktoberrevolution 1917 und das politische Vorgehen der Bolschewiki spitzten die soziale Frage weiter zu. Die Provisori­ sche Regierung abzusetzen und die Macht zu ergreifen war eine Sache, an der Macht zu bleiben eine andere. Um die Herrschaft zu sichern, griffen die Bolschewiki auf Terror- und Gewaltmaßnahmen zurück, was zur Folge hatte, dass den Ereignissen zwischen 1917 und 1922 – Bürgerkrieg, Kriegskommunismus und Hungersnot – weitaus mehr Menschen zum Opfer fielen als dem Ersten Weltkrieg.18 Konkrete Zahlen, die Auskunft darüber geben könnten, wie viele Personen als Soldaten oder Zivilisten im Bürgerkrieg oder infolge von Hunger, Krankheiten19 und Seuchen20 ihr Leben verloren haben, existieren nicht. Die erste gesamtsowjetische Volkszählung von 1926 kam aber zu dem Schluss, dass »28 Millionen Menschen weniger lebten als erwartet.«21 Als wäre das nicht schon genug gewesen, brachten die anfänglichen fünf Regierungsjahre der Bolschewiki auch Millionen von Bedürftigen hervor, darunter Flüchtlinge, verwundete Soldaten, Witwen und Waisen, die mittel- und langfristig auf Unterstützung angewiesen waren.22 Wer die Jahre zwischen 1914

17 Ebd. 18 Neutatz, Träume und Alpträume, 160 f. Im Ersten Weltkrieg waren auf russischer Seite schätzungsweise zwei Millionen Todesopfer zu beklagen. Plaggenborg, Stefan: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg. Frankfurt, New York 2006, 28. Evan Mawsdley beziffert die Opfer des Bürgerkrieges auf sieben bis zehn Millionen Menschen. Mawdsley, Evan: The Russian Civil War. Boston, MA 1987, xi. Für eine genaue Aufschlüsselung menschlicher wie ökonomischer Verluste siehe ebd., 285–288. 19 Schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen sind in den Jahren 1918 und 1919 an Typhus gestorben. Goldman, Women, the State and Revolution, 60. Ein großes Problem stellte auch die Tuberkulose dar. Während des Ersten Weltkrieges fielen ihr etwa zwei Millionen Zivilisten zum Opfer. Mit den Verwüstungen des Bürgerkrieges und der Hungersnot sollte sich daran vorerst nichts ändern, da sie Neuinfektionen begünstigten. Dyer, Carol A.: Tuberculosis. Santa Barbara, CA 2010, 97. 20 Neben Typhus trat Cholera seuchenartig auf. Die Gebiete an der unteren Wolga zwischen Saratov und Astrachan verzeichneten sogar Ausbrüche der Pest, die sich bis in die kirgisische Steppe ihren Weg bahnte. Mikhel, Dmitry: Fighting Plague in Southeast European Russia, 1927–1925 – A Case Study in Early Soviet Medicine. In: Bernstein, Frances Lee / Burton, Christopher / Healey, Dan (Hg.): Soviet Medicine. Culture Practice and Science. DeKalb, IL 2010, 52 f., 56. 21 Plaggenborg, Experiment Moderne, 28. 22 Hoffmann, David L.: Cultivating the Masses. Modern State Practices and Soviet Socialism, 1914–1939. Ithaca, NY 2011, 48.

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und 1922 überlebt hatte, war oftmals sowohl physisch als auch psychisch schwer gezeichnet, galt als verkrüppelt oder chronisch krank.23 Die Hungersnot von 1921/22 forderte zweifelsohne den höchsten Tribut und ließ die Situation vollends eskalieren. Schuld daran waren die kriegsbedingten Verwüstungen, vor allem aber auch der von den Bolschewiki eingeführte Kriegskommunismus und die damit verbundenen Getreiderequirierungen, die zur Folge hatten, dass den Bauern weniger Saatgut zur Verfügung stand. Als das Land obendrein von einer Dürreperiode heimgesucht wurde, waren Missernten unabwendbar.24 Betroffen waren weite Teile Sowjetrusslands, insbesondere die Gebiete entlang der Wolga und des Ural wie Čuvašija, Tatarstan, Simbirsk (heute: Ul’janovsk), Samara, Saratov, Caricyn (heute: Wolgograd) und Astrachan, aber auch Vjatka (heute: Kirov), Čeljabinsk, Baschkirien, Orenburg, Ufa und Perm sowie die Südukraine.25 Etwa 20 bis 24 Millionen Menschen litten in diesen Gegenden Hunger.26 Gleichzeitig kam es zu Ausbrüchen von Typhus, der Spanischen Grippe, Cholera, Pocken und der Pest.27 Die Schätzungen bezüglich der Gesamtopferzahlen schwanken zwischen vier und 14 Millionen. Sie schließen Kinder und Jugendliche ebenso wie Erwachsene ein.28 Weitere 7,5 Millionen Minderjährige waren akut vom Hungertod bedroht.29 Da das krisengeschüttelte Land selbst nicht in der Lage war, seiner notleidenden Bevölkerung Abhilfe zu verschaffen, nahm es internationale Hilfslieferungen an, unter anderem von der American Relief Administration (ARA), dem British Save the Children Found (SCF), der International Save the Children Union und dem Internationalen Roten Kreuz. Allein die ARA versorgte zehn Millionen Menschen an der Wolga und in der Ukraine mit Nahrungsmitteln und Medikamenten.30 23 Starks, Tricia: The Body Soviet. Propaganda, Hygiene, and the Revolutionary State. Madison, WI 2008, 3. 24 Ball, The Roots of Besprizornost’ in Soviet Russia’s First Decade, 253 f. 25 Ebd., 253; Kelly, Children’s World, 193. 26 Neutatz, Träume und Alpträume, 171. 27 Starks, The Body Soviet, 3. 28 Neutatz, Träume und Alpträume, 171. Inzwischen wird von etwa fünf Millionen Toten ausgegangen. Frierson / Vilenskij, Children of the Gulag, 7; Plaggenborg, Experiment Moderne, 28. 29 Frierson / Vilenskij, Children of the Gulag, 7. Nicht ohne Grund werden die Ereignisse zwischen 1914 und 1921 von Historikern als »demografisches Erdbeben« bezeichnet. Lewin, Moshe: The Making of the Soviet System. Essays in the Social History of Interwar Russia. London 1985, 210; hier zitiert nach Goldman, Women, the State and Revolution, 60. Moshe Lewin beziffert die Zahl der Todesopfer als Folge des Ersten Weltkrieges, des Bürgerkrieges, der Hungersnot und von Epidemien auf etwa 16 Millionen. Lewin, The Making of the Soviet System, 210. 30 Neutatz, Träume und Alpträume, 171; Kind-Kovács, Friederike: The Great War, the Child’s Body and the American Red Cross. In: European Review of History: Revue euro-

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Hatten die Kämpfe während des Ersten Weltkrieges und des Bürgerkrieges in erster Linie gefallene und verwundete männliche Soldaten hervorgebracht, erzeugten ihre Nachwehen neue Opfer. Friederike Kind-Kovács zufolge waren nun vor allem Kinder die Leidtragenden, die unter Hunger, Mangelernährung und Vernachlässigung sowie an Infektionskrankheiten litten. Internationale Hilfsorganisationen wie die ARA31 und der SCF waren in weiten Teilen Nachkriegseuropas aktiv, um die Not der Menschen zu lindern, auch derjenigen, die im Krieg auf Seiten des Feindes gestanden hatten.32 Da Lenin und seine Gefährten Hilfslieferungen aus dem Ausland kritisch beäugten und die – nicht unberechtigte – Befürchtung hegten, sie könnten zur politischen Einflussnahme genutzt werden,33 formierten sich bald auch sowjetische Hilfsorganisationen, darunter die Gesellschaft »Freund der Kinder« (Obščestvo »drug detej« – ODD), die Russländische Gesellschaft des Roten Kreuzes (Rossijskoe Obščestvo Krasnogo Kresta – ROKK ) und der ihr unterstehende Gesundheitsdienst für junge Pioniere (Služba zdorov’ ja ­junych pionerov). Die ODD ist 1923 gegründet worden und kümmerte sich um bedürftige und verlassene Minderjährige. 1931 besaß sie unionsweit etwa 1,8 Millionen Mitglieder.34 Die ROKK , die dem Präsidium des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees ((Vserossijskij) central’nyj ispolnitel’nyj komitet  – (V)CIK) unterstand, war vor allem in den 1920er und frühen 1930er Jahren aktiv und organisierte landesweit sowohl ambulante als auch stationäre gesundheitsfördernde Maßnahmen, die sich größtenteils an Kinder richteten. Hierzu gehörten nicht nur Pionierlager und Freizeitaktivitäten, sondern auch Betreuungsstellen und Sanatorien. In letzteren konnten Minderjährige untergebracht werden, die an Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, Rachitis oder Anämie péenne d’histoire 23/1–2 (2016), 36, 58 (hier FN 30); Frierson / Vilenskij, Children of the Gulag, 46. 31 Die ARA lieferte Lebensmittel im Wert von 150 Millionen US -Dollar an Kinder in insgesamt 21 Ländern. Patenaude, Bertrand M.: American Famine Relief to Soviet Russia and Anti-Bolshevism, 1921–1923. In: Eisfeld, Alfred / Hausmann, Guido / Neutatz, Dietmar (Hg.): Hungersnöte in Russland und in der Sowjetunion 1891–1947. Regionale, ethnische und konfessionelle Aspekte. Essen 2017, 237. 32 Kind-Kovács, The Great War, the Child’s Body and the American Red Cross, 33 f. 33 Für Herbert Hoover (1874–1964), den Vorsitzenden der ARA , stellten Nahrungsmittellieferungen eine subtile Waffe gegen den Bolschewismus dar. Direkte politische Einflussnahmen seitens der ARA-Mitarbeiter, die im Land vor Ort waren, lehnte er zwar ab. Doch vertraute er darauf, dass das Sowjetvolk dank der US -amerikanischen Lebensmittelhilfen zu neuen Kräften finden und einsehen würde, dass Bolschewismus die Inkarnation von Hunger sei und daraufhin bereit wäre, Lenins Sturz herbeizuführen. Hoover war mit dieser Auffassung nicht allein: Zahlreiche westliche Staatsmänner seiner Zeit erachteten den »Bolschewismus als Symptom von Menschen in Not, [als] eine Krankheit, die durch Hunger ausgelöst worden war und durch Essen geheilt werden konnte.« Patenaude, American Famine Relief to Soviet Russia and Anti-Bolshevism, 1921–1923, 238–242. 34 Ball, And Now My Soul is Hardened, xiv, 143; Kelly, Children’s World, 196.

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litten.35 Überdies führte die ROKK informative Gespräche mit Kindern und Erwachsenen, um ihnen die Bedeutung von Sozialhygiene zur Prävention von Krankheiten zu verdeutlichen. Zudem warb sie mit Kampagnen für Sauberkeit und kämpfte gegen Alkoholismus und Prostitution.36 Die Hauptaufgabe des 1924 in Absprache mit dem Zentralkomitee (Central’nyj komitet – CK ) des Komsomol ins Leben gerufenen Služba zdorov’ja bestand darin, den Alltag von Kindern und Jugendlichen zu normieren, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit herzustellen.37 Wie die Untersuchung einer Moskauer Pioniergruppe und ihrer wöchentlichen Belastung durch Arbeit, Schule und Freizeit gezeigt hatte, waren 50 Prozent ihrer Mitglieder normal belastet, 20 bis 25 Prozent jedoch überlastet.38 Damit sie keiner einer unnötigen Gefährdung ihrer Gesundheit durch Überlastung ausgesetzt waren, leitete der Služba zdorov’ja Gegenmaßnahmen ein. Er nahm die Untersuchung der Moskauer Pioniergruppe zum Exempel und begann, die soziale Umgebung und die biologischen Besonderheiten sowjetischer Kinder und Jugendlicher zu analysieren und unterzog sie prophylaktischen Untersuchungen, um ihnen, falls erforderlich, schnellstmöglich medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Außerdem zeichnete er ebenso wie die ROKK für die Organisation von Pionierlagern, Ferienspielen und anderen Freizeitaktivitäten verantwortlich.39 All diese Aktionen erfüllten nicht nur bloße Hilfszwecke. Sie dienten auch der Disziplinierung und transportierten Propaganda. Die Partei- und Kom35 Položenie ob Obščestve Krasnogo Kresta RSFSR . In: Bjulleten’ CK O-va KK RSFSR 1/ijul’ (1925), 1–3; Bugajskij, Ja.: Zdorov’e pionerov i »Služba zdorov’ja« ROKK . In: Bjulleten’ CK O-va KK RSFSR 1/ijul’ (1925), 9–19; Evpatorijskij detskij sanatorij Krasnogo Kresta. In: Bjulleten’ CK O-va KK RSFSR 1/ijul’ (1925), 24–29; Venerologičeskij dispanser ROKK v Smolenske. In: Bjulleten’ CK O-va KK RSFSR 1/ijul’ (1925), 38 f.; Šišmarëv, Fëdor: Krymskij pionerskij lager’ ROKK v Arteke. In: Bjulleten’ CK O-va KK RSFSR 2/1–2 (1926), 12–18; Levitin, B.: Pionerskie lageri 1926 g. v Moskve i Moskovskoj gubernii. (Po materialam služby junych pionerov ROKK). In: Bjulleten’ CK O-va KK RSFSR 2/11–12 (1926), 23–28; Proskurjakova, A.: Lagernaja kampanija, provedënnaja ROKK letom 1926 goda. In: Bjulleten’ CK O-va KK RSFSR 3/1 (1927), 13 f.; Smoljarov, Ja.: Krasnyj Krest i junye pionery. (K itogam II . Vserossijskogo s’’ezda O-va Krasnogo Kresta). In: Bjulleten’ CK O-va KK RSFSR 3/2–3 (1927), 8–11. 36 Bor’ba za čistotu. In: Za sanitarnuju oboronu 6/12 (1930), 17; Gant, L.: V bojach za čistotu. In: Za sanitarnuju oboronu 10/2 (1934), 8 f.; Lukaševič, D.: ROKK v bor’be s alkogolizmom. In: Na Krasno-Krestnom Postu 5/3 (1929), 24–26; Nemirovskij, A.: Praktičeskie meroprijatija ROKK v dele bor’by s prostituciej. (V porjadke diskussii). In: Na KrasnoKrestnom Postu 5/12 (1929), 46–50. 37 Tjuljandin, Aleksej: Z. P. Solov’ëv – predsedatel’ Rossijskogo Obščestva Krasnogo Kresta (1876–1928 gg.). Мoskau 1980, 18; Bugajskij, Ja.: Služba zdorov’ja junych pionerov. In: Vožatyj 2/2–3 (1925), 25–27. 38 Bugajskij, Zdorov’e pionerov i »Služba zdorov’ja« ROKK , 12. 39 Tjuljandin, Z. P. Solov’ëv – predsedatel’ Rossijskogo Obščestva Krasnogo Kresta (1876– 1928 gg.), 18; Bugajskij, Služba zdorov’ja junych pionerov, 25 f.

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somolführer wurden nicht müde, die Tragweite der staatlichen Fürsorge, ihre weltweite Einmaligkeit und Besonderheit zu betonen, mit der sie die Vorzüge und die Überlegenheit des Sozialismus zu präsentieren und ihre eigene Position zu legitimieren suchten. Anders als von ihnen gemeinhin behauptet, stellten ihre Maßnahmen jedoch kein Novum dar. Viele ihrer Praktiken können daher weniger als sozialistische oder sowjetische denn als moderne Formen der Staatsführung verstanden werden.40 Dies offenbart sich auch anhand des Pionierlagers Artek. Zwar priesen es seine Gründerväter als innovative Verbindung von Gesundheitsförderung und Erziehung. Doch stammen die Ursprünge aus der Schweiz, wo ein Pfarrer namens Hermann Walter Bion (1830–1909) 1876 erstmals eine sogenannte Ferienkolonie organisiert hatte. Bion, der Kindern aus Zürich einen zweiwöchigen Erholungsaufenthalt im Kanton Appenzell ermöglichte, ließ seinen Schützlingen damals schon sowohl medizinische als auch pädagogische Maßnahmen angedeihen.41 Ähnliche Angebote kamen alsbald auch im Deutschen Kaiserreich, in Frankreich und in Dänemark auf 42 und fanden schließlich ihren Weg ins Russländische Reich. Das erste Sommerlager war hier 1881 in Warschau entstanden; wenig später formierten sich vergleichbare Einrichtungen in Sankt Petersburg, Moskau, Odessa, Kiew und Jalta. Initiiert wurden sie von Privatpersonen, religiösen Hilfsorganisationen und diversen Gesellschaften wie beispielsweise der Russländischen Gesellschaft für Volksgesundheit (Russkoe obščestvo ochranenija narodnogo zdravija) oder der Liga für den Kampf gegen die Tuberkulose (Liga dlja bor’by s tuberkulëzom). Finanziert wurden die Projekte größtenteils durch Spenden, mitunter auch durch lokale Regierungen wie der Sankt Petersburger und der Moskauer Duma. Nicht selten offerierten Privatpersonen kostenlos ihre Landgüter oder stellten Lebensmittel, Möbel, Wäsche und Geschirr bereit. Die Mehrheit der 40 Wie David L.  Hoffmann bezüglich der Gründung des Narkomzdrav dargelegt hat, orientierten sich die Bolschewiki hauptsächlich an staatlichen Praktiken, deren Wurzeln nach Westeuropa und ins 19. Jahrhundert reichten. Da der Erste Weltkrieg den Regierungen der beteiligten Länder vor Augen geführt hat, dass er ohne ein modernes effizientes Staatswesen nicht zu gewinnen war, verlangten vor allem Bereiche wie Militär, Versorgung und Gesundheit nach einer Neuorganisation, um Millionen von Menschen mobilisieren und ernähren sowie Güter und Maschinen transportieren zu können. Hoffmann, The Great Socialist Experiment?, 619. Im Jahr 1916 ist im Zarenreich erstmals ein zentrales Gesundheitsministerium entstanden, an dessen Erfahrungen die Bolschewiki nach 1917 anknüpften. Nachtigal, Reinhard: Die Entstehung eines staatlichen Gesundheitswesens in Russland 1890–1918 vor dem Hintergrund der Seuchenproblematik. In: Eisfeld, Alfred / Hausmann, Guido / Neutatz, Dietmar (Hg.): Hungersnöte in Russland und in der Sowjetunion 1891–1947. Regionale, ethnische und konfessionelle Aspekte. Essen 2017, 297–329. 41 Rauch, Thilo: Die Ferienkoloniebewegung. Zur Geschichte der privaten Fürsorge im Kaiserreich. Wiesbaden 1992, 9, 45; Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 43. 42 Ebd., 42–44.

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Angebote richtete sich an ärmere und kränkliche Arbeiterkinder aus Städten, die zur Erholung aufs Land geschickt werden sollten.43 Auch Stanislav Šackijs (1878–1934) 1905 in Ščëlkovo, einem Dorf unweit von Moskau, gegründete Sommerkolonie für minderjährige Jungen  – später kamen auch Mädchen hinzu – gereichte zum Vorbild für Artek. In Anlehnung an die Settlement-Bewegung44 suchte Šackij bei den Kindern und Jugendlichen ein Gefühl für Selbstständigkeit und Selbstverwaltung zu entwickeln und verlangte von ihnen, Probleme und Streitigkeiten im Rahmen öffentlicher Versammlungen zu diskutieren und zu lösen. Zum Beschäftigungsrepertoire von Šackijs Kolonie gehörten Spiele, Gymnastik, einfache handwerkliche Arbeiten, Gartenarbeit, Viehzucht, Werkstattarbeiten, bildende Kunst, Spaziergänge in der Natur und Exkursionen.45 1.2

Herausforderung besprizornost’

Eine ganz andere Herausforderung, die sich mit vergleichsweise einfachen gesundheitsfördernden und erzieherischen Maßnahmen wie sie ODD, ROKK und der Služba zdorov’ja anboten, nicht einmal ansatzweise bewältigen ließ, war die besprizornost’. Sie erreichte ihren Höhepunkt zu Beginn der 1920er Jahre, konnte aber bis in die 1950er Jahre hinein nicht zufriedenstellend beseitigt werden, weil sie in mehreren Wellen wiederkehrte. Obgleich es besprizorniki und beznadzorniki bereits in vorrevolutionärer Zeit und verstärkt während des Ersten Weltkrieges gegeben hatte, ließen die sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Verwerfungen, die mit der Machtergrei-

43 Ebd., 43–52. 44 Die Settlement-Bewegung ist Ende des 19. Jahrhunderts in England und den USA aufgekommen. Ihr Ziel bestand darin, Angehörige ärmerer und reicherer sozialer Schichten, die sich als Folge der Industrialisierung herausgebildet hatten, zusammenzubringen. Anstatt um Almosen zu bitten, sollten die Armen dazu befähigt werden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. 1884 wurde in einem Londoner Slum ein sogenanntes settlement house – Toynbee Hall – geschaffen, in dem Universitätsmitarbeiter Arbeitern Bildung und kulturelle Werte vermittelten. Davis, Allen F.: Spearheads for Reform. The Social Settlements and the Progressive Movement, 1890–1914. 3. Aufl. New Brunswick, NJ 1994, 6–8. Zur Settlement-Bewegung siehe außerdem Scotland, Nigel: Squires in the Slums. Settlements and Missions in Late-Victorian London. London, New York, NY 2007 sowie Crocker, Ruth: Social Work and Social Order. The Settlement Movement in Two Indus­ trial Cities, 1889–1930. Urbana, IL 1992. 45 Kelly, Children’s World, 170; Holmes, Larry E.: Shatsky: Reformer and Realist (Introductory Remarks to F. A. Fradkin’s ›S. T. Shatsky’s Last Years‹). In: Eklof, Ben (Hg.): School and Society in Tsarist and Soviet Russia. Selected Papers from the Fourth World Con­gress for Soviet and East European Studies, Harrogate, 1990. New York, NY 1993, 149–153; Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 53–55.

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fung der Bolschewiki und dem Bürgerkrieg einhergingen, ihre Zahl immer größer werden. Ihr Erscheinungsbild löste bei Zeitgenossen Angst, Erschrecken und Entsetzen aus. Auf der Suche nach Nahrung und einem Auskommen streiften die besprizorniki durchs Land, bevölkerten Märkte und Bahnhöfe, schliefen unter Brücken oder in verlassenen Gebäuden und schlossen sich Banden an, um überleben zu können. Ihren Lebensunterhalt sicherten sie durch Betteln, Diebstähle und gewaltsame Raubüberfälle. Immer wieder bedrohten und überfielen sie hordenartig Passanten. Je länger sie auf der Straße lebten, desto stärker gerieten sie in die Fänge der kriminellen Unterwelt.46 Mirjam Galley zufolge ähnelten die besprizorniki-Banden in starkem Maße »den Idealtypen einer Gang«, wie sie in der Bandenforschung beschrieben wurden. Zu den Motiven für den Zusammenschluss gehören ein »Gefühl der Ausgeschlossenheit aus dem gesellschaftlichen Leben, fehlende Erwartungssicherheit und das Gefühl, eine Art Schicksalsgemeinschaft zu bilden«.47 Im Fokus der Bande steht die Bedrohung, die entweder real sein oder gefühlt wahrgenommen werden kann. Gewaltausbrüche standen auch zwischen den besprizorniki und der Bevölkerung auf der Tagesordnung, wobei nicht nur die Jugendkriminalität, sondern auch die Gewalt gegenüber Kindern anstieg. Minderjährige, die beim Stehlen erwischt worden waren, erlebten nicht selten die Selbstjustiz der Geschädigten. Die Bande bot ihnen in solchen Fällen Schutz, da sie von einer klaren Aufgabenteilung geprägt war. Den jüngeren Kindern, welche die Diebstähle ausführten, standen ältere Kinder oder Jugendliche zur Seite, die im Notfall eingreifen und sie vor Gewalteinwirkungen bewahren konnten. Die Beute teilten sie anschließend untereinander auf. Das Leben auf der Straße konfrontierte sie tagtäglich mit einer Gewaltkultur, die sie gänzlich verrohen ließ.48 Trotz ihrer katastrophalen Lebensumstände beschrieb die zeitgenössische Literatur besprizorniki als überwiegend physisch gesund. Nur wenige litten an 46 Goldman, Women, the State and Revolution, 59 f., 77. Dem russischen Historiker Aleksandr Rožkov zufolge existierten drei Gruppen von besprizorniki. Die erste umfasste die sogenannten kusočniki (Bettler) und pevci (Sänger), die Lebensmittel oder Geld erbettelten. Die zweite Gruppe bestand aus älteren Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren, die in Diebesbanden organisiert waren. Die dritte Gruppe, sozusagen die »Elite« der besprizorniki, bildeten die žuliki (Diebe), die bewaffnete Raubüberfälle ausführten. Zur ersten Gruppe gehörten Neulinge, die maximal einen Monat, zur zweiten Jugendliche, die zwischen einem Monat und einem Jahr und zur dritten Gruppe diejenigen, die bereits mehr als ein Jahr auf der Straße lebten. Rožkov, Aleksandr: Besprizorniki. In: Rodina 9 (1997), 71; hier zitiert nach Slavko, Detskaja besprizornost’ v Rossii v pervoe desjatiletie sovetskoj vlasti, 76 f. 47 Galley, »Wir schlagen wie eine Faust«: Die Bande als Lebensform sowjetischer Straßenkinder unter Stalin, 38. 48 Ebd., 28, 38 f.

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Tuberkulose oder Syphilis. Die Mehrheit war von Krätze, Furunkeln, Trachomen und Typhus geplagt. Hunger, Kälte und Dreck hatten sie offenbar weitgehend abgehärtet. Problematisch erschien dagegen die Zahl der Drogenabhängigen. Am häufigsten konsumierten sie Kokain, weil es sich einfach beschaffen ließ. Beliebt waren aber auch Haschisch, Morphium, Heroin und Opium.49 Da das Problem der besprizornost’ beunruhigende Ausmaße angenommen hatte, die Zahl der besprizorniki in die Höhe geschnellt war und ihr Angst und Schrecken einflößendes Äußeres die Öffentlichkeit schockierte, duldete die Beseitigung dieses Missstandes keine Aufschiebung. Auf einem Kongress im Jahr 1920, welcher der Obdachlosigkeit, Defektivität und Kriminalität von Kindern gewidmet war, sprach sich Lenins Schwester Anna Elizarova (1864–1935) für einen humanen und antiautoritären Umgang mit ihnen aus. Bezüglich der Jugendkriminalität machte sie deutlich, dass Kinder keine Kriminellen seien und daher nicht wie Erwachsene bestraft und verurteilt werden dürften. Sie plädierte für die Schaffung staatlicher »Familien-ähn­ licher« Einrichtungen, die mit wenig Personal auskamen und auf dem Prinzip der Selbstorganisation basierten. Elizarova glaubte, dass die Zöglinge von sich aus in der Lage sein würden, für Ordnung zu sorgen. Da sie, anders als in Gefängnissen, hier nicht weggesperrt werden sollten, kämpfte Elizarova für eine »Politik der offenen Türen«, die es ihnen ermöglichen sollte, frei zu entscheiden, ob sie der Gemeinschaft angehören wollten oder nicht.50 Dass besprizorniki und beznadzorniki zu einem allgegenwärtigen Phänomen avanciert waren, bezeugt auch der Umstand, dass der Terminus besprizornost’ 1927 Eingang in die BSĖ gefunden hat. Als besprizorniki galten hier nicht nur Minderjährige, die ihre Eltern, ihren Vormund oder ihre Heimat 49 Livšic, E.: Social’nye korni besprizornosti. In: Livšic, E. (Hg.): Social’nye korni besprizornosti. Moskau 1925, 132; Gorsuch, Youth in Revolutionary Russia, 148. Erschreckend ist vor allem das Alter der jungen Drogenkonsumenten. Von den Sieben- bis Zehnjährigen hatten 20 Prozent Erfahrungen mit Alkohol gemacht; ebenso viele hatten bereits Kokain genommen. Von den Elf- bis Zwölfjährigen waren es 13 beziehungsweise zehn Prozent, von den 13- bis 14-Jährigen 23 beziehungsweise 27 Prozent und von den 15- bis 16-Jährigen drei Prozent, die bereits Alkohol und zehn Prozent, die Kokain konsumiert hatten. Es verwundert nicht, dass 90 Prozent der minderjährigen Drogenabhängigen in der RSFSR besprizorniki waren. 1925 wurde in Puškino nahe Moskau eine der ersten Kolonien für Suchtkranke eingerichtet, um gegen das Problem vorzugehen. Die Kinder und Jugendlichen wurden dabei nicht nur medizinisch und psychotherapeutisch versorgt. Da die Kolonie über landwirtschaftliche Flächen und eine Werkstatt verfügte, wurden ihnen auch handwerkliche Fertigkeiten und Kenntnisse im Acker- und Pflanzenbau vermittelt. Slavko, Detskaja besprizornost’ v Rossii v pervoe desjatiletie sovetskoj vlasti, 83 f. Zum Umgang und zur Behandlung von Drogenabhängigen in der Sowjetunion von den 1920er Jahren bis in die frühe Nachkriegszeit nach 1945 siehe Latypov, Alisher B.: The Soviet Doctor and the Treatment of Drug Addiction: »A Difficult and Most Ungracious Task«. In: Harm Reduction Journal 8/32 (2011), 1–19. 50 Goldman, Women, the State and Revolution, 61 f.

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verloren hatten, sondern auch jene, die von ihren Eltern vernachlässigt, misshandelt oder zur Kriminalität angestiftet wurden. Die Erklärung des Begriffs besprizornost’ erfolgte hier in kontrastiver Perspektive, um sein Erscheinungsbild in der sozialistischen Sowjetunion von dem in westlichen Ländern abzugrenzen. Auffallend sind die Ausführungen bezüglich der Ursachen der besprizornost’. Zwar wurden Ereignisse wie der Bürgerkrieg, Epidemien und Hungersnöte als Gründe für ihr Entstehen genannt. Sie gelten jedoch nicht als eigentliche Auslöser, sondern lediglich als Folgen vorangegangener Entwicklungen, die ihren Ursprung nicht in Sowjetrussland respektive der Sowjetunion haben. Stattdessen wurden der »imperialistische« Erste Weltkrieg, die Blockade und die Interventionen, die von ausländischen Mächten herbeigeführt worden waren, verantwortlich gemacht. Dass die Dimensionen der besprizornost’ zu weiten Teilen im bolschewistischen Terror, im Kriegs­ kommunismus, den Requirierungen von Getreide und der Hungersnot begründet lagen, fand keine Diskussion. Besprizorniki und beznadzorniki wurden als Relikte der vorrevolutionären bourgeoisen Gesellschaft dargestellt. Anders als in westlichen Ländern, wo sie als minderjährige Kriminelle angesehen, verurteilt und in Gefängnisse überführt wurden – so behauptet es der Eintrag in der BSĖ –, fasste man sie in der Sowjetunion als desorganisierte Kinder und Jugendliche auf, die vorübergehend von der Bahn abgekommen waren und mittels pädagogischer Maßnahmen, darunter Gewaltverzicht, Freiheit und Selbstbestimmung, reintegriert werden konnten.51 Der Eintrag zur besprizornost’ in der BSĖ trägt dem sowjetischen Selbstverständnis Rechnung, wonach das sozialistische Gesellschaftssystem das bessere sei, weil es die Auswüchse des Kapitalismus korrigiert und beseitigt – eine Programmatik, die sich die Bolschewiki auf die Fahne geschrieben hatten und die den Kern ihrer Handlungen darstellte. Besprizornost’ war somit ein dem Kapitalismus innewohnendes Phänomen, von dem Kinder von Arbeitern, Bauern und Handwerkern betroffen waren, sprich: Klassen, die der Ideologie des Marxismus-Leninismus zufolge seit jeher unter der »kapitalistischen Ausbeutung« litten und nun das Fundament des neuen sowjetischen Staates und seiner Gesellschaft bilden sollten.52 Daraus resultierend wurden besprizorniki und beznadzorniki als unschuldige Opfer der katastrophalen Zustände ihrer Zeit angesehen, denen bedingungslos geholfen werden musste – eine Vorstellung, die zum Leitmotiv der frühsowjetischen Periode avancierte.

51 Zalkind, Aron / Ėpštejn, Moisej: Besprizornost’. In: Šmidt, Otto (Hg.): Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija. Tom pjatyj. Barykova-Bessal’ko. Moskau 1927, 783–790. 52 Šul’gin, V.: Predislovie. In: Livšic, E. (Hg.): Social’nye korni besprizornosti. Moskau 1925, 3–9.

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Wissenschaft als Wegbereiter der Transformation 

2.

Wissenschaft als Wegbereiter der Transformation

2.1

Der Wille zum Wandel

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Da die bolschewistischen Parteiführer es nicht vermochten, aus eigener Kraft einen neuen Staat aufzubauen, haben sie hohe Erwartungen in die Wissenschaft gesetzt. Von ihren Erkenntnissen erhofften sie sich klare Anleitungen und praktikable Lösungen, um die Transformation und Modernisierung des Landes vorantreiben und soziale Missstände wie die besprizornost’ beseitigen zu können. Das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft basierte allerdings auf spannungsreichen Kompromissen.53 Paradox war Daniel Beer zufolge nicht nur, dass die Parteiführer die neue Gesellschaftsordnung mit Hilfe der alten wissenschaftlichen Eliten erschaffen mussten, sondern auch, dass sie deren Grundfesten mittels Transformations- und Devianztheorien ersannen, die von eben diesen alten Eliten unter dem Eindruck des Anbruchs der Moderne54 entwickelt worden waren.55 Als die Moderne im ausgehenden 19. Jahrhundert allmählich Einzug hielt, verhieß sie zwar, das Russländische Reich von seiner Rückständigkeit56 zu befreien und seine Agrar- in eine 53 Neutatz, Träume und Alpträume, 187. 54 Der Begriff wird hier in Anlehnung an Shmuel N. Eisenstadts »multiple modernities« verwendet. Eisenstadt, Shmuel N.: Multiple Modernities. Cambridge, MA 2000. Eisenstadt zufolge existiert nicht nur eine Moderne, sondern eine Vielzahl an Modernen, die unterschiedliche Entwicklungspfade eingeschlagen und kulturelle Programme hervorgebracht haben. Das westliche Modell ist nur eines von vielen, bildet gleichwohl aber den Referenzrahmen für die Modernisierungswege anderer Modelle. Wie Stefan Plaggenborg unter Bezugnahme von Eisenstadts Konzept deutlich gemacht hat, kann die kommunistische Sowjetunion als eine »alternative« Form der Moderne gelten. Plaggenborg, Stefan: Schweigen ist Gold. Die Modernetheorie und der Kommunismus. In: OSTEUROPA 63/5–6 (2013), 71. 55 Beer, Renovating Russia, 2. 56 Die Gegenüberstellung von »Rückständigkeit« und »Fortschritt« zur Beschreibung und zum Vergleich unterschiedlicher Gesellschaften stößt in den Geisteswissenschaften seit Eisenstadts Konzept der multiple modernities auf Ablehnung. Gänzlich vermeiden lässt sich der Begriff der »Rückständigkeit« in der osteuropäischen Geschichtsforschung trotzdem nicht, galt er doch, wie Dietmar Neutatz dargelegt hat, als eines der »einflussreichsten Denkmuster der russischen beziehungsweise sowjetischen Eliten selbst«. Seit dem 18. Jahrhundert orientierten sich die adeligen Oberschichten an westlichen Vorbildern, um Russland mit Hilfe europäischer Errungenschaften von seiner »Rückständigkeit« zu befreien. Der Terminus »Rückständigkeit« gehörte zum offiziellen Diskurs und galt als zentrales Element russischer und sowjetischer Politik. Neutatz, Träume und Alpträume, 25. In diesem Kontext wird er auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit gebraucht. Zu multiple modernities unter besonderer Berücksichtigung der sowjetischen Geschichte siehe Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Stalinism. New directions. London 2000; David-Fox, Michael: Multiple Modernities vs. Neo-Traditionalism: On Recent Debates in Russian and Soviet History. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 54/4 (2006), 535–555; ders.: Crossing

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moderne Industriegesellschaft zu transformieren. Doch erschütterten die mit ihr in Gang gesetzten Prozesse die sozialen und moralischen Fundamente der Gesellschaft und schürten die Angst vor einem Verlust der bisher geltenden Normen und Werte. Beer hat diesen Sachverhalt folgendermaßen ausgedrückt: The moderns oscillated […] between […] two extremes: optimism and the belief in progress and pessimism characterized by a sense of profound threat, a fear of dissolution, collapse, chaos, and degeneration.57

Laut Beer spielten die Wissenschaften eine Schlüsselrolle in defining both the optimism and the pessimism of modernity. On the one hand, it [science] was constantly »discovering« – naming, defining, measuring, quantifying, investigating – new problems and threats. On the other hand, and on the basis of the codification of each, science was also constantly »identifying« new solutions to those problems, new fields of inquiry and expertise and new technologies to contain and resolve them.58

Für Beer waren es vor allem die Medizin, Biologie, Psychologie, Physiologie und die Kriminologie, die sozialen Ängsten und moralischer Panik aufgrund ihrer Deutungshoheit Auftrieb und letztlich auch Legitimation verliehen. Angeregt durch die Studien von Charles Darwin (1809–1882), Bénédict A ­ ugustin Morel (1809–1873) und Cesare Lombroso (1835–1909) kreisten die Forschungsinteressen russländischer Wissenschaftler seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert um Theorien wie »Degeneration«, »pathologische Vererbung«, »Defektivität« und »Ansteckung«.59 In seiner 1857 formulierten Degenerationstheorie, die unter dem Titel Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine et des causes qui produisent ces varitétés maladives erschienen ist, fasste Morel Degeneration als »›eine krankhafte Abweichung vom Typ des normalen Menschen‹«60 auf. Morel ging davon aus, dass Degenerationen durch die soziale Umgebung und ungesunde Lebensbedingungen hervorgerufen und die entsprechenden erworbenen pathologischen Eigenschaften von einer Generation auf die nächste vererbt würden.61 Im Russländischen Reich begannen in den 1880er Jahren der Kriminologe Dmitrij Dril’ (1846–1910) und der Psychiater Pavel Kovalevskij (1859–1931) Morels Degenerationstheorie in Borders. Modernity, Ideology, and Culture in Russia and the Soviet Union. Pittsburgh, PA 2015 sowie Hoffmann, The Great Socialist Experiment?. 57 Beer, Renovating Russia, 6. 58 Ebd., 6 f. 59 Ebd., 7, 10. 60 Ebd., 35. 61 Ebd.

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ihren Disziplinen anzuwenden. Dril’ veröffentlichte hierzu 1884 eine Studie über Minderjährige Straftäter (Maloletnie prestupniki), in der er die »destructive effects of pathological heredity and environmental vice on the moral and physical health of children«62 zu erklären suchte. Kovalevskij publizierte 1886 ein Handbuch über psychische Erkrankungen, deren Entstehung für ihn in sozialen Veränderungen wie der zunehmenden Urbanisierung oder dem Alkoholismus begründet lag.63 Auf breite Rezeption stieß zwar auch Charles Darwins Evolutionstheorie On the Origins of Species, die 1859 in London veröffentlicht worden war und 1864 erstmals in russischer Übersetzung vorlag. Da sie jedoch zu einer Zeit Bekanntheit erlangte, als Zar Aleksandr II. (1818–1881) seine Großen Reformen durchführte und viele Intellektuelle die Wissenschaften als Heilsbringer für politischen Wandel und Fortschritt erachteten, erschien ihnen Darwins Studie unbefriedigend. Seine Erklärungen, wonach Hunger und Leid, Wettbewerb und Kampf die Auslöser der Evolution sein sollten, waren für viele Radikale und Sozialisten, darunter auch Nikolaj Černyševskij (1828–1889), vor allem deshalb inakzeptabel, weil sie ihre Hoffnung auf Veränderungen und ihren Glauben an eine bessere Zukunft konterkarierten.64 Aus diesem Grund traf Cesare Lombrosos (1835–1909) in den 1870er Jahren vorgelegte kriminalanthropologische Studie L’uomo delinquente, in der er die Behauptung aufstellte, dass sich Kriminelle »in einem primitiven Stadium der evolutionären Entwicklung« befänden, dem er »atavistische biologische und psychologische Eigenschaften« zuschrieb, unter russländischen Wissenschaftlern ebenfalls auf starke Ablehnung.65 Für sie existierte keine spezifisch 62 Ebd., 40. 63 Ebd. 64 Graham, Science in Russia and the Soviet Union, 57 f., 64. Da Darwins Evolutionstheorie mit der Weltanschauung russischer Radikaler und Sozialisten nicht kompatibel war, wandten sich viele von ihm ab und beriefen sich stattdessen auf die Lehre von Jean B ­ aptiste de Lamarck (1744–1829), weil diese eine Erklärung für die »Höherentwicklung der geistigen Fähigkeiten der Menschheit« bereitzuhalten schien. In intellektuellen Kreisen stützte sie die verbreitete Überzeugung, dass der Mensch mit Hilfe entsprechender Maßnahmen konditioniert und optimiert werden könnte. Ebd., 56–75; Rüting, Pavlov und der neue Mensch, 132. Selbst nachdem es dem Evolutionstheoretiker August Weisman ­(1834–1914) Ende des 19. Jahrhunderts gelungen war, Darwins Konzept weiterzuentwickeln und Lamarcks Prinzip der Vererbung erworbener Eigenschaften zu Fall zu bringen, sollte sich letzteres in der Sowjetunion bis weit ins 20. Jahrhundert hinein großer Popularität erfreuen. Die Fachwelt war damit in zwei Lager gespalten: Die Anhänger Weismanns, die als Neodarwinisten bezeichnet wurden, standen seinen Gegnern, den Neolamarckisten, gegenüber. Gaupp, Ernst: August Weismann. Sein Leben und sein Werk. Jena 1917, 159 f.; Churchill, Frederick B.: August Weismann. Development, Heredity, and Evolution. Cambridge, MA 2015, ix; Polianski, Igor J.: Das »Lied vom Anderswerden«. Der Lysenkoismus und die politische Semantik der Vererbung. In: OSTEUROPA 59/10 (2009), 73. 65 Beer, Renovating Russia, 101 f.

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kriminelle Klasse oder Schicht. Ebenso wenig glaubten sie, dass Kriminalität »biologisch kodiert«, sprich: angeboren und damit unabhängig von der sozialen Umgebung eines Individuums war.66 Vladimir Bechterev (1857–1927), der seit Beginn des 20. Jahrhunderts das Sankt Petersburger Psychoneurologische Institut leitete, zu dem ein AntiAlkoholismus-Zentrum, eine neurochirurgische Klinik und ein Laboratorium für Kinderpsychologie gehörten,67 hat 1908 auf einer Konferenz in Gedenken an Morel schließlich den Kapitalismus und seinen Kampf zwischen Arm und Reich zur Ursache von Degenerationen erklärt.68 Zwischen etwa 1860 und 1917 sind stürmische Zeiten über das Russländische Reich hereingebrochen, die sich in Reformen ebenso niederschlugen wie in Revolutionen und Repressionen. Der soziale Wandel stellte eine immense Herausforderung dar, welcher der Zar und seine Gefolgsleute immer weniger gewachsen zu sein schienen. Viele Gelehrte hatten seine autoritäre Herrschaft kritisiert und die Februarrevolution begrüßt, weil sie sich von ihr wissenschaftliche und politische Freiheiten erhofften.69 Sympathien für die Bolschewiki hegten sie allerdings nicht. Die überwiegende Mehrheit der Intellektuellen, darunter das »Bildungsbürgertum« und ein Teil der Intelligenzija, stand ihrer Machtergreifung kritisch gegenüber. Hochschullehrer und Akademiemitglieder bezogen überwiegend liberal-konservative Positionen und hatten auf Seiten der Provisorischen Regierung gestanden.70 Kein einziges Mitglied der Akademie der Wissenschaften war zugleich Mitglied der Kommunistischen Partei – und sollte es auf absehbare Zeit auch nicht werden.71 Nicht wenige haben im Zuge des revolutionären Umsturzes das Land verlassen (müssen) oder sich in die innere Emigration geflüchtet.72 Lediglich exzellente Wissenschaftler von internationaler Reputation wie Ivan Pavlov (1849–1936) konnten es sich erlauben, offen die »Hypothese vom Bevorstehen der Weltrevolution«73 zu bezweifeln oder »während des Bürgerkrieges Partei für die Weißen zu ergreifen, ohne ihren Arbeitsplatz zu verlieren.«74

66 Ebd., 102. 67 Kozulin, Alex: Psychology in Utopia. Toward a Social History of Soviet Psychology. Cambridge, MA , London 1984, 53–56. 68 Sirotkina, Irina: Diagnosing Literary Genius. A Cultural History of Psychiatry in Russia, 1880–1930. Baltimore, London 2002, 126. 69 Graham, Science in Russia and the Soviet Union, 82. 70 Neutatz, Träume und Alpträume, 187; Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1­ 917–1991, 348 f. 71 Graham, Science in Russia and the Soviet Union, 82. 72 Neutatz, Träume und Alpträume, 187; Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, 348 f. 73 Rüting, Pavlov und der neue Mensch, 163 f. 74 Neutatz, Träume und Alpträume, 188.

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Unter dem Eindruck von Zukunftsoptimismus, Fortschrittsglauben und Maschinenkult boten sich Natur- und Ingenieurwissenschaftlern verhältnismäßig günstige Optionen, wenngleich die materielle wie finanzielle Ausstattung ihrer Institute und Laboratorien häufig mangelhaft war.75 Uneingeschränkte wissenschaftliche Freiheit genossen allerdings auch sie nicht. Dem obersten Ziel, der Schaffung eines »Neuen Menschen« und einer neuen Gesellschaftsordnung, welche die Parteiführer zur Prämisse allen Denkens und Handelns erhoben hatten, konnte sie sich nicht entziehen. Wollten sie weiterhin Forschungen betreiben, mussten sie sich nolens volens in den Dienst des Staates stellen. Nicht immer taten sich dabei zwischen Wissenschaftlern und Politikern Differenzen auf. Die Idee, dass Mensch und Natur beliebig geformt und gestaltet werden können, rief auf beiden Seiten Begeisterung hervor. Damit einher ging, dass Lehrmeinungen, die dieser Vorstellung zuwiderliefen, entweder vollständig auf Ablehnung oder nur zu Teilen auf Akzeptanz stießen und entsprechende Modifizierungen erfuhren. Auch Akademiker ließen sich zuweilen stärker von politischen Ideologien und eigenen Überzeugungen denn von stichhaltigen und verifizierbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen leiten.76 Der Grat zwischen Fantasie und Phantasma, zwischen Hoffnung und Wahn war schmal. So schwierig die Voraussetzungen für die Wissenschaft damit auch waren: In den frühen 1920er Jahren erlebte sie  – verglichen mit anderen Epochen der Sowjet-Ära – eine regelrechte Blüte. Nachdem drei Jahre Bürgerkrieg und Kriegskommunismus das Land in den totalen Ruin getrieben hatten, leiteten die Parteiführer mit der NĖP einen Kurswechsel ein, um Landwirtschaft, Industrie und Handel zu liberalisieren und die Prozesse der Umgestaltung zu entschleunigen. Von dieser vorübergehenden Erholungsphase zwischen 1921 und 1926 profitierte die Wissenschaft, allen voran die Pädologie, Medizin und Psychologie, aber auch die Kriminologie. Viele ihrer Vertreter konnten mit ihren Forschungen sogar auf internationalem Parkett Anerkennung erwerben.77 Da sich die Periode der NĖP durch eine Vielfalt an Denkmustern, Theorien, Ansätzen und Methoden auszeichnete und die Mehrheit der sowjetischen Wissenschaftler interdisziplinär arbeitete, ist es nahezu unmöglich, sie eindeutig und ausschließlich einem konkreten Fachgebiet zuzuordnen. Ihr Vorgehen, sich an den verschiedensten nationalen wie internationalen Forschungen zu orientieren und sie in ihre eigenen zu integrieren, zeugt zwar von

75 Ebd., 188 f.; Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, 348 f. 76 McLeish, John: Soviet Psychology. History, Theory, Content. London 1975, 3. 77 Neutatz, Träume und Alpträume, 164 f., 168; Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, 157 f.

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ihrer breiten Vernetzung, von Kultur-, Wissens- und Wissenschaftstransfer.78 Es führte bisweilen aber auch zu großen Ungenauigkeiten und warf Zweifel an ihrer Wissenschaftlichkeit auf. Die Pädologie, die einen revolutionären Auftrag zu erfüllen hatte, versammelte nicht nur seriöse Gelehrte, sondern auch opportunistische Karrieristen unter sich. Zudem galten Lebensläufe wie der von Aron Zalkind, der als Arzt, Pädologe und Psychoanalytiker tätig war und zugleich für das Narkompros arbeitete, nicht als ungewöhnlich. Selbst wenn sich Personen wie er in erster Linie als Wissenschaftler verstanden und nach besten Kräften versucht haben mögen, eigene Forschungsinteressen zu verfolgen, waren Wissenschaften und Politik derart stark miteinander verwoben, dass von einer unabhängigen Expertenkultur79 nicht gesprochen werden kann. 2.2

Pädologie: Die Wissenschaft vom Kind

Anders als von den Bolschewiki gemeinhin behauptet, war die Pädologie keine gänzlich neue Wissenschaft. Als Vater der pädologischen Forschung gilt der US -amerikanische Psychologe Stanley Hall (1846–1924),80 dessen Schüler Oskar Chrisman 1896 die Bezeichnung Pädologie geprägt haben soll.81 Rasch erlangte sie auch in anderen Ländern, vor allem in England, Deutschland, Österreich und im Russländischen Reich, Bekanntheit. Der Terminus Pädologie 78 Zum Begriff Kulturtransfer siehe Schmale, Wolfgang: Kulturtransfer, In: Europäische Geschichte Online (EGO). URL: http://www.ieg-ego.eu/schmalew-2012-de (am 1.8.2017). Zu den Begriffen Wissens- und Wissenschaftstransfer siehe Lipphardt, Veronika / Ludwig, David: Wissens- und Wissenschaftstransfer, In: Europäische Geschichte Online (EGO). URL : http://www.ieg-ego.eu/lipphardtv-ludwigd-2011-de (am 1.8.2017). Siehe außerdem Ash, Mitchell G.: Wissens- und Wissenschaftstransfer – Einführende Bemerkungen. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 29/3 (2006), 181–189. 79 Nach dem Ersten Weltkrieg erlebten viele Länder Europas, darunter auch die Sowjetunion, ein Aufkommen sogenannter »Expertenkulturen«, das eine »Verwissenschaftlichung des Sozialen« nach sich zog. Siehe hierzu Kohlrausch, Martin / Steffen, Katrin /  Wiederkehr, Stefan: Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States Since World War I – Introduction. In: Kohlrausch, Martin / Steffen, Katrin / Wiederkehr, Stefan (Hg.): Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States Since World War I. Osnabrück 2010, 9–30 sowie Raphael, Lutz: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. In: Geschichte und Gesellschaft 22/2 (1996), 165–193. 80 Ings, Simon: Stalin and the Scientists. A History of Triumph and Tragedy 1905–1953. London 2016, 102; Kurek, Nikolaj: Istorija likvidacii pedologii i psichotechniki. Sankt Petersburg 2004, 9. 81 Balašov, Evgenij: Pedologija v Rossii v pervoj treti XX veka. Sankt Petersburg 2012, 7 f.; Kuhr-Korolev, Gezähmte Helden, 105.

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konnte sich allerdings nur in letzterem durchsetzen. 1901 hatte Aleksandr Nečaev in Sankt Petersburg ein Laboratorium für experimentelle pädagogische Psychologie und eine pädologische Abteilung an der Moskauer Pädagogischen Gesellschaft ins Leben gerufen. Weitere pädologische Untersuchungen sind zu dieser Zeit von Vladimir Bechterev, Adrian Griboedov (1875–1944), Avgust Krogius (1871–1933) und Aleksandr Lazurskij (1874–1917) angestellt worden.82 1917 existierten im Russländischen Reich bereits mehr als zehn Einrichtungen und Organisationen, vorwiegend in Moskau und Sankt Petersburg, die sich mit der körperlichen und geistigen Entwicklung von Kindern beschäftigten.83 Und dennoch stellte die staatliche Institutionalisierung der Pädologie nach 1917 ein Novum dar. Zum einen dehnte dieser Schritt ihre wissenschaftlichen Aktivitäten auf ein bisher beispielloses Maß aus und verlieh ihr einen enormen Bedeutungszuwachs. Da die Bolschewiki von ihr »praktische Rezepte zur raschen Erziehung des neuen ›sozialistischen‹ Menschen« erwarteten, übertrugen sie der Pädologie eine Mitverantwortung am Erreichen höchster staatlicher Ziele.84 Zum anderen war es ihr holistischer Anspruch, der in der Geschichte der Erforschung von Kindern und Jugendlichen bis heute seinesgleichen sucht.85 Als eine Art Dachverband verschiedener Disziplinen bestand ihre Aufgabe darin, »sowohl die biologischen als auch die soziologischen Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung« zu ergründen.86 Die Pädologen selbst hielten ihr Fach für das »wissenschaftliche Gegenstück zur Pädagogik«, der sie vorwarfen, sich den Methoden und Erkenntnissen der Neuropsychologie zu verweigern und deshalb unwissenschaftlich zu sein.87 Aron Zalkind, eine der führenden Kräfte der Pädologie, richtete sein Hauptaugenmerk auf die Frage, inwieweit beim Menschen Veränderungen auftreten, die als Folge der auf ihn einwirkenden sozialistischen Einflüsse ausgemacht werden können. Der Kindheit maß er besondere Bedeutung bei, weil er glaubte, dass Umweltfaktoren in dieser Phase der menschlichen Ent82 Kurek, Istorija likvidacii pedologii i psichotechniki, 9 f. 83 Balašov, Pedologija v Rossii v pervoj treti XX veka, 7. Evgenij Balašov bietet zugleich eine detaillierte Darstellung über Studien zu Kindern, die seit dem 19. Jahrhundert im Russländischen Reich unternommen wurden. Er nimmt dabei verschiedene Fachgebiete in den Blick, vor allem die Pädagogik und Pädologie, aber auch die Rechtswissenschaften. Ebd., 41–72. 84 Ebd., 9. 85 Heutzutage ist nicht nur der Begriff Pädologie außer Gebrauch. Auch der damit verbundene ganzheitliche Ansatz wurde aufgegeben. Stattdessen wird normalerweise streng zwischen Pädiatrie, sprich: Kinder- und Jugendmedizin, zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie -psychotherapie unterschieden. 86 Faradžev, Kirill: Pedologija A. Zalkinda i mif o preobrazovanii čeloveka. In: Pedologija. Utopija i real’nost’. Moskau 2001, 5–18. 87 Kozulin, Psychology in Utopia, 131.

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wicklung die größte Wirkung entfalteten und den Verlauf des späteren Lebens prägten. Die Pädologie sollte daher eruieren, »ob die neue sozialistische Um­welt geeignet ist, den neuen Massenmenschen zu schaffen«.88 Mit dieser Frage­stellung sollten sich Wissenschaftler wie Zalkind allerdings in einen Teufelskreis manövrieren. Dem Konsens zufolge ließ sich die alle Lebensbereiche umfassende Transformation nur mit einem »Neuen Menschen« verwirklichen. Das »Neue Kind«, das hierin eine entscheidende Rolle spielte, existierte aber noch nicht, und die sich darbietende soziale Realität wirkte seiner Erschaffung vielfach entgegen. Da die Bolschewiki fest entschlossen waren, ihre Pläne zu verwirklichen, entstanden noch mitten im Bürgerkrieg unter der Zuständigkeit von Narkompros und Narkomzdrav die ersten pädologischen Sektionen, Laboratorien und Lehrstühle. Sie wurden an Universitäten, Akademien, Institute und staatliche Behörden auf regionaler wie überregionaler Ebene angeschlossen und im Verlauf der 1920er und frühen 1930er Jahre mehrfach restrukturiert und reorganisiert. Alsbald entwickelte sich hieraus ein weites Netz pädologischer Forschung, das sich von Petrograd beziehungsweise Leningrad und Moskau über Tver’, Uglič, Kostroma, Ivanovo-Voznesensk, Nischni Nowgorod, Kasan, Rjazan’, Orël, Samara, Voronež, Saratov, Caricyn beziehungsweise Stalingrad (heute: Wolgograd), Ekaterinoslov (heute: Dnipro), Novočerkassk, Rostow am Don, Simferopol’ und Evpatorija bis ins usbekische Taschkent erstreckte.89 Exemplarisch erwähnt werden können hier das 1921 vom Narkompros gegründete Zentrale Pädologische Institut (Central’nyj pedologičeskij institut) in Moskau, an dem vier Kommissionen initiiert wurden, die sich der Analyse verschiedener kindlicher Entwicklungsphasen widmeten, angefangen bei der Altersgruppe der Null- bis Dreijährigen über Vorschul- (drei bis sieben Jahre) und jüngere Schul- (sieben bis zwölf Jahre) bis hin zu älteren Schulkindern beziehungsweise Jugendlichen im Alter von 13 bis 17 Jahren. Die Grundlage für die Untersuchungen bildeten dabei zwei Methoden: Beobachtung90 und Experimente. Die Aufgabe der Kommission, die für die Altersstufe der Sieben- bis Zwölfjährigen verantwortlich zeichnete, bestand darin, Beobachtungsprogramme für Schulkinder zu erarbeiten, um junge Führungspersönlichkeiten zu entdecken, an denen das Land hohen Bedarf hatte. Ebenfalls zum Narkompros zählte das 1922 ins Leben gerufene Institut für Methoden der Schularbeit (Institut metodov škol’noj raboty – IMŠR), das die häuslichen Umstände von Kindern analysierte und anhand derer Rückschlüsse auf ihre schulischen Leistungen zu ziehen versuchte. 1923 entstand in Moskau die 88 Balašov, Pedologija v Rossii v pervoj treti XX veka, 9 f. 89 Ebd., 73, 100, 102, 127–129; Rybnikov, Nikolaj: Pedologičeskie učreždenija respubliki. In: Pedologija 1/Serija B, kniga 1 (1928), 181–191. 90 Die Methode der Massenbeobachtung geht auf Stanley Hall zurück, der sie 1893 erstmals angewandt hat. Balašov, Pedologija v Rossii v pervoj treti XX veka, 33.

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Akademie für kommunistische Erziehung (Akademija kommunističeskogo vospitanija – AKV ), die als Zentrum für pädologische Bildung sowie für pädologische und psychologisch-pädagogische Untersuchungen galt.91 In den Reihen des Narkomzdrav befand sich seit 1918 das Staatliche Institut des defektiven Kindes (Gosudarstvennyj institut defektivnogo rebënka) in Moskau, das seine Arbeit faktisch jedoch erst 1921 aufnahm und in Staatliches medizinisch-pädologisches Institut (Gosudarstvennyj mediko-pedologičeskij institut) umbenannt wurde. Es verfügte über mehrere experimentelle Heil-, Rehabilitations- und Prophylaxezentren für Kinder. Hierzu gehörten eine Schule, ein Sanatorium und ein Kindergarten für Kinder mit Störungen des Nervensystems, eine Kinderpsychiatrie, ein Institut für gehörlose und stumme Kinder sowie eine Heil- und Erziehungskolonie für moralisch-­ defektive Kinder, sprich: für minderjährige Gesetzesbrecher. Außerdem unterstanden dem Narkomzdrav das 1922 in Moskau und 1925 in Leningrad gegründete Staatlich-wissenschaftliche Institut für den Schutz von Mutterschaft und Säuglingsalter (Gosudarstvennyj naučnyj institut ochrany materinstva i mladenčestva  – GNIOMM), an denen Analysen zum Einfluss der Umgebung auf die frühe Kindheit vorgenommen wurden. 1927/28 kamen in denselben Städten Staatlich-wissenschaftliche Institute für den Schutz der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (Gosudarstvennyj naučnyj institut ochrany zdorov’ ja detej i podrostkov) hinzu, die verschiedene Laboratorien aufwiesen, zum Beispiel für Physiologie und experimentelle Pädologie.92 An diesen und anderen Institutionen kristallisierten sich mehrere Forschungsrichtungen heraus: die reflexologische (Ivan Pavlov, Vladimir Bechterev), die reaktologische (Konstantin Kornilov, 1879–1957), die psychoanalytische (Ivan Ermakov, 1875–1942), die defektologische (Vsevolod Kaščenko, 1870–1943, und Lev Vygotskij), die biogenetische (Pavel Blonskij) und die soziogenetische (Aron Zalkind). Da die Mehrheit der Wissenschaftler vielseitige Forschungsinteressen verfolgte, kann diese Einteilung nur als grobe Orientierung dienen. Zu groß war das Aufgaben- und Themenfeld der Pädologie, als dass sie einer einzelnen Schule zugerechnet werden könnten. Erschwerend kommt hinzu, dass nahezu jeder, der sich auf irgendeine Art und Weise der Analyse von Kindern widmete, als Pädologe galt. Infolgedessen mangelte es der neuen Disziplin an einem einheitlichen Zugang zum Untersuchungsgegenstand Kind.93

91 Ebd., 33 f., 86–90, 109, 112, 116. 92 Ebd., 100 f., 122 f., 124 f. 93 Ebd., 19–21.

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Vom Reiz-Reflex-Schema zur Kontrolle des Verhaltens

Verheißungsvolle Aussichten auf die Schaffung des »Neuen Kindes« eröffneten die physiologischen und reflexologischen Studien Ivan Pavlovs. Pavlov hatte im Rahmen seiner Untersuchungen über Verdauungsdrüsen festgestellt, dass der Speichelreflex von Hunden »über die Distanz durch Reize aus der Umwelt ausgelöst werden kann […], bevor die Nahrung das Maul berührt«94 und damit das Vorhandensein sogenannter bedingter und unbedingter Reflexe nachgewiesen. Während sich hinter ersterem eine Reaktion verbirgt, die durch äußere Reize aus der Umwelt hervorgerufen wird und von dieser abhängig ist, handelt es sich bei letzterem um eine Reaktion, die fest und unveränderbar mit einem Auslösereiz verbunden ist. Anders ausgedrückt: Ein bedingter Reflex ist eine erlernte, ein unbedingter Reflex eine angeborene Verhaltensweise.95 Pavlov glaubte, dass seine Forschungen der Eugenik96 zum Durchbruch verhelfen und die wissenschaftliche Grundlage für einen verbesserten Menschen, »einen höheren Typus mit perfektestem Nervensystem«, bilden könnten.97 Er versuchte zu eruieren, inwiefern die Stärken und Schwächen von Nerven-

94 Rüting, Pavlov und der neue Mensch, 114. 95 Ebd. Zu Pavlovs wissenschaftlichen Erfolgen in der vorrevolutionären Zeit siehe außerdem Todes, Daniel: Pavlov’s Physiology Factory. Experiment, Interpretation, Laboratory Enterprise. Baltimore, MD 2002. 96 Eugenische Ideen sind bereits in den 1890er Jahren im Russländischen Reich aufgekommen. Als eigenständige Wissenschaftsdisziplin institutionalisiert wurde die Eugenik aber erst nach 1917. Im Gegensatz zur Eugenik in Deutschland oder Großbritannien trug die sowjetische keine rassischen, rassistischen oder nationalistischen Züge. Krementsov, Nikolai: From ›Beastly Philosophy‹ to Medical Genetics: Eugenics in Russia and the Soviet Union. In: Annals of Science 68/1 (2011), 61–92. Angesichts des miserablen Gesundheitszustandes der Bevölkerung waren zwar auch die Bolschewiki von der Sorge um eine leistungsfähige Nachkommenschaft getrieben, da sie als unabdinglich für den Aufbau des Sozialismus galt. Kuhr-Korolev, Gezähmte Helden, 163. Allerdings stießen Vorstellungen, wonach Phänomene wie Kriminalität, Prostitution oder Alkoholismus angeboren, vererbbar und damit unveränderbar sind und sich nur durch Maßnahmen wie Segregation und Sterilisation beseitigen lassen, auf breite Ablehnung. Stattdessen hingen die Bolschewiki der Überzeugung an, dass der »Neue Mensch« durch bessere soziale Bedingungen, Umerziehung und medizinische Vorsorge geschaffen werden könnte. Narkompros, Narkomzdrav und Narkomsobes kämpften daher für den Schutz von Müttern, Säuglingen und Kindern und betrieben aktive Propaganda für Sozialhygiene. Krementsov, From ›Beastly Philosophy‹ to Medical Genetics: Eugenics in Russia and the Soviet Union, 69–73. Einen Überblick über die Entwicklung der Eugenik in Russland von 1900 bis 1940 bietet außerdem Adams, Mark B.: Eugenics in Russia, 1900–1940. In: Adams, Mark B. (Hg.): The Wellborn Science. Eugenics in Germany, France, Brazil, and Russia. New York, NY 1990, 153–216. 97 Todes, Daniel: Ivan Pavlov. Exploring the Animal Machine. New York, NY 2000, 91 f.

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typen vererbt werden und sich mittels kontrollierter Umwelteinflüsse verändern lassen.98 Obschon Pavlov lediglich Tierversuche unternommen hatte und zeit seines Lebens nie Experimente an Menschen durchführte, weckten seine Erkenntnisse zu bedingten und unbedingten Reflexen bei den Bolschewiki die Hoffnung, dass auch Menschen dazu gebracht werden könnten, »ihre körperlichen Bedürfnisse [zu] unterdrücken oder bestens [zu] kontrollieren […], um asketisch und aufgeklärt der moralischen Erneuerung und gesellschaftlichen Neuordnung [zu] dienen«.99 Zudem waren seine Studien kompatibel mit der Theorie des Marxismus-Leninismus. Ein Punkt, in dem Lenin und Pavlov übereinstimmten, war ihr Glaube, dass die menschliche Natur unbegrenzt transformierbar sei. Pavlov wollte einen Beleg dafür finden, dass menschliche Gedanken, Gefühle und Sehnsüchte zugunsten des physiologischen Modells von Reiz und Reaktion verdrängt werden könnten. Er vertrat die Ansicht, dass die Wechselbeziehung zwischen Organismus und äußerer Umwelt auf einem Reflexsystem basierte, wobei einige Reflexe angeboren, andere erworben seien.100 In Anlehnung an den Psycho-Lamarckismus, der »die Evolution durch genetische Fixierung von erlerntem Verhalten postuliert«, entwickelte Pavlov die Theorie, dass »die Evolution des Verhaltens auf der Vererbung bedingter Reflexe beruhe.« Erste Gedanken hierzu hatte er 1913 auf dem 9. Internationalen Physiologenkongress in Groningen vorgetragen und behauptet, »dass bestimmte bedingte Reflexe in vererbbare unbedingte Reflexe umgewandelt werden können.« Ein Kontrollexperiment, angeregt von Nikolaj Kol’cov (1872–1940), der später der führende Kopf der sowjetischen Eugenik und Genetik werden sollte, und durchgeführt von Pavlovs Assistenten Evgenij Ganike (1869–1948), widerlegte seine Theorie allerdings.101 Nahezu zeitgleich begründete der US -Amerikaner John B. Watson (1878– 1958) mit dem sogenannten Behaviorismus eine neue psychologische Schule, die das menschliche Verhalten als Ausdruck des Schemas von Reiz und Reaktion erachtete. 1913 veröffentlichte er einen programmatischen Aufsatz mit dem Titel Psychology as the Behaviorist Views It, in dem er dafür plädierte, die Psychologie als »experimentellen Zweig der Naturwissenschaften« zu begreifen, deren Aufgabe darin bestehe, menschliches Verhalten vorherzusagen und zu kontrollieren.102 Dass sich die Psychologie, darunter vor allem die 98 99 100 101 102

Ebd., 92. Rüting, Pavlov und der neue Mensch, 16, 70. McLeish, Soviet Psychology, 72. Rüting, Pavlov und der neue Mensch, 132–134. Watson, John B.: Psychology as the Behaviorist Views It. In: Psychological Review 20/2 (1913), 158–177. Es ist nicht eindeutig nachweisbar, ob John B. Watson zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Aufsatzes bereits Kenntnis von Pavlovs Studien besaß, da er ihn nicht als Referenz angeführt hat. Ebd. Helmut E. Lück und Susanne Guski-Leinwand

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Psychoanalyse, ausschließlich der Methode der Introspektion bediente, um sich ihrem alleinigen Untersuchungsgegenstand, dem (Unter-)Bewusstsein des Menschen, zu nähern, erschien Watson unbefriedigend, da sie keine überprüfbaren Ergebnisse erzielte. Der Begriff Bewusstsein war für ihn nicht mehr als ein »vages Konstrukt […], unter dem jeder nach Gutdünken das versteht, was er will.«103 Den Glauben an die Existenz eines Bewusstseins verwies er ins Reich des Aberglaubens und der Magie. Die Psychologie sollte sich naturwissenschaftliche Methoden zunutze machen und nicht das Bewusstsein, sondern das Verhalten des Menschen in den Fokus ihrer Analysen stellen.104 Genauer hätte Watsons Behaviorismus den Nerv der Zeit in Sowjetrussland nicht treffen können, suchten die Bolschewiki doch geradezu krampfhaft nach wissenschaftlichen Erklärungen für jegliche Art menschlicher Regung, um nichts dem Zufall, dem Spontanen, Ungewissen oder Unterbewussten zu überlassen.105 Unter Federführung der Pädologie interessierten sich neben Ivan Pavlov auch Vladimir Bechterev, Konstantin Kornilov und Ivan Arjamov (1884–1958) für Reflexe, Reaktionen und Bewegungsabläufe. Bechterevs reflexologischer Schule lag die Annahme zugrunde, dass sämtliche Handlungen des Menschen das Produkt unterschiedlicher Reflexe darstellen. Sein Hauptaugenmerk richtete er auf die Untersuchung des Zusammenwirkens von Umweltreizen und den inneren Nerven- sowie psychischen Prozessen des Organismus. Unverkennbar sind die Analogien zum Behaviorismus, denn auch Bechterev hielt es für unwissenschaftlich und nicht objektiv, sich ausschließlich auf die Seele des Menschen zu konzentrieren.106 gehen davon aus, dass zunächst hauptsächlich die Forschungsergebnisse von Edward Lee Thorndike die Grundlagen von Watsons Behaviorismus bildeten, Watson sich in der Folge aber stärker an Pavlov orientierte. Thorndike (1874–1949), ein US -amerikanischer Psychologe, hatte unabhängig von und früher als Pavlov Tierexperimente durchgeführt, die sich mit Lernvorgängen beschäftigten. Hierzu hatte er Katzen in Käfige gesperrt, die sie durch Verwendung von Hebeln und Zugseilen von innen öffnen konnten. Beim mehrmaligen Wiederholen des Versuchs offenbarte sich, dass es den Tieren mit der Zeit immer schneller gelang, die Käfige zu öffnen. Sie hatten gelernt, welche Hebel sie in welcher Reihenfolge bedienen mussten. Thorndike sah dies als Beweis dafür, dass eine »befriedigende (zum Erfolg führende) Reaktion […] den Lernerfolg verstärkt haben, eine unbefriedigende (nicht zum Ziel führende) geschwächt haben [muss]«, was er als Trial-and-Error-Methode bezeichnete. Lück, Helmut E. / Guski-Leinwand, Susanne: Geschichte der Psychologie. Strömungen, Schulen, Entwicklungen. 7. Aufl., Stuttgart 2014, 128–131. 103 Werth, Reinhard: Bewußtsein. Psychologische, neurobiologische und wissenschaftstheoretische Aspekte. Berlin, Heidelberg 1983, 38. 104 Ebd. Watson lehnte die Methodik der Psychoanalyse ab. Lück / Guski-Leinwand, Geschichte der Psychologie, 130. Zum Behaviorismus siehe außerdem Mills, John A.: Control. A History of Behavioral Psychology. New York, NY 2000. 105 Kuhr-Korolev, Gezähmte Helden, 111. 106 Balašov, Pedologija v Rossii v pervoj treti XX veka, 26 f.

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Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Konstantin Kornilov, der bestrebt war, »ein komplettes Schema der Natur der menschlichen Psyche« zu entwickeln.107 Kornilov, der 1923 die Funktion des Direktors am Moskauer Institut für Psychologie übernommen und seinen früheren Professor und Kollegen ­Georgij Čelpanov108 (1862–1936) aus dem Amt gedrängt hatte, glaubte aus den Schriften Feuerbachs, Plechanovs und Bucharins ableiten zu können, dass die Psychologie als Reaktologie definiert werden kann. Auch er untersuchte den Zusammenhang zwischen menschlichen Reaktionen und ihrer Umgebung, konzentrierte sich dabei auf das Arbeitsverhalten und ging der Frage nach, inwiefern die soziale Klasse individuelle Reaktionen beeinflusst.109 Konsens unter den Reflexologen und Reaktologen der 1920er Jahre herrschte nicht nur insofern, als sie das Verhalten von Kindern und Jugendlichen als komplexe Kette von Reaktionen begriffen, die durch die Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt ausgelöst wurde.110 Sie verband auch, wie Corinna Kuhr-Korolev deutlich gemacht hat, die Überzeugung, wonach die einzelnen Reflexe in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, in dem die stärksten die Oberhand gewinnen. Im Hinblick auf die Schaffung des »Neuen Kindes« waren führende Vertreter der Reflexologie der Auffassung, dass die starken Reflexe gefördert werden müssten, um negative Reaktionen zu verhindern beziehungsweise sie in positive zu transformieren. Ivan ­Arjamov, der erkannt haben wollte, dass »ständige Kritik an negativen Verhaltenszügen nur zu ihrer Verstärkung [führe]«, sah die Pädagogen des Landes in der Pflicht, »›[…] bei den Kindern starke individuelle und sozial nützliche Reflexe auszubilden und diejenigen unbedingten Reflexe / Instinkte zu bremsen, die als sozial schädlich unerwünscht sind‹.«111 So absurd die Vorstellungen einiger Reflexologen aus heutiger Sicht auch anmuten, sind sie doch ein eindrucksvolles Beispiel für die politische Verein107 McLeish, Soviet Psychology, 110. 108 Čelpanov hatte das Institut 1914 gegründet, widersetzte sich nach der Machtübernahme der Bolschewiki aber marxistisch-materialistischen Ideen und geriet infolgedessen in Bedrängnis. Dies wusste Kornilov, der lediglich über eine primäre Schulbildung verfügte und zuvor in der Provinz als Lehrer gearbeitet hatte, für sich zu nutzen. Aufgrund seiner einfachen Herkunft sowie seiner »rigorosen und präzisen Rhetorik«, die stets »mehr Schein als Sein« war, konnte er das Vertrauen der neuen Machthaber gewinnen. Ings, Stalin and the Scientists, 96–98. Čelpanov fand nach seiner Entlassung eine Anstellung an der Staatlichen Akademie für Ästhetische Wissenschaften. Als die Akademie 1930 geschlossen wurde, verlor er jedoch erneut seine Arbeit. Im privaten Bereich erging es ihm nicht besser. Eine seiner Töchter starb, die andere ging ins Ausland, sein Sohn fiel dem Großen Terror zum Opfer und wurde erschossen. Čelpanov selbst verstarb 1936 in völliger Armut. Ebd., 443 (FN 16). 109 Ebd., 96 f.; McLeish, Soviet Psychology, 110 f. 110 Arjamov, Ivan: 10 let sovetskoj pedologii. In: Vestnik prosveščenija 6/12 (1927), 68–75. 111 Kuhr-Korolev, Gezähmte Helden, 111 f.

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nahmung der Wissenschaften in der Sowjetunion. Selbst eine Autorität wie Ivan Pavlov, der 1904 für seine Studien zu Verdauungsdrüsen den Nobelpreis gewonnen hatte, war nicht vor politisch-ideologischen Verführungen gefeit und präsentierte der Weltöffentlichkeit mit der Behauptung, bedingte Reflexe würden vererbt, nicht mehr als eine kühne Theorie, die experimentell nicht hinreichend verifiziert worden war. Bis Pavlov seinen Fehltritt einsah und der Theorie abschwor, sollten etwa zehn Jahre vergehen.112 Zum einen verdeutlicht das Exempel, dass der Grat zwischen seriöser Forschung und Pseudowissenschaft äußerst schmal sein konnte. Zum anderen demonstriert es, dass Lehrmeinungen, die die utopischen Vorstellungen der Machthaber affirmierten, eine große Resilienz und Wirkmächtigkeit besaßen – selbst dann, wenn sie längst widerlegt worden waren. 2.4

Mit dem »Freudismus« der Psyche auf der Spur

Obgleich das Unbewusste als imponderable Größe galt, die sich mit der Rationalität für sich beanspruchenden Weltanschauung der Bolschewiki nur schwer vereinbaren ließ, fiel Sigmund Freuds Psychoanalyse zunächst durchaus auf fruchtbaren Boden. In Sowjetrussland beziehungsweise der Sowjetunion in erster Linie als »Freudismus« (Frejdizm) bekannt, schwelgten revolutionäre Träumer in der Hoffnung, dass mit der Veränderung des Bewusstseins ein »Neuer Mensch« geschaffen werden könnte.113 Anhänger fand die Psy112 Rüting, Pavlov und der neue Mensch, 133–136. Wer denkt, dass Pavlovs Theorie damit komplett aufgegeben worden wäre, irrt. In den 1930er Jahren nahm sich der Agrarwissenschaftler Trofim Lysenko (1898–1976) ihrer an und machte sie zur Grundlage einer imponierenden, aber vollkommen haltlosen Vererbungslehre, die den Pflanzenbau sowohl in der Sowjetunion als auch in den späteren Ostblockländern über Jahrzehnte hinweg prägen sollte. Für die sowjetische Landwirtschaft hatte Lysenkos Scharlatanerie erhebliche Ernteverluste zur Folge und schränkte die ohnehin mangelhafte Versorgung der Bevölkerung zusätzlich ein. Dass es Lysenko »1938 an die Spitze der Lenin-Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der UdSSR und 1940 des Instituts für Genetik der Akademie der Wissenschaften« schaffte, lag augenscheinlich nicht nur daran, dass die politischen Eliten aus seiner Idee von der Vererbung erworbener Eigenschaften ihre Legitimation zur totalen Umgestaltung und Beherrschung der Natur schöpften. Polianski, Das »Lied vom Anderswerden«, 73. Sie übertrugen sie auch auf die Schaffung des »Neuen Menschen«, als dessen Inkarnation Lysenko, ein einfacher ukrainischer Bauernsohn, in gewisser Hinsicht selbst galt. Erst Anfang der 1960er Jahre sollten Lysenkos Aktivitäten, seine Theorien und Methoden, der Unwissenschaftlichkeit überführt werden. Mit dem Sturz Nikita Chruščëvs 1964 verlor er seine Protektion endgültig und wurde sämtlicher wissenschaftlicher Positionen und Funktionen als Berater enthoben. Ebd., 74; Graham, Science in Russia and the Soviet Union, 123–126, 133; Plaggenborg, Experiment Moderne, 67. 113 Etkind, Eros des Unmöglichen, 227.

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choanalyse nicht nur unter Gelehrten wie Lev Vygotskij, Aleksandr Lurija (1902–1977) oder Aron Zalkind, sondern auch unter Politikern wie Nikolaj Semaško (1874–1949), dem Volkskommissar für Gesundheit. Dass einige Aspekte Kritik ernteten – Lenin beispielsweise missfiel die »übertriebene Hervorhebung der Sexualität« und die »bourgeoise Sicht auf Frauen« – vermochte ihren Siegeszug jedoch nicht aufzuhalten.114 Es dauerte nicht lange, bis sich erste medizinische, psychologische und pädagogische Gesellschaften und Einrichtungen herausbildeten, an denen in mehr oder minder starkem Maße psychoanalytische Forschung betrieben wurde. Im Frühjahr 1918 entstanden in Moskau das Institut des Kindes (Institut rebënka) und ein Experimentalkindergarten, ein Jahr später in Petrograd das Klinische Psychotherapeutische Institut (Kliničeskij psichoterapevtičeskij institut), für das Aron Zalkind verantwortlich zeichnete. Auch Vladimir Bechterevs Psychoneurologisches Institut in Petrograd spielte in diesem Kontext eine wichtige Rolle und vermeldete rege Forschungsaktivitäten. 1922 wurde in Moskau die Russische Psychoanalytische Vereinigung (Russkoe psichoanalitičeskoe obščestvo  – RPSAO) ins Leben gerufen, die die Psychoanalyse als eine »›Methode zur Erforschung und Erziehung des Menschen in seinem sozialen Umfeld‹« definierte, »›die […] sowohl für die reine Wissenschaft als auch für angewandte Bereiche von immensem Interesse ist‹.«115 Zu den Initiatoren gehörten insgesamt 14 Personen, darunter vier Pädagogen, die hohe Positionen im Narkompros bekleideten, sowie Ärzte, Professoren und Schriftsteller.116 Psychoanalytische Vereinigungen entstanden alsbald auch in anderen Städten, zum Beispiel in Kasan unter Führung Aleksandr Lurijas, aber auch in Kiew, Odessa und Charkow.117 1921 schuf Ivan Ermakov in Moskau das Psychoanalytische KinderheimLaboratorium (Psichoanalitičeskij detskij dom-laboratorija), das 1923 in das Staatliche Psychoanalytische Institut (Gosudarstvennyj psichoanalitičeskij institut) umgewandelt wurde. Seine Aufgabe bestand darin, durch die wissenschaftliche Beobachtung von Kindern »Methoden zur Prophylaxe krankhafter Erscheinungen in der Entwicklung der Psyche« zu erarbeiten.118 Für Ermakov stellte die Psychoanalyse ein Mittel dar, um einen »›[…] geschädigten Menschen von seiner sozialen Beschränkung‹« zu befreien und ihn zu einer »›[…] sozial wertvollen Persönlichkeit im Kollektiv‹« zu erziehen.119 Die insgesamt 24 Kinder der Einrichtung waren zwischen zwei und vier Jahren Kozulin, Psychology in Utopia, 85 f., 91, 93. Etkind, Eros des Unmöglichen, 231, 236. Ebd., 236. Kozulin, Psychology in Utopia, 85 f.; Balašov, Pedologija v Rossii v pervoj treti XX veka, 98. 118 Etkind, Eros des Unmöglichen, 239, 249 f. 119 Ebd., 250.

114 115 116 117

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alt und hatten Eltern, die als hohe Parteifunktionäre tätig waren und sich selbst nicht um ihren Nachwuchs kümmern konnten oder wollten. Einer der Zöglinge war kein anderer als Vasilij Stalin (1921–1962), der jüngste Sohn des späteren sowjetischen Diktators.120 Das Kinderheim-Laboratorium galt als eine der progressivsten Einrichtungen seiner Zeit. Seine Arbeits- und Funktionsweise ähnelte in vielerlei Hinsicht der Demokratischen Schule Summerhill von Alexander S. Neill121, deren Anfänge ebenfalls auf das Jahr 1921 zurückgehen. Ähnlich wie die Reflexo­ logen konzentrierten sich auch die Mitarbeiter von Ermakovs Laboratorium auf den Faktor der Umwelt. Da sie die Auffassung vertraten, dass Kinder Sprache, soziale und andere Fertigkeiten durch Interaktion erwerben, suchten sie zu ermitteln, welche Umgebung sich hierfür am besten eignete. Unterstützung erhielten sie von der bekannten Psychoanalytikerin Sabina Spielrein (1885–1942), die einige Zeit im Kinderheim-Laboratorium verbrachte, um Experimente mit den Zöglingen durchzuführen und neue Unterrichts- und Erziehungsmethoden zu finden, die die bisherigen, auf Reglementierung und Disziplin beruhenden Maßnahmen überflüssig machen würden. Spielrein setzte vor allem auf Beschäftigungen wie Malen und Modellieren sowie auf erzieherische Spiele, um die Entwicklung der Kinder zu fördern. Ein weiteres Merkmal der Einrichtung war, dass Vergehen nicht bestraft wurden und Maßnahmen wie das Einsperren keine Anwendung fanden. Der Umgang mit 120 Ebd., 250 f. 121 Alexander Sutherland Neill (1883–1973) war ein aus Schottland stammender Pädagoge, der als Begründer der Demokratischen Schule angesehen wird. Die erste Einrichtung dieser Art entstand 1921 in Dresden. Verschiedene Gründe finanzieller und politischer Natur veranlassten Neill jedoch, seine Schule 1923 ins österreichische Sonntagberg zu verlegen, wo sie in einem ehemaligen Kloster untergebracht wurde. Doch auch hier gab es bald Schwierigkeiten mit Nachbarn und Behörden, denen das respektlose Verhalten der Kinder und der heidnische Charakter der Einrichtung ein Dorn im Auge waren. 1924 zog Neill nach England, wo die Schule zunächst in Lyme Regis Quartier bezog und unter dem Namen Summerhill bekannt wurde, bis sie drei Jahre später in Leiston ihren endgültigen Platz fand. Neill arbeitete hier vor allem mit Problemkindern, darunter Diebe, Lügner, Bettnässer, Kinder mit Wutanfällen sowie Kinder, die von ihren Eltern missbraucht oder vernachlässigt worden waren. In seiner Institution praktizierte Neill eine Erziehung, die auf Freiheit und Selbstregulierung basierte, weil er glaubte, dass seine Zöglinge nur durch eine freie Atmosphäre geheilt werden könnten. Kamp, Johannes-Martin: Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen. Opladen 1995, 377 f. Zu Alexander S. Neills Pädagogik siehe außerdem Neill, Alexander Sutherland: Summerhill. A Radical Approach to Child Rearing. With a Foreword by Erich Fromm. New York, NY 1960; Kühn, Axel D.: A. S. Neill und Summerhill. Eine Rezeptions- und Wirkungsanalyse 2002. URL : https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/​ 10900/47254/pdf/Neill.pdf?sequence=1 (am 3.10.2017) sowie Bailey, Richard: A. S. Neill. London 2014.

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den Kindern sollte ausschließlich auf rationalen und humanen Prinzipien beruhen, ohne sie dabei mit übertriebener Zuneigung zu überschütten.122 1923 kam eine Kontrollkommission, nachdem sie das Kinderheim-Labora­ torium inspiziert hatte, zu dem Schluss, dass es nicht auf dem gewünschten wissenschaftlichen Niveau arbeitete und die Pädagoginnen keine angemessene psychoanalytische Ausbildung besaßen. Davon abgesehen herrschten Unstimmigkeiten zwischen den Angestellten und Ermakov. Erstere waren mit der Arbeit unzufrieden, erkannten in ihr weder Plan noch Methode und besaßen kaum eigenen Handlungsspielraum. Im August 1925 veranlasste Nikolaj Semaško die Schließung des Heims. Als Hauptursache wurde seine unzureichende Labortätigkeit ausgemacht, die es nicht mehr rechtfertigte, das Kinderheim weiterhin offiziell als wissenschaftliches Institut zu führen. Obendrein wurde bemängelt, dass es in der kurzen Phase seines Bestehens gewaltige finanzielle Mittel verschlungen hat, ohne jedoch einen praktischen Nutzen für die Gesellschaft aufzuweisen.123 An der Entscheidung vermochten auch kritische Stimmen wie die von Moshe Wulff nichts zu ändern, der 1926 vor der Vereinnahmung der Forschung zur Erfüllung politischer Ziele gewarnt hat: Die ideale Pädagogik muß von allen abseitigen, d. h. außerhalb des Kindes gelegenen Zielen, Prinzipien und Interessen absolut frei sein. […] Ich erlaube mir diese triviale Wahrheit zu wiederholen, da in letzter Zeit unter dem Einfluß falsch verstandener Erkenntnisse der Reflexlehre die alte, naive Vorstellung vom Kind als einer tabula rasa, worauf sich Beliebiges schreiben ließe, fröhliche Urständ feiert. Wieder einmal werden Behauptungen aufgestellt, wonach beim Kind mit Hilfe entsprechender »Reizfaktoren« der dem Pädagogen jeweils genehme »bedingte Reflex« auszulösen und so am Ende gar der »benötigte Menschentyp« (!) herzustellen wäre.124

Zwar konnte die Psychoanalyse vorerst weiterbestehen und die RPSAO zwischen 1925 und 1927 noch zahlreiche Sitzungen abhalten. Die Bewegung hatte mit der Schließung des Kinderheim-Laboratoriums jedoch einen herben Rückschlag erlitten. In der Folge rutschte sie zusehends in die Bedeutungslosigkeit ab und hörte um 1930 praktisch auf zu existieren.125

122 Ings, Stalin and the Scientists, 104. 123 Etkind, Eros des Unmöglichen, 253 f., 259–261; Ings, Stalin and the Scientists, 105. 124 Etkind, Eros des Unmöglichen, 330 f. 125 Ebd.

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»Defektologie« oder: Die Inklusion von Devianz

Für die damalige Zeit auffallend fortschrittliche Ansätze verfolgten auch die Anhänger der sogenannten Defektologie (defektologija). Sie wollten devianten und delinquenten Kindern und Jugendlichen nicht mit Bestrafung und Kriminalisierung, sondern mit besonderen pädagogischen Maßnahmen begegnen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es im Russländischen Reich Experten aus den Reihen von Medizin und Pädagogik gegeben, die Morels Degenerationstheorie ablehnten und psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen mit Heilbehandlungen beheben wollten.126 Einer davon war der Psychiater Vsevolod Kaščenko, der 1908 in Moskau eine private »›Sanatorium-Schule‹« für »›abnormale‹«, in ihrer Entwicklung gestörte beziehungsweise verzögerte Kinder, denen er medizinische und päda­ gogische Maßnahmen angedeihen ließ, gegründet hat.127 Die Bezeichnung »Defektologie« kam 1912 auf, nachdem Kaščenko und seine Kollegen sie in einigen Artikeln über ihre Arbeit und Erfahrungen in der Sanatorium-Schule verwendet hatten. Da viele Wissenschaftler im Russländischen Reich sowohl Untersuchungen zu begabten als auch zu entwicklungsverzögerten Kindern, die jeweils besondere (special’nye oder isključitel’nye) Bedürfnisse hatten, anstellten, diente defektiv (defektivnyj) zur expliziten Hervorhebung letzterer Gruppe.128 Kaščenko subsumierte hierunter nicht nur Kinder mit physischen, psychischen und kognitiven Einschränkungen und Behinderungen, sondern auch verwaiste, verlassene und heimatlose Kinder, Ausreißer und minderjährige Delinquenten. Er war überzeugt, die »Defekte« seiner jungen Patienten so weit korrigieren zu können, dass sie keine Gefahr mehr für die soziale Ordnung darstellen würden.129 Neu waren Kaščenkos Ansätze nicht. Sie orientierten sich an der um 1860 in Österreich und Deutschland aufgekommenen Heilpädagogik. Als dort im Zuge der Industrialisierung immer mehr Bauern ihre Dörfer verließen und in die Städte abwanderten, offenbarte sich, dass deren Kinder den Anforderungen der neu eingeführten und für alle verpflichtenden Volksschulen nicht gewachsen waren, weshalb die Behörden spezielle Nebenklassen und Hilfsschulen einrichteten. Da sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Russländischen Reich ähnliche Migrationsprozesse ereigneten und die Ungebildetheit der zugezogenen Landbevölkerung in den urbanen Zentren zunehmend zu 126 Galmarini-Kabala, The Right to Be Helped, 79. 127 McCagg, William Ogden: The Origins of Defectology. In: McCagg, William Ogden / Siegelbaum, Lewis H. (Hg.): The Disabled in the Soviet Union. Past and Present, Theory and Practice. Pittsburgh, PA 1989, 40, 48. 128 Ebd., 40. In Westeuropa und den USA konnte sich der Begriff »Defektologie« nicht durchsetzen, da er hier bis heute als diskreditierend und vorurteilsbehaftet gilt. Ebd. 129 Galmarini-Kabala, The Right to Be Helped, 79 f.

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einem Problem geriet, stießen die Forschungen und Maßnahmen der Heilund Sonderpädagogik hier auf großes Interesse.130 Wie Maria Cristina Galmarina-Kabala deutlich gemacht hat, suchten Kaščenko und seine Mitstreiter nach der Oktoberrevolution, die öffentliche Wahrnehmung devianter Kinder ins Positive zu wenden, indem sie erklärten, dass sie ein Recht auf Hilfe und Unterstützung hätten. Die Gewährung dieses Rechts gehörte für sie zur modernen Staatspraxis und verkörperte für sie einen modernen sozialen Wert, der auf wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten beruhte. Bei den bolschewistischen Parteiführern trafen sie damit auf offene Ohren, da sie sie glauben ließen, deviante Kinder korrigieren und zur Teilnahme an der sozialistischen Utopie befähigen zu können.131 Bereits 1918 transformierte Kaščenko seine Sanatorium-Schule in ein Haus zur Untersuchung des Kindes (Dom izučenija rebënka), aus dem kurze Zeit später die Medizinisch-Pädagogische Experimentalstation (Mediko-pedagogi­ českaja opytnaja stanica) hervorging, die dem Narkompros unterstand und als deren Direktor er fungierte.132 Unmittelbar nach ihrer Machtübernahme hatten die bolschewistischen Parteiführer sämtliche bestehende – meist privat organisierte – Institutionen für Kinder mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in die Zuständigkeit des Narkompros überführt. Obwohl die finanzielle Situation angesichts des Bürgerkrieges äußerst angespannt war, entstand alsbald ein weites Netz an sonderpädagogischen Einrichtungen, wodurch die Defektologie einen immensen Bedeutungszuwachs erhielt.133 Auf dem Ersten Allrussischen Kongress für den Kampf gegen die Defektivität, Delinquenz und Obdachlosigkeit von Kindern, der vom 24. Juni bis zum 2. Juli 1920 unter der Leitung von Anatolij Lunačarskij (1875–1933), dem Volkskommissar für Bildung, und Maxim Gorki (1868–1936) stattfand, verständigten sich die Teilnehmer aus Wissenschaft und Politik darauf, ein zentralisiertes sonderpädagogisches System zu schaffen. Überdies initiierte das Narkompros eine Kampagne, um mehr Defektologen auszubilden, und hielt Ärzte und Pädagogen an, Fachliteratur zur Defektologie zu veröffentlichen. Kaščenko erhielt im Nachgang die Position des Rektors des Pädagogischen Instituts für die Defektivität von Kindern (Pedagogičeskij institut detskoj defektivnosti) in Moskau, an dem die künftigen Defektologen des Landes studierten.134 Kaščenko und seine Kollegen gingen zwar nicht so weit, die pathologische Vererbung als Ursache von Defekten bei Kindern komplett zu negieren. Doch McCagg, The Origins of Defectology, 46–48. Galmarini-Kabala, The Right to Be Helped, 80. McCagg, The Origins of Defectology, 41. Lubovsky, V. I.: Defectology. The Science of Handicapped Children. In: International Review of Education 20/3 (1974), 298. 134 Galmarini-Kabala, The Right to Be Helped, 86. 130 131 132 133

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maßen sie den Einflüssen der sozialen Umgebung weitaus größere Bedeutung bei. Die genetische Prädisposition eines Menschen war für sie nicht frei von den Einwirkungen seiner Umwelt, allen voran seiner sozialen Beziehungen zu seinen Mitmenschen. Für Kaščenko bestand ein Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität und den Folgen des Bürgerkrieges, darunter Mobilisierung, Tod, Hunger und Armut. Die Defektivität von Kindern hatte für ihn in erster Linie soziale Ursachen.135 Auch Aron Zalkind war überzeugt: »›difficulty is not in them, but in a sick environment, which must be made healthier.‹«136 Neben Kaščenko war es Lev Vygotskij137, der sich einen Namen in der sowjetischen Defektologie machte, nachdem er auf dem Zweiten Allrussischen Psycho-Neurologischen Kongress 1924 in Leningrad einen beeindruckenden Vortrag gehalten hatte.138 Vygotskij Anliegen bestand darin, die Defektologie in eine moderne Wissenschaft zu verwandeln. Sie sollte auf konkreten fundamentalen Prinzipien beruhen, die er durch experimentelle und klinische Beobachtungen von Kindern mit geistigen und körperlichen Behinderungen beziehungsweise Beeinträchtigungen zu eruieren beabsichtigte.139 Er vertrat die Ansicht, dass die Entwicklung von Kindern anhand zweier verschiedener Linien erfolgt: zum einen anhand der Entwicklung der niederen biologischen Funktionen, zum anderen anhand der Entwicklung der höheren kulturellen oder geistigen Funktionen.140 Es gelang ihm zu zeigen, dass the common patterns of normal development retain their force even in the face of physical and mental disturbances. […] Vygotsky pointed out features common to all handicapped children that are not found among normal children. The most important such feature is the appearance of secondary deviations – offshoots of the primary defect – in the course of the development of the handicapped child.141

Eine Schädigung des Gehörs könne beispielsweise zu einer totalen oder teilweisen Beeinträchtigung der Sprache führen. Der primäre Defekt einer niederen biologischen Funktion beeinträchtige in diesem Fall die Entwicklung einer höheren geistigen Funktion  – und damit die gesamte Entwicklung eines Kindes. Da es nicht auf die übliche Art und Weise mit seiner Umgebung

135 Ebd., 89 f. 136 Ebd., 90. 137 Zu Lev Vygotskij liegt eine aktuelle Biografie vor. Siehe Yasnitsky, Anton: Vygotsky. An Intellectual Biography. London, New York, NY 2018. 138 McCagg, The Origins of Defectology, 51 f. 139 Knox, Jane E.: The Changing Face of Soviet Defectology. A Study in Rehabilitating the Handicapped. In: Studies in Soviet Thought 37/3 (1989), 217. 140 Ebd., 218. 141 Lubovsky, Defectology, 299.

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interagieren könne, zeitige sein primärer Defekt letztlich negative sekundäre Auswirkungen auf sein soziales Leben.142 Für Vygotskij war ein »defektives« Kind nicht weniger, sondern lediglich anders entwickelt als ein »normales« Kind. Das Problem war folgendes: the cultural tools which develop higher psychological functions were created for the normal psycho-physiological constitution. […] Because these cultural tools were created for a normal person with all his physical (biological) functions intact, and because the handicapped child’s psychological structure is often incongruent with those tools, substitution becomes the key to successful development.143

Vygotskij sah deshalb Psychologen und Erzieher in der Pflicht herausfinden, mit Hilfe welcher alternativen kulturellen Instrumente sich die primären Defekte kompensieren und die sekundären Deformationen verhindern ließen. Auch ein »defektives« Kind benötigt für seine soziale Entwicklung eine anregende Umgebung.144 Mit seinen Forschungen legte er den Grundstein für eine holistische Defektologie, die weit über die Ansätze Kaščenkos hinausgingen, und trug damit entschieden zur Weiterentwicklung der Disziplin bei.145 2.6

Aus der »NOT« wird eine Tugend gemacht

Pavel Blonskijs pädologische Forschungen wiederum konzentrierten sich vor allem auf die Reformierung des Schulwesens. Blonskij, der unter anderem von Friedrich Fröbel, Johann Pestalozzi, Karl Marx und John Dewey inspiriert worden war, erarbeitete ab 1922 gemeinsam mit Nadežda Krupskaja neue Lehrcurricula und veröffentlichte hierzu diverse Artikel in der Zeitschrift Na putjach k novoj škole146 (Auf den Wegen zur neuen Schule). Den Dogmatismus vorrevolutionärer Bildungseinrichtungen, wo bloßes Auswendiglernen im Fokus gestanden hatte, lehnte er rigoros ab. Stattdessen wollte Blonskij die individuellen Talente der Kinder stärker berücksichtigen und die Unterrichtsinhalte besser auf ihre jeweiligen Entwicklungsstände abstimmen, um sie angemessen auf ihr späteres Leben vorbereiten zu können. Er war einer der Ersten, der Marxismus, technischen Fortschritt, die Entwicklung der Industrie und das menschliche Verhalten in Einklang bringen wollte. Er 142 143 144 145 146

Ebd., 299. Knox, The Changing Face of Soviet Defectology, 220 f. Ebd., 221 f. McCagg, The Origins of Defectology, 52 f. Blonskij, Pavel: Pedagogičeskie zadači načal’noj školy. In: Na putjach k novoj škole 1/1 (1922), 36–43; ders.: Pedologija i škola. In: Na putjach k novoj škole 4/2 (1925), 134–137; ders.: Škol’nye programmy i mysli detej. In: Na putjach k novoj škole 9/7 (1930), 55–60 sowie ders.: Na putjach k politechnizmu. In: Na putjach k novoj škole 11/9–10 (1932), 2–5.

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beabsichtigte Lehr- und Lernmethoden einzuführen, die auf die Bedürfnisse der Industriegesellschaft abgestimmt waren und plädierte daher für die Errichtung sogenannter Arbeitsschulen (trudovye školy147). Durch Arbeit sollten Kinder und Jugendliche »sowohl konkrete wissenschaftliche Kenntnisse als auch ein Verständnis von der Struktur sozialer Beziehungen erlangen«.148 Seine Arbeitsschulen sollten kindzentriert, demokratisch und auf die realen Probleme des Alltags ausgerichtet sein. Den Unterrichtsstoff versuchte er flexibler zu gestalten, um ihn auf die individuellen Fähigkeiten der Schüler abstimmen zu können.149 Aus den Ideen Blonskijs und Krupskajas entstand die sogenannte polytechnische Schule (politechničeskaja škola), an der der Nachwuchs nicht nur Allgemeinbildung, sondern auch theoretische und praktische Fähigkeiten erwerben sollte, die für eine künftige Arbeit in der Industrie oder Landwirtschaft erforderlich waren.150 Dies kam nicht von ungefähr. Da das Projekt des sozialistischen Aufbaus ein Projekt der Moderne war, welches das Land von seiner Rückständigkeit befreien und die vorrevolutionäre Agrar- in eine moderne Industriegesellschaft transformieren sollte, konfrontierte es die neuen Machthaber auch mit Fragen der Arbeits- und Zeitorganisation. Die Ursachen für die geringe Produktivität des Landes – zwischen Februar 1917 und Mai 1918 verzeichnete sie einen Rückgang um 80 Prozent – lagen nämlich nicht nur im Ausbruch des Bürgerkrieges sowie im Mangel an finanziellen wie materiellen Gütern und Produktionsmitteln, sondern auch in fehlender Disziplin und büro­k ratischer Misswirtschaft begründet. Aus Sicht der Bolschewiki stellte die gleichgültige Einstellung der Arbeiter eine ernstzunehmende Bedrohung für die Revolution dar.151 Eben erst aus den Dörfern in die Städte gezogen, waren sie den Anforderungen einer modernen Industrie nicht gewachsen.152 Die »bäuerlichen Arbeiter« verfügten weder über eine angemessene Ausbildung 147 Siehe Blonskij, Pavel: Die Arbeitsschule. Paderborn 1973. Das russischsprachige Original ist 1919 unter dem Titel Trudovaja škola erschienen. 148 Kozulin, Psychology in Utopia, 121, 124 f., 128–130. 149 Ebd., 131. 150 Siehe hierzu Krupskaja, Nadežda: Politechničeskaja škola. In: Gončarov, N. / Kairov, I. /  Konstantinov, N. (Hg.): Pedagogičeskie sočinenija v desjati tomach. Tom četvertyj. Trudovoe vospitanie i politechničeskoe obrazovanije. Moskau 1959, 31–34; dies.: Tesizy o politechničeskoj škole. In: Gončarov, N. / Kairov, I. / Konstantinov, N. (Hg.): Pedagogi­ českie sočinenija v desjati tomach. Tom četvertyj. Trudovoe vospitanie i politechničeskoe obrazovanije. Moskau 1959, 35–37. 151 Beissinger, Mark R.: Scientific Management, Socialist Discipline, and Soviet Power. London 1988, 19. 152 Wie aus der Volkszählung von 1926 hervorgeht, war die Sowjetunion auch neun Jahre nach der Machtergreifung der Bolschewiki noch überwiegend agrarisch geprägt. Damals lebten über 26 Millionen Menschen (17,9 Prozent) in Städten, fast 121 Millionen Menschen (82,1 Prozent) dagegen auf dem Land. Schlögel, Karl: Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. München 2017, 453.

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noch über das Bewusstsein, ihren Lebensrhythmus an den Bedürfnissen der Fabrik ausrichten zu müssen, wo Arbeitsbeginn und -ende streng festgelegt waren. Die überwiegende Mehrheit sah sich plötzlich mit Zeitvorstellungen konfrontiert, die ihr aus der dörflichen Welt vollkommen unbekannt waren, wo sich das Leben an den Jahres- und Erntezeiten, an Tag und Nacht, am Sonnenstand und an den Regularien der Kirche orientiert hatte.153 Da sich die neuen Machthaber aufgrund der allseits vorherrschenden Defizite kaum in der Lage sahen, mehr Produktionsmittel bereitzustellen, mussten sie die Arbeiter zumindest verantwortungsvolleres Verhalten lehren, um das Bestmögliche aus den Fabriken herauszuholen und die Produktivität nicht unnötig zu beeinträchtigen. Hierbei galt es, die Menschen radikal zu reorganisieren154, sie weiterzubilden und ihnen die Bedeutung von Arbeits- und Zeitdisziplin zu vermitteln. Inspiration fanden die Bolschewiki paradoxerweise im Kapitalismus, genauer gesagt: im US -amerikanischen Taylorismus155 und Fordismus156, deren Streben nach Rationalisierung und Effizienz die Produk153 Altrichter, Helmut: Insoluble Conflicts. Village Life between Revolution and Collectivization. In: Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Russia in the Era of NEP. Explorations in Soviet Society and Culture. Bloomington, IN 1991, 195; hier zitiert nach Brunnbauer, Ulf: »The League of Time« (Liga Vremia). Problems of Making  a Soviet Working Class in the 1920s. In: Russian History / Histoire Russe 27/4 (2000), 468 f. 154 Reorganisation des Menschen lautete der Titel einer Schrift von Abram Z. Gol’cman aus dem Jahr 1924, in der er sich mit der Schaffung des »Neuen Menschen« auseinandersetzte. Gol’cman, Abram: Reorganizacija čeloveka. Moskau 1924. Gol’cman hat nach 1917 zunächst in der Metallgewerkschaft, später im Zentralrat der Gewerkschaften gearbeitet. Zwischen 1922 und 1925 war er als Leiter der Hauptverwaltung für Elektrifizierung tätig, anschließend wechselte er in die zentrale Kontrollkommission der Partei und ins Kollegium des Volkskommissariats für Volkskontrolle. Seine Schriften widmeten sich Lohn-, betrieblichen Versorgungs- und Organisationsfragen. Plaggenborg, Stefan: Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus. Köln 1996, 55 f. 155 Auf Frederick Winslow Taylor (1856–1925) geht die wissenschaftliche Betriebsführung zurück. Seit den 1880er Jahren erforschte er die Bewegungsabläufe von Arbeitsvorgängen und ihre zeitliche Dauer. Dadurch war es ihm gelungen, eine Methode zu entwickeln, mit deren Hilfe Arbeitsleistungen gemessen werden konnten. Saldern, Adelheid von / Hachtmann, Rüdiger: Das fordistische Jahrhundert: Eine Einleitung. In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 6/2 (2009), 175–177. Siehe außerdem Taylor, Frederick Winslow: The Principles of Scientific Management. New York, NY 2006. Die Erstausgabe ist 1911 in London bei Harper & Brothers erschienen; die erste deutschsprachige Übersetzung lag 1913 vor. 156 Henry Ford (1863–1947) gilt als Erfinder der Fließbandarbeit und der Produktstandardisierung (ab 1913/14). Saldern / Hachtmann, Das fordistische Jahrhundert: Eine Ein­ leitung, 176. Auch er hat seine Ansichten in einem Buch dargelegt. Siehe Ford, Henry: My Life and Work. New York, NY 1922. In den 1920er Jahren schloss Sowjetrussland eine Kooperation mit Ford, sodass US -amerikanisches Fabriklayout importiert wurde, Ingenieure und Spezialisten aus Detroit ins Land kamen. Es waren jedoch nicht nur Traktoren und andere materielle Güter, die die Sowjetunion erreichten, sondern auch

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tionsprozesse und Arbeitsabläufe in US -amerikanischen Betrieben modernisiert hatte.157 Tayloristische Experimente kamen bereits nach der Revolution von 1905 im Russländischen Reich auf und stießen in den Reihen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei auf reges Interesse. Auch Lenin war überzeugt, dass sich mit dem Taylorismus Produktivität und Ausstoß erhöhen ließen und so die vom Marxismus versprochene Prosperität erzeugt werden könnte.158 Erste Anwendung hatte der Taylorismus zunächst in den russländischen Rüstungsbetrieben während des Ersten Weltkrieges gefunden. Nach der Oktoberrevolution eroberte er auch zivile Bereiche. Die zentralen Figuren in dieser Entwicklung waren Aleksej Gastev159 (1882–1939) und Platon Keržencev160 (1881–1940), die zwar genau genommen nicht als Pädologen tätig waren, deren Forschungen die Pädologen aber rezipierten. Ersterer war als Leiter des 1921 geschaffenen Instituts für Arbeit (Central’nyj institut truda – CIT ) tätig und stellte als Mitglied in der Bewegung der Wissenschaftlichen Arbeitsorganisation (Naučnaja organizacija truda – NOT ) tayloristische Forschungen an.161 Gastev, der die Ansicht vertrat, dass eine proletarische Kultur nur als Kultur der Maschine und der Fabrik möglich sei,162 erschien die Mechanisierung als ein Mittel, mit dem die Betriebe umgestaltet, das in ihnen herrschende Chaos, der Dreck und die Gefahren beseitigt und der Arbeit Würde verliehen werden könnte.163 Beeindruckt von der perfekt anmutenden Arbeitsweise von Robotern, lehrte er die Schüler des CIT in Drill-Manier, sich in Übereinstimmung mit den Maschinen zu bewegen. Die Unterrichtsräume ähnelten Ideen und Werte. Henry Fords Mein Leben erschien während der 1920er Jahre in mehreren Auflagen und wurde Parteimitgliedern, Ökonomen, Ingenieuren, Managern und Technikstudenten zur Lektüre empfohlen. Begriffe wie fordizacija oder tejlorizacija hielten Einzug in sowjetische Städte und Universitäten. Stites, Richard: Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution. New York, NY 1989, 146–148. 157 Saldern / Hachtmann, Das fordistische Jahrhundert: Eine Einleitung, 175–177. 158 Beissinger, Scientific Management, Socialist Discipline, and Soviet Power, 20, 23. 159 Gastev hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts längere Zeit in Europa gelebt und war in Paris als Schlosser bei Citroën tätig gewesen. Nach seiner Rückkehr nach Sowjetrussland 1918 machte er sich als Schriftsteller einen Namen. Ings, Stalin and the Scientists, 69 f., 73 f. 160 Keržencev, der eigentlich Lebedev hieß, war ab 1904 als Journalist und Propagandist in Erscheinung getreten und hatte zwischen 1912 und 1917 im Exil in Paris, London und den USA gelebt. Nach seiner Rückkehr war er in der Proletkul’t-Bewegung aktiv, gehörte sowjetischen diplomatischen Missionen an, arbeitete als Journalist für die sow­ jetische Tageszeitung Pravda (Wahrheit) und war in der Arbeiter- und Bauerninspektion (Raboče-krest’ janskaja inspekcija – RKI ) tätig, wo er sich für Rationalisierung einsetzte. Brunnbauer, »The League of Time« (Liga Vremia), 474 f. (FN 64). 161 Beissinger, Scientific Management, Socialist Discipline, and Soviet Power, 34 f.; Plaggenborg, Revolutionskultur, 46. 162 Stites, Revolutionary Dreams, 149. 163 Ings, Stalin and the Scientists, 78.

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Fitnessstudios, in denen mit Hilfe neumodischer Geräte die Bewegungen der künftigen Arbeiter so einstudiert werden sollten, wie sie sie bei der Bedienung von Maschinen in den Fabriken benötigen würden.164 Besonderen Wert legte er auf den Erwerb von Eigenschaften wie Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, Gewandtheit, Willenskraft, »ordnende Disziplin (režim)« und Organisation.165 Faulheit, Passivität und Rückständigkeit dagegen erachtete er als die größten Feinde des Arbeiters.166 Keržencev dagegen hat sich weniger der Arbeits- als vielmehr der Zeitorganisation verschrieben. Dies war insofern von Bedeutung, als der Faktor der Zeit als Prämisse für die Realisierung der von Gastev erarbeiteten Prinzipien der NOT galt.167 1923 begründete Keržencev mit der Liga der Zeit (Liga »Vremja«) eine Organisation, deren Aufgabe darin bestand, Arbeit und Freizeit des Menschen zeitlich zu optimieren und so effektiv wie möglich zu gestalten.168 Er richtete den Fokus weg vom Körper und dem Bewusstsein des einzelnen Arbeiters hin zur Gesellschaft als Ganzes und übertrug Gastevs Theorien und Methoden aus der Fabrik auf das Alltagsleben.169 Doch damit nicht genug: Der Kampf um die Zeit sollte nichts Geringeres als einen Bruch mit den russischen Traditionen herbeiführen und infolgedessen eine neue Mentalität (byt170) etablieren.171 Wie Ulf Brunnbauer demonstriert hat, waren »rationalization of labor and internalization of time-discipline […] intrinsically linked with the reorganization of society and country as  a whole.«172 Die Liga bildete damit einen zentralen Bestandteil im sowjetischen SocialEngineering-Projekt.173 164 Ebd., 76–80; Stites, Revolutionary Dreams, 154; Kozulin, Psychology in Utopia, 16. 165 Gastev, Aleksej: Novaja kul’turnaja ustanovka. 2. Aufl. Moskau 1924, 28 f.; hier zitiert nach Plaggenborg, Revolutionskultur, 48. 166 Gastevs Bild des Maschinenmenschen war nicht neu. Seine Ursprünge sind in der französischen Aufklärung bei Julien Offray de La Mettrie und seiner Schrift L’homme ­machine (1749) zu finden. Stites, Revolutionary Dreams, 153. 167 Brunnbauer, »The League of Time« (Liga Vremia), 462. 168 Stites, Revolutionary Dreams, 156. 169 Ebd., 155. 170 Byt war Mitte der 1920er Jahre zu einem der zentralen Schlagwörter seiner Zeit avanciert. Der Begriff, der gemeinhin mit Lebensweise übersetzt wird, beinhaltete einen holistischen Anspruch, da das oberste Ziel der Revolutionäre in der Umgestaltung der gesamten und der Schaffung einer neuen Lebensweise (novyj byt) bestand. Zum Begriff und seinen Inhalten siehe Plaggenborg, Revolutionskultur, 41–46. 171 Brunnbauer, »The League of Time« (Liga Vremia), 481. 172 Ebd. 173 Ebd., 462. Richard Stites zufolge hat Aleksej Gastev den Terminus Social Engineering in den sowjetischen Kontext eingeführt. Stites, Revolutionary Dreams, 155. Karl R. Popper nimmt wiederum an, dass die Erstverwendung des Begriffs auf Roscoe Pound (1870–1964) zurückgeht, einen US -amerikanischen Rechtssoziologen und -philosophen. Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Der Zauber Platons. 7. Aufl. Tübingen 1992, 254.

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Zeit war für Keržencev ein Rohstoff, dessen Wert er seinen Landsleuten vermitteln wollte, indem er und seine Anhänger gegen das Zuspätkommen am Arbeitsplatz, gegen allzu lange Reden und Vorträge auf Versammlungen sowie gegen exzessive Papierarbeit und Bürokratie vorgingen.174 Mitunter nahmen ihre Aktionen geradezu absurde Ausmaße an. Nicht nur mussten die Mitglieder der Liga Zeitkarten tragen und ihre eigenen Aktivitäten alle 30 Minuten überwachen. Die Liga veröffentlichte auch Broschüren, die Musterpläne für den perfekt durchorganisierten Tagesablauf eines Arbeiters enthielten, oder unterbreitete Vorschläge zur gesunden Ernährung.175 Zwar konnte Keržencevs Organisation in kürzester Zeit 25.000 Anhänger gewinnen und hunderte Zellen gründen, die sich in Unternehmen, Behörden und an Schulen ansiedelten.176 Doch wurde sie im Februar 1926177 wieder aufgelöst. Sie in eine Massenbewegung zu transferieren, die das Land effizient gemacht, Raum, Zeit und Ordnung rationalisieren hätte können, ist Keržencev nicht gelungen. Die wenigen Enthusiasten, die ihr Leben nach seinen Prinzipien ausgerichtet haben, waren vielen ein Dorn im Auge. Sie galten als Egoisten, die den kollektiven Geist zerstörten, und als Paragrafenreiter.178 Dass sie immer wieder in Partei- und Fabrikversammlungen platzten und den Teilnehmern vor Augen hielten, welche Zeitverschwendungen sie soeben bei ihnen festgestellt hatten, dürfte ihrem Beliebtheitsgrad alles andere als zuträglich gewesen sein.179 So missliebig Keržencevs Liga einigen Zeitgenossen auch war, tat sie der Begeisterung für den Taylorismus keinen Abbruch, im Gegenteil: Das Streben nach Effizienz und Rationalisierung erlebte zwischen 1923 und 1925 seinen Durchbruch und avancierte zu einem regelrechten »Hype«.180 Politiker und Pädologen versuchten in den 1920er Jahren, an Gastevs Erkenntnisse am CIT anzuknüpfen und prüften, inwieweit sie sich auf den Typus der polytechnischen Schule übertragen ließen. Krupskaja betonte 1924, dass angesichts der wachsenden Industrie und Landwirtschaft und des Bedarfs an qualifizierten Arbeitern kein Weg an diesem Schultypus vorbeiführe. Wie die Schüler zu dieser Aufgabe befähigt werden sollten und welcher Lehrinhalte es hierfür beStites, Revolutionary Dreams, 157. Brunnbauer, »The League of Time« (Liga Vremia), 481. Stites, Revolutionary Dreams, 157. Bezüglich der Auflösung der Liga kursieren unterschiedliche Angaben. Ulf Brunnbauer datiert sie auf 1925. Brunnbauer, »The League of Time« (Liga Vremia), 462. Richard Stites gibt Februar 1926 als Auflösungsdatum der Liga an. Stites, Revolutionary Dreams, 158. 178 Ebd., 158. 179 Hanson, Stephen E.: Time and Revolution. Marxism and the Design of Soviet Institu­ tions. Chapel Hill, NC 1997, 125. 180 Stites, Revolutionary Dreams, 158. 174 175 176 177

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durfte, stand allerdings noch nicht fest. Anregungen erhoffte sie sich deshalb von den Errungenschaften des CIT.181 Bis sich die Pädologen dessen Theorien und Methoden annahmen, sollten noch einige Jahre vergehen. Erst im Mai 1929 trat der Staatliche Wissenschaftsrat (Gosudarstvennyj učënnyj sovet – GUS) zusammen, um zu entscheiden, ob und inwieweit die Methodik des CIT auf die polytechnischen Schulen angewandt werden konnte. Zuvor war Aron Zalkind beauftragt worden, mit den Kollegen des CIT, darunter Gastev, in Kontakt zu treten und sich ihre Arbeitsweise anzuschauen. Dadurch ist es den Pädologen zwar gelungen, erstmals konkrete Anforderungen, die die polytechnischen Schulen erfüllen sollten, zu postulieren. In Anlehnung an die Methodik des CIT gehörten hierzu die Erziehung zu Organisiertheit, die Herausbildung von Fertigkeiten zur sachgemäßen Ausführung von Arbeitsvorgängen, die Entwicklung des Kollektivismus, die Wissenserweiterung im Bereich von Arbeit, Technik und gesellschaftlichem Aufbau sowie die Vermittlung von technischen und arbeitsrelevanten Fähigkeiten. Nichtsdestotrotz kam die Kommission der GUS zu dem Schluss, dass die Methodik des CIT für die polytechnischen Schulen ungeeignet war. Kritik erfuhr insbesondere der Arbeitsmodus (režim), den ein Aufseher festlegte und der den Arbeitern keine Möglichkeit zur Selbstorganisation und Selbstregulierung bot. Da das CIT zudem die biologisch-psychologischen Voraussetzungen der Menschen ignorierte, warf die Kommission ihm vor, sie zu hörigen Maschinen zu machen. Überdies hatte das Institut seine Experimente bisher nur an Erwachsenen durchgeführt, sodass unklar war, welchen Einfluss sie auf Kinder und Jugendliche ausüben würden.182 Die Kritikpunkte, welche die Kommission des GUS vorbrachte, waren nicht neu. Seit dem Aufkommen des Taylorismus sahen seine Gegner ihn »als System für die wissenschaftliche Ausbeutung von Arbeitskräften«, die »nicht nur den Schweiß, sondern auch die Lebenssäfte aus dem Arbeiter herauspresste« und »ihn in einen Roboter verwandelte«.183 Auch Gastev fand nicht nur Anerkennung. Innerhalb des Narkompros galt er vielen als Fantast, sein Training als entwürdigend, da es die Arbeiter zu Rädchen im Getriebe der industriellen Produktion verkommen ließ. Obgleich feststand, dass die Sowjetunion ihre Fabriken, Arbeitsabläufe und Produktionsprozesse modernisieren musste und kein Weg am Fließband vorbeiführen würde, räumte man den Arbeitern ein Recht auf Bildung ein – unabhängig davon, welche Tätigkeiten sie 181 Krupskaja, Nadežda: Politechničeskaja škola i dostiženija CITa. In: Gončarov, N. / Kairov, I. / Konstantinov, N. (Hg.): Pedagogičeskie sočinenija v desjati tomach. Tom četvertyj. Trudovoe vospitanie i politechničeskoe obrazovanije. Moskau 1959, 99 f. 182 Pečatnikov, A.: Metodika CITa na I. Sessii GUSa. In: Pedologija 2/3 (1929), 382–388. Siehe außerdem Zalkind, Aron: CIT i detstvo. Tezisy po pedologičeskomu analizu metodiki CITa. In: Pedologija 2/3 (1929), 389–391. 183 Beissinger, Scientific Management, Socialist Discipline, and Soviet Power, 21.

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in den Betrieben ausführten. Gastevs Methoden bargen jedoch die Gefahr, Menschen auf ihre reine Arbeitskraft zu reduzieren, sie zu Automaten und Robotern zu degradieren und dadurch unbewusst kapitalistische Ansätze zu übernehmen.184 Seine Arbeitskultur ließ sozialistische Werte und Inhalte vermissen; seine Arbeiter erschienen als genormte Individuen, die nicht des Kollektivismus bedurften und daher nicht der bolschewistischen Vorstellung vom sozialistischen Arbeiter entsprachen.185 Für die Polytechnisierung der Schulen mussten somit andere Wege gefunden werden. Nicht nur mangelte es an theoretisch-methodischen Grundlagen. Auch die praktische Ausstattung war unzureichend. 1928 stellte Krupskaja enttäuscht fest, dass die von ihr und Blonskij unterbreiteten Vorschläge bisher kaum realisiert worden seien, da es die Bildungseinrichtungen angesichts der defizitären Situation nicht vermocht hätten, Werkstätten einzurichten, die Kindern und Jugendlichen das entsprechende Wissen hätten vermitteln können.186 2.7

Der Anfang vom Ende der Pädologie

Obschon die Pädologie unmittelbar nach der Oktoberrevolution ins Leben gerufen worden war, vergingen bis zur Abhaltung des ersten pädologischen Kongresses zehn Jahre. Eine Zusammenkunft aller pädologischer Richtungen und ihrer Vertreter mag damit zwar längst überfällig gewesen sein, doch ist dieses Ereignis weniger als Plattform des wissenschaftlichen Austauschs denn als Beginn des sogenannten Großen Umbruchs187 unter Stalin zu verstehen. Das Ziel des Kongresses, der Anfang 1928 stattfand, bestand darin, eine Synthese zwischen der Ideologie des Marxismus-Leninismus und der pädologischen Praxis herzustellen. Fortan waren die Wissenschaftler gezwungen, in jeder Untersuchung äußere Einflussfaktoren zu berücksichtigen  – ein staat­licher 184 Fitzpatrick, Sheila: Education and Social Mobility in the Soviet Union, 1921–1934. Cambridge 1979, 126 f. 185 Plaggenborg, Revolutionskultur, 54. 186 Kozulin, Psychology in Utopia, 133. 187 Mit dem Großen Umbruch (Velikij perelom) setzte Stalin der NĖP-Zeit ein Ende. Sein erster Fünfjahrplan (1928–1932) forcierte nicht nur eine gnadenlose Politik der Industrialisierung und Kollektivierung, sondern ging auch mit einer Kulturrevolution einher. Weiterführend hierzu siehe David-Fox, Michael: What Is Cultural Revolution? In: The Russian Review 58/2 (1999), 181–201; Priestland, David: Stalinism and the Politics of Mobilization. Ideas, Power, and Terror in Inter-War Russia. Oxford, New York, NY 2007, insb. 189–243; Fitzpatrick, Sheila: On Stalin’s Team. The Years of Living Dangerously in Soviet Politics. Princeton, NJ 2015, insb. 43–63; Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Cultural Revolution in Russia. 1928–1931. Bloomington, IN 1984 sowie dies.: The Cultural Front. Power and Culture in Revolutionary Russia. Ithaca, NY 1992.

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Eingriff, welcher der einstigen Vielfalt der Pädologie allmählich ein Ende bereitete und die soziogenetische Schule zum Maß aller Dinge erklärte.188 Unter den Teilnehmern des Kongresses befanden sich daher nicht nur führende Wissenschaftler, sondern auch hochrangige Politiker. Der Chefideologe Nikolaj Bucharin (1888–1938) ließ verlauten, dass die Reorganisation der Gesellschaft und die Kulturrevolution unter Beachtung des sozialen Umfelds schneller vollzogen werden können. Auch Semaško gab sich diesbezüglich zustimmend und verlangte von den pädologischen Wissenschaften, sich verstärkt auf den Einfluss von Umweltfaktoren zu konzentrieren. Anatolij Lunačarskij beabsichtigte das Schulsystem »flächendeckend mit wissenschaftlich geschulten Pädologen [zu] versorg[en]«.189 Am radikalsten äußerte sich Krupskaja, die sich gegen all jene Wissenschaftler wandte, welche die äußeren Faktoren in ihrer Forschung vernachlässigten oder bewusst ignorierten – ein Vorgehen, das sie als Angriff auf den Marxismus verstand. Wiewohl die Pädologie zeit ihres Bestehens einen ideologischen Auftrag besaß, nutzte Lunačarskij den gegebenen Anlass, um noch einmal explizit hervorzuheben, dass ihre Aufgabe in der »Herstellung des ›Neuen Menschen‹« zu bestehen habe.190 Das Klima, unter dem die Pädologie fortan agieren musste, war nach ihrem ersten Kongress rauer geworden und ließ kritische Stimmen zusehends verstummen. Infolge der Zusammenkunft galten die Pädologie und der Aufbau des Sozialismus als untrennbar miteinander verbundene Momente. Damit sich eine breite Diskussion entfalten konnte, veranlassten die Teilnehmer die Herausgabe einer Zeitschrift mit dem Titel Pedologija (Pädologie).191 Überdies beauftragte der Rat der Volkskommissare (Sovet narodnych komissarov  – Sovnarkom) der RSFSR auf einer Sitzung am 14. August 1928 Narkompros und Narkomzdrav, eine ständige zwischenbehördliche pädagogische Plankommission zu schaffen, die sowohl mit Vertretern der beiden Volkskommissariate als auch mit wissenschaftlichen Mitarbeitern besetzt sein und pädologische Studien durchführen sollte. Was offiziell zur Stärkung der Autorität der Pädologie innerhalb der Sowjetunion gedacht war, kam in Wirklichkeit einer Bankrotterklärung an die wissenschaftliche Freiheit gleich.192 Dass die Pädologie nun stärker als bisher staatlicher Kontrolle unterlag, lässt sich anhand zahlreicher Ausgaben der Pedologija ablesen. In einem der frühesten Hefte wird ihre enge Verknüpfung zum ersten Fünfjahrplan, 188 Zalkind, Aron: Pedologija v SSSR . Moskau 1929, 4 f., 55 f.; Balašov, Pedologija v Rossii v pervoj treti XX veka, 131. 189 Etkind, Eros des Unmöglichen, 329, 334. 190 Ebd., 329 f. 191 Ot redakcii. In: Pedologija 1/Serija B, kniga 1 (1928), 3. 192 Zalkind, Aron: Posle pervogo pedologičeskogo s’’ezda. In: Pedologija 1/Serija B, kniga 1 (1928), 6.

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den Stalin 1928 ausgerufen hat, deutlich. Da die Pädologie zum staatlichen Planungssystem gehörte, war es Aufgabe ihres Redakteurs, Aron Zalkind, die wissenschaftlich-pädologischen Vorhaben für die nächsten fünf Jahre zu skizzieren und den Lesern vorzustellen.193 Interessant ist ein Aufsatz von ihm, in dem er die psychoneurologischen Wissenschaften und den Aufbau des Sozialismus in Zusammenhang setzte. Zalkind, der ein überzeugter Freudianer gewesen war, vollzog hierin einen Bruch mit seinem einstigen Idol und behauptete, dass der Freudismus den Anforderungen des sozialistischen Aufbaus nicht gerecht würde. Er kritisierte, dass der Mensch bei Freud stets in seiner Vergangenheit existiere, einer Vergangenheit, die mit der Gegenwart auf Kriegsfuß stehe und sich als stärker erweise. Da das Bewusste dem Unbewussten untergeordnet sei, sei der Mensch von den ihn umgebenden sozialen Forderungen abgeschirmt. Er lebe in einer verschlossenen Welt und habe sich innerlich zurückgezogen. Zalkind zufolge erforderte der Aufbau des Sozialismus aber Menschen von gegenteiligem Schlag; Menschen, die sozial offen seien, sich in ein Kollektiv einfügten und an ihrem Verhalten arbeiteten; Menschen, die Standhaftigkeit besäßen; Menschen, die pflichtbewusst und selbstständig aufträten. Für gleichermaßen ungeeignet hielt er die Theorien und Methoden Alfred Adlers, die seiner Auffassung nach nur den menschlichen »Willen zur Macht« förderten und dadurch egozentrische, verlogene und listige Persönlichkeiten hervorbrächten.194 Seine Diskreditierung der Psychoanalyse ist ein illustratives Beispiel dafür, wie ein Wissenschaftler, der als Anhänger einer in Ungnade gefallenen Disziplin galt, unter dem Eindruck des Stalinismus verzweifelt versuchte, sich eine ideologisch weiße Weste zuzulegen, um seine Position zu retten. Neben der psychoanalytischen verlor auch die reflexologische Schule sukzessiv an Bedeutung. Zwar wurden Bechterevs Leistungen in einer Ausgabe der Pedologija des Jahres 1928 noch in höchsten Tönen gelobt. Danach finden sich, abgesehen von wenigen Ausnahmen, jedoch kaum noch entsprechende Abhandlungen.195 Dass der soziogenetische Ansatz den Konkurrenzkampf für sich entschieden hatte, bedeutete allerdings nicht, dass die Pädologie über bewährte Grundlagen verfügte, die es ihr erlaubt hätten, die Entwicklung und das Verhalten von Kindern und Jugendlichen von einem einheitlichen Zugang aus wissenschaftlich zu untersuchen. Wie ihr erzwungener Neustart 193 Ders.: Osnovy pjatiletnego plana po naučno-issledovatel’skoj pedologičeskoj raboty. In: Pedologija 2/3 (1929), 273–305. 194 Ders.: Psichonevrologičeskie nauki i socialističeskoe stroitel’stvo. In: Pedologija 3/3 (1930), 318–320; Etkind, Eros des Unmöglichen, 342. 195 Siehe Osipova, V.: Škola V. M.  Bechtereva i Pedologija. In: Pedologija 1/Serija B, kniga 1 (1928), 10–26 sowie Fadeeva, V.: Obrazovanie i differencirovanije piščevych zapazdyvajuščich uslovnych refleksov na složnye razdražiteli. In: Pedologija 2/1–2 (1929), 70–81.

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offenbarte, musste sie sich abermals auf die Suche nach geeigneten Theorien, Methoden und Praktiken begeben. Eine beachtliche Menge an Aufsätzen in der Pedologija ging daher der Frage nach, wie der Einfluss von Umweltfaktoren am besten analysiert und bewertet werden kann.196 Zahlreiche weitere Artikel setzten sich mit der Bedeutung der sozialen Herkunft von Kindern197, der Arbeit198 und des Kollektivs199 in der Erziehung, der Pubertät200 sowie mit nationalen Minderheiten201 auseinander. Artikel, die explizit die »schwierige Kindheit« in den Blick nahmen oder sich auf die besprizorniki konzentrierten, machten dagegen nur einen kleinen Teil der gesamten pädologischen Forschungen aus.202 Was all diese Abhandlungen einte, war ihr hohes Maß an Akribie und Detailversessenheit. Unter dem Eindruck des soziogenetischen Ansatzes geriet jeder noch so kleine Aspekt im Leben und Alltag eines sowjetischen Kindes und Jugendlichen zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, fand Eingang in pädologische Statistiken und Auswertungen.203 196 Siehe Gel’mont, A.: K metodike pedologičeskogo obsledovanija sredy. In: Pedologija 2/1–2 (1929), 29–41; Zalužnyj, A.: K voprosu o vlijanii sredy na škol’nuju uspešnost’ i obščee razvitie rebënka. In: Pedologija 2/1–2 (1929), 42–49; Ginsburg, S. / Margolina, Ė.: Škola i sreda. In: Pedologija 2/1–2 (1929), 50–60 sowie Fedorov, A.: Opyt izučenija sredy kak faktora razvitija i vospitanija rebënka. In: Pedologija 2/1–2 (1929), 61–69. 197 Siehe Rybnikov, Nikolaj: Krest’janskij rebënok. In: Pedologija 2/1–2 (1929), 117–132 sowie Vilenkina, R.: Sravnitel’nyj analiz social’no-bytovych uslovij moskovskich detej raznych social’nych grupp. In: Pedologija 2/1–2 (1929), 157–166. 198 Siehe Archangel’skij, P.: Gorodskoj škol’nik i trud. In: Pedologija 2/1–2 (1929), 178–193; Vygotskij, Lev: O svjazi meždu trudovoj dejatel’nost’ju i intellektual’nym razvitiem rebënka. In: Pedologija 3/5–6 (1930), 588–596 sowie Nečaeva, E.: Vlijanie sredy na trudovuju napravlennost’ podrostkov. In: Pedologija 3/7 (1930), 43–53. 199 Siehe Artemov, V.: Social’naja psichologija i izučenie detskogo kollektiva. In: Pedologija 2/4 (1929), 463–477 sowie Krasuskij, V.: Svobodnye kollektivy detej krest’jan. In: Pedologija 2/4 (1929), 508–524. 200 Siehe Arjamov, Ivan: Osobennosti povedenija sovremennogo podrostka. In: Pedologija 1/Serija B, kniga 1 (1928), 159–170; Zagorovskij, P.: O tak nazyvaemoj negativnoj faze v podrostničestve. In: Pedologija 1/Serija B, kniga 1 (1928), 171–180; Zalkind, Aron: Osnovnye osobennosti perechodnogo vozrasta. In: Pedologija 3/1 (1930), 3–25 sowie Karpova, V.: Dinamika fizičeskogo razvitija rabočego podrostka. In: Pedologija 3/1 (1930), 31–42. 201 Siehe Vygotskii, Lev: K voprosu o plane naučno-issledovatel’skoj raboty po pedologii nacional’nych men’šinstv. In: Pedologija 2/3 (1929), 367–377. 202 Siehe Krasuskij, V. / Makarovskij, D.: Social’nye predstavlenija besprizornych detej. In: Pedologija 2/4 (1929), 612–621 sowie Vygotskij, Lev: Osnovnye položenija plana pedologičeskoj issledovatel’skoj raboty v oblasti trudnogo detstva. In: Pedologija 2/3 (1929), 333–342. 203 Selbst vor der Einmischung in die privatesten Lebensbereiche machte die Pädologie nicht halt. So hatte Aron Zalkind 1924 »Zwölf Gebote des Sexuallebens« aufgestellt, damit »die Energie des Proletariats nicht durch sexuelle Beziehungen abgeschöpft wird, die seiner historischen Mission keinen Nutzen bringen«. Der Klasse räumte er gar das Recht ein, »sich in das Geschlechtsleben ihrer Mitglieder einzumischen.« Etkind, Eros des Unmöglichen, 338 f., Scheide, Carmen: Kinder, Küche, Kommunismus. Das Wechselverhältnis

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Deutlich wird dies an einem Aufsatz von Aleksandr Durnovo, in dem er eine neue Methode vorgestellt hat, mit der sich die alltäglichen sozialen Bedingungen von Kindern und ihr Einfluss auf sie bestimmen ließen. Für seine statistischen Analysen hatte Durnovo ein Index-System erarbeitet, anhand dessen er die Umgebung eines Kindes zunächst untersuchen und später beurteilen konnte. Sein Interesse galt der Frage, warum sich ein Kind unter den gegebenen Umständen sowohl physisch als auch psychisch auf eine ganz bestimmte Art und Weise – und nicht auf eine andere – entwickelte. Er hoffte, dass seine Erkenntnisse dazu beitragen würden, Kindern auf ihre Bedürfnisse abgestimmte, pädagogische Maßnahmen angedeihen zu lassen, da die Resultate seiner Untersuchungen an Kinderkrippen, -gärten, -heime und Schulen weitergereicht werden sollten. Für die Datenerhebung hatte Durnovo zehn Bewertungsparameter aufgestellt: die Niveaus der Betriebs- und Arbeitsumgebung, der materiellen Versorgung, der Wohnbedingungen, der Versorgung mit Nahrungsmitteln, der sanitär-hygienischen Bedingungen, des Tagesablaufs (režim), der Beziehungen der Erwachsenen untereinander, der Beziehungen der Erwachsenen zu den Kindern sowie der Kinder untereinander, das kulturelle Niveau und das Niveau des Familienlebens. Jeden einzelnen Parameter taxierte er nach einem Drei-Punkte-System im Hinblick auf den Grad seiner Organisiertheit und Aktiviertheit sowie der Hebung des intellektuellen und des physischen Niveaus.204 Die bloße Beschreibung seiner Vorgehensweise macht bereits deutlich, wie allumfassend, schwierig und zeitlich intensiv sich seine Methode gestaltete, musste Durnovo doch die gesamten Lebensverhältnisse des Kindes an verschiedenen Orten studieren, angefangen beim Wohnumfeld der Familie über den Kindergarten bis hin zu den Arbeitsstätten der Eltern, und mit einer Vielzwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen. Zürich 2002, 153 f. Mit der jugendlichen Sexualität hat sich Aleksandra Kollontaj auseinandergesetzt. Im Mittelpunkt stand die Frage, ab wann Jugendliche mit dem sexuellen Leben beginnen sollten. Die sowjetischen Sexualaufklärer sprachen sich für ein Alter zwischen 20 und 25 Jahren aus. Dass die Jugendsexualität überhaupt einer Regulierung unterlag, stand  – der allgemeinen sowjetischen Ablehnung von rassisch-nationalistischer Eugenik zum Trotz – im Zusammenhang mit der »Sorge um gesunde Nachkommenschaft«, wie Corinna Kuhr-Korolev gezeigt hat. Der miserable Gesundheitszustand der Bevölkerung und die Angst vor einer zunehmenden Verbreitung von Geschlechtskrankheiten, die in erster Linie auf promiskuitives Verhalten zurückgeführt wurde, »ließ nicht nur die Reduzierung von Arbeitskraft befürchten, sondern stellte ebenso die Sicherung des Nachwuchses in Frage«. Jungen sollten deshalb sexuell enthaltsam leben und Mädchen sich ihrer zukünftigen Rolle als Mutter bewusstwerden. Kuhr-Korolev, Gezähmte Helden, 121, 149, 163, 165. 204 Durnovo, Aleksandr: Celevoj podchod k social’no-bytovomu obsledovaniju. Metod izučenija vlijanija social’no-bytovych uslovij na formirovanije detej. In: Pedologija 2/1–2 (1929), 14, 16 f., 19, 27 f.

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zahl an Personen in Kontakt treten, um an die notwendigen Informationen zu gelangen. Zugleich offenbart sie, dass Leben und Alltag von Kindern und Jugendlichen nicht nur in den öffentlichen, sondern auch in den privaten Sphären205 staatlich durchdrungen werden sollten. Dass die Datenerhebungen zu umfangreich waren und die Auswertungen teilweise Jahre in Anspruch nahmen, war ein Problem, mit dem viele Pädologen zu kämpfen hatten. Hinzu kommt, dass in zahlreichen Abhandlungen, so auch in der von Durnovo, unklar blieb, welche Konvergenzkriterien den Beobachtungen und Analysen zugrunde lagen, auf denen die Einschätzungen basierten. Bei einigen Studien stellt sich – aus heutiger Sicht – die Frage nach dem Wert des Erkenntnisgewinns und seiner Praktikabilität sowie nach der Manipulierung von Datenerhebung und -auswertung. Letzteres scheint in einem Aufsatz von Krasuskij und Makarovskij, der den sozialen Vorstellungen obdachloser Kinder gewidmet war, vorgekommen zu sein. Im Rahmen einer Studie haben die Autoren 430 Jungen und 70 Mädchen aus Odessa befragt, was sie unter den Namen und Begriffen Lenin, Arbeiter, Bourgeois, Milizionär, Gericht und Gefängnis verstehen. Ob die Zielgruppe frei antworten konnte oder ob ihr Antworten zur Auswahl vorgegeben waren, geht aus der Abhandlung nicht hervor. Krasuskij und Makarovskij zufolge habe die überwältigende Mehrheit gewusst, dass »Lenin der Führer der Weltrevolution, […] Oberhaupt der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), […] der Lehrer der Arbeiter und Bauern« war. Zudem habe es keine einzige positive Bemerkung zum Wort Bourgeois gegeben. Krasuskij und Makarovskij werteten dies als Zeichen dafür, dass die soziale Herkunft der Kinder und Jugendlichen – 40,6 Prozent gehörten zur Arbeiterklasse, 13,8 Prozent zur Klasse der Bauern und 11,4 Prozent zur Klasse der Angestellten – eine Rolle bei der Beantwortung der Fragen spielte, nicht dagegen ihre Lebensumstände, die auf den Erfahrungen der Straße beruhten. Da die Minderjährigen einen festen systemaffirmativen Standpunkt zu besitzen schienen, plädierten Krasuskij und Makarovskij dafür, ihr Potenzial nicht verkommen zu lassen, sie in die richtigen Bahnen zu lenken und zu den Arbeitern und Studenten von morgen zu machen, die am Aufbau 205 Die Frage, bis zu welchem Grad Privatleben und Privatsphäre in der Sowjetunion möglich waren, ist vermehrt Gegenstand historischer Diskussionen und Schriften gewesen. Lewis H. Siegelbaum liefert hierzu einen kurzen Überblick: Siegelbaum, Lewis H.: Introduction: Mapping Private Spheres in the Soviet Context. In: Siegelbaum, Lewis H. (Hg.): Borders of Socialism. Private Spheres of Soviet Russia. New York, NY, Basingstoke 2006, 1–21. Siehe außerdem Shlapentokh, Vladimir: Public and Private Life of the Soviet People. Changing Values in Post-Stalin Russia. New York, NY 1989, 154; Boym, Svetlana: Common Places. Mythologies of Everyday Life in Russia. Cambridge, MA 1994, 3, 73 sowie Kharkhordin, Oleg: The Collective and the Individual in Russia. A Study of Practices. Berkeley, CA 1999, 270.

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des Sozialismus mitwirken sollten.206 Nicht nur, dass Krasuskijs und Makarovskijs Schlussfolgerungen aus heutiger Sicht reichlich absurd anmuten: Sie stehen auch in scharfem Kontrast zu der damals geltenden Prämisse, wonach die Umwelt der primär-prägende Faktor eines Menschen ist und nicht seine Gene oder soziale Herkunft. Eine andere Untersuchung, die Alexander Etkind erwähnt und die ebenfalls in Odessa durchgeführt worden ist, offenbarte interessanterweise Gegenteiliges: 1924 [wußten] ganze 9 % der sieben- bis zwölfjährigen Schüler in Odessa […], wer Lenin war. Nur einzelne konnten erklären, was Kommunisten für Leute waren und welche Ziele sie hatten. Insgesamt haben lediglich 8 % der Kinder befriedigende Antworten auf elementare Fragen aus dem sozialpolitischen Bereich gegeben. Nach zweieinhalb Jahren Unterricht mit den neuen Lehrplänen kamen zu 52 % »verworrenen«, »absurden« bzw. »Ich-weiß-nicht«-Antworten noch 34 % sogenannte Schablonenantworten hinzu – äußerlich richtig, doch formelhaft eingepaukt und ohne daß das Kind den Sinn erfaßt hatte.207

Selbst wenn einzelne Methoden zur Untersuchung des sozialen Milieus wie jene von Aleksandr Durnovo tatsächlich Vorteile gegenüber anderen gehabt und exaktere Schlussfolgerungen zugelassen haben mögen, war immer noch ein immenser Aufwand vonnöten, um die soziale Umgebung eines einzigen Kindes (!) zu analysieren. Obendrein handelte es sich bei Studien wie der seinen in erster Linie um Bestandsaufnahmen, die auf Beobachtungen, Experi­ menten und Einschätzungen basierten. Konkrete Lösungen und praktische Handlungsanweisungen boten sie jedoch nicht. Hierin dürfte der wahre Grund dafür zu suchen sein, dass die Pädologie zusehends in Bedrängnis geriet. Binnen der ersten 20 Jahre sowjetischer Herrschaft war es ihr nicht gelungen, Patentrezepte zur Lösung der sozialen Probleme und zur Schaffung des »Neuen Kindes« zu entwickeln. Die ersten dunklen Wolken am Wissenschaftshorizont waren bereits 1925 aufgezogen und hatten der Psychoanalyse mit der Liquidierung des Kinderheim-Laboratoriums einen schweren Schlag versetzt. Der pädologische Kongress, der um die Jahreswende 1927/1928 stattfand, hatte ihrer Vielfalt ein Ende bereitet. Kurz darauf, im Frühjahr 1931, sah sich ein Leningrader Psychologe und Pädologe namens Michail Basov (1892–1931) mit massiven Anfeindungen gegenüber seinen Forschungen konfrontiert, die den Kritikern zufolge »nicht den Anforderungen der marxistischen Methodologie entsprachen«, da sie ein »eklektizistisches Gewirr« aus »Biologismus, mechanistischen Elementen und

206 Krasuskij / Makarovskij, Social’nye predstavlenija besprizornych detej, 612–621. 207 Etkind, Eros des Unmöglichen, 344.

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marxistischer Theorie« darstellten.208 1932 verlor schließlich Aron Zalkind seine Positionen als Direktor des Instituts für Psychologie, Pädologie und Psycho­technik sowie als Hauptredakteur der Pedologija. Wenig später wurde die Zeitschrift eingestellt.209 Nichtsdestotrotz konnten in den folgenden vier Jahren noch pädologische Lehrbücher erscheinen, Pädologen an Schulen ihren Dienst aufnehmen und neue Kader ausgebildet werden.210 Erst der Beschluss des CK der VKP(b) vom 4. Juli 1936 Über die pädologischen Perversionen im System des Narkompros versetzte der Wissenschaft vom Kind den Todesstoß. An der Entscheidung, die Pädologie zu liquidieren, hatte Aleksandr Bubnov (1884–1938), der neue Volkskommissar für Bildung, der auf eine langjährige Karriere in der Armee zurückblickte und 1931 Lunačarskij abgelöst hatte, wesentlichen Anteil.211 Was ihn zu diesem Schritt veranlasst haben mag, ist unklar. Gerüchten zufolge hatte ein Pädologe dem Sohn eines hohen Politikers »eine wenig schmeichelhafte Diagnose« gestellt. Eine Version besagt, dass es sich dabei um den Sohn Andrej Ždanovs gehandelt habe.212 Eine andere spricht dagegen von Vasilij Stalin, der als »schwieriger« Jugendlicher galt und Probleme hatte, die geforderten Leistungen zu erfüllen.213 Offiziell beschuldigte das Dekret vom 4. Juli die Pädologie »der Anerkennung höherer und niederer Rassen und Klassen«. Zudem warf es ihr vor, anhand von Tests eine »Hyperdiagnostik von Schwachsinn« [slaboumie] zu betreiben, was zur Folge hätte, dass eine enorme Zahl von Kindern als »geistig zurückgeblieben, defektiv und ›schwierig‹« klassifiziert und infolgedessen in Sonderschulen überwiesen worden sei, obgleich sich unter ihnen auch Hochbegabte befunden hätten. Da die Pädologie zahlreichen sowjetischen Kindern den Stempel der geistigen Zurückgebliebenheit aufgedrückt habe, trage sie die Schuld daran, dass der Kampf gegen das Analphabetentum, dessen Beseitigung 1934 auf einem Parteikongress beschlossen worden war, nur unzureichend geführt wurde. Tatsächlich hatten einige pädologische Studien belegt, dass Kinder von Arbeitern geringere intellektuelle Fähigkeiten besaßen als Kinder der Intelligenzija, europäische Kinder wiederum höhere als usbekische respektive zentralasiatische214 – ein Ergebnis, das die Parteiführer 208 Kurek, Istorija likvidacii pedologii i psichotechniki, 77. 209 Ebd., 97. 210 Etkind, Eros des Unmöglichen, 347. 211 Kurek, Istorija likvidacii pedologii i psichotechniki, 111 f.; Shearer, David R.: Policing Stalin’s Socialism. Repression and Social Order in the Soviet Union, 1924–1953. New Haven, CT 2009, 223. 212 Etkind, Eros des Unmöglichen, 348. 213 Kurek, Istorija likvidacii pedologii i psichotechniki, 113. 214 Pädologen, deren Studien (vermeintlich) nationalistische oder rassische Züge trugen, wurden mitunter auch von Kollegen kritisiert. Leventuev, P.: Političeski izvraščenija v pedologii. O nekotorych pedologičeskich issledovanijach. In: Pedologija 4/3 (1931), 63–66.

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auf Schärfste verurteilten, da es nicht kompatibel mit ihren ideologischen Vorstellungen war.215 Obgleich die Kritikpunkte eindeutig politisch-motivierte Züge trugen, waren sie nicht gänzlich unberechtigt. Einige Pädologen besaßen tatsächlich eine Neigung zur Pathopsychologie und zur Diagnose von Normabweichungen.216 So haben beispielsweise die Defektologen der Medizinisch-Pädagogischen Station in Moskau in den Jahren 1925 und 1926 insgesamt 226 Kinder untersucht, 71 Prozent von ihnen als »moralisch defektiv« bewertet und sie in entsprechende sonderpädagogische Institutionen überwiesen. Unter ihnen befanden sich nicht nur Kinder mit geistigen Entwicklungsverzögerungen, mit Sprachstörungen und Epilepsie, sondern auch »›neuropathische und psychopathische‹«, »›sozial vernachlässigte‹« sowie ganz einfach »›physisch erschöpfte‹« Kinder.217 Die Unterhaltung einer Vielzahl unterschiedlicher sonderpädagogischer Einrichtungen verschlang hohe finanzielle, personelle und materielle Ressourcen, die der Staat auf Dauer bereitzustellen außerstande war. Auch Aleksandr Durnovos Studie lässt einen Hang zur übertriebenen Problematisierung erkennen. So hat er die aufgestellten Parameter bezüglich der sozialen Umgebung seines »Untersuchungsobjektes«, eines vierjährigen Jungen, mehrheitlich nur mit einem von drei maximal zu erreichenden Punkten bewertet. Die Wohn- und Lebensbedingungen dieses Kindes mögen aus heutiger Perspektive nicht gerade anregend für seine geistige und körperliche Entwicklung gewesen sein. Gemessen an den allgemeinen Zuständen der damaligen Zeit können sie aber immer noch als überdurchschnittlich gut gelten.218 Der Beschluss vom 4. Juli 1936 beseitigte die Pädologie als Wissenschaft. Ihre Schriften mussten aus sämtlichen Bibliotheken entfernt werden.219 Er vernichtete auch alle anderen noch bestehenden und mit der Pädologie verbundenen Fachrichtungen, die Reaktologie ebenso wie die Reflexologie; selbst vor der Pavlovschen Schule machte er nicht halt.220 Bechterev war 1927, Vygotskij 1934 verstorben, Zalkind und Pavlov starben 1936. Gastev kam im Zuge des Großen Terrors in Lagerhaft und wurde vermutlich 1938 erschossen.221 Keržencev verstarb 1940 infolge eines Herzinfarktes, Blonskij 1941 an Tuberkulose.222 Überleben konnten diese Zeit nur nahezu unbekannte psycho215 Kurek, Istorija likvidacii pedologii i psichotechniki, 5, 27, 28, 36, 48; McLeish, Soviet Psychology, 148. 216 Kurek, Istorija likvidacii pedologii i psichotechniki, 48. 217 Galmarini-Kabala, The Right to Be Helped, 87. 218 Durnovo, Celevoj podchod k social’no-bytovomu obsledovaniju, 20 f. 219 Etkind, Eros des Unmöglichen, 349. 220 McLeish, Soviet Psychology, 159. 221 Kozulin, Psychology in Utopia, 21 f. 222 Fitzpatrick, Sheila: The Commissariat of Enlightenment. Soviet Organization of Education and the Arts under Lunacharsky, October 1917–1921. Cambridge 1970, 304.

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logische Schulen, die weit weg von Moskau oder Leningrad praktizierten. Alle anderen mussten ihre Tätigkeiten einstellen und sollten nicht vor 1956, manchmal erst Ende der 1980er Jahre rehabilitiert werden.223 Wie der Pädologie erging es seit Stalins Machtergreifung und dem Großen Umbruch vielen wissenschaftlichen Disziplinen und ihren Vertretern.224 Eben erst institutionalisiert, hatten sie in der liberaleren NĖP-Phase zwar umfangreiche Forschungsaktivitäten betrieben und in regem Austausch mit internationalen Fachkollegen gestanden. Doch bereiteten Stalin und seine Gefolgsleute der wissenschaftlichen Vielfalt und der globalen Vernetzung der Gelehrten allmählich ein Ende. Ihrer Auffassung nach sollten die Wissenschaften »endgültig zu einer der Gesellschaft dienenden Kraft werden.«225 Repressionen sahen sich vor allem jene Wissenschaftler ausgesetzt, die ihre Ausbildung noch in vorrevolutionärer Zeit absolviert hatten und aus Sicht der Parteiführer einer »praxisfernen ›reinen‹ Wissenschaft«226 anhingen. Die alte akademische Elite sollte einer neuen, die dem Staat gegenüber absolut loyal eingestellt war, weichen.227 Für die Forschungslandschaft insgesamt hatte dieses Vorgehen fatale Folgen. Fortbestehen konnten nur diejenigen wissenschaftlichen Schulen und Fachgebiete, die der politisch-ideologischen Leitlinie entsprachen. Bis Mitte der 1930er Jahre hatten Stalin und seine Gefolgsleute nahezu alle unlieb­samen Disziplinen verboten und zur Auflösung gezwungen. Nur selten gelang es Wissenschaftlern, ihre Forschungsaktivitäten an peripheren Orten oder in der Illegalität weiterzuführen. Mit Stalins Tod 1953 sollte sich offenbaren, dass die Isolation und die alleinige Förderung von Disziplinen, die kompatibel mit der offiziellen Leitlinie waren,228 die sowjetischen Wissenschaften, bis auf wenige Ausnahmen, um Jahrzehnte zurückgeworfen hatten. Während einige nach

223 Kozulin, Psychology in Utopia, 22, 26. 224 Siehe hierzu beispielsweise die Disziplin der Bodenkunde: Arend, Jan: Russlands Bodenkunde in der Welt. Eine ost-westliche Transfergeschichte 1880–1945. Göttingen 2017, insb. 245–258. 225 Ebd., 246. 226 Ebd. 227 Ebd., 246 f. 228 Kompatibel waren vor allem die Ingenieurwissenschaften. Einen Überblick über die Ausbildung neuer Eliten in den 1930er Jahren bietet immer noch Fitzpatrick, Sheila: Stalin and the Making of a New Elite, 1928–1939. In: Slavic Review 38/3 (1979), 377– 402. Siehe außerdem Schattenberg, Susanne: Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren. München 2002 sowie David-Fox, Michael: The Strange Fate of the Russian Universities: An Inquiry Across the 1917 Divide. In: Connelly, John / Grüttner, Michael (Hg.): Universities Under Dictatorship. University Park, PA 2005, 15–44.

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Das »Neue Kind« in Wissenschaft und Politik

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dem Tod des Diktators wieder aufgegriffen werden konnten, warteten andere, beispielsweise die Psychoanalyse, bis zur Perestroika auf ihre Renaissance.229

3.

Politik zwischen Idealismus und Realität

3.1

Kämpfe um Zuständigkeiten

Als die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution begannen, den neuen Staat zu formieren und die einzelnen Volkskommissariate aufzubauen, erklärten sie drei von ihnen, Narkompros, Narkomzdrav und Narkomsobes, für die Belange verschiedener Gruppen von Minderjährigen zuständig. Seit Beginn des Jahres 1918 traten unter ihnen allerdings erste Rivalitäten auf, da jedes einzelne Volkskommissariat den Anspruch erhob, Einrichtungen für besprizorniki und beznadzorniki zu betreiben. Anfangs zeichnete das Narkomsobes für obdachlose Kinder und Jugendliche verantwortlich, doch konnte das Narkompros erfolgreich um die Gunst des Sovnarkom buhlen, sodass ihm im Juni 1918 die Zuständigkeit für sämtliche Institutionen übertragen wurde, in denen besprizorniki und beznadzorniki untergebracht waren. Zwar gelang es einigen lokalen Vertretungen des Narkomsobes kurzzeitig, sich dieser Bestimmung zu entziehen, sodass in den Provinzen nach wie vor Einrichtungen existierten, die unter Leitung des Narkomsobes, vereinzelt auch des Narkomzdrav, standen. Mit einem Beschluss des Sovnarkom im Februar 1919 wurde deren Schicksal jedoch besiegelt und alle Heime für obdachlose Minderjährige an das Narkompros transferiert.230 In der Folge versuchten die politischen Eliten, die Aufgabenbereiche zwischen den drei Volkskommissariaten eindeutiger zu definieren und voneinander abzugrenzen. Während das Narkomzdrav für alle Kinder bis zu einem Alter von drei Jahren231, für Kinder mit körperlichen Behinderungen sowie für Kinderkliniken und -sanatorien die Verantwortung trug, betrieb das Nar229 Plaggenborg, Experiment Moderne, 67; Kozulin, Psychology in Utopia, 22–30. Ein ausführlicheres Bild über die Auswirkungen des Großen Umbruchs auf die Wissenschaften bietet immer noch Joravsky, David: Soviet Scientists and the Great Break. In: Daedalus 89/3 (1960), 562–580. 230 Kelly, Children’s World, 196 f.; Ball, And Now My Soul is Hardened, 88 f. 231 Dass Säuglinge und Kleinkinder in das Tätigkeitsfeld des Narkomzdrav und nicht etwa des Narkompros fielen, erklärt sich aus ihrer hohen Sterblichkeitsrate in den Jahren zwischen 1918 und 1921, weshalb gesundheitserhaltende und nicht erzieherische Maßnahmen oberste Priorität besaßen. Schätzungen zufolge starb die Hälfte der Neugeborenen des Jahres 1918 noch vor ihrem ersten Geburtstag. Unter der Hungersnot von 1921 verloren vermutlich 90 bis 95 Prozent der unter Dreijährigen ihr Leben. Kirschenbaum, Small Comrades, 34.

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Politik zwischen Idealismus und Realität 

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kompros Waisenhäuser für verschiedene Zielgruppen im Alter von drei bis 14 Jahren, für »normale«, für in ihrer geistigen Entwicklung beeinträchtigte, für schwer erziehbare sowie für straffällig gewordene Kinder und Jugendliche. Das Narkomsobes übernahm eine Reihe an Sozialeinrichtungen, um die sich vormals private Hilfsorganisationen gekümmert hatten.232 Dass die Verantwortung für besprizorniki und beznadzorniki dem Narkompros oblag, ist Ausdruck dafür, dass ihre Situation nicht mehr nur mit Mitteln der Sozialfürsorge verbessert werden sollte, beispielsweise in Form von materiellen Gütern wie einer Unterkunft, Kleidung und Nahrung. Damit sie mittel- und langfristig zu Stützen des neuen Staates erwachsen konnten, bedurfte es auch seriöser erzieherischer Maßnahmen, die zum Aufgabenbereich des Narkompros gehörten und von ihm am besten bewerkstelligt werden konnten. Der landläufige Glaube, dass besprizorniki und beznadzorniki Leidtragende ihrer Umstände waren, Erziehung statt Bestrafung benötigten, manifestierte sich auch in einem Dekret des Sovnarkom vom 14. Januar 1918233, das Minderjährige bis 17 Jahren als strafunmündig erklärte und Gefängnisstrafen für Kinder und Jugendliche abschaffte. Im Gegenzug rief der Sovnarkom lokale Komones ins Leben. Sie setzten sich aus Pädagogen, Richtern und Ärzten zusammen, die sich den Fällen der Kinder und Jugendlichen annehmen, sie anschließend in die entsprechenden Einrichtungen überweisen und eine Kriminalstatistik erstellen sollten. Auch die Komones hatten zunächst unter der Kontrolle des Narkomsobes gestanden, wurden 1920 jedoch der Abteilung für Sozial-rechtlichen Schutz Minderjähriger (Social’no-pravovaja ochrana nesoveršennoletnich  – SPON ) unterstellt, die dem Narkompros angehörte. Auffallend ist, dass 90 Prozent der Straftäter, die vor eine Komones gebracht wurden, Jungen waren.234 232 Kelly, Children’s World, 196 f.; Ball, And Now My Soul is Hardened, 88 f. 233 Für eine Übersicht über die konkreten Inhalte einzelner Dekrete, Resolutionen und Beschlüsse im Hinblick auf den Kampf gegen die Kinder- und Jugendkriminalität sowie über die Aufgaben von Arbeitshäusern und -kommunen zwischen 1917 und 1931 siehe Utevskij, Boris (Hg.): Nesoveršennoletnie pravonarušiteli. Moskau 1932, 21–63. 234 Ders.: Bor’ba s prestupnost’ju nesoveršennoletnich. In: Utevskij, Boris (Hg.): Nesoveršennoletnie pravonarušiteli. Moskau 1932, 7–20; Caroli, L’enfance abandonneé et délinquante dans la Russie soviétique (1917–1937), 91; Goldman, Women, the State and Revolution, 78, 81. Über die Bedeutung und Funktion von Mädchen und jungen Frauen unter den besprizorniki ist wenig bekannt. Gewöhnlich lebten sie mit den Jungen zusammen in Waisenhäusern oder auf der Straße. Geschwister gehörten meist ein und derselben Bande an. In einigen Quellen werden Mädchen zwar als gleichberechtigt, ebenso verbrecherisch und gewalttätig beschrieben wie Jungen. An anderen Stellen wiederum erscheinen sie als »Sexobjekte, die […] beliebig ›herumgereicht‹ wurden.« Oftmals finden sich auch Hinweise auf ihre mütterlichen Instinkte, da sich viele ältere Mädchen den jüngeren Bandenmitgliedern annahmen, sich um sie kümmerten und ihnen Trost spendeten. Galley, »Wir schlagen wie eine Faust«: Die Bande als Lebensform sowjetischer Straßenkinder unter Stalin, 31.

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Juristen wie Boris Utevskij (1887–1970) propagierten die Schaffung der ­Komones als fortschrittliches Novum, das seinesgleichen auf der Welt suche. So habe sich der Umgang mit minderjährigen Delinquenten im Russländischen Reich lediglich durch Bestrafung und Gefängnishaft ausgezeichnet – Methoden und Maßnahmen, die Utevskij zufolge in kapitalistischen Ländern immer noch praktiziert würden.235 Dass im Zarenreich Einrichtungen für Kinder und Jugendliche existierten, in denen Gewalt und harsche militärische Disziplin auf der Tagesordnung standen, ist unbestreitbar. Dennoch waren hier seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts erste reformpädagogische Neuerungen aufgekommen, die den Fokus auf Erziehung richteten und Psychologen sowie Psychiater an der Arbeit mit straffällig gewordenen Minderjährigen beteiligten.236 Außerdem ist 1910 in Sankt Petersburg erstmalig ein Gericht für die Belange von Minderjährigen entstanden.237 Damit die staatlichen Hilfsmaßnahmen die besprizorniki erreichen konnten, entwickelte das Narkompros 1920 einen dreistufigen Lösungsansatz. Zunächst sollten die Kinder und Jugendlichen von den Straßen geholt und ihre dringendsten Bedürfnisse gestillt werden. In einem zweiten Schritt sollten sie genauer befragt und untersucht werden, um eine adäquate Institution für sie zu finden, in der sie, im dritten Schritt, die bestmöglichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umerziehung und Reintegration erhalten würden.238 Sogenannte detskie priëmniki oder detskie priëmniki-raspredeliteli (DPR)239 – die wortwörtliche Bedeutung Empfänger für Kinder beziehungsweise Empfän235 Utevskij, Bor’ba s prestupnost’ju nesoveršennoletnich, 7–14. 236 Kelly, Children’s World, 184 f. Ausführlicher zum Umgang mit minderjährigen Delinquenten im Russländischen Reich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts siehe ebd., 182–192. 237 Mel’nikova, Ė.: Pravosudie po delam nesoveršennoletnich: istorija i sovremennost’. Moskau 1990, 30. Ähnliches gilt für eine Vielzahl europäischer Länder und die USA . Seit dem späten 19. Jahrhundert begannen sich hier Reformansätze, die verstärkt auf Umerziehung und Reintegration in Besserungsanstalten denn auf das bloße Wegsperren in Gefängnissen abzielten, durchzusetzen. In den USA und Großbritannien wurden diese Neuerungen zwar erst in den 1950er Jahren umfassend etabliert. Garland, David: The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society. Chicago, IL 2001, 33–35. Dennoch hat es auch hier seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts Kriminologen und Soziologen gegeben, so zum Beispiel an der Universität von Chicago, die die Jugendkriminalität auf soziale Ursachen zurückführten und davon ausgingen, dass die Umwelt einen Menschen prägt, Kriminelle gemacht, nicht geboren werden und daher rehabilitiert werden können. Salerno, Roger A.: Boyhood and Delinquency in 1920s Chicago. A Sociological Study of Juvenile Jack-Rollers and Gender. Jefferson, NC 2017, 1–4. 238 Ball, And Now My Soul is Hardened, 92. 239 Zum 1. Januar 1924 bestanden in der RSFSR , mit Ausnahme der autonomen Republiken, 127 priëmniki, die im gesamten Jahr 1923 zur ersten Anlaufanstelle von etwa 45.500 Kindern und Jugendlichen wurden. Slavko, Detskaja besprizornost’ v Rossii v pervoe desjatiletie sovetskoj vlasti, 86.

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ger-Verteiler für Kinder bringt, wie Cathy A. Frierson und Semyon S. Vilensky meinen, vielmehr ein technisches oder bürokratisches denn ein kindgerechtes Verständnis zum Ausdruck240 – dienten dabei als Erstaufnahmeeinrichtungen, die von Mitarbeitern des SPON betreut werden, sich in der Nähe von Märkten und Bahnhöfen befinden und rund um die Uhr geöffnet sein sollten, um besprizorniki zu jeder Zeit Obdach und Schutz gewähren zu können. Die Kinder und Jugendlichen konnten entweder selbst um Zutritt bitten oder wurden von Sozialarbeitern, Polizisten und Bürgern hierher überführt, meist, nachdem diese sie im Zuge von Straftaten (Prostitution241, Diebstahl, Betteln) aufgegriffen hatten. Anders als in Gefängnissen sollten sie in den priëmniki einer weniger schädlichen Atmosphäre ausgesetzt sein, außerdem über ihre Lebensumstände befragt, hygienischen Maßnahmen und einer medizinischen Kontrolluntersuchung unterzogen werden. Nach einigen Tagen oblag es dem Personal, darüber zu entscheiden, welcher Weg der geeignetste für die Zöglinge zu sein schien. So konnten sie zu ihren Eltern oder zu Verwandten zurückgeschickt, im Falle einer Straftat an die Komones überwiesen, in ein Waisenheim, ein Krankenhaus oder eine andere vorübergehende Institution, sofern sie noch längerer Beobachtung bedurften, vermittelt werden.242 Obgleich sich die Anzahl der Heime stetig erhöhte – 1917 bestanden etwa 30.000, 1921 bereits 540.000 Einrichtungen für Kinder und Jugendliche243 –, machten sie die allseits desolate Lage kaum erträglicher. Die vom Narkompros unterhaltenen Institutionen trugen lediglich zur Linderung der äußersten Not, des Elends und des Hungers bei. Von einer umfassenden Beseitigung der sozialen Missstände konnte jedoch keine Rede sein.244 Angesicht der 240 Frierson / Vilenskij, Children of the Gulag, 62. 241 Die Kinderprostitution erreichte während der Hungersnot von 1921/22 ihren Höhepunkt, als viele Minderjährige ihren Körper für ein winziges Stück Brot verkauften. Mädchen gingen diesem Gewerbe weitaus häufiger nach als Jungen, die ihren Lebensunterhalt vorwiegend durch Diebstähle sicherten. Die meisten Mädchen hatten mit Betteln oder Kleinhandel angefangen. In die Prostitution gerieten sie oftmals erst, nachdem diese Maßnahmen gescheitert oder sie Opfer von Vergewaltigungen und Missbrauch geworden waren. Einer Studie über 94 ehemalige Waisen in Odessa aus dem Jahr 1925 zufolge hatten 40 Prozent von ihnen ihr Sexualleben im Alter von 14 Jahren begonnen. Andere Quellen berichten von sexuell aktiven Kindern im Alter von zehn bis zwölf Jahren. Einige wenige Mädchen, die als Prostituierte gearbeitet hatten, gaben sogar an, dass sie mit sieben Jahren zum ersten Mal sexuell aktiv geworden wären. Ball, And Now My Soul is Hardened, 56 f., 78. 242 Ebd., 92 f. 243 Goldman, Women, the State and Revolution, 65. 244 Wie Galina Ivanova und Stefan Plaggenborg dargelegt haben, hat die Sowjetunion zwar zeit ihres Bestehens versucht, Sozialfürsorge zu betreiben. Der Großteil der Bevölkerung lebte aber noch lange unter katastrophalen materiellen Bedingungen und war nicht vor lebens- und existenzbedrohenden Risiken gefeit. Nikita Chruščëv, der 1956 die Entstalinisierung eingeleitet hat, war das erste Staatsoberhaupt, das sich daranmachte,

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schieren Masse an besprizorniki und beznadzorniki waren Milizionäre, Juristen, Ärzte, Sozialarbeiter und Pädagogen heillos überfordert, priëmniki und Kinderheime hoffnungslos überfüllt und von Gewalt geprägt. Die Ideen der antiautoritären, auf Freiheit und Selbstbestimmung basierenden (Um-) Erziehung und des humanen kindgerechten Umgangs, die den Köpfen der Pädologen und einiger bolschewistischer Revolutionäre, darunter Krupskaja und Lunačarskij, entsprungen waren, standen in scharfem Kontrast zur tatsächlichen Haltung, die weite Teile der Bevölkerung gegenüber besprizorniki einnahmen. Vor allem Polizeibeamte waren für ihr brutales Vorgehen gegen sie bekannt. Die offizielle pädagogische Leitlinie des Gewaltverzichts und die (vermeintlich) umfassende Kinderfürsorgepolitik waren oft nicht mehr als heiße Luft und Propaganda.245 Schließlich brachte sich Feliks Dzeržinskij (1877–1926), der Gründer der Geheimpolizei, ins Spiel und forderte, seine Behörde am Kampf gegen die besprizornost’ zu beteiligen. Daraufhin wurde im Januar 1921 die sogenannte Detkomissija (Kinderkommission) ins Leben gerufen, die der Allrussischen außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage (Vserossijskaja črezvyčajnaja komissija po bor’be s kontrrevoljuciej, spekuljaciej i sobatažem – VČK ) und der (Vereinigten) staatlichen politischen Verwaltung ((Ob’’edinënnoe) gosudarstvennoe političeskoe upravlenie – (O)GPU ) unterstand und ihre Kompetenzen in den kommenden Jahren sukzessiv erweitern sollte.246 In der Realität dürfte der Einfluss der Pädologie äußerst begrenzt gewesen sein. Selbst wenn einige Pädologen tatsächlich Empfehlungen, die sie infolge der Untersuchung und Beobachtung eines Zöglings ausgestellt hatten, an die entsprechenden Einrichtungen weitergeleitet haben mögen, war an eine Umsetzung kaum zu denken. Aufgrund der katastrophalen Zustände in den Institutionen zogen es viele besprizorniki vor, weiterhin auf der Straße zu leben. Die abenteuerlustigsten schafften es bis in den Nordkaukasus und auf die Krim, wo die Sommersaison aufgrund der vielen Touristen gute Verdienstaussichten bot. Manchmal gelangten sie sogar bis nach Transkaukasien und Zentralasien. Das milde Klima des Südens ließ einige hier überwintern. Die Mehrheit zog im Herbst jedoch in die größeren, nördlich gelegeneren Städte, wo sie sich auf der Suche nach Nahrungsmitteln und Schutz freiwillig in die Heime begab, bis sie im Frühjahr wieder gen Schwarzmeerküste aufbrach. Manche wiederholten dieses Muster Jahr für Jahr, andere baten immer nur eine konsequente sowjetische Sozialpolitik auf den Weg zu bringen. Ivanova, Galina /  Plaggenborg, Stefan: Entstalinisierung als Wohlfahrt. Sozialpolitik in der Sowjetunion 1953–1970. Frankfurt am Main, New York 2015, 7. 245 Galley, »Wir schlagen wie eine Faust«: Die Bande als Lebensform sowjetischer Straßenkinder unter Stalin, 31 f. 246 Kelly, Children’s World, 197.

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dann um Aufnahme in einer Einrichtung, wenn sie dringend Essen, Kleidung, Schuhe oder ein Bad benötigten.247 Ermöglicht wurde dies durch die Politik der offenen Türen, die es den Kindern und Jugendlichen freistellte, zu gehen oder zu bleiben. Da unter solchen Umständen nicht an (Um-)Erziehung zu denken war, reduzierte sich auch die Zahl der besprizorniki nicht wie erhofft. Nichtsdestotrotz hielten die Erzieher an der »Idee der Rehabilitierung durch Überzeugung, Selbstverwaltung und kollektive Aktivität« fest und lehnten Zwangsmaßnahmen rigoros ab.248 Ein Kongress des SPON 1924 bestätigte diese Vorgehensweise noch einmal. Die Folge war, dass die Kinder und Jugendlichen weiterhin kamen und gingen, wann es ihnen passte.249 3.2

Besprizornost’: Ein chronisches Problem

Erzieher und Sozialarbeiter bezeichneten den Umstand als »chronische besprizornost’«. Das in den Institutionen verantwortliche Personal verfügte offiziell zwar über keine Möglichkeiten, gegen dieses Verhalten vorzugehen. Tatsächlich griff es aber häufig auf Gewalt- und Zwangsmaßnahmen zurück. Wendy Z. Goldman zufolge verkörperte der Umgang mit besprizorniki daher eine »mixture of high ideals and brutal practices.«250 Die Ursachen dafür, dass kein Ende der besprizornost’ in Sicht war, sind nicht nur in dem antiautoritären Erziehungskonzept zu suchen. In den 1920er und 1930er Jahren existierte eine ganze Reihe an innenpolitischen Faktoren, die ihre Entstehung fortlaufend begünstigte. Während der NĖP-Zeit hatte sich die Lage zwar entspannt, die Sterberaten waren zurückgegangen und die medizinische Versorgung hatte sich verbessert. Aber längst nicht alle Teile der Bevölkerung profitierten von dieser Entwicklung.251 Im März 1926 schrieben Kinder, die in einer Arbeitskolonie im Gebiet Samara untergebracht worden waren, einen Brief an Grigorij Zinov’ev (1883–1936), den Vorsitzenden des Exekutivkomitees der Komintern, um auf ihre katastrophalen Lebensumstände aufmerksam zu machen und eine Verbesserung derselben zu erreichen: Comrade Zinoviev, leader of the Comintern […] Our diet is very bad. We have meat rarely […] we haven’t seen sugar for three months. Sometimes […] we boil porridge, it’s something like pig-slop. There is no salted cabbage, sometimes there is no salt 247 Ball, And Now My Soul is Hardened, 24 f.; Goldman, Women, the State and Revolution, 85. 248 Ebd., 84. 249 Ebd. 250 Ebd., 84 f., 88. 251 Gorsuch, Youth in Revolutionary Russia, 28.

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for  a week, they bake bread and cook supper without salt, as  a result the kids are developing gum disease. There are not enough clothes and shoes for all the children […] Children wear the same underwear for months […] without taking them off […] They heat up the bathhouse two times a month, and even then children wash without soap, so that children are getting parasites. There is no bed linen, there are mattresses, but not cleaned for a year, the blankets are in shred, teeming with lice […] We want to study – there are no workbooks or supplies. We’d like to work with some material, but we haven’t any paints, but not even the simplest pencils or sheets of paper […] Comrade Zinoviev, everyone has forgotten us, please send us at least a line […]252

Dass ein Kind in einer staatlichen Einrichtung Platz gefunden hatte, bedeutete nicht zwangsläufig, dass es ihm hier besser erging oder es dadurch optimistischere Zukunftsaussichten gehabt hätte.253 Fehlende Bildungsmöglichkeiten waren dabei längst nicht nur ein Problem des ländlichen Raums. Auch in den Städten besuchten 1923 weniger Kinder eine Schule als 1914. Die Zahl der 14- bis 17-Jährigen, die 1923 weder einer schulischen noch einer beruflichen Ausbildung nachgingen, belief sich auf etwa eine Million. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit der NĖP-Zeit resultierte aus den Verwüstungen der Kriegsjahre sowie aus der Demobilisierung der Roten Armee, die zusätzliche Arbeitskräfte auf den Markt spülte.254 Negative Auswirkungen hatte auch die Familiengesetzgebung. Was als Schritt zur Schaffung eines neuen Typs von Familie gedacht war, zur Gleichberechtigung von Mann und Frau führen sowie auf Liebe statt auf ökono­ mischen Erwägungen basieren sollte, erwies sich für die Frauen nicht immer als befreiend.255 Die Familienkodexe von 1918 und 1926 machten Scheidungen einfacher und ließen ihre Zahl rasch in die Höhe schnellen, ermutigten sie doch die Männer, ihre Ehefrauen und Kinder zu verlassen. Dass der Anteil an Frauen kriegsbedingt höher als der an Männern war, ließ Frauen obendrein stärker um die verbliebenen Männer konkurrieren, sodass es letzteren nicht schwerfiel, nach »anderen Optionen« Ausschau zu halten. Eine geschiedene Ehefrau war, sofern sie Kinder hatte, besonders von Armut bedroht. Die hohe Arbeitslosigkeit ließ sie nur schwer einen Job finden. Ohne Arbeit war es aber kaum möglich, den Lebensunterhalt zu bestreiten, da die Alimente, zu deren Zahlung die Männer verpflichtet waren, nicht ausreichten. Konnte ein Mann nicht zahlen, sprang zwar der Staat ein. Doch auch diese finanzielle Unterstützung erwies sich als absolut unzureichend. Zerrüttete Familien, überforderte Mütter, Not und Elend trieben Kinder und Jugendliche nicht selten auf die Straßen, in der Hoffnung, einen Beitrag zum Familieneinkommen zu leisten 252 Frierson / Vilenskij, Children of the Gulag, 60 f. 253 Goldman, Women, the State and Revolution, 84. 254 Gorsuch, Youth in Revolutionary Russia, 30, 32, 36. 255 Ebd., 30.

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oder der angespannten Atmosphäre zu Hause zu entfliehen.256 Selbst wenn es den Müttern tatsächlich gelang, einen Arbeitsplatz zu finden, stellte sich immer noch die Frage nach der Betreuung der Kinder.257 Auch beznadzorniki, unbeaufsichtigte Minderjährige, die zwar ein Dach über dem Kopf hatten, konnten sich tagsüber auf den Straßen herumtreiben und infolgedessen in die Kriminalität abrutschen. Regelrechte Wellen neuer besprizorniki kamen im Zuge der Stalinschen Repressionen auf. Die Zwangskollektivierung, die Verfolgung der Kulaken, die Hungersnot und der Große Terror führten dazu, dass auch die Kinder betroffener Eltern als Feinde des Staates galten. Viele wurden zu (Halb-)Waisen, die Not, Elend und Hunger ausgesetzt waren. Nach dem Tod oder der Verhaftung ihrer Eltern wurden sie in staatliche Einrichtungen transferiert, nicht selten auch dann, wenn andere Angehörige die Vormundschaft hätten übernehmen können. Auf diese Weise hoffte der Staat, sie zu loyalen Bürgern erziehen zu können – ein Plan, der allerdings nicht aufgehen sollte.258 Da die Zustände meist katastrophal und die Minderjährigen oftmals der Gewalt des Personals oder anderer Kinder und Jugendlicher ausgesetzt waren, ergriffen sie nicht selten die Gelegenheit zur Flucht. Die meisten wurden jedoch aufgespürt und erneut in eine Institution gebracht. Viele erlebten dabei eine jahrelange Odyssee durch das sowjetische System staatlicher Fürsorgeeinrichtungen, Arbeitskolonien, Straflager und Gefängnisse.259 Schließlich waren es der Zweite Weltkrieg und die Hungersnot von 1946/47, die abermals die Zahlen der besprizorniki und beznadzorniki explodieren ließen. Bis etwa Mitte der 1950er Jahre sah sich die Sowjetunion unablässig mit dem Problem der besprizornost’ konfrontiert. Zum Großteil trug sie selbst die Schuld an seiner Entstehung.

256 Ball, The Roots of Besprizornost’ in Soviet Russia’s First Decade, 264 f. 257 Entgegen allen revolutionären Versprechungen existierten kaum Kindergärten. 1926 besuchten gerade einmal 1,8 Prozent aller Kinder eine solche Einrichtung, 1928 fiel ihre Zahl sogar auf ein Prozent zurück. Obgleich sie seit dem ersten Fünfjahrplan anstieg – 1928/29 waren 129.257, 1930/31 bereits 336.236 und 1932/33 immerhin 1.145.800 Kinder in Tageseinrichtungen untergebracht –, deckten auch die zwei Millionen unionsweiten Kindergärtenplätze im Jahr 1940 nur 15 Prozent des tatsächlichen Bedarfs. Kelly, Children’s World, 403 f. 258 Frierson / Vilenskij, Children of the Gulag, 138. 259 Erinnerungen von Kindern repressierter Eltern finden sich unter anderem in Hoffman, The Littlest Enemies sowie Figes, Orlando: Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. 4. Aufl. Berlin 2008.

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94 3.3

Der Ton wird rauer: Härtere Strafmaßnahmen

Dass dem Phänomen nicht länger mit der Politik der offenen Türen und dem Konzept der antiautoritären Erziehung begegnet werden konnte, da sich beide nicht nur als ineffektiv, sondern auch als äußerst kostspielig erwiesen hatten, lag auf der Hand. Da die Machthaber ebenso wenig hoffen konnten, dass die Wissenschaften alsbald einen produktiven Lösungsansatz vorlegen würden, leiteten sie einen radikalen Kurswechsel im Umgang mit besprizorniki und beznadzorniki ein, im Zuge dessen sie zusehends vom Projekt des sozialistischen Aufbaus ausgeschlossen wurden.260 Wie viele besprizorniki es in all den Jahren tatsächlich gab, lässt sich kaum beziffern, da die Daten hierzu nicht vollständig sind oder bewusst verfälscht wurden.261 Offiziellen Angaben zufolge gingen der Bestand an Waisen­häusern in der RSFSR und die Zahl der in ihnen untergebrachten Kinder und Jugendlichen bis zum Ende der 1920er Jahre drastisch zurück, wie die nachstehenden Tabellen demonstrieren. Dass die hierzu gemachten Angaben leicht voneinander abweichen, liegt daran, dass ihnen unterschiedliche Quellen zugrunde liegen und die Daten zu verschiedenen Zeitpunkten erhoben wurden (vgl. Tab. 1 u. 2). Tab. 1: Kinderheime in der RSFSR * Zeitpunkt

Zahl der Kinderheime

1921/1922

6.063

1. Oktober 1923

3.971

1. Juni 1924

3.371

1. Januar 1925

2.836

1. Dezember 1926

2.224

15. Dezember 1927

1.922

* Ball, And Now My Soul is Hardened, 155.

Die Hungersnot von 1921/22 stellte zweifelsohne den Kulminationspunkt dar. Wie viele besprizorniki es in der Folgezeit wirklich gab, ist allerdings unklar. Die damaligen Schätzungen schwanken erheblich. Angaben der Detkomissija zufolge lebten 1926 in der RSFSR zwischen 225.000 und 250.000 Kinder und 260 Fürst, Juliane: Between Salvation and Liquidation. Homeless and Vagrant Children and the Reconstruction of Soviet Society. In: The Slavonic and East European Review 86/2 (2008), 232–258 (insb. 255); Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War, 5. 261 Goldman, Women, the State and Revolution, 96.

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Tab. 2: Kinderheime und in ihnen lebende Kinder in der RSFSR * Zeitpunkt

Zahl der Kinderheime

Zahl der in ihnen untergebrachten Kinder

1924–1925

3.002

234.390

1925–1926

2.491

210.396

1926–1927

2.020

172.549

1927–1928

1.645

136.989

1928–1929

1.524

129.344

* Detkomissija pri VCIK: Obzor raboty po bor’be s detskoj besprizornost’ju i beznadzornost’ju v RSFSR za 1928/1929 g. Moskau 1930, 8.

Jugendliche in Heimen, weitere 300.000 bevölkerten jedoch immer noch die Straßen.262 Im Februar 1929 soll Lunačarskij die Zahl der besprizorniki in der gesamten Sowjetunion auf etwa neun Millionen beziffert haben.263 Wendy Z. Goldman zufolge war der Staat nicht einmal in der Lage, den von der Detkomissija geschätzten 550.000 bedürftigen Minderjährigen gerecht zu werden. Um sie mit Lebensmitteln und Kleidung zu versorgen, sie unterzubringen und auszubilden, hätte er mindestens 17,5 Millionen Rubel pro Jahr aufbringen müssen. Tatsächlich standen ihm aber nur 2,5 Millionen Rubel zur Verfügung, etwa ein Siebtel der Kosten.264 Viele Waisenhäuser in den einzelnen Gebieten der RSFSR wurden deshalb nach der Hungersnot geschlossen.265 Da seit den frühen 1920er Jahren eine Reihe neuer Maßnahmen initiiert worden war, um das Problem der besprizornost’ und der damit verbundenen Kriminalität anderweitig zu lösen, fand eine Vielzahl bedürftiger Minderjähriger in den Einrichtungen des Narkompros ohnehin keine Aufnahme mehr. Dass der – zumindest offiziell – nachsichtige Umgang mit ihnen alsbald harschere und repressivere Züge annehmen würde, kristallisierte sich bereits anhand des Strafgesetzbuches von 1922 heraus. Da die Frage, ob das Alter oder die begangene Straftat in der Urteils- und Strafmaßfindung berücksichtigt werden sollte, immer wieder für Diskussionen sorgte, unterlag der Kodex drei Modifizierungen. Zunächst galten Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren grundsätzlich nicht als strafmündig. In der zweiten Gesetzesversion konnten 262 Goldman, Women, the State and Revolution, 93. 263 Franz, Manfred: A. S. Makarenko, der Hauspädagoge des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes, und sein Konzept der kommunistischen Kollektiverziehung. In: M ­ othes, Jörn / Fienbork, Gundula / Pahnke, Rudi / Balzer, Thomas (Hg.): Beschädigte Seelen. DDRJugend und Staatssicherheit. Bremen 1996, 32. 264 Goldman, Women, the State and Revolution, 93–95. 265 Ball, And Now My Soul is Hardened, 152–155.

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14- bis 16-Jährige bereits vor Gericht gebracht werden, sofern sie einer für die Gesellschaft gefährlichen Straftat beschuldigt wurden. Allerdings sind dabei entweder viel zu milde oder viel zu harte Strafen ausgesprochen worden, vor allem deshalb, weil noch keine eindeutigen Kriterien zur Beurteilung eines Vergehens oder Verbrechens existierten. Obendrein wurde immer offensichtlicher, dass die gemeinsame Unterbringung aller Minderjährigen in ein und demselben Kinderheim problematisch war, da jugendliche Schwerverbrecher, die Tür an Tür mit »normalen« Altersgenossen lebten, negativen Einfluss auf letztere ausübten. Die dritte Änderung des Strafgesetzbuches beinhaltete daher, dass der Fokus auf den begangenen Straftaten liegen und die Fälle der Jugendlichen vorab von den Komones untersucht werden sollten. Wer zwischen 14 und 18 Jahren alt war und sich einer von fünf Kategorien zuordnen ließ, sollte anschließend an die Justiz überführt werden. Tatsächlich spielte die Schwere der Tat aber nicht immer eine Rolle. So gehörten zur ersten Kategorie Wiederholungstäter, die überwiegend des Diebstahls bezichtigt wurden. Hierzu konnten auch Minderjährige zählen, die ein zweites Mal beim Stehlen von Lebensmitteln erwischt wurden. Die anderen Gruppen dagegen setzten sich aus Jugendlichen zusammen, die schwere Straftaten begangen hatten, durch Hooliganismus und Gewalttätigkeiten aufgefallen oder bereits mehrfach aus Erziehungs- und Besserungsanstalten weggelaufen waren, wo sie ebenfalls delinquente Handlungen verübt hatten, die bisher noch ungeahndet geblieben waren. Die letzte Kategorie umfasste Jugendliche, die als »amoralisch« galten, darunter junge Prostituierte. Wer zwischen 16 und 18 Jahren alt war, konnte sogar für ein Vergehen oder Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden, ohne dass eine Komones seinen Fall zuvor analysiert hatte.266 Der Strafkodex von 1926 erklärte Jugendliche bereits ab 14 Jahren als strafmündig. Im Falle einer Verurteilung mit Freiheitsentzug sollte das Strafmaß von 14- bis 16-Jährigen um die Hälfte reduziert werden, von 16- bis 18-Jährigen um ein Drittel.267 Überdies erfuhren die Komones wieder eine Stärkung ihrer Kompetenzen, da sie außergerichtliche Verhaftungen von Minderjährigen vornehmen lassen konnten.268 Dieser Sinneswandel rührte vor allem daher, dass die Komones, deren ursprüngliche Aufgabe darin bestanden hatte, jugendliche Straftäter vor einer Überführung ans Justizsystem zu bewahren, finanziell und personell nicht in der Lage waren, Straf- oder Rehabilitationsmaßnahmen gegen sie einzuleiten. Da gewiefte besprizorniki längst wussten, dass sie keine Konsequenzen zu fürchten hatten, musste dieser 266 Caroli, L’enfance abandonneé et délinquante dans la Russie soviétique (1917–1937), 278–280. 267 Lavrova, I.: Bor’ba s detskoj besprizornost’ju i zakonodatel’noe regulirovanie prestupnosti nesoveršennoletnich v 1930-e gody. In: Kornilov, G. (Hg.): Rol’ istoričeskogo obrazovanija v formirovanii istoričeskogo soznanija obščestva. Jekaterinburg 2007, 125. 268 Caroli, L’enfance abandonneé et délinquante dans la Russie soviétique (1917–1937), 280.

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Umstand unterbunden werden.269 1929 wurde die Strafmündigkeit auf ein Alter von 16 Jahren angehoben. Zudem durften die Komones Minderjährige in eine Erziehungseinrichtung überweisen.270 Neben dem sowjetischen Strafgesetzbuch vollzog auch die eng mit ihr verbundene Kriminologie einen Wandel. Anfangs hatte sie vor allem versucht, die Persönlichkeit des Kriminellen und den Zusammenhang zwischen sozialen Veränderungen und Kriminalität zu verstehen. An dem 1925 in Moskau gegründeten Staatlichen Institut für die Untersuchung von Verbrechen und Verbrechern (Gosudarstvennyj Institut po izučeniju prestupnosti i prestupnika) waren zunächst vier Sektionen aktiv, die diesen Fragen aus sozioökonomischer, biopsychologischer und kriminalistischer Sicht sowie unter Berücksichtigung des Strafvollzugs nachgingen. Mit dem Kodex von 1926 verlagerte sich ihr Interesse zusehends weg vom gewöhnlichen hin zum politischen Kriminellen. Zum Ende der 1920er Jahre hin geriet sie immer stärker in stalinistisches Fahrwasser, musste ihre Forschungen marxistischen Prinzipien unterordnen und produzierte kaum noch seriöse Ergebnisse.271 Obgleich sich der Fokus der Kriminologie weniger auf minderjährige denn vielmehr auf erwachsene Verbrecher richtete, steht ihr Wandel doch beispielhaft für gesamtsowjetische Entwicklungen im Umgang mit Straftätern und Straftaten. Parallel zu den Veränderungen in der Kriminologie und den Modifizierungen des Strafkodex entstanden in den 1920er Jahren spezielle Institutionen für minderjährige Delinquenten. Insbesondere aus den Reihen der (O)GPU und des Volkskommissariats für Justiz (Narodnyj komissariat justicii  – Narkomjust) hatte es seit jeher kritische Stimmen bezüglich des offenen Typs der bestehenden Einrichtungen gegeben, die behaupteten, dass sie auf stark »sozial verwahrloste« Kinder und Jugendliche keinerlei positiven Einfluss ausübten. Im Narkompros war man zwar nach wie vor der Ansicht, dass der gefängnisartige Charakter geschlossener Türen keine pädagogischen Maßnahmen zulasse. Nichtsdestotrotz entstanden unter der Zuständigkeit der (O)GPU seit 1922 Arbeitshäuser und -kommunen, die aus den vorrevolutionären Besserungsanstalten und landwirtschaftlichen Kolonien hervorgegangen waren.272 Ihr offizielles Ziel bestand darin, Minderjährige, die Härte269 Galley, »Wir schlagen wie eine Faust«: Die Bande als Lebensform sowjetischer Straßenkinder unter Stalin, 31. Wendy Z. Goldman bezeichnet die Komones als »große bürokratische Drehtüren«. Die Behörde ließ zunächst Tausende von besprizorniki herein, untersuchte ihre Fälle und nahm sie in eine Statistik auf, setzte sie anschließend aber wieder vor die Tür. Goldman, Women, the State and Revolution, 84. 270 Lavrova, Bor’ba s detskoj besprizornost’ju i zakonodatel’noe regulirovanie prestupnosti nesoveršennoletnich v 1930-e gody, 125. 271 Shelley, Louise: Soviet Criminology. Its Birth and Demise, 1917–1936. In: Slavic Review 38/4 (1979), 614, 618, 623–625. 272 Für einen Überblick über die entsprechenden vorrevolutionären Einrichtungen siehe Kelly, Children’s World, 182–192.

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fälle darstellten, weil sämtliche bisher unternommenen Maßnahmen nutzlos geblieben waren, sowohl umzuerziehen als auch auszubilden. Um über bessere Zukunftsperspektiven zu verfügen und sie zu produktiven sozialistischen Arbeitern werden zu lassen, sollten sie hier eine berufliche Qualifikation, meist als Schlosser oder Dreher, erwerben.273 Die bekanntesten Einrichtungen dieser Art waren die 1924 gegründete Arbeitskommune in Bolševo nahe Moskau (heute ein Stadtteil von Korolëv) sowie die von Anton Makarenko (1888–1939) geleitete Dzeržinskij-Kommune in der Nähe von Charkow, die 1927 eröffnet wurde.274 Für jüngere Kriminelle, die noch nicht verurteilt werden konnten, als »defektiv« oder schwer erziehbar galten, existierten Heime geschlossenen Typs.275 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang das Wirken Anton Makarenkos. Seine Weltanschauung war zwar konform zur Ideologie und Politik der Sowjetunion, seine pädagogischen Konzepte liefen dem Zeitgeist der frühen 1920er Jahre jedoch zuwider276 und standen in scharfem Kontrast zu den Ansätzen und Ideen von Lunačarskij, Krupskaja und Blonskij. Der Vorstellung letzterer drei, wonach Pädagogik vom Kind ausgehen und Erziehung ohne Zwang erfolgen müsse, erteilte Makarenko eine klare Absage.277 Bereits in der 1921 errichteten Gor’kij-Kolonie in der Nähe der ukrainischen Stadt Poltava hatte er seine »pädagogischen Experimente zu einem erzieherischen Konzept [geformt], das sich insbesondere durch seine paramilitärischen, Zucht und Ordnung vermittelnden Formen von den Grundsätzen der Revolutionspädagogik […] abhob.«278 Wiederholt kritisierte daher das ukrainische Narkompros, dem die Kolonie unterstand, Makarenkos Erziehungsstil, der aus der Anwendung »militärische[r] Umgangsformen« und der »strikte[n] Durchsetzung von Ordnung und Disziplin« bestand.279 Makarenko ließ sich hiervon 273 Utevskij, Bor’ba s prestupnost’ju nesoveršennoletnich, 14–20. 274 Lavrova, Bor’ba s detskoj besprizornost’ju i zakonodatel’noe regulirovanie prestupnosti nesoveršennoletnich v 1930-e gody, 125; Hillig, Götz: Die Arbeitskommune der OGPU in Bolševo. Genese und pädagogische Konzeption. In: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 5/3 (2006), 43; Lüpke, Friedemann: Pädagogische Provinzen für verwahrloste Kinder und Jugendliche. Eine systematisch vergleichende Studie zu Problemstrukturen des offenen Anfangs der Erziehung. Die Beispiele Stans, Junior Republic und Gorki-Kolonie. Würzburg 2004, 145. 275 Lavrova, Bor’ba s detskoj besprizornost’ju i zakonodatel’noe regulirovanie prestupnosti nesoveršennoletnich v 1930-e gody, 125 f. 276 Lüpke, Pädagogische Provinzen für verwahrloste Kinder und Jugendliche, 150. 277 Kobelt, Karl: Anton Makarenko – ein stalinistischer Pädagoge. Interpretationen auf dem Hintergrund der russisch-sowjetischen Bildungspolitik. Frankfurt am Main, Berlin 1996, 195, 200. 278 Ebd., 126. Makarenko hat sein Wirken in der Gor’kij-Kolonie in einem Buch dargelegt: Makarenko, Anton / Anweiler, Oskar: Ein pädagogisches Poem. Der »Weg ins Leben«. Frankfurt am Main 1972. 279 Kobelt, Anton Makarenko – ein stalinistischer Pädagoge, 127.

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nicht beirren, war er doch der festen Überzeugung, dass »Zwang und Strafen […] unabdingbare Mittel der erzieherischen Einwirkung auf das Kind« darstellten.280 Immer wieder hatte er hervorgehoben, dass er im Gegensatz zur Defektologie keine Wissenschaft zur Hand habe, sondern aus einer konkreten Situation heraus schnell den Sachverhalt analysieren und reagieren müsse.281 Zu Beginn der 1920er Jahre noch heftig kritisiert, stießen Makarenkos Methoden in der zweiten Hälfte der Dekade auf wachsendes Interesse. Zum einen schien Makarenko über die von den Parteiführern langersehnten praktischen Handlungsanweisungen zur Beseitigung der besprizornost’ und der Jugendkriminalität zu verfügen. Zum anderen verbuchte die Dzeržinskij-Kommune unter seiner Leitung rasch wirtschaftliche Erfolge. Angeblich konnten ihre Gewinne seit 1930 zum Bau von Fabriken eingesetzt werden.282 Hinter der verstärkten Etablierung von Arbeitshäusern und -kommunen standen demzufolge nicht nur erzieherische, sondern auch ökonomische Absichten. Indem die Jugendlichen arbeiteten, verdienten sie nicht nur Geld, sondern leisteten auch einen Beitrag zum gewaltigen Projekt der Industrialisierung, das Stalin mit dem ersten Fünfjahrplan 1928 in Gang gesetzt hatte.283 Viele Kommunen waren an Fabriken und Betriebe angeschlossen oder verfügten zumindest über Werkstätten, in denen Güter produziert werden konnten. Wie in der Gulag-Forschung stellt sich auch hier die Frage, welcher der beiden Faktoren, der erzieherische oder der ökonomische, im Zuge ihrer Schaffung im Vordergrund stand.284 Dass alle Arbeitshäuser und -kommunen 280 Ebd., 195. 281 Galmarini-Kabala, The Right to Be Helped, 87 f. 282 Lüpke, Pädagogische Provinzen für verwahrloste Kinder und Jugendliche, 145 f. Da Makarenko die Entwicklung kritisch beäugt hatte, beschränkte die (O)GPU sukzessiv seine Befugnisse als Leiter der Kommune. Ebd. Insgesamt nahm die Person Anton Makarenko eine ambivalente Rolle im institutionellen Gefüge der Sowjetunion ein. Fragen werfen nicht nur sein pädagogisches Handeln, sondern auch seine Haltung gegenüber dem Staat sowie seine Zusammenarbeit mit der (O)GPU beziehungsweise dem NKVD auf. Die Forschung hat zwar inzwischen auf die Ambivalenzen seiner Figur hingewiesen. Kobelt, Anton Makarenko – ein stalinistischer Pädagoge, 122–129, 177–201, 225–228, 245–247; Lüpke, Pädagogische Provinzen für verwahrloste Kinder und Jugendliche, 141–153, 162–168 sowie Bejlinson, Valentin / Hillig, Götz: A. S. Makarenko in Moskau. Die beiden letzten Lebensjahre. In: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 7/2 (2007), 94–107). Eine umfassende Neubetrachtung der Person Anton Makarenko wäre aber dennoch gewinnbringend und könnte neue Erkenntnisse zutage fördern. 283 Zur Industrialisierung siehe Rosenberg, William G. / Siegelbaum, Lewis H. (Hg.): Social Dimensions of Soviet Industrialization. Bloomington, IN 1993; Kotkin, Magnetic Mountain sowie Fitzpatrick, Sheila: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s. New York, NY 1999. 284 Wie Oleg Khlevniuk dargelegt hat, spielten zwar beide Faktoren eine Rolle. Dem politischen Aspekt misst Khlevniuk aber größere Bedeutung bei als dem ökonomischen. Obgleich Repressionen und Zwangsarbeit ein Mittel waren, um die Wirtschaft anzu-

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derart profitabel gewirtschaftet und zugleich einen erfolgreichen Beitrag zur Umerziehung der besprizorniki geleistet haben sollen, wie Maxim Gorki, der zwei dieser Einrichtungen besucht hatte, in einem Artikel geschrieben hat, ist allerdings zu bezweifeln.285 Tatsächlich dürfte die Mehrheit der Institutionen den Minderjährigen eher geschadet denn geholfen haben, sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht, selbst wenn der Anspruch an Umerziehung und Reintegration durch Arbeit während der gesamten Sowjet-Ära offiziell nie aufgegeben wurde.286 Der reale wirtschaftliche Nutzen der Einrichtungen mag zwar gering ausgefallen sein und sich in erster Linie auf Subsistenz beschränkt haben. Er stellte aber dennoch eine kurzfristige Entlastung für den Staatshaushalt dar. Die langfristigen Resultate dieser Politik blieben allerdings ungewiss. Dass von einer hohen Zahl völlig desorientierter, psychisch wie physisch gezeichneter junger Menschen auch eine Gefahr hätte ausgehen können, wurde seitens der Machthaber, bewusst oder unbewusst, verdrängt beziehungsweise in Kauf genommen. Da das Betreiben und Erhalten von »normalen« Heimen eine starke finan­ zielle Last war und besprizorniki daher so schnell wie möglich in Lohn und Brot gebracht werden mussten, fassten das VCIK und der Sovnarkom der RSFSR 1925 und 1926 zwei Beschlüsse. Zunächst verpflichteten sie lokale Behörden, Minderjährigen, die in Kinderheimen gelebt und das arbeitsfähige Alter erreicht hatten, einen Arbeitsplatz zu verschaffen. Kurze Zeit später konnten Zöglinge aus Waisenhäusern als Pflegekinder an Arbeiter- und Bauernfamilien übergeben werden. Im urbanen Raum war dieses Modell kaum erfolgreich, im ländlichen dagegen schon.287 Pro Familie durfte nur kurbeln, dienten sie vor allem der Beseitigung politischer Feinde, in den 1930er Jahren insbesondere der Bauern und der alten politischen Elite. Khlevniuk zufolge waren die Repressionen selbst zu einer Zeit, zu der die Wirtschaft der (O)GPU beziehungsweise des NKVD nach immer mehr Arbeitern verlangte, weiterhin politischer Natur. Die Erschießung unzähliger Spezialisten im besten Arbeitsalter, die für den Aufbau der Wirtschaft unabdinglich waren, hält Khlevniuk ebenso für politisch motiviert. Obendrein war der Beitrag des Gulags zur Industrialisierung des Landes gering, da die erwirtschafteten Güter in erster Linie den Eigenbedarf des Lagersystems deckten. Der Gulag selbst war daher kein profitables Unternehmen, sondern eine finanzielle Belastung. Khlevniuk, Oleg V.: The History of the Gulag. From Collectivization to the Great Terror. New Haven, CT 2004, 330–337. 285 Gor’kij, Maksim: O trudkolonijach OGPU. In: Ochrana detstva 7 (1931), 7–11. Maxim Gorki hatte bereits 1929 das Lager auf den Solovki besucht. Was er dort tatsächlich gesehen und erlebt hat, ist unklar. Da sein Aufenthalt einigen Memoiren zufolge langfristig vorbereitet worden war, ist anzunehmen, dass nur ausgewählte Aspekte des Lagerlebens für seine Augen bestimmt waren. Applebaum, Anne: Der Gulag. Berlin 2003, 81–85. 286 Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War, 6, 167. 287 Slavko, Detskaja besprizornost’ v Rossii v pervoe desjatiletie sovetskoj vlasti, 56 f.; Goldman, Women, the State and Revolution, 96–98; Kelly, Children’s World, 211 f.

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ein Kind adoptiert werden. Im Gegenzug erhielten die Bauern zusätzliches Land und eine Zahlung in Höhe von 30 bis 50 Rubeln. Allein im Jahr 1926 verließen dadurch in der gesamten Sowjetunion 19.000 Minderjährige die staatlichen Einrichtungen. Die Maßnahme erwies sich jedoch als ambivalent. Während einige Kinder und Jugendliche großes Glück mit ihren Pflegeeltern hatten, besser versorgt wurden und in den Dörfern soziale Kontakte aufbauen konnten, wurden andere als billige Arbeitskräfte missbraucht und wieder abgeschoben, sobald die finanzielle Unterstützung ausblieb.288 Ein Begleitumstand war, dass die als überkommen geltende Institution der Familie angesichts der chronisch klammen Staatskassen nolens volens eine Wiederaufwertung erfuhr.289 3.4

Besprizorniki – Feinde des Staates

Ungeachtet all der Maßnahmen bestand das Problem der besprizornost’ fort. Zum Ende der 1920er Jahre hin säumte immer noch eine beachtliche Zahl verwahrloster Kinder und Jugendlicher die Straßen des Landes. In einem Rundschreiben vom 19. März 1928 erklärte das Narkompros die Liquidierung der besprizornost’ zur »kämpferischen Aufgabe«. Am 5. April 1928 erließ das CK der VKP(b) eine Weisung, wonach das Phänomen innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre vollständig beseitigt werden sollte. Wenige Tage später, in der Nacht vom 12. auf den 13. April, begann eine landesweite Liquidierungskampagne, welche die größeren Städte und Eisenbahnknotenpunkte erfasste. Die auf der Straße lebenden Kinder und Jugendlichen wurden regelrecht eingesammelt und in eigens eingerichtete priëmniki transferiert. Viele wollten sich ihrer Festnahme entziehen und versuchten wegzulaufen. Da aber überwiegend (O)GPU-Mitarbeiter, Milizionäre, Polizisten und Sperrtruppen die Aktion ausführten, blieb ihre Gegenwehr vergeblich. Aus rechtlicher Perspektive war die Kampagne höchst fragwürdig, da sie alle auf der Straße lebenden Minderjährigen umfasste, unabhängig davon, ob sie straffällig geworden waren oder nicht. »Säuberungsaktionen« wie diese fanden hiernach immer wieder statt. Sie stehen insofern für eine Kehrtwende im Umgang mit den besprizorniki, als nun der alleinige Umstand, dass sie auf der Straße lebten, für ihre Kriminalisierung genügte.290 Als sicher kann dabei gelten, dass nicht nur Kräfte aus der Politik, sondern auch aus Wissenschaft und Gesellschaft diesen Kurswechsel im Verlauf der 288 Goldman, Women, the State and Revolution, 98–100; Kelly, Children’s World, 211–213. 289 Goldman, Women, the State and Revolution, 100. 290 Slavko, Detskaja besprizornost’ v Rossii v pervoe desjatiletie sovetskoj vlasti, 61–63; Galley, »Wir schlagen wie eine Faust«: Die Bande als Lebensform sowjetischer Straßenkinder unter Stalin, 33; Shearer, Policing Stalin’s Socialism, 224.

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1920er Jahre explizit und implizit bewirkt haben. Die Wissenschaft hatte sich in hochkomplexen theoretischen Fragestellungen verfangen, für die sie keine praktisch anwendbaren Lösungen anbieten konnte. Überdies beschwor ihr Hang zur Pathologisierung und Problematisierung innerhalb der Gesellschaft soziale Ängste vor dem Verlust der Ordnung und dem Verfall von Normen und Werten herauf. Wie Alan M.  Ball gezeigt hat, ist es dem Narkompros nicht gelungen, ein harmonisches Verhältnis zwischen den jungen Bewohnern in seinen Waisenheimen und der benachbarten Bevölkerung herzustellen, das Voraussetzung für ihre Reintegration in die Gesellschaft gewesen wäre. Vielmehr war das Gegenteil der Fall. Die Zöglinge aus den staatlichen Einrichtungen überfielen immer wieder Personen aus ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, brachen in deren Wohnungen ein, begingen Diebstähle und attackierten gewöhnliche Schulkinder. So mehrten sich auch in der Gesellschaft Stimmen, die ein härteres Vorgehen gegen minderjährige Delinquenten und besprizorniki befürworteten.291 Ball zufolge sprach die Bevölkerung in vielen sowjetischen Städten mit Verdruss, Empörung und Verachtung über sie. In Gesprächen forderten einige gar, »sie mit Kerosin zu übergießen und in Brand zu stecken.« Andere verdammten sie als »Bestien« und »verfluchte Bastarde«. Selbst die Vorsitzenden diverser Detkomissii bezeichneten sie als »Räuber« und »Mörder«, die nichts Menschliches an sich hätten und eines Tages in den Lagern auf den Solovki enden würden.292 In gewisser Weise haben das Unvermögen der Wissenschaft und die Kritik weiter Teile der Bevölkerung den Staat in seinem repressiven Vorgehen gegen die besprizorniki bestärkt. An dem »Kräftefeld« aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft manifestiert sich geradezu beispielhaft, was »Herrschaft als soziale Praxis« bedeuten kann.293 So erlaubte es dem sowjetischen Staat, seine auf Zwang und Repression beruhenden Eingriffe gegen Jugendobdachlosigkeit und -kriminalität mit dem Schutz der Gesellschaft zu legitimieren und zugleich Zustimmung für sie zu erfahren. Eine der treibenden Kräfte hinter dieser Entwicklung war David R. Shearer zufolge Dmitrij Usov (1888–1939), der Chef der Polizei, die seit 1930 zur (O)GPU gehörte. Usov setzte sich für eine stärkere Beteiligung seiner Behörde an der Bekämpfung der besprizornost’ ein. 1931 forderte er die lokalen Vertreter der Polizei auf, Berichte über die Situation obdachloser Kinder und Jugendlicher anzufertigen. Dabei ging es ihm lediglich um die Zahlen, nicht um die Ursachen, da er in keiner Weise einen Zusammenhang zum Stalinschen Terror gegenüber den Bauern und Kulaken hergestellt sehen wollte.294 291 292 293 294

Ball, And Now My Soul is Hardened, 164. Ebd., 187. Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, 12 f. Shearer, Policing Stalin’s Socialism, 220.

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Auf die wahren Gründe der besprizornost’, die eindeutig in der Politik des Staates sowie der von ihr ausgelösten Hungersnot von 1932/33 begründet lagen, hat die Detkomissija 1935 zwar explizit hingewiesen. Existierten ihr zufolge 1931 in der RSFSR noch 1.475 Heime, in denen 105.561 Zöglinge lebten, waren es 1933 bereits 2.045 Einrichtungen mit 241.744 Kindern und Jugendlichen.295 Doch ignorierte Usov diesen Sachverhalt, um den Einfluss sozialer Kinderfürsorgeorganisationen wie der ODD und der Komones, die auf regionaler Ebene operierten, zu verdrängen. Als sich anhand der eingehenden Berichte und Statistiken andeutete, dass die Zahl der Jugendkriminalität gestiegen war, nutzte Usov diesen Fakt, um ihnen Versagen vorzuwerfen. Tatsächlich waren diese Organisationen sehr wohl in der Lage, dem Problem gerecht zu werden. Viele Statistiken, die in den Berichten enthalten waren, zeichneten ein durchaus typisches Bild der Jugendkriminalität, da Diebstahl nach wie vor die am häufigsten verübte Straftat war. Usov und seine Unterstützer manipulierten die Daten jedoch zu ihren Zwecken. Infolgedessen gelangten sie zu der Überzeugung, dass unter den minderjährigen Delinquenten »fremde Elemente« und »Klassenfeinde« agierten, die sie zu Aktionen gegen den sowjetischen Staat anstifteten.296 Es dauerte nicht lange, bis die Komones in Bedrängnis gerieten. Ein Artikel in der Zeitschrift Ochrana detstva (Schutz der Kindheit) warf ihnen vor, dass sich ihre Arbeit seit der Gründung 1918 kaum verändert habe, sie aufgegriffene Minderjährige entweder einem kurzen und meist wirkungslosen Gespräch unterziehen oder sie in eine Einrichtung überweisen würden, ohne dabei die Schwere und Bedrohlichkeit der begangenen Straftaten zu berücksichtigen. Nachforschungen über den weiteren Verbleib und die Geschicke der Kinder und Jugendlichen würden sie nicht anstellen, da sie diesen Punkt nicht mehr als Bestandteil ihrer Arbeit erachteten. Für die Zukunft empfahl ihnen der Verfasser des Artikels deshalb, prophylaktisch zu agieren, um die Anzahl der Straftaten zu reduzieren, und einen konkreten Maßnahmenkatalog zu erstellen. Außerdem sollten sie die Öffentlichkeit stärker in ihre Arbeit einbeziehen, darunter die Schulen, die Eltern und die Kinderheime.297 Ratschläge wie diese nützten jedoch nichts, da Usov und seine Gesinnungsgenossen schließlich forderten, die Komones aufzulösen und die von ihnen bisher ausgeführte Arbeit der Polizei zu übertragen. Letztere sollte alsbald beginnen, spezielle Arbeitskolonien (Detskie trudovye kolonii – DTK ) zur Umerziehung jugendlicher Delinquenten einzurichten.298

295 296 297 298

Vilenskij, Deti GULAGa, 176 f. Shearer, Policing Stalin’s Socialism, 220 f. Ljublinskij, P.: Novye zadači komonesa. In: Ochrana detstva 2–3 (1931), 21–25. Shearer, Policing Stalin’s Socialism, 222 f.

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Die Schaffung solcher Institutionen befürworteten auch Aleksandr Bubnov und Nikolaj Krylenko (1885–1938), der Volkskommissar für Justiz. Sie kritisierten insbesondere den »Drehtür-Charakter« der derzeitigen Einrichtungen und den Umstand, dass sich die Mehrheit von ihnen in der Nähe urbaner Zentren befand, die entflohenen Minderjährigen einen Zufluchtsort boten. Die neuen Einrichtungen sollten deshalb in abgelegenen Gegenden, beispielsweise im Norden entstehen, um Kinder und Jugendliche vom Weglaufen abzuhalten.299 Ähnliche Töne schlug auch Nikolaj Semaško an, der einstige Volkskommissar für Gesundheit, der inzwischen Vorsitzender der Detkomissija war. In einem Brief an Michail Kalinin (1875–1946), den Vorsitzenden des VCIK, aus dem Jahr 1934 informierte er selbigen darüber, dass Rechtsbrüche und Verbrechen unter Kindern und Jugendlichen in letzter Zeit wieder zunähmen. Die Hälfte der Fälle sei zwar von besprizorniki verübt worden, doch waren diese in der Regel keine Waisen. Die Mehrheit sei aus Dörfern in die Städte gekommen. Ein beträchtlicher Teil von ihnen habe sogar über eine Mitgliedschaft in der Pionierorganisation oder im Komsomol verfügt und Eltern, die in der Partei waren, gehabt. Besorgniserregend empfand Semaško den Anstieg des Hooliganismus, für den er die mangelnde Erziehung seitens der Schulen, Eltern und Kinderheime sowie das Fehlen außerschulischer Beschäftigungen verantwortlich machte.300 Selbst Angehörige des Narkompros und Narkomzdrav, die seit jeher einen moderaten Umgang mit besprizorniki befürwortet hatten, machten seit Anfang der 1930er Jahre verstärkt darauf aufmerksam, dass eine Vielzahl ihrer Maßnahmen nicht praktikabel oder unzureichend war, und verlangten strengere Konsequenzen für minderjährige Delinquenten. Der beginnende Stalinismus, der erste Fünfjahrplan und die Kulturrevolution301, im Zuge derer unliebsame »Elemente« entweder vernichtet oder an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, gingen mit einer allgemeinen Forderung nach mehr Strenge und Disziplin einher, auch Kindern gegenüber.302 Im Frühjahr 1934 rief das Politbüro eine Kommission für Kinder- und Jugendobdachlosigkeit sowie -kriminalität ins Leben, die sich aus Vertretern aller sozialer Institutionen und Organisationen, aus Polizeioffizieren und aus 299 Ebd., 223. 300 Vilenskij, Deti GULAGa, 162 f. 301 Weiterführend hierzu siehe Fitzpatrick, Cultural Revolution in Russia sowie Rosenberg / Siegelbaum, Social Dimensions of Soviet Industrialization. 302 Beispielsweise hat das CK der VKP(b) am 25. August 1931 einen Beschluss über die Reformierung von Grund- und Mittelschulen gefasst, der zur Folge hatte, dass Methoden und Unterrichtsfächer zurückkehrten, die nach der Revolution abgeschafft worden waren. Die Schulen arbeiteten fortan nach einem drakonischen Stundenplan und forderten von den Schülern strenge Disziplin. Lehrer durften eine Reihe von Strafmaßnahmen gegen ihre Schützlinge einleiten, die bis zu deren Ausschluss führen konnte. Kurek, Istorija likvidacii pedologii i psichotechniki, 71; Kelly, Children’s World, 541 f.

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Politikern wie Kalinin und Semaško zusammensetzte. Im Laufe des Jahres erarbeitete sie mehrere Gesetzesentwürfe, anhand derer sich einerseits ablesen lässt, wie dem Narkompros zusehends die Verantwortung für obdachlose und straffällig gewordene Kinder und Jugendliche entzogen wurde. Andererseits wird daran deutlich, dass Jugendkriminalität sukzessiv zu einem Politikum und zur »Bedrohung für die sowjetische Ordnung und Sicherheit« avancierte. Anfangs einigten sich die Kommissionsmitglieder noch darauf, das unter dem Narkompros stehende Netz an Heimen zu vergrößern, ihre Ausstattung zu verbessern, für mehr Sicherheit und Disziplin in ihnen zu sorgen und Qualifizierungsangebote für das Personal zu schaffen. Repressive Maßnahmen gegenüber Kindern und Jugendlichen lehnten Kalinin und Semaško vehement ab. Nichtsdestotrotz entstanden unter der Leitung des NKVD bald Sondergerichte und geschlossene Strafinstitutionen. Da zur selben Zeit eine Reform stattfand, im Zuge derer sämtliche Haftanstalten für Erwachsene aus der Zuständigkeit des Narkomjust an das NKVD transferiert wurden, sollte das NKVD nun auch die Oberhoheit über die entsprechenden Einrichtungen für Minderjährige erhalten.303 Damit war eine Richtung eingeschlagen worden, die für das Narkompros und insbesondere für die besprizorniki fatale Folgen hatte. Im Februar 1935 wurde ersterem das Budget gekürzt, das für die Schaffung neuer Institutionen vorgesehen war. Anstelle des Narkompros sollte das NKVD ein System an Ausbildungszentren und Kolonien aufbauen. Gleichzeitig wurden die Befugnisse der Polizei gestärkt, die es ihr erlaubten, die bei Säuberungsaktionen aufgegriffenen besprizorniki entweder in Heime oder in Kolonien des NKVD zu überweisen. So fand sich fortan jeder obdachlose Minderjährige in den Händen der Polizei wieder, unabhängig davon, ob er eine Straftat verübt hatte oder nicht. Einwände seitens Semaškos oder Krupskajas verhallten ohne Gehör. Das Narkompros wurde gezwungen, die gesamte Zuständigkeit über Kinderund Jugendobdachlosigkeit sowie -kriminalität inklusive der dazugehörigen Institutionen, darunter auch der priëmniki, an das NKVD abzutreten.304 Am 7. April 1935 erließen das CIK und der Sovnarkom der UdSSR einen Beschluss, wonach Minderjährige ab einem Alter von zwölf Jahren für Vergehen und Verbrechen wie Diebstahl, Körperverletzung, Mord und Mordversuch zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden konnten. Erwachsene Personen, die Kinder und Jugendliche zu entsprechenden Handlungen oder zur Spekulation und Prostitution anstifteten, drohte ein Freiheitsentzug von mindestens fünf Jahren.305 Wie aus einem 2004 wiederentdeckten Dokument, einer Rundschrift von Staatsanwaltschaft und Oberstem Gerichtshof 303 Shearer, Policing Stalin’s Socialism, 223–225. 304 Ebd., 225 f. 305 Vilenskij, Deti GULAGa, 182 f.

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der UdSSR , vom 20. April 1935 hervorgeht, konnte gegen Minderjährige ab einem Alter von zwölf Jahren sogar die Todesstrafe verhängt werden.306 Kurz darauf, am 31. Mai, beschlossen der Sovnarkom der UdSSR und das CK der VKP(b), das System an Institutionen für Minderjährige neu zu regeln. Das Narkompros sollte nur noch Heime für »normale« und schwer erziehbare Kinder und Jugendliche bereitstellen. Das Narkomzdrav war zuständig für Sondereinrichtungen, in denen Minderjährige Platz fanden, die einen längeren Genesungsprozess durchlaufen mussten. Das Narkomsobes zeichnete für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen verantwortlich. Dem NKVD oblag die Zuständigkeit für Isolatoren, Arbeitskolonien und priëmniki.307 Am 29. Juli 1935 bestimmte Genrich Jagoda (1891–1938), der Volkskommissar für innere Angelegenheiten, dass minderjährige Straftäter im Alter von zwölf bis 16 Jahren sowie besprizorniki zwischen 14 und 16 Jahren fortan in Arbeitskolonien zu überführen seien. Ihrem Aufgabenkatalog zufolge stellte die Arbeitserziehung die Basis der Kolonie dar, mit der zugleich die Ausgaben für ihre Unterhaltung gedeckt werden sollten. Um sich selbst finanzieren zu können, sollte jede Kolonie einer produzierenden industriellen oder landwirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen. Die Kinder und Jugendlichen sollten bis zur Entlassung eine berufliche Qualifizierung erhalten, entweder in der Industrie oder in der Landwirtschaft. Die Selbstverwaltung wurde aufrechterhalten. Entlassungen fanden nur zum Ende eines Schul- beziehungsweise Ausbildungsjahres statt.308 In seinen Grundzügen sollte dieses System – mit Ausnahme einiger weniger Modifizierungen – bis zum Ende der 1950er Jahre bestehen bleiben. * * * Die anfänglichen Hoffnungen der Parteiführer, mit Hilfe der Wissenschaften praktikable Handlungsanweisungen zu erhalten, um soziale Missstände zu beseitigen und »Neue Kinder« zu schaffen, erfüllten sich nicht. Die Pädologie, der die Verwirklichung dieser ambitionierten Ziele aufgetragen worden war, steckte selbst noch in den Kinderschuhen. Ihre hochkomplexen theoretischen Forschungsfragen ließen sich nicht binnen kurzer Zeit beantworten, sondern hätten viele Jahre intensivster wissenschaftlicher Arbeit notwendig gemacht. 306 Dynko, A. / Kuliš, M.: Juridičeskaja otvetstvennost’ nesoveršennoletnich i dejatel’nost’ detskich penitenciarnych učreždenij po ee realizacii v sovetskom gosudarstve poslevoennogo vremeni (1945–1956 gg.). Krasnodar 2013, 46. Für den Zeitraum ihrer Untersuchung konnten A.  Dynko und M.  Kuliš jedoch keinen einzigen Fall eines Minderjährigen ausfindig machen, an dem die Todesstrafe tatsächlich vollstreckt worden wäre. Ebd., 49. 307 Vilenskij, Deti GULAGa, 183–187. 308 Ebd., 195–197, 202.

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Zudem hatten sich zahlreiche Disziplinen von der Ebene der Praxis so weit entfernt, dass eine Verbindung zu den akuten Problemen, zur sozialen Realität, nicht mehr gegeben war. Infolgedessen sahen sie sich immer stärker werdendem politischen Druck ausgesetzt, der ihren Forschungsspielraum erheblich reduzierte und schließlich in der Liquidierung nahezu aller ihrer Fachrichtungen gipfelte. Ohne Wirkung blieben die Aktivitäten der Pädologie allerdings nicht. Ihre Suche nach neuen Parametern und Kriterien zur Bemessung und Kategorisierung der Psyche und Physis von Kindern und Jugendlichen führte oft zu einer übertriebenen Pathologisierung ihres Verhaltens und Entwicklungsstandes. Implizit schürten sie dadurch bei Politik und Gesellschaft soziale Ängste vor dem Verlust der Ordnung, von Normen und Werten. Da ihre ausschweifenden, kostspieligen wissenschaftlichen Experimente keine konkreten, für die Praxis brauchbaren Resultate lieferte und die besprizornost’ fortbestand, machte sich nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gesellschaft immer größerer Unmut breit. Die Partei- und Staatseliten wussten diese Gefühlslage für sich zu nutzen, indem sie ihr härteres Eingreifen gegen besprizorniki mit dem Sicherheits- und Stabilitätsbedürfnis einer zu weiten Teilen konservativen Gesellschaft legitimierten. Aus dem besprizornik, der unmittelbar nach der Oktoberrevolution noch als unschuldiges Opfer seiner Umstände galt und dem bedingungslose Fürsorge und humane, antiautoritäre erzieherische Maßnahmen zuteilwerden sollten, wurde seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre sukzessiv ein Feind des Staates, der eine Bedrohung für dessen innere Sicherheit darstellte und sich alsbald in den Fängen von Geheimpolizei und NKVD wiederfand. Das Pro­ blem der besprizornost’ beziehungsweise der Kinder- und Jugendkriminalität war nun kein erzieherisch-fürsorgliches mehr, sondern ein innenpolitisches, dem mit Repression statt mit Wohlwollen begegnet wurde. Wenngleich der Anspruch der Umerziehung offiziell nie aufgegeben werden sollte, hatte das Ideal vom Kind und Jugendlichen als revolutionärem Hoffnungsträger und künftigem Erbauer des Sozialismus herbe Einschnitte erfahren.

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II. Erziehung und »Unerziehung«

Dass die besprizorniki spätestens ab Mitte der 1930er Jahre vom Projekt des sozialistischen Aufbaus ausgeschlossen blieben, rührte nicht zuletzt daher, dass sie eine Gefahr für die Transformation darstellten. Fast 20 Jahre nach der Revolution mussten die Parteiführer ihre Versprechungen zur Verbesserung des Lebensstandards und die Verheißungen des Sozialismus endlich Realität werden lassen. Andernfalls drohte ihnen ihre politische Macht und Legitimation zu entgleiten. Die Zeiten, als besprizorniki noch als Relikte der vorrevolutionären Gesellschaftsordnung interpretiert werden konnten, waren vorbei. Ihre Verbannung in entlegene Arbeitskolonien hatte das Problem an sich zwar nicht gelöst. Doch war es zumindest von der Bildfläche der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Kaum hatten sich die Parteiführer der besprizorniki entledigt, beschritten sie neue Wege und lancierten im Jahr 1936 eine Propagandakampagne, die doppelzüngiger nicht hätte sein können. Im Zeichen des Stalinkultes1 stehend, veröffentlichten die Pionierzeitschriften des Landes ein Bild des Diktators, an dessen Seite ein sechsjähriges burjatisches Mädchen namens Engel’sina, kurz Gelja, Markizova zu sehen war, das lächelnd die Arme um seinen Hals legte. Untertitelt mit der Losung Danke, Genosse Stalin, für die glückliche Kindheit (Spasibo, tovarišču Stalinu, za sčastlivoe detstvo) war diese Bild-Text-Komposition bald nicht mehr nur in der Presse zu sehen, sondern zierte auch die Eingänge von Kindergärten, Schulen, Waisenhäusern und Pionierlagern.2 In Artek war sie auf einer riesigen Leinwand abgebildet, die oberhalb der Tribünen im Stadium angebracht worden war (siehe Abb. 1). Damit war der sowjetische Kindheitskult geboren. Er ging mit dem Dankbarkeitskult gegenüber Stalin einher, der 1932 zum Leitmotiv medialer Propagandakampagnen avanciert war, um den katastrophalen Ausgang des ersten Fünfjahrplans zu verschleiern. Anders als von den Parteiführern versprochen, 1 Jan Plamper datiert den Beginn des Stalinkults auf den 21. Dezember 1929, Stalins 50. Geburtstag, als in den bedeutendsten sowjetischen Printmedien erstmals Artikel über seine »glorreichen« Taten in Verbindung mit seinem Konterfei abgedruckt wurden. Dem schwungvollen Auftakt folgten allerdings dreieinhalb Jahre öffentlicher Abstinenz. Gemeinhin wird angenommen, dass der Diktator entweder nicht mit den fatalen Folgen der Zwangskollektivierung in Verbindung gebracht werden wollte oder sich aufgrund innerparteilicher Machtrangeleien aus der Öffentlichkeit zurückzog. Plamper, Jan: The Stalin Cult. A Study in the Alchemy of Power. New Haven, CT 2012, xiv. 2 Kelly, Grandpa Lenin and Uncle Stalin: Soviet Leader Cult for Little Children, 106–108.

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Abb. 1: Drei Mädchen im Stadion des Pionierlagers Artek, 1936 (RGAKFD, FotoNr. 0-33007)

hatten Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft nämlich nicht zu einer Verbesserung, sondern zu einer erheblichen Verschlechterung des Lebensstandards geführt und Millionen Menschenleben gefordert. Um ihn dennoch als erfolgreiches Projekt zu präsentieren, leiteten Stalin und seine Gefolgsleute einen Kurswechsel ein. Lauteten die Schlagwörter in der sowjetischen Presse zu Beginn des ersten Fünfjahrplans noch »Enthusiasmus«, »Entschlossenheit« und »Selbstaufopferung«, um die Bevölkerung zur aktiven Teilnahme anzuspornen, bestimmten seit seinem Ende die Begriffe »Dankbarkeit« und »Triumph« den Diskurs. Die Medien rühmten Stalin, die Partei und den Staat für die bereitgestellten Güter und Leistungen und riefen das Volk im Gegenzug auf, sich hierfür dankbar und erkenntlich zu zeigen.3 Catriona Kelly hat den 1936 lancierten Kindheitskult als ambivalente Erscheinung bewertet. Einerseits galt die glückliche Kindheit als unantastbar und stand unter besonderem Schutz. Andererseits zeichnete sich der staatliche Umgang mit Kindern und Jugendlichen seit dem Beginn der 1930er Jahre durch zunehmende Strenge, Disziplin und Autorität aus. Formen kindlicher 3 Brooks, Jeffrey: Thank You, Comrade Stalin! Soviet Public Culture from Revolution to Cold War. Princeton, NJ 2000, xiv–xvi, 83 f.

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Selbstverwaltung und -bestimmung, die in den 1920er Jahren in Kindergärten, Schulen und Waisenhäusern ebenso wie in Arbeitshäusern und Arbeitskommunen erprobt worden waren, fanden keine Anwendung mehr.4 Obschon Kinder und Jugendliche zeit des Bestehens der Sowjetunion stets in mehr oder minder starkem Maße als Hoffnungsträger und künftige Erbauer des Sozialismus galten, erschienen sie seit Anfang der 1930er Jahre vielmehr als Begünstigte und Bittsteller, die vom Staat ebenso belohnt wie bestraft werden konnten. Kelly zufolge manifestierte sich dieser Umstand in der Figur Stalins, der als »ultimate embodiment and facilitator of both discipline and happiness« fungierte.5 Das Erfahren und Genießen von Glück setzte Mühen und Anstrengungen voraus. Dem sowjetischen Verständnis nach existierte Glück, wie Kelly demonstriert hat, nicht per se, sondern musste erarbeitet und verdient werden – eine Auffassung, die ihren Ursprung im Denken russischer Radikaler des 19. Jahrhunderts6 hat und Mitte der 1930er Jahre zu einer lebensbestimmenden Maxime geriet. Glück war damit nichts Alltägliches, sondern etwas Außergewöhnliches, das besonderen Anlässen wie Urlauben oder Feiertagen7 vorbehalten blieb.8 Die in der Einleitung erwähnten Pioniere, die als Auszeichnung für ihre vollbrachten Taten nach Artek fahren durften, sind exemplarische Vertreter dieser Leitlinie. Dieses Kapitel nimmt den ambivalenten Umgang des sowjetischen Staates mit seinen Kindern und Jugendlichen in den Blick und untersucht anhand des Pionierlagers Artek und der Archangelsker Arbeitskolonie seine konkreten Ausprägungen. Es fokussiert sich auf die vom Komsomol und NKVD in Moskau vorgegebenen Maßnahmen zur Disziplinierung und Erziehung und analysiert, inwieweit sie vor Ort Verwirklichung erfahren haben. Dabei nimmt es 4 Kelly, Children’s World, 93–96, 104; Bernstein, Raised under Stalin, 41–45. Siehe hierzu außerdem einen Aufsatz von E. Thomas Ewing, in dem er deutlich macht, dass der Beschluss des CK der VKP(b) vom 4. Juli 1936 Über die pädologischen Perversionen im System des Narkompros eine Stärkung der Positionen sowjetischer Lehrer nach sich zog, wodurch die Schulen des Landes in autoritäre Einrichtungen retransformiert wurden. Ewing, E. Thomas: Restoring Teachers to Their Rights: Soviet Education and the 1936 Denunciation of Pedology. In: History of Education Quarterly 41/4 (2001), 471–493. 5 Kelly, Children’s World, 105. 6 Laut Catriona Kelly geht die Vorstellung von Glück als rationaler Größe, die geschaffen werden kann, auf Nikolaj Černyševskijs (1828–1889) Roman Was tun? (Čto delat’?) zurück. Damit hatte Černyševskij dem literarischen Leitmotiv seiner Zeit eine Absage erteilt. Grundsätzlich zeichnete sich die russische Literatur des 19. Jahrhunderts nämlich durch eine fatalistische Akzeptanz von Unglück und Leid aus. Glück spielte eine untergeordnete Rolle, galt als schwer fassbare und zu kontrollierende Emotion, die gottgegeben und nicht von Dauer war. Dies., A Joyful Soviet Childhood: Licensed Happiness for Little Ones, 3 f. 7 Zur sowjetischen Fest- und Feiertagskultur siehe Petrone, Karen: Life Has Become More Joyous, Comrades. Celebrations in the Time of Stalin. Bloomington, IN 2000 sowie Rolf, Malte: Das sowjetische Massenfest. Hamburg 2006. 8 Kelly, A Joyful Soviet Childhood: Licensed Happiness for Little Ones, 3–5.

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die Faktoren Zeit, Raum und Mensch in den Blick und fragt, welchen Einfluss sie auf die Umsetzung der Vorgaben und damit auf das Funktionieren der beiden Institutionen ausübten. Um Entwicklungen, Brüche und Kontinuitäten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede sichtbar machen zu können, erstrecken sich die Ausführungen auf den Zeitraum zwischen 1925 und 1960. Wie das Kapitel im Folgenden demonstriert, standen beide Einrichtungen formal im Zeitgeist der 1920er und frühen 1930er Jahre. Die Ideen der Pädologie sowie von Keržencev und Gastev besaßen derart große Wirkmächtigkeit und Resilienz, dass sie – unabhängig ihrer Liquidierung – sowohl das Pionierlager Artek als auch die Archangelsker Arbeitskolonie über Jahrzehnte hinweg prägten. Faktisch fanden sie aber oft keine praktische Anwendung. Schuld war das Zusammenwirken der Faktoren Zeit, Raum und Mensch. Die periphere Lage der beiden Institutionen erschwerte ihre Versorgung sowohl mit materiellen als auch personellen Ressourcen. Das System »totale Institution« mag in stabilen Zeiten funktioniert haben; in Zeiten von Kriegen und Krisen dagegen fiel es zusammen wie ein Kartenhaus. In der Folge sahen sich das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie mit gravierenden Versorgungsschwierigkeiten, mit Personalfluktuation und Personalmangel konfrontiert. Die daraus resultierende fehlende Kontrolle führte zur Herausbildung alternativer beziehungsweise informeller Hierarchien und Strukturen. Diese wiederum verwandelten die beiden Institutionen in Räume, in denen Günstlings- und Misswirtschaft, Gewalt und Repression auf der Tagesordnung standen. Von »glücklicher Kindheit« konnte keine Rede sein. Vor allem in der Archangelsker Arbeitskolonie war das Gegenteil der Fall, denn anstelle von (Um-)Erziehung trug sie vielmehr zur »Unerziehung« der Kinder und Jugendlichen bei. Anders ausgedrückt: Wer vorher noch kein Verbrecher war, hatte »beste« Aussichten, hier einer zu werden.

1. Ortsgeschichten 1.1

Hoffnungen und Sorgen an der Peripherie

Sowohl Pionierlager als auch Arbeitskolonien entstanden bevorzugt an abgelegenen Orten oder zumindest außerhalb größerer urbaner Zentren. Im Falle ersterer Einrichtungen hing dies mit dem desolaten Erscheinungsbild sowjetischer Städte und Ballungszentren zusammen. So war die Gründung Arteks eine Reaktion auf deren ungesunde Lebensbedingungen. Negative Auswirkungen auf die physische und psychische Verfasstheit der Bevölkerung zeitigte hier vor allem der Mangel an städtischem Wohnraum, der zur Folge hatte, dass die Menschen nicht nur unter äußerst beengten, sondern © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109//9783666310942 | CC BY-NC-ND 4.0

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auch unter katastrophalen hygienischen Verhältnissen zu leben gezwungen waren. 1923 kamen, gesamtsowjetisch gesehen, auf einen Arbeiter gerade einmal zwei Quadratmeter Wohnfläche. Der erste Fünfjahrplan sollte zwar Abhilfe schaffen, doch konnte das Wohnbauprogramm nicht mit der rasanten Industrialisierung und Urbanisierung Schritt halten. Noch 1937 standen weniger als vier Quadratmeter pro Kopf zur Verfügung. In neu gegründeten Industriestädten wie Magnitogorsk, das im Zuge des ersten Fünfjahrplans im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Boden gestampft worden war, bot sich ein ungleich gravierenderes Bild. In den Jahren 1937 und 1938 hausten hier 50 Prozent der Arbeiter in Baracken und weitere 25 Prozent in Erdhütten, da sämtliche finanziellen Mittel in den Bau von Fabrikanlagen flossen. Nicht nur waren die Menschen dort, wo Chemie-, Montan- und Schwerindustrie das Bild prägten, permanent den giftigen Emissionen der Fabrikschlote und anderen Umweltverschmutzungen ausgesetzt. Da es den meisten Städten auch an Abwasserleitungen, sauberem Trinkwasser und Seife fehlte, konnte sich Ungeziefer mit Leichtigkeit vermehren, was wiederum den Ausbruch von Infektionskrankheiten wie Typhus begünstigte.9 Angesichts dieser Voraussetzungen sollte das Pionierlager Artek Arbeiterkindern die Möglichkeit bieten, der schädlichen Umgebung, in der sie aufwuchsen, wenigstens für kurze Zeit zu entfliehen. Zinovij Solov’ëv ­(1878–1928)10, 9 Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, 280, 417, 516 f.; Kotkin, Magnetic Mountain, 111, 116–119, 121, 136. 10 Zinovij Solov’ëv war als Sohn eines Vermessungsingenieurs in Grodno geboren worden, wuchs aber in Simbirsk (heute: Ul’janovsk) auf, wo er dasselbe Gymnasium besuchte, an dem auch Vladimir Lenin seine Schullaufbahn bestritten hatte. Nachdem er hier mit marxistischer Literatur in Berührung gekommen war, trat er 1898 der SozialDemokratischen Arbeiterpartei Russlands bei. Er studierte an der Universität von Kasan Medizin, wurde aufgrund seiner revolutionären Tätigkeiten allerdings exmatrikuliert. In der Folge war er aber dennoch als Arzt tätig. Während des Russisch-Japanischen Krieges 1904/05 schloss er sich der ROKK an. Danach arbeitete er als Sanitätsarzt im Gubernium Simbirsk und leitete mit Lenins jüngerem Bruder Dmitrij Ul’janov eine sozialdemokratische Organisation. 1906 zog er ins Gubernium Saratov um. Aufgrund seiner Aktivitäten als Revolutionär wurde er zu einer Gefängnisstrafe mit anschließender Verbannung im Gubernium Vologda verurteilt. 1912 siedelte er nach Moskau über. 1918 wurde er zum Leiter des medizinischen Teils und zum Mitglied des Kollegiums des NKVD ernannt. Zudem wirkte er am Aufbau des Narkomzdrav mit und war bis zu seinem Tod als Semaškos Stellvertreter tätig. Seit 1919 fungierte er auch als Vorsitzender des CK der ROKK und wurde 1921 in der Hungerhilfe aktiv. Ab 1923 hatte er als Professor für Sozialhygiene den gleichnamigen Lehrstuhl am II . Moskauer Medizinischen Institut inne. Im Rahmen dieser Funktion trat Solov’ëv als einer der führenden Unterstützer des Kampfes für Sauberkeit und Hygiene in Erscheinung. Außerdem beteiligte er sich an den von der ROKK und dem Narkompros initiierten Maßnahmen zur Bekämpfung sogenannter »sozialer Krankheiten«, darunter Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten. Tjuljandin, Z. P.  Solov’ëv  – predsedatel’ Rossijskogo Obščestva Krasnogo Kresta (1876–1928 gg.), 6 f., 9, 14–18.

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der das Amt des Vorsitzenden der ROKK bekleidete und gemeinhin als Initiator des Lagers angesehen wird, war während eines Spaziergangs entlang der Küste des Schwarzen Meeres im Herbst 1924 auf einen abgeschiedenen Ort namens Artek11 aufmerksam geworden. Beeindruckt von der traumhaften Landschaft sowie der Ruhe und Stille der Umgebung gelangte er zu der Überzeugung, dass hier ein Pionierlager-Sanatorium entstehen müsse, in dem die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen mit Hilfe der heilsamen Kräfte der Natur – Luft, Sonne und Wasser – gestärkt werden würde.12 Der von ihm auserkorene Landstrich befand sich etwa vier Kilometer von der kleinen Siedlung Hurzuf und etwa 35 Kilometer von Jalta entfernt.13 Dass er sich für die Krim als Standort des künftigen Pionierlagers entschieden hat, kam nicht von ungefähr. Bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren in Evpatorija, Sewastopol, Alupka, Feodosija und Jalta erste Kurbäder entstanden, welche die russländische Ober- und Mittelschicht regelmäßig zur Sommerfrische aufgesucht hat.14 Einfach gestaltete sich die Errichtung Arteks jedoch nicht. Ein Teil des Territoriums, auf dem das Lager entstehen sollte, hatte im 19. Jahrhundert einem vermögenden Gutsherrn gehört und war zum Weinanbau genutzt worden.15 Infolge der nach der Oktoberrevolution durchgeführten Enteignungen wurde es in den neu geschaffenen Krymvintrest eingegliedert, ein Trust, der für sämtliche Weinanbaugebiete der Halbinsel verantwortlich zeichnete.16 Wie die Archivquellen hinsichtlich des Gründungsprozesses Arteks offenbaren, bestand zwischen den politischen Eliten des Zentrums und der lokalen Bevölkerung auf der Krim ein spannungsgeladenes Interessengeflecht.17 11 Bezüglich der Etymologie des Wortes Artek wird gemeinhin angenommen, dass es von dem Griechischen ορτύκι abgeleitet ist, was zu Deutsch Wachtel bedeutet. Auf ihrem Weg nach Süden sollen die Zugvögel den Ort seit jeher als Rastplatz aufgesucht haben. Kondrašenko, Artek, 7; Furin, Stanislav / Rybinskij, Evgenij: Das Pionierlager Artek. Moskau 1975, 3; Stribuk, V. / Murašov, A. (Hg.): Artek: Ot A do Ja. Simferopol’ 2008, 5. 12 Solov’ëv, Zinovij: Krym  – pioneram! In: CK Obščestvo Krasnogo Kresta RSFSR (Hg.): ­Lager’ v Arteke. Moskau 1926, 4 f. 13 Šišmarëv, Fëdor / Zak, M.: Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke. In: Šišmarëv, Fëdor /  Zak, M. (Hg.): Lager’ v Arteke. Moskau 1927, 9. 14 Noack, Christian: Tourismus in Russland und der UdSSR als Gegenstand historischer Forschung. Ein Werkstattbericht. In: Archiv für Sozialgeschichte 45 (2005), 477 f.; ­McReynolds, Louise: Russia at Play. Leisure Activities at the End of the Tsarist Era. ­Ithaca, NY 2003, 165, 171–176. 15 Kotov, A.: Artek: Populjarnyj očerk. Simferopol’ 1950, 6. 16 GARF, F. R3341, Op. 6, D. 218, L. 110. 17 In der historischen Forschung zum revolutionären Russland ist inzwischen vermehrt auf diese Diskrepanz hingewiesen und demonstriert worden, dass die Interessen der lokalen Bevölkerung, vor allem der Bauern und Kosaken, den Vorstellungen der bolschewistischen Eliten des Zentrums in vielerlei Hinsicht zuwiderliefen. Siehe hierzu Figes, Orlando: Peasant Russia, Civil War. The Volga Countryside in Revolution (1917–1921).

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Zinovij Solov’ëv und seine Mitstreiter der ROKK mussten erkennen, dass ihre Vorstellungen nur schwer mit denen der Mitarbeiter des Krymvintrest kompatibel waren. Da letztere die Befürchtung hegten, dass ihre Weinstöcke von den Kindern beschädigt werden könnten, bedurfte es mehrerer Briefwechsel zwischen der ROKK , dem Sovnarkom sowie dem Volkskommissariat für Landwirtschaft (Narodnyj komissariat zemledelija – Narkomzem), bis der Krymvintrest sich einverstanden erklärte, einige seiner Flächen und Gebäude dem künftigen Lager zu überlassen. Die Vereinbarung stellte allerdings einen Kompromiss dar. Zum einen sah sie vor, dass die ROKK Miete für die vom Pionierlager beanspruchten Flächen und Gebäude zahlte. Zum anderen beschränkte sie sich auf eine Dauer von drei Jahren. Welcher Betrag tatsächlich aufgebracht werden musste, geht aus den Akten nicht hervor. Ein Mitarbeiter der ROKK beklagte jedoch den Zustand, wonach nur der Höchstbietende das Areal zur Verfügung gestellt bekäme.18 Die Verhandlungen mit dem Krymvintrest können zwar lediglich als Vorbedingung für die Entstehung Arteks gelten, da bis zur Ankunft der ersten Besucher im Juni 1925 noch Zelte, Liegen, Decken, Gegenstände des alltäglichen Bedarfs, Lebensmittel sowie Medikamente und medizinische Gerätschaften herbeigeschafft werden mussten.19 Da die ROKK aber bereits zwei Kindersanatorien auf der Krim unterhielt – das eine in Evpatorija, das andere in Aj-Danil’ (heute: Danylivka)20 –, besaß sie inzwischen Erfahrung in der Organisation entsprechender Einrichtungen. Aufgrund seiner Nähe zu Artek konnte das Sanatorium in Aj-Danil’ zudem einige hauswirtschaftliche Aufgaben für das Lager übernehmen.21 Demgegenüber boten sich an dem für die Archangelsker Arbeitskolonie auserkorenen Standort gänzlich andere Voraussetzungen. 1934 auf einer Insel im Delta der Nördlichen Dwina an den Ausläufern des Weißen Meeres errichtet, befand sie sich etwa 30 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums von Archangelsk. Wenngleich diese Entfernung annähernd der zwischen Artek und Jalta entsprach, verbargen sich hinter ihr vollkommen andere Dimensionen und Herausforderungen. Im flächenmäßig größten Staat der Welt war

18 19 20 21

Oxford 1989, insb. 70–153; Holquist, Peter: Making War, Forging Revolution. Russia’s Continuum of Crisis, 1914–1921. Cambridge, MA 2002; Badcock, Sarah: Politics and the People in Revolutionary Russia. A Provincial History. Cambridge 2007; Retish, Aaron B.: Russia’s Peasants in Revolution and Civil War. Citizenship, Identity, and the Creation of the Soviet State, 1914–1922. Cambridge 2008 sowie Baker, Mark R.: Peasants, Power, and Place. Revolution in the Villages of Kharkiv Province, 1914–1921. Cambridge, MA 2016. GARF, F. R3341, Op. 6, D. 218, Ll. 90–121. Ebd., Ll. 98–102, 265; Šišmarëv, Fëdor: Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke. In: CK Obščestvo Krasnogo Kresta RSFSR (Hg.): Lager’ v Arteke. Moskau 1926, 15–18. GARF, F. R9501, Op. 1, D. 7, L. 8. Da Artek zunächst über keine eigene Wäscherei verfügte, nutzte es die des Kindersanatoriums in Aj-Danil’. Šišmarëv, Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 17.

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Peripherie ein dehnbarer Begriff, der unterschiedlichste Implikationen bereithielt. Eine Gegend musste sich nicht an der sibirischen Kolyma, tausende Kilometer östlich von Moskau, befinden, um unwirtlich und unzugänglich zu sein. Auch im geografisch zu Europa zählenden Norden des Landes, zu dem das Gebiet um Archangelsk gehört, existierten nahezu gänzlich isolierte Landstriche. So konnte die Versorgung der Kolonie im Sommer lediglich per Boot und Schiff über den Wasserweg erfolgen. Im Winter, wenn die Dwina zugefroren war, blieb nur der Landweg, der mit motorisierten Verkehrsmitteln oder mit Lasttieren bestritten werden musste. Problematisch waren vor allem die jahreszeitlichen Übergänge, wenn Regen und Schneeschmelze den ohnehin sumpfigen Boden zusätzlich aufweichten, Wege und Straßen unpassierbar machten, zeitgleich aber noch kein Verkehr zu Wasser möglich war – Umstände, welche die Versorgung der Kolonie erheblich beeinträchtigten.22 Historisch betrachtet war das Gelände, auf dem die Arbeitskolonie entstand, zwar keineswegs unbekannt. Seine besten Tage hatte es jedoch längst hinter sich. Zu seiner größten Bedeutung ist es zu Beginn des 18. Jahrhunderts gelangt, nachdem Pëtr I. unter dem Eindruck des Großen Nordischen Krieges hier den Bau einer Festung, der Novodvinskaja krepost’, befohlen hatte, die der militärischen Verteidigung des Landes dienen sollte.23 Damals besaß Archangelsk24 nicht nur den ersten, sondern auch den einzig nennenswerten Hafen des Landes,25 wo sich seit 1693 zugleich die auf Anordnung Pëtrs I. geschaffenen Werften zum Bau von Kriegs- und Handelsschiffen befanden.26 Mit der Gründung Sankt Petersburgs und dem damit verbundenen Zugang 22 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 9, Ll. 83, 97; GARF, F. R9412, Op. 1, D. 862, L. 15; Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.), 60. 23 Popova, L.: O gradostroitel’noj istorii Archangelska v XVIII veke. In: Bespjatych, Ju. (Hg.): Archangel’sk v XVIII veke. Sankt Petersburg 1997, 8; Gostev, Igor’: Archangel’skaja Novodvinskaja krepost’: Kratkaja istorija. Archangelsk 2012, 2 f. Igor’ Gostev ist ein Archangelsker Lokalhistoriker, der am dortigen Museum für Landeskunde beschäftigt ist, ein besonderes Interesse an der Festung hegt und sich für ihren Erhalt einsetzt. 24 Die Stadt Archangelsk war bereits zwischen 1583 und 1584 gegründet worden. Sie verfügte über eine Festung und einen Hafen und galt als wichtiges Handelszentrum im europäischen Norden des Zarentums Russland. Popova, O gradostroitel’noj istorii Archan­ gelska v XVIII veke, 7. Archangelsk, abgeleitet von archangel (Erzengel), war zunächst nur die Bezeichnung des gleichnamigen Klosters, das hier in den 1580er Jahren errichtet wurde. Die Stadt selbst trug ursprünglich den Namen Novocholmogory, weil russische Kaufleute aus einer nahegelegenen Ortschaft namens Cholmogory sich in der Nähe des neuen Klosters niedergelassen haben. Im Laufe der Zeit setzte sich jedoch Archangelsk als Name der Stadt durch. Veluvenkamp, Jan Willem: Archangel’sk. Niderlandskie predprinimateli v Rossii. 1550–1785. Moskau 2006, 36 f. 25 Nach dem Tod Ivan IV. 1584 verfügte sein Nachfolger Fëdor I. ein Jahr später, dass der Hafen in Archangelsk der einzige im Russischen Norden sein sollte, wo ausländische Kaufleute russische Waren erwerben konnten. Ebd., 36. 26 Popova, O gradostroitel’noj istorii Archangelska v XVIII veke, 8.

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zur Ostsee verloren allerdings sowohl Archangelsk als auch die Festung an Einfluss.27 1865 ging letztere in den Besitz einer Eparchie über, die jedoch wenig zu ihrem Erhalt beitrug, sie teilweise sogar als Steinbruch benutzte, wodurch sie zusehends verkam. Während des Ersten Weltkrieges und des sich anschließenden Bürgerkrieges wurde die Festung als Munitionslager genutzt, geriet danach aber kurzzeitig in Vergessenheit. 1930 gründete das NKVD auf ihrem Territorium einen Spezialbetrieb namens Konvejer (Fließband), in dem erwachsene Häftlinge, sogenannte specpereselency (Sonderumsiedler), Holz verarbeiteten.28 Zur Errichtung des Betriebes wurden sämtliche ältere Bauten innerhalb der Festung demontiert, um aus ihnen Werkanlagen und Wohnheime für die Inhaftierten zu errichten.29 Ende März 1931 beherbergte der Betrieb bereits 549 Gefangene.30 Vier Jahre später ging hieraus besagte Einrichtung für minderjährige Gesetzesbrecher hervor.31 Dass die Arbeitskolonie an einem derart unwirtlichen und schlecht zugänglichen Ort gegründet worden war, kann als Konsequenz des staatlichen Unvermögens gelten, die sozialen Missstände des urbanen Raumes zu beseitigen. So hatte die Unterbringung von besprizorniki in städtischen oder stadtnahen Arbeitshäusern und -kommunen keine befriedigenden Ergebnisse erzielt, da die Zöglinge durch die exponierte Lage der Einrichtungen immer wieder wegliefen. In den urbanen Zentren angekommen, fielen die Ausreißer größtenteils in alte Gewohnheiten zurück und gerieten abermals in die Fänge krimineller Machenschaften. Von ihrem Verhalten ging die Gefahr der negativen Einflussnahme auf Altersgenossen aus, die bisher unauffällig geblieben und noch nicht straffällig geworden waren. Mit der Errichtung von Arbeitskolonien in abgelegenen Gegenden verband sich die Hoffnung, dass die Zöglinge gar nicht erst in die Versuchung des Weglaufens kommen und endlich stringente Umerziehungsmaßnahmen möglich werden würden.32

27 Stökl / Alexander, Russische Geschichte, 340, 342, 382. 28 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 9, Ll. 88 f., 104; Gostev, Igor’: Istorija razrušenija Novodvinskoj kreposti. In: Archangel’skaja starina 3 (2010), 25. Bezüglich des Gründungsjahres des Betriebes liegen unterschiedliche Angaben vor. Gostev und die Archivquellen nennen 1930. Ebd., 25; GARF, F. R9412, Op. 1, D. 8, L. 196. Bubličenko dagegen gibt das Jahr 1931 an. Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.), 59. Obwohl der Betrieb zeit seines Bestehens nie über ein Fließband verfügte, macht die Bezeichnung deutlich, welche Dimensionen Taylorismus und Fordismus in der Sowjetunion angenommen hatten. Gostev, Istorija razrušenija Novodvinskoj kreposti, 25.  29 Ebd. 30 Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na ­Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.), 60. 31 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 8, L. 196. 32 Shearer, Policing Stalin’s Socialism, 223.

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Vladimir Bubličenko hat noch einen weiteren Aspekt in Betracht gezogen. Ausschlaggebend war ihm zufolge die Nähe zu bereits existierenden Strafund Arbeitslagern des Gulag, sodass Zöglinge ab einem Alter von 16 Jahren relativ schnell und leicht in die entsprechenden Einrichtungen für Erwachsene überführt werden konnten.33 Tatsächlich wurden 1944 aus den Einrichtungen des NKVD der Oblast Archangelsk insgesamt 250 Zöglinge, die 1928 geboren worden waren, in eine solche Institution überstellt.34 Aufgrund der mehr als 2.700 Kilometer langen Distanz, welche die Archangelsker Arbeitskolonie und das Pionierlager Artek, Weißes und Schwarzes Meer voneinander trennte, zeichneten sich die Standorte beider Institutionen vor allem durch eklatante klimatische Unterschiede aus. Während die Region um Archangelsk zur subarktischen Zone gehört, lange kalte Winter und kurze kühle Sommer aufweist, ist die Südküste der Krim mit ihren milden Wintern und heißen trockenen Sommern subtropisch geprägt, was den Anbau von Südfrüchten und Weinstöcken erlaubt. Zwar lässt sich mangels Archivalien, die Aufschluss über den Gründungsvorgang der Archangelsker Arbeitskolonie geben könnten, kein hinreichender Vergleich bezüglich der Ausgangsbedingungen beider Institutionen anstellen. Doch besaß Artek deutlich vorteilhaftere klimatische und infrastrukturelle Voraussetzungen. Überdies sollte das Pionierlager langfristig vom Ausbau des Tourismus auf der Halbinsel Krim profitieren. Dieser war bereits 1920 beschlossen worden, als Lenins Dekret Über die Verwendung der Krim für die Erholung der Werktätigen (Ob ispol’zovanii Kryma dlja lečenija trudjaščichsja)  die seit vorrevolutionärer Zeit existierenden Sommerhäuser, Villen und Paläste in Sanatorien und Heilanstalten für Arbeiter und Bauern umgewandelt hatte.35 Systematische Erweiterungen in diesem Sektor setzten mit dem zweiten Fünfjahrplan (1933–1937) ein.36 Hierzu gehörte nicht nur die Errichtung neuer Kur- und Ferienanlagen, sondern auch der Bau von Straßen. 33 Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na ­Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.), 62; GARF, F. R9412, Op. 1, D. 4, L. 3. 34 Ebd., L. 114. 35 Sanatorien und Erholungsheime der Sowjetgewerkschaften. Moskau 1953, 10. 36 Koenker, Diane P.: Club Red. Vacation Travel and the Soviet Dream. Ithaca, NY 2013, 17–19. Zu Beginn der 1920er Jahre hatte das Land noch mit den Auswirkungen des Bürgerkrieges und der Hungersnot zu kämpfen, sodass weder auf der Halbinsel Krim noch anderswo an einen umfangreichen Ausbau touristischer Angebote zu denken war. Erschwerend kam hinzu, dass die wenigen vorhandenen Strukturen infolge eines Erdbebens, das sich am 12. September 1927 auf der Krim ereignet hatte, in arge Mitleidenschaft gezogen wurden. Der Wiederaufbau der Sanatorien und Erholungsheime verzögerte sich mangels finanzieller Mittel und wurde im Zuge des ersten Fünfjahrplans, welcher dem Aufbau der Schwerindustrie absolute Priorität einräumte, vorerst hintangestellt. Raab, Nigel: All Shook Up. The Shifting Soviet Response to Catastrophes, 1917–1991. Montreal, Kingston, London, Chicago, IL 2017, 40 f., 44–46, 50.

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Zentrale Orte der Halbinsel Krim – Džankoj, Simferopol’, Sewasto­pol, Feodosija und Kerč – waren zwar ebenso wie die Stadt Archangelsk längst an das Eisenbahnnetz angeschlossen.37 Da sich aber weder das Lager noch die Kolonie in direkter Nähe zu einem Bahnhof befand, konnte ersteres angesichts der wachsenden Straßeninfrastruktur ungleich besser versorgt werden. Darüber hinaus erhielt Artek nach 1945 von der Hauptverwaltung für Kurorte und Sanatorien (Glavnoe upravlenie kurortov i sanatoriev – Glavkursanupr) Unterstützung, die es regelmäßig mit Gütern des alltäglichen Bedarfs belieferte.38 Die Archangelsker Arbeitskolonie dagegen verzeichnete zeit ihres Bestehens keine Verbesserung hinsichtlich ihrer Erreichbarkeit und Versorgung, obgleich den Verantwortlichen bekannt war, dass sich dieser Umstand nachteilig auf die Erziehungsarbeit sowie auf die physische und psychische Entwicklung der Zöglinge auswirkte.39 Da die Einrichtung auf der Insel im Delta der Nördlichen Dwina die einzige weit und breit war, besaßen Fragen des infrastrukturellen Ausbaus keine Priorität. 1.2

Vom Zeltlager zum Lagergiganten

Seine ersten Besucher empfing das Pionierlager Artek am 16. Juni 1925. Darunter befanden sich zehn Kinder und Jugendliche, die aus verschiedenen Gegenden der Halbinsel Krim stammten. Einen Tag später trafen weitere 70 Pioniere aus Moskau ein, die per Zug von der sowjetischen Hauptstadt nach Simferopol’ gereist und von dort per Bus ins Lager gebracht worden waren.40 Bestehend aus 47 Jungen und 33 Mädchen im Alter zwischen elf und 17 Jahren bildeten sie zusammen die allererste Pioniergruppe, die für etwa vier Wochen in Artek geweilt hat.41 Anfangs schliefen die jungen Gäste zu à 20 Personen und nach Geschlechtern getrennt in vier großen Zelten. Jeder Pionier besaß ein eigenes Bett mit Matratze, Kopfkissen und Bettwäsche. Zwischen den Betten befanden sich 37 Siehe hierzu eine Karte der russischen Eisenbahnen aus dem Jahr 1917, die in Schenk, Frithjof Benjamin: Russlands Fahrt in die Moderne. Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter. Stuttgart 2014 (Abb. 25, Einstecktasche) beigefügt ist. 38 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 3, L. 19. 39 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 9, Ll. 83, 97; GARF, F. R9412, Op. 1, D. 862, Ll. 10 f. 40 Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion sollte sich an der Anreise nach Artek nichts ändern. Die Pioniere stiegen in den nächst größeren Städten ihrer Heimatoblaste in den Zug, wo sie mit Altersgenossen zusammentrafen, die ebenfalls auf dem Weg ins Lager waren. Begleitet von einem Pionierleiter reisten sie in der Regel über Moskau auf die Krim, was je nach Entfernung mehrere Tage und Nächte in Anspruch nehmen konnte. In Simferopol’ übergaben die Pionierleiter sie ihren Arteker Kollegen, die sie mit Bussen ins Lager brachten und dort ihren jeweiligen Gruppen zuwiesen. 41 Šišmarëv, Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 24. 

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kleine Nachttische und Hocker. Außerdem erhielten die Kinder und Jugendlichen bei Ankunft ein Stück Seife, eine Zahnbürste und Zahnpasta, Handtücher sowie Oberbekleidung, die einmal pro Woche gewechselt wurde.42 Aus heutiger Perspektive mag die Ausstattung nichts Besonderes sein. Wenn man jedoch bedenkt, dass sowjetische Familien während des Kriegskommunismus und der Hungersnot Haushaltswäsche und Kleidung nahezu gänzlich gegen Lebensmittel eingetauscht hatten und Mitte der 1920er Jahre eben erst anfingen, sich neu einzurichten, war Artek geradezu luxuriös eingerichtet.43 In drei weiteren kleineren Zelten war das Personal, bestehend aus insgesamt 18 Personen, untergebracht. Sechs von ihnen zeichneten für den medizinisch-erzieherischen Teil verantwortlich, darunter zwei Pädologen, ein Medizinstudent und ein Sportlehrer. Die restlichen zwölf Personen waren für die organisatorischen Arbeiten im Lager zuständig, wozu die Küchenarbeit, die Wasserversorgung, die durch zwei Brunnen gewährleistet wurde, und andere technische Tätigkeiten gehörten. Ein viertes kleines Zelt diente als Waschraum. Zwei kleine Häuser, die die ROKK beim Krymvintrest mietete, beherbergten einen medizinischen Behandlungsraum, einen Klub, eine Bibliothek und eine Küche. Der Speisesaal dagegen befand sich in einem Zelt.44 1926 wurden die Kapazitäten Arteks von 80 auf 185 Personen pro Durchgang erhöht, sodass an der gesamten Saison bereits 875 Pioniere teilnehmen konnten.45 Ein Jahr später traf das Lager jedoch ein herber Schicksalsschlag. Archivquellen über die Geschichte Arteks erwähnen gemeinhin einen Sturm, der die Zelte zerstört habe.46 Allerdings dürfte das Erdbeben, das am 12. September 1927 die Halbinsel Krim erschütterte, von weitaus größerer Tragweite gewesen sein. Selbst wenn das Lager nur geringe Schäden erlitten haben mag, konnte es allein deshalb nicht fortbestehen, weil seine Zelte der notleidenden Bevölkerung von Hurzuf zur Verfügung gestellt worden waren.47 Für den Wiederaufbau Arteks führten Pioniere und Komsomolzen Spendensammelaktionen durch.48 Als schließlich noch das CK der ROKK eine Summe von 150.000 Rubeln bewilligte, wurde im Winter 1928 mit der Errichtung neuer Gebäude und der Elektrifizierung des Lagers begonnen. Obgleich sich hinsichtlich der Behausungen in der damaligen Literatur die Bezeichnung palatki 42 Ebd., 15 f., 18 f.; Šišmarëv, Krymskij pionerskij lager’ ROKK v Arteke, 13. 43 Scheide, Kinder, Küche, Kommunismus, 248. 44 Šišmarëv, Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 17 f.; ders., Krymskij pionerskij lager’ ROKK v Arteke, 13 f. 45 GARF, F. R9501, Op. 1, D. 15, L. 3. 46 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 133, L. 3. 47 Šišmarëv, Fëdor: Zemletrjasenie v Krymu i ROKK (Gurzuf). In: Bjulleten’ CK O-va KK RSFSR 3/10 (1927), 22–24; Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 217. 48 Božkov: Byt’ Arteku. In: Na Krasno-Krestnom Postu 4/4 (1928), 30 f.; Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 218.

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(Zelte) findet,49 handelte es sich um kleine pavillonähnliche Holzhütten, die dem damaligen Verständnis nach erdbebensicherer und ganzjährig nutzbar sein sollten.50 Dass Zelte in Artek nicht mehr in Frage kamen, hatte mehrere Gründe. Zwar waren Zeltlager anfangs nicht nur hier, sondern vielerorts initiiert worden, da sie eine günstige und leicht zu errichtende Alternative darstellten. Seit jeher hatten sich allerdings kritische Stimmen zu Wort gemeldet, denen zum einen ihr »indianisches Wesen« ein Dorn im Auge war, weil es die Pioniere ihrer Auffassung nach vom Leben der Arbeiter- und Bauernklasse entfremdete. Zum anderen konnte die Nächtigung in Zelten unter ungünstigen Wetterbedingungen die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen gefährden und damit dem eigentlichen Ziel des Aufenthalts im Pionierlager entgegenwirken.51 Obendrein waren die 1928 eingeleiteten Baumaßnahmen in Artek nicht nur auf eine bloße Instandsetzung, sondern auf eine langfristige Expansion des Lagers ausgelegt. Um es zumindest teilweise ganzjährig betreiben zu können, wurde ab Frühjahr 1929 das sogenannte obere Lager (verchnij lager’) errichtet. Gleichzeitig entstanden eine zentrale medizinische Einrichtung, Wohnhäuser für die Mitarbeiter, ein Klub und eine Wäscherei. Im Jahr 1930 besaß Artek bereits zwei Teillager: ein unteres (nižnij lager’) direkt in Küsten­nähe und ein oberes Lager, am Fuße der Berge gelegen, das ganzjährig geöffnet war.52 Obgleich der Sovnarkom der RSFSR 1935 einen Beschluss zur Planung und zum Bau eines »Groß-Artek« gefasst und den Architekten Ivan Leonidov (1902–1959) mit der Projektierung betraut hatte, wurde das Vorhaben nicht realisiert.53 Im Herbst 1936 war allerdings das unmittelbar neben Artek gelegene Sanatorium für Erwachsene, das die tatarische Bezeichnung Suuk-Su (kaltes Wasser) trug, in das Pionierlager eingegliedert worden. Artek hat damit insgesamt 33 neue Gebäudetrakte erhalten und eine Fläche von 60 Hektar hinzugewonnen. Fortan konnten zeitgleich 850 Kinder und Jugendliche untergebracht werden, davon 200 im oberen und 250 im unteren Lager sowie 400 in Suuk-Su.54 Veränderungen erfuhr Artek 1937 auch insofern, als es der

49 L’vovskij, I.: Novyj Artek. In: Na Krasno-Krestnom Postu 4/6 (1928), 25 f.; Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 219. 50 L’vovskij, Novyj Artek, 25; RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 133, L. 3. 51 Smoljarov, Ja / Kremlev, N.: Lager’ junych pionerov. Moskau, Leningrad 1925, 9 f., 12 f.; Bočin, L.: Za »lageri-giganty« (V porjadke obsuždenija). In: Vožatyj 7/8 (1930), 27–32. 52 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 133, L. 4; Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 219. 53 Winkelmann, Arne: Das Pionierlager Artek. Realität und Utopie in der sowjetischen Architektur der sechziger Jahre. Weimar 2003. URL : https://e-pub.uni-weimar.de/opus4/ frontdoor/index/index/docId/86 (am 12.2.2017), 35 f. 54 Kotov, V lagere sčastlivych, 82 f.

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Zuständigkeit des CK der ROKK entzogen und dem Narkomzdrav der UdSSR unterstellt wurde.55 Der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 machte weitere Expansionspläne vorerst zunichte und führte zur Evakuierung des Lagers. Nach mehreren Zwischenstopps, unter anderem in der Nähe von Moskau, Stalingrad, Kasan, Ufa und Bijsk, fand Artek im September 1942 seinen vorübergehenden Platz im Kurort Belokuricha im Altaigebirge.56 Anfang August 1944 kehrte das Lager an seinen ursprünglichen Platz auf der Krim zurück. Obgleich sich Artek angesichts der Zerstörungen durch die Wehrmacht noch in katastrophalem Zustand befand und der Wiederaufbau Jahre in Anspruch nehmen sollte, unterhielt es bereits drei Teillager mit einer Gesamtkapazität von 500 Plätzen, deren Funktionstüchtigkeit von 322 Mitarbeitern gewährleistetet wurde. Im Lager Suuk-Su konnten 250 Mädchen, im oberen Lager 175 Jungen und in einem weiteren Lager namens 15. Datscha 75 kleinere Kinder aufgenommen werden.57 Während Artek anfangs eine Gruppe von 500 Pionieren empfing, die ausschließlich von der Halbinsel Krim stammten, trugen die darauffolgenden Durchgänge wieder unionsweiten Charakter.58 55 Stribuk / Murašov, Artek: Ot A do Ja, 15. 56 Über das evakuierte Artek existieren nur wenige Informationen. Eine wichtige Quelle sind die Erinnerungen von Nina Chrabrova, einer jungen Pionierleiterin aus Estland, die unmittelbar vor Kriegsausbruch 1941 mit einer Gruppe estnischer Pioniere nach Artek gefahren war und ihre Delegation bis nach Belokuricha begleitet hatte. Einige der evakuierten Pioniere verblieben fast bis zum Kriegsende im Altaigebirge, gingen dort zur Schule, unterstützten die Dorfbewohner bei anfallenden Arbeiten und leisteten so einen Beitrag zur Kriegswirtschaft. Andere wurden, sobald sie ein bestimmtes Alter erreicht hatten, zu verschiedenen Arbeits- und Kriegsdiensten eingezogen. Erst im Januar 1945 verließ Nina Chrabrova mit den letzten estnischen Pionieren Belokuricha und kam etwa einen Monat später in der estnischen Stadt Narva an. Chrabrova, Moj Artek, 3 f., 45–48, 53–55, 57, 71, 73, 97, 104, 106, 108. Wie Evelin Eichler dargelegt hat, reisten aber auch Pioniere von außerhalb zur Erholung nach Belokuricha. Im gesamten Jahr 1943 hat das Lager 950 sibirische Kinder und Jugendliche empfangen. Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 256. 57 Dass komplette Teillager entweder nur Jungen oder nur Mädchen vorbehalten waren und damit auch sämtliche Aktivitäten nach Geschlechtern getrennt stattfanden, ist eine gesamtsowjetische Erscheinung gewesen, die vielmehr Schulen denn Pionierlager geprägt hat. Einst als fortschrittliche Errungenschaft der Revolution gefeiert, ist die gemeinsame Beschulung von Jungen und Mädchen 1943 beendet worden, da Geschlechterunterschiede unter dem Eindruck des Krieges wieder stärker in den Fokus gerückt waren. So glaubten die Parteiführer, dass Jungen besser auf ihre künftige Rolle als kämpferischer Soldat und Mädchen auf ihre als Mutter und Erzieherin vorbereitet werden könnten, wenn die Lehrer sie getrennt unterrichteten. Erst 1954 wurde diese Politik rückgängig gemacht und Jungen und Mädchen wieder gemeinsam beschult. Ewing, E.  Thomas: Separate Schools. Gender, Policy, and Practice in Postwar Soviet Education. DeKalb, IL 2010, 3. 58 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 5, L. 1; RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 6, Ll. 11–13.

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Zwar erfuhr das Lager in der unmittelbaren Nachkriegszeit erste Restrukturierungen und Neuerungen. Die Villa Suuk-Su diente beispielsweise seit Ende der 1940er Jahre als Pionierpalast und im oberen Lager ist 1953/54 ein neuer Speisesaal entstanden.59 Tiefgreifende Reorganisationen setzten jedoch erst unter der Regierungszeit Nikita Chruščëvs (1894–1971) ein. Dass Artek vom 20. März 1956 bis 22. Mai 1958 dem Gesundheitsministerium (Ministerstvo zdravoochranenija  – Minzdrav) der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik unterstand, war wohl dem Umstand geschuldet, dass Chru­ščëv der Ukraine 1954 die Halbinsel Krim einverleibt hatte.60 Am 23. Mai 1958 wurde das Lager allerdings der Zuständigkeit des CK des Komsomol in Moskau übertragen, unter dessen Obhut es bis 1991 verblieb.61 Hatten sich Komsomol und Pionierorganisation bis zu diesem Zeitpunkt um politisch-ideologische Belange gekümmert, vor allem um erzieherische Inhalte und Personalfragen, waren sie nun auch für den Finanzhaushalt des Lagers verantwortlich.62 Das Gesundheitsministerium dagegen besaß allenfalls noch ein Mitspracherecht in medizinischen Angelegenheiten.63 Nicht zuletzt macht die Entscheidung deutlich, dass sich der Fokus Arteks verlagert hatte, nämlich weg von der Gesundheitsförderung hin zur politisch-ideologischen Erziehung. Diese Entwicklung ging mit der baulichen Neugestaltung des Lagers einher, die im Zeichen der von Chruščëv eingeleiteten Wende in Architektur und Bauwesen stand. Am 7. Dezember 1954 hatte er auf einer Unionskonferenz der Baufachleute die repräsentativen Gebäude des Stalinistischen Zuckerbäckerstils angeprangert und sie für ihren Monumentalismus sowie ihre übertriebenen Ornamente gerügt, die er als Ausdruck der Geltungs- und Verschwendungssucht der Architekten erachtete. Um der im Land vorherrschenden Wohnungsnot Abhilfe zu schaffen, forderte Chruščëv eine kostengünstigere und schnellere industrielle Bauweise.64 Die neuen Schlagworte lauteten »Standardisierung« und »Präfabrikation« und knüpften an die Entwürfe der

59 Winkelmann, Das Pionierlager Artek, 36 f. 60 CDAVO, F. 2, Op. 9, D. 5022, Ll. 29–36. Die Halbinsel Krim besaß von 1921 bis 1946 den Status einer Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR). Von 1944 bis 1954 stellte sie administrativ eine Oblast innerhalb der RSFSR dar. Jobst, Kerstin S.: Geschichte der Ukraine. Stuttgart 2010, 243 f. 61 RGASPI, F. M-1, Op. 3, D. 981, L. 10; RGASPI, F. M-1, Op. 3, D. 982, L. 83; Stribuk / Mura­ šov, Artek: Ot A do Ja, 15. 62 CDAVO, F. 2, Op. 9, D. 5022, Ll. 29–36. 63 RGASPI, F. M-1, Op. 3, D. 982, L. 83. 64 Siehe hierzu Chruščev, Nikita Sergeevič: Besser, billiger und schneller bauen. Rede auf der Unionskonferenz der Baufachleute der UdSSR in Moskau am 7. Dezember 1954 zu dem Thema »Über die Einführung industrieller Methoden im Bauwesen, die Verbesserung der Qualität und die Senkung der Selbstkosten der Bauarbeiten«. Berlin 1955.

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sowjetischen Architekten und Ingenieure des Konstruktivismus der 1920er und frühen 1930er Jahre an.65 1957 rief Chruščëv einen Architekturwettbewerb für das Pionierlager Artek aus, den Anatolij Poljanskij (1928–1993)66 für sich entscheiden konnte. Sein Entwurf entsprach dem Stil der Sowjetmoderne67 und basierte auf einem Baukastenprinzip mit vorgefertigten Stahlbetonelementen.68 Er orientierte sich an den sowjetischen Kommunehäusern der 1920er Jahre und war auf maximale Kollektivierung ausgelegt. Nachdem das CK des Komsomol Poljanskijs Projekt genehmigt hatte, entstanden zwischen 1959 und 1966 fünf neue Teil­ lager, die Artek ein völlig anderes Gesicht gaben: die Lager Meer (Morskoj), Küste (Pribrežnyj), Berg (Gornyj), Azurblau (Lazurnyj) und ­Zypresse (Kiparisnyj).69 Das Besondere an ihnen war ihr hohes Maß an Transparenz und Leichtigkeit sowie die Behutsamkeit, mit der die Architektengruppe um Poljanskij die einzelnen Gebäude in die Landschaft eingefügt hatte. Die Bettenhäuser besaßen derart riesige Glasfronten, dass man durch sie hindurch auf das Meer blicken konnte. Mit seiner vielfältigen Farbgebung und den unzähligen bunten Mosaiken vermittelte das Lager Lebensfreude, Vitalität und Harmonie.70 Da Artek eines der ersten »Experimentierfelder«71 der Sowjetmoderne war, kann es als Paradebeispiel und Vorreiter dieses Architekturstils gelten.72 Arne Winkelmann zufolge hat es bewiesen, »dass eine industriell normierte Bauweise keine Eintönigkeit zur Folge haben muss, wie sie später bei den Trabantenstädten bittere Wirklichkeit wurde.«73 Mit Abschluss der Baumaßnahmen besaß Artek nicht nur neue Schlaf- und Speisesäle sowie Waschräume, sondern auch ein neues Schulgebäude, drei 65 Winkelmann, Das Pionierlager Artek, 56 f. 66 Anatolij Poljanskij hatte 1958 bereits den sowjetischen Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel gestaltet. Poljanskij, Anatolij / Rackevič, Jurij: Vsemirnaja vystavka v Brjussele 1958. Pavil’on SSSR . Moskau 1960. 67 Weiterführend zur Architektur der Sowjetmoderne siehe Ritter, Katharina / ShapiroObermair, Ekaterina / Steiner, Dietmar / Wachter, Alexandra (Hg.): Sowjetmoderne 1955– 1991. Unbekannte Geschichten. Zürich 2012. 68 Ausführlicher zu Anatolij Poljanskijs Artek-Entwurf siehe Poljanskij, Anatolij: Artek. Moskau 1966. 69 Winkelmann, Das Pionierlager Artek, 37 f., 77 f.; Furin / Rybinskij, Das Pionierlager Artek, 6. 70 Winkelmann, Das Pionierlager Artek, 84; ders.: Typologie der Ferienzeit. Das Pionierlager Artek auf der Krim. In: Bauwelt 91/16 (2000), 16 f. 71 Ebd., 15. 72 Ein ebensolches Musterbeispiel für die Architektur der Sowjetmoderne stellte der Moskauer Pionierpalast dar, der 1962 auf den Sperlingsbergen eröffnet wurde. Weiterführend hierzu siehe Reid, Susan E.: Khrushchev’s Children’s Paradise: The Pioneer Palace, ­Moscow, 1958–1962. In: Crowley, David / Reid, Susan Emily (Hg.): Socialist Spaces. Sites of Everyday Life in the Eastern Bloc. Oxford 2002, 141–179. 73 Winkelmann, Typologie der Ferienzeit, 15.

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Bibliotheken, verschiedene Werkstätten, eine Sendestation für das Lager­ radio, ein Filmstudio, Musikpavillons, Filmsäle, Leinwände, Appellplätze, eine Druckerei für die Lagerzeitung, diverse Sportstätten, darunter ein Stadion mit 10.000 Plätzen, ein Freibad mit 50-Meter-Bahnen und drei Sprungtürmen, eine Kartbahn, Schießstände, Tennis-, Basketball- und Fußballplätze, Hallenbäder und Turnhallen, außerdem einen Hafen mit Segel-, Ruder- und Motorbooten, Museen und Denkmäler sowie einen Park mit seltenen Gewächsen. Ebenso entstanden zahlreiche funktionelle Einrichtungen, zu denen ein Nahrungsmittelkombinat, Kühlhallen, eine Wäscherei, ein Krankenhaus, vier Kesselhäuser zur Stromerzeugung, ein Fuhrpark, diverse administrative Gebäude sowie ein Kindergarten gehörten, in dem die Mitarbeiter ihren Nachwuchs unterbringen konnten.74 Bis zum Untergang der Sowjetunion sollte Artek in der Lage sein, gleichzeitig 4.500 und jährlich etwa 27.000 bis 30.000 Pioniere zu beherbergen. Mit einer Fläche von 320 Hektar galt es als das größte Kinderferienlager der Welt.75 Aus dem einstigen Zeltlager ist ein Lagergigant geworden, für dessen Funktionstüchtigkeit Mitte der 1970er Jahre etwa 2.000 Mitarbeiter sorgten.76 1.3

Im Schatten des Gulag

Ebenso wie das Pionierlager Artek erlebte die Archangelsker Arbeitskolonie mehrfach administrative Restrukturierungen und territoriale Erweiterungen. Zunächst änderte ihre Gründung 1934 jedoch weder etwas am bisherigen Verwaltungsstatus des Betriebes Konvejer, da er vorerst im Bestand des Gulag des NKVD verblieb, noch etwas an der Präsenz erwachsener Gefangener, die bis in die 1950er Jahre hinein auf dem Gelände lebten und arbeiteten. Für die 1.062 Jugendlichen, die die Kolonie im Oktober 1934 zählte, waren eigene Gebäude zur Verfügung gestellt worden, darunter Werkstätten, eine Schule, ein Klub sowie zwei Wohnheime und einige Container-ähnliche Hütten. Da die Hauptaufgabe der Einrichtung darin bestand, aus den Zöglingen qualifizierte Arbeiter zu machen, lernten sie hier Möbel, Motorboote, Kisten und Werkzeuge herzustellen.77 Nachdem Genrich Jagoda, der Chef des NKVD, am 7. Juni 1935 beschlossen hatte, innerhalb des NKVD eine eigenständige Abteilung Arbeitskolonien für 74 Ders., Das Pionierlager Artek, 26–28; RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 335, Ll. 16, 61. 75 Winkelmann, Das Pionierlager Artek, 26–28, 37 f.; Furin / Rybinskij, Das Pionierlager ­A rtek, 6, 8. 76 Ebd., 9. 77 Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na ­Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.), 59 f.

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Minderjährige (Otdel trudovych kolonij nesoveršennoletnich  – OTK ) aufzubauen, wurden ihr Einrichtungen wie jene in Archangelsk übertragen und aus dem System des Gulag gelöst. Untergliedert in fünf Zuständigkeitsbereiche, darunter Organisation, Bildung und Erziehung, Produktion, Finanzplanung sowie Versorgung und Absatz, zeichnete die Abteilung für alle in den Kolonien anfallenden Aufgaben und Belange verantwortlich.78 Etwa einen Monat später regte Jagoda an, die Archangelsker Arbeitskolonie zu einer Institution mit besonders strengem Regime (s osobo strogim režimom) zu erklären. Hierher sollten ausschließlich Minderjährige überführt werden, bei denen sämtliche Umerziehungsmaßnahmen, die bereits andere Kolonien an ihnen vorgenommen hatten, gescheitert waren. Wie aus dem Dokument hervorgeht, war die Archangelsker Arbeitskolonie offiziell sowohl für Jungen als auch für Mädchen vorgesehen. Belege für die Anwesenheit letzterer konnten allerdings nicht ausfindig gemacht werden.79 Mit Härte, Strenge und Abgeschiedenheit allein war es noch nicht getan. Trotz ihrer peripheren Lage auf der Insel im Dwina-Delta vermochte die Kolonie es nicht, die Zöglinge am Weglaufen zu hindern.80 Zwischen Februar und Oktober 1934 hatten sich insgesamt 122 Fluchtversuche ereignet.81 Da sich andere Institutionen mit ähnlichen Vorkommnissen konfrontiert sahen, suchte das NKVD seit 1937 mit der Schaffung von Arbeitskolonien »geschlossenen Typs«82 gegenzusteuern.83 Doch damit nicht genug: Am 14. März 1938 traf der stellvertretende Volkskommissar für innere Angelegenheiten, Semën Žukovskij (1896–1940), eine Anordnung, welche die Bewachung von Kolonien durch paramilitärische Einheiten legitimierte. Daraufhin wurden an ihren Toren Wachtürme errichtet, in denen sich Aufseher befanden, die zur Verrichtung ihres Dienstes einläufige Jagdwaffen vom Kaliber 20 erhielten.84 Alsbald 78 Vilenskij, Deti GULAGa, 187–191. 79 Ebd., 194 f. 80 Auch in späterer Zeit haben Zöglinge immer wieder die Gelegenheit zur Flucht ergriffen. Beispielsweise sind im zweiten Halbjahr 1950 sechs und im ersten Halbjahr 1951 acht Jungen ausgerissen. GARF, F. R9412, Op. 1, D. 319, L. 147. Am 12. April 1954 haben sich zwei Zöglinge gegen ein Uhr nachts aus ihrem Schlafsaal geschlichen, sind über den Zaun der Einrichtung geklettert und entflohen. GARF, F. R9412, Op. 4, D. 11, Ll. 130 f. 81 Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na ­Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.), 60. 82 In Arbeitskolonien geschlossenen Typs wurden nur Kinder und Jugendliche im Alter zwischen zwölf und 16 Jahren überstellt, die zuvor in Institutionen offenen Typs oder Gefängnissen untergebracht gewesen waren, sofern ein gerichtlicher Beschluss oder eine Trojka des NKVD eine entsprechende Anweisung hierzu erlassen hatte. Der Aufenthalt in einer solchen Kolonie sollte – auch bei guter Führung des Zöglings – mindestens ein Jahr betragen. Ebd., 25 f. 83 Ebd., 25; Vilenskij, Deti GULAGa, 229, 240. 84 Ebd., 279–281. Wie oft sie von ihnen Gebrauch machten, ist nicht bekannt. Von den 1934 aus der Archangelsker Arbeitskolonie weggelaufenen 122 Minderjährigen waren zwar

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entstanden auch Mauern aus Holz oder Stein in Höhe von zweieinhalb bis drei Metern, die die Kolonien einzäunten. Außerdem wurden Sicherheitszonen installiert, deren Grenzen mit einem ein bis eineinhalb Meter hohen Stacheldraht versehen waren. Bis Mitte der 1940er Jahre kamen sogar Wachhunde zum Einsatz.85 Am 10. September 1939 ließ Lavrentij Berija (1899–1953), der neue Volkskommissar für innere Angelegenheiten, die Abteilung Arbeitskolonien für Minderjährige unter Beibehaltung ihrer Eigenständigkeit wieder in das System des Gulag eingliedern. Neu war dabei, dass sie die Verantwortung für Zöglinge bis einschließlich 18 Jahren trug.86 Im Sommer 1943 folgte die nächste administrative Restrukturierung. Da die anhaltenden Kriegszustände unzählige Kinder und Jugendliche zu Obdachlosen und Waisen machten und auf die Straßen des Landes spülten, wurde die Abteilung Arbeitskolonien für Minderjährige in Abteilung für den Kampf gegen besprizornost’ und beznadzornost’ (Otdel po bor’be s detskoj besprizornostju i beznadzornostju – OBDBB) umbenannt, dem Gulag entzogen und an die jeweiligen regionalen NKVD, die sogenannten UNKVD (Upravlenie narodnogo komissariata vnutrennich del  – Verwaltung des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (auf Republiks-, Regions- und Oblastebene)), übergeben. Für die Arbeitskolonie in Archangelsk war somit fortan die OBDBB des UNKVD der Oblast Archangelsk zuständig.87 Mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion hat die Einrichtung auf der Insel im Dwina-Delta eine starke Expansion erfahren. Im August 1943 lebten hier 718 minderjährige und 1.070 erwachsene Häftlinge. Unter letzteren befanden sich 864 Männer und 206 Frauen. Da die entsprechende Archivquelle bei den Minderjährigen nicht nach Geschlecht unterschieden hat, ist anzunehmen, dass es sich ausschließlich um männliche Zöglinge handelte. Angesichts des immensen militärischen Bedarfs an Kriegsgeräten hat die Kolonie bereits 1941 mit der Fertigung von Minen vom Typ M-8288

85 86 87 88

drei ums Leben gekommen. Ob ihre Todesfälle mit einem möglichen Schusswaffengebrauch der Wachmannschaften in Verbindung standen, ist jedoch unklar. Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.), 60. Aus einem Dokument des Jahres 1954 geht hervor, dass die Wachmänner der Archangelsker Arbeitskolonie bei Fluchtversuchen der Zöglinge zumindest Warnschüsse abgaben. GARF, F. R9412, Op. 4, D. 11, Ll. 130 f. Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na ­Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.), 26, 35. Vilenskij, Deti GULAGa, 315 f. Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na ­Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.). 42, 60. Hierbei handelte es sich augenscheinlich um Wurfgranaten mit einer Größe von 82 Millimetern, die zur Bestückung von Granatwerfern verwendet wurden.

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begonnen. Zu den bereits bestehenden Werkhallen für mechanische, Schreiner- und Schlosserarbeiten kamen deshalb eine für Gießerei- sowie eine für thermische Arbeiten hinzu.89 Abgesehen von den insgesamt 1.788 Inhaftierten besaß die Kolonie 381 »freiwillige« respektive »normal« angestellte (vol’nonaëmnye) Mitarbeiter, für die eigene Unterkünfte, eine Kantine, ein Geschäft, ein Krankenhaus, ein Klub und sogar ein Kindergarten existierten, in dem sie ihren Nachwuchs betreuen lassen konnten. Minderjährige und erwachsene Häftlinge waren getrennt voneinander in Wohnheimen untergebracht. Indes letztere immerhin eine Turnhalle nutzen durften, stand ersteren während der Kriegsjahre nichts dergleichen zur Verfügung. Für die Zöglinge war weder ein Stadion noch ein Klub oder eine Bibliothek vorhanden.90 Da die Versorgung der Kolonie während des Krieges erheblich eingeschränkt und der ohnehin unzureichende Fuhrpark nicht einsatzfähig war, unterhielt sie eine landwirtschaftliche Nutzfläche, auf die der Großteil ihres Gesamtareals von etwa 1.162 Hektar entfiel. Aufgrund des ungünstigen Klimas und der Bodenbeschaffenheit konnte jedoch weder der Gemüseanbau noch die Tierzucht den Eigenbedarf der Einrichtung an Nahrungsmitteln decken.91 Mit Kriegsende traten zwar Verbesserungen ein, nicht zuletzt dank der vom Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR am 7. Juli 1945 erlassenen Amnestie, welche die Zahl der in den Arbeitskolonien untergebrachten Zöglinge zu Beginn des Jahres 1946 stark reduzierte. Nachdem die strafrechtliche Verfolgung gegenüber minderjährigen Gesetzesbrechern 1947 erneut strenger geworden war, stieg ihre Zahl drastisch an.92 Obwohl die Arbeitskolonie in Archangelsk nur für 1.000 Zöglinge ausgelegt war, beherbergte sie 1947 und 1948 durchschnittlich zwischen 1.300 und 1.500 Minderjährige.93 Merkliche Verbesserungen hinsichtlich der Wohn- und Lebensbedingungen traten erst ab 1950 auf. Zum einen überschritt die Zahl der Zöglinge nicht mehr das vorgegebene Limit – im Oktober 1950 lebten hier 740, Anfang Juli 1955 insgesamt 942 Minderjährige.94 Zum anderen setzten ab 1950 Renovie­ rungsarbeiten an den Wohnheimen, der Schule, Kantine, Banja und den

89 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 8, Ll. 196 f.; GARF, F. R9412, Op. 1, D. 9, Ll. 83, 89; Bubličenko, Proizvodstvennaja dejatel’nost’ detskich trudovych kolonij NKVD Evropejskogo Severa Rossii v gody Velikoj Otečestvennoj vojny, 44. 90 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 8, L. 197; GARF, F. R9412, Op. 1, D. 9, Ll. 84, 84 ob., 97. 91 Ebd., Ll. 83, 91, 96 ob., 97; Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.), 60. 92 Bubličenko, Čislennost’ nesoveršennoletnich v detskich trudovych kolonijach NKVD MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii v 1940-e gg., 98 f. 93 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 168, L. 280. 94 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 326, L. 341; GARF, F. R9412, Op. 1, D. 737, Ll. 149 f.

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Werkstätten ein.95 Erstmals existierten nun auch Pläne zur Entwicklung der Kolonie. Inwieweit diese umgesetzt wurden, ist zwar unklar, doch demonstrieren sie zumindest, woran es der Institution mangelte. So fehlten in dem Areal, in dem die Zöglinge untergebracht waren, immer noch ein Klub, ein Krankenhaus, eine Quarantänestation und eine Kanalisation. In der Siedlung, in der die Mitarbeiter der Kolonie lebten, gab es einen Kindergarten, eine Schule und ein Geschäft, jedoch weder eine Banja noch eine Wäscherei. Deshalb waren sie gezwungen, die Einrichtungen aufzusuchen, die eigentlich nur für die minderjährigen und erwachsenen Häftlinge vorgesehen waren. Dass selbst die Mitarbeiter Entbehrungen in Kauf nehmen mussten, verdeutlicht, wie stark die Siedlung während der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit vernachlässigt worden war. Veränderungen im Vergleich zu 1943 lassen sich zudem anhand der Größe der Kolonie erkennen. Betrug ihr Territorium exklusive landwirtschaftlicher Nutzfläche damals noch 104 Hektar, waren es 1950 nur mehr 31 Hektar.96 Das Jahr 1950 brachte auch verwaltungstechnische Neuerungen mit sich. Am 26. Dezember erfolgte zunächst eine Umbenennung von OBDBB in Abteilung Kinderkolonien des Innenministeriums der UdSSR (Otdel detskich kolonij (ODK) MVD SSSR). Kurz nach Stalins Tod 1953 wurde die ODK der Zuständigkeit des MVD entzogen und in das Justizministerium (Ministerstvo justicii – MJu) eingegliedert, wo es abermals dem Gulag untergeordnet war.97 Doch schon im Januar 1954 wurde dieser Schritt rückgängig gemacht. Auf Anordnung des MJu und des MVD der UdSSR sollten bis zum 5. Februar sämtliche Kolonien für Minderjährige an das MVD zurückgegeben werden, wo am 12. März 1954 eine eigenständige und vom Gulag unabhängige Abteilung Arbeits- und Erziehungskolonien für Kinder (Otdel detskich trudovych i vospitatel’nych kolonij MVD SSSR) geschaffen wurde.98 Weitere Amnestien, die am 24. April 1954 und am 14. August 1959 vom Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR erlassen worden sind, reduzierten die Zahl der Zöglinge in den Kolonien so stark, dass schließlich nicht wenige von ihnen, darunter auch die Archangelsker Arbeitskolonie, geschlossen wurden.99 1960 entstand hier wieder eine Besserungsanstalt für Erwachsene, die bis in die postsowjetische Zeit hinein existierte.100

95 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 314, L. 229. 96 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 862, Ll. 7–13, 15. 97 Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.), 43. 98 Vilenskij, Deti GULAGa, 505; Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.), 43. 99 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 590, L. 95; GARF, F. R9412, Op. 2, D. 20, L. 33. 100 Gostev, Istorija razrušenija Novodvinskoj kreposti, 27.

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Erziehung und »Unerziehung«

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Zwar stellte Jugendkriminalität auch in den späten 1950er und in den 1960er Jahren ein ernstzunehmendes Problem dar. In den ersten drei Quartalen des Jahres 1959 sind auf dem gesamten Territorium der RSFSR 129.078 Personen unter 24 Jahren verurteilt worden, darunter 43.460 wegen Diebstahls staatlichen sowie privaten Eigentums, 39.947 wegen Hooliganismus, 5.513 aufgrund von Raubüberfällen, 2.604 wegen Vergewaltigung, 2.981 wegen schwerer Körperverletzung und 2.305 wegen Mordes. Als Ursache machten die Vertreter zahlreicher sowjetischer Behörden und Institutionen beznadzornost’ aus und warfen den Eltern, dem Komsomol, den Gewerkschaften und der Partei mangelnde Erziehung und Betreuung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor.101 Doch standen die Zeichen Anfang der 1960er Jahre weniger auf Repression denn auf Prävention. Das Präsidium des Obersten Sowjets der RSFSR versuchte, als es am 19. Juni 1962 das MVD und das MJu beauftragte, Instruktionen zur Schaffung von Kommissionen für die Angelegenheiten Minderjähriger auszuarbeiten, an die Entwicklungen der 1920er und 1930er Jahre, die in der Stalin-Ära unterbrochen worden sind, anzuknüpfen.102 Die Hauptaufgabe dieser Kommissionen, die sich aus Vertretern lokaler Betriebs-, Gewerkschafts-, Komsomol-, Eltern- und Waisenhauskomitees zusammensetzten, bestand darin, beznadzornost’ zu verhindern und dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen einer Arbeit nachgingen, ihnen sinnvolle Freizeitbeschäftigungen zur Verfügung standen und sie unter angemessenen Verhältnissen lebten.103 Der ständige Wechsel bürokratisch-administrativer Zuständigkeiten zeugt sowohl vom Unvermögen als auch vom Desinteresse des sowjetischen Staates, umfassend auf die katastrophalen Zustände in den Kolonien sowie die sozialen Probleme der besprizornost’ und beznadzornost’ zu reagieren. Größtenteils war er Ausdruck eines bewussten »Von-sich-Schiebens« von Verantwortung.

2.

Gesundheit und Hygiene

2.1

Durch ozdorovlenie zum novyj byt

Die Gesundheitszustände sowjetischer Kinder und Jugendlicher hatten Anfang der 1920er Jahre einen Tiefpunkt erreicht. Stark in Mitleidenschaft gezogen durch zwei Kriege und eine verheerende Hungersnot, drohten sie zur 101 GARF, F. A461, Op. 11, D. 607, Ll. 1–3. 102 GARF, F. A385, O. 26, D. 213, L. 1.  103 GARF, F. A385, O. 26, D. 218, Ll. 377–381.

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Gesundheit und Hygiene 

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Gefahr für den Aufbau des Sozialismus zu werden. Aus Sorge um die »proletarischen Pionierkader« rief der Služba zdorov’ja eine Vielzahl gesundheitsfördernder Maßnahmen ins Leben.104 Dass Pionierlager in den Fokus seiner Aufmerksamkeit rückten, liegt zum einen in ihrer naturverbundenen und abgeschiedenen Lage begründet, die optimale Voraussetzungen zur Erholung bot. Zum anderen erlaubte ihr holistisches Wesen dem Staat unumschränkten Zugriff auf die Kinder und Jugendlichen. Da führende bolschewistische Revolutionäre die »bourgeoise« Institution der Familie für eine überkommene Tradition hielten und tiefes Misstrauen gegenüber der mütterlichen Erziehung hegten, boten Pionierlager die Möglichkeit, Kinder und Jugendliche für einen mehrwöchigen Zeitraum gänzlich der elterlichen Obhut zu entziehen und ihnen sozusagen »rund um die Uhr« eine sozialistische Erziehung angedeihen zu lassen.105 Aus diesem Grund war Artek – anders als die von der ROKK unterhaltenen Einrichtungen in Evpatorija und Aj-Danil’ – nicht als reines Sanatorium, sondern als »Pionierlager-Sanatorium« konzipiert. Da es pädagogische und medizinische Arbeit kombinierte, durften hierher nur Kinder und Jugendliche fahren, die nicht an Infektions- (offene Tuberkuloseformen, Krätze, Dermatophytose) oder Nervenkrankheiten (Epilepsie, Hysterie, Chorea) litten.106 Von den insgesamt 320 Pionieren, die aufgeteilt auf vier Gruppen zu á 80 Personen zwischen Juni und Oktober 1925 nacheinander in Artek weilten, waren 215 an geschlossenen Tuberkuloseformen erkrankt. Dies betraf vor allem die Gruppen der Arbeiterkinder aus Moskau und Leningrad.107 Einer Schätzung zufolge litten landesweit rund 90 Prozent der Arbeiterjugend unter dieser Krankheit.108 Vor dem Hintergrund der Wohnverhältnisse in beiden Städten ist der Befund nicht überraschend. Viele sowjetische Familien waren hier gezwungen, in einem einzigen Raum zu leben, wo Fenster und Wände aus Schutz vor Kälte zugeklebt, die Luft schlecht, kalt und feucht war, mehrere Personen im selben Bett oder gar auf dem blanken Boden schliefen, häufig weder Matratzen noch Bettzeug, dafür aber reichlich Kakerlaken und anderes Ungeziefer vorhanden waren109 – Bedingungen, unter denen die Tuberkulose geradezu leichtes Spiel hatte, Neuinfektionen hervorzurufen.110 Obendrein 104 Solov’ëv, Krym – pioneram!, 4. 105 Ball, And Now My Soul is Hardened, 87. 106 GARF, F. R3341, Op. 6, D. 218, L. 89; Šišmarëv, Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 23–25; ders., Krymskij pionerskij lager’ ROKK v Arteke, 18. 107 Ders., Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 23–25; ders., Krymskij pionerskij lager’ ROKK v Arteke, 18. 108 Neutatz, Träume und Alpträume, 207 f. 109 Siehe hierzu die von Carmen Scheide beschriebenen Wohnverhältnisse einer Moskauer Arbeiterfamilie aus dem Jahr 1924 in Scheide, Kinder, Küche, Kommunismus, 247. 110 Starks, The Body Soviet, 108.

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Erziehung und »Unerziehung«

litten nicht wenige Pioniere gleichzeitig an Anämie, waren unterernährt und überanstrengt.111 Wie einem Bericht Fëdor Šišmarëvs112, des Chefarztes und Direktors des Lagers, über die erste Saison von 1925 zu entnehmen ist, war das Personal angesichts der desolaten Konstitution der Kinder und Jugendlichen zwar nicht umhingekommen, medizinischen Maßnahmen absolute Priorität gegenüber pädagogischen einzuräumen.113 Doch ist die Trennung zwischen beiden Aufgabenbereichen insofern unscharf,114 als sich hinter sämtlichen in Artek durchgeführten Aktivitäten stets erzieherische Absichten verbargen. Die gesundheitsfördernden Behandlungen waren weit mehr als der Sorge um das Wohlergehen der Pioniere geschuldet. Indem sie zeitlich streng reglementiert und fest in den Tagesablauf integriert waren, versuchten Šišmarëv und seine Mitstreiter den Kindern und Jugendlichen vor allem die Bedeutung des režim näherzubringen. Wie Catriona Kelly dargelegt hat, sollten die Pioniere dadurch einerseits zur »Kontrolle ihrer Körper« und zur »Regulierung ihrer physischen Funktionen«115 erzogen werden. Andererseits sollten sie lernen, ein »Gefühl für genaue Zeit und Pünktlichkeit« zu entwickeln, um  – in ­Gastev’scher und Keržencev’scher Manier – Zeit rational nutzen zu können.116 Für Artek hat Šišmarëv folgendes režim aufgestellt (Tab. 3).

111 GARF, F. R3341, Op. 6, D. 218, L. 89. 112 Fëdor Šišmarëv (1879–1942) stammte aus der Familie eines Sankt Petersburger Zollbeamten. Nach dem Abschluss des Gymnasiums studierte er Medizin und spezialisierte sich auf Pädiatrie. Im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905 leistete er als Arzt Militärdienst in Harbin, wurde im Zuge der Gefechte jedoch selbst verwundet. 1906 kehrte er nach Sankt Petersburg zurück. 1907 begann er, für die ROKK zu arbeiten. Während des Ersten Weltkrieges verblieb er als praktizierender Arzt in Sankt Petersburg. 1919 kämpfte er im Rahmen der ROKK gegen die Ausbreitung von Flecktyphus. Hiervon abgesehen war er während des Bürgerkrieges auf Seiten der Weißen aktiv. Nachdem er Ende 1919 selbst an Typhus erkrankt war, fuhr er zur Erholung auf die Krim, wo er nach seiner Genesung eine Stelle als Chefarzt im Kindersanatorium in Aj-Danil’ antrat. Dass die Bolschewiki Šišmarëv, nachdem sie die Krim von den Weißen zurückerobert hatten, nicht erschossen haben, verdankt er augenscheinlich seinem Beruf, denn Ärzte waren damals Mangelware. 1924 lernte er Zinovij Solov’ëv kennen, der sich zu dieser Zeit in einem Sanatorium für sogenannte Rote Kommandeure in Hurzuf erholte. Dadurch gelangte er schließlich in das kurz darauf gegründete Pionierlager Artek, dessen Chefarzt und Direktor er wurde. 1933 musste er diese Funktionen aus gesundheitlichen Gründen niederlegen, kehrte nach Leningrad zurück, wo er noch etwa fünf Jahre als Arzt tätig war und 1942 verstarb. Makaruchina, Natalija: Fëdor Fëdorovič Šišmarëv – pervyj direktor detskogo lagerja v Arteke. In: Krymskij archiv 1 (2016), 59–68. 113 Šišmarëv, Krymskij pionerskij lager’ ROKK v Arteke, 14. 114 Šišmarëv / Zak, Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 22–36. 115 Kelly, Shaping the »Future Race«: Regulating the Daily Life of Children in Early Soviet Russia, 261. 116 Ebd.

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Gesundheit und Hygiene 

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Tab. 3: Tagesablauf im Pionierlager Artek (1925)* 7.00 bis 7.30 Uhr 7.30 Uhr

Messung der Körpertemperatur Signal zum Aufstehen

7.30 bis 8.00 Uhr

Morgentoilette, Bettenmachen

8.00 bis 8.30 Uhr

Hissen der Flagge, Gymnastik

8.30 bis 9.00 Uhr

erstes Frühstück

9.00 bis 9.30 Uhr

Aufräumen der Zelte

9.30 bis 11.00 Uhr

ärztliche Untersuchung, medizinische Behandlungen

11.00 bis 11.30 Uhr

zweites Frühstück

11.30 bis 13.00 Uhr

weitere ärztliche Untersuchung, medizinische Behandlungen

13.00 bis 13.30 Uhr

Vorbereitung zum Mittagessen

13.30 bis 14.30 Uhr

Mittagessen

14.30 bis 16.00 Uhr

Ruhezeit (Mittagsschlaf)

16.00 bis 16.30 Uhr

Zwischenmahlzeit

16.30 bis 18.00 Uhr

Spaziergänge, Spiele, Gespräche, Lektionen, Klubarbeit o. ä.

18.00 bis 19.00 Uhr

Messung der Körpertemperatur, Klub-/Bibliotheksarbeit, Briefeschreiben

19.00 bis 19.30 Uhr

Abendessen

19.30 bis 20.30 Uhr

Spiele, Chor, Gespräche am Lagerfeuer

20.30 Uhr 20.30 bis 21.30 Uhr

Streichen der Flagge Abendtoilette, Nachtruhe

* Šišmarëv, Krymskij pionerskij lager’ ROKK v Arteke, 14.

Um den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen zu verbessern, setzte das medizinische Personal auf eine Dreierkombination an Maßnahmen, die auch in Erholungsheimen für Erwachsene zur Anwendung kam: physische Aktivität (Gymnastik), Klimatherapie (Luft, Sonne, Wasser) und Ernährung.117 Während die allmorgendlichen Gymnastikübungen stets eine Zeit von 15 Minuten beanspruchten, wurden die medizinischen Behandlungen, zu denen Luft-, Sonnen- und Wasserbäder gehörten, sukzessiv ausgedehnt. Ihren Anfang nahmen sie mit Luftbädern, die im Schatten durchgeführt wurden, damit sich die Haut der Pioniere an die UV-Strahlung gewöhnen konnte. Nach ein paar Tagen folgten vierminütige Sonnenbäder, deren Dauer peu à peu erhöht wurde, jedoch nie mehr als eine Stunde betrug. Hierzu lagen die Kinder und Jugendlichen nackt am Strand und mussten sich auf Signal117 Koenker, Club Red, 15.

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Erziehung und »Unerziehung«

ton des medizinischen Personals nach jeder vollen Minute umdrehen, damit ihre Körper gleichmäßig von der Kraft der Sonne profitieren konnten.118 Diese Vorgehensweise resultierte aus der damals landläufigen Auffassung, wonach frische Luft und Sonnenlicht eine natürlich desinfizierende Wirkung besaßen und es daher vermochten, Tuberkulosebakterien zu vernichten.119 Im Anschluss an die Sonnen- standen Wasserbäder auf dem Programm, die der Abhärtung dienten. In Übereinstimmung mit ihrem Gesundheitszustand durften die Pioniere entweder fünf bis 20 Minuten im Meer baden oder sich kurz abduschen. Den schwächsten war es lediglich erlaubt, sich mit nassen Handtüchern abzureiben. Den Abschluss der Behandlungen bildete eine einstündige Erholungsphase.120 In den Sanatorien für Erwachsene liefen diese Prozeduren nach dem gleichen Muster ab. Auch hier wurde nur an den Strand und ins Wasser gelassen, wer eine ärztliche Anordnung besaß. Das strikte »Kurort-režim« war jedoch bereits Ende der 1930er Jahre im Verschwinden begriffen, weil die erwachsenen Gäste nicht bereit waren, sich daran zu halten.121 In Artek dagegen sollte es bis etwa Mitte der 1950er Jahre bestehen bleiben,122 obschon das Personal Mühe und Not hatte, den jungen Besuchern Sinn und Bedeutung der zeitlich streng regulierten Aktivitäten verständlich zu machen. Die Pioniere hätten nämlich zu gern auf die biederen Sonnenprozeduren am Strand und den obligatorischen Mittagsschlaf verzichtet und stattdessen lieber länger im Schwarzen Meer gebadet.123 Was Diane P.  Koenker bezüglich der Generierung eines proletarischen Erwachsenentourismus festgestellt hat, lässt sich auch anhand der Feriengestaltung sowjetischer Kinder und Jugendlicher beobachten. Die schulfreie Zeit sollte sich nämlich nicht durch otpusk (Urlaub), sprich: das bloße Entbundensein von den alltäglichen Aufgaben und Pflichten, sondern durch otdych (Erholung) auszeichnen, was der sowjetischen Auffassung nach voraussetzte, mit sinnvollen Aktivitäten gefüllt zu sein. So schreibt Koenker: »[t]he scientific organization of labor required a scientific organization of rest.«124 Ihr zufolge verlangte der menschliche Körper – in Analogie zur Maschine – in 118 Šišmarëv, Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 26 f.; Šišmarëv / Zak, Pionerskij ­lager’-sanatorij KK v Arteke, 23 f. 119 Starks, The Body Soviet, 108. 120 Šišmarëv, Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 26 f.; Šišmarëv / Zak, Pionerskij ­lager’-sanatorij KK v Arteke, 23 f. 121 Koenker, Club Red, 42, 50. 122 Dies geht aus einem Artikel in der Zeitschrift Ferien – Freundschaft – frohe Herzen mit dem Titel Der Glückspilz hervor, der von den Erlebnissen einer DDR-Pionier-Delegation nach Artek berichtet, die mutmaßlich im Sommer 1954 zu Besuch im Lager war. Die Zeitschrift findet sich im Bestand SAPMO BArch, DC 4/150 (o. S.). 123 Šišmarëv / Zak, Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 24. 124 Koenker, Club Red, 13.

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regel­mäßigen Abständen nach »Reparatur« und »Wartung«, nach ozdorovlenie, nach Gesundung und Regeneration, um im Anschluss wieder einsatzfähig zu sein und im günstigsten Falle besser als zuvor zu funktionieren.125 Ein Besuch in Artek diente daher nicht dem Spaß der Pioniere, sondern erfüllte vorrangig einen gesundheitsfördernden und nicht zuletzt einen staatlichen Zweck. Neben physischen Aktivitäten und medizinischen Behandlungen sollte eine kalorienreiche Ernährung die Konstitution der Kinder und Jugendlichen verbessern. Offiziellen Berechnungen zufolge belief sich der tägliche Kalorienverbrauch (Nettokalorien) eines Pioniers während des Lageraufenthalts zwar lediglich auf etwa 1.750 Kalorien.126 Da die Kinder und Jugendlichen hier jedoch »aufgepäppelt« werden sollten, erhielten sie bis zu 2.000 Kalorien zusätzlich. Die tägliche Kalorienmenge in Artek betrug zwischen 3.500 und 3.800 Bruttokalorien und umfasste folgende Lebensmittelmengen (Tab. 4).127 Tab. 4: Tagesration pro Kind im Pionierlager Artek (1926)* Fleisch oder Fisch

300g

Weißbrot

600g

Butter

60g

Zucker

60g

Eier

2 Stück

Milch

600ml

Kartoffeln

400g

frisches Gemüse

200g

Beilagen oder Vorspeisen

100g

frische Früchte

200g

Kaffee oder Kakao

4g

Tee

0,5g

Mehlspeisen / Gebäck

50g

Salz

12g

Weintrauben

400g

* Šišmarëv / Zak, Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 25.

125 Ebd., 3, 13 f. 126 Granat, E.: Pitanie v lagere. In: Vožatyj 3/10 (1926), 19. 127 Šišmarëv / Zak, Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 25.

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Vergleicht man Arteks Normen und Regularien mit denen anderer Pionierlager, so fällt auf, dass es sich an damals üblichen Praktiken orientierte. So verfügten Pionierlager grundsätzlich über einen durchstrukturierten Tagesablauf, wiesen ähnliche Nahrungsrationen auf und boten, sofern sie an Gewässern gelegen waren, ebenfalls Sonnen- und Wasserbäder an.128 Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass das Lager auf der Krim eine für die damalige Zeit bemerkenswerte und einzigartige Institution war – allein seine malerisch exponierte Lage spricht Bände. Seine Genesungs- und Erziehungsmaßnahmen verliehen ihm aber kein Alleinstellungsmerkmal, auch wenn offizielle Quellen dies gemeinhin behaupteten. In Artek lassen sich in vielerlei Hinsicht für die Sowjetunion typische Entwicklungen und Erscheinungen erkennen. Was Tricia Starks für den Wesenszug der Arbeit des Narkomzdrav ausgemacht hat, nämlich seinen Fokus auf der Prophylaxe und Verhinderung statt auf der Behandlung und Heilung von Krankheiten, offenbart sich auch an dem Pionierlager auf der Krim.129 Dass das medizinische Personal Arteks auf die heilenden Kräfte der Natur zurückgriff, erklärt sich nicht zuletzt durch den allseits vorherrschenden Mangel, aufgrund dessen ihm schlichtweg keine anderen Möglichkeiten zur Verfügung standen. Die lagereigene Apotheke umfasste lediglich ein paar Messgeräte, Verbandszeug und einige wenige Medikamente, die höchstwahrscheinlich nicht mehr als schmerzstillende, betäubende und desinfizierende Wirkung besaßen.130 Zwar hatte die Anwendung luft-, sonnen- und wassertherapeutischer Methoden bereits im späten 19. Jahrhundert Einzug in den russländischen Kurorten entlang der Schwarzmeerküste und im Kaukasus gehalten.131 Doch erst in der Sowjetunion avancierten die Elemente Sonne, Luft und Wasser zum Bestandteil einer unionsweiten Propagandakampagne unter dem Slogan Solnce, vozduch i voda – lučšij otdych ot truda (Sonne, Luft und Wasser – die beste Erholung von der Arbeit).132 Eine vollständige Genesung konnte ein Aufenthalt in Artek nur in den seltensten Fällen herbeiführen. Dem Bericht Fëdor Šišmarëvs zufolge galten von den 320 Pionieren, die das Lager im Laufe des Sommers 1925 besucht hatten, gerade einmal neun am Ende ihres Besuchs als gesund. Bei 298 von ihnen 128 Siehe hierzu Levitin, Pionerskie lageri 1926 g. v Moskve i Moskovskoj gubernii, 24; Proskurjakova, Lagernaja kampanija, provedënnaja ROKK letom 1926 goda, 13; Granat, E.: Režim v lagere. In: Vožatyj 3/7–8 (1926), 25–28; ders., Pitanie v lagere; Dubovickaja, N.: Pol’zovanije solncem v lagere. In: Vožatyj 3/7–8 (1926), 28–30; dies., Pol’zovanije vodoj v lagere. In: Vožatyj 3/7–8 (1926), 30–32. 129 Starks, The Body Soviet, 39, 49. 130 Šišmarëv / Zak, Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 12. 131 McReynolds, Russia at Play, 171–177. 132 1927 erschien hierzu ein Propagandaplakat mit selbigem Titel aus dem Jahr 1927. Starks, The Body Soviet, o. S. (Bild, Buchmitte).

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hatten sich immerhin Verbesserungen eingestellt, bei den restlichen 13 waren dagegen keine Veränderungen zu verzeichnen gewesen.133 Zur Bewertung des Lageraufenthalts zog er das Körpergewicht der Kinder und Jugendlichen heran, das sich angesichts der kalorienreichen Ernährung im Schnitt um 1,5 bis 2,4 Kilogramm erhöht hatte. Tatsächlich sagt es jedoch wenig über den allgemeinen Gesundheitszustand aus.134 Neben den Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit spielte deshalb die Propagierung von Hygiene eine wichtige Rolle. Wenn Krankheiten schon nicht (vollständig) kuriert werden konnten, dann musste zumindest ihr Ausbruch verhindert werden. Als eine der führenden Kämpferinnen für Gesundheit und Hygiene trat die ROKK in Erscheinung, die in den 1930er Jahren massive Propagandakampagnen für Ordnung und Sauberkeit in die Zeitschrift Za sanitarnuju oboronu (Für sanitäre Verteidigung) lancierte,135 die zur Durchsetzung des novyj byt führen sollten.136 In Artek suchte das Personal den Pionieren die Bedeutung von Hygiene mittels zahlreicher Gespräche über elementare Sanitärregeln sowie durch das tägliche Waschen, Zähneputzen, Bettenmachen und Aufräumen der Zelte zu verdeutlichen. Diese Maßnahmen dienten nicht nur der Einhaltung von Ordnung und Sauberkeit im Lager, sondern sollten  – zusammen mit den gesundheitsfördernden Aktivitäten – die sogenannte kulturnost’ der Kinder und Jugendlichen fördern und sie zu kultivierten Mitgliedern der Gesellschaft erziehen.137 Šišmarëv und seine Mitstreiter hatten diese Prozesse nicht ohne Grund ritualartig in den Tagesablauf integriert, hofften sie doch, dass die Pioniere sie dadurch schneller internalisieren und über ihren Aufenthalt im Lager hinaus fortsetzen würden. Mit den hier erworbenen Gewohnheiten und Kenntnissen sollten sie als Agitatoren für Gesundheit und Hygiene nach Hause zurückkehren und die Massen von ihrem Wert für die neue Gesellschaft überzeugen.138 Das režim stellte somit die Prämisse für und die gesundheits- und hygienefördernden Maßnahmen einen der wichtigsten Bestandteile des novyj byt dar. Angesichts der Tragweite der Propagandakampagnen vertritt Tricia Starks die These, dass die Begriffe Gesundheit und Hygiene identitätsstiftenden Charakter besaßen, da sie sowohl die Schaffung sowjetischer Institutionen als auch die einer sowjetischen Identität prägten und beeinflussten.139 Der soŠišmarëv, Krymskij pionerskij lager’ ROKK v Arteke, 18. Ders., Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 28, 36, 43, 49. Bor’ba za čistotu, 17; Gant, V bojach za čistotu, 8 f. Siehe hierzu Bljumina: Budem organizatorami novogo byta. ROKK v pereustrojstve byta. In: Za sanitarnuju oboronu 6/13 (1930), 39 f. 137 Starks, The Body Soviet, 207. 138 Šišmarëv / Zak, Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 29 f. 139 Starks, The Body Soviet, 7–9. 133 134 135 136

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genannte kul’turnyj čelovek140, der kultivierte Mensch, war jemand, der seinen Tag dreiteilte, sodass acht Stunden für Arbeit, acht Stunden für Erholung und acht Stunden für Schlaf blieben. Er putzte sich täglich die Zähne, suchte mindestens einmal pro Woche eine Badeanstalt auf und wechselte seine Unterwäsche, trieb Sport, versagte sich das Rauchen und Trinken.141 1934 war die Entwicklung so weit fortgeschritten, dass Kinder und Jugendliche ihr Wissen und ihre Fertigkeiten verifizieren lassen und ein Abzeichen erwerben konnten, das unter der Abkürzung (B)GSO ((Bud’) gotov k sanitarnoj oborone – (Sei) bereit für die sanitäre Verteidigung) bekannt war.142 Aufgeteilt nach zwei Altersklassen, für elf- bis 13- sowie 14- bis 17-Jährige, mussten sie Kenntnisse in erster Hilfe, Luftverteidigung, Schulhygiene und Sanitärkultur sowie bezüglich der Geschichte und der Aufgaben des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes vorweisen.143 Die unzähligen in die Medien der dama­ ligen Zeit lancierten Fotos, die Pioniere und Komsomolzen beim Trainieren des Einsatzes von Gasmasken zeigen, sind wohl die eindrücklichste Visualisierung dieser Kampagne.144 Wie ein Fotoalbum über Artek demonstriert, konnten die Pioniere auch hier für (B)GSO trainieren und anschließend die Prüfung ablegen.145 2.2 Versorgungsengpässe

Inwieweit die für Artek geltenden Tagesrationen an Lebensmitteln zwischen 1925 und 1941 tatsächlich bereitgestellt werden konnten, lässt sich aufgrund der defizitären Quellensituation nicht eindeutig bestimmen. Zwar geht aus

140 »Stat’ kul’turnym, ein kultivierter Mensch zu werden,« war Katharina Kucher zufolge »eine der zentralen Forderungen an die Bevölkerung der UdSSR in den dreißiger Jahren«. Kul’turnost’ (Kultiviertheit) galt als »eine der Voraussetzungen für den novyj byt, die neue, sozialistische Lebensweise, die seit den zwanziger Jahren proklamiert wurde.« Wie Kucher dargelegt hat, ist es jedoch nicht immer möglich, kul’turnost’ und novyj byt eindeutig voneinander abzugrenzen, »da sich die Konzepte in einigen Punkten überschneiden.« Kucher, Katharina: Der Gorki-Park. Freizeitkultur im Stalinismus ­1928–1941. Köln, Wien u. a. 2007, 48, 52, 63. Für eine umfangreichere Erklärung der beiden Begriffen siehe ebd., 48–68. 141 Siehe hierzu die entsprechenden Propagandaplakate in Starks, The Body Soviet, 173–175, 179 f., 184, 197 sowie der Buchmitte. 142 Relkin: Opyt zdači norm na značok GSO. In: Za sanitarnuju oboronu 10/6 (1934), 4. 143 Normy na značok. Bud’ gotov k sanitarnoj oborone. In: Za sanitarnuju oboronu 11/2 (1935), 17. 144 Siehe hierzu Finkler, Ju: V pomošč’ sdajuščemu normy G. S. O. Nosil’ki i kak imi pol’zo­ vat’sja. In: Za sanitarnuju oboronu 10/7 (1934), 6; Margolina, M.: Rastut rjady junych značkistov. In: Sanitarnaja oborona 17/5 (1941), 3. 145 Kolesnikov / Romanov / Smirnov, Artek, o. S.

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einem Bericht über das Jahr 1931 hervor, dass sich auf dem Gelände des Lagers eine Geflügelfarm befand. Ob ihre Errichtung als Schritt zur Subsistenzwirtschaft und damit als Indiz für einen Mangel an Fleisch und Eiern gewertet werden kann oder ob sie aus anderen Beweggründen erfolgt ist, bleibt jedoch offen.146 Indes darf als sicher angenommen werden, dass sich Artek während der Hungersnot von 1932/33 mit größeren Versorgungsschwierigkeiten kon­ frontiert sah, da dieses Ereignis angesichts seiner Tragweite schlichtweg nicht vor dem Lager haltmachen konnte. Auch für die Archangelsker Arbeitskolonie existieren für die zweite Hälfte der 1930er Jahre keine Archivalien, die Aufschluss über ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln geben könnten. Da sich aber 1936 und 1939 dürrebedingte Missernten im Land ereigneten, der durchschnittliche sowjetische Lebensmittelkonsum pro Kopf und Tag schon im Jahre 1940 nur noch 2.112 Kalorien betrug – die Norm lag bei 2.400 Kalorien – und die Kolonie aufgrund ihrer Abgeschiedenheit nie ausreichend mit Gütern beliefert werden konnte, ist davon auszugehen, dass die Zöglinge bereits am Vorabend des Zweiten Weltkrieges unter Formen von Mangelernährung litten.147 Aus einem Dokument über eine vergleichbare Einrichtung, die Arbeitskolonie in Verchotur’je in der Oblast Sverdlovsk, geht jedenfalls hervor, dass im April 1937 insgesamt 487 Zöglinge an Skorbut erkrankt und infolgedessen drei von ihnen verstorben sind. Aufgrund von Engpässen hatte das Personal im Mai die Ausgabe von Tomaten, deren hoher Vitamin-C-Gehalt als Skorbut-Killer galt, eingestellt. Während eines Kontrollbesuchs im Juli stellte eine Inspektorenkommission des NKVD allerdings fest, dass die Kolonie sehr wohl über Tomaten verfügte, und zwar im Umfang von insgesamt 4.700 Kilo­ gramm. Das Personal hatte sie für den Eigenbedarf und Weiterverkauf zurückgehalten. Die Verantwortlichen, die zunächst mit Disziplinarstrafen von maximal zehn Tagen Arrest davongekommen waren, sollten schließlich doch entlassen oder vor Gericht gestellt werden.148 Mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 nahm die ohnehin dürftige Situation weitaus gravierendere Dimensionen an. Das Land verfügte nicht über genügend Ressourcen, um sowohl Armee als auch

146 GARF, F. R3341, Op. 6, D. 40, L. 34. 147 Dronin, Nikolai M. / Bellinger, Edward G.: Climate Dependence and Food Problems in Russia, 1900–1990. The Interaction of Climate and Agricultural Policy and Their Effect on Food Problems. Budapest, New York, NY 2005, 8, 152. 148 Vilenskij, Deti GULAGa, 238 f. In der Kolonie in Verchotur’je war in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre auch der spätere sowjetische Dissident Pëtr Jakir (1923–1982) inhaftiert. Über seine Erlebnisse hierzu siehe Jakir, Pëtr / Telesin, Julius: Detstvo v tjur’me. Memuary. London 1972, 92–109.

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Zivilbevölkerung angemessen zu versorgen.149 Auf die Arbeitskolonien, die seit jeher stiefmütterlich behandelt wurden, wirkte sich dieser Umstand besonders fatal aus. Die in den beiden nachstehenden Tabellen angeführten Tagesrationen an Lebensmitteln pro Zögling für Dezember 1940 und Juni 1942 erwecken auf den ersten Blick zwar den Anschein, sich nur minimal voneinander zu unterscheiden (Tab.  5). Tab. 5: Tagesration pro Zögling in den Arbeitskolonien des NKVD* Stand: 7. Dezember 1940

Stand: 23. Juni 1942

Weizenbrot

200g

Brot

500g

Roggenbrot

400g

Mehlmischung (muka podboltočnaja)

10g

Mehlmischung (muka podboltočnaja)

10g

verschiedene Getreidesorten

80g

verschiedene Getreidesorten und Makkaroni

95g

Kartoffelmehl

5g

Kartoffelmehl

5g

Makkaroni

15g

Kartoffeln

400g

Kartoffeln und Gemüse

600g

verschiedene Gemüsesorten

200g

Zucker

25g

Zucker

17g

Fleisch

50g

Fleisch und Fleischprodukte

50g

Fisch

100g

Fisch und Fischprodukte

100g

Butter oder Margarine

15g

Butter – Fett

26,5g

Pflanzenöl

15g

Tee-Ersatz

2g

Tee-Ersatz

2g

Salz

20g

Salz

15g

Lorbeerblatt

0,2g

Lorbeerblatt

0,1g

Tomaten

10g

Tomaten

10g

Pfeffer

0,13g

Pfeffer

0,1g

Trockenfrüchte

15g

Trockenfrüchte

10g

* Vilenskij, Deti GULAGa, 347.

149 Filtzer, Donald A.: The Hazards of Urban Life in Late Stalinist Russia. Health, Hygiene, and Living Standards, 1943–1953. Cambridge 2010, 169.

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Tatsächlich bestand 1942 jedoch in weiten Teilen des Landes eine erhebliche Verknappung von Mehl, Kartoffeln, Gemüse und Fleisch.150 Mit dem Vorstoß der deutschen Truppen in den Westen und Süden der Sowjetunion im Herbst 1941 waren zwei Fünftel der Weizen- und zwei Drittel der Kartoffelernte verloren gegangen. 1942 nahm die landwirtschaftliche Produktion um ein Drittel ab. Auch der Viehbestand verzeichnete enorme Verluste. Bis zum Kriegsende büßte das Land insgesamt sieben Millionen Pferde, 17 Millionen Rinder, 20 Millionen Schweine, 27 Millionen Schafe und Ziegen sowie 110 Millionen Federvieh ein.151 Mangels Getreide wiesen Mehl und Brot 1942 keine reine Zusammensetzung auf, sondern enthielten beigemischte Ersatzstoffe, wodurch sie weniger gehaltvoll und mitunter sogar ungenießbar waren. Ähnliches galt für die sogenannten Fleisch- und Fischprodukte, bei denen ebenfalls Füllstoffe zum Einsatz kamen, sodass der absolute Fleisch- und Fischanteil äußerst gering ausfiel.152 Wie zwei Berichten über die Archangelsker Arbeitskolonie von August 1943 zu entnehmen ist, bestand das Essen zum Zeitpunkt einer Kontrollinspektion hauptsächlich aus den Komponenten Mehl, Weizen und gesalzenem Fisch. Zucker fehlte bereits seit einigen Monaten. Getreide wurde nur irregulär geliefert. An Obst und Gemüse mangelte es gänzlich. Um die Not zu lindern, hatte die Kolonie begonnen, eine nebenerwerbliche landwirtschaftliche Nutzfläche von 1.057,8 Hektar zu unterhalten. Den Großteil hiervon bildete allerdings Waldgebiet (820,5 Hektar). Auf Gemüsefelder entfielen 17,3, auf Heuwiesen 134,0 und auf Viehzucht 86,0 Hektar. Abgesehen von 28 Pferden und 14 Fohlen, die sie zu Transportzwecken nutzte, besaß die Kolonie drei Stiere, 59 Kühe und 68 Kälber. Auf den Feldern baute sie vor allem Kartoffeln, Kohl, Karotten und diverse Rübenarten an. Dass die Kolonie nur 150 statt der erhofften 608 Tonnen Agrarprodukte erwirtschaftet hatte, die für ihre Selbstversorgung notwendig gewesen wären, führten die Inspektoren auf fehlendes Saatgut zurück.153 Doch selbst eine größere Menge hiervon vermochte nichts an dem Klima und der Bodenbeschaffenheit der Region zu ändern, die für Ackerbau grundsätzlich ungeeignet war. Auch das Pionierlager Artek hatte, nachdem es Anfang August 1944 auf die Halbinsel Krim zurückgekehrt war, mit Lebensmittelengpässen zu kämpfen. Die für Pionierlager-Sanatorien offiziell geltenden Ernährungsnormen, die

150 Donald Filtzer erwähnt beispielsweise, dass es den Kinderheimen in Stalinsk (heute: Novokuzneck) in der Oblast Kemerovo im Winter 1942/43 nahezu gänzlich an Gemüse und Milch fehlte. Lediglich geringe Mengen Kartoffeln konnten bereitgestellt werden. Filtzer, The Hazards of Urban Life in Late Stalinist Russia, 172. 151 Dronin / Bellinger, Climate Dependence and Food Problems in Russia, 1900–1990, 155 f. 152 Filtzer, The Hazards of Urban Life in Late Stalinist Russia, 187. 153 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 8, L. 200; GARF, F. R9412, Op. 1, D. 9, Ll. 91, 91 ob., 95.

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auf eine Zufuhr von bis zu 4.000 Kalorien ausgelegt waren, existierten lediglich auf dem Papier (Tab. 6). Tab. 6: Tagesration pro Kind in Pionierlager-Sanatorien (1946)* Fleisch

180g

Brot

500g

Milch

500

Mehl

100g

Butter

65g

Pralinen

25g

Zucker

50g

Stärke

10g

Süßwaren

125g

Seife

10g

verschiedene Getreidesorten

75g

Salz

20g

Makkaroni

15g

Tee

1g

Kartoffeln

300g

Quark

50g

andere Gemüsesorten

200g

Sahne

21g

Eier

1 Stück

Kaffee

1g

Beeren oder Früchte

35g

Rosinen

30g

* RGASPI , F. M-1, Op. 7, D. 143, Ll. 13, 56.

So charakterisieren Berichte aus den Jahren 1944 bis 1947 das Essen in Artek als einseitig und unzureichend, da es sich hauptsächlich aus Karotten, die zu Suppe oder Buletten verarbeitet wurden, sowie aus Sardellen, Getreideund Mehlprodukten zusammensetzte. Milch, Fleisch, Kartoffeln, Gemüse, ­(Trocken-)Früchte und Eier fehlten nahezu gänzlich.154 Um die Versorgung des Lagers zu verbessern, kamen auf höchster staatlicher Ebene die absurdesten Ideen auf, die als Paradebeispiel sowjetischer Bürokratisierung, Fehlkalkulierung und -einschätzung der realen Situation gelten können. So hatten der Sekretär des CK des Komsomol, Nikolaj Michajlov (1906–1982), und der Volkskommissar für Gesundheit, Georgij Miterev (1909–1977), vorgeschlagen, Kühe aus der Oblast Omsk auf die Halbinsel Krim zu transferieren. Dass der Sovnarkom der UdSSR dieses Projekt im August 1944 abgelehnt hat, ist angesichts des Aufwands, der für den Transport notwendig gewesen wäre, wenig überraschend. Omsk und Simferopol’ trennen mindestens 3.600 Kilometer. Die Tiere hätten nicht nur eine mehrtägige Bahnreise überstehen und entsprechend mit Wasser und Futter versorgt werden müssen, sondern wollten anschließend auch noch an ihren eigentlichen Bestimmungsort gebracht werden, wofür Viehtransporter bereitgestellt hätten werden müssen. Nachdem die Anfrage abgelehnt worden war, versuchten 154 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 3, Ll. 16 f.

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Michajlov und Miterev, mit Hilfe des Sovnarkom an Reservebestände des Volkskommissariats für Fleisch- und Milchwirtschaft (Narodnyj komissariat mjasnoj i moločnoj promyšlennosti  – Narkommjasomolprom) heranzukommen, die für die Krim zurückgehalten wurden. Das Narkommjasomolprom hielt es zwar für möglich, Artek 400 Kühe zur Verfügung zu stellen.155 Dass die Tiere das Lager tatsächlich erreichten, ist jedoch unwahrscheinlich. Zum einen betrug die agrarische Nutzfläche Arteks im Januar 1946 gerade einmal vier Hektar Pflugland. Zum anderen bestand noch im September desselben Jahres ein erheblicher Mangel an Milch. Schließlich spitzte die Hungersnot von 1946/47 die Lage weiter zu. Nun fehlten nicht mehr nur Kartoffeln, sondern auch Getreide. Neben aus Eipulver hergestellten Omeletts dominierte Kohlsuppe den Speiseplan Arteks.156 Für Kinder und Jugendliche war die unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln besonders problematisch, da sie eine gesunde ausgewogene Ernährung benötigten, um wachsen und sich entwickeln zu können. In der Archangelsker Arbeitskolonie kam hinzu, dass die Zöglinge körperlich schwere Arbeit verrichteten und in einer kalten Region lebten, wodurch sich ihr Kalorienbedarf zusätzlich erhöhte. Je nach dem Grad der Anstrengung verbrauchten Erwachsene im Winter zwischen 100 bis 700 Extrakalorien pro Tag – Werte, die für Heranwachsende nur geringfügig niedriger bemessen sein dürften.157 Bedenklich erschienen dabei nicht nur die Außen-, sondern auch die Innentemperaturen. Der Winter des Jahres 1943/44 traf die Archangelsker Arbeitskolonie gänzlich unvorbereitet. Nicht nur fehlten in einigen Fenstern Glasscheiben. Es existierte auch kein Vorrat an Brennstoffen. Da Wohnheime und Werkhallen ungeheizt blieben, ist anzunehmen, dass die Temperaturen – wenn überhaupt – nur knapp über dem Gefrierpunkt lagen.158 Obwohl schwerarbeitende Zöglinge Anspruch auf Extrarationen besaßen, ist ungewiss, inwieweit sie überhaupt offeriert werden konnten, wie nahrhaft und ausgewogen sie waren.159 Lebensmittel mit hoher Kalorienzahl stillen zwar den Hunger. Sie versorgen den Körper aber nicht zwangsläufig mit allen lebensnotwendigen Nährstoffen. Dass es Kindern und Jugendlichen vor allem an Fetten, Vitaminen und Kalzium mangelte,160 demonstrieren die in 155 156 157 158

RGASPI, F. M-1, Op. 7, D. 102, Ll. 68 f. RGASPI, F. M-1, Op. 7, D. 143, Ll. 20, 122.

Filtzer, The Hazards of Urban Life in Late Stalinist Russia, 182, 201 f. GARF, F. R9412, Op. 1, D. 23, L. 179. Donald Filtzer zufolge wiesen auch einige Fabriken in Moskau und Gor’kij (heute: Nischni Nowgorod) im Winter 1947 Temperaturen unter null Grad auf. Ähnliches galt für Krankenhäuser in der Oblast Moskau, die offiziell 14 bis 16 Grad warm sein sollten – Werte, die in der Praxis selten erreicht wurden. Filtzer, The Hazards of Urban Life in Late Stalinist Russia, 201. 159 Vilenskij, Deti GULAGa, 347, 379. 160 Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War, 140.

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den Einrichtungen des NKVD aufgetretenen Krankheiten. Verbreitet war insbesondere alimentäre Dystrophie, ein Leiden, das ausgelöst durch Hunger und Unterernährung zu Muskelschwund sowie zu Störungen lebenswichtiger Stoffwechsel- und Organfunktionen führen und schlimmstenfalls den Tod bedeuten kann. Aufgrund des Vitaminmangels häuften sich zudem Fälle von Pellagra und Skorbut.161 1944 verzeichneten die Kolonien wiederholt Ausbrüche von Infektionskrankheiten, darunter Typhus, Ruhr, Masern, Scharlach, Diphterie, Keuchhusten und Tuberkulose.162 In der Archangelsker Arbeitskolonie sind in den ersten sieben Monaten des Jahres 1943 etwa ein Dutzend minderjährige Häftlinge infolge von Skorbut, Tuberkulose und Lungen­ entzündung verstorben.163 Der Ausbruch von Infektionskrankheiten bedingte sich jedoch nicht nur durch die mangelhafte Ernährung, sondern auch durch die katastrophalen hygienischen Zustände in den Kolonien. Eines der Hauptprobleme war das Fehlen von Seife. Obgleich das NKVD am 30. Oktober 1944 angeordnet hatte, dass jeder männliche Zögling monatlich 300 Gramm erhalten sollte – bei besonders dreckiger Arbeit bis zu 200 Gramm zusätzlich –, dürften die wenigsten von ihnen tatsächlich welche zu Gesicht bekommen haben.164 In den Kriegsjahren hatte selbst der sowjetische Normalverbraucher kaum Zugang zu Seife und wenn doch, dann war sie nicht selten von derart minderer Qualität, dass sie nicht benutzt werden konnte. Banjabesuche sollten laut den Vorgaben der Behörden alle zehn Tage erfolgen. Da aber viel zu wenige Einrichtungen dieser Art existierten oder mangels Brennmaterialien nicht beheizt werden konnten, gelang es den Bewohnern Moskaus 1943 im Durchschnitt nur alle 28 Tage, ein Bad zu nehmen. In den Provinzen herrschte ein noch schlimmeres Bild. In Jaroslavl’ badeten die Bürger statistisch gesehen nur acht Mal pro Jahr, in Furmanovo, einer Stadt in der Oblast Ivanovo, sogar nur sechs Mal.165 Was diese Unzulänglichkeiten für die Archangelsker Arbeitskolonie bedeuteten, führt ein Bericht von August 1943 vor Augen. Demnach befanden sich die Wohnheime in derart dreckigem Zustand, dass sie von Wanzen heimgesucht wurden. Schmutzig waren vor allem Kleidung und Betten der Zöglinge, wobei von letzteren genau genommen nicht die Rede sein konnte. In den meisten Fällen handelte es sich um gefängnisähnliche doppel- und dreistöckige Pritschen, die überbelegt waren, da in ihnen drei respektive fünf

161 Ebd.; GARF, F. R9412, Op. 1, D. 19, L. 89. 162 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 20, L. 173; GARF, F. R9412, Op. 1, D. 42, L. 16. 163 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 9, L. 85. 164 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 3, L. 15. 165 Filtzer, The Hazards of Urban Life in Late Stalinist Russia, 133 f., 136.

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Gesundheit und Hygiene 

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Personen schliefen. Auch Bettzeug (Laken, Decken und Kissen) war kaum vorhanden.166 Je länger der Krieg dauerte, desto weniger Besorgnis scheinen die desolaten Verhältnisse erregt zu haben. So charakterisierte ein NKVD -Hauptmann namens Rodionov den sanitären Zustand der Kolonie im Februar 1944 einzig mit dem lapidaren Satz »[…] vom 1. August 1943 bis zur Gegenwart [Februar 1944] sind unter den Kindern keine Todesfälle aufgetreten.«167 Das heißt nicht, dass die Einrichtung innerhalb von sechs Monaten eine merklich positive Entwicklung genommen hätte. Vielmehr verbarg sich hinter Rodionovs Aussage ein Gefühl von Resignation, möglicherweise auch Gleichgültigkeit, da die Defizite der Kolonie, wenn überhaupt, dann nur minimal behoben werden konnten. Zudem waren sie – so zynisch es klingen mag – für die damalige Zeit alles andere als untypisch. Katastrophale sanitär-hygienische Bedingungen herrschten in der überwiegenden Mehrheit der staatlichen Institutionen für Minderjährige. So hat Olga Kucherenko in ihrer Untersuchung festgestellt, dass die Waisenheime der Region Krasnojarsk während der gesamten Kriegszeit nicht mit einer einzigen neuen Bettwäschegarnitur oder Kinderjacke beliefert worden sind.168 Auch Artek stellte hiervon keine Ausnahme dar. Erschwerend kam hinzu, dass weite Teile des Lagers zerstört worden, Inventar und Mobiliar verlorengegangen waren und sich Ersatz kurzerhand nicht beschaffen ließ.169 An Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, wie sie in der Zwischenkriegszeit stattgefunden hatten, war unter den gegebenen Umständen nicht zu denken. Nicht nur mangelte es an medizinischem Fachpersonal und Medikamenten, sondern auch an elementarsten Dingen wie Seife und Reinigungsmitteln. Zwischen 1944 und 1947 war das Lager außerstande, einen merklichen Beitrag zur Verbesserung der Konstitution der Kinder und Jugendlichen zu leisten, von denen die Mehrheit an Tuberkulose, Bronchitis, Anämie, Dystrophie und Wurmbefall erkrankt war. So kam es vor, dass Pioniere dreckig und in völlig zerschlissener Kleidung im Lager ankamen und in ebendiesem, manchmal gar in schlimmerem, Zustand nach Hause zurückkehrten. Weder Kinder und Jugendliche noch Pionierleiter waren in der Lage, ausreichend körperliche Hygiene zu betreiben. In den Gebäuden herrschte nicht ein Mindestmaß an Sauberkeit, sodass sich in Suuk-Su und im oberen Lager Wanzen und Läuse ausgebreitet hatten. Dass auch die Bettwäsche nur selten gewaschen und gewechselt wurde, war insofern problematisch, als viele Kinder und Jugendliche 166 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 8, Ll. 199 f. 167 Im russischsprachigen Original heißt es an dieser Stelle »Sanitarnoe sostojanie kolonii charakterizuetsja tem, čto s 1-go avgusta 1943 goda po nastojaščee vremja smertnych slučaev sredi detej ne bylo.« GARF, F. R9412, Op. 1, D. 9, L. 105. 168 Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War, 68, 139. 169 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 1S, L. 1; RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 5, L. 1.

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Erziehung und »Unerziehung«

unter Enuresis (Bettnässen) litten170  – ein Krankheitsbild, das damals sehr häufig vorkam171 und eine Folge der Kriegstraumata war, die sie erlebt hatten. Angesichts der katastrophalen sanitär-hygienischen Verhältnisse stand Arteks Weiterbetrieb zeitweilig sogar auf dem Spiel.172 Als wären die Kinder und Jugendlichen in der Kriegs- und Nachkriegszeit nicht ohnehin unzureichend versorgt worden, trug das Verhalten der Mitarbeiter in zahlreichen sowjetischen Einrichtungen zur Verschärfung der Situation bei. So erwähnt Olga Kucherenko, dass die Waisenhäuser der Oblast Čeljabinsk in den ersten drei Monaten des Jahres 1942 ausnahmslos Getreide und Brot erhielten. Eine Lieferung, bestehend aus 400 Kilogramm Butter, 200 Kilogramm Fleisch und 5.000 Eiern, war zwar auf den Weg geschickt worden, erreichte aber nie ihr Ziel.173 Analoge Vorkommnisse ereigneten sich unionsweit in den Arbeitskolonien des NKVD. Dass die Entwendung von Gütern jeglicher Art zu einem regelrechten Massenphänomen avanciert war, bestätigt eine Anordnung der sowjetischen Staatsanwaltschaft vom 28. Juli 1945, die dieser Entwicklung mittels härterer Strafmaßnahmen einen Riegel vorzuschieben suchte.174 Gestohlen wurden nicht nur Lebensmittel, sondern auch Güter des alltäglichen Bedarfs wie Seife, Medikamente, Wäsche, Geschirr, Möbel oder Brennmaterial. Wenngleich außer Frage steht, dass dieses Vorgehen den Kolonien immensen Schaden zufügte und zulasten der Gesundheit der Zöglinge ging, so bleibt doch zu bedenken, dass die Motivation der Angestellten hierfür nicht in schamloser Selbstbereicherung, sondern in der Sicherung ihres eigenen und des Überlebens ihrer Familien begründet lag. In Einrichtungen, die so isoliert und unzugänglich waren wie die Archangelsker Arbeitskolonie, hatte auch das Personal im Falle von Versorgungsengpässen schlichtweg keine andere Möglichkeit, der Misere zu entkommen. Im Pionierlager Artek ernährten nicht wenige Mitarbeiter sich und ihre Verwandten bis in die zweite Hälfte der 1940er Jahre hinein auf Kosten der Kinder und Jugendlichen, existierte doch im Umkreis von 30 Kilometern kein einziger Kolchosmarkt, auf dem sie sich mit Lebensmitteln und anderen Produkten hätten eindecken können.175 Allerdings ereigneten sich ebenso Fälle, die nicht anhand der allseits vorherrschenden Not erklärbar, sondern auf das verantwortungslose Verhalten einzelner Personen zurückzuführen sind. So 170 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 3, L. 16; RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 7, L. 55; RGASPI, F. M-1, Op. 7, D. 143, Ll. 29, 41, 50, 58, 122. 171 Auch in der Archangelsker Arbeitskolonie gab es in der Kriegs- und Nachkriegszeit zahlreiche Bettnässer. GARF, F. R9412, Op. 1, D. 88, L. 20 ob. 172 RGASPI, F. M-1, Op. 7, D. 143, L. 122. 173 Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War, 68. 174 Vilenskij, Deti GULAGa, 442 f. 175 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 3, L. 17; RGASPI, F. M-1, Op. 7, D. 143, Ll. 20, 122.

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Informelle Hierarchien, Repression und Gewalt 

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hatte der Direktor des Lagers, Nikolaj Postnikov, zwischen Mai und September 1946 sieben Bankette abgehalten, auf denen 1.060 Flaschen Wein und 97 Liter Wodka mit einer Gesamtsumme von 125.579 Rubeln getrunken worden waren – Gelder, die in Artek anderweitig hätten verwendet werden können.176

3.

Informelle Hierarchien, Repression und Gewalt

3.1

Personal als Problem

Dass während der Kriegszeit und ihrer Nachwehen weder in der Archangelsker Arbeitskolonie noch im Pionierlager Artek Raum für stringente erzieherische Maßnahmen blieb, erklärt sich somit nicht nur durch den Mangel an finanziellen und materiellen, sondern auch an verantwortungsbewussten und qualifizierten personellen Ressourcen. Die Direktoren und ihre Mitarbeiter, darunter Erzieher, Ausbilder und Pionierleiter, spielten eine Schlüsselrolle für das Funktionieren der Einrichtungen. Ob die Beziehungen der Kinder und Jugendlichen untereinander sowie zu ihren Betreuern harmonisch und von wechselseitigem Respekt oder von gegenteiligem Schlag waren, hing maßgeblich von der Einstellung und dem Handeln des Personals ab. Im Kontext »totaler Institutionen« war insbesondere die Persönlichkeit des Direktors, wie Catriona Kelly demonstriert hat, von ausschlaggebender Bedeutung. Inwieweit es die Einrichtungen vermochten, trotz noch so widriger und unzureichender Bedingungen eine liebevolle Atmosphäre herzustellen, oblag in erster Linie seiner Verantwortung.177 Die Akquirierung von Personal stellte sowohl das Pionierlager Artek als auch die Archangelsker Arbeitskolonie vor große Herausforderungen. Angesichts der peripheren Lage beider Einrichtungen fanden sich kaum (qualifizierte)  Mitarbeiter, welche die Entbehrungen in Kauf zu nehmen bereit waren, die das Leben an diesen Orten von ihnen abverlangte. Wer dennoch begonnen hatte, hier zu arbeiten, besaß oftmals keine pädagogische Ausbildung und / oder kein Interesse an der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und versuchte deshalb so schnell wie möglich, anderswo einen Job zu ergattern. Die hohe Fluktuationsrate manifestierte sich in fehlender Kontrolle und pervertierte die Bildungs- und Erziehungsarbeit mit den Pionieren und Zöglingen. Auf interner Ebene stand in Artek daher weniger das Verhalten der Kinder und Jugendlichen als vielmehr das der Direktoren und Mitarbeiter zur 176 Ebd., L. 51. 177 Kelly, Children’s World, 241.

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Debatte. Missetaten wie die ausschweifende Abhaltung von Banketten und Trinkgelagen waren in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit kein Einzelfall. Hiervon zeugen nicht zuletzt die häufigen Wechsel auf der Leitungsebene des Lagers. Kaum ein Direktor behielt zwischen 1944 und 1952 seinen Posten länger als ein oder zwei Jahre.178 Nicht alle Unzulänglichkeiten Arteks waren Ausdruck ihres Unvermögens. Den allseitigen Mangel konnte auch der erfahrenste Mitarbeiter nicht beheben. Nichtsdestotrotz ließen zumindest einige Direktoren Gemeinsinn, Verantwortungsbewusstsein und Respekt dem Lager und seinen jungen Besuchern gegenüber vermissen. Ende des Jahres 1945 (oder Anfang 1946) schickten drei Mitarbeiter einen mehrseitigen Beschwerdebrief an das Sekretariat des CK des Komsomol in Moskau, in dem sie die katastrophalen Zustände Arteks anprangerten und die Verantwortlichen einer vernichtenden Beurteilung unterzogen.179 In ihrem Schreiben, das zugleich als illustratives Exempel für die Ausübung von Kritik und Selbstkritik (kritika i samokritika)180 gelten kann, erklärten sie die Direktion des Lagers zum Hauptschuldigen der Misere. Wie sich beim Lesen des Dokuments herauskristallisiert, hatte die Lagerleitung angesichts der kriegsbedingten Versorgungsengpässe und der Hungersnot ein für die damalige Zeit typisches System der Günstlingswirtschaft und Korruption etabliert. Die Involvierten erhielten dadurch nicht nur Zugang zu materiellen Gütern, vor allem zu Mangelware, sondern kamen auch in den Genuss zahlreicher Privilegien.181 Die maßlosen Bankette waren nur eines von vielen Beispielen, in denen die Machenschaften der Direktion zum Ausdruck kamen. Gleichermaßen bezeichnend hierfür erwies sich ihr Umgang mit dem Personal. Die Ursachen der hohen Fluktuation – allein im Jahr 1945 verließen 179 Mitarbeiter Artek – lagen zum einen darin begründet, dass nicht wenigen Angestellten gekündigt wurde, nachdem sie Kritik an den Zuständen des Lagers geäußert hatten. Zum anderen ist anzunehmen, dass einige ihre Arbeit aus Verzweiflung oder Enttäuschung quittiert haben, nachdem sie erkannt hatten, dass die Direktion weder ihnen noch den Kindern und Jugendlichen 178 Stribuk / Murašov, Artek: Ot A do Ja, 17 f. 179 RGASPI, F. M-1, Op. 7, D. 143, Ll. 46–52. 180 Die Kampagne von Kritik und Selbstkritik war bereits 1928 lanciert worden. Selbstkritik meinte jedoch »nicht das individuelle Schuldbekenntnis«, sondern die legitime und konstruktive Kritik an öffentlichen Mißständen.« Erren, Lorenz: »Selbstkritik« und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917–1953). München 2008, 11, 17. Sie erfolgte in der Regel von unten nach oben und besaß lokalen Charakter, da sie weder an den Grundfesten der Parteidoktrin rütteln noch die Person Stalins in Frage stellen durfte. So ermutigte die Kampagne vorrangig einfache Leute, insbesondere Arbeiter, gegen ihre Chefs Stellung zu beziehen. Kharkhordin, The Collective and the Individual in Russia, 146 f., 149–151. 181 Siehe hierzu Heinzen, James: The Art of the Bribe. Corruption under Stalin, 1943–1953. New Haven, CT, London 2016, 21 f.

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ausreichend Beachtung und Respekt zollte.182 Eine junge Pionierleiterin, die mit einer Gruppe von Kindern aus Sibirien angereist war, erhielt beispielsweise keinerlei Unterstützung und Anweisung zur Bildungs- und Erziehungsarbeit. Da sie nicht wusste, wie sie die Pioniere beschäftigen und welche Inhalte sie ihnen vermitteln sollte, sprach sie mit ihnen nicht über die Besonderheiten der Halbinsel Krim, sondern über die ihrer Heimat Sibirien. Eine andere Pionierleiterin hatte mit ihrer Gruppe ein Abendprogramm einstudiert. Anstatt sich die Aufführung anzusehen, zu der er mehrfach eingeladen worden war, zog es der Leiter des Lagers Suuk-Su vor, den Abend mit einer Frau in der Kantine zu verbringen. Als er mit einiger Verspätung doch noch eintraf, musste die Pionierleiterin mit Entsetzen feststellen, dass er unter Alkoholeinfluss stand.183 Derselbe Mann sowie der Leiter eines weiteren Lagers ernteten zudem aufgrund ihres Sexualverhaltens Kritik. Schuld an ihrer Kompromittierung und am Verlust ihrer Autorität trug der Umstand, dass sie verheiratet waren, ihre Frauen und Kinder jedoch zugunsten neuer Partnerinnen, die ebenfalls in Artek arbeiteten, verlassen und ihre Eheprobleme vor aller Öffentlichkeit ausgetragen hatten.184 Dass Informationen bezüglich ihres Sexuallebens damit an höchste staatliche Stellen gelangten – in diesem Fall an das Sekretariat des CK des Komsomol in Moskau –, war nicht ungewöhnlich und ist vor dem Hintergrund des sowjetischen Familienkodex von 1944 zu sehen. Da der Krieg nicht nur Familien und Ehen zerstört, sondern auch über 20 Millionen Menschen das Leben gekostet, ein starkes Geschlechterungleichgewicht produziert und zu einem massiven Rückgang der Geburtenrate geführt hatte, suchte die Familiengesetzgebung von 1944 letztere zu erhöhen, indem sie Scheidungen erschwerte, den Unterhalt von Kindern an strengere Bedingungen knüpfte und finanzielle Anreize für (zukünftige) Mütter schaffte. Ein bigamer Lebensstil, wie ihn die beiden Lagerleiter praktizierten, zeugte von undiszipliniertem und ungesetzlichem Verhalten und erwies sich ihrer Position als unwürdig.185 Missbilligung erfuhren ebenso einige Pionierleiter und Pionierleiterinnen, weil sie im Verdacht standen, sexuelle Kontakte zu heranwachsenden Jungen und Mädchen zu unterhalten. Eine Pionierleiterin war zusammen mit einem 15-jährigen Jungen im Bett erwischt worden. Angesichts ihrer Liebesaffäre hatte sich am 12. Dezember 1945 eine Messerstecherei ereignet, an der ein Mitarbeiter des Lagers und drei Pioniere beteiligt waren, wobei einer der 182 183 184 185

RGASPI, F. M-1, Op. 7, D. 143, L. 51.

Ebd., Ll. 49 f. Ebd., 50. Cohn, Edward: The High Title of a Communist. Postwar Party Discipline and the Values of the Soviet Regime. DeKalb, IL 2015, 146 f. Dasselbe galt für Männer, die eine Parteimitgliedschaft besaßen und ihre Frauen und Kinder verlassen hatten. Auf sie wartete zumindest eine Abmahnung. Schlimmstenfalls konnte ihr Verhalten aber auch den Ausschluss aus der Partei bedeuten. Ebd., 147.

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Pioniere Schnittverletzungen davontrug und im Isolator behandelt werden musste.186 Das Risiko, das die drei Briefeschreiber mit ihren kritischen Äußerungen eingegangen waren, hat sich zwar insofern gelohnt, als Artek 1946 einen neuen Direktor erhielt.187 An der hohen Fluktuationsrate188 vermochte dies jedoch nichts zu ändern. Wenngleich im Verlauf des Jahres 1949 insgesamt 365 neue Mitarbeiter eingestellt worden waren, haben das Lager im selben Zeitraum genauso viele Personen wieder verlassen, darunter 215 Stammmitarbeiter. So sah sich auch der neue Direktor dem Vorwurf ausgesetzt, sich lediglich um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern und die Bedürfnisse des Personals zu ignorieren, obwohl dessen schlechte Lebensbedingungen, die als Ursache der Fluktuation galten, geradezu offensichtlich waren. Die Wohnungen und Unterkünfte der Mitarbeiter befanden sich nicht nur in renovierungsbedürftigem Zustand, sondern waren obendrein auch noch überteuert. Die Mieten lagen teilweise doppelt oder gar dreimal so hoch wie in Moskau, weshalb sich viele zu dritt oder zu viert ein Zimmer teilten. Die Heizungen in den Räumen funktionierten ebenso mangelhaft wie die Banja, die mitunter drei bis vier Wochen lang nicht genutzt werden konnte. Ebenso fehlte nach wie vor ein Kolchosmarkt, auf dem sich die Mitarbeiter hätten versorgen können, zumal die Kantine nicht fähig war, Lebensmittel von guter Qualität anzubieten.189 Obgleich die Archangelsker Arbeitskolonie grundsätzlich mit ähnlichen Personalproblemen zu kämpfen hatte, waren sie doch von vollkommen anderer Dimension und wiesen ungleich dramatischere Ausprägungen auf. Zwar erfüllten auch die Direktoren Arteks nicht die an sie gestellten Erwartungen, waren vorrangig darauf bedacht, ihre eigenen Vorteile zu sichern und kamen weder ihrer Verantwortung den Kindern und Jugendlichen noch den Mitarbeitern gegenüber ausreichend nach. Doch meldeten sich hier immer 186 RGASPI, F. M-1, Op. 7, D. 143, L. 50. 187 Stribuk / Murašov, Artek: Ot A do Ja, 17.  188 Fluktuation war ein gesamtsowjetisches Phänomen, mit dem die Gewerkschafts-, Komsomol- und Parteifunktionäre bereits während des ersten Fünfjahrplans (1928–1932) zu kämpfen hatten. Es galt neben Arbeitsbummelei, Zuspätkommen, Trunkenheit, Hooliganismus, Unachtsamkeit sowie Fehlanwendung von Maschinen und Werkzeugen als Verstoß gegen die Arbeitsdisziplin. Lewin, The Making of the Soviet System, 242; Siegelbaum, Lewis H.: Masters of the Shop Floor: Foremen and Soviet Industrialization. In: Rosenberg, William G. / Siegelbaum, Lewis H. (Hg.): Social Dimensions of Soviet Industrialization. Bloomington, IN 1993, 181. Das Problem konnte bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion nicht zufriedenstellend gelöst werden. Die Hauptursachen für die hohe Fluktuation waren neben niedrigen Löhnen die unzureichenden Wohn- und Lebensverhältnisse unweit der Fabriken, sodass Arbeiter und Angestellte sich mit Antritt einer neuen Stelle bereits nach der nächsten umsahen. Weiterführend hierzu siehe Filtzer, Donald A.: Soviet Workers and Late Stalinism. Labour and the Restoration of the Stalinist System after World War II . Cambridge 2002. 189 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 54, Ll. 1, 1 ob., 2, 2 ob., 3, 3 ob.

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wieder kritische Stimmen zu Wort, die diesen Zuständen ein Ende bereiten wollten, die sich den Pionieren gegenüber in der Pflicht fühlten und alle Hebel in Bewegung setzten, damit Artek seiner ursprünglichen Bestimmung, ein Lager zur Erholung und Erziehung zu sein, wieder gerecht werden konnte. Hierin manifestiert sich ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Einrichtungen, denn der Archangelsker Arbeitskolonie fehlte es in derart gravierendem Maße an Personal, das schlichtweg niemand vorhanden war, der sich dem Schicksal der Zöglinge hätte annehmen und für eine Verbesserung ihrer Situation hätte eintreten können. Anders als in Artek herrschten hier nicht nur Personalprobleme, sondern regelrechter Personalmangel. Wenn die Bildungs- und Erziehungsarbeit in ersterer Einrichtung ein geringes Niveau hatte, dann war sie in letzterer inexistent. Dieser Umstand trug dazu bei, dass sich die Kolonie zu einem »Gewaltraum«190 entwickelte, in dem Prügeleien, Messerstechereien und andere Straftaten, die nicht selten tödlich endeten, auf der Tagesordnung standen – ein Bild, das unionsweit die Arbeitskolonien des NKVD charakterisierte.191 Bereits 1937 fehlten in der Archangelsker Arbeitskolonie Mitarbeiter, die die Zöglinge schulisch und beruflich hätten unterweisen können. Von den rund 1.200 Minderjährigen, die die Einrichtung damals zählte, gingen 209 keiner Ausbildung nach. Da nicht genügend Handwerksmeister vorhanden waren, arbeiteten in den Werkstätten ehemalige erwachsene Gefangene, die nach Verbüßung ihrer Haft hierher überführt worden waren.192 Zwar war es alles andere als ungewöhnlich, dass einstige Gulag-Insassen nach ihrer Entlassung als »freie Arbeiter« in den Lagern verblieben, da sie sich aufgrund ihres sogenannten »Wolfspasses« nur in bestimmten Regionen aufhalten durften

190 Die Arbeit stützt sich hier auf eine Definition von Felix Schnell, der Gewalträume als »soziale Räume, die den Gebrauch von Gewalt begünstigen oder wahrscheinlich machen« [versteht], »weil sie Chancen bieten, eigene Interessen oder Bedürfnisse gewaltsam durchzusetzen.« Diese Chancen nutzt in der Regel eine junge männliche, gewaltbereite Minderheit, die sogenannte »violent few«. Schnell zufolge stehen Gewalträume mit schwachen oder fehlenden staatlichen Institutionen, Strukturen und Ordnungen in Verbindung. Da Gewalträume Gewalt begünstigen, zugleich aber eine Folge von Gewalt sind, versteht Schnell Gewalthandeln und Gewalträume in Anlehnung an Anthony Giddens als »wechselseitige Momente eines dialektischen sozialen Prozesses.« Schnell, Felix: Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905–1933. Hamburg 2012, 20 f. Zu Gewalträumen siehe außerdem Baberowski, Jörg / Metzler, Gabriele (Hg.): Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand. Frankfurt am Main 2012. 191 Entsprechende Vorkommnisse ereigneten sich allein in den Jahren 1945/46 in den Einrichtungen der Oblaste Taschkent, Alma-Ata, Kalininsk (heute: Tver’), Ivanovo, Čeljabinsk und Saratov sowie der Tatarischen ASSR . GARF, F. R9412, Op. 1, D. 42, Ll. 4, 24; Vilenskij, Deti GULAGa, 454 f. 192 GARF, F. R5207, Op. 1, D. 1401, Ll. 56, 97.

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und schwer eine »normale« Arbeit fanden.193 Doch konnten Erwachsene, die selbst mehrere Jahre in den Gewalträumen des Gulag zugebracht hatten, keinen positiven Einfluss auf die Jugendlichen ausüben. Die Verantwortlichen der OTK waren sich dieses Missstandes durchaus bewusst, vermochten ihn aber auch auf lange Sicht nicht zu beheben. 1943 arbeiteten in der Archangelsker Arbeitskolonie gerade einmal neun Erzieher, die für mehr als 700 Minderjährige verantwortlich zeichneten.194 1946 beschäftigte die Einrichtung statt der benötigten 28 nur zwölf Handwerksmeister, die die Zöglinge instruieren und ausbilden sollten. Fünf der zwölf waren nur gering qualifiziert, bei acht der zwölf handelte es sich um erwachsene Häftlinge.195 Letztere waren auf dem Gelände der Kolonie immer noch in großer Zahl präsent. 1947 arbeiteten von 477 erwachsenen Gefangenen 145 in direktem Kontakt mit den Minderjährigen.196 1951 fehlten nicht nur drei Ingenieure und vier Produktionsmeister, sondern auch 18 Aufseher.197 Der Mangel an Personal hatte weitreichende Folgen. Da in den Werkstätten nie genügend Fachkräfte vorhanden waren, ereigneten sich zahlreiche Arbeitsunfälle. 1943 starben sechs Zöglinge. Vier von ihnen hatten chemische Vergiftungen erlitten; die Todesumstände der anderen zwei sind unklar, könnten aber im Zusammenhang mit der Fertigung der Granatwerferminen stehen.198 Auch 1946 wurden mehrere Dutzend Minderjährige Opfer von Arbeitsunfällen.199 Im Juni 1949 starb ein Jugendlicher infolge einer Kopfverletzung, die er sich an einer Drehmaschine zugezogen hatte.200 Fünf Jahre später erlitt ein Zögling eine schwere Handverletzung beim Bedienen einer Kreissäge.201 Das Fehlen von Erziehern führte schließlich dazu, dass die Minderjährigen größtenteils sich selbst überlassen blieben, woraufhin die Kolonie wiederholt Gewaltausbrüche erlebte, im Rahmen derer ältere Zöglinge auf jüngere einschlugen. Bereits im Mai 1941 hatte der stellvertretende Volkskommissar für innere Angelegenheiten, Sergej Kruglov (1907–1977), die Entlassung des Leiters für Bildungs- und Erziehungsarbeit angeordnet.202 Eine Verbesserung 193 Applebaum, Der Gulag, 488; Ivanova, Galina M.: Der Gulag im totalitären System der Sowjetunion. Berlin 2001, 156, 160 f. 194 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 8, L. 198. 195 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 88, L. 21 ob. 196 GARF, F. R8131, Op. 37, D. 3539, L. 120. 197 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 326, Ll. 343 f. 198 Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.), 199 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 168, L. 283. 200 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 205, L. 72. 201 GARF, F. R9412, Op. 4, D. 11, L. 4. 202 Vilenskij, Deti GULAGa, 370.

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der Zustände trat in der Archangelsker Arbeitskolonie damit allerdings nicht ein. Zwei Jahre später warf ein Bericht den Erziehern vor, Gewalt gegen Kinder und Jugendliche anzuwenden und Prügeleien zwischen ihnen zu tolerieren. Außerdem bezichtigte er sie, die Minderjährigen in Lebensmittel-Tauschgeschäfte zu involvieren und Nachsicht im Hinblick auf deren Kartenspiele um Essensrationen und Tabak walten zu lassen.203 1948 zog ein Kartenspiel zwischen zwei Jugendlichen einen Streit mit Todesfolge nach sich.204 Bis in die Mitte der 1950er Jahre hinein ereigneten sich in der Archangelsker Arbeitskolonie immer wieder Vorkommnisse mit tödlichem Ausgang oder schwerer Körperverletzung. So starb im Januar 1946 ein Junge an den Folgen massiver Gewalteinwirkung, die ihm Altersgenossen zugefügt hatten.205 Am 27. Mai 1948 versuchten zwei Zöglinge, einen dritten mit einem Beil zu erschlagen. Einen Monat später verletzten vier Minderjährige einen Mithäftling mit neun Messerstichen. Am 30. August erwürgten drei Jugendliche nachts einen Zögling und warfen seine Leiche in eine Latrine. Am 21. Dezember 1948 wurde ein Junge so schwer von zwei Altersgenossen geschlagen, dass er den Folgen seiner Verletzungen erlag.206 1951 versuchten minderjährige Häftlinge, einige Gebäude auf dem Gelände der Kolonie in Brand zu stecken. Im selben Jahr wollte ein Jugendlicher eine diensthabende Krankenschwester vergewaltigen.207 Dass das Personal der Archangelsker Arbeitskolonie mitunter regelrecht machtlos war, belegt eine Massenrandale, die am 29. September 1953 gegen zehn Uhr morgens auf der Quarantänestation ausbrach. Infolge eines Spiels hatten mehrere Zöglinge begonnen, einen Altersgenossen mit Handtüchern zu schlagen. Anstatt der Aufforderung der Erzieher und Aufseher nachzukommen und dies zu unterlassen, bewaffnete sich ein Jugendlicher mit einer Schüssel und provozierte damit weitere Zöglinge, woraufhin die Lage eskalierte. Mehrere Jugendliche durchbrachen Türen und bewarfen die Erzieher mit Stöcken, Tischbeinen und anderem Inventar. Am frühen Nachmittag trafen der stellvertretende Direktor der Kolonie, ein Bevollmächtigter der ODK und ein Staatsanwalt am Ort des Geschehens ein, um die Situation aufzuklären und mit den Zöglingen ins Gespräch zu kommen. Ernsthafte Probleme, 203 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 8, Ll. 196, 198–200. 204 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 319, L. 149. In der Arbeitskolonie von Kinešma in der Oblast Ivanovo hatte sich bereits 1946 ein ähnlicher Fall zugetragen. Nachdem ein Jugendlicher seine Brotration für die kommenden 14 Monate beim Kartenspiel verloren hatte, sah er keinen anderen Ausweg, als seinen Widersacher umzubringen. Bubličenko, Sozdanie i razvitie detskich zakrytych učreždenij NKVD -MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii (1935–1956 gg.), 84. 205 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 88, L. 21. 206 GARF, F. R8131, O. 37, D. 4779, Ll. 28 f. 207 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 319, Ll. 149 f.; GARF, F. R9412, Op. 1, D. 326, L. 367.

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Erziehung und »Unerziehung«

Beschwerden oder Verstöße im Umgang mit den Minderjährigen konnten sie allerdings nicht feststellen. Nachdem sich die Situation vorerst beruhigt hatte, brach schließlich erneut Gewalt aus. Wieder rissen einige Jugendliche Türen heraus und griffen das Wachpersonal an. Um die Lage unter Kontrolle zu bringen, rückten zwei Feuerwehrautos an. Die jungen Randalierer wurden schließlich in den Strafisolator208 der Kolonie überführt. Als Ursache für die Ausschreitungen machte der Verfasser des Berichts die hohe Zahl an Neuzugängen verantwortlich. Seit dem 1. September 1953 sind insgesamt 91 Jugendliche in die Kolonie gekommen, die aufgrund schwerer Verbrechen zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren.209 Da das Personal mit einer solchen Masse an gefährlichen Straftätern überfordert war, bat der Autor darum, vorerst keine weiteren Zöglinge zu überstellen und die Zahl der Neuzugänge in Zukunft zu beschränken.210 Wie all die Beispiele demonstrieren, besaßen weder Erzieher noch Aufseher ausreichend Autorität, um auf die Minderjährigen einwirken und entsprechende Taten verhindern zu können. Den Verantwortlichen fehlendes Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Zöglingen vorzuwerfen, ist jedoch zu kurz gegriffen, selbst wenn es oft tatsächlich der Fall gewesen sein mag. Ihre Ohnmacht erklärt sich in erster Linie aus ihrer schieren Unterzahl und, daraus resultierend, möglicherweise auch aus der Angst, selbst Opfer der Übergriffe der Minderjährigen zu werden. Die »agency« der Zöglinge trat demzufolge vor allem in ihrer Gewaltanwendung zutage. Es gelang ihnen, eigene Hierarchien aufzubauen und die Befehle der Erzieher und Aufseher weitestgehend zu ignorieren – ein Charakteristikum, in dem 208 Isolatoren existierten in der Nähe jeder Kolonie. Wie aus einer Anordnung des NKVD vom 16. Juli 1939 hervorgeht, konnten hierher Zöglinge ab einem Alter von zwölf Jahren transferiert werden, die innerhalb der Kolonie Verstöße gegen die Disziplin und das režim, Straftaten oder Fluchtversuche begangen hatten. Die maximale Aufenthaltsdauer war auf sechs Monate beschränkt. Vilenskij, Deti GULAGa, 313–315. Die Nahrungsrationen, schon in gewöhnlichen Arbeitskolonien unzureichend, waren in Strafisolatoren noch niedriger bemessen. Ebd., 346–351. Auch Pëtr Jakir musste in einem solchen Isolator knapp eine Woche zubringen, nachdem er einen Fluchtversuch aus der Arbeitskolonie in Verchotur’je gewagt hatte und vom Wachpersonal wieder eingefangen worden war. Jakir / Telesin, Detstvo v tjur’me, 102–108. 209 Im Zuge der Archivrecherchen zur Archangelsker Arbeitskolonie konnte kein einziges Dokument eruiert werden, das Auskunft darüber hätte geben können, wie die Minderjährigen auf die Insel im Dwina-Delta gelangten. Es ist jedoch anzunehmen, dass sie sie entweder per Schiff oder zu Fuß auf dem Landweg erreichten, da Autos, Lkw oder Busse nur selten zur Verfügung standen. Um den Transportaufwand gering zu halten, erfolgte ihre Überführung höchstwahrscheinlich in größeren Gruppen, was zu den erwähnten Problemen führte. Ebenso ist davon auszugehen, dass sie an einer zentralen Stelle in Archangelsk zusammentrafen, beispielsweise am Hafen, und von dort gemeinsam in die Kolonie aufbrachen. 210 GARF, F. R9412, Op. 4, D. 11, Ll. 62–64.

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die Archangelsker Arbeitskolonie den Lagern des Gulag ähnelte.211 Hierfür dürften einerseits die erwachsenen Häftlinge Vorbild gestanden haben. Andererseits hatten vergleichbare Strukturen und Praktiken, die sich nun innerhalb der Kolonie wiederfanden, auch schon das Zusammenleben der besprizorniki auf den Straßen bestimmt. Straftaten wie Überfälle, schwere Körperverletzung, Totschlag und Mord haben sich damit aus der öffentlichen in die staatlich-institutionelle Sphäre verlagert. 3.2

Ein Archipel aus Kolonien

Dass Arbeitskolonien wie die in Archangelsk Gewalträume par excellence darstellten, die nicht der Erziehung der Kinder und Jugendlichen dienten, sondern vielmehr zu Gegenteiligem, nämlich zu ihrer »Unerziehung« beitrugen, blieb den Partei- und NKVD -Eliten nicht verborgen. Bis sie umdachten und neue Maßnahmen ergriffen, sollten aber fast zehn Jahre vergehen. Mit dem Kriegsausbruch 1941 war die Zahl der besprizorniki und damit auch die der von Minderjährigen verübten Straftaten in die Höhe geschnellt. Statistiken zufolge gab es in der Sowjetunion im Jahr 1943 insgesamt 204.578 obdachlose Kinder und Jugendliche. 1944 belief sich ihre Zahl auf 341.134, 1945 auf 296.432 Personen.212 Um besprizornost’ und Hooliganismus zu bekämpfen, beschloss der Sovnarkom der UdSSR am 15. Juni 1943 die Errichtung sogenannter Arbeits- und Erziehungskolonien (Detskie trudovye i vospitatel’nye kolonii – DTVK ). Der neue Typus entstand parallel zu den bereits existierenden Arbeitskolonien und war für Minderjährige im Alter zwischen elf und 16 Jahren vorgesehen, die kleinere Diebstähle begangen hatten, durch Hooliganismus unbeachtlichen Ausmaßes oder andere geringe Vergehen aufgefallen waren. Auch Kinder und Jugendliche aus Waisenheimen konnten hierher überführt werden, sofern ihr Verhalten systematisch die innere Ordnung, Bildungs- und Erziehungsarbeit störte.213 Zudem erließ das Narkomjust am 19. Juni 1943 eine Anordnung, die Gerichten das Recht einräumte, Minderjährige unter 15 Jahren für leichte Vergehen nicht mehr zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen.214 Wie aus einem Nachtrag von Sovnarkom, Narkomjust und der Staatsanwaltschaft (prokuratura) der UdSSR vom 21. Juni 1943 hervorgeht, sollten die Minderjährigen so lange in den Arbeits- und Erziehungskolonien bleiben, bis 211 212 213 214

Applebaum, Der Gulag, 213. Fürst, Between Salvation and Liquidation, 246. Vilenskij, Deti GULAGa, 383 f. Dynko / Kuliš, Juridičeskaja otvetstvennost’ nesoveršennoletnich i dejatel’nost’ detskich penitenciarnych učreždenij po ee realizacii v sovetskom gosudarstve poslevoennogo vremeni (1945–1956 gg.), 51.

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Erziehung und »Unerziehung«

sie eine berufliche Qualifizierung erhalten oder das 16. Lebensjahr vollendet hatten. Ein Aufenthalt in der Kolonie über das Höchstalter hinaus, bis zum 17. Lebensjahr, war möglich, sofern die Ausbildung noch nicht abgeschlossen war. Hatten unter 16-Jährige bereits eine Qualifikation erworben, konnte der Kolonieleiter sie frühzeitig entlassen. Hierzu bedurften sie jedoch entweder eines Arbeitsplatzes oder der Unterstützung Angehöriger, um die Sicherung ihrer Existenz zu gewährleisten. Für unter 14-Jährige kam eine Entlassung nur dann in Frage, wenn die Eltern oder ein Vormund ihre weitere Erziehung garantierten.215 In der Realität hatte dieses Papier zur Folge, dass Kinder und Jugendliche bis zu sechs Jahren in einer Arbeits- und Erziehungskolonie bleiben konnten, ohne dass gegen sie ein Urteil vorliegen musste. Es genügte, dass der Direktor eines priëmnik oder der Vertreter eines Rechtsorgans ihnen den Stempel »sozial gefährlich« aufdrückte und damit ihren Transfer in eine solche Einrichtung legitimierte. Abgesehen davon, dass es mangels Ausstattung und Personal kaum möglich war, in relativ kurzer Zeit eine Ausbildung abzuschließen, traf es vor allem jene besonders schwer, die keine Verwandten besaßen, die sich hätten für ihre Entlassung einsetzen und ihnen Obdach gewähren können.216 Worin die Ursache dafür lag, dass die bisherigen Arbeitskolonien nicht mehr als ausreichende Lösung angesehen und zusätzlich Arbeits- und Erziehungskolonien initiiert wurden, brachte ein Abteilungsleiter der OBDBB namens Sokolov in einem Schreiben an Lavrentij Berija zum Ausdruck. Die Hauptkritik seines Briefes vom 21. September 1943 galt dem Umstand, dass in den Arbeitskolonien 12- bis 13-Jährige, die für kleinere Diebstähle und Hooliganismus verurteilt worden waren, Tür an Tür mit älteren jugendlichen Schwer- und Gewaltverbrechern sowie erwachsenen Häftlingen lebten. Die brutale Gefängnisatmosphäre hinterließ Sokolov zufolge einen »unauslöschlichen Abdruck«217 in ihrer Psyche und zog die erzieherische Funktion der Einrichtungen in Zweifel. Sokolov hielt diese Minderjährigen nicht nur für Opfer des Krieges, die aus Not und infantiler Unverantwortlichkeit heraus auf die schiefe Bahn geraten waren, sondern vor allem auch für das, was sie altersgemäß waren: Kinder. Augenscheinlich hatte er in den Kolonien Mädchen mit Puppen spielen und Jungen ausgelassen umhertoben sehen, weshalb er die Änderung des Jugendstrafgesetzes unterstützte und forderte, die bereits verurteilten Zwölf- bis 13-Jährigen in eine Arbeits- und Erziehungskolonie zu überführen.218 215 216 217 218

Vilenskij, Deti GULAGa, 384–387. Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War, 151. GARF, F. R9412, Op. 1, D. 19, L. 84. Ebd., Ll. 83–85, 91; Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War, 151 f.

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Informelle Hierarchien, Repression und Gewalt 

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Sokolov war einer der wenigen, die mit Besorgnis auf die Zustände in den Arbeitskolonien reagierten und sich für ihre Verbesserung einsetzten. Sein Schreiben zeugt davon, dass auf interner Ebene in der OBDBB und im NKVD durchaus Möglichkeiten der Kritik existierten.219 Indirekt hatte Sokolov Berija zu verstehen gegeben, dass die Arbeitskolonien nicht nur keinen Beitrag zur (Um-)Erziehung der Kinder und Jugendlichen leisteten, sondern dass sie letztlich nichts anderes als Brutstätten für künftige Schwer- und Gewaltverbrecher waren.220 Auch in der Oblast Archangelsk wurde infolge der Anordnung des Sovnarkom vom 15. Juni 1943 eine Arbeits- und Erziehungskolonie für 300 Minderjährige errichtet, die sich unweit einer kleinen Ortschaft namens Emca befand und etwa 260 Kilometer südlich von Archangelsk gelegen war. Sie entstand auf dem Gelände eines Besserungsarbeitslagers (Ispravitel’no-trudovoj lager’ – ITL) für Erwachsene, das einen holzverarbeitenden Betrieb und eine nebenerwerbliche Landwirtschaft im Umfang von 62 Hektar besaß. 1933 hatte hier schon einmal eine Kinderkommune existiert, die später wieder geschlossen wurde, deren Gebäude aber noch erhalten waren und genutzt werden konnten. Obgleich sie im Gegensatz zur Archangelsker Arbeitskolonie deutlich besser angebunden war, weil sie nur drei Kilometer von der Eisenbahnstrecke Vologda-Archangelsk entfernt lag,221 sah sie sich mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert. Der Mangel an (verantwortungsbewusstem) Personal und Kontrolle ging auch hier mit fehlender Erziehung und Aufsicht einher, die sich in Form von Gewaltausbrüchen, Hooliganismus und Arbeitsunfällen äußerten.222 Grundsätzlich stellten für Sokolov deshalb auch Arbeits- und Erziehungskolonien keine zufriedenstellende Antwort dar. Ihm missfiel vor allem die unbestimmte Aufenthaltsdauer, weil sie den Kindern und Jugendlichen jegliche 219 Sokolov hatte Lavrentij Berija und Foma Leonjuk (1892–1967), den Chef der OBDBB , im August und September des Jahres 1943 wiederholt über die hohen Todesraten in Kenntnis gesetzt, die die Einrichtungen des NKVD für Minderjährige verzeichneten, und sich beklagt, dass seine Forderungen nach Erhöhung der Lebensmittelrationen ignoriert wurden. Ebd., 140. Im November desselben Jahres hatte er zusammen mit einem Kollegen Leonjuk eine Maßnahmenliste zukommen lassen, mit deren Hilfe der physische Zustand der Zöglinge verbessert werden sollte. GARF, F. R9412, Op. 1, D. 19, Ll. 25, 25 ob., 26, 26 ob. 220 Hoffman, The Littlest Enemies, 6. 221 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 26, Ll. 258 f.; GARF, F. R9412, Op. 1, D. 46, L. 145. 222 Allein zwischen September und Januar 1951 zogen sich 35 Kinder und Jugendliche Verletzungen infolge von Prügeleien zu. Im selben Zeitraum ereigneten sich zudem sechs Arbeitsunfälle, bei einem hatte ein Zögling drei Finger an der rechten Hand verloren. Auch das Verhalten der Mitarbeiter, insbesondere der Aufseher, ließ jegliche Disziplin vermissen, da sie zusammen mit den erwachsenen Gefangenen wiederholt Trinkgelage organisierten. GARF, F. R9412, Op. 1, D. 326, L. 346 f.

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Erziehung und »Unerziehung«

Hoffnung raubte und sie in Verzweiflung trieb. Sokolov plädierte dafür, nur verurteilte Minderjährige in Kolonien zu überweisen und die Einrichtungen wieder mit einer Politik der offenen Türen zu versehen.223 Unter dem Eindruck des Krieges ist damit erneut eine Kontroverse hinsichtlich des Umgangs mit bedürftigen Kindern und Jugendlichen entbrannt. Wie Juliane Fürst dargelegt hat, besaß der sowjetische Staat diesbezüglich weder eine einheitliche Vorgehensweise noch eine klare Trennung zwischen Waisen, Straßenkindern und delinquenten Minderjährigen. Seine Kampagnen und Maßnahmen reichten daher von Rettung über Vernachlässigung bis hin zum gesellschaftlichen Ausschluss dieser Kinder und Jugendlichen. Anfangs noch als unschuldige Opfer der deutschen Invasion angesehen, die ihrer »glücklichen Kindheit« beraubt worden waren, avancierten sie im weiteren Kriegsverlauf zusehends zu einem Massenproblem, dem der Staat nicht Herr zu werden vermochte und das obendrein sein konstruiertes Image als Beschützer der Kinder und Garant der »glücklichen Kindheit« ins Wanken brachte. Dass der Umgang mit diesen Minderjährigen alsbald repressiveren Charakter annahm und schließlich seinen Ausdruck in der »Kinderhölle der Arbeitskolonien« fand, wie Juliane Fürst es formuliert hat, war eine »logische Konsequenz«, um das Propagandabild von der Sowjetunion als »perfektem Kinderparadies« aufrechtzuerhalten. Wollten die Parteiführer sicherstellen, dass ihre mühsam erarbeiteten ideologischen Grundfesten nicht erschüttert wurden, mussten bedürftige und verwahrloste Minderjährige abermals aus dem öffentlichen Erscheinungsbild verschwinden.224 Olga Kucherenko zufolge können die Repressionsmaßnahmen als Zeichen staatlicher Schwäche und fehlender Kontrolle begriffen werden, denn »[t]he weaker the state felt its grip on society, the harsher were the punishments and the heavier was its dependence on repressive organs.« Der steigenden Zahl bedürftiger und verwahrloster Kinder und Jugendlicher konnte er mit Hilfe von Fürsorgemaßnahmen schlichtweg nicht gerecht werden, was dazu führte, dass er das Problem mittels strengerer Gesetze und Zwangsmaßnahmen zu lösen suchte.225 223 Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War, 151 f. 224 Fürst, Between Salvation and Liquidation, 233, 254. 225 Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War, 5. Schlagabtausche dieser Art fanden während des Zweiten Weltkrieges ebenso in anderen Ländern statt und waren per se nichts Ungewöhnliches. Eine hohe Kinder- und Jugendkriminalität verzeichnete beispielsweise die britische Hauptstadt, wo die Bombardierungen unzählige (Halb-)Waisen hervorgebracht und Familien in Existenznot gestürzt hatten. Die Londoner Gerichte waren zwar bemüht, minderjährige Delinquenten als Subjekte der Sozialfürsorge wahrzunehmen. Doch gab es auch hier Befürworter eines erbarmungslosen Umgangs, die sie mit Maßnahmen wie körperlicher Züchtigung zu strafen suchten. Siehe hierzu Smith, David F.: Delinquency and Welfare in London:1939–1949. In: The London Journal 38/1 (2013), 67–87.

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Dass die Unterstützer der repressiven Politik ungeachtet vereinzelter Stimmen, die sich für einen humanen Umgang aussprachen, die Oberhand behielten, bezeugt die wachsende Zahl von Kolonien. Einer von der OBDBB erstellten Liste zufolge existierten im vierten Quartal des Jahres 1944 unionsweit 47 Arbeitskolonien, die 25.250 Zöglinge beherbergen konnten, sowie 81 Arbeits- und Erziehungskolonien mit insgesamt 26.500 Plätzen.226 Zwischen 1943 und 1946 verteilten sich die Zahlen der in ihnen untergebrachten Minderjährigen wie folgt (Tab. 7 u. 8): Tab. 7: Zahl der Minderjährigen in den Arbeitskolonien des MVD* 1943

1944

1945

7.288

18.530

23.927

11.247

im Verlauf des Jahres hinzugekommen

34.355

33.225

25.012

14.238

im Verlauf des Jahres entlassen

23.113

27.828

37.692

5.613

zu Jahresbeginn

1. Jahreshälfte 1946

* GARF, F. R9412, Op. 1, D. 17, L. 2.

Tab. 8: Zahl der Minderjährigen in den Arbeits- und Erziehungskolonien des MVD* 1943

1944

1945

1. Jahreshälfte 1946



3.295

18.957

17.778

im Verlauf des Jahres hinzugekommen

4.129

33.144

28.154

9.973

im Verlauf des Jahres entlassen

8.34

17.482

29.333

9.519

zu Jahresbeginn

* GARF, F. R9412, Op. 1, D. 17, L. 1.

Hinter der enormen Expansion des Kolonienetzes, die innerhalb eines Jahres, zwischen 1943 und 1944, vollzogen worden war, vermutet Olga Kucherenko ökonomische Gründe. Da das Land während des Krieges einen immensen Arbeitskräftemangel verzeichnete, suchte die Führungsriege einen finanziellen und wirtschaftlichen Nutzen aus dem Einsatz minderjähriger Häftlinge zu ziehen. Kucherenko zufolge produzierten die Zöglinge im Jahr 1944 Millionen von Rubeln in Form von Gütern und Munition. Für die Unterhaltung der Einrichtungen wandte das NKVD nämlich nur ein Sechstel der von den 226 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 12, Ll. 66–68.

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Erziehung und »Unerziehung«

Minderjährigen erwirtschafteten Summe auf. Gemessen an der gesamtsowjetischen Industrieproduktion stellten die in den Kolonien hergestellten Waren aber nur einen Bruchteil dar.227 Die Archangelsker Arbeitskolonie galt als eine der ökonomisch erfolgreichsten Institutionen ihrer Art, da sie den Plan 1944 zu 27,4 Prozent übererfüllt hatte. Die Kehrseite war, dass sich bei der Produktion von Granatwerferminen wiederholt tödliche Unfälle ereigneten, denen Minderjährige zum Opfer gefallen sind.228 Die Mehrheit der Arbeitskolonien war allerdings nicht in der Lage, autark und damit ohne finanzielle Zuschüsse des NKVD zu existieren.229 Nach Kriegsende reduzierte sich zwar zunächst die Zahl der Kolonien sowie der in ihnen untergebrachten Zöglinge, da das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR am 7. Juli eine Amnestie erlassen hat. So befanden sich in den Arbeitskolonien in der zweiten Jahreshälfte 1945 nur noch knapp 11.200 Minderjährige. Doch war diese Tendenz nicht von Dauer. Seit 1946 verzeichneten sowohl Arbeits- als auch Arbeits- und Erziehungskolonien wieder Zuwachs.230 Ihren Höhepunkt erreichte die Entwicklung während der Hungersnot 1946/47, nachdem das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR am 4. Juni 1947 die Ukasse Über den verstärkten Schutz des Privateigentums der Bürger und Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Entwendung von staatlichem und öffentlichem Besitz 231 verabschiedet hatte. Minderjährigen wie Erwachsenen drohten bei Verübung entsprechender Delikte harte Konsequenzen. Gewöhnliche Diebstähle konnten fünf bis zehn Jahre Haft in einem ITL nach sich ziehen, wobei die Entwendung staatlichen Eigentums mit höheren Strafmaßen geahndet wurde als die von privatem Besitz. Wer zum zweiten Mal erwischt wurde, in einer Diebesbande agierte oder Raubüberfalle beging, musste mit zehn bis 20 Jahren Haft rechnen. Hinweise auf eine Reduzierung der Strafmaße für Minderjährige enthielt keiner der beiden

227 Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War, 168. 228 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 40, L. 106; Bubličenko, Proizvodstvennaja dejatel’nost’ ­detskich trudovych kolonij NKVD Evropejskogo Severa Rossii v gody Velikoj Otečestvennoj vojny, 41. 229 Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War, 168. 230 Bubličenko, Čislennost’ nesoveršennoletnich v detskich trudovych kolonijach NKVD MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii v 1940-e gg., 98. 231 Die vollständigen Ukastexte können bei Wikisource nachgelesen werden. Da die Links der Websites kyrillische Buchstaben aufweisen, hat die Autorin sie der besseren Darstellbarkeit wegen mit dem Google URL Shortener gekürzt. Prezidium Verchovnogo Soveta SSSR : Ukaz ot 4 ijunja 1947 goda Ob usilenii ochrany ličnoj sobstvennosti graždan. URL : https://goo.gl/7DXdjS (am 21.3.2018) sowie Prezidium Verchovnogo Soveta SSSR : Ukaz ot 4 ijunja 1947 goda Ob ugolovnoj otvetstvennosti za chiščenie gosudarstvennogo i obščestvennogo imuščestva. URL : https://goo.gl/Wcv11Q (am 21.3.2018).

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Ukastexte. Der Urteilsfindung lag somit ein System aus Ermessen und Willkür zugrunde.232 Infolge der harschen Strafpolitik erlebten die Kolonien eine Flut an Neuzugängen. Da weitaus mehr Zöglinge als Plätze vorhanden waren, sahen sich die Einrichtungen mit Überbelegung konfrontiert.233 So geht aus dem Kontrollbericht eines Archangelsker Staatsanwalts namens Krongauz vom 31. Oktober 1947 hervor, dass sich zu besagtem Zeitpunkt 1.409 Zöglinge in der dortigen Arbeitskolonie befanden, obwohl die Einrichtung nur für maximal 1.000 Personen ausgelegt war. 954 von ihnen hatten Diebstähle begangen, weitere 78 waren für Mord und Körperverletzung, 59 für Banditentum, 52 für konterrevolutionäre Aktivitäten und 266 für sonstige Verbrechen verurteilt worden. 570 der 1.409 Jugendlichen mussten eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verbüßen.234 Wie Krongauz festgestellt hat, warfen die Strafmaße einiger Zöglinge aus rechtlicher Sicht Ungereimtheiten auf. So war ein 1934 geborener Junge namens Nikolaj N. am 25. August 1947 von einem Gericht in der Oblast Archangelsk aufgrund mehrerer kleinerer Diebstähle zu einer einjährigen Freiheitsstrafe in einer Arbeitskolonie des MVD verurteilt worden. Bevor Nikolaj N., der zu diesem Zeitpunkt höchstens 13 Jahre alt gewesen sein kann, in die Archangelsker Arbeitskolonie gelangte, hatten Mitarbeiter des MVD ihn irrtümlich in ein Gefängnis nach Kotlas und anschließend in ein weiteres nach Archangelsk überführt. Nach Aufdeckung des Fehlers sollte er nun in die Arbeits- und Erziehungskolonie in Emca transferiert werden.235 Das Schicksal von Nikolaj N. war kein Einzelfall. In der Archangelsker Arbeitskolonie befanden sich zum Stichtag 31. Oktober 1947 mehr als ein Dutzend Zöglinge, die auf Grundlage der Gesetze vom 4. Juni 1947 zu viel zu hohen Strafmaßen verurteilt worden waren. Keiner der Jungen war vorbestraft oder hat schwere Verbrechen begangen. Alle sind, getrieben von Hunger und Not, beim Stehlen geringer Mengen Lebensmittel erwischt worden. Gorij Z., geboren 1934, hatte zusammen mit Freunden aus einem privaten Gemüsegarten sechs Kilogramm Kartoffeln entwendet und ist zu sechs Jahren Haft in 232 Prezidium Verchovnogo Soveta SSSR , Ukaz ot 4 ijunja 1947 goda Ob usilenii ochrany ličnoj sobstvennosti graždan; dass., Ukaz ot 4 ijunja 1947 goda Ob ugolovnoj otvetstvennosti za chiščenie gosudarstvennogo i obščestvennogo imuščestva; Dynko / Kuliš, Juridičeskaja otvetstvennost’ nesoveršennoletnich i dejatel’nost’ detskich penitenciarnych učreždenij po ee realizacii v sovetskom gosudarstve poslevoennogo vremeni (1945–1956 gg.), 9 f. 233 Bubličenko, Čislennost’ nesoveršennoletnich v detskich trudovych kolonijach NKVD MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii v 1940-e gg., 99; Dynko / Kuliš, Juridičeskaja otvetstvennost’ nesoveršennoletnich i dejatel’nost’ detskich penitenciarnych učreždenij po ee realizacii v sovetskom gosudarstve poslevoennogo vremeni (1945–1956 gg.), 38. 234 GARF, F. R8131, Op. 37, D. 3539, Ll. 225 f. 235 Ebd., L. 226.

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Erziehung und »Unerziehung«

einem ITL verurteilt worden. Ähnlich erging es Nikolaj Č., geboren 1931, der fünf Jahre in einem ITL absitzen sollte, weil er aus einem fremden Gemüsegarten 15 Kilogramm Kartoffeln ausgegraben hatte. Konstantin Z., geboren 1933, ist beim Stehlen von fünf Kilogramm Erbsenmehl aus einer Privatwohnung ertappt und zu sechs Jahren ITL verurteilt worden. Michail Ja., geboren 1933, hat zusammen mit einem Freund in einem Geschäft 2,9 Kilogramm Brot gestohlen und sollte dafür mit zehn Jahren Haft in einem ITL büßen.236 Während Krongauz sich für die Überführung der Jungen in eine Arbeitsund Erziehungskolonie einsetzte, indem er die Gerichte dazu aufrief, wieder stärker von der am 19. Juni 1943 erlassenen Anordnung des Narkomjust Gebrauch zu machen und für entsprechende Taten keine Verurteilungen auszusprechen, schlugen zwei hochrangige sowjetische Politiker radikalere Töne an, um eine Verbesserung der Situation der Minderjährigen zu erwirken. Im September 1947 schrieben Sergej Kruglov und Konstantin Goršenin ­(1907–1978), der Generalstaatsanwalt der UdSSR , einen Brief an Stalin, in dem sie ihn zur Überdenkung der Gesetze vom 4. Juni 1947 zu bewegen suchten und um eine Entlassung eines Großteils der Minderjährigen baten. Kruglov und Goršenin zufolge hatten von 40.462 verurteilten Kindern und Jugendlichen 35.685 kleinere Diebstähle begangen, sich eigenmächtig von ihrem Arbeitsplatz entfernt oder waren durch Hooliganismus aufgefallen. 31.306 Minderjährige haben eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren erhalten, 29.549 von ihnen sind zum ersten Mal verurteilt worden. Da Kruglov und Goršenin diese Kinder und Jugendlichen für Opfer des Krieges und der Hungersnot hielten, die in den Arbeitskolonien überwiegend positives Verhalten zeigten, gut arbeiteten und lernten, Qualifizierungen erworben haben und sich an das geltende režim hielten, sahen sie keine Notwendigkeit für ihren weiteren Verbleib in den Kolonien. Sie empfahlen daher, bis zu 25.000 Minderjährige aus den Einrichtungen zu entlassen.237 Gehör hat Kruglovs und Goršenins Bitte nicht gefunden. Stattdessen erreichte die Zahl der unionsweit in den Arbeitskolonien untergebrachten Zöglinge mit fast 47.000 Anfang 1948 ihren Höchststand. Danach verzeichneten die Einrichtungen zwar allmählich einen Insassenrückgang.238 So befanden sich zum 1. Januar 1949 »nur« noch 36.909 Minderjährige in den Arbeitsko236 Ebd., Ll. 227 f. 237 Ebd., Ll. 11 f. Kruglov mag hier zwar durchaus »humane« Charakterzüge an den Tag gelegt haben, Alexander Jakowlew zufolge hatte er jedoch alles andere als eine weiße Weste. Ihm zufolge war Kruglov aktiv an den Repressionen der 1930er Jahre beteiligt gewesen und hatte die Verbannungen aus dem Nordkaukasus während des Zweiten Weltkrieges organisiert. Jakowlew, Alexander N. / Rullkötter, Bernd: Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland. Berlin 2006, 331. 238 Bubličenko, Čislennost’ nesoveršennoletnich v detskich trudovych kolonijach NKVD MVD SSSR na Evropejskom Severe Rossii v 1940-e gg., 99.

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lonien und 18.052 in den Arbeits- und Erziehungskolonien des Landes. Die Zahl der Einrichtungen selbst blieb jedoch weiterhin hoch. Hatten wenige Jahre zuvor noch mehr Arbeits- und Erziehungskolonien als Arbeitskolonien bestanden, zeigte sich nun ein gegenteiliges Bild: Zum 1. Januar existierten unionsweit 75 Arbeitskolonien mit 42.600 und 53 Arbeits- und Erziehungskolonien mit 20.200 Plätzen.239 Auch in der Archangelsker Arbeitskolonie lebten zum 1. Februar 1949 nur noch 931 Minderjährige, die mehrheitlich 15 Jahre und älter waren.240 An der Art der verübten Delikte sowie an den hohen Strafmaßen hat sich wenig geändert. Für Diebstahl waren 552, für Raubüberfälle 153, für Mord und Körperverletzung 59, für Banditentum 47, für konterrevolutionäre Aktivitäten 23 und für sonstige Verbrechen 97 Zöglinge verurteilt worden. 17 verbüßten eine Freiheitsstrafe von einem Jahr, 298 von zwei bis fünf Jahren, 421 von sechs bis zehn Jahren, 191 von elf bis 20 Jahren und vier von 21 bis 25 Jahren.241 Diebstahl und Raub stellten immer noch die am häufigsten verübten Verbrechen dar. Entfielen auf sie im Oktober 1947 knapp zwei Drittel aller begangenen Straftaten, waren es im Februar 1949 bereits drei Viertel. Einer Statistik für die gesamte Sowjetunion zufolge befanden sich zum 1. Juli 1950 insgesamt 33.292 verurteilte Minderjährige in den Arbeitskolonien, davon 29.325 Jungen und 3.967 Mädchen, die folgende Straftaten verübt hatten (Tab. 9): Tab. 9: Von minderjährigen Arbeitskolonie-Insassen verübte Straftaten (1.7.1950)* Straftat

Personenzahl

Anteil in Prozent

Diebstahl (Art. 162 UK RSFSR und Ukasse vom 4. Juni 1947)

27.475

82,5

Raub(überfall) (Art. 165, 167, 169, 59–3)

1.349

4,0

Mord und Körperverletzung (Art. 136, 137, 138, 142)

653

1,9

Hooliganismus (Art. 74)

913

2,9

nach Art. 58 UK RSFSR

207

0,6

Vergewaltigung

598

1,8

nach Ukas vom 26. Juni 1947 (Arbeitsbummelei)

310

0,9

1.787

5,4

sonstige * Vilenskij, Deti GULAGa, 479.

239 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 240, L. 18.  240 Zehn Jungen sind 1930, 253 sind 1931, 615 sind 1932/33 und 53 Jungen sind zwischen 1934 und 1936 geboren worden. GARF, F. R8131, O. 37, D. 4779, Ll. 25 f. 241 Ebd., L. 26.

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Erziehung und »Unerziehung«

Hier lag der Anteil der Diebstahl- und Raubdelikte mit insgesamt 86,5 Prozent sogar noch höher. Die Ukasse vom 4. Juni 1947, die, nebenbei bemerkt, bis 1960 ihre Gültigkeit behielten, fanden demzufolge nach wie vor Anwendung und Vollstreckung. Auffallend ist jedoch, dass in den Arbeitskolonien für Minderjährige – trotz aller Ähnlichkeiten zum Gulag – kaum Zöglinge vertreten waren, die konterrevolutionäre oder politisch motivierte Verbrechen begangen hatten und nach dem berüchtigten Artikel 58242 verurteilt worden waren. Die Mehrheit von ihnen war 17 oder 18 Jahre alt (insgesamt 23.499 Personen oder rund 70 Prozent) und verbüßte Freiheitsstrafen bis zu fünf (28.684 Personen) oder bis zu zehn Jahren (16.950 Personen).243 Bis Mitte der 1950er Jahre reduzierte sich die Zahl der Zöglinge in den Kolonien zwar weiter. Doch blieb das Land von einem weiten Netz aus Arbeits- sowie Arbeits- und Erziehungskolonien durchzogen. Mit Ausnahme der Kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik existierte in jeder der verbleibenden 14 Sowjetrepubliken mindestens eine dieser Einrichtungen. Unionsweit bestanden im März 1955 insgesamt 47 Arbeitskolonien mit 19.700 Plätzen sowie 62 Arbeits- und Erziehungskolonien mit 17.250 Plätzen. Der sowjetische Kolonien-Archipel konnte damit 36.950 Zöglinge aufnehmen.244

4.

Neustart oder: Vom Fortbestand pädologischer Ideen

4.1

Auf dem Weg zur allseitig entwickelten Persönlichkeit

Während der Kriegs- und Nachkriegszeit wurde weder die Archangelsker Arbeitskolonie noch das Pionierlager Artek ihrer beziehungsweise seiner eigentlichen Bestimmung gerecht. Dass Aktivitäten zur (Um-)Erziehung in erster Einrichtung nahezu überhaupt nicht und in letzter nur auf sehr geringem Niveau stattfanden, bedeutet aber nicht, dass es keinen pädagogischen Maßnahmenkatalog gegeben hätte. Die Funktionäre aus den Reihen des Komsomol und NKVD / MVD besaßen durchaus umfangreiche Vorstellungen von der Gestalt der Erziehungsarbeit. Bereits in den 1940er Jahren hatten sie detaillierte Vorgaben und Programme entwickelt, die in ihrer Gesamtheit 242 Artikel 58 gehörte seit 1926 zum Strafgesetzbuch der RSFSR . Die Bezeichnung politischer Gefangener war damals aufgegeben worden. Stattdessen verwendeten die Behörden seither offiziell den Begriff Konterrevolutionär. Barnes, Steven A.: Death and Redemption. The Gulag and the Shaping of Soviet Society. Princeton, NJ 2011, 84. Artikel 58 fand insbesondere während des Großen Terrors breite Anwendung. Khlevniuk, The History of the Gulag, 320, 330, 332. 243 Vilenskij, Deti GULAGa, 479 f. 244 Ebd., 514–516.

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dazu beitragen sollten, Kinder und Jugendliche zu perfekten Sowjetmenschen zu formen. Auffallend an ihnen ist, dass sie zur Verwirklichung eines Ideals dienten, das alles andere als neu war. Seine offizielle begriffliche Prägung erhielt es aber erst 1961 auf dem XXII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) unter der Bezeichnung der allseitig entwickelten Persönlichkeit (vsestoronne razvitaja ličnost’). In der Folge avancierte es zu einem neuen pädagogischen Schlagwort.245 Den Grundstein für dieses Ideal hatten bereits Pavel Blonskij und Nadežda Krupskaja in ihren Publikationen über die Arbeits- respektive die polytechnische Schule und Erziehung gelegt. So sah Blonskij die Aufgabe der Arbeitsschule darin, einen »Arbeiter-Philosophen«246 beziehungsweise einen »allseitig entwickelten Menschen«247 hervorzubringen. Ähnlich hat sich Krupskaja in einem 1932 erschienenen Aufsatz ausgedrückt, in dem sie deutlich machte, dass die polytechnischen Schulen »allseitig entwickelte Menschen« erziehen müssten, die fähig wären, den Aufbau des Sozialismus zu vollenden.248 Vor der offiziellen Einführung des Begriffs der allseitig entwickelten Persönlichkeit 1961 hatte Nikita Chruščëvs Schulreform von 1958 bereits den polytechnischen Schultypus – und damit die Ideen Blonskijs und Krupskajas – zum neuen Standard erklärt und die allgemeine Schulpflicht auf elf Jahre angehoben.249 Die Vorstellungen Blonskijs und Krupskajas waren allerdings 245 Chruschtschow, Nikita S.: Der Triumph des Kommunismus ist gewiss. Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXII . Parteitag der KPdSU. Über das Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Oktober 1961. Berlin 1961, 254–257. 246 Blonskij, Pavel: Die Arbeitsschule, Teil 1. In: Wittig, Horst E. (Hg.): Die Arbeitsschule. Paderborn 1973, 12. 247 Ders.: Die Arbeitsschule, Teil 2. In: Wittig, Horst E. (Hg.): Die Arbeitsschule. Paderborn 1973, 143. 248 Das russischsprachige Original lautet hier »My […] chotim zosdat’ politechničeskuju školu, kotoraja vospitala by vsestoronne razvitych ljudej, sposobnych dovesti do konca delo stroitel’stva socialisma.« Krupskaja, Nadežda: Očerednye zadači v oblasti škol’nogo stroitel’stva. In: Gončarov, N. / Kairov, I. / Konstantinov, N. (Hg.): Pedagogičeskie soči­ nenija v desjati tomach. Tom četvertyj. Trudovoe vospitanie i politechničeskoe obrazovanije. Moskau 1959, 514. 249 Pennar, Jaan: Five Years after Khrushchev’s School Reform. In: Comparative Education Review 8/1 (1964), 73–77. Das Ziel der Schulreform bestand darin, Schulen stärker an die Lebensrealität anzunähern. Die Polytechnik sollte die Jugend dazu bringen, technische Berufsausbildungen zu ergreifen anstatt ein klassisches akademisches Studium zu absolvieren. Coumel, Laurel: The Scientist, the Pedagogue and the Party Official. Interest Groups, Public Opinion and Decision-Making in the 1958 Education Reform. In: Ilic, Melanie / Smith, Jeremy (Hg.): Soviet State and Society under Nikita Khrushchev. London 2009, 67, 70. Siehe außerdem Safronov, Pëtr: Ideja politechnizacii v otečestvennoj škol’noj politike: podgotovka reformy 1958 goda i krizis ėgalitarnoj ideologii. In: ­Kukulin, Il’ja / Majofis, Marija / Safronov, Pëtr (Hg.): Ostrova utopii: Pedagogičeskoe i social’noe proektirovanie poslevoennoj školy (1940–1980-e). Kollektivnaja monografija. Moskau 2015, 193–212.

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nicht nur im Rahmen des Schulwesens, sondern auch im breiteren Kontext des novyj byt und der kul’turnost’ diskutiert worden. In Ansätzen hatten sie zudem in den režimy der Pionierlager der 1920er Jahre ihren Niederschlag gefunden. Die Schulreform von 1958 und das 1961 propagierte Konzept der allseitig entwickelten Persönlichkeit wiesen daher zweifelsohne pädologische Züge auf. Indem nun anstelle des allseitig entwickelten Menschen von der allseitig entwickelten Persönlichkeit beziehungsweise – als Prozess und damit im Werden verstanden – von der allseitigen Entwicklung der Persönlichkeit 250 die Rede war, sollten seine pädologischen Wurzeln offenbar verschleiert werden. Dieses Vorgehen lässt sich auch bei Vasyl’ Suchomlyns’kyj (russisch: Vasilij Suchomlinskij) (1918–1970), einem sowjetischen Pädagogen ukrainischer Herkunft, beobachten, der in den 1950er und 1960er Jahren zu den führenden Köpfen seiner Zunft gehörte. In seiner Schrift über die Probleme der Erziehung zur allseitig entwickelten Persönlichkeit setzte er sich zwar mit den historischen Ursprüngen der Idee auseinander, angefangen bei der griechischen Antike über das Mittelalter, die frühe Neuzeit, Renaissance und Aufklärung sowie die Entstehung des Sozialismus bis hin zu den Gedanken Lenins und Lunačarskijs. Die Leistungen der Pädologen erwähnt er jedoch mit keiner Silbe. Zwischen den Werken Lenins und Lunačarskijs und seiner unmittelbaren Gegenwart klafft folglich eine Entwicklungslücke von mindestens 30 Jahren.251 Um Kinder und Jugendliche zu allseitig entwickelten Persönlichkeiten erwachsen zu lassen, hat Suchomlyns’kyj acht Kernpunkte ausgemacht. Hierzu gehörten die geistige Erziehung (1), die durch das Programm der allgemeinbildenden Schulen gewährleistet werden sollte, die Erziehung zur kommunistischen Moral (2), zur Liebe zur sozialistischen Heimat (3), zu Mut und Siegeswillen (4), zum Kollektivismus (5), zur Arbeit (6) sowie die ästhetische (7) und physische Erziehung (8).252 So anachronistisch es auch anmuten mag: Sowohl das Pionierlager Artek als auch die Archangelsker Arbeitskolonie verfügte bereits in den 1940er Jahren über ein pädagogisches Programm, dessen einzelne Bestandteile im Wesentlichen den Punkten entsprachen, die Suchomlyns’kyj erst Jahre später für die Erziehung zur allseitig entwickelten Persönlichkeit formulieren sollte. Damit kann als sicher gelten, dass pädologische Ideen nach 1936 insgeheim fortbestanden, angesichts ihrer Verurteilung allerdings nicht als solche deklariert wurden, auch dann nicht, als sie unter Chruščëv ihr Revival erlebten. 250 Chruschtschow, Der Triumph des Kommunismus ist gewiss, 254. 251 Suchomlyns’kyj, Vasyl’: Problemy vychovannja vsebično rozvynenoï osobystosti. In: Dzeverin, O. (Hg.): Vybrani tvory v p’’jati tomach. Tom peršyj. Problemy vychovannja vsebično rozvynenoï osobystosti. Duchovnyj svit školjara. Metodyka vychovannja kolektyvu. Kiew 1976, 53–206. 252 Ebd., 72–196.

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Schon 1945 besaß das Pionierlager – zumindest auf dem Papier – ein vielfältiges Angebot an Aktivitäten, hinter denen sich konkrete erzieherische Ziele verbargen. So dienten Spaziergänge und Exkursionen dem Kennenlernen Arteks und der Südküste der Halbinsel Krim, Wanderungen zu den Hausbergen des Lagers dem Training von Ausdauer und Willenskraft sowie der Stärkung des Durchhaltevermögens; Sanitär- und Hygieneaufklärung in Verbindung mit Sport sollten das Gesundheitsbewusstsein der Kinder und Jugendlichen fördern; die eigenständige Inszenierung von Theaterstücken und die Aufführung einstudierter Tänze und Lieder253, als chudožestvennaja samodejatel’nost’ bezeichnet, ihr Verständnis von Kunst schulen; die Erbringung gemeinnütziger Arbeit im Lager oder auf nahegelegenen Kolchosen sie zu verantwortungsvollen, auf das Gemeinwohl orientierten Mitgliedern der Gesellschaft erziehen; Organisationsarbeit sie die Bedeutung des Kollektivs lehren und die Abhaltung von politisch-ideologischen Diskussionen ihr historisches Wissen erweitern und sie über aktuelle Parteidebatten informieren. Zum Repertoire letzterer gehörten beispielsweise Gespräche über Lenin und Stalin, über die Schwarzmeerflotte, die Heldenstadt Sewastopol, über die glorreichen Taten, die sowjetische Pioniere und Komsomolzen wie Zoja Kosmodem’janskaja254 im Krieg vollbracht hatten, sowie über die Geschichte Arteks. In ihrer Gesamtheit waren all diese Inhalte darauf ausgerichtet, den Pionieren ein Gefühl für Kollektivismus, Freundschaft und Verantwortungsbewusstsein zu vermitteln sowie ihre Liebe zur Heimat, zur Partei und insbesondere zu Stalin zu festigen.255 Betrachtet man Arteks pädagogischen Maßnahmenkatalog und seine Ziele über einen längeren Zeitraum, so fällt auf, dass er jahrzehntelang keine forma253 Seit jeher wurden eigens für Artek unzählige Musikstücke komponiert. Dass diese Tätigkeit von beachtlichem Ausmaß war, bezeugt eine fast 800-seitige Liedersammlung, die 2005 anlässlich des 80-jährigen Bestehens des Lagers erschienen ist: Černyšov, A. (Hg.): Kogda poët Artek. Pesni Arteka, pesni v Arteke, pesni ob Arteke. Moskau 2005. 254 Zoja Kosmodem’janskaja (1923–1941) war eine sowjetische Partisanin, die in einem Dorf namens Petričevo in der Oblast Moskau Ende November 1941 ein deutsches Munitionslager in Brand gesteckt hatte und daraufhin von den Deutschen zum Tode verurteilt worden ist. Nachdem am 27. Januar 1942 erstmals ein Zeitungsartikel über ihr Schicksal in der sowjetischen Presse erschienen war, avancierte Zoja Kosmodem’janskaja zum weiblichen Gesicht einer Propaganda­kampagne für den sowjetischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer. Krylova, Anna: Neither Erased nor Remembered. Soviet »Women Combatants« and Cultural Strategies of Forgetting in Soviet Russia, 1940s–1980s. In: Biess, Frank / Moeller, Robert G. (Hg.): Histories of the Aftermath. The Legacies of the Second World War in Europe. New York, NY 2010, 87 f. Zum Heldinnenkult um Zoja Kosmodem’janskaja siehe außerdem Rathe, Daniela: Soja – eine »sowjetische Jeanne d’Arc«? Zur Typologie einer Kriegsheldin. In: Satjukow, Silke / Gries, Rainer (Hg.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR . Berlin 2002, 45–59. 255 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 1S, Ll. 22–37, 22–37 ob.

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len, sondern allenfalls einige wenige inhaltliche Modifikationen erfuhr. Ungeachtet dessen, dass die Verbesserung der sowjetischen Versorgungssituation ab den späten 1940er Jahren und der umfassende Ausbau des Lagers Ende der 1950er Jahre eine größere Auswahl an Programmpunkten ermöglichte, die im Laufe der Zeit intensivere und professionellere Züge annahmen, blieben sie hinsichtlich ihrer Form und ihres Format weitgehend konstant. Sie konnten jedoch mit neuen oder anderen Inhalten besetzt werden – ein Vorgehen, das für die unmittelbare Zeit nach Stalins Tod charakteristisch war. Hatten die politischen Gespräche und Diskussionen Anfang des Jahres 1953 noch gänzlich im Zeichen seines Personenkultes gestanden und wurde versucht, den Pionieren die Inhalte seiner Reden sowie die Bedeutung seiner Taten und Leistungen zu vergegenwärtigen,256 so reduzierten sich Veranstaltungen dieser Art nach seinem Ableben am 5. März zusehends. Im Herbst desselben Jahres war die Person Stalins nicht mehr Gegenstand der Gespräche und Diskussionen. Die Themen waren nun entweder allgemeinerer Natur und konzentrierten sich beispielsweise auf die Aktivitäten der Partei oder wiesen andere Inhalte auf, wie eine Veranstaltung mit dem Titel L. N. Tolstoj auf der Krim demonstriert.257 Den Indizien zufolge durchlebte auch Artek zwischen 1953 und 1955/56 eine Zeit, die als »silent de-Stalinization«258 bezeichnet wird. In der kurzen Periode nach Stalins Tod 1953 und vor Chruščëvs Geheimrede auf dem XX . Parteitag der KPdSU im Februar 1956 sind bereits erste Maßnahmen zur De-Stalinisierung durchgeführt worden, die im Stillen stattfanden und nicht an die Öffentlichkeit drangen.259 Im Gegensatz zu Artek, wo die einzelnen Bestandteile der Erziehungsarbeit im Tagesablauf weitgehend gleich gewichtet waren, besaß in der Archangelsker Arbeitskolonie die berufliche und schulische Ausbildung Priorität. Solange der Krieg tobte, war hieran allerdings nicht zu denken. Zwar hatte Kruglov in einem Rundschreiben vom 22. April 1943 bestimmt, dass Zwölfbis 14-Jährige maximal vier, 14- bis 16-Jährige maximal sechs und 16- bis 18-Jährige maximal acht Stunden in den Produktionshallen und Werkstätten arbeiteten durften, um weitere zwei bis vier Stunden in der Schule verbringen zu können.260 Tatsächlich war die Kolonie jedoch nicht in der Lage, seinen 256 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 101, Ll. 2–4. 257 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 100, Ll. 18–20. 258 Smith, Kathleen E.: Remembering Stalin’s Victims. Popular Memory and the End of the USSR . Ithaca, NY 1996, 21; Adler, Nanci: The Gulag Survivor. Beyond the Soviet System. New Brunswick, NJ 2004, 21. 259 Zunächst wurden die Anklagen gegen die Opfer der Ärzteverschwörung von 1952 fallengelassen. 1954 folgte eine erste Amnestiewelle, im Zuge derer die ersten politischen Gefangenen, die nach Artikel 58 verurteilt worden waren, aus den Gulags freikamen. Smith, Remembering Stalin’s Victims, 21–24; Adler, The Gulag Survivor, 21 f. 260 Vilenskij, Deti GULAGa, 346, 380.

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Vorgaben Folge zu leisten. Zum einen besaß die Produktion von Gütern kriegsbedingt absoluten Vorrang. Zum anderen fehlte es an den grundlegenden Voraussetzungen für schulischen Unterricht. So mangelte es der Archangelsker Arbeitskolonie 1943 nicht nur an Papier, Heften, Stiften und Schulbüchern, sondern auch an Lehrern, von denen – bei einer Gesamtzahl von 738 Zöglingen – gerade einmal neun vorhanden waren.261 Im Mai 1944 wies Foma Leonjuk (1892–1967), der Chef der OBDBB, sämtliche Koloniedirektoren des Landes an, sich auf das Schuljahr 1944/45 vorzubereiten und die Schulen entsprechend auszustatten, damit der Unterricht pünktlich zum 1. September beginnen konnte.262 Da die Schulen der Kolonien seit dem Rundschreiben Kruglovs nach den Programmen des Narkompros für allgemeinbildende siebenjährige Schulen arbeiten mussten, waren sie verpflichtet, russische Sprache und Literatur, Arithmetik, Algebra und Geometrie, Naturgeschichte (estestvoznanie), Geschichte, Verfassung, Geografie, Physik und Chemie zu unterrichteten. Auf die Klassenstufen eins bis sechs sollten pro Woche 18, auf die Klassenstufe sieben 20 Stunden Unterricht entfallen. Hinzu kamen für jede Klassenstufe pro Woche 36 Stunden Arbeit in der Produktion. Nach dem offiziellen Ende des Schuljahres am 15. Juni schloss sich ein zweiwöchiger Prüfungszeitraum an.263 Erstmalig mussten sich nun die Zöglinge der Klassenstufen vier bis sieben mündlichen wie schriftlichen Abschlussprüfungen unterziehen.264 In den verbleibenden zwei Monaten der Sommerferien sollten sie in der Landwirtschaft arbeiten. Exkursionen und kulturelle Veranstaltungen standen ebenso auf dem Programm.265 Um den kriegsbedingten Mangel an Fachkräften zu beseitigen, richtete die OBDBB ihr Augenmerk alsbald auch auf die Berufsausbildung der Zöglinge. Während des Krieges hatten sie zwar ununterbrochen gearbeitet, in der Regel jedoch keine qualifizierten Abschlüsse erworben. Am 19. Oktober 1945 legte die OBDBB deshalb fest, dass die Minderjährigen Berufe von zweitem und drittem Qualifikationsgrad erlernen und sich dabei zugleich Fähigkeiten aneignen sollten, die sie später in der Industrie benötigen würden.266 In der Archangelsker Arbeitskolonie hatten offiziellen Angaben zufolge 1946 insgesamt 922 Zöglinge Abschlüsse von drittem und viertem Qualifikationsgrad erhalten. Darunter befanden sich 172 Schreiner, 131 Schlosser, 82 Dreher, 58 Former und 33 Schiffszimmerer.267 Für das Jahr 1948 plante die Kolonie, 180 Schlosser, 60 Dreher, 35 Schmiede, 100 Former beziehungsweise Gießer, 100 261 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 8, Ll. 196, 199; GARF, F. R9412, Op. 1, D. 9, L. 84 ob. 262 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 20, L. 111. 263 Ebd., L. 186. 264 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 41, Ll. 46, 71 f. 265 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 20, L. 111. 266 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 42, L. 47. 267 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 94, L. 48.

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Schreiner sowie 100 Arbeiter zur Bedienung von Holzbearbeitungsmaschinen auszubilden.268 Waren die Schulen der Kolonien seit 1943 offiziell an das Bildungsprogramm des Narkompros angepasst, erfolgte ab 1950 auch die berufliche Qualifizierung in Übereinstimmung mit den Programmen der Fabrik- (škola fabrično-zavodskogo obučenija – FZO) und der Handwerksschulen (remeslennoe učilišče), die dem System der sogenannten staatlichen Arbeitsreserven269 unterstanden.270 Insgesamt erhöhte sich in den 1950er Jahren damit sowohl die Qualität der schulischen als auch der beruflichen Ausbildung. Für heutige Maßstäbe mag das Bildungsniveau trotzdem gering erscheinen, da die meisten Zöglinge zwar über 15 Jahre alt waren, jedoch in niedrigen Klassenstufen unterrichtet wurden. So besuchten in der Archangelsker Arbeitskolonie zu Beginn des Schuljahres 1952/53 von 831 Jugendlichen 18 die erste Klasse, 60 die zweite, 139 die dritte, 196 die vierte, 178 die fünfte, 120 die sechste und nur 80 respektive 40 die siebte und achte Klasse. Im Vergleich zur Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit, als überhaupt kein Unterricht stattfand, können diese Verhältnisse dennoch als deutliche Verbesserung gelten. Hinzu kommt, dass – mit Ausnahme eines Lehrers für Fremdsprachen – inzwischen für alle Fächer Lehrer zur Verfügung standen.271 Die Verbesserung der schulischen und beruflichen Ausbildung ging mit der Erweiterung des Angebots anderer Aktivitäten einher. Ähnlich wie im Pionierlager Artek fanden auch in der Archangelsker Arbeitskolonie Anfang der 1950er Jahre Gespräche und Diskussionen von politisch-ideologischem Charakter statt. Ebenso mussten die Zöglinge Grundlagen der Kollektivarbeit lernen und sich in Gruppen und Brigaden organisieren. Neben einer Bibliothek existierte eine breite Palette künstlerischer Betätigungsfelder, darunter ein Blas- und ein Streichorchester sowie ein Amateurtheater. Aus dem sportlichen Bereich wurden Leichtathletik, Gymnastik, Skifahren, Schlittschuhlaufen, Fußball, Volleyball, Hockey und Schach angeboten. Es bestand sogar die Möglichkeit, Prüfungen für das Abzeichen zum Jungen Dynamo-Sportler (Junyj dinamovec – JuD) abzulegen.272 Ende der 1950er Jahre fanden erstmalig 268 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 238, Ll. 7 f. 269 Die staatlichen Arbeitsreserven (gosudarstvennye trudovye rezervy SSSR) waren mit einem Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR am 2. Oktober 1940 ins Leben gerufen worden. Da das Land für den fortschreitenden Aufbau der Industrie immer wieder neue und gut ausgebildete Arbeitskräfte benötigte, wurden die FZO, die Handwerks- und die Eisenbahnschulen (železnodorožnoe učilišče)  dazu verpflichtet, für die berufliche Ausbildung der städtischen und bäuerlichen Jugend Sorge zu tragen. Prezidium Verchovnogo Soveta SSSR : Ukaz ot 2 oktjabrja 1940 goda O gosudarstvennych trudovych rezervach SSSR . URL : goo.gl / MGPkWN (am 30.3.2018). 270 GARF, F. R9412, Op. 4, D. 4, L. 52; GARF, F. R9412, Op. 4, D. 5, L. 201. 271 Ebd., Ll. 200–203, 200–203 ob. 272 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 414, Ll. 228, 228 ob.

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unionsweite Leistungsschauen und Wettkämpfe in sämtlichen Arbeitskolonien sowie Arbeits- und Erziehungskolonien statt.273 Das Einzige, was in ersteren Einrichtungen fehlte, waren lokale Vertretungen der Pionierorganisation und des Komsomol. Eine Mitgliedschaft blieb nur den (nicht verurteilten) Zöglingen aus Arbeits- und Erziehungskolonien vorbehalten.274 4.2

Anspruch und Wirklichkeit

Unabhängig davon, dass das Pionierlager Artek grundsätzlich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den einzelnen Programmpunkten herzustellen versuchte, stand eine Aufgabe in besonderem Fokus: die Heranziehung von Führungskadern. Bereits Mitte der 1930er Jahre galt Artek als elitäre und exklusive Institution. Beeinflusst von der Stachanov-Bewegung, war die Teilnahme eines Pioniers nicht mehr an gesundheitliche Kriterien, sondern seine Leistungen gebunden. Eine sogenannte putëvka nach Artek, eine Art Reisevoucher oder Reisebezugsschein, wollte seither verdient werden und stellte eine ebenso begehrte wie seltene Auszeichnung dar.275 Um eine putëvka zu ergattern, mussten sich die Kinder und Jugendlichen auf einem Gebiet besonders hervorgetan haben. Drei Interviewpartner, Grigorij, Svetlana und Boris, hatten sie für ihr Engagement und ihren Aktivismus in der Pionierorganisation erhalten.276 Oksana, einer weiteren Zeitzeugin, war sie zuteilgeworden, weil sie den lettischen Landesschachwettbewerb gewonnen hatte.277 Welche konkreten Talente die Pioniere besaßen, ob für Sport, Musik, Tanz oder Zeichnen, für Mathematik und Naturwissenschaften oder Schach, war nicht ausschlaggebend, da Artek es vermochte, individuelle Begabungen umfassend zu fördern. Ihren Interessen entsprechend konnten sich die jungen Besucher in verschiedene Arbeitszirkel einschreiben. Existierten 1945 hiervon gerade einmal vier (Sanitärwesen, Sport, bildende Kunst und Handarbeit),278 waren es 1959/60 mehr als 30, die vier Schwerpunkte bedienten, darunter Technik (Funkwesen, Kino-Mechanik, Flugzeug- und Schiffbau, Auto, Motorrad, Fotografie, Schreinerwesen, Schlosserhandwerk), Sport (Leichtathletik, Volleyball, Basketball, Tischtennis, Schwimmen, Rudern, Schach),

273 GARF, F. R9412, Op. 2, D. 74, Ll. 138–154. 274 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 414, Ll. 228 f. 275 Siehe Lučšie edut v »ARTEK«. In: Pionerskaja Pravda 72 (1542) vom 4.6.1935, 3. 276 Interview mit Grigorij 27.5.2015; Interview mit Svetlana 4.6.2015; Interview mit Boris 28.7.2016. 277 Interview mit Oksana 27.5.2015. 278 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 1S, L. 25 ob.

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Kunst (Chor, Zeichnen, Handarbeit) sowie spezielle Fachgebiete (Literatur, Mathematik, Chemie, Astronomie, Fremdsprachen).279 Um den Kindern und Jugendlichen ein realistischeres Bild von ihren Interessensgebieten zu vermitteln und ihnen spätere Berufsmöglichkeiten aufzuzeigen, lud Artek immer wieder bekannte und berühmte Persönlichkeiten ein, die den Pionieren von ihren Tätigkeiten berichteten. Dass Jurij Gagarin (1934–1968)280 in den 1960er Jahren ein häufiger Gast war, ist angesichts der sowjetischen Begeisterung für Raumfahrt281 nicht überraschend. Neben Kosmonauten besuchten seit jeher aber auch Politiker, Generäle, Schriftsteller, Ärzte, Agronomen und Vertreter anderer Berufsgruppen Artek.282 In welchem Bereich die Pioniere später einmal beruflich tätig sein würden, spielte eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger war, dass sie auf ihrem Gebiet als politische Führungskräfte in Erscheinung traten, sie ihre Kenntnisse und Fähigkeiten nicht nur an andere weitergaben, sondern ihnen auch zum ideologischen Vorbild gereichten, sie politisch organisierten und dabei stets im Interesse des Staates agierten. Aus diesem Grund stellte die Organisationsarbeit einen zentralen Bestand­ teil im erzieherischen Programm des Lagers dar. Mit ihr begannen die Pionierleiter bereits unmittelbar nach der Ankunft der Kinder und Jugendlichen in Artek, indem sie ihre Schützlinge in verschiedene Einheiten untergliederten. Die größte davon bildete die sogenannte družina, eine Art Brigade, der alle Pioniere eines Teillagers angehörten. Darunter folgten mit dem otrjad und dem zveno zwei zahlenmäßig kleinere Gruppen. Ein otrjad umfasste etwa 279 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 218, Ll. 15 f. 280 Gagarin hat an der Errichtung des lagereigenen Museums zur Kosmotechnik, das 1967 in der Villa Suuk- Su eröffnet wurde, mitgewirkt. Stribuk / Murašov, Artek: Ot A do Ja, 21 f. Zum Heldenkult um Gagarin siehe Kowalski, Gerhard: Der »Rote Kolumbus«. Juri Gagarin, der sowjetische Kosmosheld. In: Satjukow, Silke / Gries, Rainer (Hg.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR . Berlin 2002, 71–83 sowie Gestwa, Klaus: »Kolumbus des Kosmos«. Der Kult um Jurij Gagarin. In: OSTEUROPA 59/10 (2009), 121–151. 281 Die sowjetische Kosmoseuphorie zeitigte einen immensen Einfluss auf die Gestaltung der Lebenswelten von Kindern und Erwachsenen. Während erstere auf Spielplätzen tobten, die im Raketendesign gehalten waren, durften sich sowjetische Frauen an Staubsaugern erfreuen, deren Formen denen von Raketen und Satelliten nachempfunden waren und Bezeichnungen wie Raketa oder Orbit trugen. Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York, NY 2001, 345 f.; Reid, Susan E.: This is Tomorrow! Becoming a Consumer in the Soviet Sixties. In: Gorsuch, Anne E. / Koenker, Diane P. (Hg.): The Socialist Sixties. Crossing Borders in the Second World. Bloomington, IN 2013, 37 f., 42. Zur sowjetischen Kosmoskultur siehe außerdem Maurer, Eva / Richers, Julia / Rüthers, Monica / Scheide, Carmen (Hg.): Soviet Space Culture. Cosmic Enthusiasm in Socialist Societies. Basingstoke, 2011. 282 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 32, L. 31; RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 131, L. 18; RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 132, L. 2.

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30 bis 40 Kinder und Jugendliche, für die zwei Pionierleiter verantwortlich zeichneten. Die Mitglieder eines otrjad bildeten eine feste Organisationseinheit und erlebten gemeinsam die Mehrheit der Aktivitäten im Lager. Ein zveno dagegen setzte sich aus weniger Personen zusammen. Zu ihm gehörten Pioniere eines otrjad, die gemeinsame Interessen verfolgten und ähnliche Fähigkeiten besaßen. Da die Aufgabe der Pionierleiter darin bestand, die otrjady in funktionsfähige Kollektive zu verwandeln, mussten sie diejenigen Kinder oder Jugendlichen ausfindig machen, die unter ihren Kameraden Autorität genossen und sich durch Organisationstalent auszeichneten. Diese wurden aus den Reihen ihrer otrjady in den Stab der družina entsandt. Sowohl auf der Ebene der otrjady als auch der družiny fanden regelmäßig Versammlungen statt, um (anstehende) Pionieraktivitäten zu planen und zu koordinieren.283 Was die Kinder und Jugendlichen hier lernten, unterschied sich dem Wortlaut nach kaum von der Organisationsarbeit, die auch die Schulen und lokalen Pionierorganisationen des Landes betrieben,284 und verkörperte letztlich nichts anderes als sowjetische Komsomol- und Parteiarbeit im und für die Kleinen. Hinsichtlich des Niveaus bestanden jedoch gravierende Unterschiede. So musste Oksana, die aus Riga stammte und im Sommer 1961 in Artek weilte, erkennen, dass der Geist, den die Pionierorganisation in ihrer Heimat versprühte, in keiner Weise vergleichbar mit dem war, den sie in Artek erlebte. Für sie boten sich die Aktivitäten des Lagers in derart interessanter Form dar, dass sie schließlich nicht einmal mehr Anstoß daran nahm, aufgrund der Fülle des Programms viel zu selten im Schwarzen Meer gebadet zu haben.285 Oksanas Wahrnehmungen sind insofern nicht ungewöhnlich, als Artek spätestens Mitte der 1950er Jahre zu einem wichtigen, wenn nicht gar dem Zentrum zur Weiterentwicklung der Inhalte und Methoden der Pionierarbeit avanciert war. Es galt nicht nur als das prestigeträchtigste Pionierlager der Sowjetunion, sondern des gesamten Ostblocks. Artek war der große Bruder und das Vorbild für sämtliche andere Pionierlager im sowjetischen Inland und dem sozialistischen Ausland. Was hier geschah, war maßgebend für alle anderen Einrichtungen dieser Art. Wer sich mit den Neuerungen seiner 283 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 1S, Ll. 22, 22 ob., 23, 23 ob., 24. 284 Auch Schulen waren nach dem Prinzip von družina, otrjad und zveno organisiert. Einem zveno gehörten fünf bis zwölf Schüler einer Klasse an. Mehrere zven’ja unterschiedlicher Klassen, aber derselben Klassenstufe bildeten einen otrjad. Jeder otrjad wählte aus seinen Reihen drei bis fünf Vertreter, die sich zu einem Rat zusammenschlossen und für die Leitung der Aktivitäten zuständig waren. Die otrjady wiederum formten die družina, eine Brigade für die gesamte Schule. Drei bis 15 Personen stellten hier den Brigaderat, der für die Organisation sämtlicher Pionieraktivitäten der Schule verantwortlich zeichnete. Kassof, The Soviet Youth Program, 67 f. 285 Interview mit Oksana.

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Zunft vertraut machen wollte, musste nach Artek fahren, wo regelmäßig Konferenzen stattfanden, die von Teilnehmern aus der Sowjetunion und aus anderen sozialistischen, aber auch aus westlichen Staaten besucht wurden.286 1965 entstand auf dem Gelände des Lagers eine Schule für Pionierarbeit, um künftige sowjetische Pionierleiter für ihre Arbeit in Artek auszubilden.287 Das Lager war damit nicht nur ein Ort für Pioniere mit Bestleistungen, sondern auch für herausragende Pionierleiter, Erzieher und Lehrer. Die hier mit den Kindern und Jugendlichen durchgeführten Aktivitäten waren ihrer Zeit stets ein Stück voraus. Theoretisch bestand die Aufgabe der Pioniere darin, das in Artek Neuerlernte in den Pionierorganisationen und Schulen ihrer Heimat anzuwenden. Praktisch musste ihnen dieses Wissen jedoch erst einmal vermittelt werden. Dass die Kinder und Jugendlichen aus allen Ecken und Enden der Sowjetunion nach Artek reisten – allein im Jahr 1965 hatten Pioniere 51 verschiedener Nationalitäten das Lager besucht288 – und damit vollkommen unterschiedliche ethnisch-nationale, sprachliche und kulturelle Hintergründe mitbrachten, stellte die Pionierleiter vor enorme Herausforderungen. Schwierig war vor allem, dass viele nicht ausreichend Russisch sprachen289 – ein Problem, das sich während eines Aufenthalts von 30 bis 40 Tagen nicht beheben ließ.290 Viele Pioniere waren angesichts des ehrgeizigen Programms des Lagers schlichtweg überfordert. Selbst Boris, der aus Ivanovo kam und im Herbst 1986 oder 1987 in Artek weilte, musste zu seiner großen Überraschung feststellen, dass das Niveau der schulischen Ausbildung hier ungleich höher war als das in seiner Heimatstadt. Boris, der eigentlich ein guter Schüler war, hatte insbesondere in Mathematik und Englisch Mühe und Not, dem Unterricht zu folgen.291 Wie sich dieser Umstand auf diejenigen auswirkte, deren Muttersprache nicht Russisch war, lässt sich nur erahnen. Schwierigkeiten bereitete nicht zuletzt der holistische Anspruch Arteks. Nicht alle Kinder und Jugendlichen fanden ausnahmslos Gefallen an den Aktivitäten des Lagers. In den tagebuchartigen Aufzeichnungen der Pionierleiter standen Jungen wiederholt in der Kritik, weil sie Programmpunkte wie 286 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 134, Ll. 1–61. 1958 ist eine internationale Konferenz abgehalten worden, auf der sich Vertreter aus der Sowjetunion, aus Bulgarien, Belgien, der DDR , Nordkorea, Frankreich, Polen, Rumänien, Finnland und der ČSR über ihre Arbeit mit Kindern ausgetauscht haben. RGASPI, F. M-8, Op.1, D. 178, L. 1. Einzelne Länder entsandten zudem wiederholt Studiendelegationen nach Artek. Aus der DDR sind beispielsweise 1960 Mitarbeiter der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und der Pionierorganisation »Ernst Thälmann« nach Artek gereist, um sich mit der Arbeitsweise, den Methoden und Inhalten des Pionierlagers vertraut zu machen. SAPMO BArch, DY 25/818, o. S. 287 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 491, Ll. 8 f. 288 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 497, L. 128. 289 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 198, L. 13. 290 RGASPI, F. M-1, Op. 68, D. 650, L. 74. 291 Interview mit Boris.

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Singen, Tanzen oder das Einstudieren von Theaterstücken entweder nur widerwillig mitmachten oder sich ihnen gänzlich widersetzten.292 Nicht wenigen Pionieren missfielen auch die Appelle, der Frühsport, das tägliche Aufräumen und der obligatorische Mittagsschlaf.293 Einige zogen auch aufgrund schlechten Benehmens die Aufmerksamkeit der Pionierleiter auf sich. Ein Junge war derart oft negativ aufgefallen, vor allem, weil er einen Altersgenossen immer wieder schikanierte, dass er seinen otrjad nicht zu einem Ausflug nach Sewastopol begleiten durfte und im Lager zurückbleiben musste, was eine ungewöhnlich harte Bestrafung darstellte.294 Für eine Institution wie Artek, die offiziell nur den Besten vorbehalten war, mutet letzter Fall zwar eher atypisch an. Doch wurde die Politik der putëvki-Vergabe nach Leistung oft verletzt, sodass sich solche Vorkommnisse häufiger ereigneten.295 Wie ein Beschluss des Sekretariats des CK des Komsomol vom 27. September 1962 belegt, sind entsprechende Praktiken im Laufe der Zeit zu einem weit verbreiteten Phänomen geworden, in das kein Geringerer als der Direktor Arteks, Dmitrij Trusevič, persönlich involviert war. Trusevič hatte zahlreiche putëvki an Leiter und Mitarbeiter diverser Geschäfte und Handelsunternehmen verkauft. Während er mit einem strengen Verweis und einem Vermerk in seiner Personalakte verhältnismäßig glimpflich davonkam, erging gegen einen Mann aus Leningrad, der als Direktor eines Großhandels tätig war, Haftbefehl.296 Trusevič dagegen, der 1956 zum Direktor des Lagers ernannt worden war, verblieb bis 1968 auf dieser Position.297 Von 1968 bis 1976 arbeitete er als stellvertretender Direktor und war für den Bereich In292 293 294 295

RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 198, L. 20; RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 282, L. 19. RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 198, L. 13; RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 612, L. 12. RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 282, Ll. 21, 31.

Bereits in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre waren mehrfach Kinder hoher staatlicher Würden- und Funktionsträger zu Gast in Artek. Hierzu gehörte die spätere sowjetische Dissidentin und Menschenrechtlerin Elena Bonner (1923–2011), die ihre putëvka dank der Kontakte ihres Stiefvaters Gevork Alichanov (1897–1938) erhalten hatte, der zunächst als Erster Sekretär des CK der Kommunistischen Partei Armeniens und später in der Komintern tätig war. Ähnliches galt für Igor’ Čkalov (1928–2006), den Sohn des bekannten sowjetischen Piloten Valerij Čkalov (1904–1938), der insgesamt vier Mal in Artek weilte – 1937, 1938, 1939 und 1940 –, obwohl ein Aufenthalt offiziell ein einmaliges Ereignis sein sollte. Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 226–228. In den Sommern 1947 und 1948 verbrachten schließlich zwei Enkelsöhne Kliment Vorošilovs (1881–1969), des Marschalls der Sowjetunion, ihre Ferien hier. RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 32, L. 4. 296 RGASPI, F. M-1, Op. 4, D. 2598, Ll. 102–107. 297 Stribuk / Murašov, Artek: Ot A do Ja, 18. Dass das Verhalten Trusevičs keine gravierenden Folgen nach sich zog, deckt sich mit den Beobachtungen Edward Cohns hinsichtlich des Umgangs mit Parteimitgliedern, die sich ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt sahen. So lässt das Komsomol-Dokument nicht nur den Begriff der Korruption vermissen, was Cohn in seiner Studie als Zeichen für ihre Allgegenwart ausmacht. Vorkommnisse dieser Art besaßen auch selten ernsthafte Konsequenzen. Cohn, The High Title of a Communist, 115, 117, 140.

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vestitionsbau zuständig. Anlässlich seiner Pensionierung 1976 zeichnete ihn das Sekretariat des CK des Komsomol für seine »langjährige und produktive Arbeit in der Erziehung von Pionieren und Schülern« mit dem Abzeichen des CK des Komsomol 50 Jahre mit dem Namen V. I. Lenins aus.298 Die inoffizielle Verteilpolitik der putëvki, die nie vollständig unterbunden werden konnte, wirkte sich nicht zuletzt auf die soziale Zusammensetzung Arteks aus. Von den 3.412 Pionieren, die während der ersten vier Durchgänge des Jahres 1955 im Lager weilten, stammten nur 8,3 Prozent aus der Klasse der Arbeiter und gerade einmal ein Prozent aus der Klasse der Kolchosbauern. Dagegen hatten 50,8 Prozent respektive 10,7 Prozent der Kinder Eltern, die Angestellte und Armeeangehörige waren. Bei 5,9 Prozent der Pioniere befanden sich die Eltern bereits in Pension. Die restlichen 23,3 Prozent lebten in Waisenheimen.299 Die Zahl letzterer sollte sich in der Folge zwar reduzieren. Im Jahr 1974 stellten sie nur noch 2,5 Prozent dar. Doch blieb der Anteil der Pioniere aus Angestelltenfamilien mit 50,8 Prozent gleich. Auf Kinder aus der Arbeiterklasse entfielen 1974 insgesamt 34, auf Kinder aus der Bauernklasse 12,7 Prozent.300 Artek war folglich ein Ort, an dem sich die Mittel- und Oberklasse reproduzierte. Das Lager vollzog damit eine ähnliche Entwicklung wie der sowjetische Erwachsenentourismus, der seine Aufmerksamkeit in den 1920er und 1930er Jahren zwar auf den Industriearbeiter gerichtet hatte, jedoch nichts daran zu ändern vermochte, dass der Anfang der 1960er Jahre einsetzende Massentourismus zu einem Vergnügen des sowjetischen Mittelklassekonsumenten geriet.301 Auch Artek, das ursprünglich als Lager für Pioniere aus der Arbeiter- und Bauernschaft konzipiert worden war, hatte sich im Laufe der Jahrzehnte zu einer beliebten Feriendestination für Kinder und Jugendliche aus der Mittel- und Oberschicht entwickelt. Inwieweit das Lager seinem Anspruch der Heranziehung von (künftigen) Führungskadern gerecht wurde, lässt sich nicht eindeutig konstatieren, da die schiere Anzahl an Pionieren, die im Laufe der Jahrzehnte hier zu Gast war, es nicht erlaubt, ein allgemeingültiges Bild zu zeichnen. Lässt man diejenigen, die ihre putëvka über Beziehungen erhalten haben, beiseite, so finden sich zwar dennoch unzählige Beispiele ehemaliger Artek-Besucher, die später angesehene und leitende Positionen bekleideten. Diesen Umstand einzig auf ihren Aufenthalt im Lager zurückzuführen, greift jedoch insofern zu kurz, als viele von ihnen auch vorher schon gut organisiert, vernetzt, aktiv und

298 RGASPI, F. M-1, Op. 68, D. 1031, Ll. 1–3. 299 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 59, L. 66. 300 RGASPI, F. M-2, Op. 2, D. 842, L. 3. 301 Koenker, Club Red, 9.

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umtriebig waren, dass sie ihren Aufstieg wohl vorrangig persönlichen Charaktereigenschaften, vor allem ihrem Durchsetzungsvermögen, verdankten. Die Wirkung seines Erziehungsprogramms hat Artek nie weiterverfolgt. Theoretisch oblag diese Aufgabe den Schulen am Heimatort der Pioniere. Wie Grigorij und Boris erzählt haben, waren sie vor ihrer Abreise von den Lehrern dazu verpflichtet worden, nach ihrer Rückkehr über den Aufenthalt in Artek zu berichten.302 Eine festgeschriebene Regel verbarg sich dahinter jedoch nicht, sodass entsprechende Maßnahmen praktisch weder allerorts noch in dem notwendigen Maße anzutreffen gewesen sein dürften. In diesem Punkt manifestiert sich ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Pionierlager Artek und der Archangelsker Arbeitskolonie, denn in letzterer war es – zumindest auf dem Papier – zwingend notwendig, die Zöglinge nach ihrer Entlassung weiter zu begleiten. Im Gegensatz zu den Pionieren in Artek kehrten sie in der Regel nämlich nicht in stabile Verhältnisse zurück. Sofern gewährleistet sein sollte, dass sie nicht direkt in alte Muster zurückfielen, musste ihr Neustart ins Leben unterstützt werden. Erste Ansätze diesbezüglich sind bereits 1938 aufgekommen. So hat das Präsidium des Exekutivkomitees der Oblast Archangelsk am 15. Mai 1938 beschlossen, Jugendliche ab einem Alter von 14 Jahren, die in Einrichtungen des NKVD lebten, an lokale Industrieunternehmen, Sowchosen und ­MaschinenTraktoren-Stationen zu vermitteln. Die Leiter dieser Betriebe standen damit in der Pflicht, einen Vertrag mit den Arbeitskolonien des NKVD im Gebiet Archangelsk zu vereinbaren, der die Übergabe ehemaliger Zöglinge regelte. Um ihnen den Beginn zu erleichtern, sollten die Kolonien dafür Sorge tragen, dass sie mit ausreichend Oberbekleidung, Wäsche und Schuhen sowie einer einmaligen Geldzahlung ausgestattet wurden. Die Betriebsdirektoren zeichneten dafür verantwortlich, dass die Jugendlichen einen Platz im Wohnheim erhielten und eine Ausbildung absolvieren konnten. Ferner sollten sie deren Alltag und Arbeitsleben kontrollieren und Kulturarbeit mit ihnen durchführen.303 Was sich auf den ersten Blick sinnvoll angehört haben mag, bedeutete in der Praxis eine Verantwortungsentledigung seitens der OTK des NKVD, da für das weitere Schicksal der Zöglinge nun die jeweiligen Betriebsdirektoren die Verantwortung trugen. Zwar sind die Auswirkungen des Beschlusses für die Oblast Archangelsk nicht bekannt. Aus anderen Oblasten, Regionen und Republiken der RSFSR , in denen spätestens seit 1940304 ähnliche Verordnun302 Interview mit Grigorij; Interview mit Boris. 303 GAAO, F. R-2383, Op. 1, D. 746, L. 10.  304 Mit einer Verordnung vom 23. April 1940 verpflichtete der Sovnarkom der RSFSR eine Reihe an Volkskommissariaten der Industrie, des Bauwesens und der Landwirtschaft zur Aufnahme ehemaliger Zöglinge aus den Einrichtungen des Narkompros, Narkomsobes und des NKVD. GARF, F. A259, Op. 38, D. 346, Ll. 16, 20, 51.

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gen existierten, zeigte sich jedoch, dass die Betriebe aufgrund des allseitigen Mangels an Wohnraum nicht in der Lage waren, die ihnen auferlegte Zahl an Jugendlichen unterzubringen.305 Welche Folgen dieser Umstand auf das Leben der Minderjährigen hatte, ob sie dadurch gezwungen waren, länger als vorgesehen in den Arbeitskolonien zu verbleiben oder vor die Tür gesetzt wurden und fortan selbst sehen mussten, wie und wo sie ihren Unterhalt bestritten, geht aus dem Dokument nicht hervor.306 Dass diese Politik nicht den gewünschten Effekt erzielt hatte, vor allem deshalb, weil zu wenig Arbeits- und Wohnheimplätze vorhanden waren, demonstrierte eine neue Maßnahme, die 1947 aufgekommen ist. Sofern die Zöglinge noch Eltern hatten, sollte nun die Zusammenarbeit mit ihnen intensiviert werden, nicht nur in Form von Briefwechseln, sondern auch von Besuchen. Ihren Ausgang hatte diese Entwicklung in der Arbeitskolonie in Kurjaž (heute: Kurjažanka, Oblast Charkow, Ukraine) genommen, wo die Erzieher die Ansicht vertraten, dass die Eltern vom Umerziehungsprozess ihrer Kinder nicht ausgeschlossen werden durften, da sie nach ihrer Entlassung in der Regel zu ihren Familien zurückkehrten. Aus diesem Grund organisierten sie spezielle Besuchstage, zu denen die Eltern in die Kolonie eingeladen und über die pädagogischen Konzepte und Methoden informiert wurden. Damit die Zöglinge den eingeschlagenen Weg der Besserung nach ihrer Entlassung fortsetzten und nicht zu Rückfalltätern wurden, war es aus Sicht der Erzieher wichtig, dass die Eltern die in der Kolonie unternommenen Erziehungsmaßnahmen unterstützten. Das Personal der Kolonie suchte folglich zweifach Einfluss auszuüben, einerseits auf die Minderjährigen, andererseits auf ihre Eltern.307

305 Ebd., Ll. 5, 16, 20, 42, 46. 306 In der historischen Sekundärliteratur findet sich mitunter der Hinweis, dass Zöglinge aus Waisenheimen, Arbeitskolonien und Gefängnissen später des Öfteren beim NKVD und der Geheimpolizei arbeiteten oder in die Armee eintraten. Wie sie hierhin gelangten, ob ihr »Karriere«-Weg eher dem Zufall und ihrer Verzweiflung geschuldet oder ob er das Resultat gezielter Rekrutierungspraktiken war, ist allerdings unklar. Galley, »Wir schlagen wie eine Faust«: Die Bande als Lebensform sowjetischer Straßenkinder unter Stalin, 48. An dieser Stelle sei zudem auf einen Aufsatz von Nikita Petrov verwiesen, in dem der Autor darlegt, dass die Zahl ehemaliger Waisen- und Straßenkinder auf der Führungsebene des NKVD während des Großen Terrors kurzzeitig gestiegen ist. Betrug ihr Anteil zwischen 1934 und 1936 nur fünf bis sechs Prozent, machte er 1937 acht und 1938 schließlich 12,7 Prozent aus, fiel 1939/40 jedoch zurück auf sechs Prozent. Konkrete Gründe oder eine exakte Antwort auf die Frage, warum und unter welchen Voraussetzungen ihr Aufstieg in den NKVD erfolgt war, nennt Petrov allerdings nicht. Petrov, Nikita: Les transformations du personnel des organes de sécurité soviétiques, 1922–1953. In: Cahiers du monde russe 42/2–4 (2001), 381–384. Da die entsprechenden Quellen in den russischen Archiven aktuell nicht zugänglich sind, lassen sich diesbezüglich keine aussagekräftigen Rückschlüsse ziehen. 307 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 48, Ll. 194–196.

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Vier Jahre später, am 11. Oktober 1951, erließ die ODK des MVD eine Verordnung, wonach sämtliche Kolonien fortan überprüfen mussten, unter welchen Bedingungen ihre ehemaligen Zöglinge lebten. Einem Bericht über die Archangelsker Arbeitskolonie zufolge waren fünf ehemalige Verurteilte zu ihren Verwandten in die Oblast Rjazan’ zurückgekehrt. Drei von ihnen hatten begonnen, in Kolchosen und Industriebetrieben zu arbeiten, waren gut versorgt und zeigten einwandfreies Benehmen; ein Junge ist anschließend zu seiner Schwester nach Moskau gezogen; der fünfte ist in einem Streit ums Leben gekommen. 26 weitere Jugendliche lebten nach ihrer Entlassung in der Oblast Archangelsk, davon sieben in Kotlas und 19 in Archangelsk. Zwei dieser 26 Personen absolvierten ihren Militärdienst, 14 arbeiteten in der Produktion, zehn weitere gingen keiner Arbeit nach und lebten bei ihren Eltern. Drei dieser zehn Personen gingen wieder zur Schule, die restlichen sieben waren ohne Beschäftigung. Einer der 26 Jugendlichen war zunächst als Heizer auf einem Schiff tätig, wurde aber entlassen, weil er nicht zur Arbeit erschienen war; ein weiterer wurde wegen Diebstahls verurteilt. Die Mehrheit, 23 der insgesamt 31 entlassenen Jungen, ging damit einer Beschäftigung entweder in Form von Arbeit oder Schule nach.308 In den folgenden Jahren wurde dieses Vorgehen optimiert. Im Mai 1958 verpflichtete der Innenminister, Nikolaj Dudorov (1906–1977), seine Kollegen auf Republiks-, Regions- und Oblastebene, gemeinsam mit den Mitarbeitern der ODK und der priëmniki, der Miliz, den Vormundschaftsräten und den Massenorganisationen dafür zu sorgen, dass die Lebensumstände ehemaliger Zöglinge aus Arbeitskolonien sowie aus Arbeits- und Erziehungskolonien weiter beobachtet werden. Die Analyse sollte anhand eines vom MVD vorgegebenen Fragebogens erfolgen. Die Funktionäre der einzelnen Innenministerien erhofften sich hiervon, die Ursachen der Jugendkriminalität aufdecken und damit Verbrechen verhindern oder deren Zahl zumindest senken zu können.309 Ein Jahr zuvor ist auf dem Gebiet der RSFSR bereits eine Probeumfrage unter 6.387 Personen durchgeführt worden, an der sich auch 730 (ehemalige) Zöglinge der Archangelsker Arbeitskolonie beteiligt hatten. Wie hieraus ersichtlich ist, gingen 74 Prozent der Jugendlichen, die aus einer Arbeitskolonie entlassen worden sind, einem ehrlichen Leben nach, arbeiteten oder studierten, während die restlichen 26 Prozent erneut Verbrechen begangen haben und verurteilt worden sind. Auffallend ist jedoch, dass von den 74 Prozent nur 14,7 Prozent entsprechend ihrer in den Kolonien erworbenen Qualifikation arbeiteten. Die überwiegende Mehrheit musste sich um- oder weiterbilden.

308 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 414, Ll. 235 f. 309 GARF, F. R9412, Op. 2, D. 101A, Ll. 22–24.

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21,7 Prozent der Zöglinge hatten während ihres Aufenthalts in den Arbeitskolonien gar keine Ausbildung absolviert.310 Ein ähnliches Bild boten die Arbeits- und Erziehungskolonien. Hier haben 71,8 Prozent den Weg der Besserung eingeschlagen, wenngleich nur 24,9 Prozent von ihnen, also nur jeder Vierte, eine Arbeit ausübte, die auf seine in der Kolonie erhaltene Qualifikation zugeschnitten war. 21 Prozent dagegen haben erneut Vergehen oder Verbrechen begangen, woraufhin sie abermals in eine Arbeits- und Erziehungskolonie eingewiesen oder verurteilt worden sind. Die restlichen 7,2 Prozent haben längere Zeit weder gearbeitet noch studiert; manche standen wieder in Kontakt mit »kriminellen Elementen«. Auch hier hatten einige Entlassene, insgesamt 16,8 Prozent, während ihres Aufenthalts in den Arbeits- und Erziehungskolonien keine Ausbildung absolviert.311 Dass etliche Jugendliche nichtsdestotrotz ins Arbeitsleben (zurück)fanden, bezeugen die Briefe, die sie oder ihre Eltern an die einstigen Erzieher und Ausbilder geschrieben haben. Während die Jungen darin oft ihr Bedauern über ihr früheres Verhalten zum Ausdruck brachten, bedankten sich die Eltern zumeist für die Erziehung ihrer Söhne. Aus den einstigen Zöglingen der Arbeits- und Erziehungskolonie in Emca sind unter anderem Schreiner und Schiffsbauer geworden, die in Betrieben in Archangelsk oder Moskau arbeiteten. Nicht wenige leisteten auch ihren Armeedienst ab. Ein Junge war sogar in der DDR stationiert. Ein weiterer hat als Matrose bei einer Reederei angeheuert, zeigte sich nun allerdings besorgt, da sein Arbeitgeber Kontakte ins Ausland unterhielt und er sich unsicher war, ob er aufgrund seines Aufenthaltes in der Kolonie überhaupt das Land verlassen dürfte.312 Wie die letzte Aussage verdeutlicht, konnte ein Kolonieaufenthalt – ähnlich einer Gefängnishaft – die soziale Identität der Jugendlichen beschädigen und sie mit einem Stigma313 belegen, was ihre Reintegration und Resozialisierung gefährdete. Ihr Schicksal war zu weiten Teilen vom Wohlwollen sowjetischer Behörden und ihrer Vertreter abhängig, je nachdem, ob und inwieweit sie sich bereit erklärten, ihnen eine zweite Chance zu geben. Taten sie es nicht, konnte dies schwerwiegende Folgen für die Minderjährigen haben, wie das Beispiel eines Jungen beweist, der Anfang November 1957 aus der Archangelsker Arbeitskolonie entlassen worden und zu seiner Mutter nach Moskau zurückgehrt war. Die dortige Milizbehörde hat sich geweigert, ihm eine Auf-

310 311 312 313

Ebd., Ll. 25–27, 29. Ebd., Ll. 31–33. GARF, F. R9412, Op. 2, D. 42, Ll. 12–17. Die Ausführungen stützen sich hier und im weiteren Verlauf der Arbeit auf die von Erving Goffman vorgenommene Definition des Stigmas. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 23. Aufl. Frankfurt am Main 2016, 9–30.

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enthaltsberechtigung, eine sogenannte propiska314, auszustellen. Ohne dieses Dokument, das den Wohnort registrierte, befanden sich Sowjetbürger in einer rechtlich illegitimen Lage, konnten an dem Ort, an dem sie lebten, weder eine (offizielle)  Arbeit aufnehmen noch eine Wohnung zugewiesen bekommen. Nach Intervention seitens der ODK des MVD stellte die Milizbehörde in Moskau dem Jungen doch noch eine propiska aus – allerdings mit viermonatiger Verzögerung.315 Die Lebenswege ehemaliger Zöglinge beeinflussten somit verschiedene Faktoren. Das Durchlaufen einer schulischen und beruflichen Ausbildung in einer Kolonie war keine Garantie für Reintegration und Resozialisierung. Die größte Hürde stellte der Übertritt aus der Einrichtung in die »normale« Arbeitswelt dar. Wenngleich dieser Punkt in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre deutliche Verbesserungen erfuhr, blieben die Jugendlichen stets von der Kooperationsbereitschaft anderer Personen und Behörden abhängig. Einen klaren Vorteil besaßen diejenigen, die sich auf den Rückhalt ihrer Eltern verlassen konnten. Ausschlaggebend für die Reintegration und Resozialisierung ehemaliger Zöglinge war demnach weniger der Aufenthalt in der Kolonie, während dem ohnehin nur die wenigsten eine brauchbare berufliche Qualifizierung erhielten, als vielmehr das, was ihnen danach widerfuhr. * * * Mit dem Pionierlager Artek und der Archangelsker Arbeitskolonie verband sich nicht nur die Hoffnung auf Beseitigung gravierender sozialer Missstände, 314 Unter dem Eindruck der massenhaften Migration von Bauern, die vor der Kollektivierung, der Kulakenverfolgung und der Hungersnot vom Land in die Städte geflohen waren, ist im Dezember 1932 ein Pass- und Registrierungssystem eingeführt worden, um die damit einhergehende Kriminalität und soziale Unordnung zu bekämpfen. Davon betroffen waren alle Bürger ab 16 Jahren, die dauerhaft in Städten, Arbeitersiedlungen und auf staatlichen Landwirtschaftsbetrieben lebten. Sie wurden verpflichtet, einen Pass zu beantragen, den sie bei ihrer lokalen Polizeibehörde registrieren lassen mussten, um eine Aufenthaltsgenehmigung (propiska) für den Wohnort, der in ihrem Pass angegeben war, zu erhalten. Damit wurden sie nicht nur klassifiziert, sondern auch an einen bestimmten Ort gebunden, da die Ausstellung eines Passes mit der Registrierung eines konkreten Wohnortes und Arbeitsplatzes einherging. Während es die Passgesetze einigen Bürgern erlaubten, sich in privilegierteren Städten niederzulassen, schlossen sie andere Bürger explizit aus. Dem Staat stand hiermit ein Kontrollelement zur Verfügung, mit dessen Hilfe er unerwünschte Teile der Bevölkerung überwachen und aus strategisch wichtigen Gebieten, beispielsweise Grenzregionen oder Orten, die der Elite vorbehalten waren, verdrängen konnte. Die Entscheidung, wer unter welcher Kategorie erfasst werden sollte, trafen Polizeibeamte. Shearer, Policing Stalin’s Socialism, 192 f., 243–245. Zum sowjetischen Passsystem und seiner Bedeutung siehe außerdem Bajburin, Al’bert: Sovetskij pasport: istorija – struktura – praktiki. Sankt Petersburg 2017. 315 GARF, F. R9412, Op. 2, D. 105, L. 39.

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sondern auch auf die Schaffung des »Neuen Menschen«, der neuen Gesellschaft und des novyj byt. Erreicht werden sollten diese ambitionierten Ziele durch stringente erzieherische und disziplinarische Maßnahmen. Dass ihre Gründerväter für das Lager auf der Krim und die Kolonie in Archangelsk peripher gelegene Standorte auserkoren hatten, lag zum einen im desolaten Erscheinungsbild sowjetischer Städte begründet, wo Umweltverschmutzung und Kriminalität die physische wie psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in hohem Maße gefährdeten oder zu gefährden drohten. Zum anderen verhieß die Abgeschiedenheit unumschränkten staatlichen Zugriff auf die in ihnen untergebrachten Pioniere und Zöglinge, da negative Einflüsse seitens der Außenwelt weitestgehend eliminiert werden konnten. In der Praxis existierte allerdings eine tiefe Kluft zwischen ideologischem Anspruch und materieller Wirklichkeit. Die allseits vorherrschende Wissenschaftsgläubigkeit und die Vorstellung von der grenzenlosen Formbarkeit des Menschen war eine Sache, die soziale Realität eine andere. Dass die Verbindung aus ihnen fatale Folgen haben konnte,316 führten das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie eindrücklich vor Augen. An ihnen lässt sich ablesen, was passiert, wenn utopische Visionen auf die realen Gegebenheiten »totaler Institution« treffen, insbesondere dann, wenn die Faktoren Zeit, Raum und Mensch ungünstig oder unzulänglich sind. In diesen Fällen bildeten sich sowohl im Pionierlager Artek als auch in der Archangelsker Arbeitskolonie informelle Hierarchien und Strukturen heraus, die sich hinsichtlich ihrer Form zwar grundsätzlich ähnelten, deren Ausprägungen jedoch völlig andere Dimensionen aufwiesen. In beiden Einrichtungen herrschten Günstlings- und Misswirtschaft, Repression und Gewalt. Ihre Auswirkungen auf die physische wie psychische Verfasstheit der Kinder und Jugendlichen waren im Pionierlager Artek aber weitaus weniger dramatisch als in der Archangelsker Arbeitskolonie. Während des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit mögen die Verhältnisse im Lager auf der Krim nicht gerade förderlich für die physische und psychische Verfasstheit der Pioniere gewesen sein. In der Kolonie im Dwina-Delta dagegen, die sich in einen wahren Gewaltraum verwandelt hatte, in dem das Personal Zöglinge ebenso angriff wie Zöglinge das Personal und jüngere Schicksalsgenossen, spielten sich Szenen ab, die über Leben und Tod entschieden. Auch als sich ab Anfang der 1950er Jahre die Zustände sukzessiv verbesserten und pädagogische Maßnahmen, die immer noch von den progressiven pädologischen Ideen der 1920er Jahre beeinflusst waren, wieder verstärkt Anwendung fanden, blieb die versprochene Umerziehung und Reintegra316 Am umfassendsten hat sich James C.  Scott mit dieser Frage beschäftigt. Siehe Scott, James C.: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed. New Haven, London 1998.

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tion durch Berufsqualifizierung in der Archangelsker Arbeitskolonie aus. Demgegenüber waren die Anforderungen im Pionierlager Artek derart anspruchsvoll, dass viele Kinder und Jugendliche Mühe und Not hatten, sie zu erfüllen. Zudem besaßen sie ein nicht unerhebliches Maß an Eigen-Sinn und versuchten, die gegebenen Strukturen und Möglichkeiten zu nutzen, um individuelle Interessen und Vorstellungen durchzusetzen – oft zulasten der im Lager geltenden Normen und Regeln. Das Verhalten der Kinder und Jugendlichen pervertierte sowohl in der Archangelsker Arbeitskolonie als auch im Pionierlager Artek die vom NKVD und Komsomol aufgestellten Ziele. Die Gewalt der Zöglinge kann damit ebenso als eine Form der »agency« gelten wie das eigen-sinnige Verhalten der Pioniere.

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III. Zwischen Öffnung und Abschließung

Im Jahr 1957 offiziell zum internationalen Pionierlager erklärt, weilten nicht mehr nur Kinder und Jugendliche aus der Sowjetunion, sondern auch aus sozialistischen und westlichen Staaten in Artek. Bereits im Sommer 1957 belief sich die Zahl junger ausländischer Besucher auf insgesamt 208 Personen, die aus 14 Ländern angereist waren, aus Albanien, Belgien, der Bundesrepublik, Bulgarien, der Tschechoslowakischen Republik (ČSR), Dänemark, der DDR , England, Finnland, Luxemburg, Norwegen, Polen, Schweden und Ungarn. Dass sich das Zusammenleben nicht immer harmonisch gestaltete und von reichlich Missverständnissen und Konflikten geprägt war, ist zwar nicht überraschend, da hier zwei Welten, Ost und West, aufeinanderprallten. Wie aus dem Abschlussbericht des stellvertretenden Lagerdirektors hervorgeht, ernteten vor allem das Benehmen und die Umgangsformen der ausländischen Gruppen Kritik. Doch stellten verzogene und verwöhnte Halbwüchsige längst nicht das größte Übel dar. Eine weitaus ernstzunehmendere Bedrohung ging von ihren erwachsenen Begleitern aus. Ihre Herkunftsländer hatten sie nämlich nicht nur mit der Betreuung der Kinder und Jugendlichen, sondern manchmal auch mit der Ausführung geheimdienstlicher Aktivitäten1 be-

1 Wie ein Dokument aus dem ukrainischen Geheimdienstarchiv in Kiew belegt, war es tatsächlich keine Seltenheit, dass westliche Staaten ihre Agenten, getarnt als Touristen, in die Sowjetunion einschleusten. Ihr Interesse lag auf Objekten und Institutionen, die der Verteidigung dienten. So spionierten sie beispielsweise die Dislokation von Flugplätzen, Häfen, Industrieanlagen und der Schwarzmeerflotte, aber auch die Lage von Orten zur Rohstoffgewinnung aus. Ebenso versuchten sie, Informationen bezüglich der politisch-moralischen Stimmung der Bevölkerung im Land zu erhalten. Das Komitee für Staatssicherheit (Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti – KGB) war sich dieser Vorgänge bewusst und versuchte, sie mit Hilfe von Agenten aus den eigenen Reihen zu vereiteln und ausländische Spione zu entlarven. HDA SB Ukraïny, F. 16, Op. 901, Spr. 1, Ark. 117–123. An dieser Stelle sei zudem auf Giles Scott-Smiths Studie über das Interdoc-Netzwerk verwiesen. Interdoc, das von 1962 bis 1986 seinen Sitz in Den Haag hatte, war Ende der 1950er Jahre aus einer Initiative westeuropäischer Geheimdienstoffiziere, politischer Philosophen und Geschäftsleute hervorgegangen und sollte der psychologischen Kriegsführung der Sowjetunion und ihrer Verbündeten entgegenwirken. Mit einer französisch-niederländisch-deutschen Kooperation als Basis ermöglichte Interdoc den Aufbau eines breiten Netzwerkes, zu dem Institutionen in Großbritannien, Belgien, Dänemark, Italien, der Schweiz, Schweden und den USA gehörten. Gemeinsam wollten diese Staaten die kommunistische Einflussnahme eindämmen und für »westliche Werte« in den osteuropäischen Ländern werben. Interdoc intervenierte auch in Jugend- und studentischen Angelegen-

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auftragt. So lesen sich die Bemerkungen, die der Verfasser des Berichts dem bundesdeutschen Gruppenleiter, Maksim B., zuteilwerden ließ, vielmehr wie ein im Kalten Krieg angesiedelter Spionagethriller denn wie eine Zusammenfassung über ein internationales Sommerferienlager. Hiernach soll Maksim B., der seinen eigenen Angaben zufolge ursprünglich aus Russland stammte, 1918 in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und daraufhin in Deutschland verblieben war, in Artek behauptet haben, sich für sowjetische Chirurgie und geologische Erkundungen zu interessieren, außerdem aktiver Kommunist und einst Gefangener des Konzentrationslagers Buchenwald gewesen zu sein. Tatsächlich will ein Mitarbeiter Arteks, der selbst ehemaliger Kriegsgefangener war, ihn als Aufseher eines Konzentrationslagers wiedererkannt und damit als Faschisten entlarvt haben – ein Verdacht, den die sowjetischen Behörden laut des Berichts bestätigt haben.2 Auch die Arbeitskolonien des MVD empfingen in den späten 1950er Jahren Besucher aus dem Ausland und erlebten ähnlich heikle Situationen. Als Eve Edstrom, eine US -amerikanische Korrespondentin der Washington Post, am 15. Oktober 1959 die Arbeitskolonie für minderjährige Delinquenten in Ikša, einer Ortschaft, die etwa 60 Kilometer nördlich von Moskau gelegen ist, besichtigte, unterlief einem ihrer sowjetischen Begleiter ein verhängnisvoller Fauxpas. Während der Begehung hatte er beiläufig erwähnt, dass Edstrom, wäre sie zwei Wochen später gekommen, wohl keine Zöglinge mehr angetroffen hätte, da die Kolonie bereits eine Kommission erwarten würde, die ihre Entlassung in die Wege leiten und die vom Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR am 14. August 1959 verabschiedete Amnestie umsetzen sollte. Wie der Archivbericht über Edstroms Besuch verrät, ist dieser Amnestie-Ukas nicht in der Presse veröffentlicht worden, sodass besagter Begleiter diese Information in ihrer Gegenwart nicht hätte erwähnen dürfen.3 Nachdem Edstrom in die USA zurückgekehrt war, publizierte sie prompt einen Artikel in der Washington Post, der genau diesen Sachverhalt zum Ausgangspunkt hatte.4 Hierin schrieb sie insbesondere über die Schaffung von Kommissionen für die Angelegenheiten Minderjähriger, die während ihres Aufenthalts in der Sowjetunion breit diskutiert und ihr als Mittel zur Prävention von Jugendkriminalität vorgestellt worden war. Edstrom zeigte sich von dieser Maßnahme allerdings nicht überzeugt. Sie kritisierte die umfassenden Befugnisse

heiten und versuchte beispielsweise, bei den Weltfestspielen der Jugend und Studenten Einfluss auszuüben. Scott-Smith, Giles: Western Anti-Communism and the Interdoc Network. Cold War Internationale. Basingstoke 2012, 2 f., 134–137. 2 RGASPI, F. M-2, Op. 1, D. 17, Ll. 1–3, 10–14, 47 f. 3 GARF, F. R9412, Op. 2, D. 20, Ll. 32 f. 4 Edstrom, Eve: Public Bodies in Soviet to Handle Misbehavior »Whether Illegal or Not«. In: The Washington Post Times Herald vom 9.12.1959, A1.

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der Kommissionen, die es ihnen erlaubten, eigenmächtig und mitunter ohne rechtliche Grundlage Strafen zu verhängen.5 Dass sowohl das Pionierlager Artek als auch einzelne Arbeitskolonien trotz des damit verbundenen Risikos Ausländer empfingen, mag auf den ersten Blick erstaunen. Doch wogen sich die sowjetischen Gastgeber in der Hoffnung, dass der Nutzen dieser Besuche die Gefahren überwiegen würde. Während die sogenannten internationalen Sommerlager (meždunarodnye letnie lager’ ja), die ab den späten 1950er Jahren alljährlich in Artek stattfanden, dazu dienten, die Sowjetunion als ein für Frieden, internationale Solidarität und Freundschaft stehendes Land zu präsentieren, sollten die Besichtigungen in den Arbeitskolonien der Welt vor Augen zu führen, dass es der Sowjetunion gelungen sei, ein erfolgreiches System zur Umerziehung und Reintegration minderjähriger Straftäter etabliert zu haben. In diesem Kapitel stehen daher jene Momente im Fokus, in denen sich die beiden Einrichtungen explizit für Außenstehende öffneten. Wie Erving Goffman demonstriert hat, liegt dieses Vorgehen in der Natur »totaler Institutionen« begründet, die ungeachtet ihres totalen Wesens nämlich nie völlig abgeschlossen sind, sondern regelmäßig in Kontakt mit der Außenwelt treten, um durch Akte der Selbstdarstellung ihrer Existenz Legitimität zu verleihen. Anders formuliert: Für ihren Fortbestand ist es geradezu unabdinglich, dass Außenstehende sich von ihrer Arbeits- und Funktionsweise überzeugen können und sie in regelmäßigen Abständen bestätigen. Was sie zu Gesicht be­kommen, ist allerdings vielmehr Fiktion denn Realität. Vorgeführt werden nicht die üblichen (und oftmals negativen) Aspekte des institutionellen Alltags, sondern eine zurechtgemachte Fassade, die beim Besucher einen rundum positiven Eindruck hinterlassen soll.6 Zur Beschreibung entsprechender Situationen hat Goffman sich an der Metaphorik des Theaters orientiert. Was dem Publikum gezeigt werden soll, bezeichnete er als »Vorderbühne« oder »Vorderregion« (»front stage«), was der Verheimlichung unterlag, als »Hinterbühne« oder »Hinterregion« (»back stage«).7 Zwar hatte Goffman mit den Begriffen »Außenwelt« und »Außenstehende« in erster Linie bürokratische Abhängigkeitsverhältnisse im Sinn,8 wofür die Besuche unzähliger Inspektoren im Pionierlager Artek und der Archangelsker Arbeitskolonie als exemplarische Beispiele gelten können. Wie die hieraus hervorgegangenen Berichte verdeutlichen, waren beide Einrichtungen verpflichtet, den ihnen übergeordneten Instanzen des Komsomol und NKVD / MVD in Moskau regelmäßig Rechenschaft über ihr Tun und Handeln 5 Ebd. 6 Goffman, Asyle, 102–104. 7 Ders.: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 16. Aufl. München, Berlin, Zürich 2016, 100–123. 8 Ders., Asyle, 102–105.

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abzulegen. Doch sollen im Folgenden – wie die beiden Episoden zu Beginn des Kapitels bereits andeuten – nicht nur entsprechende Beziehungen auf innersowjetischer, sondern auch auf internationaler Ebene Betrachtung finden, sodass Goffmans Begriffe Außenwelt und Außenstehende hier ebenso das Ausland sowie ausländische Besucher miteinschließen. Während die Archangelsker Arbeitskolonie im innersowjetischen Rahmen zwischen Peripherie und Zentrum untersucht wird, widmen sich die Ausführungen zu Artek dessen internationalen Aktivitäten. Diese Vorgehensweise resultiert daraus, dass die Archangelsker Arbeitskolonie und die Arbeits- und Erziehungskolonie in Emca aufgrund ihrer Abgeschiedenheit keine ausländischen Besucher empfingen. Besichtigung erfuhren lediglich Einrichtungen, die in den Oblasten Moskau, Leningrad, Vladimir und Kiew gelegen und damit verhältnismäßig leicht und schnell zu erreichen waren. Hierzu gehörten die Arbeitskolonie in Ikša und die Arbeitsund Erziehungskolonie in Zvenigorod, die sich beide in der Oblast Moskau befanden, die Arbeits- und Erziehungskolonie in Pokrov, die etwa 80 Kilometer westlich von Vladimir gelegen war, die Leningrader Arbeits- und Erziehungskolonie sowie die Kiewer Arbeitskolonie. Wenngleich diese Institutionen in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre vermehrt Vertreter ausländischer Justiz-, Innen- und Bildungsministerien empfangen haben, beispielsweise aus Albanien, Belgien, Bulgarien, China, Dänemark, Frankreich, Kanada, Polen, Rumänien, den USA und Vietnam, so besitzen die Archivalien hierzu, mit Ausnahme des beschriebenen Besuchs von Eve Edstrom, wenig Aussagekraft und Erkenntnisgewinn. Bei den entsprechenden Dokumenten handelt es sich zum einen um Berichte von MVD -Mitarbeitern, die die Besichtigungen selbst durchgeführt hatten und hierin lediglich einzelne Programmpunkte aufgezählt haben, zum anderen um Briefe und Telegramme, die die ausländischen Besucher nachträglich an das MVD geschickt haben, um sich für die Möglichkeit, Zugang zu einer Kolonie erhalten zu haben, zu bedanken.9 Während sich für die beiden Einrichtungen in Archangelsk und Emca lediglich Momente der Öffnung auf innersowjetischer Ebene, beispielsweise in Form von Inspektoren- und Verwandtenbesuchen, analysieren lassen, erlaubt die Quellensituation zu Artek eine Untersuchung auf internationaler Ebene. Die Fülle an Archivalien, offizieller sowjetischer Literatur und mittels Oral-History-Interviews gewonnener Informationen ermöglicht tiefe Einblicke in die internationalen Aktivitäten des Lagers. In Anlehnung an Goffmans Theorien wird dabei demonstriert, dass von einer Öffnung im eigentlichen Wortsinn weder im Pionierlager Artek noch in der Archangelsker Arbeitskolonie respektive der Arbeits- und Erziehungskolonie in Emca die Rede 9 GARF, F. R9412, Op. 2, D. 1, Ll. 5, 6, 9–13, 17–20, 23, 42, 65, 71, 123, 138, 140; GARF, F. R9412, Op. 2, D. 20, Ll. 14, 26–33.

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war. Vielmehr handelte es sich um eine streng kontrollierte Öffnung, weil die sowjetischen Gastgeber alles daransetzten, potenzielle Risiken a priori zu vermeiden. Vollständig gelungen ist ihnen dies jedoch nie. Zum einen unterliefen den Verantwortlichen immer wieder Fehler, was widersprüchliche Situationen hervorrief und nicht selten das eigentliche Ziel pervertierte. Zum anderen strebten die Besucher, die sich der Inszenierung der Vorderbühnen-Spektakel bewusst waren, geradezu obsessiv danach, einen Blick hinter die Kulissen zu erlangen. Laut Dean MacCannell, der Goffmans Ansatz in seinen Forschungen zum Tourismus weiterentwickelt hat, versprechen die Hinterregionen nämlich ein größeres Maß an intimen Beziehungen und authentischen Erfahrungen.10 Beobachten lässt sich dieses Verhalten vor allem in Artek, jedoch nicht nur bei ausländischen Gästen, sondern auch bei sowjetischen Pionieren und Pionierleitern. Ihre Erwartungen und Vorstellungen standen nicht nur in scharfem Gegensatz zu den mit den Momenten der Öffnung verbundenen Hoffnungen der sowjetischen Machthaber, sondern gingen häufig auch weit über die Intentionen letzterer hinaus.

1.

Momente der Öffnung in der Archangelsker Arbeitskolonie

1.1

Inspektoren und ihre Berichte

Formal war jede Arbeitskolonie des NKVD / MVD verpflichtet, der Zentrale der OBDBB / ODK in Moskau, meist dem Volkskommissar beziehungsweise Innenminister der UdSSR oder seinem Stellvertreter, regelmäßig Bericht zu erstatten. Um die Schreiben einheitlicher, verständlicher und vergleichbarer zu machen, hatte die OBDBB 1943 ein Muster mit insgesamt zwölf Anhaltspunkten vorgegeben, die beantwortet werden mussten. Hierzu gehörte zunächst eine allgemeine Einschätzung der in der Kolonie geleisteten Organisationsarbeit (1), die Aufschluss über ihre Plan- und Aufgabenerfüllung geben sollte. Des Weiteren sollten Bemerkungen hinsichtlich des Personalbestands (2), der Anzahl der in ihr untergebrachten minderjährigen und erwachsenen Häftlinge (3), der Schul- und Berufsausbildung (4 und 5), des Produktionsplans (6), der politischen Massenarbeit (7), der Einhaltung des režim und der inneren Ordnung (Verstöße, Gewaltausbrüche, Fluchtversuche) (8), des Wachschutzes und der Aufsicht (9), der Lebensbedingungen der Zöglinge (Unterkünfte, Lebensmittelversorgung, Hygiene) (10), des Kontakts zu ihren 10 MacCannell, Dean: Staged Authenticity: Arrangements of Social Space in Tourist Settings. In: American Journal of Sociology 79/3 (1973), 589–603.

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Angehörigen (11) und der in der Kolonie durchgeführten und beabsichtigten Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität (Neubauten, Renovierungen) (12) vorgenommen werden. Kolonien, die erstmalig einen Bericht nach Moskau schickten, mussten zudem angeben, welche Kommunikationsmittel zum Oblastzentrum bestehen, wie weit sie von der nächsten Eisenbahnstation oder dem nächsten Schiffsanlegeplatz entfernt liegen, mit welchen Transportmitteln sie erreicht werden können, welche territoriale Ausdehnung sie umfassen, welche Wohn-, Bildungs- und medizinisch-sanitären Einrichtungen innerhalb ihres Territoriums existieren, wie Energie-, Wasserversorgung und Kanalisation sowie ihre nebenerwerblichen Landwirtschaften organisiert sind.11 Bestenfalls sollte einem Bericht, der seinen Weg nach Moskau fand, eine Kontrolle vorausgegangen sein. Die Staatsanwaltschaft hatte zwar am 24. September 1944 eine Anordnung erlassen, wonach jede Kolonie einmal im Monat zu überprüfen war. Doch schafften es die Inspektoren während der Kriegsund Nachkriegszeit nur äußerst selten, die entlegenen Einrichtungen aufzusuchen. So sind in der ersten Hälfte des Jahres 1945 gerade einmal drei bis vier Prozent der NKVD -Kolonien für minderjährige Delinquenten kontrolliert worden. Selbst wenn ein Inspektor tatsächlich bis zum Ort des Geschehens vorgedrungen war, erlaubte es ihm die Kürze des Besuches nicht, sich ein umfassendes Bild über die Einrichtung zu verschaffen. War die Kolonieleitung über sein Kommen informiert, hatte sie meist Vorkehrungen getroffen, um die gravierendsten Missstände vor seinen Augen geheim zu halten. In solchen als pokazucha oder očkovtiratel’stvo (Augenwischerei) bezeichneten Fällen tauchten plötzlich Produkte wie Kekse, Früchte, Süßigkeiten und Zigaretten auf, obwohl der Speiseplan gewöhnlich nur aus Kohlsuppe, Brot, ein paar Löffeln Getreidebrei und Ersatztee bestand. Hinzu kommt, dass die Besichtigungen der Inspektoren in der Regel tagsüber stattfanden. Ein am Tage sauber und ordentlich wirkender Schlafraum offenbarte aber erst in der Nacht sein wahres Gesicht, wenn die Zöglinge ungewaschen und in dreckiger Arbeitskleidung zu mehreren Personen auf von Wanzen heimgesuchten Pritschen schliefen.12 Wenngleich es anhand der von der OBDBB festgesetzten Richtlinien zur Abfassung eines Berichts möglich war, die wesentlichen positiven und negativen Aspekte des Koloniealltags aufzuzeigen, handelte es sich bei der Mehrheit der in Moskau eingegangenen Dokumente um nicht mehr als oberflächliche statistische Aufzählungen. Wie den Kolonien selbst fehlte auch den Berichten ein entscheidendes Kriterium: das der Emotionalität den Zöglingen gegenüber. Obschon letztere das Recht besaßen, Anliegen und Beschwerden vorzu11 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 5, Ll. 22, 22 ob., 23. 12 Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War, 138 f.

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tragen, konnte es fatale Konsequenzen haben, tatsächlich von ihm Gebrauch zu machen. Ein Junge, der sich bei einer Inspektorenkommission über die Übergriffe seines Erziehers beklagt hatte, erhielt von der Kommission zwar ein Schreiben, dass sie der Beschuldigung nachgegangen sei und den betreffenden Mann darüber in Kenntnis gesetzt habe. Daraufhin hetzte dieser jedoch eines Nachts seine Schergen auf den jungen Beschwerdeschreiber, die ihn so sehr verprügelten, dass er keine kritischen Bemerkungen mehr vorzubringen wagte.13 Die Folge war, dass die Perspektive der Zöglinge in den Berichten im Grunde nicht vorkam, sodass unklar blieb, welche realen Auswirkungen die katastrophalen Zustände der Einrichtungen auf ihre Physis und Psyche hatten und wie die Jugendlichen mit den alltäglichen Unzulänglichkeiten umgingen.14 Zur Entschlüsselung des wahren Gehalts eines Berichts brauchte es neben Erfahrung auch das Vermögen, zwischen den Zeilen lesen zu können. Von ausschlaggebender Bedeutung war vor allem, wer ihn verfasst hat. Sofern es ortsansässige Mitarbeiter der OBDBB / ODK des jeweiligen UNKVD /  UMVD oder Koloniedirektoren gewesen sind, die ihn an die Zentrale in Moskau weitergeleitet haben, so zeugte er in der Regel von Euphemismus, fehlender Benennung expliziter Missstände und weitgehender Kritikvermeidung. Von einer gewissen »schriftstellerischen« Freiheit Gebrauch machend, suchten die Verfasser damit Konsequenzen seitens Moskaus zu verhindern. Bestimmte Vorkommnisse kaschierten sie so, dass sie weitaus weniger tragisch wirkten, als sie tatsächlich waren, oder sie verschwiegen sie komplett. Stattdessen hoben sie andere Punkte besonders positiv hervor und fügten mitunter Belanglosigkeiten ein. Es ist erstaunlich und zynisch zugleich, welch seitenlange Dokumente manche Autoren zu produzieren im Stande waren, ohne dabei – auf den ersten Blick zumindest – auch nur eine einzige wertvolle Information über den tatsächlichen Zustand der jeweiligen Kolonie preiszugeben. Ein »illustratives« Beispiel ist der Bericht eines Oberstleutnants des Archangelsker UMVD namens Bykov über die dortige Arbeitskolonie sowie die Arbeits- und Erziehungskolonie in Emca vom 13. Januar 1951, in dem er sich in 13 Ebd., 143 f. 14 Für Catriona Kelly liegt die Ursache für die mangelnde Emotionalität Kindern und Jugendlichen gegenüber darin, dass die Errichtung staatlicher Institutionen (Waisenhäuser, Kolonien etc.) aus rein rationalen Beweggründen erfolgt war und ihre Arbeits- und Funktionsweise ebenfalls auf ausschließlich rationalen Prinzipien basierte. Wenngleich die Sowjetunion sowohl inner- als auch außerhalb ihrer Grenzen immer wieder betont hat, sich für die Rechte von Kindern einzusetzen, sind Kelly zufolge das Interesse an ihrem Wohlergehen und der Anspruch, sie tatsächlich glücklich aufwachsen zu lassen, nicht zwangsläufig dasselbe. Kelly, A Joyful Soviet Childhood: Licensed Happiness for Little Ones, 8 f.

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ausschweifenden statistischen Angaben verlor. Er zählte beispielsweise auf, wie viele Zöglinge an welchen außerschulischen und außerberuflichen Aktivitäten wie der chudožestvennaja samodejatel’nost’ und Sportwettkämpfen teilgenommen hatten, wie viele und welche politisch-ideologischen Informationsveranstaltungen mit ihnen und den Mitarbeitern durchgeführt oder gar wie viele Blumen, Sträucher und Bäume zur landschaftlichen Verschönerung der beiden Einrichtungen gepflanzt worden waren. Relevante Aspekte wie das Niveau der Schulbildung oder Disziplinverstöße, anhand derer Rückschlüsse über die durchgeführte Bildungs- und Erziehungsarbeit hätten gezogen werden können, behandelte er dagegen recht knapp und oberflächlich, wie folgender Auszug demonstriert: Beide Schulen sind mit Büchern, Anschauungsmaterialien, Heften und Schreibutensilien ausgestattet. […] Die Schulen sind in Besitz der notwendigen methodischen Literatur. […] Die Zahl der Schüler, die dem Unterricht folgen können [uspevaemost’], hat sich in der Archangelsker DTK von 75 Prozent im ersten Schulhalbjahr 1949/50 auf 93 Prozent im ersten Schulhalbjahr 1950/51 erhöht, in der DTVK in Emca von 82 auf 83,2 Prozent […] Der Zustand […] der Disziplin hat sich verbessert, es gab weniger Verstöße gegen das režim. Die Zahl der Verurteilten […], die in der Archangelsker DTK in den Straf­ isolator überführt wurden, ist von 800 in der zweiten Jahreshälfte 1949 auf 252 in der zweiten Jahreshälfte 1950 zurückgegangen, […] in der DTVK in Emca […] von 224 […] auf 123 […] Schwere Verstöße gegen das režim seitens der Jugendlichen […] sind noch nicht beseitigt. 1950 […] gab es immer noch kriminelle Erscheinungsformen (Diebstähle, Fälle von Homosexualität15, Prügeleien).16

Wie unschwer zu erkennen ist, lässt sich aufgrund der geringen Aussagekraft obiger Darstellungen kein allgemeingültiges Bild über die beiden Kolonien zeichnen. Weder verrät das bloße Vorhandensein von Lehrmaterialien etwas über die Qualität des Unterrichts noch erlaubt der generelle Rückgang an Disziplinverstößen bei gleichzeitigem Vorkommen von Straftaten konkrete Schlussfolgerungen über das Verhältnis der Zöglinge untereinander sowie zu ihren Erziehern und Aufsehern. Von anderem Gehalt waren dagegen Berichte, die hochrangige Mitarbeiter der ODK des MVD in Moskau verfasst haben. Ihre Beschreibungen erwiesen 15 Zweifelsohne hat es in den Kolonien auch sexuelle Übergriffe auf Zöglinge gegeben, wenngleich die Archivdokumente sie nicht explizit als Gewaltakte benennen oder sich bei einigen Vorkommnissen nicht eindeutig feststellen lässt, inwieweit sie gewaltsamen Charakter besaßen. Als problematisch sahen die Verantwortlichen in der ODK die vor allem unter Jungen weit verbreitete und als schädlich geltende Onanie an. Um entsprechende Erscheinungen zu verhindern, sollten die Kolonien dafür Sorge tragen, dass jeder Zögling ein eigenes Bett hatte. GARF, F. R9412, Op. 2, D. 110, Ll. 86–89. 16 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 314, Ll. 220–234 (Übersetzung aus dem Russischen – K. B.).

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sich nicht nur genauer und ausführlicher, sondern schreckten auch vor der Nennung von Kritikpunkten und Missständen nicht zurück. Im Gegensatz zu jenem von Bykov vermittelte der Bericht einer fünfköpfigen Inspektorenkommission, der neben zwei Archangelsker auch drei Moskauer Vertreter der ODK des (U)MVD angehörten, darunter Generalmajor Leonjuk, einen weitaus realistischeren Eindruck von den beiden dortigen Einrichtungen. Vorteilhaft wirkten sich ihre verhältnismäßig langen Kontrollbesuche aus, die sich in der Arbeits- und Erziehungskolonie in Emca vom 8. bis zum 14. Oktober 1951 und in der Archangelsker Arbeitskolonie vom 15. bis zum 29. Oktober 1951 erstreckt hatten. Dadurch war es ihnen möglich, einen tiefen Einblick in deren Arbeits- und Funktionsweise zu erhalten.17 Zunächst fällt auf, dass die statistischen Daten noch umfangreicher waren als bei Bykov, sie in den meisten Fällen aber nicht unbeantwortet blieben, sondern eine breitere Kontextualisierung und Interpretation erfuhren. So enthielten sie exakte Informationen über das Vorhandensein erwachsener Häftlinge und führten aus, für welche Straftaten sie verurteilt worden waren, ob und unter welchen Umständen sie innerhalb der beiden Kolonien mit den Zöglingen in Kontakt kamen. Außerdem schlugen die Moskauer Inspektoren auch harte Töne gegenüber dem Personal an. Aus ihren Berichten geht hervor, dass die Aufseher und die Brandschutz-Verantwortlichen der Archangelsker Arbeitskolonie 32 und die der Arbeits- und Erziehungskolonie in Emca 18 Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin begangen hatten. Hierzu zählten Fälle wie Trunkenheit, Schlafen im Dienst, mangelnde Wachsamkeit und grober Umgang gegenüber den Zöglingen. Einige Aufseher hatten sich wiederholt mit den erwachsenen Häftlingen verbündet und Trinkgelage veranstaltet. In Emca standen auch die Erzieher und der stellvertretende Koloniedirektor in der Kritik, da sie den Behauptungen einiger Zöglinge zufolge des Öfteren Gewalt gegen sie angewandt hatten. Zudem bemängelten die Inspektoren, dass in der Einrichtung kein Beschwerdebriefkasten zur Meldung entsprechender Vorfälle existierte.18 Anders als der von Bykov zeichneten die beiden Berichte der Moskauer Kontrollkommission obendrein ein differenzierteres Bild von der schulischen Ausbildung. Sie beschrieben die Ausstattung der Schulen und die Einhaltung des Lehrplans zwar als angemessen. Doch traten in einzelnen Klassen immer wieder grobe Disziplinverstöße auf, die den Unterricht pervertierten. In der sechsten Klasse der Arbeits- und Erziehungskolonie in Emca sind 1951 insgesamt 22 Schultage versäumt worden, weil zahlreiche Zöglinge aufgrund mangelhaften Verhaltens in den Strafisolator überführt worden waren. Einige Jungen hatten ihre Lehrer beschimpft und sogar bedroht. Zudem waren sechs 17 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 326, Ll. 340, 345, 362, 365, 381. 18 Ebd., Ll. 346–348, 364, 366.

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Zwischen Öffnung und Abschließung

Zöglinge, die die sechste Klasse beendet hatten, gezwungen, sie ein weiteres Jahr zu besuchen, weil keine siebte Klasse vorhanden war, in der sie ihre schulische Ausbildung hätten fortsetzen können. Der Koloniedirektor selbst hatte nur geringe Kenntnis von den Unterrichtsvorgängen, da er die Klassen viel zu selten aufsuchte.19 Auch in der Archangelsker Arbeitskolonie gab es 36 Zöglinge, die die siebte Klasse abgeschlossen haben, mehrheitlich jedoch nicht weiter ausgebildet werden konnten. Zwei wiederholten deshalb die siebte Klasse, einer besuchte eine Abendschule zusammen mit erwachsenen Häftlingen und Mitarbeitern der Kolonie.20 Problematisch war überdies, dass sieben Jugendliche seit Schuljahresbeginn, seit 1. September 1951, an keiner einzigen Schulstunde teilgenommen haben. Stattdessen arbeiteten sie im Transportbereich und unterstützten die An- und Ablieferung von Gütern. Ein Junge, der 1947 in die Kolonie gekommen war, hatte den Unterricht so selten besucht, dass er es innerhalb der vergangenen vier Jahre, beginnend in der zweiten, nur bis zur Absolvierung der vierten Klasse geschafft hat.21 1.2

Kontakte zwischen Zöglingen und Angehörigen

Die Interaktion zwischen den Kolonien und der Außenwelt manifestierte sich auch in den Kontakten zwischen den Zöglingen und ihren Angehörigen, meist den Eltern, die sowohl in Brief- als auch in Besuchsform stattfanden und mitunter heikle Situationen evozierten. So führt Kucherenko in ihrer Studie einen Fall an  – vermutlich aus dem Jahr 1945  –, wonach eine Mutter eine Reihe von Protestbriefen an oberste staatliche Stellen geschrieben und um die Entlassung ihres Sohnes gebeten hat, nachdem er ihr während ihres Besuchs in der Kolonie zerlumpt und ungepflegt gegenübergetreten war. Dass sie ihrem Gesuch stattgegeben haben, ist zwar unwahrscheinlich. Doch führte er dazu, dass die OBDBB die Kolonien im Nachgang verpflichtet hat, für Besuchszwecke gesonderte Räume herzurichten und die Treffen zwischen Zöglingen und Eltern nicht von gewöhnlichen Aufsehern, sondern von pädagogisch qualifiziertem Personal überwachen zu lassen.22 Trotz aller Herausforderungen, mit denen sich die Einrichtungen angesichts des Kontaktrechts konfrontiert sahen, ließ Innenminister Kruglov nicht 19 Ebd., Ll. 348–351. 20 Erste Versuche zur Etablierung einer Zehnklassenschule in den Arbeitskolonien sowie den Arbeits- und Erziehungskolonien des MVD kamen erst mit dem Schuljahr 1954/55 auf. GARF, F. R9412, Op. 2, D. 28, Ll. 2, 4. 21 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 326, Ll. 369 f. 22 Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War, 143.

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von ihm ab. In einer Weisung vom 5. März 1947 kritisierte er sogar, dass die Kolonien die Verbindungen zwischen den Zöglingen und ihren Eltern zu wenig förderten, sie die Eltern kaum über das Verhalten und über die schulischen wie beruflichen Leistungen ihrer Kinder informierten und ihnen, waren sie zu Besuchszwecken angereist, oftmals grob und unfreundlich begegneten. Aus diesem Grund empfahl er, die Eltern spätestens zehn Tage nach der Ankunft ihres Kindes in der Kolonie über seinen Verbleib zu informieren, ihnen die Adressdaten der Institution sowie die Regeln für den Brief- und Paketverkehr mitzuteilen. Ebenso sollte Eltern, die von weit her angereist waren, erlaubt sein, ihre Kinder auch außerhalb der Besuchszeiten zu sehen. Gleichwohl galt es zu vermeiden, dass die Angehörigen Blicke hinter die Kulissen warfen. Daher machte Kruglov deutlich, dass die Kolonien für die Kontrolle der Kontakte zwischen Kindern und Eltern Sorge zu tragen hatten. So war es ihre Pflicht, ein- und ausgehende Briefe auf ihre Inhalte zu überprüfen, Pakete zu unter­suchen und, wie schon im Beispiel Kucherenkos, spezielle Besuchsräume herzurichten. Nichtsdestotrotz durften die Kolonien das Schreib- und Besuchsrecht auch einschränken oder verbieten. Unter welchen Voraussetzungen und aufgrund welcher Verstöße entsprechende Schritte eingeleitet werden konnten, führte Kruglov allerdings nicht aus. Augenscheinlich oblag die Entscheidung dem Ermessen der Koloniedirektion.23 Dass das Kontaktrecht trotz seiner innewohnenden Ambivalenz Bestand hatte, war nicht zuletzt der Hartnäckigkeit aufgebrachter Eltern zu verdanken, denen es immer wieder gelang, ihren Anliegen bis in die obersten Moskauer Instanzen des NKVD / MVD Gehör zu verschaffen. Die Zahl von Gesuchen und Beschwerden scheint derart groß gewesen zu sein, dass die Funktionäre in Moskau sie schlichtweg nicht ignorieren konnten und sich gezwungen sahen, ihnen nachzugehen und sie an die jeweiligen Kolonien weiterzuleiten. Die Abhaltung spezieller Elternbesuchstage, die sich seit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre sukzessiv etablierte, stellte ein prophylaktisches Mittel dar, das den Kolonien dazu diente, ihr Image aufzubessern, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen und Kritik ihrerseits gar nicht erst entstehen zu lassen. Diese beschwichtigende Maßnahme resultierte nicht selten in Paradoxien. Obendrein ließen sich unerwünschte Situationen nie gänzlich vermeiden.24 In der Archangelsker Arbeitskolonie hat sich im Laufe der Zeit ein regelrechter Kult um die Figur der Mutter entwickelt, dessen Genese sowohl im Zusammenhang mit den pädagogischen Maßnahmen der Einrichtung als auch mit gesamtsowjetischen Entwicklungstendenzen zu sehen ist. So hatte die Familiengesetzgebung von 1944, mit der der Ehrentitel der Heldenmutter (Mat’-geroinja)  eingeführt worden war, wesentlich dazu beigetragen, den 23 Vilenskij, Deti GULAGa, 465 f. 24 GARF, F. R9412, Op. 1, D. 48, Ll. 194–196.

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Mutterkult auf den Weg zu bringen.25 Für eine Institution wie die Archangelsker Arbeitskolonie war dies insofern paradox, als sie sich offiziell die Umerziehung minderjähriger Gesetzesbrecher auf die Fahne geschrieben hat und damit die Fehler und das Versagen ihres Elternhauses, insbesondere ihrer Mütter, zu korrigieren bestrebt war. Wie die Erzieher der Kolonie den Jungen die Bedeutung ihrer Mütter zu vergegenwärtigen suchten, hat ein Oberstleutnant namens Punjagov, der als Direktor der ODK des Archangelsker UMVD tätig war, Anfang des Jahres 1959 in einem Artikel beschrieben, der im Bulletin Detskie kolonii (Kinderkolonien)26 erscheinen sollte. Die Figur der Mutter kam in seinen Ausführungen einer Ikone gleich,27 der die Söhne ehrerbietig huldigen sollten: Jeder junge Mann hat einen ihm nächsten verwandten Menschen, mit dem er sein ganzes Leben lang verbunden ist und dem gegenüber er immer eine untilgbare Schuld [trägt] – […] die Mutter. Die Beziehung des jungen Mannes zu seiner Mutter ist das Zeichen seiner Schuld, Ehre, edlen Regung […], aufrichtigen Gefühle und Emotionen. Das Mitarbeiterkollektiv der Archangelsker DTK richtet all seine Anstrengungen darauf, im Bewusstsein der jungen Männer edle Gedanken an die Mutter zu säen, […] ihnen einzuschärfen, der Mutter […] ihre Schuld zu erbringen.28

25 Utrata, Jennifer: Women without Men. Single Mothers and Family Change in the New Russia. Ithaca, NY 2015, 25 f. Mütter, die zehn Kinder oder mehr geboren und erzogen hatten, wurden vom Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR mit dem Ehrentitel der Heldenmutter ausgezeichnet. Frauen, die fünf Kinder geboren hatten, erhielten die sogenannte Mutterschaftsmedaille (Medal’ Materinstva)  zweiter Klasse; die, die sechs Kinder geboren hatten, die Mutterschaftsmedaille erster Klasse. Wer sieben, acht oder neun Kinder geboren hatte, dem wurde der Orden für Mutterruhm (Orden »Materinskaja slava«) dritter, zweiter beziehungsweise erster Klasse zuteil. Selezneva, Ekaterina: Population Policies in Soviet and Modern Russia. In: Karabchuk, Tatiana / Kumo, Kazuhiro /  Selezneva, Ekaterina (Hg.): Demography of Russia. From the Past to the Present. London 2017, 71 f. 26 Ob Punjagovs Text Veröffentlichung erfuhr, ist unklar, da das Bulletin im Mai 1959 eingestellt wurde. Bei dem Text handelt es sich offenbar um eine erste Version, die Eingang in die Archivquellen gefunden hat. GARF, F. R9412, Op. 2, D. 111, Ll. 24 f.; GARF, F. R9412, Op. 5, D. 33, L. 1; GARF, F. R9412, Op. 2, D. 18, L. 25. 27 Wie Daniel Rancour-Laferriere deutlich gemacht hat, ist die russische Mutter traditionell eine leidende Figur, unabhängig davon, ob sie geliebt oder gehasst, verehrt oder geschlagen wird. Auch in der religiösen Folklore ist das Bild der Mutter ein Bild des Leids. Anders als beispielsweise im Katholizismus wird in der Orthodoxie das Leiden Christi in erster Linie durch das Leiden seiner Mutter wahrgenommen. So werden in Russland Ikonen der Gottesmutter entsprechend stärker verehrt, wenngleich Jesus, als göttliches Kind, ebenfalls abgebildet ist. Leidende Frauenfiguren stellen zudem ein zentrales Thema in der russischen Literatur dar, ausgehend von Puschkin und Lermontov über Tolstoi bis hin zu Pasternak und Achmatova. Rancour-Laferriere, Daniel: The Slave Soul of Russia. Moral Masochism and the Cult of Suffering. New York, NY 1995, 144–149. 28 GARF, F. R9412, Op. 5, D. 32, L. 386 (Übersetzung aus dem Russischen – K. B.).

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Aus diesem Grund wurden in der Kolonie regelmäßig Vorträge, Gespräche und Lesungen abgehalten, die der Rolle der Mutter gewidmet waren. Zudem fanden Versammlungen und Festtage statt, zu denen die Eltern eingeladen wurden. Die Vorbereitungen hierauf schweißten die Zöglinge Punjagov zufolge enger zusammen und weckten ihren Aktivismus. Angesichts der Feierlichkeiten zum Jahreswechsel 1958/59, zu denen sich einige Eltern angekündigt hatten, haben die Jungen festlich geschmückte Tannenbäume in der Kolonie aufgestellt.29 Ungeachtet dieser Bemühungen scheinen nicht alle Mütter bereit gewesen zu sein, den Kontakt zu ihren Söhnen (wieder-)herzustellen. Dass dieses Verhalten für die Jungen tragisch enden konnte, bezeugt der Fall von Nikolaj V., der 1937 geboren und im Oktober 1953 in die Archangelsker Arbeitskolonie gekommen ist, nachdem ein Gericht in Voronež ihn wegen Raubes zu fünf Jahren Haft verurteilt hatte. Am 14. März 1954 beging Nikolaj V. in der Kolonie Selbstmord durch Erhängen. Den Angaben eines Milizkommissars zufolge hat er sich das Leben genommen, weil sich seine Mutter von ihm losgesagt und er obendrein Probleme mit seiner Freundin gehabt hatte.30 Während einige wenige Mütter offenbar kein Interesse an ihren Söhnen zeigten, setzten sich andere wiederum geradezu aufopferungsvoll für sie ein und ließen sich nicht von den in der Kolonie inszenierten Spektakeln täuschen. Viele von ihnen versuchten beharrlich, die Situation sowohl für ihre Jungen als auch für sich und ihre Familien erträglicher zu gestalten. In Anlehnung an eine Monografie von Judith Pallot und Elena Katz wiesen sie Charakterzüge auf, die der Figur der sogenannten »Dekabristen-Frau« (dekabristka) entsprechen, also jener Frauen, die ihren Männern im Dezember 1825 voller Hingebung in die sibirische Verbannung gefolgt sind, nachdem diese dem neuen Zaren Nikolaj I. (1796–1855) den Eid verweigert hatten.31 Dass es auch im Kontext der Arbeitskolonien wahre »Dekabristen-Mütter« gab, bezeugt ein Briefwechsel, der im Sommer 1959 zwischen einer Mutter 29 Ebd., Ll. 386, 390 f. 30 GARF, F. R9412, Op. 4, D. 11, L. 140. 31 Für eine ausführliche Diskussion zur Entwicklung des Mythos der dekabristka von ihren Anfängen bis in die Gegenwart siehe Pallot, Judith / Katz, Elena: Waiting at the Prison Gate. Women, Identity and the Russian Penal System. London, New York, NY 2017, 1–17. Grundsätzlich bezieht sich die Untersuchung von Judith Pallot und Elena Katz auf die gegenwärtige russische Gesellschaft und geht der Frage nach, mit welchen Konsequenzen und Herausforderungen sich Ehefrauen, Mütter, Freundinnen und Töchter nach der Verhaftung eines männlichen Angehörigen konfrontiert sehen. Die Frauen leiden vor allem unter Einkommensverlusten und Stigmatisierung. Gleichzeitig tun sie aber alles Mög­liche, um die Familienbande aufrecht zu erhalten. So schicken sie den Männern Pakete und versuchen, sie so oft wie möglich zu besuchen, obwohl letzteres mit hohem finanziellen und zeitlichen Aufwand verbunden ist, da die Männer auch heute noch meist fernab der Heimat ihre Strafen absitzen müssen. Ebd., 40 f., 45, 47, 51–61.

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namens Tat’jana Š., ihrem Sohn Vjačeslav V., Punjagov und dem Direktor der ODK des MVD in Moskau, Oberst Borisov, zustande gekommen ist. Hierbei suchte Tat’jana Š., die in Lipeck lebte, einer Stadt, die etwa 1.700 Kilometer südlich von Archangelsk gelegen ist, die Verlegung ihres Sohnes entweder in die Kolonie von Usman’ oder die von Voronež zu erwirken, weil diese sich unweit ihres Wohnortes befanden. Nachdem ihr erstes Gesuch an Borisov von selbigem abgelehnt worden war, richtete sie ein zweites an ihn. Auffallend ist darin, dass sie weitere Gründe anführte, um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen und ihm stärkere Erfolgsaussichten zu verschaffen. Zum einen hat sie nun erwähnt, dass Vjačeslavs Gesundheitszustand einen weiteren Aufenthalt im hohen Norden nicht erlaube. Zum anderen verwies sie darauf, dass er das Verbrechen, für das er verurteilt worden war, mit mehreren Jungen gemeinsam verübt hat. Nach der Verhandlung sei einer von ihnen in die Kolonie nach Usman’, ein anderer in die Kolonie nach Belgorod transferiert worden. Dagegen habe man ihren Sohn, der ein geringeres Strafmaß erhalten habe und noch dazu ein Jahr jünger als die anderen sei, nach Archangelsk gebracht: […] Und die anderen Jungen […] sind näher an ihrem Zuhause. Natürlich hätte mein Sohn in die Kolonie von Usman’ geschickt werden müssen, aber es geschah so, dass die Mutter von V. sich früher an den Regierungsvorsitzenden der Region Usman’ wandte […], ihr Sohn nach Usman’ [kam] und meiner weiter weg [musste]. So darf man das nicht machen […] Ich wende mich nicht zum ersten Mal an Sie, damit mein Sohn in die Kolonie nach Usman’ oder Voronež überführt wird. Warum dürfen die anderen Jungen in diesen Kolonien sein und meiner nicht? Sie sind doch alle für eine Sache bestraft worden […] Wenn meiner allein verurteilt worden wäre, wäre ich einverstanden […] Ich bitte Sie, meinen Antrag nicht abzulehnen. 19.06.195932

Als Reaktion auf ihren Brief beauftragte Borisov den stellvertretenden Direktor der Abteilung für Kinderkolonien in der Oblast Archangelsk, Lodygin, ihm die Akte des Jungen zukommen zu lassen. Nachdem sich Borisov mit dem Fall vertraut gemacht hatte, antwortete er der Mutter des Jungen am 13. Juli 1959, dass er ihre Bitte nicht erfüllen könne, da sich ihr Sohn in der Kolonie schlecht benehme und kein Interesse zeige, eine Ausbildung in den Lehrwerkstätten zu absolvieren, weshalb anzunehmen sei, dass sich eine Überführung in eine andere Einrichtung negativ auf sein Verhalten auswirken würde. Am 30. Juli 1959 informierte er auch Punjagov über seine Entscheidung und teilte ihm mit, dass eine Verlegung des Jungen nicht sinnvoll erscheine, da er für ein schweres Verbrechen verurteilt worden ist und in der Kolonie durch mangel-

32 GARF, F. R9412, Op. 5, D. 6, Ll. 31 f. (Übersetzung aus dem Russischen – K. B.).

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haftes Betragen auffällt. Da sich die Mutter mit der Entscheidung nach wie vor nicht zufriedengab und weitere Beschwerden einlegte, beauftragte Borisov seinen Kollegen Punjagov, Ermittlungen anzustellen. Im August informierte er Borisov darüber, dass sich das Verhalten des Jungen, der im Oktober 1958 in die Kolonie gekommen war, seit April 1959 verbessert habe, er aber immer noch unaufrichtig sei, Kameraden decke, die gegen die Disziplin verstoßen hätten, sie sogar insgeheim unterstütze, in der Schule nicht seinen Fähigkeiten entsprechend lerne und die Arbeitsnormen in der Produktion nicht erfülle. Nach den in der Kolonie mit ihm durchgeführten pädagogischen Maßnahmen und einem Besuch seiner Mutter sei er im letzten Monat zwar offener geworden, habe sich mit den anderen Jugendlichen angefreundet und arbeite nun besser. Positiv schätzte Punjagov den Einfluss der Mutter dennoch nicht ein. So beklagte er, dass sie ihren Sohn gegen seine Erzieher aufhetze und ihm Pakete schicke, die religiöse Schriften und Gebete enthalten.33 Auch Tat’jana Š. ist im Anschluss über das negative Verhalten ihres Sohnes in Kenntnis gesetzt worden. Sollten Borisov und Punjagov geglaubt haben, dass sie die Angelegenheit damit auf sich beruhen lassen würde, täuschten sie sich allerdings. Tatsächlich scheinen sie nämlich vielmehr Gegenteiliges bewirkt zu haben, denn Tat’jana Š. schrieb weiterhin Briefe und wollte genau wissen, worin sich das schlechte Verhalten Vjačeslavs manifestierte. Nachdem sie zwischen dem 28. Mai und dem 14. Juni 1959 selbst in der Kolonie zu Besuch gewesen war, mit den Erziehern und Ausbildern gesprochen und diese ihr bestätigt hatten, dass ihr Sohn sich gut benehme und dafür sogar gelobt worden wäre, hielt sie die Erklärung Borisovs und Punjagovs für einen Vorwand. Obendrein merkte sie an, dass die Erzieher, wäre Vjačeslav tatsächlich negativ aufgefallen, sie darüber informiert hätten.34 Welchen Ausgang die Episode letztlich genommen hat, ist nicht eindeutig festzustellen. Da die Akte mit den Bittbriefen der Mutter endet, ist anzunehmen, dass Borisov und Punjagov ihrem Anliegen nicht nachgekommen sind und Vjačeslav V. in der Archangelsker Arbeitskolonie verbleiben musste.35 Ein ähnlich reger Briefwechsel ist auch in der Arbeits- und Erziehungskolonie in Emca zwischen März und April 1959 zustande gekommen. Hier hat eine Mutter namens Marija S. aber nicht um Verlegung, sondern um Entlassung ihres Sohnes, Ivan S., gebeten. Ihren Ausgang nahm die Geschichte laut den Angaben der Mutter mit einem Schreiben, das Ivan ihr geschickt und in dem er behauptet hatte, in der Arbeits- und Erziehungskolonie in Emca von Mithäftlingen geschlagen zu werden. Marija S. richtete daraufhin einen Brief an Oberst Borisov, in dem sie ihn vom Schicksal ihres Sohnes unterrichtete und 33 Ebd., Ll. 33–39, 161, 164. 34 Ebd., Ll. 166–168. 35 Ebd., L. 169.

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Aufklärung forderte. Borisov leitete das Schreiben an Punjagov weiter, den er verpflichtete, die Kolonie aufzusuchen und den Anschuldigungen nachzugehen. Noch während die Aufklärung im Gange war, schickte Marija S. weitere Briefe an Borisov, um die Entlassung ihres Sohnes herbeizuführen. Ähnlich wie Tat’jana Š. machte sie hierin auf den schlechten Gesundheitszustand ihres Jungen aufmerksam und hob ihre schwierige familiäre Situation hervor, die vor allem durch den Tod des Vaters bedingt sei, der im Zweiten Weltkrieg gefallen ist.36 Nachdem Punjagov persönlich in die Kolonie gereist war, um den Vorwürfen nachzugehen, teilte er seine Erkenntnisse Borisov mit. Dabei hat sich gezeigt, dass Ivan S., der 1941 geboren und wegen Diebstahls zu drei Jahren Haft verurteilt worden ist, der Minderheit der Roma angehörte und des Lesens und Schreibens überhaupt nicht mächtig war. Ebenso wenig besaß er eine berufliche Qualifikation. In der Kolonie besuchte er schließlich die erste Klasse, konnte dem Unterrichtsgeschehen aber nur schwer folgen. Außerdem hatte er des Öfteren gegen die Disziplin verstoßen und sich mit den anderen Jugendlichen überworfen. Den Brief an seine Mutter, in dem er ihr berichtet hatte, von Mithäftlingen geschlagen zu werden, hatten andere Zöglinge für ihn verfasst. Ivan S. war zwar tatsächlich Opfer eines Übergriffs durch einen Mithäftling geworden. Punjagov zufolge handelte es sich aber um ein einmaliges Ereignis, für das der Täter zur Rechenschaft gezogen worden ist.37 Nichtsdestotrotz blieb Marija S. ebenso hartnäckig wie Tat’jana Š. und hegte augenscheinlich die Hoffnung, das Blatt doch noch zugunsten ihres Sohnes wenden zu können. In einem weiteren Brief an Borisov betonte sie, dass Ivan während ihres Besuchs in der Kolonie erneut berichtet habe, geschlagen zu werden. Angeblich schrieb er auch in seinen Briefen davon, die er allerdings nicht auf Russisch, sondern auf Romani verfasst habe, damit sie der Zensur entgingen und die Kolonie verlassen konnten. Inzwischen beharrte Marija S. allerdings nicht mehr auf seiner Entlassung, sondern verlangte seine Verlegung in eine Einrichtung näher an ihren Wohnort Minsk.38 Borisov antwortete ihr Mitte April 1959, dass eine Überführung aus der Arbeits- und Erziehungskolonie in Emca in eine entsprechende Institution in der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik nicht möglich sei, er aber den Koloniedirektor in Emca anweisen werde, ihrem Sohn größere Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen.39 In einem weiteren Schreiben von Ende Mai 1959 machte er klar, dass die endgültige Entscheidung über eine Verlegung

36 37 38 39

GARF, F. R9412, Op. 5, D. 5, Ll. 195–198. Ebd., Ll. 201, 201 ob. Ebd., Ll. 202 f. Ebd., L. 205.

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Momente der Öffnung in der Archangelsker Arbeitskolonie 

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oder Entlassung nicht von ihm getroffen werden könne, da sie, angesichts dessen, dass Ivan S. verurteilt worden ist, beim Obersten Sowjet der UdSSR respektive der jeweiligen Unionsrepublik liege.40 Wie viel Wahrheit in den beiden angeführten Korrespondenzen steckte, lässt sich nicht rekonstruieren. Es ist anzunehmen, dass sowohl die Mütter als auch Borisov und Punjagov Falschinformationen eingespielt oder bestimmte Informationen bewusst verschwiegen haben, um ihre jeweils eigenen Interessen durchzusetzen. Mit ihrer Hartnäckigkeit ist es Tat’jana Š. und Marija S. zwar gelungen, Borisov und Punjagov zu Nachforschungen zu bewegen. Dass sich die Situation ihrer Söhne dadurch ins Positive gewendet hat, ist jedoch eher unwahrscheinlich, zumal Borisov und Punjagov alles andere als gewillt waren, die Forderungen der Mütter zu erfüllen und sie die Verantwortung »erfolgreich« an andere Stellen abschoben. Abgesehen davon erwiesen sich die Bemühungen der Mütter als äußerst zeitintensiv. Selbst wenn sie es tatsächlich geschafft haben sollten, eine Verlegung der Jungen zu erwirken, dürfte ihr offizieller Entlassungstermin wohl schon unmittelbar bevorgestanden haben. 1.3

Kultur- und Sportveranstaltungen

Auch Kultur- und Sportveranstaltungen, die meist in Wettkämpfe gekleidet waren, dienten der Selbstdarstellung der Kolonien. Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Momenten der Öffnung suchten sie aber nicht nur die Meinung Außenstehender, sondern auch die der Zöglinge über die Kolonie positiv zu beeinflussen. Wie Goffman dargelegt hat, sollen sich die Insassen »totaler Institutionen« nämlich ebenfalls in dem Glauben wiegen, sich in einer der besten Einrichtungen zu befinden, und das Gefühl haben, nicht von der Außenwelt abgeschnitten zu sein.41 Die Abhaltung von Kultur- und Sportveranstaltungen avancierte ab Mitte der 1950er Jahre zu einem wichtigen Bestandteil im Alltagsleben der Kolonien. Anfang Januar 1957 ordnete Borisov an, im zweiten Quartal des Jahres Leistungsschauen hinsichtlich des literarischen Könnens der Zöglinge durchzuführen, an denen sich die lokalen und regionalen Vertretungen des sowjetischen Schriftstellerverbands beteiligen sollten. Hierbei war vorgesehen, dass Schriftsteller, Dichter und Journalisten die Kolonien besuchten, um die Jugendlichen beim Schreiben von Erzählungen und Gedichten anzuleiten. Im Anschluss sollten Wettbewerbe die besten Werke ermitteln, um sie zunächst

40 GARF, F. R9412, Op. 5, D. 6, Ll. 1 f. 41 Goffman, Asyle, 99, 105.

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in eigens von den Kolonien herausgegebenen Zeitschriften, später auch in lokalen Zeitungen zu veröffentlichen.42 Im Unterschied zu den Zöglingen aus Arbeitskolonien durften jene aus Arbeits- und Erziehungskolonien sogar an literarisch-künstlerischen Wettbewerben teilnehmen, die außerhalb ihrer Einrichtung auf Kreis-, Oblast-, Regions- oder Republiksebene durchgeführt wurden. Angesichts der bevorstehenden VI. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, die im Sommer 1957 in Moskau43 stattfinden sollten, waren Teams aus Arbeits- und Erziehungskolonien, die Wettbewerbe auf Oblast-, Regions- und Republiksebene gewonnen hatten, explizit dazu aufgerufen, sich um eine Teilnahme an den Weltjugendspielen zu bewerben.44 Ob es einigen Jugendlichen tatsächlich gelungen ist, sich für dieses Großereignis zu qualifizieren, geht aus den Archivalien nicht hervor. Dessen ungeachtet besaßen entsprechende Wettbewerbe aber eine nicht zu unterschätzende Symbolkraft. Zum einen suggerierten sie Außenstehenden, beispielsweise sowjetischen Schriftstellern, dass die Kolonien sinnvolle Arbeit leisteten und die Heranwachsenden so weit zu bilden vermochten, dass sie hinsichtlich ihrer kognitiven Entwicklung »gewöhnlichen« Altersgenossen in Nichts nachstanden. Zum anderen vermittelten sie den Zöglingen das Gefühl, ungeachtet ihres Lebens in der Kolonie nach wie vor Teil der Außenwelt zu sein und, sofern sie herausragende Leistungen erbrachten, einen höheren Status erwerben zu können.45 Ähnliche Zwecke erfüllten auch die zahlreichen Sportveranstaltungen, die weit mehr als der bloßen Gesundheitsförderung der Zöglinge dienten. Seit Mitte der 1950er Jahre führten sämtliche Kolonien des Landes zeitgleich Sommer- und Winterspartakiaden durch, im Rahmen derer die Jugendlichen Wettkämpfe im Ski- und Schlittschuhlaufen, in Gymnastik, in Leichtathletik (100-Meter-Lauf, 4 × 100-Meter-Staffellauf, Hoch- und Weitsprung, Granatweitwurf), im Basketball, Volleyball, Bandy – eine Art Eishockey, die nicht mit einem Puck, sondern einem kleinen Ball gespielt wird –, Fußball, Tischtennis und im Schach austrugen. Hierbei ging es nicht nur darum, in den 42 GARF, F. R9412, Op. 2, D. 4, Ll. 1 f. 43 Weiterführend zu den Moskauer Weltjugendspielen 1957 siehe Koivunen, Pia: The 1957 Moscow Youth Festival. Propagating a New, Peaceful Image of the Soviet Union. In: Ilic, Melanie / Smith, Jeremy (Hg.): Soviet State and Society under Nikita Khrushchev. London 2009, 46–65; dies.: Overcoming Cold War Boundaries at the World Youth Festivals. In: Autio-Sarasmo, Sari / Miklóssy, Katalin (Hg.): Reassessing Cold War Europe. London 2011, 175–192 sowie dies.: The World Youth Festival as an Arena of the ›Cultural Olympics‹. Meanings of Competition in Soviet Culture in the 1940s and 1950s. In: Miklóssy, Katalin / Ilič, Melanie (Hg.): Competition in Socialist Society. London, New York, NY 2014, 125–141. 44 GARF, F. R9412, Op. 2, D. 4, Ll. 4–6. 45 Siehe hierzu Goffman, Asyle, 105.

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Momente der Öffnung in der Archangelsker Arbeitskolonie 

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jeweiligen Disziplinen die drei Besten zu ermitteln und als Sieger zu küren. Auch die Einzelleistungen der Teilnehmer waren wertvoll, weil sie am Ende über den Erwerb eines Abzeichens wie des JuD oder des (B)GTO ((Bud’) gotov k trudu i oborone46 – Sei bereit für Arbeit und Verteidigung) entschieden. Da die Koloniedirektoren die Ergebnisse im Anschluss an den ODK des MVD in Moskau übermittelten, konnten sie sich umso stärker profilieren, je mehr Zöglinge entsprechende Abzeichen erhalten hatten, da dieser Umstand davon zeugte, dass die physische Erziehung in ihrer Einrichtung eine hohe Qualität besaß.47 Nicht selten reisten auch Sportler und Mannschaften aus der näheren Umgebung in die Kolonien, um sich in Wettbewerben mit den Zöglingen zu messen. Goffman zufolge sollen solche Zusammenkünfte den Außenstehenden demonstrieren, dass ihnen ihre Gesinnungsgenossen aus der Institution ebenbürtig sind, sie gleichermaßen über die für Mannschaftssport notwendigen »Fähigkeiten wie Intelligenz, Geschicklichkeit, Ausdauer, Kooperationsbereitschaft und […] Ehrgefühl« verfügen, »daß die Welt innerhalb der Mauern ganz normal ist und dort alles mit rechten Dingen zugeht.«48 Wie ein Dokument des stellvertretenden Direktors der Archangelsker Arbeitskolonie aus dem Jahr 1958 deutlich macht, behaupteten die Jungen der Einrichtung – auf die gesamte Stadt Archangelsk bezogen – seit einigen Jahren die Führung im Weitsprung und im 100-Meter-Lauf. Außerdem hatten sie ein Basketballturnier für sich entscheiden können. Sie trafen regelmäßig mit den besten Sportlern und Mannschaften des Kreises und der Oblast zusammen.49 Letzteren Ereignissen maß der stellvertretende Koloniedirektor besondere Bedeutung bei, weil sie den Zöglingen suggerierten, von der sowjetischen Gesellschaft beachtet zu werden und ihnen dadurch das Gefühl der Isoliertheit nahmen.50 In den späten 1950er Jahren fanden des Öfteren Sportwettkämpfe zwischen den Zöglingen der Archangelsker Arbeitskolonie und denen der Arbeitsund Erziehungskolonie in Emca statt, die im Stadion ersterer Einrichtung ausgetragen wurden. Da die Jungen der Archangelsker Arbeitskolonie ihre Institution nicht verlassen durften, konnten Turniere und Treffen mit Außen46 Das Programm des (B)GTO, das der Komsomol 1931 ins Leben gerufen hatte, bestand bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Für den Erwerb des Abzeichens mussten die Teilnehmer sportliche Fähigkeiten und militärisch-technische Kenntnisse unter Beweis stellen. Bernstein, Raised under Stalin, 55. 47 GARF, F. R9412, Op. 2, D. 29, Ll. 120 f.; GARF, F. R9412, Op. 2, D. 74, Ll. 138–145. 48 Goffman, Asyle, 108. 49 GARF, F. R9412, Op. 2, D. 50, Ll. 246, 261. 50 Im russischsprachigen Original heißt es an dieser Stelle »[z]načenie ėtich vstreč sostoit v tom, čto vse vospitanniki oščuščajut na sebe vnimanie i zabotu sovetskoj obščestvennosti, čuvstvujut, čto ich svjaz’ s okružajuščim mirom postojanno rasširjaetsja, ėto sglaživaet bytujuščee v ich soznanii ponjatie o tak nazyvaemoj ›izoljacii‹.« Ebd., L. 262.

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Zwischen Öffnung und Abschließung

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stehenden nur innerhalb der Einrichtung veranstaltet werden. Zu groß war offenbar die Angst des Personals, dass die Zöglinge Ausflüge in die Kolonie nach Emca oder ins Archangelsker Stadtzentrum zu Fluchtversuchen hätten nutzen können.51 Auch die Jungen aus der Arbeits- und Erziehungskolonie in Emca trafen vermehrt mit Mannschaften aus ihrem Kreis und der nächstgelegenen Siedlung zusammen. 1958 sind insgesamt neun Hockeyturniere organisiert worden, an denen unter anderem Studenten des dortigen forsttechnischen und des pädagogischen Instituts sowie Mitarbeiter des Eisenbahnknotenpunkts und des Militärs teilgenommen hatten.52

2.

Momente der Öffnung im Pionierlager Artek

2.1

Politische Touristen

Obschon das CK des Komsomol Artek erst 1957 offiziell zum internationalen Pionierlager erklärt hat,53 hatte es zeit seines Bestehens Ausländer empfangen. Der erste internationale Gast, der das Lager bereits im Sommer 1925 mehrfach besucht hat, war die deutsche Sozialistin, Frauenrechtlerin und Friedensaktivistin Clara Zetkin (1857–1933), die sich damals zur Erholung im nahegelegenen Sanatorium Suuk-Su befand.54 Sie stand nicht nur in regem Austausch mit Zinovij Solov’ëv, sondern auch mit den sowjetischen Pionieren, die sie über Alltag und Situation der Arbeiterkinder in Westeuropa informierte.55 Nachdem sie an diversen Veranstaltungen des Lagers teilgenommen hatte, legte sie in einem Brief ihre Schlussfolgerungen dar: Wollt ihr freie, glückliche Kinder sehen? Dann besucht das Sommerlager Artek, nicht weit von Suuk-Su an der Südküste der Krim. Ich war dreimal dort, und hätte es, ich weiß nicht, wie viele Male noch besucht, wenn ich nicht hätte abreisen müssen. […] Sie [die Kinder] kamen überwiegend aus Industriestädten […] aber auch Bauernkinder aus Samara [waren dabei] […] Pioniere aus Ivanovo-Voznesensk und aus Leningrad, und unter ihnen tatarische Kinder von der Krim […] Sie verband eine enge Freundschaft und Brüderlichkeit.56 51 52 53 54 55

GARF, F. R9412, Op. 2, D. 56, Ll. 108 f. GARF, F. R9412, Op. 2, D. 74, L. 141. RGASPI, F. M-2, Op. 1, D. 17, Ll. 2, 10.

Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 336 f. Cetkin, Klara: V letnem lagere pionerov v Arteke. In: CK Obščestvo Krasnogo Kresta RSFSR (Hg.): Lager’ v Arteke. Moskau 1926, 9–11; Šišmarëv, Krymskij pionerskij lager’ ROKK v Arteke, 16 f. 56 Cetkin, V letnem lagere pionerov v Arteke, 9 f.

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Momente der Öffnung im Pionierlager Artek 

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Bis heute wird diese Aussage Zetkins, oft in Verbindung mit einem Foto, das sie rechter- und linkerhand von Zinovij Solov’ëv beziehungsweise Fëdor Šišmarëv sowie mit zahlreichen Pionieren im Hintergrund zeigt, zitiert.57 Drei Jahre nach Clara Zetkin suchte der französische kommunistische Schriftsteller Henri Barbusse (1873–1935) Artek auf, nachdem er wiederholt von Solov’ëv eingeladen worden war. Für Barbusse handelte es sich bereits um die zweite Sowjetunionreise.58 Bevor er im Lager eintraf, hat er der Eröffnung des VI. Komintern-Kongresses in Moskau beigewohnt, der vom 17. Juli bis zum 1. September 1928 stattgefunden hatte. Da er während des Moskaubesuchs an einer Lungenentzündung erkrankt war, unterzog er sich einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt in Nischni Nowgorod und reiste im Anschluss zur Erholung auf die Krim, wo er Artek einen Besuch abstattete.59 Da Solov’ëv im November 1928, kurz nachdem Barbusse das Lager besichtigt hatte, verstarb, verfasste Barbusse einen Nachruf auf ihn, in dem er seine Verdienste um den Aufbau Arteks würdigte. Hierin beschrieb er das Lager als »eine wunderbare Einrichtung […], gewidmet dem Dienst der großen revolutionären Tat und der Verbesserung des Lebens der Menschheit auf der Welt.«60 Dass ausländische Kommunisten wie Zetkin und Barbusse eine eher profan und zweitrangig anmutende Einrichtung wie ein Pionierlager aufsuchten, mag zunächst verwundern, war letztlich aber alles andere als ungewöhnlich. In den 1920er und 1930er Jahren sind insgesamt etwa 100.000 Ausländer, mehrheitlich Anhänger des linken Milieus, darunter Schriftsteller, Künstler, 57 Kotov, V lagere sčastlivych, 6, 8; Kolesnikov / Romanov / Smirnov, Artek, o. S.; Ivanov, S. /  Sidorov, V.: Mikrofonnye materialy Vsesojuznogo Radiokomiteta. »Arteku  – 15 let!«. Radioperedača dlja pionerov. Moskau 1940, 3; Svistov, Vladimir: Est’ mestečko v Krymu. Očerki ob Arteke [Dlja škol’nogo vozrasta]. Simferopol’ 1961, 8 f.; Svirina, O. / Šamšina, K.: »Artek« – territorija detstva. K 90-letiju so dnja osnovanija pionerskogo lagerja: fotografii, otkrytki, plakaty i dokumenty iz sobranija Gosudarstvennogo central’nogo muzeja sovremennoj istorii Rossii. Moskau 2015, 9, 92 f. 58 Erstmalig war Barbusse im September 1927 in die Sowjetunion gekommen. In Moskau traf er mit Stalin persönlich zusammen und nahm an den Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution teil. Im Anschluss reiste er weiter nach Charkow, Rostow, Tiflis, Jerewan und Baku, bevor er Anfang Dezember 1927 nach Frankreich zurückkehrte. Oberloskamp, Eva: Fremde neue Welten. Reisen deutscher und französischer Linksintellektueller in die Sowjetunion 1917–1939. München 2011, 98. Zusammenkünfte zwischen Barbusse und Stalin fanden auch später noch statt, und zwar in den Jahren 1932, 1933 und 1934. Weiterführend hierzu siehe David-Fox, Michael: Showcasing the Great Experiment. Cultural Diplomacy and Western Visitors to the Soviet Union, ­1921–1941. Oxford, New York, NY 2012, 229–234. 59 Oberloskamp, Fremde neue Welten, 98 (hier FN 137). 60 Barbjus, Anri [Barbusse, Henri]: In Memoriam. In: Za sanitarnuju oboronu 10–11 (1935), 26. Der Nachruf ist mehrfach in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt worden. Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 337.

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Akademiker, Wissenschaftler und Intellektuelle, in die Sowjetunion gereist, um sich von den Leistungen, Errungenschaften und Neuerungen des ersten sozialistischen Staates der Welt selbst ein Bild zu machen.61 Seitens der bolschewistischen Parteiführer war das Interesse an internationalen Besuchern nicht minder groß, galt es doch, der Weltöffentlichkeit die Entwicklungen zu demonstrieren, die das Land seit ihrer Machtübernahme vollzogen hatte. Damit die Ausländer umgehend die wissenschaftlichen Neuerungen und das kulturelle Leben der Sowjetunion kennenlernten, gründete das Komitee für Auslandshilfe (Komitet zagraničnoj pomošči – KZP), das zum Präsidium des CIK gehörte, im Dezember 1923 das Vereinte Büro für Information (Ob’’edinënnoe bjuro informacii – OBI ). 1925 ging hieraus die vom Volkskommissariat für äußere Angelegenheiten (Narodnyj komissariat inostrannych del – Narkomindel) ins Leben gerufene Allunionsgesellschaft für Kulturbeziehungen mit dem Ausland (Vsesojuznoe obščestvo kul’turnoj svjazi s zagranicej – VOKS) hervor. Die treibende Kraft hinter OBI und VOKS war niemand Geringeres als Ol’ga Kameneva (1883–1941), die Ehefrau von Lev Kamenev (1883–1936) und Schwester von Leo Trotzki (1879–1940).62 Die Aufgabe von VOKS bestand darin, die ausländischen Gäste zu betreuen und Besichtigungsrouten festzulegen. Um sicherzustellen, dass die Besucher nur das sahen, was auch wirklich für ihre Augen bestimmt war, und sie mit einem positiven Meinungsbild über die Sowjetunion in ihre Heimatländer zurückkehrten, führte VOKS sie an ausgewählte Orte, meistens solche, die exemplarisch mit dem Aufbau des Sozialismus und der Modernisierung der Sowjetunion in Verbindung standen. Begutachtung erfuhren dabei nicht nur sozialistische 61 David-Fox, Showcasing the Great Experiment, 1. Die ausländischen Besucher kamen aus Europa, den USA und sogar Australien. Zu den prominentesten Gästen gehörten Theodore Dreiser, Frank Lloyd Wright, Romain Rolland, Antoine de Saint-Exupéry, Bernard Shaw, Sidney and Beatrice Webb, André Gide, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, Walter Benjamin, John Maynard Keynes und Zdeněk Nejedlý. Ebd., 3–6; Fitzpatrick, Sheila: Australian Visitors to the Soviet Union. The View from the Soviet Side. In: Fitzpatrick, Sheila / Rasmussen, Carolyn (Hg.): Political Tourists. Travellers from Australia to the Soviet Union in the 1920s–1940s. Carlton 2008, 2. Explizit zu deutschen Besuchern in der Sowjetunion siehe Heeke, Matthias: Reisen zu den Sowjets. Der ausländische Tourismus in Rußland 1921–1941. Mit einem bio-bibliographischen Anhang zu 96 deutschen Reiseautoren. Münster u. a. 2003. 62 David-Fox, Showcasing the Great Experiment, 33–35. Parallel zu VOKS existierte ab 1929 das staatliche sowjetische Reisebüro Intourist, das auf »gewöhnliche« Touristen aus dem Ausland spezialisiert war, zugleich aber für die organisatorischen und finanziellen Angelegenheiten der Gäste von VOKS verantwortlich zeichnete. So wurden Besucher, deren Aufenthalte VOKS arrangiert hatte, größtenteils in Intourist-Hotels untergebracht. Empfing VOKS in den späten 1920er Jahren jährlich etwa 1.000 Ausländer, waren es Mitte der 1930er Jahre ungefähr 1.500, was einem Siebtel der Anzahl an Besuchern entsprach, die über Intourist in die Sowjetunion reisten. Fitzpatrick, Australian Visitors to the Soviet Union, 3, 11, 16; Oberloskamp, Fremde neue Welten, 204.

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Momente der Öffnung im Pionierlager Artek 

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Großbauprojekte wie der Moskau-Wolga-Kanal oder die Moskauer Metro, Fabriken und Kolchosen, sondern auch Gesundheits- und Bildungseinrichtungen wie Sanatorien, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten und Pionierlager, ja sogar Gefängnisse, Arbeitskolonien und Arbeitskommunen. Für die Jahre 1930/1931 verfügte VOKS bereits über Listen mit mehr als 300 Institutionen, die als Vorzeigeobjekte63 deklariert und zum Ziel internationaler Besucher erklärt worden sind. Gesetzt den Fall, dass diese auf ihrem Weg dorthin dennoch Zeugen von Negativbeispielen wurden, indem sie beispielsweise einer Horde besprizorniki begegneten, beriefen sich ihre Begleiter auf die Existenz entsprechender Einrichtungen, die sie als Lösung des Problems priesen. VOKS war sich durchaus bewusst, ihre ausländischen Gäste nicht immer vor den Unzulänglichkeiten der sozialistischen Realität bewahren zu können. In solchen Momenten lenkten ihre Mitarbeiter die Aufmerksamkeit weg vom Hier und Jetzt hin zur blühenden Zukunft und verwiesen auf die positiven Veränderungen, die kommen und dem mitunter katastrophalen gegenwärtigen Zustand des Landes ein Ende bereiten würden.64 Wie Michael David-Fox und Sheila Fitzpatrick in ihren Studien betont haben, sortierte VOKS die ins Land kommenden Ausländer nach ihrer Bedeutung und ihren Beziehungen, weil anzunehmen war, dass die Berichte über die Sowjetunion von Personen mit hohem Bekanntheitsgrad und Einfluss stärkeres Gehör finden würden. Berühmtheiten empfing Ol’ga Kameneva, 63 Michael David-Fox unterscheidet hinsichtlich der Art der Vorzeigeobjekte zwischen sogenannten showcases auf der einen und model institutions auf der anderen Seite. Erstere stellten die zahlenmäßig kleinere Gruppe dar und waren auf den Empfang von Besuchern ausgelegt, wodurch ihre ursprüngliche oder eigentliche Funktion in den Hintergrund trat. Model institutions oder Musterinstitutionen dagegen, im Russischen oft auch mit den Adjektivattributen obrazcovye oder opytno-pokazatel’nye (musterhaft beziehungsweise experimentell und zur Schau stellend) versehen, besaßen einen ihrer Bestimmung entsprechenden Betriebsablauf und avancierten erst im Laufe der Zeit, in der Regel dank ihrer musterhaften Arbeitsweise und Ausstattung, zu touristischen Attraktionen. Für den Besuch von Ausländern wurden sie gezielt hergerichtet und Mitarbeiter, die mit den Gästen in Kontakt treten sollten, speziell instruiert. David-Fox, Showcasing the Great Experiment, 99, 107. 64 Ebd., 99 f., 106–108; Fitzpatrick, Australian Visitors to the Soviet Union, 6 f., 11. Wie Eva Oberloskamp deutlich gemacht hat, waren Ausländer ungeachtet der Existenz staatlicher Behörden wie VOKS und Intourist bis Mitte der 1930er Jahre keineswegs verpflichtet, von ihren Diensten und Angeboten Gebrauch zu machen. Während einige Gäste nur einzelne Programmpunkte von VOKS oder Intourist organisieren ließen, bestritten andere ihren gesamten Aufenthalt individuell. Bis 1936 konnten sich Besucher nahezu im ganzen Land frei bewegen, da die für die Sowjetunion ausgestellten Visa normalerweise keine innersowjetischen Reisebeschränkungen beinhalteten. Da für die Bewältigung dieses Abenteuers ausreichend Sprachkenntnisse vonnöten waren, griff die Mehrheit der Gäste letztlich aber doch auf die Leistungen von VOKS und Intourist zurück. Oberloskamp, Fremde neue Welten, 205 f.

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die von 1925 bis 1929 als Direktorin von VOKS tätig war, persönlich.65 Henri Barbusse, der nicht nur weite Teile der Sowjetunion besucht hatte, sondern mehrfach mit Stalin zusammengetroffen war und ausgewählte Aspekte seiner Erlebnisse in einer 1935 erschienenen Stalin-Biografie niedergelegt hat, die in mehrere Sprachen übersetzt wurde, ist wohl das eindrücklichste Beispiel dafür, dass die Strategie von VOKS und Intourist aufgehen konnte.66 Wenngleich das Pionierlager Artek im Vergleich zu anderen Destinationen nur von wenigen Ausländern aufgesucht wurde67 und daher in den großen Sowjetunion-Erzählungen damaliger Reisender eine untergeordnete Rolle spielte – sofern es überhaupt Erwähnung fand –, hatten Zetkin und Barbusse den Grundstein für eine langjährige Tradition gelegt. In der Folge besuchten immer wieder hochrangige ausländische Staatsgäste das Lager, unter anderem Maurice Thorez (1900–1964)68, Dolores Ibárruri (1895–1989), Sen Katayama (1859–1933), Indira Ghandi (1917–1984) und Hồ Chí Minh (1890–1969).69 Obendrein ist anzunehmen, dass Zetkin und Barbusse ungeachtet der geringen Bedeutung, die Artek in seinen Anfangsjahren noch besaß, in ihren Heimatländern über seine Existenz berichtet haben und die Hoffnung hegten, dass ähnliche Einrichtungen auch in Deutschland und Frankreich entstanden. Doch gereichten ihre affirmativen Reaktionen den sowjetischen Parteieliten nicht nur zum Aufpolieren ihres Images im Ausland. Abgedruckt in einheimischen Zeitschriften und damit für den sowjetischen Leser bestimmt, trugen die Äußerungen Zetkins und Barbusses gleichsam dazu bei, der eigenen Bevölkerungen die Führungs- und Vorreiterrolle des neuen Staates auf dem 65 David-Fox, Showcasing the Great Experiment, 47; Fitzpatrick, Australian Visitors to the Soviet Union, 11. 66 Die Stalin-Biografie hat genau genommen nicht Barbusse, sondern Alfred Kurella verfasst. Nicht alle Sowjetunion-Besucher lobten das Land nach ihrer Rückkehr derart überschwänglich wie Barbusse beziehungsweise Kurella. Der französische Schriftsteller André Gides (1869–1951) tat in seinem 1936 veröffentlichten Buch Zurück aus SowjetRussland geradezu Gegenteiliges und wurde in der Folge zu einem wahren Systemkritiker. Behrends, Jan C.: Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR . Köln 2006, 51 f. (siehe auch FN 12). 67 Das vorrangige Interesse galt der Industrie. Den größten Besucherstrom verzeichnete die Sowjetunion deshalb während des ersten Fünfjahrplans. Eine hohe Zahl ausländischer Gäste reiste auch im Zuge des Aufkommens der Volksfronten ins Land. Stalins Großer Terror und der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges reduzierten die internationalen Aktivitäten allerdings auf ein Mindestmaß. David-Fox, Showcasing the Great Experiment, 1; Gould-Davies, Nigel: The Logic of Soviet Cultural Diplomacy. In: Diplomatic History 27/2 (2003), 196. 68 Paul Thorez (1940–1994), der Sohn des französischen Kommunistenführers Maurice Thorez (1900–1964), war 1940 in Moskau geboren worden und hatte Artek im Sommer 1950 besucht. Seine Erlebnisse hierzu hat er in einem Buch festgehalten. Siehe Thorez, Paul: Les enfants modèles. o. O. 1982. 69 Svirina / Šamšina, »Artek« – territorija detstva, 91; Kolesnikov / Romanov / Smirnov, Artek, o. S.

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Gebiet der Kinderfürsorge zu demonstrieren. Indem Zetkin und Barbusse zu erkennen gaben, dass Artek eine weltweit einmalige Institution war, die Arbeiter- und Bauernkindern unterschiedlichster Herkunft einen kostenlosen Erholungsaufenthalt auf der Krim, medizinische Behandlungen und gute Verpflegung in Verbindung mit erzieherischen Maßnahmen ermöglichte, geriet die Bestätigung von außen zugleich zu einer Bestätigung nach innen. 2.2

Vom proletarischen Internationalismus zur Völkerfreundschaft

Wie es einem Pionierlager gebührt, kamen abgesehen von erwachsenen Gästen seit jeher auch sozialistische und kommunistische Kinder- und Jugendgruppen aus dem Ausland nach Artek. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre standen ihre Besuche im Zeichen der damals vorherrschenden außenpolitischen Maxime des proletarischen Internationalismus. Im Rahmen dessen waren die bolschewistischen respektive sowjetischen Machthaber bestrebt, die Entwicklung der Weltrevolution voranzutreiben und eine länderübergreifende sozialistische Gemeinschaft zu etablieren, um sich gegen feindlich gesinnte Staaten zur Wehr setzen zu können.70 Diese Leitlinie machte auch vor der 1922 gegründeten Allunions-LeninPionierorganisation nicht halt. Weithin international orientiert, organisierte sie politische Massenkampagnen unter Losungen wie Hände weg von Sowjetrussland im In- und Ausland und richtete Veranstaltungen anlässlich sowjetischer und internationaler revolutionärer Feiertage aus, beispielsweise zum 1. Mai und zum Jahrestag der Oktoberrevolution, aber auch zum Tag der Pariser Kommune – Ereignisse, die bei den Pionieren den Geist für Kollektivismus und Solidarität erwecken sollten.71 Zudem finanzierte die Pionierorganisation ausländische sozialistische und kommunistische Kindergruppen, internationale Pionierkongresse und Kinderfestivals. Zu einer alljährlich stattfindenden Institution avancierte die Internationale Kinderwoche (Meždunarodnaja detskaja nedelja – MDN ), die 1921 noch in Deutschland abgehalten worden war, 1922 aber in die Sowjetunion übersiedelte. Zu den Programmpunkten der Veranstaltung gehörten Paraden, Demonstrationen und wohltätige Sammlungen, unter anderem für bedürftige Altersgenossen im Ausland.72 70 Widersacher hatte die Sowjetunion genug. Man denke nur an Winston Churchill, der unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erklärt hat, »den Bolschewismus in seiner Wiege ersticken« zu wollen. Churchill, Winston: Bolshevist Atrocities. In: Never Give In! Winston Churchill’s Speeches. London 2013, 62 f. 71 Dubrovič, Serafim: Dejatel’nost’ vsesojuznoj pionerskoj organizacii imeni V. I. Lenina po vospitaniju u podrostkov proletarskogo internacionalizma (1922–ijun’ 1941 gg.). Moskau 1979, 87 f., 91 f. 72 Kelly, Defending Children’s Rights, »In Defense of Peace«, 721–723.

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1926 formierte sich im zentralen Pionierkabinett eine Abteilung für Auswärtiges, um die Beziehungen zwischen sowjetischen und ausländischen Pionieren zu festigen und die methodische Zusammenarbeit mit anderen Ländern im Hinblick auf die Erziehung zum proletarischen Internationalismus zu fördern. Infolgedessen initiierte die Abteilung einen regen Briefwechsel mit sozialistischen und kommunistischen Kinderorganisationen in Deutschland, England, Polen, Frankreich, den USA, der ČSR , Österreich, den Niederlanden, Dänemark, Norwegen, Schweden und Palästina. Der Austausch erfolgte nicht nur auf der Leitungsebene der jeweiligen Organisationen, sondern bezog auch die Kinder selbst mit ein und animierte sie zum gegenseitigen Schriftverkehr. Das Ziel der Abteilung für Auswärtiges bestand einerseits darin, sozialistische und kommunistische Kindergruppen im Ausland über die Erfahrungen der sowjetischen Pionierorganisation zu unterrichten, um dadurch Verleumdungen und die Verbreitung von Falschinformationen über die Sowjetunion zu unterbinden. Andererseits hegte sie zugleich das Interesse zu erfahren, welche erzieherischen Konzepte, Methoden und Praktiken ihre Partnerorganisationen im Ausland verfolgten.73 Dieses Vorgehen, das György Péteri als »suprematist internationalism« bezeichnet hat, war typisch für die frühsowjetische Phase bis 1932 und charakterisierte sich sowohl durch die Bereitschaft, vom Westen zu lernen und in regen Austausch mit ihm zu treten, um die eigene Rückständigkeit zu beseitigen, als auch durch ein hohes Selbstwertgefühl und den Anspruch, in einigen Bereichen, beispielsweise in der Kinderfürsorge, weltweit die Führung innezuhaben.74 Die jungen ausländischen Besucher, die in den 1920er und frühen 1930er Jahren in Artek weilten, sind in der Regel von befreundeten sowjetischen Pioniergruppen eingeladen worden. Der Aufenthalt im Lager auf der Krim war in gewisser Weise ein Bonus, der ihnen erst nach getaner Arbeit zuteilwurde. Zuvor waren sie bereits mit ihren Gastgebern zusammengetroffen – meist in Moskau oder Leningrad –, hatten an größeren Veranstaltungen teilgenommen und sich mit gleichgesinnten Altersgenossen über Fragen und Probleme ihrer Pionierarbeit und ihres Pionierlebens ausgetauscht.75 Die ersten internationalen Gruppen reisten im Sommer 1926 nach Artek. Hierbei handelte es sich um drei Pioniere (Willi Herr76, Richard Bart(h)el, 73 Dubrovič, Dejatel’nost’ vsesojuznoj pionerskoj organizacii imeni V. I. Lenina po vospitaniju u podrostkov proletarskogo internacionalizma (1922–ijun’ 1941 gg.), 109 f. 74 Péteri, György: Nylon Curtain  – Transnational and Transsystemic Tendencies in the Cultural Life of State-Socialist Russia and East-Central Europe. In: Slavonica 10/2 (2004), 118. 75 Dubrovič, Dejatel’nost’ vsesojuznoj pionerskoj organizacii imeni V. I. Lenina po vospitaniju u podrostkov proletarskogo internacionalizma (1922–ijun’ 1941 gg.), 130–136. 76 Willi Herr, geboren 1912 in Heilbronn, stammte aus einer siebenköpfigen Arbeiterfamilie. Sein Vater war Kommunist und ist infolge eines Zusammenstoßes mit Faschisten zu

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Erna Müller) und einen Pionierleiter (Fritz Voigtländer) aus Deutschland sowie zwei Pioniere und zwei Pionierleiter aus Dänemark. Die deutsche Delegation war offiziell von der siebten Pioniergruppe des Kommissariats für Verkehr in Moskau in die Sowjetunion eingeladen worden. Bevor sie im August nach Artek gelangte, hatte sie den Juli bereits in der sowjetischen Hauptstadt verbracht und ihre Gastgeber kennengelernt. Nach ihrem Aufenthalt auf der Krim fuhr sie nach Moskau zurück, um an der VI. MDN teilzunehmen. Im September kehrte sie nach Deutschland heim und wertete ihren Aufenthalt in der Sowjetunion aus.77 Wie Serafim Dubrovič anführt, war zwar angedacht, dass die sowjetischen Pioniere auch zu einem Gegenbesuch nach Deutschland aufbrechen sollten. Zur Finanzierung der Reise hatten sie bereits Sammelaktionen durchgeführt und Delegierte gewählt. Da sich die deutsche Regierung jedoch weigerte, ihnen Visa auszustellen, kam es nicht dazu.78 1927 war jeweils eine deutsche, englische und eine französische Delegation in Artek zu Gast. Die deutsche bestand aus sechs Kindern und Jugendlichen sowie einem Betreuer und war von Leningrader Pionieren eingeladen worden. Sie kam im Mai nach Leningrad, nahm an der VII. MDN teil, besuchte Schulen und Kindergärten und traf sich mit sowjetischen Arbeitern. Von Leningrad aus fuhr sie weiter nach Smolensk, Orël, schließlich in die Ukraine und dann nach Artek.79 1928 reisten Kinder aus Schweden, Norwegen und Dänemark nach Artek.80 Im selben Jahr war eine internationale Delegation von knapp 30 Pionierleitern

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13 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Fortan war seine Mutter gezwungen, sich und die fünf Kinder allein zu ernähren. Willis Familie fand schließlich Unterstützung bei der Roten Hilfe. Durch die Kontakte zu linken Arbeiterorganisationen erhielt der Junge die Möglichkeit, in die Sowjetunion zu fahren. Im Anschluss sollte er seinen deutschen Altersgenossen von dem Land berichten und dazu beitragen, die weit verbreiteten Gerüchte und Vorurteile über die Sowjetunion aus dem Weg zu räumen. Pioniere reisen ins Sowjetland. In: Die Trommel 31/Sonderausgabe zum 30. Jahrestag der Pionierorganisation »Ernst Thälmann« (1978), 56. Šišmarëv / Zak, Pionerskij lager’-sanatorij KK v Arteke, 16, 34; Dubrovič, Dejatel’nost’ vsesojuznoj pionerskoj organizacii imeni V. I. Lenina po vospitaniju u podrostkov proletarskogo internacionalizma (1922–ijun’ 1941 gg.), 130. Wie Serafim Dubrovič anführt, soll Willi Herr nach seiner Rückkehr nach Deutschland von der Polizei verhaftet worden sein. Obgleich er keinen konkreten Grund für dessen Arretierung nennt, dürfte die Ursache in seiner politischen Gesinnung gelegen haben. Im Zuge der Auswertung seiner Sowjetunionreise wurde ihm offenbar die Verbreitung kommunistischer Propaganda vorgeworfen. Ebd., 130. Ebd., 131. Bei Serafim Dubrovičs Studie handelt es sich um eine sowjetische Dissertationsschrift zur Erlangung des Doktorgrades (kandidat nauk) auf dem Gebiet der pädagogischen Wissenschaften. Ebd., 131 f., 146. Leve Unge Pionerer! Privet druz’ jam. In: Pionerskaja Pravda 54 (197) vom 7.7.1928, 1; Skandinavskie gosti v SSSR . In: Pionerskaja Pravda 58 (201) vom 21.7.1928, 5.

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aus Deutschland, Frankreich, der ČSR , Österreich und den Niederlanden zu Besuch in der Sowjetunion, um sich mit dem dortigen Schulsystem sowie den Formen und Methoden der Pionierarbeit vertraut zu machen. Zu den Stationen ihres Aufenthalts gehörten Leningrad, Moskau, Kiew, Sewastopol und Artek.81 Eine beachtliche Zahl junger internationaler Gäste fuhr im Anschluss an Großereignisse in das Lager auf der Krim, beispielsweise nach dem I.  Allunions-Pionierkongress, der im August 1929 in Moskau stattgefunden hatte, oder dem  II. Internationalen Kongress proletarischer Kinder (auch als II. Weltpionierkongress bekannt), der im Juli 1930 in Berlin abgehalten worden war.82 Obgleich es sich bei ersterem der Bezeichnung nach um eine sowjetische Veranstaltung handelte, waren auch acht ausländische Delegationen angereist, die aus den USA, Deutschland, der Mongolei, England, Schweden, Norwegen, der Schweiz sowie aus China kamen und insgesamt etwa 70 Personen umfassten. Während des Treffens tauschten sie Erfahrungen aus und schlossen Abkommen mit anderen sozialistischen und kommunistischen Kinder- und Jugendorganisationen, um die Zusammenarbeit zu fördern.83 Der II. Internationale Kongress in Berlin diente ebenfalls der Vernetzung und Solidarisierung »proletarischer« Kinder und Jugendlicher. Gemeinsam plädierten sie für den Schutz von Arbeiter- und Bauernkindern vor »bourgeoisen« Einflüssen und Ausbeutung, traten gegen Kinderarmut auf und prangerten die angebliche Kriegstreiberei gegen die Sowjetunion an. Die insgesamt rund 500 ausländischen Delegierten stammten aus Belgien, Polen, Dänemark, Schweden, Norwegen, Österreich, den USA, der Mongolei, Frankreich und der ČSR . Da der sowjetischen Gruppe84 seitens der deutschen Regierung abermals die Einreise und damit die Teilnahme untersagt worden war, organisierte die sowjetische Pionierorganisation zahlreiche Protestkundgebungen und Demonstrationen im eigenen Land. Schließlich entschied sie, 100 ausländische Delegierte, die dem Kongress in Berlin beigewohnt hatten, im Anschluss in die Sowjetunion einzuladen, wo die Veranstaltung eine kurze Fortsetzung finden sollte.85 81 Dubrovič, Dejatel’nost’ vsesojuznoj pionerskoj organizacii imeni V. I. Lenina po vospitaniju u podrostkov proletarskogo internacionalizma (1922–ijun’ 1941 gg.), 134. 82 Ebd., 146; Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 338. 83 Pioniere reisen ins Sowjetland, 56; Dubrovič, Dejatel’nost’ vsesojuznoj pionerskoj organizacii imeni V. I. Lenina po vospitaniju u podrostkov proletarskogo internacionalizma (1922–ijun’ 1941 gg.), 137–139. 84 Für die Teilnahme am Kongress in Berlin waren 15 sowjetische Pioniere ausgewählt worden. Meždunarodnyj slët sostoitsja v Berline. Naša delegacija na meždunarodnyj pionerskij slët. In: Pionerskaja Pravda 89 (501) vom 8.7.1930, 1. 85 Dubrovič, Dejatel’nost’ vsesojuznoj pionerskoj organizacii imeni V. I. Lenina po vospitaniju u podrostkov proletarskogo internacionalizma (1922–ijun’ 1941 gg.), 141–145.

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Die politisch motivierten Einreiseverbote mögen bei den Betroffenen zwar Unmut und Enttäuschung hervorgerufen haben. Doch kamen sie nicht allen ungelegen. So wussten die sowjetischen Parteiführer sie hervorragend zu Propagandazwecken zu nutzen. Mit seiner Kampfansage gegen den Kommunismus hatte Deutschland ihnen eine Steilvorlage geliefert, die optimale Gelegenheit bot, um die Sowjetunion als ein freies und friedliebendes Land zu inszenieren. Zugleich konnten sie den eigenen Kindern und Jugendlichen suggerieren, dass sie ungleich bessere Lebensbedingungen besaßen als ihre Altersgenossen in anderen Ländern.86 Die Gegenüberstellung von sowjetischer respektive sozialistischer auf der einen und »kapitalistischer« beziehungsweise westlicher Kindheit auf der anderen Seite, von »hier« und »dort«, war ein Motiv, das über Jahrzehnte hinweg in der Sowjetunion Bestand hatte.87 Etwa zeitgleich zur deutschen Einreiseverweigerung spielte dem Land die Affäre um Harry Eisman in die Hände, zu dessen Gunsten sowjetische Pioniere 1929 und 1930 Massenaktionen veranstalteten, um ihre Solidarität mit ihm zu bekunden. Eisman (1913–1979), der in Chiᶊinǎu geboren worden und als Kind mit seinen Eltern in die USA ausgewandert war, ist dort zu einer Haftstrafe verurteilt worden, nachdem er in New York an einer Mai-Demonstration teilgenommen und sich kritisch gegenüber der Pfadfinder-Bewegung geäußert hatte. Sein Fall zog derart großes internationales Aufsehen nach sich, dass die US -Amerikaner ihn wieder freiließen und in die Sowjetunion deportierten.88 Einem Artikel in der populärwissenschaftlichen russischen Zeitschrift Diletant (Dilletant) zufolge traf Eisman 1931 mit Pionieren in Artek zusammen.89

86 Kelly, Defending Children’s Rights, »In Defense of Peace«, 715 f. 87 Ebd. 88 Dubrovič, Dejatel’nost’ vsesojuznoj pionerskoj organizacii imeni V. I. Lenina po vospitaniju u podrostkov proletarskogo internacionalizma (1922–ijun’ 1941 gg.), 117, 157 f.; Kelly, »The Little Citizens of  a Big Country«, 12. Mary M.  Leder, eine US -Amerikanerin jüdisch-ukrainischer Herkunft, die Ende 1931 aus dem kalifornischen Santa Monica in die Sowjetunion übersiedelt war, lernte Harry Eisman kurze Zeit später in Moskau kennen. Mary Leder verbrachte insgesamt 34 Jahre in der Sowjetunion, bis sie in die USA zurückkehrte, und hatte währenddessen hin und wieder sporadisch Kontakt zu Eisman. In den 1950er Jahren befand er sich Leder zufolge im sibirischen Exil, da er in Moskau Kontakte zu einer US -amerikanischen Journalisten unterhalten hatte, die der Spionage verdächtigt und des Landes verwiesen worden war. Eisman gelang es zwar noch einmal, in die USA zu reisen, wo er 1970 seine Verwandten besuchte. Er kehrte jedoch nach Moskau zurück, wo er einige Jahre später verstarb. Leder, Mary M.: My Life in Stalinist Russia. An American Woman Looks Back. Bernstein, Laurie / Weinberg, Robert (Hg.). Bloomington, IN 2001, 51 (siehe auch FN 2); Bernstein, Laurie / Weinberg, Robert: Introduction. In: Leder, Mary M.: My Life in Stalinist Russia. An American Woman Looks Back. Bernstein, Laurie / Weinberg, Robert (Hg.). Bloomington, IN 2001, xi-xiv. 89 Oni videli »Artek«. In: Diletant. Istoričeskij žurnal dlja vsech 5 (2015), 29.

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Obwohl sich anhand zahlreicher sowjetischer Printmedien belegen lässt, dass bis etwa Mitte der 1930er Jahre ausländische Kinder- und Jugenddelegationen in Artek weilten,90 vollzog sich seit Beginn der 1930er Jahre ein Wandel, der den Niedergang des proletarischen Internationalismus und damit auch der internationalen Aktivitäten Arteks einleiten sollte. Catriona Kelly sieht den Wendepunkt hierfür in zwei vom CK der VKP(b) erlassenen Verordnungen, zum einen der vom 21. April 1932 Über die Arbeit der Pionierorganisation91, zum anderen der vom 25. August 1932 Über Lehrpläne und das režim in der Grund- und Mittelschule92.93 Erstere warf der Pionierorganisation vor, dass es ihr immer noch nicht umfassend gelungen sei, ihre Arbeit in den Dienst der kommunistischen Erziehung der Kinder zu stellen. Sie sah jedoch nicht nur die Pionierorganisation selbst in der Schuld, sondern klagte auch andere Institutionen und Massenorganisationen wie das Narkompros, das Narkomzdrav, die Gewerkschaften oder auch die ROKK an, weil sie lokale Pioniergruppen angeblich zu wenig unterstützten und dadurch ihre Bedeutung und ihren Einfluss dezimierten. Aufs Schärfste verurteilte die Bestimmung auch Versuche, die darauf ausgerichtet waren, die Pionierbewegung zu liquidieren oder mit den Schulen zu verschmelzen. Stattdessen suchte sie Gegenteiliges zu bewirken, indem sie die Pionierorganisation stärkte und sie zur kämpferischen Vorhut für mehr Ordnung, Strenge und Disziplin an den Schulen sowie für die Hebung der Qualität des Unterrichts erklärte. Zugleich übertrug sie ihr die Verantwortung für die physische Entwicklung und Förderung der Kinder und Jugendlichen sowie für deren Freizeitgestaltung gemäß der kommunistischen Ideologie.94 Die Verordnung vom 25. August 1932 bestätigte diese Beobachtungen und Bestimmungen und hielt zudem fest, dass es den Schulen an Ordnung und Disziplin mangelte, die Lehrpläne den Schülern zu wenig Allgemeinwissen vermittelten und sie unzureichend auf weiterführende Bildungseinrichtungen 90 Siehe hierzu Rozenberg: Kuznica pionerskogo zdorov’ja. In: Za sanitarnuju oboronu 7 (1935), 6; Kandyba, F.: Artek. In: Ogonëk 26 vom 15.9.1935, o. S. Siehe außerdem ein Foto in der Pionerskaja Pravda vom 10.07.1930, Nr. 89 (501), auf Seite 5, das einen amerikanischen Jungen namens Jimmy in Artek zeigt, der als »ständiger Bewohner« des Lagers, dem es hier sehr gut gefalle, vorgestellt wird. 91 Für den genauen Wortlaut der Postanovlenie CK VKP(b) O rabote pionerskoj organizacii ot 21 aprelja 1932 g. siehe Chančin, V. (Hg.): Direktivy i dokumenty po voprosam pionerskogo dviženija. Moskau 1959, 49–56. 92 Für den vollständigen Inhalt der Postanovlenie des CK der VKP(b)  Ob učebnych programmach i režime v načal’noj i srednej škole siehe Abakumov, A. et al. (Hg.): Narodnoe obrazovanie v SSSR . Obščeobrazovatel’naja škola. Sbornik dokumentov. 1917–1973 gg. Moskau 1974, 161–164. 93 Kelly, »The Little Citizens of a Big Country«, 14 f.; dies., Defending Children’s Rights, »In Defense of Peace«, 724. 94 Chančin, Direktivy i dokumenty po voprosam pionerskogo dviženija, 49–51.

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wie Technika oder Hochschulen vorbereiteten. Heftige Kritik ernteten auch die geringen Geografie- und Geschichtskenntnisse sowjetischer Kinder und Jugendlicher. Um diesen desaströsen Zuständen Abhilfe zu schaffen, hat das CK der VKP(b) verfügt, den Schülern in Geschichte, Geografie, Sozialkunde, russischer Sprache und Literatur vermehrt Wissen über die »nationalen Kulturen und Völker der UdSSR , ihre Literatur, Kunst [und] historische Entwicklung« sowie über sowjetische Heimatkunde (kraevedenie) zu vermitteln, beispielsweise über »naturräumliche Besonderheiten, Industrie, Landwirtschaft und sozio-ökonomische Entwicklungen«.95 Catriona Kelly zufolge zeichneten sich Schule und Pionierorganisation angesichts dessen bald durch strengere Disziplin aus und nahmen zusehends eine nach innen gerichtete Perspektive ein. Da kraevedenie in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt war, begaben sich sowjetische Pioniere 1932 erstmals auf Exkursionen96 und Expeditionen in die entlegensten Winkel ihres Landes. Wenige Jahre später, 1934 und 1935, trugen auch Veranstaltungen wie die MDN kaum noch internationalen Charakter. Stattdessen zelebrierten sie aktuelle sowjetische Errungenschaften und Entwicklungen. Nachdem Stalin in einer Rede 1935 die sogenannte Völkerfreundschaft (družba narodov) zur neuen Maxime erhoben und damit dem proletarischen Internationalismus eine Absage erteilt hatte, waren sowjetische Pioniere angehalten, freundschaftliche Beziehungen zu Gleichaltrigen anderer Nationalität innerhalb der Sowjetunion zu knüpfen. Der Kontakt zu sozialistischen und kommunistischen Kinder- und Jugendgruppen im Ausland fand keine Förderung mehr.97 Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass Serafim Dubrovič nicht von einer Abkehr des proletarischen Internationalismus zugunsten der (innersowjetischen) Völkerfreundschaft spricht. Ihm zufolge haben sich die Austauschprogramme zwischen der sowjetischen Pionierorganisation und ausländischen sozialistischen wie kommunistischen Kinder- und Jugendgruppen lediglich drastisch reduziert, weil letztere angesichts faschistischer Machtergreifungen in etlichen europäischen Ländern aufgelöst worden waren. Gleichwohl räumt er aber indirekt ein, dass aufgrund der Angst der Partei vor einem ideologisch bedingten Weltkrieg die Idee der Bruderschaft der sowjetischen Nationalitäten an Bedeutung gewonnen habe.98 95 Abakumov, Narodnoe obrazovanie v SSSR . Obščeobrazovatel’naja škola. Sbornik dokumentov. 1917–1973 gg., 161 f. 96 Wie Stefan Plaggenborg deutlich gemacht hat, galten Exkursionen als Mittel zur Erziehung und Verbesserung des Sowjetmenschen, Kinder und Jugendlicher ebenso wie Erwachsener. Siehe hierzu Plaggenborg, Revolutionskultur, 214–228. 97 Kelly, Defending Children’s Rights, »In Defense of Peace«, 724; dies., »The Little Citizens of a Big Country«, 15.  98 Dubrovič, Dejatel’nost’ vsesojuznoj pionerskoj organizacii imeni V. I. Lenina po vospitaniju u podrostkov proletarskogo internacionalizma (1922–ijun’ 1941 gg.), 151 f., 168.

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Dieser Kurswechsel ist zugleich Ausdruck der Stalinschen Theorie vom Sozialismus in einem Land, die in den 1930er Jahren zur Staatsdoktrin avancierte und eine Verbindung zwischen Nationalismus und Sozialismus schuf, die den sowjetischen Patriotismus erstarken ließ.99 Das Ausbleiben der Weltrevolution sowie das Aufkommen faschistischer Bewegungen und Regierungen in weiten Teilen Europas stellten für die Sowjetunion eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Wenn dem Sozialismus schon nicht auf internationaler Ebene zum Sieg verholfen werden konnte, dann musste er wenigstens im eigenen Land verteidigt werden. Für die innenpolitische Konsolidierung der Sowjetunion war es deshalb zwingend notwendig, dass die gesamte Bevölkerung zur Verwirklichung dieses Ziels ihren Beitrag leistete. Da das Pionierlager Artek von dieser Entwicklung nicht ausgenommen blieb, lag auch hier das Hauptaugenmerk ab Mitte der 1930er Jahre auf der (innersowjetischen) Völkerfreundschaft. Die in der Einleitung erwähnten Pioniere, Mamlakat, Lëša, Vitja, Barasbi und Miša, die infolge ihrer herausragenden Leistungen mit einer putëvka nach Artek ausgezeichnet worden sind, können als exemplarische Vertreter dieser neuen politischen Leitlinie gelten. Ihre Namen und ihre Herkunft untermauerten die Vorstellung, dass alle Kinder und Jugendlichen in der Sowjetunion, unabhängig ihrer Nationalität oder der Entfernung ihres Heimatortes, in das Lager Artek auf der Krim fahren könnten, sofern sie sich den Aufenthalt verdient hatten.100 Dass Artek damit einen der wenigen Orte darstellte, an dem die aus verschiedensten Völkern und Nationalitäten des Landes bestehende »imagined community« des Sowjetvolks tatsächlich aufeinandertraf, ließ sich propagandistisch nutzen und idealisieren, wie folgendes Gedicht der Pionierin Zina Netlova aus Leningrad, die das Lager besucht hatte, verdeutlicht: 99 Für Lenin und Trotzki bildete die Theorie der permanenten Revolution die Legitimation des Oktoberumsturzes. Da die prophezeite Weltrevolution nach dem Ende des Ersten Weltkrieges jedoch ausblieb und selbst die Hoffnung auf ein »Sowjetdeutschland«, dessen Entstehung noch am wahrscheinlichsten galt, mit der Niederschlagung der Arbeiteraufstände von 1921 und 1923 aufgegeben werden musste, drohte die Sowjetunion in ihren ideologischen Grundfesten erschüttert zu werden. Im Gegensatz zu Trotzki, der in seinen 1924 veröffentlichten Lehren des Oktober weiterhin an der Weltrevolution festhielt, sprach sich Stalin für den Sozialismus in einem Land aus und verhalf der Oktoberrevolution damit zur historischen Gesetzmäßigkeit. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, 176–182. 100 Die verstärkte Hinwendung zu Völkerfreundschaft und Heimatkunde lässt sich auch anhand der Kinderliteratur über Artek ablesen, die 1938 und 1940 im Verlag des CK des Komsomol beziehungsweise des Narkomzdrav erschienen ist und nicht nur über Texte, sondern auch über Bilder Vermittlung fand. So enthalten sie eine Vielzahl an Fotos, die sowjetische Pioniere unterschiedlichster Herkunft in Artek zeigen, nicht selten in ihren traditionellen Trachten und Kostümen. Siehe hierzu Kotov, V lagere sčastlivych, 17, 31, 65; Tajc / Gračev, Artek, 26, 28, 71, 76 sowie Kolesnikov / Romanov / Smirnov, Artek, o. S. (auf einem Foto sind zwei Mädchen in ihrer usbekischen Tracht zu sehen).

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[…] Hier sind sie befreundet, wie sonst nirgendwo – Hier helfen sie dir in der Not, Der Kalmyk, der Nanaier, Der Russe und der Usbeke – Wir sind alle eine Familie: Auch er, und du, und ich. Artek, Artek!101

So simpel, selbstverständlich und harmonisch wie von Zina Netlova beschrieben, gestaltete sich das Zusammenleben in Artek keineswegs, führten die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe und sprachlichen Voraussetzungen doch immer wieder zu Missverständnissen und Kommunikationspro­ blemen. Dass sich das Lager ab etwa Mitte der 1930er Jahre mit Einschränkungen hinsichtlich seiner internationalen Aktivitäten konfrontiert sah, bedeutete allerdings nicht, dass sich innere und äußere Völkerfreundschaft gegenseitig ausschlossen. So deuten einige Indizien daraufhin, dass sich zumindest bis 1937 ausländische Gäste in Artek aufgehalten haben. Die letzte, breitere internationale Zusammensetzung wies das Lager 1935 auf. Einem Artikel in der Zeitschrift Ogonëk (Feuerchen) zufolge verbrachten damals nämlich nicht nur Pioniere aus den einzelnen Sowjetrepubliken, sondern auch aus China, Japan, Spanien und Frankreich ihre Ferien hier. Erwähnung fanden sogar Kinder und Jugendliche dunkler Hautfarbe, deren Herkunftsländer jedoch nicht genannt wurden.102 Den letzten Höhepunkt politischer Instrumentalisierung vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion erlebte Artek 1937, als Kinder und Jugendliche aus Spanien zur Erholung im Lager auf der Krim weilten, deren Eltern auf Seiten der Republikaner gegen die Anhänger General Francos gekämpft hatten.103 Dieser Schritt kam nicht von ungefähr. Wie Karl Schlögel gezeigt hat, war der Spanische Bürgerkrieg »vom 16. Juli 1936 an, dem ersten Tag der Revolte der Offiziere um General Franco gegen die spanische Republik, bis 101 Netlova, Zina: Družba. In: Pionerskaja Pravda 95 (2442) vom 18.7.1940, 4 (Übersetzung aus dem Russischen – K. B.). 102 Kandyba, Artek, o. S. 103 Für weitere Informationen zum Spanischen Bürgerkrieg und seiner internationalen Dimension, insbesondere zur Unterstützung der Republikaner durch die Sowjetunion sowie zur Rolle der Komintern, siehe Bolloten, Burnett: The Spanish Civil War. Revolution and Counterrevolution. Chapel Hill 1991; Beevor, Antony: Der Spanische Bürgerkrieg. München 2006; Collado Seidel, Carlos: Der Spanische Bürgerkrieg. Geschichte eines europäischen Konflikts. 3. Aufl. München 2016; Schauff, Frank: Der Spanische Bürgerkrieg. Göttingen 2006; Abel, Werner (Hg.): Die Kommunistische Internationale und der Spanische Bürgerkrieg. Dokumente. Berlin 2010 sowie Schlögel, Terror und Traum; insbes. 136–152.

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zur Kapitulation des republikanischen Spanien Ende April 1938 […] zentrales Thema aller [sowjetischen] Berichterstattung«.104 Die Sowjetunion unterstützte die Republikaner seit September 1936 mit Kriegsgerät, Soldaten, Offizieren, Militärberatern, NKVD -Agenten und Wirtschaftsexperten.105 Sie inszenierte sich als Retter der spanischen Demokratie und gab vor, aus rein humanitären Gründen und Solidaritätsbewusstsein in das Geschehen einzugreifen. Tatsächlich versuchte sie die Gelegenheit zu nutzen, um ihren Einfluss in Europa auszudehnen und gleichzeitig denjenigen der faschistischen Länder, vor allem Deutschlands und Italiens, zurückzudrängen. Staatlich gesteuerte und instrumentalisierte Mitgefühlsbekundungen und Hilfsinitiativen erfassten dabei die gesamte sowjetische Bevölkerung.106 Dass Kinder und Jugendliche von diesen Kampagnen nicht ausgenommen waren, bezeugt eine Flut an Zeitungsberichten, die in den Jahren 1936 und 1937 in der Pionerskaja Pravda (Pionierwahrheit) enthalten sind. Die Artikel informierten die jungen Leser über die Entwicklungen des Bürgerkrieges, aktuelle Kampfhandlungen und -ergebnisse, die Gräueltaten der Faschisten sowie über die Situation der betroffenen Kinder und Jugendlichen vor Ort. Mitunter riefen sie die sowjetischen Pioniere auch zur Unterstützung ihrer spanischen Altersgenossen auf, beispielsweise in Form von Spendensammelaktionen.107 Ende März 1937 erreichte eine Gruppe spanischer Kinder und Jugendlicher nach zehntägiger Schifffahrt den Hafen von Jalta und fuhr von dort aus weiter nach Artek. Die meisten stammten aus Madrid, Valencia, Barcelona, Alicante und waren zwischen sechs und 14 Jahren alt. Einige hatten ihre Eltern im Krieg verloren.108 Ihr Aufenthalt fand breite Erwähnung in den sowjetischen Zeitungen, nicht nur in der Pionerskaja Pravda.109 Über das Zusammentreffen sowjetischer und spanischer Pioniere in Artek wurde sogar ein kurzer Film 104 105 106 107

Ebd., 137. Schauff, Der Spanische Bürgerkrieg, 159 f.; Schlögel, Terror und Traum, 138, 146. Ebd., 138. Proč’ ruki fašistov ot Ispanii! In: Pionerskaja Pravda 106 (1748) vom 6.8.1936, 1; Mitingi solidarnosti. In: Pionerskaja Pravda 106 (1748) vom 6.8.1936, 1; Pomožem detjam geroičeskoj Ispanii. In: Pionerskaja Pravda 126 (1768) vom 16.9.1936, 1; Viva España ­libre! In: Pionerskaja Pravda 134 (1776) vom 2.10.1936, 1; Priežajte k nam! In: Pionerskaja Pravda 134 (1776) vom 2.10.1936, 1; Tak borjutsja pionery Ispanii. In: Pionerskaja Pravda 167 (1809) vom 12.12.1936, 1; Na frontach v Ispanii. In: Pionerskaja Pravda 105 (1923) vom 4.8.1937, 2. 108 Kotov, V lagere sčastlivych, 74–80; Svirina / Šamšina, »Artek« – territorija detstva, 76 f. 109 Tak mnogo interesnogo. In: Pionerskaja Pravda 99 (1917) vom 22.7.1937, 1; Troe s odnoj ulicy. In: Pionerskaja Pravda 101 (1919) vom 26.7.1937, 2; Zdravstvuj Moskva! Ispanskie rebjata priechali iz Arteka. In: Pionerskaja Pravda 111 (1927) vom 16.8.1937, 1; Kotov, V lagere sčastlivych, 74–82; Tajc / Gračev, Artek, 43–47. Auch in späteren Publikationen wird der Besuch der spanischen Pioniere in Artek erwähnt. Siehe Rybinskij, Pionerskaja respublika Artek, 195; Svirina / Šamšina, »Artek« – territorija detstva, 76 f.

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gedreht, der im Mai 1937 in der Reihe Pioneria zu sehen war. Beginnend mit Natur- und Landschaftsaufnahmen (Meer, Wellen, Strand und Berge) wird darin zunächst die idyllische Umgebung des Pionierlagers vorgestellt. Vor diesem Hintergrund tauchen Sequenzen auf, welche die sowjetischen und spanischen Kinder und Jugendlichen gemeinsam beim Ballspielen, Singen und Tanzen zeigen. Der Umgang zwischen ihnen wirkt freundschaftlich ausgelassen und zeugt von gegenseitiger Unterstützung. So sieht man, wie sich die Pioniere beim Erlernen der jeweils anderen Sprache helfen, notfalls auch mit Händen und Füßen.110 Die Botschaft, die hiermit transportiert werden sollte, ist eindeutig: So unterschiedlich die nationalen, sprachlichen und kulturellen Hintergründe der Kinder und Jugendlichen auch waren, schweißte sie der Kampf gegen den Faschismus zusammen. In der Realität gestaltete sich das Zusammenleben zwischen den sowjetischen Pionieren und ihren spanischen Altersgenossen jedoch alles andere als unproblematisch. Wenngleich für Artek keine Archivalien vorhanden sind, die hierüber Aufschluss geben können, zeichnen Berichte über andere Kindereinrichtungen auf der Krim, in denen ebenfalls junge spanische Gäste untergebracht waren, ein differenzierteres Bild. Ihnen zufolge existierten zahlreiche interkulturelle Missverständnisse. Sie kritisierten vor allem das schlechte Benehmen der spanischen Kinder und Jugendlichen, weil sie mit Sachgegenständen nicht sorgsam umgingen, sowie ihr mäkeliges Essverhalten. Einer schlechten Beurteilung unterzogen die Verfasser der Berichte zudem die begleitenden spanischen Krankenschwestern und Betreuerinnen, denen sie vorwarfen, nicht arbeiten zu wollen, schlecht qualifiziert zu sein und dennoch von sowjetischer Seite mit 200 Rubeln bezahlt zu werden.111 Zugleich führte die Anwesenheit der jungen Spanier in Artek den sowjetischen Pionieren erstmalig die Konfrontation zwischen Kommunismus und Faschismus vor Augen und bot ihnen bereits einen »Vorgeschmack« auf das, was wenige Jahre später auch für sie bittere Realität werden sollte. Illustrativ sind die folgenden Aussagen eines zehnjährigen spanischen Jungen und zweier Mädchen, elf und zwölf Jahre alt, die in Artek zu Gast waren: Francisco: In Madrid haben die Faschisten mit Granaten und Bomben viele Häuser zerstört. […] Auch unser Haus ist von einer Bombe zerstört worden, aber dabei kam niemand ums Leben, weil wir uns im Keller versteckt hatten. In Madrid sind noch viele meiner Pionierkameraden. In Artek und Suuk-Su gefällt mir alles. Ich mag die sowjetischen Pioniere, den Pionierleiter, und die Gebäude, den Park und das Meer. Charito: Mir hat sehr gut gefallen, wie die Kinder in der Sowjetunion wohnen. Hier sind die Kinder zufrieden und glücklich. Aber in Spanien ist Fröhlichkeit für die 110 RGAKFD, Film Nr. I-3287. 111 GARF, F. R9228, Op. 1, D 18, Ll. 10, 13 f., 30.

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Kinder wegen der Faschisten nicht möglich. In der Sowjetunion und in Artek gefällt mir alles, alles, alles! Amalia: […] Das Leben in Artek ist gesund und fröhlich. Große Säle, Schlafzimmer mit guten Betten und weichen Matratzen, im Speisesaal weiße Tischdecken und gute Versorgung – unter solchen Bedingungen werden wir wohnen. […] Überall Fröhlichkeit und Sauberkeit […]112

Dass Faschismus mit Angst, Bedrohung, Gewalt, Krieg und Tod einhergeht, war ein Bild, das angesichts massiver medialer Propagandakampagnen über den Spanischen Bürgerkrieg längst in den Köpfen sowjetischer Pioniere verankert war. Die Erzählungen der spanischen Kinder verstärkten es aber insofern, als sie die Geschehnisse unmittelbar selbst erlebt hatten und ihren sowjetischen Freunden aus erster Hand davon berichten konnten. Wie Joan W. Scott dargelegt hat, schätzt die breite gesellschaftliche Masse Erfahrungen von Augenzeugen gemeinhin als authentisch(er) ein, weshalb sie als mächtige Quelle zur Generierung von Wissen gelten können.113 Diesen Effekt wusste man auch damals in der Sowjetunion schon geschickt zu nutzen, trugen die obigen Berichte der spanischen Kinder doch zur Intensivierung des Gegensatzes von »hier« und »dort«, »bei uns« und »bei euch«, »Kommunismus« und »Faschismus« bei. Da ihr Leben von den kriegerischen Auseinandersetzungen in Spanien bedroht war, untermauerten ihre Aussagen die Vorstellung von der besseren Kindheit in der Sowjetunion. Faschismus bedeutete dieser Lesart zufolge Krieg und Gewalt, Hass, Trauer, Chaos und Unordnung, Kommunismus dagegen Frieden, Völkerfreundschaft, Fröhlichkeit, Sauberkeit und Fürsorge. Letztere Eigenschaften, die zum Selbstbild des sowjetischen Staates gehörten, galt es in Artek nicht nur den spanischen, sondern auch den sowjetischen Pionieren zu vermitteln.114 Ob nach den Spaniern noch andere ausländische Gruppen das Lager besucht haben, ist angesichts der defizitären Quellenlage nicht eindeutig feststellbar. Einige Indizien sprechen aber dafür, dass zwischen der zweiten Jahreshälfte 1937 und Juni 1941 lediglich sowjetische Kinder und Jugendliche

112 Kotov, V lagere sčastlivych, 76, 79–81 (Übersetzung aus dem Russischen – K. B.). 113 Scott, Joan W.: The Evidence of Experience. In: Critical Inquiry 17/4 (1991), 775–777, 797. 114 Die Gegenüberstellung von Kommunismus und Faschismus beziehungsweise Kommunismus und Kapitalismus mit Betonung der eigenen Überlegenheit und dem Hinweis darauf, das bessere Gesellschaftssystem etabliert zu haben, findet sich in einer Vielzahl sowjetischer Zeitungen und Zeitschriften der 1920er und 1930er Jahre. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre enthielten diese nicht selten auch Fotos vom Bürgerkrieg in Spanien, notleidenden oder gar getöteten Kindern. Kol’cova, Elizaveta: Bor’ba v Ispanii. Mat’. In: Za sanitarnuju oboronu 1 (1937), 17; Mark, M.: Sanitarnaja pomošč’ ispanskomu narodu. In: Za sanitarnuju oboronu 5 (1938), 14–16.

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nach Artek fuhren.115 Aufschlussreich ist der Fall einer deutschen Emigrantin in der Sowjetunion, Anni Sauer, den Evelin Eichler erwähnt hat. Demnach erhielt Sauer, die 1937 mit Pionieren in Artek arbeiten wollte, kurz vor ihrer Abreise auf die Krim die Mitteilung, dass Ausländer in Artek nicht mehr erwünscht seien116 – eine Entscheidung, die offenbar vor dem Hintergrund des Großen Terrors getroffen worden war. Die Stalinschen Säuberungen scheinen auch vor dem im Lager arbeitenden Personal, insbesondere vor der Leitungsebene, nicht haltgemacht zu haben. Laut einem Artikel im Diletant hat ein NKVD -Mitarbeiter zu Beginn des Sommers 1937 Artek aufgesucht und die Verhaftung einiger Angestellter befohlen. Die Anschuldigungen trafen unter anderem den obersten Pionierleiter, Lev Ol’chovskij, sowie den stellvertretenden Direktor des Lagers, Boris Ovčukov. Ersterer sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, ein Attentat auf Vjačeslav Molotov (1890–1986), den Vorsitzenden des Sovnarkom und zugleich Schutzpatron Arteks117, geplant zu haben. Letzteren erklärte der NKVD -Mitarbeiter zum Anführer einer in Artek ansässigen konterrevolutionären Gruppierung. So widersinnig und haltlos die Verdächtigungen sich heute auch anhören mögen, zogen sie doch ernsthafte Konsequenzen nach sich, da 17 Personen aus dem Komsomol und der Partei ausgeschlossen und 22 Personen angeklagt wurden. Dass ein Gericht alle Betroffenen ein halbes Jahr später von jeglicher Schuld freisprach, war vermutlich Ol’chovskijs Ehefrau zu verdanken. Sie soll sich an die Gattin von Molotov, Polina Žemčužina (1897–1970), gewandt und ihr von den Anschuldigungen gegen ihren Mann berichtet haben. Žemčužina wiederum habe Molotov über den Fall in Kenntnis gesetzt, woraufhin dieser sich der Sache angenommen und sie beendet habe.118

115 Siehe hierzu sämtliche Ausgaben der Zeitungen beziehungsweise Zeitschriften Pionerskaja Pravda sowie Za sanitarnuju oboronu der Jahre 1936 bis 1941, außerdem Kotov, V lagere sčastlivych; Tajc / Gračev, Artek sowie Kolesnikov / Romanov / Smirnov, Artek. 116 Anni Sauer wurde kurz darauf verhaftet und lebte fast 20 Jahre in Lagern und in der Verbannung in Kasachstan. Erst 1957 konnte sie nach Deutschland (DDR) zurückkehren. Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 341. 117 Das Pionierlager Artek trug von etwa Mitte der 1930er Jahre bis 1957 den Namen Molotovs, bis zum Untergang der Sowjetunion dann den Namen Lenins. RGASPI, F. M-2, Op. 1, D. 17, L. 1. 118 Da der Artikel in besagter Zeitschrift weder Angaben zum Verfasser noch zu den Quellen aufweist, ist sein Inhalt nicht verifizierbar. Nakazanie bez prestuplenija. In: Diletant. Istoričeskij žurnal dlja vsech. Specvypusk 5 (2015), 33.

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Internationale Sommerlager

Unter dem Eindruck des Großen Terrors sowie der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit war an internationale Aktivitäten in Artek nicht zu denken, weder auf der Krim noch im Altaigebirge. Dass das Lager bereits 1947 die ersten ausländischen Gruppen, Pioniere aus Polen und der ČSR , empfing,119 mag angesichts der allerorts immer noch desolaten Zustände überraschen, zumal der Spätstalinismus in der historischen Forschung als die isolierteste sowjetische Periode angesehen wird und erst die Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Moskau 1957 den Moment der Wiederöffnung des Landes markieren.120 Nichtsdestotrotz war die Sowjetunion auch am Ende von Stalins Lebzeiten nie vollständig abgeschottet. Unmittelbar nach Kriegsende 1945 knüpfte sie zwar verstärkt Beziehungen zu den sozialistischen Bruderstaaten, vor allem mit Hilfe der sogenannten Freundschaftsgesellschaften.121 Doch kamen nicht nur Besucher aus sozialistischen, sondern vereinzelt auch aus westlichen Ländern in die Sowjetunion. Obgleich die Zahl letzterer nicht einmal annähernd die der frühen 1930er Jahre erreicht hat, befanden sich unter den Gästen durchaus prominente Persönlichkeiten. Im Jahr 1948 ist es John Steinbeck und Robert Capa gelungen, einen Blick hinter den »Eisernen Vorhang« zu werfen. Mit Hilfe von VOKS bereisten sie die Sowjetunion und machten Station in Moskau, Stalingrad, Georgien und der Ukraine.122 Auch das Pionierlager Artek beherbergte seit 1947 wieder alljährlich Kinder und Jugendliche aus dem Ausland, die nicht nur aus sozialistischen, son-

119 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 133, L. 13.  120 Richmond, Yale: Cultural Exchange & the Cold War. Raising the Iron Curtain. University Park, PA 2003, 11–13; Koivunen, The 1957 Moscow Youth Festival, 46. Eine Veranstaltung von ähnlicher Tragweite wie die Weltfestspiele der Jugend und Studenten war die Amerikanische Nationalausstellung, die 1959 im Moskauer Sokol’niki-Park gezeigt wurde und etwa 2,7 Millionen sowjetische Besucher anlockte. Siehe hierzu Reid, Susan E.: Cold War in the Kitchen: Gender and the De-Stalinization of Consumer Taste in the Soviet Union under Khrushchev. In: Slavic Review 61/2 (2002), 211–252; dies.: Who Will Beat Whom? Soviet Popular Reception of the American National Exhibition in Moscow, 1959. In: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 9/4 (2008), 855–904 sowie Richmond, Cultural Exchange & the Cold War, 133–135. 121 Weiterführend hierzu siehe Applebaum, Rachel: The Friendship Project: Socialist Internationalism in the Soviet Union and Czechoslovakia in the 1950s and 1960s. In: Slavic Review 74/3 (2015), 484–507, insb. 486; Behrends, Die erfundene Freundschaft sowie ders.: Agitation, Organization, Mobilization. The League for Polish-Soviet Friendship in Stalinist Poland. In: Apor, Balázs / Apor, Péter / Rees, E. A. (Hg.): The Sovietization of Eastern Europe. New Perspectives on the Postwar Period. Washington, DC 2008, 181–200. 122 Steinbeck, John / Capa, Robert / Urban, Susann: Russische Reise. 2. Aufl. Frankfurt am Main, Wien, Zürich 2011, insb. 26 f.

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dern auch aus westlichen Staaten anreisten, etwa aus Bulgarien, China, Korea, Ungarn, Rumänien und der DDR ebenso wie aus Frankreich und Finnland.123 Eine neue Dimension erlebten Arteks internationale Aktivitäten im Zuge von Nikita Chruščëvs De-Stalinisierungskampagnen, insbesondere seiner Doktrin der friedlichen Koexistenz,124 die auch den Abschluss einer Vielzahl an Vereinbarungen und Abkommen zwischen der Sowjetunion und westlichen Staaten ermöglichte.125 Wenngleich die Archivalien keine Auskunft über die konkreten Erwägungen geben, die hinter der Erklärung Arteks zum internationalen Pionierlager gestanden haben,126 so scheinen sie ähnlich motiviert gewesen zu sein wie die Entscheidung der sowjetischen Parteiführer, die VI. Weltjugendspiele in Moskau auszurichten. Wie Pia Koivunen hierzu festgestellt hat, suchten sie seit der Geheimrede Chruščëvs auf dem XX . Parteitag der KPdSU im Februar 1956 das Image der Sowjetunion im Ausland zu verbessern und der Welt zu zeigen, wie sehr sich das Land im Rahmen der friedlichen Koexistenz der Mächte um Frieden und internationale Freundschaft bemühte. Da der Westen ein ebenso reges Interesse daran hegte zu erfahren, welche Veränderungen das Land seit Stalins Tod erfasst hatten, wurden unzählige Austauschprogramme zwischen Ost und West initiiert.127 123 RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 133, L. 13. 124 Neutatz, Träume und Alpträume, 362 f.; Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion ­1917–1991, 762 f. 125 Einen Überblick über die einzelnen Abkommen liefert Gilburd, Eleonory: The Revival of Soviet Internationalism in the Mid to Late 1950s. In: Kozlov, Denis / Gilburd, Eleonory (Hg.): The Thaw. Soviet Society and Culture during the 1950s and 1960s. Toronto 2013, 362–401. Zum Abkommen mit den USA siehe Hixson, Walter L.: Parting the Curtain. Propaganda, Culture, and the Cold War, 1945–1961. New York, NY 1998, 151–159. 126 RGASPI, F. M-2, Op. 1, D. 17, Ll. 2–4. 127 Koivunen, The 1957 Moscow Youth Festival, 46–48. Der Austausch spielte sich auf drei Ebenen ab. An erster Stelle stand der professionelle Austausch, der vor allem Wissenschaftler, Ingenieure und Ärzte involvierte und der Sowjetunion Einblicke in die technischen und technologischen Neuerungen des Westens verschaffen sollte. An zweiter Stelle folgten Austauschformate für Sportler und Künstler, an dritter Stelle touristische Angebote. Ihre alleinige Existenz darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie oftmals vielmehr unilateralen denn Austauschcharakter besaßen. Während die Sowjetunion 1959 etwa 12.000 US -Amerikaner empfing, reisten im Gegenzug nur 376 Sowjetbürger in die USA . Gould-Davies, The Logic of Soviet Cultural Diplomacy, 207 f. Letztere sahen sich bereits für die Organisation eines Aufenthalts im sozialistischen Ausland mit Restriktionen und bürokratischen Hürden konfrontiert. Für eine Reise in einen westlichen Staat waren die Anforderungen ungleich höher. So blieben Auslandsaufenthalte für die überwiegende Mehrheit der sowjetischen Bevölkerung absolut unerreichbar. Gorsuch, Anne E.: All This Is Your World. Soviet Tourism at Home and Abroad After Stalin. Oxford 2011, 81–85, 111; Orlov, Igor’/Popov, Aleksej: Skvoz’ »železnyj zanaves«. Russo turisto: sovetskij vyezdnoj turizm, 1955–1991. Moskau 2016, 44–60. Zum sowjetischen Auslandstourismus siehe außerdem Tondera, Benedikt: Reisen auf Sowjetisch. Auslandstourismus unter Chruschtschow und Breschnew 1953–1982. Wiesbaden 2019.

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Um zu entscheiden, ob Artek tatsächlich das Potenzial zum internationalen Pionierlager besaß, ist 1956 ein Probedurchgang veranstaltet worden, an dem 210 Kinder und Jugendliche aus elf Ländern, der Mongolei, Finnland, Bulgarien, Belgien, Polen, der ČSR , Jugoslawien, der Bundesrepublik, Frankreich, Ungarn und Österreich, teilnahmen. Da die Lagerleitung, darunter der Direktor Dmitrij Trusevič, ihn als weitgehend positiv befunden hatte und abzusehen war, dass Artek nach Abschluss der Umbaumaßnahmen über ausreichend Kapazitäten verfügen würde, genehmigte das CK des Komsomol in Moskau ihren Antrag und erklärte Artek 1957 offiziell zum internationalen Pionierlager. Konzentriert auf Juli und August fanden seither alljährlich internationale Sommerlager statt – die anderen Monate des Jahres dagegen blieben für Allunions-Durchgänge reserviert.128 Infolgedessen nahm die Zahl ausländischer Kinder- und Jugenddelegationen immer größere Ausmaße an. Für den Sommer 1957 hatte Trusevič in einem Telegramm an das CK des Komsomol vorgeschlagen, jeweils 15 Kinder und einen Pionierleiter aus Albanien, England, Bulgarien, Ungarn, Vietnam, der DDR , Ägypten, Italien, Indien, China, Korea, der Mongolei, Norwegen, Polen, Rumänien, Finnland, der ČSR , Schweden und Jugoslawien einzuladen – insgesamt etwa 300 Personen. Die jungen Gäste sollten zwischen zwölf und 15 Jahren alt sein und im Zuge ihres Aufenthalts in der Sowjetunion 23 Tage in Artek und sieben Tage in Moskau verbringen.129 1966, zehn Jahre nach Einführung der internationalen Sommerlager, wohnten der Veranstaltung bereits 365 Kinder und Jugendliche und 40 Betreuer aus 34 westlichen Staaten sowie 359 Pioniere und 17 Pionierleiter aus zehn sozialistischen Staaten bei. 1974 belief sich die Gesamtbesucherzahl an Ausländern auf 903 Personen, die aus 51 Ländern gekommen waren.130 Offiziell hieß es zwar, dass die Auswahl der Kinder und Jugendlichen, sowohl der aus sozialistischen als auch jener aus westlichen Staaten, unabhängig ihrer politischen oder religiösen Ansichten und Überzeugungen erfolgen sollte.131 Die vom Komsomol erstellten Listen über die potenziell einzuladenden ausländischen Delegationen zeichnen jedoch ein anderes Bild. So finden sich auf ihnen nahezu ausschließlich sozialistische und kommunistische Kinder- und Jugendorganisationen. Ausnahmen stellen lediglich die Länder Afghanistan, Algerien, Kanada und Indien dar, bezüglich derer die dortigen Pfadfinderbewegungen angeführt sind.132 Mit der vornehmlichen Einladung politisch-ideologischer Gleichgesinnter suchten die sowjetischen 128 129 130 131 132

RGASPI, F. M-2, Op. 1, D. 17, Ll. 10–14, 17–30.

Ebd., Ll. 2 f.

RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 590, Ll. 1–5; RGASPI, F. M-2, Op. 2, D. 842, L. 1v. RGASPI, F. M-2, Op. 1, D. 17, L. 10. RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 493, Ll. 34 f.; RGASPI, F. M-8, Op. 1, D. 590, Ll. 1–4; RGASPI, F. M-2, Op. 2, D. 842, Ll. 4 f.; RGASPI, F. M-1, Op. 68, D. 1127s, Ll. 65–69.

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Organisatoren den Import eines »Trojanischen Pferdes«133, sprich: das Risiko unerwünschter, vor allem westlicher, Einflüsse zu minimieren, die von der Anwesenheit entsprechender Gruppen auf die eigenen Pioniere hätten ausgehen können. Auf der Grundlage der angefertigten Listen verschickte der Komsomol Einladungsschreiben an die auserkorenen Organisationen, in denen er sie zugleich über das Programm, das während der internationalen Sommerlager in Artek stattfinden sollte, informierte. Der Charakter dieses alljährlichen Großereignisses deckt sich mit den Beobachtungen Alexei Yurchaks hinsichtlich der Veränderung öffentlicher Rituale. Laut Yurchak oblag die Organisation von Veranstaltungen wie den Maiparaden seit Ende der 1950er Jahre nicht mehr lokalen Sozial-, Kultur- oder Bildungseinrichtungen, sondern der Partei. Da diese zur Planung und Durchführung der Festlichkeiten zentral festgelegte und einheitliche Schemata entwickelt hatte, wiesen die Veranstaltungen zusehends standardisiertere Züge auf.134 Im Zeichen des unter Chruščëv wiederbelebten Internationalismus135 stehend, avancierten Arteks internationale Sommerlager zu riesigen ritualisierten Foren für internationale Freundschaft und Solidarität. Anders als in den 1920er Jahren war der Internationalismus nun nicht mehr auf die Propagierung des Kommunismus, sondern auf Friedensbekundungen ausgerichtet.136 So definierte auch die BSĖ des Jahres 1973 den Begriff sozialistischer Internationalismus als einen neuen Typus internationaler Beziehungen, geformt und entwickelt auf der Basis von Freundschaft, Gleichheit, gegenseitigem Respekt, […] brüderlicher Kooperation, ge133 Die Metapher des Trojanischen Pferdes findet sich bei Reid, Who Will Beat Whom? Soviet Popular Reception of the American National Exhibition in Moscow, 1959, 862 und Koivunen, Overcoming Cold War Boundaries at the World Youth Festivals, 188. 134 Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More, 58 f. 135 Eine hilfreiche Definition und Interpretation des sowjetischen Internationalismus nach Stalin bietet die Studie von Tobias Rupprecht. Grundlegend heißt es hierin, dass »Stalin’s successors announced a return to proletarian (in relation to international communist parties in power) and socialist internationalism (towards the rest of the world), but in fact they did not simply warm up the old model of spreading world revolution and Soviet communism. The Soviet Union after 1953 combined ideas of socialist internationalism of the 1920s with the ›cultural internationalism‹ of the 1950s.« In Anlehnung an Akira Iriye versteht Rupprecht unter cultural internationalism »›attempts to build cultural understanding, international co-operation, and a sense of shared values across national borders through cultural, scientific, or student exchanges‹.« Rupprecht, Tobias: Soviet Internationalism after Stalin. Interaction and Exchange between the USSR and Latin America during the Cold War. Cambridge 2015, 9. Zum socialist internationalism siehe außerdem Babiracki, Patryk / Jersild, Austin (Hg.): Socialist Internationalism in the Cold War. Exploring the Second World. Cham 2016; zum cultural internationalism siehe Iriye, Akira: Cultural Internationalism and World Order. Baltimore, MD 1997. 136 Kelly, Defending Children’s Rights, »In Defense of Peace«, 726.

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genseitiger politischer, ökonomischer, militärischer and kultureller Unterstützung der Nationen und Nationalitäten, die den Weg des Sozialismus eingeschlagen haben.137

Wie Ted Hopf und Pia Koivunen dargelegt haben, wandelte sich nach 1953 das sowjetische Feindbild. Lautete die Devise unter Stalin noch »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, hieß es nach dem Tod des Diktators »Wer nicht gegen uns ist, ist potenziell für uns«, was zunächst vor allem die Beziehungen zu Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika intensivierte, später aber auch jene zu den USA .138 Koivunen zufolge resultierte daraus die Vorstellung vom »potenziellen Freund«.139 Bezogen auf Artek erklärt diese Entwicklung, weshalb der Komsomol ausländische sozialistische beziehungsweise kommunistische Kinder- und Jugendorganisationen in das Lager auf der Krim einlud, auch wenn sie in westlichen Staaten angesiedelt waren und hinsichtlich ihres ideologischen Gehalts kaum mit dem der sowjetischen Pionierorganisation zu vergleichen waren. Die internationalen Sommerlager standen in der Regel unter einem konkreten Motto oder erinnerten an wichtige historische Ereignisse. Die Jahre 1969 und 1970 waren dem 100. Geburtstag Lenins gewidmet. 1975 gedachte die Veranstaltung unter der Losung Saljut, Pobeda! (Salut, Sieg!) dem 30. Jahrestag des Kriegsendes und dem Sieg über den Faschismus. 1977 lautete die Devise Pust’ vsegda budet solnce (Immer lebe die Sonne)  und würdigte den 60. Jahrestag der Oktoberrevolution.140 Wenngleich nicht alle Mottos einen expliziten Bezug zur Förderung der internationalen Freundschaft, des Friedens und der Solidarität herzustellen schienen, so bildeten entsprechende Bekundungen stets einen integralen Bestandteil im Alltag der Sommerlager. Im Rahmen riesiger Diskussionsveranstaltungen versammelten sich sämtliche Delegationen im Stadion Arteks, wo einige ausgewählte Vertreter Reden hielten, in denen sie ihren Altersgenossen aus aller Welt von den Anstrengungen berichteten, die sie in ihren Heimatländern zur Sicherung einer friedlichen Zukunft unternahmen, und sie aufforderten, es ihnen gleichzutun. In den 1960er und 1970er Jahren standen insbesondere die Ereignisse in Vietnam und Chile im Fokus der Aufmerksamkeit.141 Obschon es einigen jungen 137 Kaltachčjan, S.: Internacionalizm. In: Prochorov, A. (Hg.): Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklo­ pedija. 3. Moskau 1972, 330 f. (Übersetzung aus dem Russischen – K. B.). 138 Hopf, Ted: Reconstructing the Cold War. The Early Years, 1945–1958. Oxford 2012, 199. 139 Koivunen, Pia: Friends, »Potential Friends,« and Enemies: Reimagining Soviet Relations to the First, Second, and Third Worlds at the Moscow 1957 Youth Festival. In: Babiracki, Patryk / Jersild, Austin (Hg.): Socialist Internationalism in the Cold War. Exploring the Second World. Cham 2016, 219–247. 140 RGASPI, F. M-2, Op. 2, D. 448, L. 1; RGASPI, F. M-2, Op. 2, D. 908, Ll. 22 f.; RGASPI, F. M-1, Op. 68, D. 1127s, L. 73. 141 SAPMO BArch, DY 25/2224 (o. S.); Interview mit Gisela 5.3.2015.

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Teilnehmern gelang, ihr Publikum mit wahrlich kämpferischer Rhetorik zu beeindrucken, trugen die Veranstaltungen insgesamt so stark ritualisierten Charakter, dass sie nicht über Lippenbekenntnisse hinausgingen. Politisch-ideologische Diskussionen wie diese machten allerdings nur einen kleinen Teil des Programms der Sommerlager aus. Zum Beschäftigungsrepertoire gehörten außerdem Treffen mit sowjetischen Arbeitern, Wissenschaftlern und Seemännern, Exkursionen entlang der Südküste der Krim, Bootsausflüge auf dem Schwarzen Meer, Wanderungen im Krimgebirge, Besuche von Fabriken und Landwirtschaftsbetrieben sowie von Schlachtfeldern und Gedenkstätten des Großen Vaterländischen Krieges in der näheren Umgebung. Im Rahmen sogenannter Tage der Völkerfreundschaft oder Abende der Freundschaft am Lagerfeuer lernten die jungen ausländischen Gäste Pionierlieder und studierten Volkstänze ein, um sich mit dem Leben, der Kultur und den Traditionen der Sowjetunion vertraut zu machen, hatten zugleich aber auch die Möglichkeit, ihr Heimatland vorzustellen. Eine maßgebliche Rolle spielte auch der Sport, vor allem Leichtathletik, Schwimmen, Volleyball und Tischtennis sowie Schach. Den Höhepunkt stellten die lagereigenen »Olympischen Spiele« dar, ein Sportwettkampf, an dem alle Delegationen zur Teilnahme aufgefordert waren. Einen der letzten große Höhepunkte vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion bildete das internationale Sommerlager von 1983, das unter dem Eindruck des verstärkten militärischen Aufrüstens des Warschauer Paktes seit Ende der 1970er Jahre, des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan und des NATO -Doppelbeschlusses stand. Zu einem beispiellosen PropagandaCoup sowohl für die USA als auch für die Sowjetunion geriet der Besuch eines zehnjährigen US -amerikanischen Mädchens namens Samantha Smith, das im Sommer 1983 nach Artek gefahren ist. Ihren Ausgang hatte die Reise mit einem Brief genommen. Samantha, die aus dem US -Bundesstaat Maine stammte, war angesichts der tagesaktuellen Nachrichten über Raketen, Nuklearwaffen und der Bedrohung durch einen Atomkrieg sehr besorgt gewesen und hatte im Dezember 1982 den Entschluss gefasst, Jurij Andropov einen Brief zu schreiben und ihn zu fragen, wer die Verantwortung für all die Verunsicherungen trug:142 Dear Mr. Andropov, My name is Samantha Smith. I am ten years old. Congratulations on your new job. I have been worrying about Russia and the United States getting into a nuclear war. Are you going to vote to have a war or not? If you aren’t please tell me how you are going to help to not have a war. This question you do not have to answer, but I would like to 142 Samantha Smith Foundation: History. Samantha Reed Smith. URL: http://www.samantha​ smith.info/index.php/history (am 6.9.2016).

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know why you want to conquer the world or at least our country. God made the world for us to live together in peace and not to fight. Sincerely Samantha Smith.143

Nicht nur wurde ihr Schreiben einige Monate später in der Pravda (Wahrheit) veröffentlicht. Samantha erhielt auch eine Antwort von Jurij Andropov persönlich, in der er ihr versicherte, dass die Sowjetunion keinen Krieg wolle und alles dafür tue, den Frieden auf der Welt zu erhalten. Zudem schlug er ihr vor, zusammen mit ihren Eltern in die Sowjetunion zu kommen, um sich selbst ein Bild von den Geschehnissen und Entwicklungen im Land zu machen.144 Daraufhin brach Samantha mit ihren Eltern im Juli 1983 zu einer zweiwöchigen Reise auf, die sie nach Moskau, Leningrad und ins Pionierlager Artek führte. Auch wenn Andropov Samantha und ihre Eltern nicht persönlich empfing, verfolgten sowjetische und ausländische Medienvertreter ihre Reise mit höchster Aufmerksamkeit. Ein Video, das ein US -amerikanisches Film-Team gedreht und alle Stationen ihres Aufenthalts festgehalten hat, vermittelt einen Eindruck davon, wie groß das Interesse an ihrer Person war, auf US -amerikanischer ebenso wie auf sowjetischer Seite. Die Familie ist ständig von Übersetzern und Medienvertretern umringt, wirkt mitunter müde und erschöpft, da die Reise aus einer Vielzahl festgelegter Programmpunkte und Sehenswürdigkeiten bestand.145 Während die Sowjetunion sich ein friedliebendes Image geben wollte, versuchten die USA zu zeigen, dass der Alltag sowjetischer Kinder in erster Linie durch Zwang geprägt ist. Um der vermeintlichen Sowjet-Propaganda entgegenzuwirken, griffen sie zum Bild des sowjetischen »Roboter-Kindes«, das als Negativ-Pendant zum freiheitlich erzogenen US -amerikanischen Kind fungierte.146 So weist der Kommentator des US -amerikanischen Kamerateams, das die Familie begleitete, während des Films wiederholt daraufhin, dass viele Programmpunkte von den »Sowjets« gezielt inszeniert worden seien, um die Zuschauer für die sowjetische Propaganda zu sensibilisieren. Als Pioniere in Artek für Samantha eine Tanzaufführung darbieten, erklärt er, dass dieselben Kinder und Jugendlichen kurz zuvor noch ein militärisches Training mit Schießübungen hätten absolvieren müssen.147 143 Dass.: History. Samantha’s Letter. URL : http://www.samanthasmith.info/index.php/ history/letter (am 6.9.2016). 144 Dass., History. Samantha Reed Smith; dass., History. Samantha’s Letter. 145 Maine Broadcasting System: Samantha and the Soviets 1983. URL : https://www.youtube. com/watch?v=5OfFodDS1P0 (am 7.9.2016). 146 Peacock, Margaret: Innocent Weapons. The Soviet and American Politics of Childhood in the Cold War. Chapel Hill, NC 2014, 51–58. 147 Maine Broadcasting System, Samantha and the Soviets.

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Samanthas Besuch ist ein illustratives Beispiel dafür, wie die Sowjetunion und die USA den Wettkampf der Systeme im kulturellen Bereich ausfochten. Propagandistisch vereinnahmt wurde das Mädchen von beiden Seiten, um der jeweiligen Bevölkerung zu suggerieren, im besseren Land zu leben, sie zu treuen Anhängern des eigenen Gesellschaftssystems und zu Gegnern des anderen zu erziehen. Bis heute hat Samanthas Aufenthalt seinen festen Platz in der Geschichte Arteks. Nach ihrem Unfalltod infolge eines Flugzeugabsturzes am 25. August 1985 wurde im Teillager Meer eine Allee nach ihr benannt und ein Gedenkstein für sie errichtet.148 Was Samantha Smith für die USA war, war Ekaterina (Katja) Lyčëva (*1974) für die Sowjetunion: eine junge Friedensbotschafterin. Katja Lyčëva, die eine Schule mit Englisch-Profil besuchte, spielte zwischen 1982 und 1985 zunächst in mehreren sowjetischen Filmen mit und war im Klub der internationalen Freundschaft (Klub internacional’noj družby  – KID149) am Moskauer Pionierpalast aktiv. Vom 21. März bis zum 4. April 1986 weilte sie in den USA, nachdem sie von der US -amerikanischen Organisation Children as the Peacemakers unter mehreren Tausend Kindern auserwählt worden war.150 In den späten 1980er Jahren entwickelten sich ausgehend von den Besuchen Samantha Smiths in der Sowjetunion und Katja Lyčëvas in den USA neue Austauschformate in Artek, die angesichts des Zusammenbruchs des Landes kurz danach aber nicht von Dauer waren. So sind noch im Sommer 1988 insgesamt 100 Schüler aus 20 US -Bundesstaaten in das Lager auf der Krim gereist. Sie hatten zuvor an einem Wettbewerb mit dem Titel Warum ich nach »Artek« fahren will teilgenommen und waren als Sieger mit einer putëvka ausgezeichnet worden.151

148 Gestorben: Samantha Smith. In: DER SPIEGEL 36 vom 2.9.1985, 220. URL : http://maga zin.spiegel.de / EpubDelivery / spiegel / pdf/13514451 (am 6.9.2016); Oni videli »Artek«, 32; Svirina / Šamšina, »Artek« – territorija detstva, 97. Nach ihrer Reise in die Sowjet­ union war Samantha Smith als Friedensbotschafterin und Schauspielerin aktiv. Siehe hierzu Samantha Smith Foundation: History. Speech in Kobe, Japan. URL : http:// samantha​smith.info/index.php/history/kobe-japan (am 9.9.2016) sowie dass.: History. Lime Street (1985). URL: http://www.samanthasmith.info/index.php/history/lime-street (am 28.4.2018). 149 Ausführlicher zum KID siehe Nagornaja, O. / Popov, A. / Raeva, T.: Detskoe obajanie v arsenale sovetskoj kul’turnoj diplomatii. In: Nagornaja, O. (Hg.): Sovetskaja kul’turnaja diplomatija v uslovijach Cholodnoj vojny. 1945–1989. Kollektivnaja monografija. Moskau 2018, 374–384. 150 Ebd., 388 f. 151 Ebd., 371.

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Destabilisierung der Ordnung

Pädagogische Vorstellungen Internationale Begegnungen wie diese stellten grundsätzlich ein heikles Unterfangen dar. So wohl durchdacht die Präventivmaßnahmen der Lagerdirektion zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse und ideologischer Konfrontationen in Artek auch waren: Die eigensinnigen Interessen von jungen Menschen unterschiedlichster Herkunft und Couleur machten ihnen regelmäßig einen Strich durch die Rechnung. Schon die Berichte über die internationalen (Probe-)Sommerlager von 1956 und 1957, die für das CK des Komsomol in Moskau verfasst worden sind, führen vor Augen, dass gegenseitiges Unverständnis, Fehldeutungen und Affronts alles andere als selten waren. Da ihre Autoren jede einzelne ausländische Delegation genauer unter die Lupe genommen, besondere Auffälligkeiten und Vorkommnisse umfassend beschrieben haben, erlauben die Berichte faszinierende Einblicke in Arteks multinationales Zusammenleben.152 Auf heftige Kritik stießen vor allem das Benehmen und Verhalten einiger Kinder und Jugendlicher. Vorwürfe ernteten beispielsweise die Gruppen aus der Bundesrepublik und Österreich, weil sie während eines Ausfluges auch nach mehrfachen Aufforderungen einer sowjetischen Pionierleiterin ihr Geschirr und Besteck nicht aufräumten, sondern es auf einer Lichtung zurückließen. Erst als sie sahen, dass sowjetische Pioniere anfingen, den Platz zu säubern, reagierten sie und halfen, Ordnung zu schaffen. Ähnliche Anschuldigungen, wonach die jungen Gäste keine Anstalten machten, nach dem Essen aufzuräumen, ihre Betten aufzuschütteln, ihre Kleidung zu bügeln oder Knöpfe anzunähen, wurden allen ausländischen Delegationen zuteil, unabhängig davon, ob sie aus westlichen oder sozialistischen Ländern stammten. Dass im Gegenzug nicht nur sowjetische Mädchen, sondern auch Jungen zu diesen Arbeiten fähig gewesen sein sollen, ist zwar mehr als zweifelhaft. Doch handelte es sich hierbei um ein geläufiges Propagandamotiv. Sowjetische Lehrer und Pionierleiter hielten ihrer Schützlinge stets dazu an, selbst aktiv zu werden und Dinge anzupacken. Ein illustratives Beispiel hierfür ist der Dialog zwischen einem sowjetischen Pionier und seinem französischen Altersgenossen in Artek, in dem ersterer letzterem erklärte, dass das russische Verb otdychat’sja (sich erholen) nicht nur bedeute, in der Sonne zu liegen und im Meer zu baden, sondern auch physische Arbeit beinhalte.153 Wie es in einem deutschsprachigen Heft über das Lager heißt, war Artek »kein Platz für Menschen, die die Arbeit scheuen. ›Alles tu selbst und warte nicht auf die Kinderfrau‹« lautete das Motto des Lagers.154 152 RGASPI, F. M-2, Op. 1, D. 17, Ll. 17–30, 32–51. 153 Ebd., L. 18; Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 345 f. 154 Furin / Rybinskij, Das Pionierlager Artek, 11.

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Missbilligung fanden hin und wieder auch die Erziehungsmethoden der ausländischen Gruppenleiter, etwa der aus sowjetischer Sicht viel zu liebevolle Umgang eines belgischen Kollegen mit seinen Kindern. Angesichts der auf Strenge und Disziplin ausgerichteten sowjetischen Erziehung trafen Gesten wie das liebevolle Küssen oder das Streicheln des Kopfes eines Kindes auf weitgehendes Unverständnis.155 Ebenso negativ nahm die Lagerdirektion die auf Freiheit beruhende Pädagogik zahlreicher Delegationen wahr, darunter jener aus Jugoslawien, der Bundesrepublik, Österreich, Schweden und Belgien, weil sie den Kindern und Jugendlichen alle Entscheidungen überlassen und dadurch angeblich anarchistische Zustände befördert hätten. So heißt es in Bezug auf die jugoslawische Gruppe: Die Erziehungsprinzipien […] der Leiter führen zur völligen »Freiheit«, d. h. unserem Verständnis nach zur völligen Anarchie in der Seele des Kindes. Dieses Prinzip drückte sich auch in [ihrem] Verhalten in Artek aus. Sie kamen 45 Minuten lang nicht aus dem Wasser, hatten schmutzige Sportsachen an, zeigten schlechte sportliche Resultate, kannten wenige Lieder usw. […] In allen Gesprächen äußerte sich Betroffenheit hinsichtlich des Bruchs von 1948, sehr schlecht sprachen sie über I. V. Stalin, viel zu übermäßig lobten sie […] Tito, hielten ihn für einen »zweiten Lenin« […].156

Aus sowjetischer Perspektive erzielte »pädagogische Freiheit« keine positiven Ergebnisse. Stattdessen führte sie zu schlechtem Betragen und ließ die physischen und psychischen Fähigkeiten der Kinder verkümmern. Anders als in Westeuropa und den USA, wo das Konzept der »freiheitlichen Erziehung« bereits größere Anhängerschaft gefunden hatte, orientierte sich die sowjetische Pädagogik der Chruščëv-Ära immer noch weitgehend an Theorien, die mehrheitlich im späten 19. Jahrhundert oder in der frühsowjetischen Periode formuliert worden waren. Bei den pädagogischen Lehrbüchern der damaligen Zeit handelte es sich Catriona Kelly zufolge lediglich um geringfügig veränderte stalinistische Vorgängerversionen. Insgesamt blieb die sowjetische Pädagogik lehrerzentriert und verlangte von den Schülern nach wie vor ein hohes Arbeits- und Lernpensum.157 Zudem erwartete sie von Kindern und Jugendlichen, dass sie sich in (Selbst-)Disziplin übten und ihre eigenen Interessen zugunsten des Kollektivs unterordneten.158 155 RGASPI, F. M-2, Op. 1, D. 17, Ll. 24 f. Hier zeitigten offenbar immer noch die aufklärerischen Hygienekampagnen der frühen 1920er Jahre ihre Wirkung. Damals existierten Propagandaposter, um Mütter davon abzuhalten, ihre Babys auf den Mund zu küssen, weil diese Geste im Verdacht stand, Krankheiten zu übertragen. Kelly, Children’s World, 325. 156 RGASPI, F. M-2, Op. 1, D. 17, Ll. 23 f. (Übersetzung aus dem Russischen – K. B.). 157 Kelly, Children’s World, 150. 158 Weiterführend zur Beziehung zwischen dem sowjetischen Kollektiv und dem Individuum siehe Kharkhordin, The Collective and the Individual in Russia.

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Obendrein erwies sich die überschwängliche Lobpreisung Titos seitens der jugoslawischen Gruppe als politisch heikel, da sie an den Grundfesten der sowjetischen Vormachtstellung rüttelte, wonach Tito keinesfalls ein »zweiter Lenin« sein konnte. Dass Chruščëv Stalin in seiner Geheimrede im Februar 1956 diskreditiert hatte, also etwa ein halbes Jahr, bevor die jungen Jugoslawen in Artek eintrafen, bedeutete nicht, dass öffentliche Kritik am sowjetischen System oder an der Person Stalins erwünscht war, zumal sie grundsätzlich eine Gefahr für die sowjetische Autorität und die innere Ordnung des Lagers darstellte. Demgegenüber haben die Delegationen aus sozialistischen Bruderländern weitaus positivere Charakteristiken erhalten. Sie galten gemeinhin als besser vorbereitet, wissbegieriger und gehorsamer – eine Interpretation, die offensichtlich ideologisch motiviert war und es den Verfassern der Berichte zugleich erlaubte, beim CK des Komsomol in Moskau die bessere Wirksamkeit der sozialistischen Pädagogik zu unterstreichen und sich für das eigene Tun und Handeln Rückendeckung zu verschaffen.159 Kritik sahen sich aber auch die sowjetischen Pioniere ausgesetzt. Beschämt musste die Lagerdirektion nämlich feststellen, dass einige ihrer Schützlinge den ausländischen Gästen gegenüber arrogant aufgetreten waren und sich despektierlich geäußert hatten. So fühlten sich die ungarischen Pioniere beleidigt und erniedrigt, als ihnen ihre sowjetischen Altersgenossen vorwarfen, dass das sowjetische Volk sehr stark sei, das Land Ungarn dagegen ohne sowjetische Hilfe nicht existieren könne und sowjetische Fußballer bedeutend besser spielen würden als ungarische.160 Was auf den ersten Blick wie eine typische Auseinandersetzung unter Kindern und Jugendlichen anmutet, war nicht zuletzt das Produkt der Erziehung zum Sowjetpatriotismus und zur Liebe zur sozialistischen Heimat. In diesem konkreten Fall zeigte sich, dass die beharrliche Betonung der sowjetischen Überlegenheit und Vormachtstellung dem Land auch zum Verhängnis werden und seinem Ansehen schaden konnte. Anstatt mit der erhofften Anerkennung werden die jungen Ungarn ihren sowjetischen Altersgenossen wohl eher mit Ablehnung begegnet sein. Wettbewerbe Interkulturelle Missverständnisse traten zudem während der unzähligen Wettbewerbe zutage, die einen integralen Bestandteil im Tagesablauf bildeten. Wie Katalin Miklóssy und Melanie Ilič demonstriert haben, war und ist Wettbewerb nicht nur die treibende Kraft im Kapitalismus. Wettbewerb existierte ebenso in sozialistischen Gesellschaften, besaß hier jedoch andere Ausprägungen und folgte einer anderen Logik. Schon Lenin glaubte, dass 159 RGASPI, F. M-2, Op. 1, D. 17, Ll. 21–23, 41. 160 Ebd., L. 22.

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Wettbewerb ein Mittel sei, durch das Arbeiter dazu gebracht werden könnten, ohne jegliche Kontrolle enthusiastisch ihre Aufgaben zu erfüllen, da er es ihnen erlaube, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und dadurch Talente zum Vorschein bringe, die vom Kapitalismus unterdrückt würden. Den bolschewistischen Revolutionären zufolge steigerte Wettbewerb die wirtschaftliche Produktion und Produktivität und galt als Voraussetzung für die Errichtung der idealen kommunistischen Gesellschaft. In Kontrast zu seinem kapitalistischen Gegenstück war der sozialistische Wettbewerb angeblich rein und uneigennützig. Anstelle individueller oder egoistischer Freuden, Vergnügen und Interessen standen jene im Mittelpunkt, die dem Nutzen und Wohle der gesamten Gesellschaft dienten.161 Dass die Sowjetunion vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West162 nicht nur um Hegemonie im militärischen, sondern auch im ideologischen Sektor rang, offenbart sich an den in Artek veranstalteten Wettbewerben, die auf allen erdenklichen Ebenen zwischen den verschiedenen Delegationen stattfanden. Grundsätzlich konnte jeder noch so vermeintlich nichtige Aspekt im Tagesablauf des Lagers zum Gegenstand eines Wettstreits erhoben, gemessen und dann zur Evaluierung des Verhaltens und der Leistungen einer Gruppe herangezogen werden. Um zu gewährleisten, dass die Sowjetunion überwiegend als Sieger hervorgehen würde, nahmen an den internationalen Sommerlagern in der Regel nur die allerbesten sowjetischen Pioniere teil. Infolgedessen geriet die Veranstaltung zu einer Bühne sowjetischer Selbstdarstellung – eine Entwicklung, die auch im Ausland wahrgenommen wurde, insbesondere in den sozialistischen Bruderstaaten. So sind die Teilnehmer einer Sekretariatssitzung der Pionierorganisation »Ernst Thälmann« in der DDR zu dem Schluss gelangt, dass längst nicht alle Kinder, die im Sommer 1963 nach Artek geschickt worden waren, die hohen Anforderungen des Lagers erfüllen konnten. Fünf Jahre später stand dieses Problem erneut auf der Agenda einer Sitzung. Hierbei erklärte ein Pionierleiter, dass es nicht mehr möglich sei, einen Wettbewerb mit »normalen« Pionieren zu gewinnen. Aus diesem Grund empfahl er, künftig in erster Linie nach Kindern und Jugendlichen Ausschau zu halten, die bereits Wettbewerbe auf Kreis-, Bezirks- oder Republiksebene gewonnen hatten.163

161 Miklóssy, Katalin / Ilič, Melanie: Introduction. Competition in State Socialism. In: Miklóssy, Katalin / Ilič, Melanie (Hg.): Competition in Socialist Society. London, New York, NY 2014, 1 f. 162 Zu den sowjetischen Anstrengungen, um den »Westen einzuholen und zu überholen«, wie Chruščëv es genannt hat, siehe Scherrer, Jutta: ›To Catch Up and Overtake‹ the West. Soviet Discourse on Socialist Competition. In: Miklóssy, Katalin / Ilič, Melanie (Hg.): Competition in Socialist Society. London, New York, NY 2014, 10–22. 163 SAPMO BArch, DY 25/963 (o. S.); SAPMO BArch, DY 25/2224, (o. S.).

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Aussagen wie diese machen deutlich, dass die sozialistischen Länder die internationalen Sommerlager ebenfalls als Gelegenheit zur Selbstdarstellung wahrnahmen, um andere Staaten und vor allem den »Großen Bruder« zu beeindrucken. Deshalb kamen die Auserkorenen jungen Diplomaten gleich, die die verantwortungs- und ehrenvolle Aufgabe besaßen, ihr Land bestmöglich zu repräsentieren. Für Kinder- und Jugendorganisationen aus westlichen Staaten spielten solche Fragen dagegen kaum eine Rolle. Anders als jene aus sozialistischen Ländern hatten die Kinder und Jugendlichen hier in der Regel keinen strengen Auswahlprozess durchlaufen und galten nicht als offizielle Repräsentanten ihres Staates, selbst dann nicht, wenn sie formal zu einer politischen Partei gehörten. So stand die bundesdeutsche Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken164 hinsichtlich ihrer politischen Ansichten zwar der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) nahe. Sie war jedoch eine unabhängige Jugendorganisation, die den Sozialismus nicht als dogmatisch erachtete. Peter, ein ehemaliges Falkenmitglied, das 1977 als Leiter eine Gruppe nach Artek begleitet hat, erwähnte im Interview, dass seine Organisation einen anderen Auswahlprozess betrieb, um potenzielle Kandidaten zu finden. Da die Falken sich aus konstanten lokalen Gruppen zusammensetzten, die über ganz Deutschland verteilt waren, wählte der Vorstand jedes Jahr eine oder zwei von ihnen aus, die in die Sowjetunion reisen durften. Besondere Leistungen und Talente mussten die Auserkorenen nicht vorweisen. Peters Delegation bestand aus fünf Gelsenkirchener Jungen und fünf Mädchen. Die Mehrheit von ihnen besuchte eine Hauptschule, ein Jugendlicher ging auf eine Gesamtschule, ein Junge auf eine Sonderschule. Niemand von ihnen war vorher im Ausland gewesen. Bemerkbar machte sich dieser Umstand in Artek insofern, als die Wettbewerbe ein deutliches Ungleichgewicht erkennen ließen, wie Peter sagte: […] Wir [sind] in Artek nur mit Elitekindern zusammengetroffen. Da sind Welten aufeinandergeprallt. M. [ein Mädchen der Gruppe] musste einmal an einem Quiz teilnehmen. Sie wusste aber nicht, wer Rembrandt ist. Und der Dolmetscher, ein lieber netter Mensch, hat dann wahrscheinlich so übersetzt, dass nicht auffiel, dass sie es nicht wusste. Und so hat sie bei dem Wettbewerb den ersten Preis gewonnen.165

Die Diskrepanz, die bezüglich des Leistungsvermögens zwischen Kindern und Jugendlichen aus sozialistischen und westlichen Ländern bestand, hatte zum einen zur Folge, dass die Wettbewerbe überwiegend zwischen den Ost164 Die Falken existieren bis heute. Siehe die offizielle Website der Organisation Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken: Startseite. URL: http://www.wir-falken.de/index. html (am 24.10.2017). 165 Interview mit Peter 4.4.2017.

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blockstaaten ausgefochten wurden.166 Zum anderen beschworen sie kuriose und paradoxe Situationen herauf. Damit niemand der ewige Verlierer war und Beeindrucken nicht zu Erniedrigen geriet, mussten die sowjetischen Gastgeber zu außergewöhnlichen Maßnahmen greifen und auch dann Sieger küren, wenn hierzu eigentlich keine Berechtigung vorlag. Darüber hinaus zeigte sich Peter erstaunt darüber, dass »es […] nichts gab, was man einfach so macht [oder] weil es Spaß macht, sondern immer alles in Wettbewerbe eingekleidet gewesen« war.167 Wie seine Aussage demonstriert, war Artek auch in den späten 1970er Jahren noch ein Ort, an dem das eigentümliche sowjetische Verständnis von (Jugend-)Tourismus als einer rationalen und sinnvollen Freizeitaktivität, dessen Ursprünge in die 1920er und 1930er Jahre zurückreichen, Gültigkeit besaß.168 Da die Kinder und Jugendlichen erfinderisch waren und Regeln, deren Sinn sie nicht nachvollziehen konnten, auszuhebeln wussten, gelang es ihnen vielmals, die an sie gestellten Anforderungen geschickt zu umgehen. Hierbei scheinen Delegationen aus westlichen Ländern mit weitaus größerem Unverständnis und Verweigerung reagiert zu haben als jene aus sozialistischen Staaten. Monika, ein Falkenmitglied, das Artek als 14-Jährige im Sommer 1978 besucht hatte, hob im Interview hervor, dass ihrer Gruppe unentwegt positive oder negative Bewertungen für ein bestimmtes Verhalten oder Fehlverhalten zuteilwurden, beispielweise für das Aufräumen ihres Schlafraums, ordentlich zurechtgemachte Betten oder das Marschieren in Formation zum Speisesaal. Monikas sowjetische Pionierleiterin bestand darauf, dass sie und die anderen täglich mehrere wettbewerbsartige Aufgaben erfüllten, denen die Gruppe jedoch häufig nicht nachzukommen bereit war, wie Monika im Interview deutlich machte: Sie hat uns voll genervt. Ich vermute, dass sie Stress bekommen hat, weil ihre Delegation gemacht hat, was sie will. Und wir haben dann […] für uns beschlossen […]: Wir machen das jetzt einmal, um zu zeigen, dass wir können, wenn wir wollen […] Die Betten [waren] ordentlich, alles ganz ordentlich, wir haben gesungen, wir sind marschiert […], wir haben den Pokal gewonnen und den nächsten Tag haben wir

166 Auch die Weltfestspiele der Jugend und Studenten sahen sich mit diesem Problem konfrontiert. Pia Koivunen zufolge bestand ihr offizielles Ziel zwar darin, Frieden zu propagieren, Freundschaft und politische Beziehungen zu knüpfen. Doch nutzten die Sowjetunion und die sozialistischen Bruderländer die Festivals, um im Rahmen der kulturellen Wettbewerbe ihre Überlegenheit zu demonstrieren und die anderen Teilnehmer zu beeindrucken. Wie Koivunen dargelegt hat, existierte hier ebenso »a significant gap between the contestants from socialist and capitalist countries.« Koivunen, The World Youth Festival as an Arena of the ›Cultural Olympics‹, 132 f., 135. 167 Interview mit Peter. 168 Koenker, Club Red, 4, 7, 15.

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wieder gemacht wie immer […] Uns war einfach wichtig, damals als Teenies, wenn wir wollen, können wir, aber wir finden das eigentlich blöd.169

Wie an Monikas Aussage deutlich wird, war das Aufstellen von Regeln in Artek eine Sache, ihre Umsetzung jedoch eine andere. Sowjetische Pionierleiter und Dolmetscher, die die Lagerdirektion jeder ausländischen Delegation zusätzlich zu den eigenen Betreuern zuteilte, hatten nicht nur Mühe und Not, die ihnen unterstehenden Schützlinge von der Sinnhaftigkeit ihrer Anforderungen zu überzeugen, sondern mussten auch Kompromisse finden und ihre Ansprüche aufgeben, sofern sie allen eine angenehme Atmosphäre bereiten wollten. Fragen des Aussehens: Mode und Make-up Zu einer weiteren Herausforderung für Artek geriet das Interesse (ausländischer) Mädchen an Mode und Make-up, das die Lagerleitung zu unterbinden versuchte.170 Fragen des Aussehens sind in der Sowjetunion bereits in den 1920er Jahren im Zuge der NĖP diskutiert worden, als die Parteiführer in Modefragen Askese propagierten und alle Anzeichen eines »bourgeoisen Looks« wie beispielsweise High Heels verurteilten. Komsomolaktivisten waren damals angehalten, sich die Arbeiterklasse zum Vorbild zu nehmen. Mit dem entsprechenden Outfit sollte die Zugehörigkeit zu einem Staat unterstrichen werden, der von sich behauptete, von der Arbeiterklasse regiert zu werden.171 Unter Stalin erwies sich der Umgang hinsichtlich Modefragen ambivalent. Zwar wurden Sowjetbürger durchaus ermutigt, sich an als »bourgeois« geltenden Konsumgütern wie Kleidern, Armbanduhren oder Lippenstift zu erfreuen. Doch sollte dieses Vergnügen nicht der Erfüllung egoistischer Ziele wie der Erhöhung des sozialen Prestiges oder der Förderung der Karriere dienen, sondern Ausdruck eines kultivierten Lebensstils oder eine Belohnung für harte Arbeit sein.172 Als die sowjetische Jugend in der Nachkriegszeit verstärkt ausländische Radiosender173 zu hören und ein größer werdendes Interesse an Musik, Film, Tanz und Mode aus dem Westen zu entwickeln begann, gerieten Fragen des

169 Interview mit Monika 5.4.2017. 170 RGASPI, F. M-2, Op. 1, D. 17, Ll. 27, 42. 171 Lebina, Natalija: Sovetskaja povsednevnost’: normy i anomalii. Ot voennogo kommunizma k bol’šomu stilju. Moskau 2015, 143 f. 172 Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More, 168 f. 173 Zur Bedeutung des Radios und der ambivalenten Rolle, die es in der Sowjetunion spielte, siehe Lovell, Stephen: Russia in the Microphone Age. A History of Soviet Radio, 1919– 1970. Oxford 2015.

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Aussehens erneut auf die politische Agenda.174 Dass die Haltung der sowjetischen Führung gegenüber ausländischen Einflüssen paranoid und paradox zugleich war, machte es alles andere als einfach herauszufinden, welche Aspekte erwünscht und welche unerwünscht waren. Während Kosmopolitismus als Produkt des westlichen Imperialismus galt, das den Lokalpatriotismus der Völker der Welt zu unterminieren und dadurch ihre nationale Souveränität zu schwächen suchte, wurden internationalistische Einflüsse als positiv und bereichernd angesehen.175 Dass Konflikte dieser Art in Artek regelmäßig auftraten, lag nicht zuletzt an der rigiden Kleiderordnung des Lagers. Sowohl von sowjetischen als auch ausländischen Kindern und Jugendlichen sowie ihren Gruppenleitern wurde erwartet, die Artek-Uniform zu tragen. Unmittelbar nach der Ankunft im Lager mussten normalerweise alle Neuankömmlinge ihre persönliche Kleidung abgeben. Im Gegenzug erhielten sie einheitliche T-Shirts, Hosen und Röcke. Da Fragen des Aussehens und der Individualität für Pubertierende von enormer Bedeutung sind, traf das Tragen der Uniform auf Widerstand und Ablehnung, seitens sowjetischer und sozialistischer ebenso wie seitens westlicher Teenager. Gisela, die als Betreuerin eine Pioniergruppe aus der DDR im Sommer 1976 nach Artek begleitet hat, bestätigte dies im Interview: […] Unsere Mädchen […] waren ja […] schon junge Damen und hatten ihre Fingernägel lackiert. Das musste alles weg. [Die Nägel] wurden abgeschnitten […] [Dann] wurden die Koffer abgegeben, […] wir bekamen Lagerkleidung und aus den Koffern wurden nur persönliche Sachen [mitgenommen] […], Unterwäsche für eine Woche […] Das hat unseren Kindern nicht so sehr gefallen, immer die gleiche Kleidung […] Aber sie haben sich daran gewöhnt. Und es hatte auch sein Gutes: Es gab keine Unterschiede.176 174 Die erste sowjetische Gegenkultur formierte sich Ende der 1940er Jahre. Die sogenannten stiljagi (abgeleitet vom Englischen being stylish) interessierten sich für Jazz und Beatmusik. Junge Männer trugen enge Hosen, junge Frauen kurze, karierte Röcke und enge Blusen. Angesichts ihres Aussehens ernteten beide Geschlechter häufig Kritik von offizieller Seite, die Frauen obendrein für ihr wildes Haar und ihre stark geschminkten Gesichter. Fürst, Stalin’s Last Generation, 72 f., 193, 200 f., 213, 217, 224. Komsomol­ patrouillen, die auf den Straßen unterwegs waren, nahmen diejenigen mit dem provokativsten Aussehen wiederholt fest. Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More, 172. 175 Ebd., 163. Zu Modefragen in der Sowjetunion nach 1945 siehe außerdem Zakharova, Larissa: Dior in Moscow: A Taste for Luxury in Soviet Fashion Under Khrushchev. In: Crowley, David / Reid, Susan Emily (Hg.): Pleasures in Socialism. Leisure and Luxury in the Eastern Bloc. Evanston, IL 2010, 95–119; Tikhomirova, Anna: Soviet Women and Fur Consumption in the Brezhnev Era. In: Crowley, David / Reid, Susan Emily (Hg.): Pleasures in Socialism. Leisure and Luxury in the Eastern Bloc. Evanston, IL 2010, 283–308 sowie Bartlett, Djurdja: FashionEast. The Spectre that Haunted Socialism. Cambridge, MA 2010. 176 Interview mit Gisela.

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Überraschend und paradox mutet der Bericht eines Betreuers aus der DDR an, der im Sommer 1968 mit einer Pionierdelegation in Artek gewesen ist und hierin erwähnte, dass das Lager einen Schönheitswettbewerb veranstaltet hatte. Die finale Entscheidung war auf ein Mädchen seiner Gruppe gefallen, das infolgedessen den Titel der »Miss ›Artek‹« für sich beanspruchen durfte.177 Dass 1968 grundlegend andere Regularien bestanden haben sollen als acht Jahre später, als Gisela mit ihrer Delegation im Lager weilte, ist allerdings unwahrscheinlich, da die Kleidervorschriften auf eine langjährige Tradition zurückblicken konnten: Sie bestanden seit 1925. Möglich war die Miss-Wahl wohl deshalb, weil sie in einen offiziellen Wettbewerb eingebettet war und damit der Beobachtung und Kontrolle der sowjetischen Lagerleitung unterstand. Während Anna Kozlova in ihrer Studie über sowjetische Pioniere, die Artek in den späten 1970er und in den 1980er Jahren besucht haben, erwähnt, dass sie die Uniformen mehrheitlich als »modisch, schön und bequem«178 beschrieben haben, zeichneten einige meiner Interviewpartner ein anderes Bild. Inna, die als Zwölfjährige im Juni 1977 in das Lager gereist ist, sprach dabei einen interessanten Punkt an. Ihr zufolge wurde Artek aus Gründen der Selbstdarstellung unmittelbar vor Beginn der internationalen Sommerlager mit neuen Uniformen ausgestattet. Da Innas Aufenthalt aber kurz vor dem Eintreffen der ausländischen Delegationen erfolgt war, erinnerte sie sich daran, »Secondhand-Kleidung« getragen zu haben.179 Boris, ein anderer ehemaliger sowjetischer Pionier, der als Elf- oder Zwölfjähriger im Herbst 1986 oder 1987 nach Artek gekommen ist, mochte seine Uniform überhaupt nicht und charakterisierte sie im Interview als »absolut nicht passend, abgetragen, alt und schmutzig«.180 Demgegenüber brachte Monika angesichts der schicken türkisfarbenen Anoraks, die für die jungen Gäste bereitgestellt worden waren, ihr Bedauern darüber zum Ausdruck, dass ihre Gruppe sich der lagereigenen Kleidung verweigert hatte.181 Mit Monikas Aussage sei direkt zu einem weiteren Aspekt übergeleitet. Denn während das Tragen der Uniform für sowjetische und für Pioniere aus den sozialistischen Bruderländern in der Regel verpflichtend war, besaßen Delegationen aus westlichen Staaten größeren Verhandlungsspielraum. Sowjetische Pionierleiter und Lagerdirektoren gaben sich dabei längst nicht so restriktiv, wie man glauben könnte. Grigorij, ein ehemaliger Pionierleiter und Direktor des Teillagers Diamant, äußerte sich wie folgt:

177 178 179 180 181

SAPMO BArch, DY 25/2224 (o. S.).

Kozlova, »Fairy Tale for Pioneers«, 179. Interview mit Inna 8.4.2015. Interview mit Boris. Interview mit Monika.

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Am wichtigsten war es, nichts zu verbieten. […] Ich habe allen Leitern erklärt: »Wir sind nicht so, dass wir Sie Ihrer Persönlichkeit berauben wollen, wir möchten es Ihnen nur angenehm machen, weil die Uniformen gewechselt werden. Andernfalls müssen Sie selbst waschen, und das ist sehr schwer.« Ich sagte: »Sie werden es nicht schaffen, selbst zu waschen.« […] Nach zwei, drei Tagen ging ihre eigene Kleidung zur Neige, waschen wollte natürlich niemand, und so gingen alle mit Vergnügen dazu über, die Artek-Uniform zu tragen und es gab diesbezüglich keine Fragen mehr […] Meine Vorgänger sagten: »Auf keinen Fall, das ist eine Regel.« Ich sagte: »Wenn Sie wollen, dann tragen Sie [Ihre eigene Kleidung].« Weil ich wusste, dass das nach einiger Zeit aufhören würde.182

Dass auch Grigorijs Methode nicht immer von Erfolg gekrönt war, beweist ein Artikel aus der Stuttgarter Zeitung. Demnach hat sich eine Gruppe bundesdeutscher Kinder und Jugendlicher, die im Sommer 1977 zu Gast im Lager war, der Einheitskleidung gänzlich verweigert: »Doof« ist für ausländischen Kindergeschmack offenbar vor allem das aufdringliche, militärisch geprägte Zeremoniell der »Jungen Pioniere« mit Stechschritt, Fahnenrummel und zackigen Meldungen. Die Gelsenkirchener, die sich hierbei abseits hielten, hatten – wie auch einige andere Westler – von vornherein darauf verzichtet, sich die einheitlichen Lagerhemden anzulegen, und waren damit auch auf Verständnis gestoßen. Man könne mit den Veranstaltern über alles reden, versicherten die beiden Gruppenleiter; sowjetische Versuche, das Gruppenleben umzumodeln, habe es nicht gegeben.183

Die Ursache dafür, dass die einheitliche Kleiderordnung wiederholt zum Gegenstand heftiger Diskussionen geriet, liegt nicht zuletzt in unterschiedlichen Wahrnehmungen begründet. Für die Delegationen aus westlichen Staaten symbolisierten Uniformen Militarismus, Strenge und Unterdrückung. Sie standen im Verdacht, das Individuum gefügig zu machen, zu indoktrinieren, es in der einheitlichen Masse untergehen zu lassen und so seiner Freiheit zu berauben. Die Gruppen aus sozialistischen Ländern dagegen nahmen weitaus weniger Anstoß an der einheitlichen Kleidung. Einerseits waren sie mit Praktiken dieser Art vertraut, da sie sie gewöhnlich aus ihren Heimatländern kannten. Andererseits verkörperten Uniformen für sie ein legitimes Mittel, um die Unterschiede zwischen den Kindern und Jugendlichen zu verwischen. Auch für die sowjetischen Gastgeber war dies ein wichtiger Punkt, zumal in Artek Menschen aus aller Welt mit divergierenden materiellen Hintergründen zusammentrafen. Indem sie die visuelle Gleichheit aller gewährleisteten, ver182 Interview mit Grigorij. 183 Engelbrecht, Uwe: Was in Artek »prima« und was »doof« ist. In: Stuttgarter Zeitung vom 6.8.1977. Mein Dank gilt an dieser Stelle meinem Interviewpartner Peter, der mir diesen Zeitungsausschnitt zur Verfügung gestellt hat, leider ohne Angabe der Seitenzahl.

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suchten sie zu verhindern, dass Gefühle wie Über- und Unterlegenheit oder Neid aufkamen. Das Tragen von Uniformen besaß allerdings nicht nur praktische, sondern auch ideologische Gründe. Zum einen war die Architektur des Lagers für ein Leben im Kollektiv konzipiert. Alles, was für einen Aufenthalt notwendig war, stellte das Lager bereit, wozu auch die Kleidung gehörte. Hinzu kommt, dass die Schlafräume derart klein waren, dass sie weder Möglichkeiten zum Rückzug noch zum Aufbewahren einer größeren Menge privater Sachen boten.184 Zum anderen glaubten die sowjetischen Gastgeber, mit ihrer kostenlosen Rundumversorgung unter den ausländischen Besuchern Sympathien für sich wecken zu können – eine Hoffnung, die sich allerdings nicht erfüllte. Gerade bei den Delegationen aus westlichen Staaten erzielte diese Maßnahme vielmehr den gegenteiligen Effekt. 2.5

Chancen und Grenzen

Ungeachtet seiner Normen und Regeln war Artek ein offenes und tolerantes Pionierlager, da vergleichbare Einrichtungen weitaus striktere Bestimmungen besaßen. Wie Peter im Interview erwähnt hat, bekam diesen Umstand eine andere Falkengruppe zu spüren, die in den späten 1970er Jahren nach Orlënok185, ein Pionierlager nahe Sotschi, gereist ist. Anstatt Kontakte zu sowjetischen Pionieren herzustellen, war es ihr seitens der dortigen Lagerleitung lediglich erlaubt, Beziehungen zu einer anderen westlichen Delegation zu unterhalten, die aus Frankreich kam.186 Artek dagegen nahm normalerweise keine Separationen zwischen Kindern und Jugendlichen aus westlichen und sozialistischen Ländern vor. Gewöhnlich bildeten sie sogar einen otrjad und teilten sich einen Schlafsaal. Monikas otrjad beispielsweise setzte sich aus bundesdeutschen, sowjetischen, US -amerikanischen und südafrikanischen Teenagern zusammen.187 Angesichts der für sowjetische Verhältnisse ein­ maligen Gelegenheit, mit Altersgenossen aus aller Welt in Kontakt zu treten, verwundert es nicht, dass ein Aufenthalt in Artek während der internatio184 Winkelmann, Das Pionierlager Artek, 77. 185 Orlënok war nach Artek das zweitprestigeträchtigste Pionierlager der Sowjetunion. Es wurde 1960 gegründet und besteht bis heute. Orlënok befindet sich in der Region Krasnodar. Es liegt an der Schwarzmeerküste, etwa in der geografischen Mitte zwischen Sotschi und Novorossijsk. Zur Geschichte Orlënoks siehe Eichler, Pionierlager in der Sowjetunion, 265–287. Zum gegenwärtigen Orlënok siehe die offizielle Website des Lagers Vserossijskij detskij centr Orlënok: VDC Orlënok. URL : http://center-orlyonok.ru/ (am 2.11.2017). 186 Interview mit Peter. 187 Interview mit Monika.

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nalen Sommerlager zum größten Traum eines jeden sowjetischen Pioniers gehörte. Ein Gefühl für Internationalität erlebten jedoch nicht nur diejenigen, die im Juli und August im Lager weilten. Für Grigorij und Boris, die im Frühjahr 1974 respektive Herbst 1986/1987 nach Artek gekommen waren, mutete bereits seine unionsweite multinationale Zusammensetzung staunenswert an: Grigorij: Es kann sein, dass ich dort zum ersten Mal ein Gefühl von Internationalismus erlebt habe, weil wir [Pioniere] aus Kalmückien hatten, die sich natürlich visuell von Europäern unterscheiden. Dann hatten wir [Pioniere] aus Aserbaidschan, […] aus Tadschikistan, drei waren aus Lettland, aus der Ukraine […]188 Boris: Für mich war das natürlich die erste Erfahrung, ganz verschiedene Alters­ genossen zu sehen. Mir schien, dass diese Leute sehr seltsam waren, irgendwie unverständlich, warum wir alle zusammen in einer Gruppe waren. Und der vielleicht größte Eindruck von Artek, der mir haften geblieben ist, war der, dass ich all diese verschiedenen Menschen sah […] Den größten Schock riefen die litauischen Mädchen bei mir hervor. Wie sie hießen, habe ich natürlich vergessen! Aber sie schienen mir von einem anderen Planeten zu kommen. Sie sprachen sehr gut Russisch. Sie hatten zweifellos einen Akzent, sie fanden irgendwie nur schwer Synonyme und suchten die richtigen Worte […] Der Akzent war für mich eine Erkenntnis, ungeachtet dessen, dass sie die gleiche Kleidung trugen.189

Grigorij, der aus Blagoveščensk in der Oblast Amur stammte und für den Aufenthalt in Artek quer durch die Sowjetunion fahren musste, hatte vor seinem Aufenthalt im Lager kaum Kontakt zu Personen nicht-russischer Nationalität gehabt und keine Reisen außerhalb seiner Heimatregion unternommen. Ähnlich verhielt es sich mit Boris, der aus Ivanovo kam und den zuvor lediglich einige Verwandtenbesuche nach Minsk und Moskau geführt hatten. Allein die weite Reise auf die Krim verkörperte für beide eine gänzlich neue Erfahrung. Obgleich die Pioniere stets in Gruppen nach Artek fuhren und von erwachsenen Aufsichtspersonen begleitet wurden, handelte es sich für die meisten, so auch für Grigorij und Boris, um die erste Fahrt, die sie allein und ohne ihre Eltern bewältigten. Das mediterrane Klima, die Berge des Krimgebirges, die Schwarzmeerküste und die tropischen Gewächse ließen ihnen das Lager zusammen mit seiner multinationalen Komposition als einen exotischen Ort erscheinen.190 Was Anne E.  Gorsuch in ihrer sowjetischen Tourismusstudie hinsichtlich Estlands festgestellt hat, das aufgrund seines westlichen Kulturerbes und seiner europäischen Lebensart als »sowjetisches

188 Interview mit Grigorij. 189 Interview mit Boris. 190 Kozlova, »Fairy Tale for Pioneers«, 170, 177.

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Ausland« wahrgenommen wurde,191 kann auch für Artek gelten, da es ganz ähnliche Empfindungen bei seinen jungen Besuchern generierte.192 Für Boris war es der »reale« und informelle Kontakt, die Möglichkeit, Altersgenossen aus allen Regionen der Sowjetunion kennenzulernen, sich mit ihnen über ihr Leben, ihren Alltag und ihre Traditionen auszutauschen, die ihn derart faszinierte. Offizielle Veranstaltungen wie beispielsweise der sogenannte Tag der Sowjetvölker oder der Tag der internationalen Völkerfreundschaft, zu denen alle im Lager anwesenden Volksgruppen und Nationalitäten aufgerufen waren, ein Programm zu erarbeiten, anhand dessen sie sich, ihre Kultur, Traditionen und Bräuche gegenseitig vorstellen sollten, beeindruckten Boris hingegen überhaupt nicht: [E]s gab die Tage der Völkerfreundschaft, also solche nationalen Tage. Sie sind mir überhaupt nicht mehr in Erinnerung […] Das ist eine Standardprozedur, ja? Dass wir die Völkerfreundschaft feiern, uns versammeln, über unsere Traditionen erzählen, unsere Küche, was gekocht wird […], was gesungen wird, Folklore auf jeden Fall […] Aber sie sind mir überhaupt nicht mehr in Erinnerung, weil die »lebendigen« Menschen weitaus interessanter waren als ihre Folklore-Auftritte […] Es ist sehr witzig […] Der »lebendige« Eindruck von ihnen war weitaus dramatischer, kontrastreicher als irgendeine schablonenhafte Vorstellung der Völkerfreundschaft.193

Boris’ Aussage ist zweifelsohne das illustrativste und treffendste Beispiel für den inszenierten Vorderbühnen-Charakter dieser Veranstaltungen, die während eines Lagerdurchgangs mehrfach stattfanden und stets nach einem ähnlichen Muster abliefen. Zugleich deckt sie sich mit den Beobachtungen Aleida Assmans, wonach »[r]ituelle, gebetsmühlenartige Formen der Wiederholung […] dem Vergessen Vorschub« leisten.194 In Boris’ Gedächtnis blieb vielmehr das Außergewöhnliche haften, also jene Erlebnisse, die eine Ausnahme von seinem Alltag darstellten wie etwa die ungezwungenen Zusammenkünfte mit unterschiedlichsten Altersgenossen.195 Dieser Umstand offenbart sich ebenso an den Erzählungen Svetlanas, die als 14-Jährige am internationalen Sommerlager 1982 teilgenommen hat. Das Schlüsselmoment ihrer Erinnerung konstituiert ein enges Zusammensein mit einem gleichaltrigen Jungen aus Japan, das sich in einem der wenigen Freiräume ereignet hatte, die den Pionieren jenseits des durchstrukturierten Tagesablaufs zur Verfügung standen:

191 192 193 194 195

Gorsuch, All This Is Your World, 49–78, insb. 50. Kozlova, »Fairy Tale for Pioneers«, 177. Interview mit Boris. Assmann, Aleida: Formen des Vergessens. Göttingen 2016, 17. Kozlova, »Fairy Tale for Pioneers«, 170.

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Er hat mich eingeladen […] Wir sahen uns die Sterne an und unterhielten uns. Er sprach Japanisch, ich Russisch. Dass wir uns verstanden haben, ist schwer zu sagen, aber die Geschenke, die er mir gemacht hat, bewahre ich bis heute auf. Zu Hause habe ich eine kleine Schachtel […] Da drin sind kleine farbige Glaskugeln und […] Kraniche aus Papier […] Es gibt auch ein Stück Kohle vom letzten Lagerfeuer.196 […] Und ich hoffe, dass alles bis zu meinem Lebensende erhalten bleibt […] Wenn du die Schachtel öffnest, dein Kohlestück siehst […] Naja, die Erinnerung und du fühlst dich ins Jahr 1982 zurückversetzt.197

Auch Monika erwähnte in unserem Interview ein enges Beisammensein mit anderen Jungen, zunächst mit Igor’ aus der Sowjetunion, später jedoch mit dem – ihrer Auffassung nach – »viel cooleren« Oscar aus New York.198 Wie die Erinnerungen von Boris, Svetlana und Monika damit verdeutlichen, haben offizielle Veranstaltungen in Artek kaum die Aufmerksamkeit der Jugendlichen geweckt. Vielmehr hegten sie Interesse an spontanen und ungezwungenen zwischenmenschlichen Kontakten zu Altersgenossen, die entweder aus anderen Gegenden der Sowjetunion oder aus aller Welt kamen. Dass ein Aufenthalt im Lager ein einmaliges Ereignis im Leben eines sowjetischen Pioniers darstellte, heißt nicht, dass eine Rückkehr nach Artek vollkommen ausgeschlossen war. Grigorij und Svetlana, bei denen der Besuch im Lager einen ungeheuer positiven Eindruck hinterlassen hatte, gelang es, im Erwachsenenalter als Fachkräfte hierher zurückzukehren. Während Svetlana Pädagogik studiert hatte und in den späten 1980er Jahren als Pionierleitern im Lager arbeitete,199 hatte Grigorij zunächst eine andere Richtung eingeschlagen. Im Rahmen seiner universitären Ausbildung zog er von Blagoveščensk in das mehr als 7.000 Kilometer entfernte Saransk, die Hauptstadt der Republik Mordwinien, wo er begann, englische Sprache und Literatur zu studieren. Zwar griff Artek während seiner internationalen Durchgänge häufig auf Philologie-Studenten und ihre Fremdsprachenkenntnisse zurück, indem es sie über die Sommermonate als Dolmetscher engagierte. In die Auswahl gerieten Grigorij zufolge jedoch längst nicht alle Studenten, sondern nur jene bestimmter Universitäten, Oblaste, Regionen oder Republiken. Da Mordwinien offiziell nicht dazugehörte, nahm Grigorij sein Schicksal selbst in die Hand, fuhr über ein Wochenende auf die Krim, stellte sich der Lagerdirektion vor, konnte 196 Ein Stück Kohle vom letzten Lagerfeuer beziehungsweise vom sogenannten Feuer der Freundschaft, wie es offiziell hieß, mitzunehmen, war eine Tradition, die in den frühen 1960er Jahren ihren Anfang genommen hatte. Dahinter verbarg sich die Vorstellung, dass die Kinder und Jugendlichen nach ihrer Rückkehr mit diesem Stück Kohle ein Pionierlagerfeuer in ihrer Heimat entzündeten, um den Geist der in Artek erlebten Freundschaft in die gesamte Sowjetunion hinauszutragen. Ebd., 182. 197 Interview mit Svetlana. 198 Interview mit Monika. 199 Interview mit Svetlana.

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sie überzeugen und durfte als Pionierleiter und Dolmetscher arbeiten. Für ihn bot Artek optimale und einzigartige Voraussetzungen, um mit Muttersprachlern zu kommunizieren und seine Fremdsprachenkenntnisse zu verbessern. Im Laufe der Jahre stieg er vom einfachen Pionierleiter zum obersten Pionierleiter und schließlich zum Direktor des Teillagers Diamant auf: Zunächst war ich 1978, 1979 und 1980 als Pionierleiter tätig, nur während der Sommermonate, von Juni bis Mitte Oktober. […] Mein Englisch half mir, da ich während der internationalen Sommerwochen mit […] Organisationen aus verschiedenen Ländern gearbeitet habe […] Im Lager Diamant [ab 1981] […] hatte ich 420 Kinder und etwa 70 Angestellte. […] Die Lagerleitung von Artek schickte unterschiedliche Delegationen zu uns […], aus den USA, der DDR , Angola, Polen, Finnland, Schweden, Algerien. […] Ich hatte viele verschiedene Delegationen und habe die Arbeit während der internationalen Sommerwochen sehr genossen, weil ich abends alle Leiter und Übersetzer der ausländischen Gruppen zu einer Tasse Tee in mein Büro eingeladen habe, wo wir uns nett unterhielten. […] Meine Arbeit bestand darin, angenehme Beziehungen zwischen den [sowjetischen] Pionierleitern, dem pädagogischen Personal, den Dolmetschern und den ausländischen Gruppenleitern zu gewährleisten. […] In der Sowjetunion konntest du nirgendwohin. Es war sehr kompliziert, […] eine touristische Reise zu unternehmen. Deshalb war Artek so ein herausragender Ort. Ich konnte mit jedem reden, mit wem ich wollte, mein Englisch half mir sehr gut dabei, und niemand hat mich kontrolliert im Hinblick auf die Frage, was ich sage, zu wem und warum.200

Als Pionier- und Lagerleiter mit fundierten Englischkenntnissen besaß Grigorij beste Möglichkeiten, um in direkten Kontakt mit ausländischen Delegationsleitern zu treten. Zu einer Zeit, zu der Reisen ins sozialistische Ausland für Sowjetbürger mit immensem bürokratischen Aufwand und hohen Kosten verbunden waren – ganz zu schweigen von Reisen in den Westen –, wog ihm Artek diesen Mangel auf, da er hier ein Gefühl von Internationalität und persönlicher Freiheit im eigenen Land erleben konnte. Zu einigen ausländischen Delegationsleitern hält Grigorij, wie er selbst sagte, bis heute Kontakt.201 Zugleich weist seine Aussage ein Muster auf, das Anna Kozlova zufolge typisch für ehemalige Pioniere und Mitarbeiter des Lagers ist. Demnach suchen sie häufig den ideologischen Charakter Arteks herunterzuspielen oder zu negieren, ihre hier gewonnenen Kindheits- und Berufserfahrungen als unabhängig und autonom von der sonst allerorts vorherrschenden Ideologie und das Lager als einen außergewöhnlichen Ort zu präsentieren.202 Auch Grigorijs Erinnerungen muten zuweilen paradox an. Auf der einen Seite kann er als perfektes »Produkt« der erzieherischen Mission Arteks, der 200 Interview mit Grigorij. 201 Ebd. 202 Kozlova, »Fairy Tale for Pioneers«, 170, 183.

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Ausbildung der künftigen politischen Elite, gelten. Ausgezeichnet mit einer putëvka ist er als 15-jähriger Pionier erstmals ins Lager gekommen und derart überwältigt und fasziniert von dessen Gepflogenheiten gewesen, dass er sich geschworen hat, als Erwachsener zurückzukehren. Über die Jahre hinweg kletterte er die Karriereleiter empor, wurde vom Pionierleiter zum Teillagerleiter und erhielt 1987 eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in Moskau, das er erfolgreich absolviert hat. Daraufhin arbeitete er im Zentralrat der sowjetischen Pionierorganisation, wo er bis 1989 für die Planung und Koordination der größten und bedeutendsten Pionierlager der Sowjetunion, unter anderem für Artek und Orlënok, verantwortlich zeichnete.203 Auf der anderen Seite bestand Grigorij ungeachtet seiner verantwortungsvollen Positionen nie auf der bedingungslosen Einhaltung existierender Regeln, sondern zeigte sich offen für Verhandlungen und Kompromisse. Gänzlich uneigennützig war sein Verhalten allerdings nicht. Um enge Beziehungen und Vertrauen zu den ausländischen Delegationen aufbauen zu können, musste er ihre Wünsche stets ein Stück weit tolerieren und Interesse an ihrem Wohlergehen bekunden.204 Im Laufe der Jahre hatte er sich dadurch ein weltweites Netzwerk an Kontakten aufgebaut, von dem er in der Perestroika-Zeit und darüber hinaus profitieren sollte. Bereits 1990 wurde er in die USA eingeladen, um einen Vortrag vor einer Vereinigung zu halten, die weltweit Jugendferienlager organisierte. Grigorij war es gelungen, sein in der Sowjetunion erworbenes kulturelles, soziales und symbolisches Kapitel in die postsozialistische Periode zu transferieren.205 Da er bis heute für eine der weltweit führenden Vereinigungen für internationalen Jugendaustausch arbeitet, markierte sein Aufenthalt in Artek zweifelsfrei den Beginn einer erfolgreichen Karriere.206 Gleichwohl darf Grigorijs Fall nicht darüber hinwegtäuschen, dass es häufig alles andere als einfach, nicht selten gar unmöglich war, mit den im Lager neu gewonnenen Freunden in Kontakt zu bleiben. Am deutlichsten trat dieser Umstand bei Liebesbeziehungen zutage, die sich im Lager entwickelt hatten. Während diese Verbindungen innerhalb Arteks weithin auf Akzeptanz 203 Interview mit Grigorij. 204 An dieser Stelle sei auf die Studien von Steven Lee Solnick und Alexei Yurchak verwiesen, die demonstriert haben, dass hohe Komsomoloffiziere ihre Positionen weithin genutzt, mitunter auch missbraucht haben, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Solnick, Stealing the State, 60–124; Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More, 158–237. 205 In Bezug auf die Termini soziales, kulturelles und symbolisches Kapital stützt sich die Arbeit auf die Ausführungen und Definitionen von Pierre Bourdieu. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen 1983, 185–195; ders.: Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la leçon. 2 Vorlesungen. Frankfurt am Main 1985, 9–23. 206 Interview mit Grigorij.

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stießen, sahen sich die betroffenen Personen nach Verlassen des Lagers mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert. Eine solche Erfahrung blieb auch Oksana, die als 14-Jährige im Sommer 1961 nach Artek gekommen ist, nicht erspart: Und dort [in Artek] traf ich meine erste Liebe, ein Junge aus Österreich, und, natürlich, danach ein sehr schlechtes Gefühl, weil wir uns nicht schreiben konnten, das heißt, am Anfang haben wir uns geschrieben. Aber dann […] sagten meine Eltern, die angesehene Leute in Riga waren, dass ich es besser nicht mehr tun sollte. Aber an seine Adresse erinnere ich mich bis heute, in Wien […] Ich war zwei Mal dort, und vor kurzem dachte ich, naja, ich hatte das Bedürfnis, ihn zu besuchen, aber ich war nicht stark genug, um an irgendjemandes Tür zu klingeln. Außerdem wusste ich nicht, wo genau er heute wohnt.207

Wie Oksana im Nachhinein erklärte, war der Grund, weshalb sie ihre Brieffreundschaft mit dem Jungen aus Österreich unterbinden musste, nicht der, dass ihre Eltern Angst hatten, regelmäßig Briefe aus einem westlichen Land zu erhalten. Vielmehr sahen sie, dass ihre Tochter schrecklich unter Liebeskummer litt, wovor sie sie bewahren wollten. Allen Beteiligten war zum damaligen Zeitpunkt klar, dass das Mädchen in eine verzweifelte Situation geraten war und höchstwahrscheinlich nie die Möglichkeit haben würde, den Jungen wiederzusehen. Vorkommnisse dieser Art ereigneten sich zuhauf. Die Zeitzeugin Inna hat zwar selbst keine entsprechende Erfahrung gemacht, erzählte im Interview jedoch von folgender Geschichte, die ihr eine Frau berichtet hatte, die sie vor einigen Jahren auf einer Zugfahrt von Moskau nach Kasan kennengelernt hat: Ich habe eine Frau im Zug getroffen, die zurück aus Frankreich kam. Sie kam mit dem Flugzeug von […] Paris nach Moskau und nahm dann den Zug von Moskau nach Kasan. Und sie erzählte mir, dass sie ihren Mann tatsächlich in Artek kennengelernt hat. Sie standen danach im Briefwechsel, aber […] ihr Vater war Ingenieur in einem Rüstungsbetrieb. […] Einer der KGB -Offiziere […] sagte, dass es nicht gut sei, dass seine Tochter eine Brieffreundschaft mit einem Ausländer unterhält, wenn er in einem Rüstungsbetrieb arbeitet. Und so verbot man ihr, ihm weiter zu schreiben […] Alles brach auseinander, sie heiratete [einen anderen Mann], bekam einen Sohn und ließ sich wieder scheiden. Und dann, als die Perestroika begann, erhielt sie auf einmal einen Brief von dem französischen Jungen […] Sie antwortete ihm. Schließlich haben sie sich getroffen und geheiratet.208

Hier erklärt sich die Beendigung der Brieffreundschaft mit einem Jungen aus Frankreich aus der Arbeit des Vaters. Angesichts seiner Tätigkeit in einem 207 Interview mit Oksana. 208 Interview mit Inna.

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Rüstungsbetrieb witterte das KGB (Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti  – Komitee für Staatssicherheit) augenscheinlich Spionagegefahr und unterband jeglichen weiteren Briefkontakt. Restriktionen dieser Art betrafen nicht nur Sowjetbürger, die Beziehungen zu Ausländern aus westlichen Staaten eingegangen waren. Beziehungen zwischen Staatsangehörigen verschiedener Länder des Ostblocks hatten häufig ebenso wenig eine Chance zum Fortbestand. Auch Grigorij musste die rigiden Bestimmungen am eigenen Leib erfahren, als er während seiner Studienzeit kurzweilig in der »Pionierrepublik Wilhelm Pieck« in der Nähe von Ost-Berlin gearbeitet und sich in eine Frau aus der DDR verliebt hat: Als ich in der Pionierrepublik arbeitete, lernte ich eine […] bemerkenswerte Frau kennen. […] Um aus der Sowjetunion auszureisen, benötigte man ein spezielles Visum, das die Ausreise genehmigte, ein Exit-Visum. Aber so ein Visum haben sie mir nicht gegeben. Wenn sie es mir gegeben hätten, hätte ich heute eine deutsche Frau.209

Die Paradoxie all dieser Situationen besteht darin, dass sie als Produkt des von der Sowjetunion propagierten Internationalismus zu werten sind. Sie erzielten allerdings Resultate, die von den Machthabern nie intendiert waren. So sahen sich letztere schlussendlich gezwungen, Phänomene zu bekämpfen, deren Entstehung sie selbst befördert hatten. Das Land warb zwar offiziell für freundschaftliche Beziehungen zwischen Kindern und Jugendlichen im In- und mit dem Ausland und gab vor, sich nachdrücklich für den Frieden auf Erden einzusetzen. Da diese Maßnahmen aber vordergründig der Selbstinszenierung dienten, waren ihnen von vornherein Grenzen gesetzt. Von einer Öffnung im eigentlichen Wortsinn kann daher nicht gesprochen werden. Vielmehr handelte es sich um eine »kontrollierte Öffnung« und, wie Anne E. Gorsuch diese Haltung bezeichnet hat, um »Freundschaft auf Distanz«.210 In einigen wenigen Fällen war der Abbruch der Beziehungen durch sich verändernde außenpolitische Konstellationen begründet. Illustrativ sind die sowjetischen Beziehungen zu Albanien. Nach dem Bruch mit Jugoslawien 1948 suchte Stalin der Vorstellung eines von Tito dominierten kommunistischen Imperiums auf dem Balkan, das außerhalb seiner Kontrolle lag, entgegenzuwirken. Da Albanien den neuen Kurs Jugoslawiens ebenfalls ablehnte, nahmen die beiden Staaten diplomatische Beziehungen auf. Für die Sowjet209 Interview mit Grigorij. 210 Anne E. Gorsuch nutzt diesen Begriff, um eine Situation zu beschreiben, die einem sowjetischen Touristen in Ungarn widerfahren ist. Dass er im Rahmen eines Freundschaftstreffens den Abend lieber in Gesellschaft ungarischer Musiker verbracht hatte denn mit seiner sowjetischen Reisegruppe, rief Unmut hervor und zog scharfe Kritik nach sich. Gorsuch, Anne E.: Time Travellers: Soviet Tourists to Eastern Europe. In: Gorsuch, Anne E. / Koenker, Diane P. (Hg.): Turizm. The Russian and East European Tourist under Capitalism and Socialism. Ithaca, NY 2006, 216.

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union besaß das kleine unscheinbare Land an der Mittelmeerküste immense strategische Bedeutung, konnte sie doch in der albanischen Hafenstadt Vlorë den einzigen Marinestützpunkt des Warschauer Pakts im Mittelmeer errichten.211 Neben politischen und militärischen intensivierten die beiden Staaten schließlich auch ihre kulturellen Beziehungen. Albanien stellte eines der Länder dar, aus dem Kinder und Jugendliche seit dem Ende der 1950er Jahre regelmäßig nach Artek reisten, um an den internationalen Sommerlagern teilzunehmen.212 Sämtliche Bemühungen, freundschaftliche Kontakte zwischen der albanischen und sowjetischen Pionierorganisation herzustellen, waren jedoch nur von kurzer Dauer und fanden 1961 ein abruptes Ende. Da Enver Hoxha Chruščëvs Politik der Entstalinisierung und des Tauwetters als vollkommen inakzeptabel erachtete, brach Albanien seine diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion ab.213 Für Artek hatte Hoxhas Entscheidung zur Folge, dass fortan keine albanischen Pioniergruppen mehr kamen. Oksana beschrieb im Interview die Auswirkungen, die diese Politik auf einzelne Personen zeitigte: Über [meine] Pionierleiterin wurde gesagt, dass sie kurz vor unserer Ankunft eine Beziehung zu einem albanischen Pionierleiter hatte […] Sie wollten heiraten und sie wollte dorthin [nach Albanien] fahren und dann brachen die Sowjetunion und Albanien ihre Beziehungen ab. Sie war sehr unglücklich […] Das ist alles, danach gab es überhaupt keine Beziehungen mehr.214

Des Weiteren wollte in Artek stets das weltpolitische Klima im Auge behalten werden. Um Konflikte und Spannungen zwischen einzelnen ausländischen Delegationen zu vermeiden, mussten Teillagerdirektoren wie Grigorij konkrete Vorkehrungen treffen: Natürlich verteilten das Komitee für Jugendorganisationen und die Leitung Arteks die ausländischen Delegationen im Hinblick auf die politische Situation in der Welt. Die Delegation aus Israel im Lager Zypresse wollte möglichst weit weg von den Gruppen aus arabischen Ländern sein, damit sich ihre Wege nicht kreuzten […] Wir hatten eine Delegation aus Algerien. Ihr Leiter war immer gegen Israel, gegen Amerika, gegen noch etwas, obwohl bei uns im Lager Algerien, Amerika und Israel wirklich weit voneinander entfernt untergebracht waren. […] Und ich musste solche Fragen klären.215

211 Schmitt, Oliver Jens: Die Albaner. Eine Geschichte zwischen Orient und Okzident. München 2012, 28, 162. 212 RGASPI, F. M-2, Op. 1, D. 17, L. 3; RGASPI, F. M-1, Op. 3, D. 982, L. 97. 213 Schmitt, Die Albaner, 163. 214 Interview mit Oksana. 215 Interview mit Grigorij.

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Ähnliche Maßnahmen bestimmten zeitweilig auch das Verhältnis zwischen den Delegationen aus der Bundesrepublik und der DDR . Hatten die Kinder und Jugendlichen aus beiden Ländern während des internationalen Sommerlagers 1963 noch gemeinsame Ausflüge bestritten und mehrfach Zusammenkünfte abgehalten,216 war es Peters Falkengruppe 1977 trotz wiederholter Bitten nicht gelungen, auch nur ein einziges Treffen mit Pionieren aus der DDR zu arrangieren.217 Hiergegen verwehrt hatte sich weniger die sowjetische Lagerleitung als vielmehr die DDR-Delegation, allen voran die verantwortlichen Betreuer. Monika, die im Sommer 1978 in Artek weilte, hat jedoch ein kurzes Treffen mit Gleichaltrigen aus der DDR erlebt. Da es als offizielle Veranstaltung deklariert war, die die Pioniere aus der DDR nutzten, um übertrieben positiv von ihrem Heimatland, ihrer Schule, ihren Lehrern, Freizeitaktivitäten und ihrem Alltag zu berichten, hinterließ die Zusammenkunft bei Monika ein merkwürdiges Gefühl. Während des Interviews charakterisierte sie das Ereignis als kontraproduktiv und ideologisch motiviert.218 Ungeachtet der zuletzt beschriebenen Situationen, die die Grenzen des propagierten Internationalismus deutlich machen, kann Artek dennoch als ein in der Sowjetunion beispielloser Ort gelten. Der »Mikrokosmos Artek« hielt Erfahrungen und Möglichkeiten bereit, die außerhalb seines Territoriums nicht existierten und auch nicht auf die sowjetische Außenwelt übertragen werden konnten. * * * Momente der Öffnung auf sowjetischer wie internationaler Ebene dienten der Archangelsker Arbeitskolonie und dem Pionierlager Artek zur Selbstdarstellung und zum Werben um Legitimität. Um zu vermeiden, dass Besucher Dinge sahen, die nicht für ihre Augen bestimmt waren, oder negativen Einfluss auf die innere Ordnung und die »Bewohner« beider Einrichtungen ausübten, bemühte sich die jeweilige Kolonie- beziehungsweise Lagerleitung um größtmögliche Kontrolle. Gänzlich eliminieren konnte sie etwaige Risiken allerdings nicht. Einerseits beging sie selbst Fehler, andererseits strebten Außenstehende vehement danach, einen Blick »hinter die Kulissen« zu werfen, um (vermeintlich) »authentische« Situationen zu erleben. Konfrontiert mit kollidierenden Interessenslagen und Erwartungen sahen sich die Verantwortlichen im Pionierlager Artek und der Archangelsker Arbeitskolonie zur Ergreifung von Gegenmaßnahmen gezwungen. Dabei verstrickten sie sich häufig in Widersprüche, pervertierten ihr ursprünglich erklärtes Ziel 216 SAPMO BArch, DY 25/2162 (o. S.). 217 Interview mit Peter. 218 Interview mit Monika.

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und bekämpften letztlich Erscheinungen, deren Entstehung sie selbst hervorgerufen hatten. In der Archangelsker Arbeitskolonie manifestierte sich dieser Umstand in dem von ihr propagierten Mutterkult. Obgleich Kolonieleitung und Erzieher explizit den Kontakt zwischen Zöglingen und ihren Müttern unterstützten und förderten, hatte er doch seine Grenzen. Der wiederholt vorgebrachten Bitte einer Mutter um Verlegung ihres Sohnes in eine andere, näher an ihrem Wohnort gelegene Einrichtung kamen die Führungsoffiziere des MVD in Moskau nach Rücksprache mit ihren Kollegen in Archangelsk jedenfalls nicht nach. Das Pionierlager Artek erlebte ähnlich paradoxe Situationen. Seine Bemühungen, die Sowjetunion der Weltöffentlichkeit als ein offenes, für Frieden, internationale Solidarität und Freundschaft kämpfendes Land zu präsentieren, fanden längst nicht nur Widerhall, sondern erregten mitunter auch Widerwille. Angesichts der unzähligen Wettbewerbe, die mehrheitlich die überlegenen sowjetischen Pioniere für sich entschieden, fühlten sich die jungen ausländischen Teilnehmer vielmehr demotiviert denn beeindruckt. Ebenso stieß das Tragen der Artek-Uniformen überwiegend auf Antipathie, bei Gästen aus westlichen Staaten sogar auf strikte Ablehnung. Dessen ungeachtet bot sich Artek aber nicht nur als Zwangs-, sondern auch als Ermöglichungsraum dar, der jenseits staatlicher Zwänge über vielfältige Facetten verfügte. Seine breite internationale Komposition, bestehend aus jungen Menschen unterschiedlichster Herkunft, Sprache, Kultur und Tradition, machte das Lager zu einem einzigartigen Ort innerhalb der Sowjetunion. Als solcher ermöglichte er Erfahrungen und Chancen, die anderswo undenkbar waren. Viele sowjetische Pioniere erlebten hier zum ersten Mal ein Gefühl von Internationalität und konnten enge Kontakte zu Gleichaltrigen aus aller Welt knüpfen. Einige zeigten sich derart überwältigt von der Atmosphäre im Lager, dass sie als Erwachsene hierher zurückkehrten. Eine berufliche Tätigkeit in Artek, die ihren Ausgang als Pionierleiter oder Dolmetscher nahm, konnte den Beginn einer vielversprechenden Karriere bedeuten, die bis in die Führungsetagen der Pionierorganisation oder des Komsomol in Moskau führte.

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Es gab wohl kaum eine Bevölkerungsgruppe, die seitens des sowjetischen Staates eine stärkere politische Instrumentalisierung und einen ambivalenteren Umgang erfahren hat als die der Kinder und Jugendlichen. Sie waren Hoffnungsträger und Sicherheitsrisiko, Traum und Alptraum zugleich; sie verhießen nicht nur Zukunftsoptimismus und Modernisierung, sondern verkörperten auch die Verfehlungen und Abgründe des Systems. Das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie können als symbolische wie faktische Inkarnation der sowjetischen Kinder- und Jugendpolitik gelten, deren Extreme sie in vielfacher Hinsicht abbildeten. Sie stellten einen Mikrokosmos der Sowjetunion dar, der – wie für »totale Institutionen« typisch  – eng mit den Struktur- und Ordnungsprinzipien des Landes verbunden war. Zugleich besaßen sie aber auch Eigenlogiken wie den Mechanismus von Öffnung und Abschließung. So brachten sie auf der einen Seite den instrumentellen Charakter der sowjetischen Kinder- und Jugendpolitik zum Ausdruck, der den Jüngsten Aufgaben zugeschrieben hatte, die zur Schaffung des »Neuen Menschen« und der neuen sozialistischen Gesellschaft beitragen sollten. Während das Lager auf der Krim seit den 1950er Jahren zum weltweit wichtigsten Ort des internationalen Kinder- und Jugendaustauschs geriet und die Sowjetunion als kinder- und jugendfreundliches Land präsentierte, suchte die Kolonie im Dwina-Delta zu beweisen, dass es der Sowjetunion gelungen wäre, ein vorbildhaftes System der Umerziehung zu etablieren, dank dessen minderjährige Delinquenten nicht einfach nur ihre Strafe absitzen, sondern durch gezielte Schul- und Berufsausbildung in die Gesellschaft reintegriert werden konnten. Lager und Kolonie verdeutlichten auf der anderen Seite aber auch die Ambivalenzen, die aus der praktischen Umsetzung ihrer deklarierten Ziele resultierten, etwa ihre – trotz der offiziellen Rhetorik des Kindes- und Jugendwohls – disziplinierenden und repressiven Erziehungsmaßnahmen infolge der mangelnden Voraussetzungen, um die deklarierten Ziele zu verwirklichen. Die Kluft zwischen Ideologie und Wirklichkeit bestimmte zwar nicht nur ihren Alltag, sondern war charakteristisch für die Sowjetunion insgesamt. Aufgrund ihres allumfassenden Wesens manifestierte sie sich in den beiden Einrichtungen jedoch weitaus deutlicher und hatte – weniger für die Pioniere als vielmehr für die Zöglinge – ungleich dramatischere Konsequenzen. Folglich hatten Kolonie und Lager nicht nur mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Sie verfolgten auch weitestgehend dieselben Ziele. In einem totalitären Staat wie der Sowjetunion, der zur Gänze von einer Ideologie beherrscht © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109//9783666310942 | CC BY-NC-ND 4.0

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und auf die Schaffung eines »Idealmenschen« fokussiert war, existierten keine alternativen Denkmöglichkeiten, die Institutionen wie das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie auf grundlegend verschiedene Art und Weise hätten funktionieren lassen können. Beide Einrichtungen waren Teil des sowjetischen Social-Engineering-Projekts, indem sich Wissenschaftsgläubigkeit mit der Vorstellung der grenzenlosen Formbarkeit des Menschen verband. Getrieben von einem unerschütterlichen Willen zur Veränderung waren die Parteiführer überzeugt, einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, sprich: die gesellschaftspolitische Umgestaltung parallel zur Lösung der bestehenden Missstände vorantreiben zu können. Da sich diese Hoffnung angesichts der sich ihnen darbietenden Realität nicht erfüllte, konnten die viel zu großen Visionen die sozialen Probleme nicht beheben. Die materiellen, finanziellen und personellen Möglichkeiten und Kapazitäten hinkten den hochgesteckten Ambitionen schlichtweg hinterher. Richten sollte es zunächst die Pädologie, von der die bolschewistischen Parteiführer praktikable Handlungsanweisungen erwarteten, um die sozialen Missstände beseitigen und »Neue Kinder« schaffen zu können. Die neue Wissenschaft vom Kind war zwar keinesfalls so neu wie behauptet. Neu war allenfalls ihre breite staatliche Institutionalisierung, nicht aber die mit ihr verbundenen Disziplinen, deren Wurzeln überwiegend ins späte 19. Jahrhundert zurückreichten. Doch steckte sie insofern noch in den Kinderschuhen, als ihre Forschungsfragen angesichts der ehrgeizigen Ziele der Machthaber derart komplex formuliert waren, dass ihre Beantwortung Jahre, wenn nicht Jahrzehnte intensivster wissenschaftlicher Forschung notwendig gemacht hätten. Lösungen für die dringendsten sozialen Probleme, insbesondere für die Masse an besprizorniki, vermochte die Pädologie nicht anzubieten, sodass sie sich seit den späten 1920er Jahren immer stärker werdendem politischen Druck ausgesetzt sah, der 1936 letztlich in ihrer Liquidierung gipfelte. Folgen- und wirkungslos blieb ihre Arbeit dennoch nicht. Zum einen besaßen die Forschungen der Pädologie derart hohe Wirkmächtigkeit und Resilienz, dass sie selbst Jahrzehnte nach ihrem Verbot nicht aus den Köpfen verschwunden waren. Ihr Revival Ende der 1950er Jahre erfolgte zwar unter anderer Bezeichnung. Doch ändert dieser Umstand nichts am Fortbestand pädologischer Ideen. Vielmehr zeugt er von der Kontinuität und Verstetigung erzieherischer Vorstellungen und Praktiken. Zum anderen ging die akribische Suche der Pädologie nach neuen Parametern und Kriterien zur Bemessung und Kategorisierung der Psyche und Physis von Kindern und Jugendlichen in den 1920er Jahren mit einer übertriebenen Pathologisierung ihres Verhaltens und Entwicklungsstandes einher. Implizit schürte die Pädologie dadurch bei Politik und Gesellschaft soziale Ängste vor dem Verlust der Ordnung, von Normen und Werten. Der Unmut der Bevölkerung spielte vor allem jenen Partei- und Staatseliten in die Hände, die seit jeher © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109//9783666310942 | CC BY-NC-ND 4.0

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für einen härteren Umgang mit devianten Kindern und Jugendlichen, minderjährigen Delinquenten und besprizorniki plädiert hatten. Als sich Anfang der 1930er Jahre abzeichnete, dass der erste Fünfjahrplan einen katastrophalen Ausgang nehmen, die versprochenen Verbesserungen des Lebensstandards und die Verheißungen des Sozialismus nicht eintreten würden, gewannen ihre Stimmen allmählich die Oberhand. Aus Angst vor dem Scheitern ihres Transformationsprojekts und zur Eliminierung von Ambivalenz und Devianz griffen die Parteiführer immer härter gegen minderjährige Delinquenten und besprizorniki durch. Anders als zu Beginn der 1920er Jahre konnten sie ihr repressives Vorgehen nun mit dem gestiegenen Sicherheits- und Stabilitätsbedürfnis der Bevölkerung rechtfertigen. Mit der unionsweiten Etablierung von geschlossenen Arbeitskolonien für minderjährige Delinquenten ab Mitte der 1930er Jahre war die konservative Wende unter Stalin endgültig vollzogen und aus dem besprizornik, der unmittelbar nach der Oktoberrevolution noch ein soziales Problem verkörpert hatte, ein Feind des Staates, der eine Bedrohung für dessen innere Sicherheit darstellte, geworden. »Totale Institutionen« wie das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie boten dem Staat unumschränkten Zugriff auf die Kinder und Jugendlichen und verhießen ihm dabei weitgehende Abschließung von den negativen Einflüssen der Außenwelt. Die Diskrepanz zwischen ideologischem Anspruch und materieller Wirklichkeit hatte allerdings fatale Folgen. Anhand beider Einrichtungen konnte beobachtet werden, wie das Zusammenwirken von Zeit, Raum und Mensch ihr Funktionieren beeinflusst hat, insbesondere dann, wenn die drei Faktoren ungünstige Voraussetzungen beinhalteten. Am deutlichsten offenbarte sich dies während der Kriegs- und Nachkriegszeit zwischen 1941 und 1947, die insofern eine Zäsur darstellte, als Lager und Kolonie einen eklatanten Mangel an materiellen wie personellen Ressourcen verzeichneten, der ihre eigentliche Funktion und ihre Ziele paralysierte und pervertierte. In der Archangelsker Arbeitskolonie ließ die Kombination aus Abgeschiedenheit, Krisensituation und Personalmangel das System »totale Institution«, ihre Struktur und Ordnung, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. An ihre Stelle traten informelle Hierarchien, welche die Kolonie in einen brutalen Gewaltraum transformierten, in dem sich alle – Aufseher, Erzieher und Zöglinge – gegenseitig terrorisierten und ums nackte Überleben kämpften. Für viele Zöglinge, vor allem für jene, die vorher eine nahezu unbescholtene Kindheit und Jugend hatten, bedeutete der Aufenthalt in der Kolonie im Dwina-Delta den Beginn ihrer kriminellen Karriere. Die versprochene Umerziehung äußerte sich nicht in Resozialisierung und Reintegration, sondern in »Unerziehung« und »Ent-Sozialisierung«. Auch als sich ab Anfang der 1950er Jahre die Zustände sukzessiv verbesserten und pädagogische Maßnahmen wieder verstärkt Anwendung fanden, blieb die in Aussicht gestellte Reintegra© 2020 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109//9783666310942 | CC BY-NC-ND 4.0

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tion durch Berufsqualifizierung aus. Wie die Sowjetunion insgesamt sah sich die Archangelsker Arbeitskolonie zeit ihres Bestehens mit Arbeitskräftemangel, Personalfluktuation und Versorgungsengpässen in Form von Lebensmitteln, materieller und finanzieller Ausstattung konfrontiert, die in ihrer Summe die Qualität der schulischen und beruflichen Ausbildung so weit reduzierten, dass die Zöglinge nach ihrer Entlassung gezwungen waren, sich entsprechend weiter zu qualifizieren. Obendrein sahen sich viele Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt, die ihre Arbeits- und Wohnungssuche zusätzlich erschwerten. Häufig verhinderten diese Umstände ihre Reintegration, sodass viele ehemalige Zöglinge erneut ins kriminelle Milieu abrutschten. Auch im Pionierlager Artek bildeten sich während des Zweiten Weltkrieges und der Hungersnot von 1946/47 informelle Hierarchien heraus. Obschon ihre Form grundsätzlich jener in der Archangelsker Arbeitskolonie ähnelte, waren ihre Ausprägungen weitaus weniger gravierend. Hier bestimmten Günstlings- und Misswirtschaft den Alltag, deren Entstehung durch das gleichgültige, mitunter auch egoistische Tun und Handeln der Lagerdirektion, einzelner Pionierleiter und anderer Mitarbeiter hervorgerufen worden war. Formen physischer Gewalt dagegen stellten eine Seltenheit dar, vor allem deshalb, weil es sich bei der Mehrheit der im Lager weilenden Kinder und Jugendliche um herausragende Schüler und Pioniere handelte, die deutlich weniger pädagogische Aufmerksamkeit und Kontrolle benötigten als die Zöglinge in der Kolonie. Dasselbe galt für die Pionierleiter, die überwiegend sehr gut ausgebildet und sich der Bedeutung und Tragweite ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bewusst waren. Selbst wenn die Pioniere im Lager auf der Krim zeitweilig sich selbst überlassen blieben, verwandelte sich Artek nicht in einen von Gewalt und Terror geprägten Ort. Zwar erwiesen sich Raum und Zeit auch hier nicht immer als vorteilhaft. Aufgrund seiner Abgeschiedenheit sah sich das Lager während der Kriegszeit und der Hungersnot ebenso wie die Kolonie mit drastischen Versorgungsengpässen und miserablen Zuständen konfrontiert. Doch besaß es zumindest eine kritische Masse an Menschen mit Verantwortungsgefühl, die gegen ausufernde Missstände vorgingen. »Totale Institutionen«, bei denen sich Raum und Zeit als ungünstig erweisen, verwandeln sich folglich nicht zwangsläufig in Orte der Grausamkeit, Brutalität und Inhumanität. Obgleich sie angesichts ihrer grundlegenden Eigenschaften, ihrer Struktur- und Ordnungsprinzipien Rahmenbedingungen und Voraussetzungen schaffen, die die Herausbildung informeller Hierarchien und die Entstehung von Formen des Missbrauchs begünstigen, ist es letztlich der Faktor Mensch, der über ihre Spielarten und Ausprägungen und damit über das Funktionieren oder Nicht-Funktionieren der jeweiligen »totalen Institution« entscheidet. Aus den Beobachtungen zu beiden Einrichtungen lässt sich folglich ableiten, dass »totale Institutionen« ihrer eigentlichen Bestimmung nur unter © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109//9783666310942 | CC BY-NC-ND 4.0

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nahezu perfekten Bedingungen am nächsten kommen. Damit ihre Funktionsweise nicht beeinträchtigt wird, bedarf es großer finanzieller, materieller und personeller Ressourcen. Hierin manifestiert sich das Grundproblem beziehungsweise die grundlegende Schwäche »totaler Institutionen«, denn die notwendigen Ressourcen sind in der Mehrheit der Fälle nicht in ausreichender Zahl vorhanden. Die Gefahr des Nicht-Funktionierens ist allgegenwärtig und konstituiert daher eine wesentliche Eigenschaft »totaler Institutionen«. Überdies hat sich anhand der Archangelsker Arbeitskolonie und des Pionierlagers Artek gezeigt, dass die in ihnen untergebrachten Kinder und Jugendlichen durchaus über eine »agency« und ein erhebliches Maß an EigenSinn verfügten; dass sie nicht nur passiv Erleidende und Erduldende, sondern auch aktiv Handelnde und Täter waren. In der Kolonie im Dwina-Delta manifestierte sich dies vor allem im repressiven und gewalttätigen Umgang einiger Zöglinge mit anderen Schicksalsgenossen und manchmal sogar mit Aufsehern und Erziehern. Im Lager auf der Krim dagegen versuchten die Pioniere, die gegebenen Strukturen und Möglichkeiten zu nutzen, um individuelle Interessen und Vorstellungen durchzusetzen, und ignorierten oder umgingen dabei die geltenden Normen und Regeln. Am deutlichsten trat dieses Verhalten während der internationalen Sommerlager in Artek zutage, einem seitens der Direktion inszenierten Moment der Öffnung, das der Selbstdarstellung der Sowjetunion diente und sie der Weltöffentlichkeit als ein offenes, für Frieden, internationale Solidarität und für das Wohlergehen von Kindern eintretendes Land präsentieren sollte. Wenngleich sich die Lagerleitung um größtmögliche Kontrolle und Planung bemühte, war sie außerstande, die Risiken, die mit der Öffnung verbunden waren und zu einer Gefahr für die innere Ordnung Arteks hätten werden können, gänzlich zu eliminieren. Ursächlich hierfür war der Eigen-Sinn der Pioniere – und auch einiger Pionierleiter –, die wenig Interesse an den ritualisierten und schablonenhaften Veranstaltungen zur Völkerfreundschaft zeigten. Vielmehr wollten sie in ungezwungenen Kontakt mit Altersgenossen und Kollegen aus aller Welt treten. Paradoxerweise kam dieses Verlangen nicht von ungefähr. Es war ein Produkt der sowjetischen Propagandakampagnen zum sozialistischen Internationalismus, die zur Freundschaft und Solidarität mit Menschen aus aller Welt aufriefen. Die Parteiführer hatten allerdings keine realen zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen sowjetischen und ausländischen Pionieren und Pionierleitern, sondern allenfalls gemeinsame Lippenbekenntnisse zur Erhaltung des Weltfriedens im Sinn. Im Laufe der Zeit entwickelten kleine und große Sowjetbürger aber einen Glauben an den allseits propagierten Internationalismus und wollten ihren Vorstellungen entsprechend am internationalen Austausch teilhaben. Konfrontiert mit kollidierenden Interessenslagen und Erwartungen sah sich die Direktion des Lagers zur Er© 2020 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109//9783666310942 | CC BY-NC-ND 4.0

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greifung von Gegenmaßnahmen gezwungen. Dabei verstrickte sie sich häufig in Widersprüche, die das ursprüngliche Ziel pervertierten, und bekämpfte letztlich Erscheinungen, deren Entstehung sie  – beziehungsweise die staatliche Propagandamaschine – selbst hervorgerufen hatte. Anhand des Pionierlagers Artek ließ sich damit zugleich demonstrieren, dass »totale Institutionen« sich nicht nur als Zwangs-, sondern auch als Ermöglichungsraum darbieten und vielfältige Facetten jenseits von staatlichem Druck und staatlicher Kontrolle aufweisen können. Arteks multinationale Komposition, bestehend aus jungen Menschen unterschiedlichster Herkunft, Sprache, Kultur und Tradition, machte das Lager zu einem einzigartigen Ort innerhalb der Sowjetunion, der Erfahrungen und Chancen ermöglichte, die anderswo im Land undenkbar waren. Viele sowjetische Pioniere erlebten hier zum ersten Mal ein Gefühl von Internationalität und knüpften enge Kontakte zu Gleichaltrigen aus aller Welt. Einige waren derart überwältigt von der Atmosphäre im Lager, dass sie als Erwachsene hierher zurückkehrten. Eine berufliche Tätigkeit in Artek, die ihren Ausgang als Pionierleiter oder Dolmetscher nahm, konnte den Beginn einer vielversprechenden Karriere bedeuten und bis in die Führungsetagen der Pionierorganisation oder des Komsomol in Moskau führen. Die Perestroika, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die postsowjetische Transformation besaßen allerdings weitreichende Konsequenzen für das Pionierlager Artek, das infolgedessen nicht nur auf unionsweiter, sondern auch auf internationaler Ebene an Bedeutung verlor. Betroffen waren nicht zuletzt seine Mitarbeiter. Grigorij beispielsweise quittierte seinen Job im Zentralrat der Pionierorganisation und begann, für eine andere Massenorganisation zu arbeiten: In dieser Zeit wurden sehr viele direkte Kontakte aufgebaut und ich war gerade am richtigen Ort. Und dabei half mir auch, dass ich in Artek gearbeitet habe […] Man hat mich 1990 nach Boston eingeladen, um einen Vortrag vor der amerikanischen Ferienlager-Vereinigung zu halten […] Ich bin dort ohne Übersetzer aufgetreten, habe alles selbst gemacht und einen sehr guten Eindruck bei den amerikanischen Leitern hinterlassen […] Sie konnten es nicht glauben: Sie hatten erwartet, dass aus der Sowjetunion ein hohes Tier kommt, ein unnahbarer Typ wie Brežnev, der schlecht spricht […] Aber ich kam mit meiner Artek-Attitüde und habe alle umarmt, alle geküsst, mit allen gescherzt, mich mit allen unterhalten […] In dem Moment, als mein Vortrag an der Reihe war, wussten noch nicht alle, dass ein Russe teilnimmt und […] Englisch spricht. Und als ich fertig war, applaudierten sie zehn Minuten lang […] Naja, ich habe ernste Dinge manchmal ernst gesagt, manchmal aber auch mit etwas Humor, was den Amerikanern sehr gut gefallen hat.1

1 Interview mit Grigorij.

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Kurz darauf wurde Grigorij den Mitgliedern der Vereinigung vorgestellt und offiziell zum sowjetischen  – später russischen  – Vertreter ernannt. In den 2000er Jahren wählte man ihn zum Präsidenten der Vereinigung. Grigorij lebt heute abwechselnd in den USA und in Russland. Er steht immer noch in engem Kontakt zu Artek und seinen ehemaligen Kollegen.2 Ohne sich in die Schlinge kontrafaktischen Erzählens zu begeben, so bleibt doch anzumerken, dass Svetlanas Karriere wahrscheinlich ähnlich wie Grigorijs verlaufen wäre, hätte der Zusammenbruch der Sowjetunion sie nicht vorzeitig beendet. Denn auch Svetlana war als 14-Jährige mit überaus positiven Eindrücken aus Artek zurückgekehrt und hatte den Entschluss gefasst, als Erwachsene mit Kindern arbeiten zu wollen. Um dieses Ziel zu verwirklichen, nahm sie wenige Jahre später ein Studium der Pädagogik auf und konnte sich als Pionierleiterin für die Arbeit in Artek qualifizieren, wo sie diese Tätigkeit von 1987 bis 1989 ausübte. Problematisch war dabei, dass für diesen Beruf bald schon kein Bedarf mehr bestehen sollte. So schaffte es Svetlana aufgrund ihres jungen Alters und der politischen Veränderungen nicht mehr, die Karriereleiter bis in die Zentrale der Pionierorganisation in Moskau emporzuklettern. Es gelang ihr aber, nicht zuletzt aufgrund ihrer in Artek geknüpften Kontakte und Netzwerke, sich an den neuen Arbeitsmarkt anzupassen, ein eigenes Unternehmen aufzubauen und zu einer erfolgreichen Geschäftsfrau zu werden. Bis heute hält sie sowohl Kontakt zu früheren Kollegen als auch zu Pionieren, die sie in Artek betreut hat. Sie sucht regelmäßig Alumni-Treffen auf und reist zu besonderen Anlässen, so zum Beispiel zum 90-jährigen Bestehen des Lagers im Juni 2015, auf die Krim, um an den Feierlichkeiten direkt vor Ort teilzunehmen.3 Auch bei Boris hat der Aufenthalt in Artek Spuren hinterlassen. Als junger Mann war er im Komsomol aktiv und weilte im August 1991 ein zweites Mal in Artek – nun allerdings unter vollkommen anderen Voraussetzungen. Zu dieser Zeit diente das Lager als Kulisse für ein Treffen, auf dem über die Zukunft der sowjetischen Pionierorganisation und des Komsomol diskutiert wurde. Der Zusammenkunft in Artek war bereits ein früheres Treffen in Orlënok vorausgegangen. Da einige Unionsrepubliken und Oblaste Vertreter entsendeten, reiste auch Boris an, der als Komsomolsekretär das Gebiet ­Ivanovo repräsentierte. Im Zuge der Perestroika hatten sich etliche inoffizielle Jugendorganisationen und -klubs gebildet, die zusammengebracht werden sollten. Träger der Veranstaltung war die Leningrader Parteihochschule. Die Teilnehmer besuchten Vorlesungen und führten politische Debatten. Das Ziel bestand darin, sie auf die neue Zeit einzustimmen, künftige Aktivisten und

2 Ebd. 3 Interview mit Svetlana.

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politische Führer auszubilden. Der Augustputsch in Moskau, der sich just zu der Zeit ereignete, als sich Boris in Artek befand, beförderte jedoch den Zerfall der Sowjetunion und machte die Hoffnung auf eine neue reformierte Jugendorganisation zunichte. Boris nahm noch bis Anfang 1992 an weiteren Treffen teil, konnte sich aber seinen Lebensunterhalt in Leningrad beziehungsweise Sankt Petersburg, wo er sich inzwischen vorwiegend aufhielt, mit dieser Arbeit nicht mehr finanzieren. Er wechselte zunächst ins PR-Geschäft, entschied sich dann aber für eine wissenschaftliche Karriere.4 Auf Artek selbst kamen nicht minder schwierige Zeiten zu, denn mit dem ökonomischen Niedergang des Landes standen für die Unterhaltung eines derart riesigen Pionierlagers keine finanziellen Mittel mehr zur Verfügung. Außerdem mussten im Zuge der Auflösung der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine am 24. August 1991, zu deren Staatsterritorium auch die – 1994 als Autonome Republik deklarierte – Halbinsel Krim gehörte, neue bürokratisch-administrative Regelungen gefunden und Zuständigkeiten festgelegt werden. Aussagen von Angehörigen der Artek-Alumni-Community zufolge galt der Fortbestand des Lagers zunächst als ungewiss. Ein Vorteil war offensichtlich, dass Artek zu dieser Zeit unzählige Briefe von Menschen aus aller Welt erreicht haben, in denen ehemalige Besucher darum baten, das Lager unter keinen Umständen zu schließen. Neben der internationalen Intervention dürfte der hingebungsvolle Einsatz vieler ambitionierter ehemaliger Mitarbeiter weithin dazu beigetragen haben, dass dieses Szenario abgewendet werden und Artek weiter existieren konnte, wenngleich es nicht wenige Einschränkungen hinnehmen musste. Laut Gerüchten haben sich hochrangige Politiker, die Positionen in der Staatsduma bekleideten, während der chaotischen Umbruchsjahre Teile seines Territoriums angeeignet und hierauf private Feriendomizile errichtet. Dass das Gerücht nicht gänzlich aus der Luft gegriffen zu sein scheint, bekräftigt die Tatsache, dass das Gebiet, über das sich Artek heute erstreckt, nur noch eine Gesamtgröße von 218 statt der einstigen 320 Hektar (Stand: 1975) aufweist.5 Seit Juni 1991 als Internationales Kinderzentrum »Artek«6 (Meždunarod­nyj detskij centr (MDC) »Artek«) geführt, besaßen seine internationalen Aktivitäten, anders als der Name suggerieren mag, längst nicht mehr die Dimensionen von früher. Die überwiegende Mehrheit der Kinder und Jugendlichen, die nun nach Artek fuhr, stammte aus Russland, der Ukraine oder Belarus und gehörte, da die putëvki in der Regel käuflich erworben werden mussten, der

4 Interview mit Boris. 5 MDC »Artek«: Obščaja informacija. URL: http://artek.org/ob-arteke/obshaya-informaciya/ (am 25.4.2018); Furin / Rybinskij, Das Pionierlager Artek, 8. 6 Stribuk / Murašov, Artek: Ot A do Ja, 16.

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(neuen) Mittel- und Oberschicht an.7 Auch die Zahlen junger Besucher aus anderen GUS -Staaten sowie aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland gingen drastisch zurück. Gleichwohl bedeutete dies nicht, dass überhaupt keine internationalen Veranstaltungen mehr stattgefunden hätten. 1993 führte Artek beispielsweise ein Internationales Kinder-Kinofestival und 1994 ein Internationales aerokosmisches Festival durch. Doch waren diese Events angesichts ihrer geringen Tragweite in keiner Weise mit jenen vergleichbar, die während der internationalen Sommerlager vor 1991 stattgefunden hatten.8 Merkliche Verbesserungen traten erst in den 2000er Jahren auf, als das Teillager Meer grundlegend renoviert wurde. 2009 veranstaltete das MDC »Artek« ein internationales Sommerlager, zu dem 630 junge Teilnehmer aus 63 Ländern von allen fünf Kontinenten angereist waren, darunter auch acht Realschüler aus dem nordrhein-westfälischen Eschweiler.9 Ein neues Kapitel in der Entwicklung Arteks hat Russland 2014 im Zuge der Annexion der Halbinsel Krim aufgeschlagen. Zum einen erhielt das MDC »Artek« infolgedessen den Status einer Föderalen, aus dem Staatshaushalt finanzierten Bildungseinrichtung (Federal’noe gosudarstvennoe bjudžetnoe obrazovatel’noe učreždenie – FGBOU ), die dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft untersteht.10 Zum anderen startete die Regierung des Landes ein gewaltiges Entwicklungsprogramm, das den Titel »Artek« 2.0 ­Perezagruzka (»Artek« 2.0 Neustart) trägt und bis 2020 vollständig umgesetzt werden soll.11 Die Bezeichnung »Perezagruzka« kommt nicht von ungefähr. Sie impliziert jedoch nicht nur die Rückbesinnung auf sowjetische Traditionen sowie auf die Neuerungen und Verbesserungen, die in Bälde folgen sollen, sondern bringt zugleich die Periode zwischen 1991 und 2014 in Misskredit. An der Konstruktion der Narrativs, wonach das MDC seitens der Ukraine vernachlässigt worden sei, haben nicht zuletzt der Direktor Arteks, Aleksej Kaspržak, und sein Stellvertreter, Aleksandr Piminov, Anteil. In einem Interview erklärte ersterer, dass Artek in den letzten zehn Jahren kaum Investitionen erhalten 7 Möglich war dies beispielweise über private Agenturen wie Artek T(o)ur, die seit 1996 im Zentrum Moskaus angesiedelt ist. Bis heute können Eltern hier Ferienreisen für ihre Kinder in verschiedene Lager innerhalb der Russländischen Föderation, aber auch ins Ausland buchen. Siehe hierzu Artek Tur: Detskie lagerja. URL : http://artektour.ru/ detskie-lagerya.html (am 26.4.2018). 8 MDC »Artek«: Istorija Arteka. Novyj status Arteka. URL : http://www.artek.org/obarteke/​istoriya/novyy-status-arteka/ (am 26.4.2018). 9 Herrmann, Stefan: Realschüler waren auf der Krim: »Zum Abschied flossen Tränen«. In: Aachener Zeitung vom 21.8.2009. URL : http://www.aachener-zeitung.de/lokales/ eschweiler/realschueler-waren-auf-der-krim-zum-abschied-flossen-traenen-1.324051 (am 26.4.2018). 10 MDC »Artek«, Obščaja informacija. 11 Dass.: Artek 2.0 Perezagruzka. URL: http://map.artek.org/razvitie_vert.pdf (am 26.4.2018), 3.

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habe und im Grunde einem kommerziellen Unternehmen gleichgekommen sei. Dass es Gewinne einzustreichen versucht habe, erachtete Kaspržak als unvereinbar mit einer Einrichtung, die sich selbst als Bildungszentrum für Kinder versteht. Obendrein kritisierte er, dass sich bei seinem Dienstantritt von den bestehenden zehn Lagern nur drei in funktionstüchtigem Zustand befanden.12 Auch Piminov befeuerte diese Vorstellung, nachdem er von einer Journa­ listin nach seiner Meinung hinsichtlich der teilweise »schauerlichen« Zustände des Lagers befragt worden ist. Betroffen waren ihm zufolge der lagereigene Hafen und das Teillager Diamant, wo ein Gebäude angesichts des sandigen Untergrunds Risse davongetragen hat und gänzlich unbewohnbar geworden war. Ein weiteres Problem stellten die etwa 600 auf dem Territorium des MDC lebenden Personen dar, weil längst nicht alle, die in den 15 Wohnheimen Arteks untergebracht waren, hier auch arbeiteten. Einige waren einst im MDC angestellt gewesen, haben ihre Jobs später aber verloren und arbeiteten inzwischen anderswo, ohne dabei ihren Wohnort an die neue Arbeitsstätte verlegt zu haben.13 Dass Artek seitens der Ukraine viel zu geringe finanzielle Zuwendungen erhalten hat und deshalb weite Teile seines Geländes, seiner Infrastruktur und zahlreiche Gebäude brachlagen, ist zwar nicht in Abrede zu stellen. Allerdings wird es den Bemühungen vieler rühriger und engagierter Mitarbeiter nicht gerecht, die sich seit 1991 im Rahmen ihrer Möglichkeiten für seinen Erhalt eingesetzt und in Eigenregie immer wieder Reparaturen und Ausbesserungen durchgeführt haben.14 »Artek« 2.0 Perezagruzka sieht daher vor allem umfassende Renovierungsund Neubaumaßnahmen vor. Die bereits bestehenden zehn Teillager sollen komplett saniert und zusätzlich um zwei neue erweitert werden. Nach Abschluss der Bauarbeiten soll Artek 2020 imstande sein, in den Wintermonaten pro Durchgang 6.500 und in den Sommermonaten 10.000 Kinder gleichzeitig unterzubringen. Dass die Maßnahmen erste Wirkung zeigen, beweist die Anzahl der jungen Besucher, die das Lager in den letzten Jahren empfangen hat. Hatte es 2014 gerade einmal 5.854 Kinder beherbergt, belief sich ihre Zahl 2015 bereits auf 18.858 und 2016 auf 31.200 Kinder, die aus verschiedenen Regionen Russlands angereist waren. Zudem haben 1.100 Kinder aus 45 verschiedenen Ländern teilgenommen.15 12 Aleksej Kaspržak: »Artek dolžen stat’ lučšim detskim gorodom mira«. In: RiaNovosti vom 16.6.2014. URL : https://ria.ru/interview/20140616/1012167648.html (am 26.4.2018). 13 Berseneva, Anastasija: »Artek«: strojka na pjat’ let. Čto budet postroeno v detskom centre »Artek« v sledujuščie pjat’ let. In: Gazeta.ru vom 3.5.2015. URL : https://www.gazeta.ru/ social/2015/04/27/6658125.shtml# (am 26.4.2018). 14 Winkelmann, Das Pionierlager Artek, 43. 15 MDC »Artek«, Obščaja informacija; dass., Artek 2.0 Perezagruzka, 8.

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Veränderungen oblag in diesem Zusammenhang auch die Vergabe der putëvki. Um heute an einem dreiwöchigen Durchgang in Artek teilzunehmen, bieten sich Kindern und Jugendlichen aus Russland vier verschiedene Möglichkeiten: durch staatliche Förderung nach dem Leistungsprinzip (Schulzeugnisse, Auszeichnungen), durch erfolgreiche Teilnahme an einem Wettbewerb einer Partnerorganisation des Lagers – hierzu gehören beispielsweise die Russländischen Eisenbahnen (Rossijskie železnye dorogi – RŽD), die russländische Weltraumorganisation Roskosmos, die Fakultät für Biologie der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität oder auch der russische Judo-Bund  –, durch den kommerziellen Erwerb einer putëvka, deren Preis aktuell 80.000 Rubel, etwa 1.100 Euro beträgt (Stand: Mitte Juni 2019), sowie durch Programme zertifizierter Partner.16 Zugleich ist »Artek« 2.0 Perezagruzka darauf ausgelegt, die Einrichtung mit neuem Status zu versehen. So fordern die Autoren des Entwicklungsprogramms, Artek als Nationalgut Russlands (nacional’noe dostojanie Rossii) anzuerkennen. Indem sie es mit Errungenschaften und Leistungen wie der Eroberung des Kosmos oder dem Ansehen des russischen Balletts gleichsetzen, verlangen sie, dass menschliche Ressourcen, in diesem Falle Kinder und Jugendliche, für das Land als ebenso strategisch bedeutsam anerkannt werden müssen wie ökonomische oder kulturelle.17 Darüber hinaus hat sich »Artek« 2.0 Perezagruzka eine grundlegende Überarbeitung der erzieherischen Inhalte zur Aufgabe gestellt, im Rahmen derer die drei sogenannten »O« die Hauptrolle spielen: obrazovanie (Bildung), otdych (Erholung) und ozdorovlenie (Gesundung). Zu ersterem gehört die Entwicklung von Eigenschaften, die für den Menschen des 21. Jahrhunderts, wie es offiziell heißt, unabdinglich sind, beispielsweise Adaptions- und Kommunikationsfähigkeiten, Kreativität und Wissbegierde, soziale Verantwortung, kritisches Denk- und Problemlösungsvermögen, zwischenmenschliche Zusammenarbeit, Medienkompetenz und Selbstverwirklichung. Da die jungen Besucher die Möglichkeit erhalten sollen, ihren individuellen Interessen nachzugehen, beabsichtigt Artek, künftig vier verschiedene Fachrichtungen anzubieten: Eco (Tourismus, Archäologie, Geologie), Art (Literatur-Linguistisches Zentrum, Handwerk, Kunstschule, Kinostudio), Sport (Kampfsport, Eisstadion, Flottille) und Tech (Nanotechnologie, Robotertechnik, Modellieren, Raumfahrt, Eisenbahn).18 Wie aus einem Artikel von Simone Brunner in der Schweizer TagesWoche hervorgeht, belaufen sich die Kosten für das gewaltige Neustartvorhaben auf 16 Dass.: Informacija dlja roditelej. Kak polučit’ putevku v »Artek«. URL : http://artek.org/ informaciya-dlya-roditelyay/kak-poluchitsya-putevku-v-artek/ (am 26.4.2018). 17 Dass., Artek 2.0 Perezagruzka, 28. 18 Ebd., 12–18.

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21 Milliarden Rubel, was etwa 290 Millionen Euro (Stand: Mitte Juni 2019) entspricht. Brunner zufolge hat sich seitens der Anrainer allerdings Widerstand gegen »Artek« 2.0 Perezagruzka formiert. Auf Kritik stießen nicht nur die finanziellen Aspekte, sondern auch die Pläne bezüglich der territorialen Expansion des MDC , im Zuge derer 1.500 Personen umgesiedelt, zwei bisher öffentlich zugängliche Strände, zwei Friedhöfe sowie zahlreiche Zufahrtsstraßen geschlossen werden müssen. Wenngleich Sergej Aksënov, das politische Oberhaupt der Halbinsel Krim, angesichts des öffentlichen Drucks zugegeben hat, Artek unrechtmäßig Land zur Verfügung gestellt zu haben, so hält sich Moskau in dieser Angelegenheit bedeckt und lässt die Direktion des Lagers weiter gewähren.19 Arteks Ausbau schreitet indes unbehelligt voran. Zugleich versucht das MDC sukzessiv, seine einstige Bedeutung wiederzugewinnen. Ausdruck hierfür ist nicht zuletzt der Besuch von acht Abgeordneten der Alternative für Deutschland (AfD) aus Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen, die im Februar 2018 auf die Halbinsel Krim gereist sind und dabei auch Artek besichtigt haben.20 Ein anderes Kuriosum kam am 15. April 2018 ans Licht, als der russische Staatsduma-Abgeordnete Dmitrij Sablin verlauten ließ, dass die drei Kinder des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad 2017 ihre Ferien in Artek verbracht haben. Sie sind zusammen mit einer Gruppe, die aus insgesamt 44 syrischen Kindern und Jugendlichen bestand, in das MDC auf der Krim gereist.21 Dass das MDC »Artek« in den kommenden Jahren wieder zu einem Anziehungspunkt für Kinder und Jugendliche aus aller Welt werden wird, ist allein deshalb nicht anzunehmen, weil die Halbinsel Krim für die Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft weiterhin ukrainisches Staatsgebiet darstellt und ihre illegitime De-facto-Zugehörigkeit zu Russland die Initiierung von Austauschprogrammen verbietet. Wahrscheinlich ist eher, dass sich hier junge Menschen versammeln werden, deren Herkunftsländer gute Beziehungen zu Russland unterhalten. Überdies bleibt abzuwarten, ob sich die immensen Kosten, die Artek auch über 2020 hinaus verschlingen wird, decken lassen oder ob Teile seines Territoriums zu einer Investitionsruine verkommen werden.

19 Brunner, Simone: Der Kreml baut auf der Krim ein Paradies für die russische Jugend. In: TagesWoche vom 26.7.2016. URL: https://tageswoche.ch/politik/der-kreml-baut-auf-derkrim-ein-paradies-fuer-die-russische-jugend/ (am 26.4.2018). 20 Bundesregierung kritisiert Krim-Besuch von AfD-Politikern. In: ZEIT ONLINE vom 5.2.2018. URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-02/afd-landtagsabgeordnete​ -krim-reise-bundesregierung-distanzierung (am 26.4.2018). 21 Russian-Controlled Crimea’s Artek Youth Camp Hosted Assad children. In: BBC vom 16.8.2018. URL : http://www.bbc.com/news/world-europe-43782031 (am 28.4.2018).

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Während seine Zukunft noch ungewiss ist, besteht an seiner Vergangenheit weniger Zweifel. Artek hat nämlich einen festen Platz im »kollektiven Gedächtnis«22 Russlands und kann als »Erinnerungsort«, als sogenannter »lieu de mémoire«23 gelten. Anlässlich des 90-jährigen Bestehens Arteks fanden nicht nur im Lager selbst,24 sondern auch in der russischen Hauptstadt diverse Veranstaltungen und Ausstellungen25 statt. Das Hauptevent in Moskau ereignete sich am 23. Mai 201526 und nahm auf dem Friedhof des Neujungfrauen-Klosters seinen Ausgang, wo Zinovij Solov’ëv, der Gründer Arteks, beerdigt ist. Die hier versammelte Gruppe, bestehend aus 20 bis 25 ehemaligen Artek-Pionieren und -mitarbeitern, die mehrheitlich älter als 50 Jahre waren, legte an seinem Grab zunächst Blumen nieder, hielt anschließend eine Schweigeminute ab und sang zum Schluss ein bekanntes Artek-Lied, das den Titel Artekovskaja kljatva (Artek-Schwur) trägt.27 Danach stand ein Bus bereit, der die Teilnehmer zur Moskauer Universität für Geisteswissenschaften (Moskovskij Gumanitarnyj Universitet – MosGU ) brachte, wo die Veranstaltung ihre Fortsetzung fand. Der Ort war nicht grundlos gewählt, hatte sich hier doch bis 1990 die Höhere Komsomolschule (Vysšaja Komsomol’skaja 22 Der Begriff geht auf Maurice Halbwachs zurück. Ausführlicher hierzu siehe Halbwachs, Maurice / Maus, Heinz / Lhoest-Offermann, Holde: Das kollektive Gedächtnis. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1991; Halbwachs, Maurice / Geldsetzer, Lutz: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt am Main 2012 sowie Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007. Zum Gedächtnis, zur Erinnerungskultur und Geschichtspolitik im gegenwärtigen Russland siehe Karl, Lars / Polianski, Igor J.: Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Göttingen 2009 sowie Frieß, Nina A.: Nichts ist vergessen, niemand ist vergessen? Erinnerungskultur und kollektives Gedächtnis im heutigen Russland. Potsdam 2010. 23 Den Terminus »Erinnerungsort« hat Pierre Nora geprägt. Siehe hierzu François, Etienne: Pierre Nora und die »Lieu de mémoire«. In: Nora, Pierre (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs. München 2005, 7–14; Nora, Pierre: Gaullisten und Kommunisten. In: Nora, Pierre (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs. München 2005, 214–252. 24 Im MDC »Artek« hat am 16. Juni 2015 eine gigantische Jubiläumsshow mit einem Abschlussfeuerwerk stattgefunden, zu der nicht nur ehemalige Besucher und Mitarbeiter aller Generationen, sondern auch hochrangige Politiker wie Dmitrij Medvedev, der Ministerpräsident der Russländischen Föderation, und Dmitrij Livanov, der Minister für Bildung und Wissenschaft, angereist waren. MDC »Artek«: »Artek« otmetil 90-letnij jubilej. URL : media.artek.org / media / announcement / announcement/95/ae/95aef2f2aa78–4b92-b7c8–01d92302e3a3.docx (am 28.4.2018). 25 Im Erdgeschoss des Moskauer Traditionskaufhauses GUM befand sich im Mai / Juni 2015 eine öffentlich zugängliche und kostenlose Foto-Ausstellung, welche die Geschichte Arteks in Bildern erzählt hat. 26 Die Ausführungen zur Veranstaltung vom 23. Mai 2015 in Moskau beruhen auf teilnehmender Beobachtung der Autorin. 27 Das Lied wurde anlässlich des VI . Allunions-Pionierkongresses komponiert, der 1974 in Artek stattgefunden hatte. Černyšov, Kogda poët Artek, 133–135.

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Škola  – VKŠ) befunden, eine Eliteeinrichtung, die nicht nur sowjetische, sondern auch ausländische Studenten für Tätigkeiten in der Leitungsebene des Komsomol beziehungsweise vergleichbarer ausländischer Organisationen qualifizieren sollte. Hier angekommen, ging es in der Aula der Universität mit einem dreistündigen Bühnenprogramm weiter. Die Aula, die schätzungsweise Platz für 450 Personen bereithält, war allerdings nur zu einem Bruchteil besetzt. Obschon inzwischen weitere Artek-Alumni hinzugekommen sind, belief sich die Gesamtteilnehmerzahl auf nicht mehr als 80 bis 100 Personen. Die überwältigende Mehrheit hiervon war vor 1991 in Artek gewesen und demnach mindestens 40 Jahre alt. Die ältesten Ehemaligen kannten das Lager noch aus den späten 1940er und frühen 1950er Jahren und waren damit über 80 Jahre alt. In den Gesprächen, die die Alumni vor und nach dem Programm geführt haben, kristallisierte sich unabhängig ihres Alters eine Sowjet-Nostalgie heraus, deren Grund offenbar in den chaotischen 1990er Jahren zu suchen ist, die sie bewusst miterlebt haben. Svetlana Boym zufolge trug das verlorene Potenzial der politischen Transformation wesentlich dazu bei, dass Nostalgie zu einem Massenphänomen und zu einem Abwehrmechanismus gegen den rasanten Wandel und Verlust von Werten sowie insbesondere gegen die wirtschaftliche Schocktherapie avancierte.28 Bei vielen Artek-Alumni kommt hinzu, dass ihre Biografien mit dem Untergang der Sowjetunion eklatante Brüche erlitten haben, was von den Betroffenen selbst aber so nicht wiedergegeben wird. Wenngleich Menschen generell dazu neigen, ihren Lebensläufen Kohärenz, Kontinuität und Sinnhaftigkeit zu verleihen,29 so spielen im Falle Arteks weitere Faktoren eine Rolle. Zum einen hat das Lager den sowjetischen Pionieren und Mitarbeitern stets das Gefühl vermittelt, zur auserlesenen Elite des Landes zu gehören  – ein Bewusstsein, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verloren ging. Zum anderen ist bereits in den späten 1960er Jahren ein Erzählmuster aufgekommen, wonach ehemalige Artek-Pioniere ihr Leben in eine Zeit vor und nach dem Aufenthalt im Lager einteilen, um ihm einen besonderen Sinn für ihren weiteren Lebens- und Karriereweg zuzuschreiben.30

28 Boym, The Future of Nostalgia, 64. 29 Yow, Valerie Raleigh: Recording Oral History. A Guide for the Humanities and Social Sciences. 2. Aufl. Lanham, MD 2005, 222. 30 Dieses Erzählmuster geht offenbar auf Nadežda Ruševa (1952–1969) zurück, eine sowjetische Künstlerin und Grafikerin, die schon als Jugendliche zu großer Bekanntheit gelangt und im Sommer 1967 in Artek gewesen war. Siehe hierzu Džakaeva, Tat’jana / Kolomijčuk, Valentina: »Moja žizn’ delitsja na dva ėtapa! Do poezdki v ›Artek‹ i posle«. K 65-letiju so dnja roždenija Nadi Ruševoj. In: Artek – So-Bytie 2 (2017), 86–92. URL : http://media.

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Auch Svetlana stilisiert ihren Besuch in Artek im Sommer 1982 bis heute zu einem entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben, weil sie hier, wie sie selbst sagte, begriffen habe, dass sie später einmal mit Kindern arbeiten möchte.31 Wenngleich anzunehmen ist, dass sie ihre postsowjetische berufliche Neuorientierung in der Wirtschaft Kontakten verdankt, die sie in Artek respektive über die Pionierorganisation und den Komsomol geknüpft hat,32 so ignoriert sie doch, dass die Inhalte ihres sowjetischen Pädagogik-Studiums hierfür kaum Relevanz besitzen.33 Obschon Nostalgie gemeinhin als ein »›longing for what is lacking in a changed present … a yearning for what is now unattainable, simply because of the irreversibility of time‹«34 definiert wird, so sucht die russische Regierung mit »Artek« 2.0 Perezagruzka augenscheinlich zu beweisen, dass sie durchaus imstande ist, die Zeit zurückzudrehen. Die Sehnsucht vieler Artek-Alumni – sowie unzähliger anderer Menschen im gegenwärtigen Russland  – nach geord­neten Verhältnissen, einheitlichen Normen, Regeln und Strukturen, nach einer Stabilität, wie es sie ihrer Auffassung nach in der Sowjetunion gegeben hat, dient dem Kreml auch heute noch zur Legitimation seiner politischen Schritte. Während Artek selbst zwischen 1991 und 2014, als es Durststrecken durchlebte und nicht mehr als ein Schattendasein fristete, nie aus dem kollektiven Gedächtnis Russlands wegzudenken war, stellen Arbeitskolonien bis heute weiße Flecken in der Erinnerungslandschaft dar. Selbst die Menschenrechtsorganisation Memorial verfügt über keine Ego-Dokumente wie Briefe oder

31

32

33 34

artek.org/media/uploads/so-bitie/artek3na-sayt.pdf (am 30.4.2018). Bei Artek – So-Bytie handelt es sich um eine vom MDC »Artek« seit 2011 herausgegebene Zeitschrift, die zwei bis dreimal pro Jahr erscheint und Beiträge zu methodischen Fragen ebenso wie Artikel von rein informativer Natur rund um Artek enthält. Aussagen wie »Artek hat mein Schicksal bestimmt« oder »Nach Artek wollte ich mit Kindern arbeiten« finden sich bei vielen ehemaligen Artek-Pionieren. Siehe hierzu beispielsweise Berger, Michail: Artek opredelil moju sud’bu. In: Vansovič, Elena et al. (Hg.): »Artekovec segodnja – Artekovec vsegda!«. K 90-letiju Arteka. Moskau 2015, 47–49 sowie Dimova, Irina: Posle Arteka mne zachotelos’ rabotat’ s det’mi. In: Vansovič, Elena et al. (Hg.): »Artekovec segodnja – Artekovec vsegda!«. K 90-letiju Arteka. Moskau 2015, 77–81. Wie Steven Lee Solnick dargelegt hat, gehören viele ehemalige Komsomolfunktionäre heute Russlands neuer Business-Elite an. Solnick, Stealing the State, 110–116, 123. Einer, dessen Erfolg und Aufstieg auf diese Art und Weise begann, ist niemand Geringeres als Michail Chodorkovskij, der ehemalige Vorsitzende des zerschlagenen Ölkonzerns Jukos. Siehe hierzu Chodorkovskij, Michail: Ja chotel byt’ lučšym. In: Chodorkovskij, Michail / Gevorkjan, Natalija (Hg.): Tjur’ma i volja. Moskau 2012, 69–89. Interview mit Svetlana. Angé, Olivia / Berliner, David: Introduction. Anthropology of Nostalgia – Anthropology as Nostalgia. In: Angé, Olivia / Berliner, David (Hg.): Anthropology and Nostalgia. New York, NY 2015, 2.

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tagebuchartige Notizen ehemaliger Zöglinge und Mitarbeiter der Kolonien, sondern allenfalls über Erinnerungen von Kindern repressierter Eltern.35 Dies bedeutet wiederum nicht, dass die russländische Gesellschaft keine Kenntnis von der Existenz der Arbeitskolonien besitzt. Ihr sowjetisches Erbe ist bis heute präsent, da der Staat nach wie vor an entsprechenden Institutionen festhält, die offiziell unter der Bezeichnung Erziehungskolonie (vospitatel’naja kolonija) geführt werden. Vereinzelt finden sich in russischen sozialen Netzwerken wie bei Vkontakte (In Kontakt) auch ehemalige minderjährige Insassen, die nach früheren Mithäftlingen suchen.36 Ebenso bietet hier ein Jurist, der für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg arbeitet, kostenlose Rechtsberatung für inhaftierte Minderjährige und deren Angehörige an.37 Doch im Gegensatz zu den erwachsenen Opfern politischer Repressionen, für die im Zuge der Perestroika Ukasse und Gesetze zur Rehabilitierung auf den Weg gebracht worden sind, die die Wiederherstellung ihrer Rechte ermöglicht haben,38 existieren für ehemalige Zöglinge sowjetischer Arbeitskolonien sowie Arbeits- und Erziehungskolonien keinerlei vergleichbare Maßnahmen. Über die Ursachen kann nur spekuliert werden. Eine ausschlaggebende Rolle dürfte der Umstand spielen, dass die verhängten Strafmaße für Kinder und Jugendliche, auch wenn viele von ihnen nie gerichtlich verurteilt worden sind, offiziell keinen politischen Charakter besaßen. So absurd und inhuman die Gesetzeslage der unmittelbaren Nachkriegszeit auch gewesen sein mag, auf deren Grundlage mehrjährige Haftstrafen für das Stehlen selbst kleinster Mengen Brot ausgesprochen werden konnten, müssten für eine Rehabilitierung nicht nur neue Ukasse und Gesetze initiiert, sondern die Betroffenen 35 Die Autorin hat hierzu am 14. März 2016 eine E-Mail-Anfrage an Memorial gerichtet. Die Antwort folgte am 15. März 2016. Ego-Dokumente von Kindern repressierter Eltern finden sich in Quellensammlungen wie Vilenskij, Deti GULAGa und Frierson / Vilenskij, Children of the Gulag. 36 Siehe die Gruppe der Ikšanskaja vospitatel’naja kolonija  – IVK . URL : https://vk.com/ club46242190 (am 30.4.2018). 37 Siehe die Gruppe Vsë o Evropejskom sude po pravam čeloveka. URL : https://vk.com/ club136790642 (am 30.4.2018). 38 Am bedeutendsten erwies sich das Gesetz vom 18. Oktober 1991 Über die Rehabilitierung der Opfer der politischen Repressionen, das auch ihre Angehörigen und Nachkommen inkludierte. Heftige Kontroversen im Obersten Sowjet hatte damals die Frage nach der Entschädigung der Opfer hervorgerufen. Finanzielle und materielle Leistungen erhielten sie nicht. Dafür bekamen sie einige Privilegien zugesprochen und können beispielsweise lokale Verkehrsmittel kostenlos nutzen, Vergünstigungen hinsichtlich Miet- und Nebenkosten sowie in der medizinischen Versorgung in Anspruch nehmen. Scherbakowa, Irina: Gefängnisse und Lager im sowjetischen Herrschaftssystem. In: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED Diktatur im Prozeß der Deutschen Einheit«. Bd. VI: Gesamtdeutsche Formen der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen und ihre Opfer. Baden-Baden 1999, 608–614.

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überhaupt erst einmal als Opfer begriffen werden. Ihre Zahl ist im Vergleich zu den politischen Häftlingen des Gulag jedoch schwindend gering, sodass es augenscheinlich nie umfassende Bemühungen aus ihren eigenen Reihen gegeben hat, sich selbst als Opfer wahrzunehmen, auf Rehabilitierung und Entschädigung zu bestehen. Obendrein befinden sich unter den ehemaligen Zöglingen nicht nur solche, die im Zuge der Hungersnot von 1946/47 minimale Lebensmittelmengen gestohlen, sondern auch jene, die schwere Raubüberfälle, Körperverletzungen mit und ohne Todesfolge oder gar Morde begangen haben. Während die Häftlinge des Gulag eindeutig in die Kategorien der Politischen und Kriminellen eingeteilt werden können, lässt sich eine ähnlich klare Grenzziehung zwischen den Minderjährigen in den Kolonien, die alle, wenn auch in noch so unbedeutendem Maße, als Delinquenten gelten, weitaus schwieriger vornehmen. Angesichts der gegenwärtigen politischen Lage in Russland ist es höchst unwahrscheinlich, dass auf absehbare Zeit Veränderungen eintreten werden. Den Anstoß zur Aufarbeitung könnte wohl am ehesten eine Organisation wie Memorial liefern. Dass sie den notwendigen Zugang zu den Archiven erhalten wird, ist allerdings nicht anzunehmen, da sie in Russland seit 2016 als »ausländischer Agent« gilt.39 Davon abgesehen fehlt es aktuell an politischem Willen und Interesse, düstere Kapitel der eigenen Geschichte aufzuarbeiten. Die Ursachen liegen nicht nur in der Vermeidung von Entschädigungszahlungen oder der Bereitstellung von Privilegien, sondern auch der Aufrechterhaltung des positiven Selbstbildes des Staates begründet. Wie einst die Sowjetunion inszeniert sich auch das gegenwärtige Russland als Beschützer und Bewahrer der Rechte von Kindern – einerseits deshalb, um seinem politischen Tun und Handeln Integrität zu verleihen, andererseits, um demografische Probleme zu beheben. Im Zuge der Parlamentswahlen vom 19. Dezember 1999 zierten die russische Hauptstadt Wahlplakate, auf denen das Gesicht eines etwa eineinhalbjährigen Kleinkindes abgebildet war. Zusammen mit dem sich neben ihm angebrachten Spruch 19. Dezember – Ich verlasse mich auf euch! (19 dekabrja – ja nadejus’ na vas!) suchte das Poster zu vermitteln, dass Kinder des Schutzes und der Fürsorge Erwachsener bedürfen und Wählen zu den Pflichten eines 39 Das Rechtszentrum von Memorial war bereits 2015, seine internationale Abteilung ist Anfang Oktober 2016 zum ausländischen Agenten erklärt worden. Russia Includes Branch of Memorial in Foreign Agents List. In: RFERL vom 4.10.2016. URL : https://www.rferl.org/a/ russia-memorial-foreign-agent-ngos/28031275.html (am 29.4.2018). Möglich wurde dies durch ein von Vladimir Putin erlassenes Gesetz vom 20. Juli 2012, das Nicht-Regierungsorganisationen, die politisch aktiv sind und Gelder aus dem Ausland erhalten, als ausländische Agenten einstufen kann. Siehe hierzu Federal’nyj zakon ot 20.07.2012 № 121-FZ: »O vnesenii izmenenij v otdel’nye zakonodatel’nye akty Rossijskoj Federacii v časti regulirovanija dejatel’nosti nekommerčeskich organizacij, vypolnjajuščich funkcij inostrannogo agenta«. URL : http://publication.pravo.gov.ru/Document/View/000120120723000​ 3?index=0&rangeSize=1 (am 29.4.2018).

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jeden russländischen Staatsbürgers gehört.40 Das Jahr 2008 wurde in Russland schließlich zum Jahr der Familie41, 2009 zum Jahr der Jugend42 erklärt. Vor diesem Hintergrund sind Fälle von (sexuellem) Kindesmissbrauch, Vergewaltigung oder Gewalt gegen Kinder grundsätzlich heikel, vor allem dann, wenn sie sich innerhalb staatlicher Institutionen ereignen. Vorkommnisse dieser Art werden auch heute noch weithin tabuisiert oder als unbedeutende Einzelfälle abgetan und ziehen selten weitreichende Konsequenzen nach sich. So haben russische Medien im Februar 2018 bekanntgegeben, dass in einem Waisenhaus in der Oblast Čeljabinsk mindestens sieben Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind. Zunächst standen vier Erzieher und zwei außenstehende Männer unter Tatverdacht.43 Mitte März durften erstere vier in die Einrichtung zurückkehren, weil sie – so unvorstellbar es auch klingen mag – inzwischen Schulungen und Qualifizierungen durchlaufen hatten. Anklage erging lediglich gegen ein Bauernopfer, einen Mann, bei dem es sich offiziellen Angaben zufolge um einen Besucher gehandelt haben soll.44 Da Russland bis heute eine Vielzahl staatlicher Einrichtungen für Kinder und Jugendliche betreibt, angefangen bei Waisenheimen über Internate bis hin zu Erziehungskolonien, und damit nach wie vor am Modell der »totalen Institution« festhält, sucht es negative Vorkommnisse zwingend zu verheimlichen oder zu bagatellisieren, insbesondere dann, wenn sie den Anschein systembedingten Charakters erwecken könnten. Dass das Land auf der einen Seite Milliarden von Rubeln in eine einzige Kindereinrichtung auf der Krim zu stecken vermag, auf der anderen Seite aber nicht bereit ist, vier Pädagogen in einem Waisenheim zu ersetzen, die höchstwahrscheinlich pädophil sind oder Kollegen mit entsprechenden Neigungen decken und gewähren lassen, 40 Kelly, Children’s World, 1–3. 41 Semejnye cennosti. In: Rossijskaja Gazeta vom 6.11.2008. URL : https://rg.ru/2008/11/06/ itogi.html (am 30.4.2018). 42 2009 god v Rossii ob’’ javlen Godom molodeži. In: Vesti vom 22.9.2008. URL : http://www. vesti.ru / doc.html?id=210633&cid=7 (am 29.4.2018). 43 V Čeljabinskoj oblasti zaveli delo ob iznasilovanijach vospitannikov detskogo doma. In: Meduza vom 19.2.2018. URL: https://meduza.io/news/2018/02/19/v-chelyabinskoy-oblasti-​ zaveli-delo-ob-iznasilovaniyah-vospitannikov-detskogo-doma (am 29.4.2018). Ausführlicher zu den Vorkommnissen siehe Berg, Evgenij: »Deti priznalis’, čto ich ėtomu naučili v detdome«. Vospitatelej internata v Čeljabinskoj oblasti podozrevajut v iznasilovanijach vospitannikov. In: Meduza vom 20.2.2018. URL : https://meduza.io/feature/2018/02/20/ vospitateli-internata-v-chelyabinskoy-oblasti-podozrevayutsya-v-tom-chto-god-nasilovali-​ detey-i-mogut-uyti-iz-pod-otvetstvennosti (am 29.4.2018) sowie ders.: Deti, kotorye govorili strannye vešči. Evgenij Berg rasskazyvaet istoriju Lazurnenskogo internata. Ego sotrudnikov obvinili v iznasilovanii detej. In: Meduza vom 27.2.2018. URL : https://meduza. io/feature/2018/02/27/deti-kotorye-govorili-strannye-veschi (am 29.4.2018). 44 Sotrudniki čeljabinskogo internata, gde nasilovali detej, prošli kursy povyšenija kvalifikacii. In: Ėcho Moskvy vom 29.4.2018. URL : https://echo.msk.ru/news/2193078-echo.html (am 29.4.2018).

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zeugt von einem ähnlich ambivalenten und perfiden Umgang mit Kindern und Jugendlichen, wie er für die Sowjetunion charakteristisch war. In Archangelsk existiert im Übrigen bis heute eine Erziehungskolonie (Archangel’skaja vospitatel’naja kolonija – AVK ), die der föderalen Strafvollzugsbehörde der Oblast Archangelsk (Upravlenie federal’noj služby ispolnenija nakazanij – UFSIN ) angehört.45 Sie befindet sich jedoch an anderer Stelle als die einstige sowjetische Arbeitskolonie, liegt etwa 17 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums und ist deutlich besser zugänglich, da Straßen- und Brückenverbindungen zu ihr bestehen.46 Im ersten Halbjahr 2016 verbüßten hier 46 Jugendliche aus der Oblast Archangelsk, zwei aus der Oblast Vologda, 37 aus der Republik Komi, sechs aus der Republik Karelien und drei Jugendliche aus der Oblast Murmansk ihre Strafen, von denen fünf zwischen 14 und 15 Jahren, 59 zwischen 16 und 17 und 30 bereits 18 Jahre alt waren.47 Die ursprüngliche Arbeitskolonie für Minderjährige auf der Insel im DwinaDelta ist 1960 geschlossen und in eine Besserungseinrichtung für Erwachsene umgewandelt worden. Der Betrieb Konvejer hat hier noch bis vor wenigen Jahren Arbeiter beschäftigt und Waren produziert. Interesse erfährt heute allenfalls die von Pëtr I. erbaute Festung, die Novodvinskaja krepost’. Wenngleich sie bereits 1960 vom Ministerrat der RSFSR in die Liste der Geschichtsund Kulturdenkmäler aufgenommen worden ist, hat sich in der Zwischenzeit weder der sowjetische noch der russländische Staat für ihren Schutz eingesetzt. Seit Dezember 2007 gehört sie zum Besitz des Heimatmuseums der Oblast Archangelsk, das seither darauf hofft, Maßnahmen zu ihrem Erhalt ergreifen zu können. Da die UFSIN ihrer Aufgabe, die Überreste der Strafanstalten zu beseitigen, noch nicht nachgekommen ist, können die Mitarbeiter des Museums keine Instandsetzungsarbeiten an der Festung durchführen.48 Das Gelände liegt daher brach. Die Gebäude sind bereits weitgehend verfallen. Summa summarum ist zu konstatieren, dass die im Pionierlager Artek und der Archangelsker Arbeitskolonie an Kindern und Jugendlichen vorgenommenen Disziplinierungs- und Erziehungsmaßnahmen in den seltensten Fällen die erhofften Resultate erzielt haben. Entweder blieben sie weit hinter den Erwartungen zurück oder sie erreichten Ergebnisse, welche die Partei-

45 Siehe die offizielle Website der Einrichtung UFSIN Rossii po Archangel’skoj oblasti: Archangel’skaja vospitatel’naja kolonija. URL : http://avk.ufsin29.ru/ (am 29.4.2018). 46 UFSIN Rossii po Archangel’skoj oblasti: Archangel’skaja vospitatel’naja kolonija. Obščaja informacija. Kontaktnaja informacija. URL : http://avk.ufsin29.ru/news/allinform/page3. php (am 29.4.2018). 47 Dass.: Archangel’skaja vospitatel’naja kolonija. Obščaja informacija. Informacionnaja spravka. URL : http://avk.ufsin29.ru/news/allinform/page2.php (am 29.4.2018). 48 Gostev, Istorija razrušenija Novodvinskoj kreposti, 27.

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Schluss oder: Ein Ende ohne Ende

führer nie intendiert hatten. Umso erstaunlicher ist es, dass Russland bis heute ein weites Netz an staatlichen Erziehungseinrichtungen, darunter Waisenheime, Internate, Ferienlager und Kolonien, unterhält, deren grundlegende Arbeits- und Funktionsweise sich kaum von der ihrer sowjetischen Vorgänger unterscheidet.

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Danksagung

Das Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner im Juni 2018 an der Universität Regensburg eingereichten Dissertation. Die Arbeit ist im Rahmen der durch die Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien (GS OSES) entstanden. Für die Möglichkeit, hier zu promovieren, möchte ich den Mitgliedern der GS OSES ganz herzlich danken. Namentlich gilt mein erster Dank meinem Doktorvater Ulf Brunnbauer, der die Arbeit durch seine konstruktive Kritik und seine inspirierenden Gedanken auf vielfältige Art und Weise unterstützt hat. Meinem Zweitbetreuer, Guido Hausmann, danke ich nicht nur für seine klugen Anregungen und Hinweise, sondern auch für seine Fähigkeit, bestimmten Sachverhalten mit ganz anderer Lesart zu begegnen. Beiden danke ich zudem dafür, dass sie mir größtmögliche wissenschaftliche Freiheit gewährt haben. Ich hoffe, dass sie es mir nicht übelgenommen haben, dass ich ihnen nie einen Gliederungsentwurf oder einen Arbeits- und Zeitplan gegeben habe. Die Sinnhaftigkeit von Entwürfen, Plänen und Listen hat sich mir bis heute nicht erschlossen. Während meiner Forschungsaufenthalte in Moskau und Archangelsk haben mir Elena Vishlenkova, Oksana Zaporozhets und Aleksey Feldt mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Auch in den Archiven gab es immer wieder Mitarbeiter, die mich wunderbar unterstützt haben. Im RGASPI hat man mich, nachdem ich drei Monate lang jeden Tag aufgetaucht bin und am Ende schon fast zum Bestand des Archivs gehört habe, sogar mit Bliny und Wodka verabschiedet. Die teilweise sehr persönlichen Geschichten meiner Interviewpartnerinnen und Interviewpartner haben dazu beigetragen, dass die Arbeit an einigen Stellen deutlich lebhafter werden konnte. Ich danke ihnen deshalb für das mir entgegengebrachte Vertrauen und hoffe, dass es mir gelungen ist, ihre Erzählungen und Erfahrungen weitgehend getreu wiederzugeben. Mein Dank gilt zudem einer Reihe weiterer Personen, die in mehr oder minder starkem Maße einen Anteil an der Entstehung dieser Arbeit hatten. Zunächst wäre das Kerstin Susanne Jobst, die mich überhaupt erst auf die Idee gebracht hat, eine Dissertation zum Pionierlager Artek zu verfassen. Weiterhin sind Melanie Arndt, Charlie Beacroft, Mirjam Galley, ­Luminita Gatejel, Adrian Grama, Heidrun Hamersky und Wolfgang Schlott, Andrew Hodges, Helena Holzberger, Petar Kehayov, Friederike Kind-Kovács, AnnaDorothea Ludewig, Jacqueline Nießer, Mara Matičević, Edvin Pezo, ­Svetlana © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109//9783666310942 | CC BY-NC-ND 4.0

Danksagung

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Suveica, Dóra Vuk, Cindy Wittke, Angelika Zausinger, meine Bürogenossinnen und Bürogenossen Annelie Bachmaier, Julia Kling, Andrey Vozya­nov und Eva-Maria Walther sowie die Mitglieder der GS OSES -Studiengruppe »Migration, Transfer, Kulturkontakt« zu nennen. Manche von ihnen haben meine Arbeit durch wertvolle Ratschläge bereichert, andere haben mir geholfen, die Höhen und Tiefen des Promotionsalltags zu überstehen. Einige waren mit der Zeit nicht mehr nur Kollege oder Kollegin, sondern sind zu Freund oder Freundin geworden. Weitere Kollegen, darunter David Franz, Henner Kropp, Frederik Lange, Jeremias Schmidt und Jasper Trautsch, waren exzellente Kumpane für wissenschaftliche Exkursionen in die Regensburger Biergärten. Jasper danke ich auch für seine kritischen Anmerkungen zu meinem Buchmanuskript. Im Laufe meines Studiums und meiner Promotion konnte ich stets auf die Unterstützung meiner Freunde Anja, Elli, Jochen, Lejly, Micha, Ruth, Stefan, Steven und Tina bauen. Unvergessen sind mir vor allem unsere Reisen nach Osteuropa. Gemeinsam haben wir an den verschiedensten Orten Bier, Wodka, Horilka und Rakija getrunken, Balkanbeats und Oppositionslieder gehört, der sibirischen Kälte getrotzt, zahlreiche Städte von Sankt Petersburg bis Sofia unsicher gemacht und sogar Schmuggelvorwürfe an der EU-Außengrenze – erfolgreich! – abgestritten. Es tut mir leid, dass ich während meiner Promotion so wenig Zeit für euch hatte. Nachdem diese Aufgabe nun aber geschafft ist, freue ich mich auf unsere nächsten Abenteuer! Dass ich begonnen habe, mich für Osteuropa zu interessieren, verdanke ich Birgit und Bettina, zweier Lehrerinnen an meinem ehemaligen Gymnasium, die im Herbst 2006 einen vierzehntägigen Schüleraustausch in die ukrainische Hauptstadt Kiew organisiert haben. Seitdem hat mich die Begeisterung für Osteuropa nicht mehr losgelassen. Zu guter Letzt danke ich meinen Eltern. Ohne ihre jahrelange finanzielle und moralische Unterstützung wäre weder mein Studium noch meine Promotion möglich gewesen. Doch möchte ich an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, ihnen auch meinen Dank für viel frühere Entscheidungen auszusprechen, die mein Leben wesentlich beeinflusst haben. Mutti danke ich dafür, dass sie mich am 11. August 1995, einem Freitagmorgen, aus dem Bus gezogen und mit Engelszungen auf mich eingeredet hat, doch bitte weiter in die Schule zu gehen – ich selbst hatte nämlich bereits nach vier Tagen in der ersten Klasse keine Lust mehr dazu. Vati danke ich für sein Durchsetzungsvermögen im Frühjahr 1999, das entscheidend dazu beigetragen hat, dass ich meine Schullaufbahn auf dem Gymnasium fortsetzen und anschließend studieren konnte. Deshalb sei dieses Buch beiden gleichermaßen gewidmet.

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Personen-, Sach- und Ortsregister

allseitig entwickelte Persönlichkeit  165 f. Arbeitsschule  165 Arjamov, Ivan  60 f. Bechterev, Vladimir  52, 55, 57, 60, 84 Behaviorismus  59 f. Belokuricha  122 besprizorniki  11 f., 16, 23, 30 f., 33, 37 f., 45–48, 79, 86–88, 90 f., 93 f., 96 f., 100–102, 104–107, 109, 117, 155, 207 besprizornost’  12, 33, 45, 47–49, 90 f., 93, 95, 99, 101, 107, 130, 155 beznadzorniki  11 f., 30 f., 33, 45, 47 f., 86 f., 90, 93 f. beznadzornost’  12, 33, 130 (B)GTO  203 Blonskij, Pavel  25, 57, 69, 76, 84, 98, 165 Brežnev, Leonid  15, 36, 256 BSĖ  31 f., 47 f., 225 Bubnov, Aleksandr  83, 104 Bucharin, Nikolaj  77 byt  73, 137 f., 166, 182 Čelpanov, Georgij  61 Chrabrova, Nina  25, 122 Chrisman, Oskar  54 Chruščëv, Nikita  14, 36, 89, 123 f., 166, 225, 231–233 CIK  105, 206 CIT  72, 74 f. Darwin, Charles  50 Defektologie  66–69, 99 de Lamarck, Jean-Baptiste  51 Detkomissija  90, 94 f., 103 f. Devianz  18, 20, 30 Dril’, Dmitrij  50

družba narodov  19, 215 DTK  103, 192, 196 DTVK  155, 192 Dwina  8, 29, 115, 119, 126 f., 154, 269 Dzeržinskij, Feliks  90, 98 f. Ermakov, Ivan  57, 63, 65 Feuer der Freundschaft  243 Fluktuation  148, 150 Fordismus  71, 117 Freud, Sigmund  78 Gagarin, Jurij  172 Ganike, Evgenij  59 Gastev, Aleksej  72 f., 75, 84, 112, 132 Gewaltraum  151, 182, 253 Gorki, Maxim  67, 100 Griboedov, Adrian  55 Hall, Stanley  54, 56 Heterotopie  18 Hooliganismus  14, 39, 96, 104, 130, 150, 155–157, 162 f. Hunger  11, 40–42, 47, 51, 68, 93, 143, 161 Hygiene  113, 137, 145 Internationalismus  209 f., 214 f., 225, 241, 247, 249 Intourist  206–208 ITL  157, 160, 162 JuD  170, 203 Kalinin, Michail  104 f. Kaščenko, Vsevolod  57, 66–68 Keržencev, Platon  72–74, 84, 112, 132 Kinderheim-Laboratorium  63–65

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Personen-, Sach- und Ortsregister

300 Kol’cov, Nikolaj  59 Komones  8, 87–89, 96 f., 103 Komsomol  14, 19, 22, 31, 43, 104, 111, 123 f., 130, 142, 148–150, 164, 171, 173, 175 f., 183, 187, 203 f., 216, 221, 224–226, 230, 232, 250, 256 f., 264 f. Kornilov, Konstantin  57, 60 f. Kovalevskij, Pavel  50 KPdSU  165, 168, 223 Krim  7, 9, 19, 24, 26, 90, 114 f., 118–120, 122 f., 132, 136, 141 f., 149, 167 f., 182, 204 f., 209–212, 216 f., 219, 221 f., 226 f., 229, 241, 243, 257–259, 262, 268 Kriminalität  39, 47 f., 52, 58, 93, 95, 97, 181 f. Kriminologie  50, 53, 97 Krogius, Avgustin  55 Krupskaja, Nadežda  25, 69, 74, 76 f., 90, 98, 165 kul’turnyj čelovek  138 Lamarckismus  59 Lazurskij, Aleksandr  55 Liga  44, 73 f. Lombroso, Cesare  50 Lunačarskij, Anatolij  67, 77, 83, 90, 95, 98 Lurija, Aleksandr  63 Lyčëva, Ekaterina  229 Makarenko, Anton  98 f. MDC  258–260, 262 f., 265 MJu  129 f. moral panic  40 Morel, Bénédict Augustin  50, 52 multiple modernities  49 MVD  22, 129 f., 161, 164, 179, 181, 186–189, 192, 194 f., 198, 203, 250 Narkomindel  206 Narkomjust  97, 105, 155, 162 Narkompros  35, 54, 56, 58, 63, 67, 75, 77, 83, 86–89, 95, 97 f., 101 f., ­104–106, 111, 113, 169 f., 177, 214 Narkomsobes  35, 58, 86 f., 106, 177

Narkomzdrav  35, 44, 56–58, 77, 86, 104, 106, 113, 122, 136, 214, 216 Narkomzem  115 Neill, Alexander  64 NĖP  14, 53, 76, 85, 91 f., 236 NKVD  8, 37, 99 f., 105–107, 111, 113, 117 f., 125–127, 139, 144–146, 151, 154, 157, 159 f., 177 f., 183, 190, 218, 221 NOT  72 f. OBDBB  127, 129, 156 f., 159, 169, 190, 194 OBI  206 ODD  42, 45, 103 ODK  129, 153, 179, 181, 189, 191 f., 196,

198, 203 Orlënok  240, 245, 257 (O)GPU  90, 97, 99–102 otdych  134, 136, 261 OTK  126, 152, 177 otpusk  134 ozdorovlenie  135, 261

Pädologie  33 f., 37 f., 53–55, 57, 60, 76–79, 82–85, 90, 106 f., 112 Pavlov, Ivan  57–60, 62, 84 Pionierorganisation  31, 104, 123, 171, 173 f., 209 f., 212, 214 f., 226, 233, 245, 248, 250, 256 f., 265 Poljanskij, Anatolij  124 Polytechnische Schule  70 priëmniki  88, 90, 101, 105 f., 179 Psychoanalyse  60, 62 f., 65, 78, 82, 86 putëvka  171, 175 f., 216, 229, 245, 261 Reflex  58, 65 režim  73, 75, 80, 132, 134, 137, 154, 162, 189, 192, 214 ROKK  42 f., 45, 113–115, 120, 122, 131 f., 137, 214 RSFSR  17, 29, 47, 77, 88, 94 f., 100, 103, 121, 123, 130, 163 f., 177, 179, 269 Semaško, Nikolaj  63, 65, 77, 104 f. Šišmarëv, Fëdor  25, 132, 137, 205 Služba zdorov’ja  42 f., 45, 131

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Personen-, Sach- und Ortsregister

301

Smith, Samantha  227–229 Social-Engineering  73 Sokolov  156 f. Solov’ëv, Zinovij  25, 113, 115, 132, 204 f., 263 Sovnarkom  77, 86 f., 100, 105, 115, 121, 142, 155, 157, 177, 221 soziale Ängste  39, 102, 107 SPON  87, 89, 91 Staatliches medizinisch-pädologisches Institut  57 Stalin, Iosif  7, 14, 19, 64, 76, 78, 83, 85, 99, 109, 130, 162, 167, 205, 208, 215 f., 225 f., 231 f., 236, 247, 253 Strafkodex  96 f. Suchomlyns’kyj, Vasyl’  166 Summerhill  64

Trusevič, Dmitrij  175, 224

Taylorismus  71 f., 74 f., 117 totale Institution  9, 18, 112, 253

Zalkind, Aron  56 f., 63, 78, 84 Zinov’ev, Grigorij  91

Unerziehung  112, 155, 253 UNKVD  127 Usov, Dmitrij  102 f. Utevskij, Boris  88 (V)CIK  42, 100, 104 VCIK VČK  90 VKP(b)  33, 106 VOKS  206 f., 222

Völkerfreundschaft  215–217, 220, 227, 242 Vygotskij, Lev  25, 57, 63, 68 f., 84 Watson, John B.  59 f.

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