Die Reorganisation der Kollektivbetriebe im ländlichen Raum Russlands stellt das größte jemals durchgeführte Privatisier
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German Pages 282 [294] Year 2015
Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Verzeichnis der Abbildungen
Verzeichnis der Tabellen
Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen
Verzeichnis der verwendeten russischen Termini
Technische Vorbemerkung
Vorwort
Grundkategorien im Fokus der Privatisierung: staatlich, kollektiv, privat
Privatisierung als Aushandlungsprozess
Themen und Positionen
Aufbau des Buches
1 Egalitär und kollektiv? Erzählungen über das russische Dorf zwischen Feudalherrschaft und Zwangsprivatisierung
Individualistisch – kollektiv: Grenzen und Identitäten
Strukturelle Analogien: Familie und Staat
Zur falschen Zeit am falschen Ort: Die Stellung der Landkommunen im unilinearen Entwicklungsmodell der marxistischen Orthodoxie
Das »neue Paradigma«
»Sowjetische Kultur«?
Kollektivismus und Egalitarismus als Deutungsrahmen
2 »Was die Kommune anordnet, hat den Segen Gottes!«
Landumverteilungen und Steuererhebung
Ein Netzwerk in Grenzen
Haushalt und Kommune
3 »Alles hier gehört dem Kolchoz, alles hier gehört mir!«
Die interne Verfasstheit des Kolchoz: Das dritte Musterstatut
Kolchoz und kommunale Verwaltung
Kolchoz und Hoflandwirtschaft
4 Die Entstehung »paralleler Halböffentlichkeiten«
Die vorrevolutionären Landkommunen: lokale Gemeinschaften
Die vorrevolutionären Landkommunen: lokale Gemeinschaften
Egalitarismus und Kollektivismus als Praktiken der kommunalen Halböffentlichkeit
Öffentlichkeit als Medium der Repräsentation
Die lokal-informelle Sphäre
Exkurs: Das Mysterium der Selbstkosten
Das Kolchoz-Kollektiv
5 Föderale Vorgaben und lokale Antworten
Die Reformgesetzgebung
Methodische Annäherung I: Auswahl von Beispielbetrieben
Methodische Annäherung II: empirische Vorgehensweise
6 Hofwirtschaften und Großbetriebe auf dem Weg in die Marktgesellschaft
Die Privatisierung der Großbetriebe »Wir haben euch ins Wasser geworfen – schwimmt!«
Kolchozbauern, Arbeiter und Miteigentümer
Die neue Rolle der Hofwirtschaften Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsprozesse
Subsistenzlandwirtschaft, Marktorientierung und Lohneinkommen
Postsowjetischer Patrimonialismus
Infrastruktur und Isolation
Macht und Verantwortung
7 Der postsowjetische ›Kolchoz-Archipel‹
Literatur
Peter Lindner Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
2008-04-09 15-34-24 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02e8175707092668|(S.
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) T00_01 schmutztitel - 784.p 175707092676
Peter Lindner (Prof. Dr. phil.) lehrt an der Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Wirtschaftsund Sozialgeographie mit den Schwerpunkten Transformations- und Globalisierungsforschung.
2008-04-09 15-34-24 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02e8175707092668|(S.
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) T00_02 seite 2 - 784.p 175707092684
Peter Lindner
Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess Wege und Umwege der russischen Landwirtschaft in die globale Marktgesellschaft
2008-04-09 15-34-24 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02e8175707092668|(S.
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) T00_03 titel - 784.p 175707092692
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Peter Lindner Satz & Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-784-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
2008-04-09 15-34-24 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02e8175707092668|(S.
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) T00_04 impressum - 784.p 175707092700
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Verzeichnis der Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI Verzeichnis der verwendeten russischen Termini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Technische Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundkategorien im Fokus der Privatisierung: staatlich, kollektiv, privat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Privatisierung als Aushandlungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themen und Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 2 2 5 18
1 Egalitär und kollektiv? Erzählungen über das russische Dorf zwischen Feudalherrschaft und Zwangsprivatisierung . . . . . . . . . . . . 23 Individualistisch – kollektiv: Grenzen und Identitäten . . . . . . . . . . . . . . 23 Strukturelle Analogien: Familie und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Zur falschen Zeit am falschen Ort: Die Stellung der Landkommunen im unilinearen Entwicklungsmodell der marxistischen Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Das »neue Paradigma« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 »Sowjetische Kultur«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Kollektivismus und Egalitarismus als Deutungsrahmen . . . . . . . . . . . . 38 2 »Was die Kommune anordnet, hat den Segen Gottes!« . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Landumverteilungen und Steuererhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Ein Netzwerk in Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Haushalt und Kommune . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3 »Alles hier gehört dem Kolchoz, alles hier gehört mir!« . . . . . . . . . . . . . . . 69 Die interne Verfasstheit des Kolchoz: Das dritte Musterstatut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Kolchoz und kommunale Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Kolchoz und Hoflandwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4 Die Entstehung »paralleler Halböffentlichkeiten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vorrevolutionären Landkommunen: lokale Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vorrevolutionären Landkommunen: lokale Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Egalitarismus und Kollektivismus als Praktiken der kommunalen Halböffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentlichkeit als Medium der Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die lokal-informelle Sphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Das Mysterium der Selbstkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kolchoz-Kollektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Föderale Vorgaben und lokale Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reformgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Annäherung I: Auswahl von Beispielbetrieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Annäherung II: empirische Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Hofwirtschaften und Großbetriebe auf dem Weg in die Marktgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Privatisierung der Großbetriebe »Wir haben euch ins Wasser geworfen – schwimmt!« . . . . . . . . . . . . . . . Kolchozbauern, Arbeiter und Miteigentümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die neue Rolle der Hofwirtschaften Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subsistenzlandwirtschaft, Marktorientierung und Lohneinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postsowjetischer Patrimonialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infrastruktur und Isolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Macht und Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97 98 101 116 119 130 136 142 149 150 157 168
175 178 190 202 210 222 224 235
7 Der postsowjetische ›Kolchoz-Archipel‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
Danksagung
Bei einem Projekt, das sich über sechs Jahre hinzog und dabei von der ursprünglichen Konzeption immer weiter entfernte, wächst die Zahl derjenigen, denen man danken möchte, ins Unüberschaubare. Über Monate hinweg durfte ich bei Familien ehemaliger Kolchozarbeiter wohnen, an drei verschiedenen Universitäten fand ich während oder nach Abschluss der Feldarbeiten einen Arbeitsplatz und über den gesamten Zeitraum hinweg konnte ich mich auf Rat und Kritik immer neuer Personenkreise verlassen. Nicht nur Freunde und Kollegen, auch Diskutanten auf Vorträgen, einflussreiche Persönlichkeiten im ländlichen Raum, deren Vermittlung bestimmte Türen öffnete (und zugleich andere verschloss) und die befragten Kolchozbauern selbst beeinflussten auf ganz unterschiedliche Weise den Gang dieser Arbeit. Sie alle müssten eigentlich in chronologischer Reihenfolge in Form von Annotationen im Manuskript genannt werden, um den Entstehungsprozess des Endproduktes »Buch« offen zu legen und damit zugleich seinen Autor zwar nicht vollständig, aber doch in angemessener Weise in den Hintergrund treten zu lassen. Dies wäre allerdings ein eigenes Projekt, während eine »Danksagung« zwangsläufig exemplarische Züge tragen muss. Während der gesamten 18 Monate in Russland konnte ich mich immer vorbehaltlos auf die Unterstützung Moskauer Kollegen verlassen. Die feste Einbindung in das universitäre Umfeld der Moscow School of Social and Economic Sciences, insbesondere die inhaltliche und organisatorische Unterstützung von Aleksandr Nikulin und Teodor Shanin sowie die Hilfe von Marija Savoskul von der Staatlichen Universität Lomonossov in Moskau, waren für mich unverzichtbar. Mein Dank gilt aber auch Horst Kopp und allen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Geographie der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg, die in jeder erdenklichen Weise
IV | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
auf ein Projekt Rücksicht nahmen, für das ich dem Institut für insgesamt zweieinhalb Jahre nicht zur Verfügung stand. Den inhaltlichen Rahmen nach Abschluss der Feldarbeit weiter zu spannen und ihn um die historischen Kapitel zu ergänzen, war nur aufgrund der Einladung zur Mitarbeit am Program in Agrarian Studies der Yale University möglich; für die intellektuell außergewöhnlich anregende Atmosphäre danke ich James Scott und Kay Mansfield sowie den Fellows der Jahre 2003/2004 Susan O’Donovan, Nancy Jacobs, Dilip Menon, Hugh Raffles und Leander Schneider. Dank gebührt schließlich auch all denjenigen, die Entwürfe, Fragmente oder sogar das gesamte Manuskript dieser Arbeit gelesen haben und mir mit ihren Kommentaren und Korrekturen behilflich waren: Ulrich Ermann, Horst Kopp, Sebastian Lentz, Matthias Schmidt, Jörg Stadelbauer und Eugen Wirth sowie meine Eltern. Mein Entschluss, nach Beendigung der Promotion und nach insgesamt fünf Jahren Arbeit im Orient etwas völlig Neues zu beginnen, stand von Anfang an unter dem Vorbehalt einer vorübergehenden Befreiung vom Institutsbetrieb. Die Möglichkeit, Russisch zu lernen und – frei von anderen Verpflichtungen – mit Russland und der ehemaligen Sowjetunion vertraut zu werden, bot mir ein Habilitandenstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der ich dafür ganz herzlich danken möchte. Für die weitere finanzielle Förderung durch ein Fellow-Stipendium und die Gewährung von Hilfskraftmitteln danke ich darüber hinaus der Yale University sowie der Frau Dorothea und Dr. Dr. Richard Zantner-Busch-Stiftung an der Universität Erlangen-Nürnberg. Im Lauf von sechs Jahren ist man nicht nur auf die Hilfe einer großen Zahl von Kollegen und Bekannten angewiesen, sondern es wächst auch der Kreis derjenigen, die ‚unschuldig’ – weil fern vom akademischen Betrieb – und ungefragt in ein Projekt involviert wurden, mit dem sie eigentlich nie etwas zu tun haben wollten. Daher gilt mein ganz besonderer Dank allen Freunden und Bekannten, die wechselnde Launen und eine stets unverbindliche, immer wieder vom Fortgang meiner Arbeit abhängige Zeitplanung ertragen mussten! Erlangen, Dezember 2005 Peter Lindner
Verzeichnisse | V
Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1:
Abb. 2:
Abb. 3:
Abb. 4: Abb. 5a: Abb. 5b: Abb. 5c: Abb. 5d: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12:
Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15:
Abb. 16:
Abb. 17:
Beispiel für eine strukturorientiert-universalistische Herangehensweise – Familienstrukturen in Europa vom 16. bis zum 19. Jahrhundert nach Todd (1988: x)· · · · · · · · · · 27 Stimmenanteil für G. Zjuganov (Kommunistische Partei) in den Präsidentschaftswahlen 1996 und Anteil der Beschäftigten im Agrarsektor · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · 39 Anteil der in Landkommunen eingebundenen bäuerlichen Haushalte in den europäischen Gouvernements Russlands im Jahr 1905 · · · · · · · · · · · · · · · · 49 Allgemeines Leitungsschema eines Kolchoz · · · · · · · · · · · · · · ·76 Entwicklung der privaten Fleischproduktion in Russland · · · · · · · 95 Entwicklung der privaten Milchproduktion in Russland · · · · · · · · 95 Entwicklung der privaten Kartoffelproduktion in Russland · · · · · · 95 Entwicklung der privaten Gemüseproduktion in Russland · · · · · · 96 Öffentlichkeiten im 19. Jh. (links) und in der sowjetischen Zeit (rechts) · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·135 Per Stempelaufdruck berichtigte Nennwertaktie eines Betriebs aus der Region Krasnodar· · · · · · · · · · · · · · · · 157 Landeigentumsverhältnisse am südwestlichen Rand des Dorfes Dubrovka im Jahr 2000 · · · · · · · 159 Landeigentumsverhältnisse auf dem Gebiet des ehemaligen Kolchoz Imeni Lenina im Jahr 2001 · · · · · · · · · · · 161 Landeigentumsverhältnisse auf dem Gebiet des ehemaligen Kolchoz Emel’janovo im Jahr 2001 · · · · · · · · · · · · · · · · · · · 168 Veränderung der Relation landwirtschaftlicher Out- und Intputpreise in Russland 1990 – 1996 · · · · · · · · · · · · 179 Zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den Betrieben, dargestellt anhand der Indikatoren »Erlös« und »Rinderbestand« · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·181 Entwicklung der Produktion im Betrieb Put’ Il’iča anhand der wichtigsten landwirtschaftlichen Erzeugnisse · · · · · · 182 Entwicklung der Produktivität im Betrieb Put’ Il’iča anhand der wichtigsten landwirtschaftlichen Erzeugnisse · · · · · · 182 Entwicklung der Produktion/Produktivität im Betrieb Imeni Lenina/Privol’noe anhand der wichtigsten landwirtschaftlichen Erzeugnisse · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · 183 Organisationsschema der Agro-Holding Privol’noe nach Abschluss der derzeit laufenden Umstrukturierungsmaßnahmen · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · 197 Entwicklung der Beschäftigtenzahl im Betrieb Imeni Lenina/Privol’noe · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · 201
VI | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess Abb. 18a: Kolchozhof in Dubrovka – Gesamtanlage im Überblick · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·211 Abb. 18b: Kolchozhof in Dubrovka – ehemaliges Wohnhaus und Betriebsgebäude · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · 212 Abb. 18c: Kolchozhof in Dubrovka – neues Wohnhaus· · · · · · · · · · · · · · 213
Verzeichnis der Tabellen Tab. 1: Tab. 2:
Tab. 3:
Tab. 4: Tab. 5:
Tab. 6: Tab. 7: Tab. 8: Tab. 9:
Landbesitz im europäischen Teil Russlands um 1905 · · · · · · · · · · 54 Bäuerliche Haushalte und Lohnarbeit im europäischen Teil Russlands um die Jahrhundertwende (berechnet aus Zahlen von 1897 und 1905)· · · · · · · · · · · · 54 Kennzahlen zur Bedeutung des privaten Sektors und der persönlichen Nebenerwerbswirtschaft für Staat und Kolchozbauern Mitte der 1960er Jahre · · · · · · · · · · · · 93 Ausgewählte Indikatoren zum Reorganisationsprozess· · · · · · · · 154 Entwicklung privatbäuerlicher Betriebe anhand ausgewählter Indikatoren in den ersten zehn Jahren nach der Restrukturierung der Kolchoze und Sovchoze · · · · · · · 154 Aus der Restrukturierung des Kolchoz Emel’janovo hervorgegangene neue Betriebe · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · 167 In der AG Privol’noe in den Jahren 1998–2000 angeschaffte Betriebsmittel ausländischer Herkunft · · · · · · · · · 184 Leistungen des Betriebs »Pobeda« (Kursk) für die dörfliche Infrastruktur im Jahr 2001 · · · · · · · · · · · · · · 226 Leistungen des Betriebs »Tichij Don« (Voronež) für die dörfliche Infrastruktur im Jahr 2001 · · · · · · · · · · · · · · 227
Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen GUS KGB KPdSU Mst. NEP OECD RSFSR ZK
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Komitee für Staatssicherheit (komitet gosudarstvennoj bezopasnosti) Kommunistische Partei der Sowjetunion Musterstatut Neue Ökonomische Politik (novaja ėkonomičeskaja politika) Organisation for Economic Co-Operation and Development Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialističeskaja Respublika) Zentralkomitee
Verzeichnisse | VII
Verzeichnis der verwendeten russischen Termini Die Pluralform von Substantiven ist nur mit aufgeführt, wenn sie auch im Text verwendet wird. barščina: Frondienst; im Unterschied zu obrok (s.u.) Abgeltung der Verpflichtungen gegenüber dem Grundherren durch Arbeit. bol’šak/bol’šaky: Familienoberhaupt; in den vorrevolutionären Landkommunen der Vertreter eines Haushalts im schod (s.u.). chozjain: Vorsteher einer chozjajstvo (s.u.). chozjajstvo: Wirtschaft/Haushalt/Hof. chozrasčët: wirtschaftliche Rechnungsführung; Erfüllung der vom Staat vorgegebenen Aufgaben unter Rentabilitätskriterien mit dem Ziel, nötige Ausgaben auch durch eigene Einnahmen zu decken (vergleichbar der Gewinn- und Verlustrechnung in Marktwirtschaften). desjatina: Russisches Flächenmaß; eine Desjatine entspricht 1,09 ha (eingedeutscht: Desjatine). dom kul’tury: Kulturhaus; in der sowjetischen Zeit in den Dörfern errichtete kulturelle Zentren, in denen Filme gezeigt, Tanzveranstaltungen angeboten und andere Freizeitaktivitäten in Form von Jugendgruppen oder Gesangsvereinen organisiert wurden. dvor/dvory: Hof; im materiellen Sinn nur die Betriebsgebäude und das sie umgebende Grundstück, in der weiter gefassten Bedeutung eine bäuerliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft. kommunalka/kommunalki: Gemeinschaftswohnung mit mehreren Hauptmietern und gemeinsam genutzter Wohninfrastruktur. kontora: Kontor/Büro; zentrales Verwaltungsgebäude eines Kolchoz. krugovaja poruka: Wechselseitige Bürgschaft; gemeinsame Verantwortlichkeit aller Haushalte einer Landkommune gegenüber dem Grundherren. mir: Bauerngemeinde; im Unterschied zu obščina (s.u.) der im 19. Jh. im ländlichen Raum selbst gebräuchliche Begriff für Gemeinschaften von Bauern, die einen großen Teil des wirtschaftlichen und sozialen Alltags gemeinsam regelten (in anderen Kontexten auch »Welt« und »Friede«). narod: Volk/Nation/Leute; im Unterschied zu obščestvo (s.u.) im Sinn von »gemeines Volk« oder »einfache Leute« gebraucht. obrok: Grundzins/Abgabe; im Unterschied zu barščina (s.o.) Abgeltung der Verpflichtungen gegenüber dem Grundherren durch Geld oder Naturalzahlungen. obščestvo: Gesellschaft; im Unterschied zu narod (s.o.) für die städtisch-gebildete Bevölkerungsschicht verwendet (in anderen Kontexten auch »Verein« oder »Vereinigung«). obščina: Gemeinde/Landumverteilungsgemeinde; betont im Unterschied zu mir (s.o.) die periodischen Landumverteilungen sowie den kollektiven und egalitären Charakter der Bauerngemeinden. paj: Anteil; wurde im Zuge der Restrukturierung der Kolchoze und Sovchoze zu
VIII | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess einem feststehenden Begriff für die Anteile der Bauern am Land und Vermögen ihrer Betriebe. perestrojka: Umbau/Umgestaltung; zentraler Bestandteil der von Präsident Gorbatschow in den 1980er Jahren eingeleiteten Reformen. planërka: Kurzbesprechung; in den Kolchozen Bezeichnung für die meist täglich stattfindenden Treffen der Abteilungsleiter mit der Betriebsführung, auf der die anstehenden Aufgaben besprochen und koordiniert werden. pochozjajstvennaja kniga: Sammlung demographischer und wirtschaftlicher Daten über jeden einzelnen Hof/jede einzelne Familie einer Gemeinde im ländlichen Raum, die bis heute nach einem standardisierte Verfahren erhoben und in der Gemeindeverwaltung eingesehen werden können. revizionnaja komissija: Revisionskommission; formal das oberste innerbetriebliche Kontrollorgan des Kolchozvorstands. rodnoj: eigen/verwandt/heimatlich. samizdat: Selbstverlag; Sammelbezeichnung für vom Staat als systemkritisch erachtete Literatur, die nur privat reproduziert und weitergegeben werden konnte. samogon: Selbst destillierter Schnaps, meist nur aus Zucker und Hefe bestehend. schod: Zusammenkunft/Versammlung; in den vorrevolutionären Landkommunen wichtigstes dörfliches Entscheidungsgremium, das sich aus Familienoberhäuptern der Land besitzenden Haushalte zusammensetzte. sel’skoe obščestvo: Ländliche Verwaltungsgemeinde; 1837/38 auf Staatsgütern eingerichtete und 1861 dann in veränderter Form im ländlichen Raum insgesamt geschaffene Verwaltungseinheiten der untersten Ebene. sem’ja: Familie. sfera obsluživanija: Dienstleistungsbereich; Sammelbezeichnung für Straßen, Wasserleitungen und das Stromnetz ebenso wie für Schulen, Einrichtungen zur medizinischen Grundversorgung oder Fahrdienstleistungen, meist synonym zu social’naja infrastruktura (s.u.) verwendet. social’naja infrastruktura: Soziale Infrastruktur; Sammelbezeichnung für Straßen, Wasserleitungen und das Stromnetz ebenso wie für Schulen, Einrichtungen zur medizinischen Grundversorgung oder Fahrdienstleistungen, meist synonym zu sfera obsluživanija (s.o.) verwendet. starosta: Ältester/Dorfschulze; in den vorrevolutionären Landkommunen der vom schod (s.o.) gewählte Gemeindevorsteher. stiljaga/stiljagi: »Halbstarker«; im engeren Sinn gebraucht für Jugendliche in den 1950er Jahren, die durch einen extravaganten Kleidungsstil auffielen. tjaglo: Belastung/Abgabe; in den vorrevolutionären Landkommunen sowohl die Grundeinheit – meist ein Ehepaar – der verfügbaren Arbeitskraft, nach der die zu entrichtenden Abgaben berechnet wurde als auch die auf diese Einheit entfallende Abgabenlast selbst (auf einen Haushalt konnten also beispielsweise auch 2,5 tjagla entfallen). valovoj dochod: Bruttoeinkommen; manchmal auch mit »Bruttoertrag« übersetzt, womit impliziert wird, dass die nicht abgesetzte Produktion, für die in der Sowjetunion besondere Bewertungsregeln galten, mit enthalten ist.
Verzeichnisse | IX volost’: Amtsbezirk; territoriale Verwaltungseinheit zwischen Kreis (uezd) und ländlicher Verwaltungsgemeinde (sel’skoe obščestvo). vremja zastoja: Zeit des Stillstands; im Volksmund Bezeichnung für die Regierungszeit Breschnews. zemleustrojstvo: Landeinrichtung; Oberbegriff, der im Wesentlichen die Maßnahmen der Flurbereinigung umfasst, aber darüber hinaus geht und beispielsweise auch die bloße Überarbeitung von Katastern, die allgemeine Organisation der Flur sowie Maßnahmen zu einer rationelleren Flurnutzung beinhaltet. zemljak: Landsmann; betont Zusammengehörigkeitsgefühl aufgrund gemeinsamer lokaler oder regionaler Identität. zemstvo: Landstände/ständische ländliche Selbstverwaltung; 1864 sowohl auf Kreisals auch auf Gouvernementsebene geschaffene Organe der ländlichen Selbstverwaltung, in denen Bauern, Adelige (bzw. Eigentümer landwirtschaftlich genutzten Bodens) und Städter (Händler, Kaufleute und Eigentümer industriell genutzten Bodens) vertreten waren. zemskij načal’nik: Landhauptmann; 1889 unterhalb der Ebene des Kreises (uezd) eingerichtetes und mit umfassenden Befugnissen ausgestattetes Amt zur rechtlichen und administrativen Überwachung der Bauern, in das Gutsherren direkt vom Innenministerium für unbestimmte Zeit berufen wurden.
X | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
Technische Vorbemerkung Um der besseren Lesbarkeit willen habe ich alle Zitate aus fremdsprachigen Texten mit Ausnahme von Publikationstiteln, Kapitelüberschriften und Zentralbegriffen mit kontextabhängiger Bedeutung (wie beispielsweise »Perestroika«) ins Deutsche übersetzt. Für die Wiedergabe russischer Termini und Eigennamen ebenso wie der im Literaturverzeichnis enthaltenen russischsprachigen Veröffentlichungen wurde die wissenschaftliche Transliteration nach dem DIN-System (s.u.) verwendet, nur bei weithin gebräuchlichen Begriffen und Eigennamen wie »Moskau« oder »Jelzin« folgt die Schreibweise den Regeln des Duden.
A, a Б, б В, в Г, г Д, д Е, е Ё, ё Ж, ж З, з И, и Й, й
A, a B, b V, v G, g D, d E, e Ë, ë Ž, ž Z, z I, i J, j
К, к Л, л М, м Н, н О, о П, п Р, р С, с Т, т У, у Ф, ф
K, k L, l M, m N, n O, o P, p R, r S, s T, t U, u F, f
X, x Ц, ц Ч, ч Ш, ш Щ, щ Ъ, ъ Ы, ы Ь, ь Э, э Ю, ю Я, я
Ch, ch C, c Č, č Š, š Šč, šč ” Y, y ʼ Ė, ė Ju, ju Ja, ja
Vorwort
Vorworte und Einführungskapitel zu einer Monographie wie dieser verfasst man üblicherweise zeitlich am Ende des Arbeitsprozesses. Das hat den Vorteil, dass man die Ausgangsfragestellung bereits den tatsächlichen Ergebnissen »anpassen« kann, dass die Gliederung im Hinblick auf diese Fragestellung schlüssig erscheint, dass die Feldarbeit widerspruchsfreier wirkt als sie in Wirklichkeit häufig ist, kurz, dass der gesamte Forschungsprozess wesentlich stringenter vermittelt wird als er in der Realität für gewöhnlich abläuft. Auf diese Weise kann dem noch ungeordneten empirischen Material bereits das selektierende Korsett der endgültigen Dateninterpretation angelegt werden. Die vielen ungeplanten Wendungen und Verschiebungen, die aus praktischen Problemen bei der Feldarbeit ebenso wie aus inhaltlich begründeten konzeptionellen Neuordnungen resultieren, werden dabei ausgeblendet. Das folgende Vorwort wurde vor Beginn der Materialauswertung oder – um genau zu sein – teilweise schon während der Feldarbeiten, teilweise nach der Rückkehr vom letzten Arbeitsaufenthalt in Russland verfasst. Damit soll nachvollziehbar gemacht werden, dass sozialwissenschaftliche Forschung als hermeneutischer Prozess eine schrittweise Annäherung an den Gegenstand bedeutet, in deren Verlauf sich Leitfragen und -konzepte nicht selten erheblich ändern. Sie kann nicht als quasi-naturwissenschaftliches Prüfen von Hypothesen konzipiert werden, für das die Modifikation der Erhebungsinstrumente und inhalte eine Gefährdung der Vergleichbarkeit zwischen zeitlich früheren und späteren Interviews oder zwischen Erhebungen in unterschiedlichen Untersuchungsgebieten bedeuten würde. Auf den nächsten Seiten wird also einführend dargelegt, mit welchen thematischen Schwerpunktsetzungen und Vorüberlegungen ich diese Arbeit begonnen habe, ohne Rücksicht darauf, ob sich die darin enthaltenen Zusammenhänge und Arbeitshypothesen letztlich auch weiterführen ließen
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und beibehalten wurden. Nur die Vorstellung der Gliederung am Ende dieses Vorworts wurde erst ganz am Schluss ergänzt.
Grundkategorien im Fokus der Privatisierung: staatlich, kollektiv, privat »Etikettenwechsel oder Strukturwandel? Alltagsräume und Strukturationsweisen im ländlichen Raum Russlands nach der Umwandlung kollektiver Betriebsformen« lautete der vorläufige Arbeitstitel für einen Stipendienantrag, der mir die Möglichkeit zu eineinhalb Jahren Feldarbeit im ländlichen Raum Russlands geben sollte. Er spiegelt ganz gut die konzeptionelle Verarbeitung erster, noch oberflächlicher Eindrücke mehrerer privater Reisen sowie eines organisatorischen Vorbereitungsaufenthaltes in russischen Dörfern und insbesondere in restrukturierten Kolchozen wider, während derer die Idee entstand, sich in einem Forschungsprojekt mit der Privatisierung landwirtschaftlicher Kollektivbetriebe zu befassen. Die Formulierung bezog sich auf die einfache Frage, ob der Privatisierungsprozess nach dem Ende der Sowjetunion im Allgemeinen und die Umwandlung der ehemaligen landwirtschaftlichen Kollektivbetriebe im Besonderen wirklich bereits zu grundsätzlichen Veränderungen der Eigentumsverhältnisse und des wirtschaftlichen Alltags in den Dörfern geführt hatten oder ob mit der Restrukturierung nur oberflächlich einer rechtlichen Vorgabe genüge getan wurde, um mit dem Etikett einer neuen Rechtsform versehen (»Aktiengesellschaft«, »Gesellschaft mit beschränkter Haftung«, »Holding«, …) weiter so wirtschaften zu können wie bisher. »Staatlich/öffentlich«, 1 »kollektiv« und »privat« sind die drei entsprechenden Schlüsselkategorien, die im Rahmen des Privatisierungsprozesses per Dekret neu gewichtet wurden, und deren Inhalts- und Relevanzverschiebungen im dörflichen Alltag untersucht werden sollten.
Privatisierung als Aushandlungsprozess Den Eindruck zu erwecken, als bestünde dieses »Untersuchen« in der Ableitung modellhaft-konzeptioneller Aussagen aus »rein empirischen«, also »objektiv« und theorielos erhobenen Daten, wäre sicher irreführend. Andererseits stand am Anfang aber auch kein kohärenter sozialwissenschaftlicher Forschungsansatz, der auf die Restrukturierung angewandt 1 | Darauf, dass die Begriffe »staatlich« und »öffentlich« nicht als Synonyme zu verwenden sind, sondern einen inhaltlichen Unterschied bezeichnen, der in engem Zusammenhang mit dem Wandel von einem sozialistisch-zentralplanwirtschaftlichen zu einem pluralistisch-marktwirtschaftlichen System steht, wird später noch eingegangen.
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oder dessen Tauglichkeit anhand dieses Beispiels einer Prüfung unterzogen werden sollte. Eher kann von »Vorüberlegungen«, einer »konzeptionellen Sensibilisierung« gesprochen werden, die sich bereits bei der Vorbereitung des Projekts aus der Literatur ergab, während der Feldarbeiten deutlichere Konturen annahm und dann die Aufmerksamkeit bei der systematischen Analyse des erhobenen Materials in eine bestimmte Richtung lenkte. Worin bestand diese »Sensibilisierung«? Die Literatur zur Privatisierung der landwirtschaftlichen Kollektivbetriebe in Russland kreist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – um zwei Themenkomplexe: Zum einen geht es um die Frage des »Erfolges«, sei es als Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz oder als bloße Umsetzung der Restrukturierungsgesetze, und zum anderen um diese Gesetze selbst im Hinblick auf ihre Angemessenheit, Praktikabilität, Gerechtigkeit usw. Herangezogen wird dazu ein jeweils unterschiedlicher Korpus von Materialien, quantitativ erhobene Daten von föderalen Statistiken bis hin zur Gewinn- und Verlustrechnung einzelner Betriebe einerseits und die Gesetzestexte sowie ihre Umsetzungsverordnungen andererseits. Im Dunkeln bleiben dabei – und nicht selten klingt das Bewusstsein dieses Defizits in den entsprechenden Arbeiten indirekt auch an – die Entscheidungshintergründe der Akteure, ihre konkreten Interessen und Möglichkeiten, sich durchzusetzen. Die in informellen Gesprächen sowohl mit Wissenschaftlern wie auch mit Planern häufig anzutreffende und etwas resigniert klingende Feststellung, dass in der Praxis doch alles etwas anders sei als es Statistiken und Gesetzestexte widerspiegeln, bringt dieses Defizit zum Ausdruck. In den Worten von Förster (2000: 57): »Speziell für empirische Analysen auf der Mikroebene (die zu differenzieren wäre) besteht ein außerordentlicher Forschungsbedarf, nicht zuletzt im Sinne des eingangs angesprochenen handlungstheoretischen Ansatzes bzw. der akteurbestimmten Tätigkeiten innerhalb des Transformationsprozesses.« Und ergänzend dazu Stadelbauer (2000: 65): »Wiederum sind Defizite bei der Behandlung des ländlichen Raumes stärker als im städtischen Raum«. Die Tatsache, dass die Ergebnisse der Restrukturierung oft weder den Intentionen der Gesetze entsprechen noch in aggregierten Daten der Makroebene fassbar werden, legt es nahe, sie im Wesentlichen als das Resultat lokaler Aushandlungsprozesse anzusehen. Die formalen Kategorien »staatlich/öffentlich«, »kollektiv« und »privat« können demgegenüber nicht nur bedeutungslos, sondern sogar vollständig irreführend werden oder müssten inhaltlich neu definiert werden: Wenn ein Traktor, der sich heute eigentlich im Privatbesitz befindet, der Allgemeinheit für bestimmte Zwecke dennoch weiterhin zur Verfügung steht, dann ist »Privateigentum« nicht als rechtlich fixierte und universal gültige Kategorie zu verstehen, sondern als Größe, die im Prozess der Konsensfindung innerhalb der Dorfgemeinschaft ihre tatsächliche Bedeutung erlangt (zumindest solange es um deren »soziale Wirksamkeit« im Alltagshandeln geht, in der offizi-
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ellen Situation beispielsweise einer Gerichtsverhandlung mögen andere Bestimmungsmechanismen gelten). Die Analyse von Aushandlungsprozessen, Argumentationsmustern und deren Legitimität sowie dorfinternen Diskursen und vorherrschenden Topoi (z.B.: »die Armen werden eh’ immer ärmer und die Reichen immer reicher«) sollte der Kluft zwischen legislativen Rahmenbedingungen und dörflicher Praxis entsprechend als methodischer Ansatzpunkt dienen; übergeordnetes Ziel dieser Herangehensweise war es, ein tieferes Verständnis der Ergebnisse des Restrukturierungsprozesses im Hinblick auf den individual-, kollektiv- oder staatswirtschaftlichen Charakter der landwirtschaftlichen Betriebe sowie der Dorfökonomien insgesamt zu ermöglichen. Dabei wurde zunächst einmal bewusst offen gelassen, ob Diskurse und ihre Strukturprinzipien im Foucault’schen Verständnis als ein machtvoller Mechanismus zu sehen sind, der die konkreten Subjekte bedeutungslos werden lässt, oder ob davon auszugehen ist, dass mit spezifischen Ressourcen2 ausgestattete Akteure in der Lage sind, ihre individuellen Interessen durchzusetzen. Misst man in diesem Sinn der diskursiven Steuerung des Restrukturierungsprozesses ein relativ hohes Gewicht bei, so positioniert man die drei genannten Zentralbegriffe der Privatisierung »staatlich/öffentlich«, »kollektiv« und »privat« in einem Spannungsfeld: Zum einen handelt es sich um eigentumsrechtliche Kategorien, die eine offiziell gültige Zuordnung von Dingen und Räumen zu Personen und Gruppen bezeichnen, und zum anderen um das Produkt diskursiver Zusammenhänge, in denen jeweils eigene Regeln gelten. Für den konkreten Verlauf der Privatisierung ist gerade die Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Aspekten entscheidend: Wie werden die offiziellen Vorschriften zur Restrukturierung in der »dörflichen Öffentlichkeit« aufgegriffen und welche Argumente erzwingen ihre Umsetzung oder erlauben es, sie zu ignorieren? Die alltagsweltliche Bedeutung der Begriffe staatlich/öffentlich, kollektiv und privat sowie die Positionen der Akteure in Bezug auf diese Kategorien – so eine weitere Annahme, die der empirischen Arbeit zugrunde lag – sind dabei nicht unabhängig voneinander: Eigentum, Zuständigkeit, Verantwortlichkeit, Nutzungsrechte und -beschränkungen usw. werden diskursiv bestimmt und können in der Analyse der stattfindenden Diskurse aufgeschlüsselt werden. Gleichzeitig aber kann davon ausgegangen werden, dass privates Eigentum, individuelle Zuständigkeit und Verantwortlichkeit sowie persönliche Nutzungsrechte die Definitionsmacht der Akteure im Diskurs direkt bestimmen (»der Betriebsvorsitzende wird schon recht haben, schließlich hat er mit ›diesen‹ Dingen viel mehr Erfahrung«) oder 2 | Den Begriff »Ressource« verwende ich im Folgenden in Anlehnung an Giddens (1995: 86) als ein Vermögen zur Umgestaltung und Beeinflussung von Handlungsverläufen, das aus der Herrschaft über Objekte und Güter (allokative Ressourcen) oder unmittelbar über Personen (autoritative Ressourcen) resultiert.
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sich indirekt dazu eignen, in Definitionsmacht transformiert zu werden. Der größte Landbesitzer im Dorf, der Bürgermeister als Verantwortlicher für öffentliche Belange, der gewählte Vorsitzende des Betriebs, ein Traktorfahrer oder ein Rentner haben jeweils ganz unterschiedliche und kontextabhängige Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Ein ebenso eindrucksvolles wie auch erschreckendes Beispiel für diesen rekursiven Prozess waren die Strategien der russischen Oligarchen in den 1990er Jahren: Eigentum, das im Rahmen der Privatisierung großer Industriekombinate nicht selten auf illegale Weise erworben worden war, wurde schnell dazu verwendet, die Kontrollgewalt über die Massenmedien in Russland zu erlangen. Die daraus resultierenden Möglichkeiten zur Steuerung des öffentlichen Diskurses schufen die Voraussetzungen dafür, dass es möglich wurde, einen bis dahin kaum bekannten Politiker wie Wladimir Putin am 26. März 2000 in das Amt des demokratisch gewählten Präsidenten Russlands zu heben. Dass Eigentum, Zuständigkeiten, Verantwortlichkeit usw. die einzigen bestimmenden Momente der Positionen einzelner Personen in öffentlichen Aushandlungsprozessen sind, soll damit jedoch nicht behauptet werden.
Themen und Positionen Die Konzentration auf die drei genannten Grundkategorien der Privatisierung sowie auf lokal stattfindende Aushandlungsprozesse war im Wesentlichen das Ergebnis der inhaltlichen und konzeptionellen Vorbereitung des Projekts vor Beginn der Feldarbeiten. Aus den ersten, noch oberflächlichen Eindrücken der Aufenthalte im ländlichen Raum ergaben sich dann konkrete Einzelfragen, die für den Verlauf der Restrukturierung ganz offensichtlich entscheidend waren und auch von den Betroffenen selbst immer wieder ins Gespräch gebracht wurden. Zu einem erheblichen Teil bezogen sie sich auf Entwicklungen, von denen mittlerweile auch in Dossiers und auf Themenseiten deutscher Tageszeitungen mit unterschiedlicher Qualität berichtet wird. Sie sind keineswegs wissenschaftlich bedeutungslos, nur weil darüber bereits eine Diskussion in einer breiteren Öffentlichkeit im Gang ist, sondern geben vielmehr Anlass dazu, weiter führende Fragen zu stellen und andere Interpretationsrahmen anzubieten, als dies in der Presse der Fall ist. »Verarmung der ländlichen Bevölkerung«, »Scheinprivatisierung«, »Zunahme privatbäuerlicher Betriebe«, »konservativ-kommunistisches Wahlverhalten«, »feudale Machtfülle einer ländlichen Elite«, »soziale, wirtschaftliche und rechtliche Abkoppelung von den Zentren«, »Migration in die Städte und Überalterung der Dorfbevölkerung« oder auch »subsistente Wirtschaftsweise« lauten in den Medien dominierende, wenngleich sich nicht selten widersprechende Schlagworte, die mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten. In Bezug auf die Restrukturierung der landwirtschaftlichen Kollektivbetriebe ließen sich daraus sechs thematische
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Komplexe bilden, denen dann die vorrangige Aufmerksamkeit bei der empirischen Arbeit galt: 1. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Machthaber nach der Oktoberrevolution 1917 und zugleich das vielleicht wichtigste Charakteristikum des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems sowjetischer Prägung war die Verstaatlichung der Produktionsmittel. Viele andere Institutionen und Organisationen, Regelwerke und Mechanismen der Macht, räumliche Strukturen und Symboliken entstanden im Umfeld dieser Entscheidung. Sie dienten dazu, das staatliche Eigentum zu organisieren, zu verwalten und zu nutzen beziehungsweise die Nutzungsrechte und vor allem auch -pflichten festzulegen sowie Verantwortlichkeiten daran zu binden. Angesichts dieser immensen symbolischen Ladung, die sich im Lauf der Zeit um den Begriff »Eigentum« aufgebaut hat, verwundert es nicht, dass die Frage »Was bedeutet ›gehören‹ und wem gehört heute was?« eine zentrale Stellung einnimmt. Im Prozess der »Privatisierung« erhält das Projekt der Veränderung von Eigentumsstrukturen seine politische Brisanz. »Privatisierung« gibt dem in grundlegenden Gesetzen zur Umgestaltung der Organisation landwirtschaftlicher Produktion verwendeten Terminus »Restrukturierung« einen konkreten Inhalt und wurde so neben »Demokratisierung« zum entscheidenden Reiz- und Schlüsselbegriff des öffentlichen Diskurses, der die Zielrichtung der eingeleiteten Veränderungen in ihrer Gesamtheit symbolisch zum Ausdruck bringt. Diese Brisanz resultiert vor allem daraus, dass der Prozess der Verteilung staatlichen Eigentums das Gleichheitsideal, ein zentrales Dogma der sozialistischen Zeit, von zwei Seiten her verletzt: Zum einen existierten zwar auch im alten politischen System erhebliche Ungleichheiten, doch mit der Situation nach dem Rückzug des Staates aus vielen Lebens- und Wirtschaftsbereichen sind diese nicht zu vergleichen. Zum anderen entstanden jetzt Rahmenbedingungen, in denen Eigentum als wirtschaftliche und symbolische Ressource völlig anders eingesetzt werden konnte als früher und ein bislang unbekanntes Potenzial barg. Die »Voucher-Privatisierung«3 wurde für viele zum Sinnbild der ungerecht verlaufenden Neuverteilung von Eigentum, die politische Rolle der »Oligarchen« zum Ausdruck für dessen neue Wirksamkeit. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass in der allgemeinen Diskussion um den richtigen Weg der Privatisierung die Auseinander3 | Als »Voucher« wurden Berechtigungsscheine über einen Nominalbetrag von 10.000 Rubel bezeichnet, die 1992 an die Bevölkerung verteilt wurden und es den Eigentümern ermöglichten, damit an Versteigerungen großer Industrieunternehmen teilzunehmen und Aktien zu erwerben. Da vielen Voucherbesitzern Bedeutung und Wert der Scheine unklar waren, wurden diese häufig zu Niedrigstpreisen verkauft und dann von cleveren ›Unternehmern‹ gegen große Aktienpakete eingetauscht.
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setzung mit gesetzlichen Vorgaben und deren gerechter Umsetzung im Vordergrund standen. Doch wie das staatliche Eigentum der sowjetischen Zeit nur im Kontext der konkreten Institutionen, Organisationen und Raumstrukturen, die in seinem Umfeld existieren und in die es eingebettet war, alltagsprägende Bedeutung erlangte, so sind auch die auf der Grundlage von Privatisierungsgesetzen von oben verordneten neuen Eigentumsverhältnisse nicht unabhängig davon wirksam. Dieses Umfeld erweist sich als ausgesprochen persistent; die neuen Verhältnisse nach der Privatisierung ruhen in vielfältiger Weise auf den Pfeilern der Vergangenheit und so suggeriert der Begriff »Privateigentum« zwar in der neuen Gesetzgebung – und selbst dort nicht immer! – analytisch verwendbare Schärfe, in der sozialen Praxis aber scheint er nicht selten von der Übermacht konkreter Handlungssituationen aufgelöst zu werden: Wie privat ist der bereits erwähnte »private« Traktor wirklich, wenn es in der Dorfgemeinschaft einen Konsens darüber gibt, dass jeder ihn zur Bearbeitung seiner (mittlerweile ebenso »privaten«) Ackerflächen weiterhin benutzen darf? Starks (1996) Vorschlag, von einem eigenen Typus »osteuropäischer Kapitalismus« zu sprechen, stellt den Versuch dar, eben diesen unscharfen Verfügungsrechten in postsozialistischen Transformationsstaaten auch terminologisch Rechnung zu tragen. 2. Aber nicht nur das überall präsente Fortbestehen des Vergangenen, sondern auch die sich lösenden Bindungen zwischen Zentrum und Peripherie schwächen die Durchsetzbarkeit von föderal eingeleiteten Reformprojekten. Dies ist umso relevanter, als gerade der Verlust staatlicher Steuerungsfähigkeit zu den herausragendsten Kennzeichen des Transformationsprozesses insgesamt zählt. Nicht zufällig war der Zerfall der Sowjetunion als Einheitsstaat Anfang der 1990er Jahre eines der ersten Resultate des schwächer werdenden zentralen Kontrollanspruchs; die partielle Reintegration in Form der kaum handlungsfähigen »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten« (GUS) konnte bereits abgelaufene Entwicklungen auch nicht wieder rückgängig machen, sondern wirkte sich bestenfalls positiv auf bi- und trilaterale Kooperationen einzelner Mitgliedsstaaten aus. In dieser Zeit wurde zum ersten Mal territoriale Souveränität vollständig auf kleinere Einheiten verteilt. In Russland folgte daraufhin eine Phase, in der die Verhinderung einer weiteren Auflösung des Staates nur durch die Abgabe von Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnissen an die Subjekte der Föderation erkauft werden konnte; selbst nach der Annahme der neuen Verfassung im Jahr 1993, die dem Wortlaut nach eigentlich keine regionale Souveränität mehr duldet, mussten noch Kompetenzabgrenzungsverträge geschlossen werden, die den Föderationssubjekten in einigen Fällen – z.B. Tatarstan – enorm weitgehende Rechte einräumten. Mit der Gesetzgebung zur lokalen Selbstverwaltung schließlich erhielt auch die unterste Verwal-
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tungsebene neue Gestaltungsspielräume. Damit bekam das gesamte Privatisierungsprojekt je nach politischer Orientierung und Position der einzelnen Raumeinheiten im föderalen und regionalen Machtgefüge eine mehr oder weniger ausgeprägte »individuelle Note«; von »universaler« im Sinn von landesweiter Gültigkeit rechtlicher Kategorien kann nicht (mehr) die Rede sein. Erst in jüngster Zeit zeichnet sich unter dem neuen Präsidenten Putin ein Trend zur Rezentralisierung ab. Der Grad der Autonomie regionaler und lokaler Einheiten besitzt also auch auf die Restrukturierung der Kollektivbetriebe entscheidenden Einfluss. Dabei darf sich der Blick nicht vorzeitig verengen, was zu einer einseitigen Wahrnehmung nur der für den ländlichen Raum vorteilhaften Folgen der Loslösung von einem als repressiv empfundenen Zentrum führen würde. Die Kehrseite des Endes der Zwangsablieferung von Agrarprodukten an staatliche Abnahmestellen ist der Verlust der staatlichen Abnahmegarantie, die Kehrseite größerer Entscheidungsspielräume bei der Verwendung des kommunalen Budgets ist die Notwendigkeit, für die eigene Infrastruktur auch selbst aufkommen zu müssen usw. Das eine wie das andere ist jedoch eine Folge der »Zunahme der Autonomie lokaler Entscheidungsträger«. Diese Beispiele zeigen, dass »Autonomie« ein zu enges Kriterium ist. Vielmehr geht es um die für unterschiedliche Personengruppen und in unterschiedlichen Bereichen (Wirtschaft, Politik, Migration, Freizeit, …) stattfindende Neuordnung der Beziehungen – Exklusion im einen Fall, Integration im anderen – zwischen der lokalen Lebenswelt und übergeordneten oder benachbarten Einheiten. Ob, und wenn ja, wie weit bzw. für wen lokale Handlungsspielräume heute tatsächlich vorhanden sind, ist aber keineswegs nur für den Verlauf der Restrukturierung der ehemaligen Kolchoze eine entscheidende Frage. In der sowjetischen Zeit war es gerade der ländliche Raum, der in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zu den Zentren stand und faktisch trotz aller Rhetorik von der Angleichung der Lebensverhältnisse massiv benachteiligt blieb, auch nachdem unter Breschnew die absolute Priorität eines auf Industrialisierung setzenden Entwicklungsmodells, für das die Landwirtschaft nur die Rolle eines »Zulieferers« zu spielen hatte, aufgegeben wurde. Die Menschen in den Dörfern fühlten sich als Bürger zweiter Klasse, denen die Inlandspässe vorenthalten wurden, um unkontrollierte Migration zu verhindern (Merl 1998: 133), und auch nachdem dieses System 1974 abgeschafft worden war, blieb ein Umzug in die städtischen Zentren nur schwer möglich (Smith 1989: 329ff). Wenn es denn heute tatsächlich in einem umfassenden Sinn eine Zunahme der lokalen Handlungsautonomie gibt, die nicht durch neue Einschränkungen aufgrund der Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation mehr als kompensiert wird, so wäre diese Veränderung derart tief greifend, dass sie speziell für den ländlichen Raum als Kernbestandteil eines empirischen Modells des Transformationsprozesses zu gelten hätte.
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In jedem Fall bringt der abnehmende Einfluss des Zentrums auf die Entwicklungen in den Regionen und Gemeinden – sei es als Entstehung neuer Handlungsspielräume, sei es als die negative Erfahrung, abgekoppelt zu sein – eine Abnahme der territorialen Homogenität mit sich. Lokale Strukturen oder Einzelpersönlichkeiten wurden zu wichtigen Determinanten der Restrukturierung, und ein Vergleich der Entwicklungen an verschiedenen Orten wird dadurch schwieriger. Die schnell zunehmenden wirtschaftlichen Disparitäten, nicht nur in den verschiedenen Teilen Russlands, sondern ebenso in der unmittelbaren Nachbarschaft kleinster räumlicher Einheiten, ist denn auch ein bei der Bevölkerung ständig präsentes Thema. »Was meinen Sie, wie würde es in unserem Dorf aussehen, wenn hier der Betriebsleiter des Kolchoz X anstatt unseres Vorsitzenden der Chef wäre?« war folglich auch eine Frage, die mir während der Feldarbeiten immer wieder gestellt wurde. 3. Je höher der Grad der Autonomie lokaler und regionaler Einheiten ist, desto stärker muss sich die Blickrichtung von den Akteuren der föderalen Ebene – ein marktorientiert agierender Machtpol um den Präsidenten, ein stärker vom Einfluss der kommunistischen Partei und deshalb »konservativ« geprägtes Parlament, ein gegen einheitlich geltende Regelungen optierender Föderationsrat usw. – auf die gestaltenden Kräfte in den Gemeinden selbst verlagern. Dabei besteht die Gefahr, dass sich die Frage nach den territorial wirksamen Machtgefügen allzu schnell auf das simplifizierende Stereotyp von den »feudalen Verhältnissen« im ländlichen Raum des postsozialistischen Russland verengt. Lokal gestiegene Handlungsspielräume auf der einen Seite und die Strategien konkreter Akteure zur Durchsetzung eigener Interessen unter Ausnutzung dieser neuen Spielräume auf der anderen sind zwei sehr eng verwandte Themenkomplexe. Beiden gemeinsam ist die hohe Bedeutung des personalen Elements. Wie das Verhältnis zwischen Kreml und den Regionen oft von persönlichen Beziehungen abhängig ist, so ist auch die Machtverteilung innerhalb der Gemeinden nicht selten weniger funktions- als vielmehr personengebunden. Dennoch wäre es falsch, hier identische Muster auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen – Kreml und Gebieten/Regionen, Gebieten/Region und Gemeinden/Betriebe, Gemeindeverwaltung/Betriebsleitung und einzelne Haushalte – sehen zu wollen. Wenn – wie in einem der von mir untersuchten Agrarunternehmen üblich – der Vorsitzende des Betriebs alleine festlegt, wieviel Diebstahl von Feldfrüchten durch die Angestellten geduldet wird, er anschließend über die Felder fährt, um seine Mitarbeiter zu kontrollieren, und gegebenenfalls selbst die Strafen verhängt, dann sind Legislative, Exekutive und Judikative in einer Person vereint, und von »Aushandlungsprozessen«, vergleichbar denjenigen zwischen Verwaltungseinheiten unterschiedlicher Ebenen, kann keine
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Rede mehr sein. Der Begriff »feudale Struktur«, der als Übertragung aus einer anderen historischen Epoche sicherlich fragwürdig ist, könnte bestenfalls als unscharfer Verweis auf eben solche Machtverhältnisse verstanden werden. Dennoch handelt es sich dabei um ein Stereotyp, das in doppelter Hinsicht mehr verschleiert als erhellt. Es verweist auf die Asymmetrie von Machtbeziehungen und beschreibt deren Charakter, wobei bestimmte Ressourcen für die Ausübung von Macht impliziert werden. Dass heute im postsozialistischen Russland jedoch auf völlig andere Ressourcen zurückgegriffen wird als zur Zeit der Gutsherrschaft, liegt auf der Hand und verändert das Wesen des angesprochenen sozialen Gefüges grundlegend. Viele dieser Ressourcen sind nicht universal, sondern nur in bestimmten Kontexten gültig, in anderen jedoch nicht. Ein ganz einfaches Beispiel mag dies verdeutlichen: »Bildung« bzw. die objektivierte Form des »Bildungstitels« ist im ländlichen Raum eine wichtige Ressource, die erhebliche Handlungsspielräume eröffnet und die Autorität in vielen Auseinandersetzungen erhöht, jedoch nichts mit feudalen Verhältnissen zu tun hat. Aber diese Ressource lässt sich keineswegs beliebig einsetzen. Sie mag die Machtposition in Diskussionen um den richtigen Weg der Restrukturierung des Kolchoz durchaus aufwerten, aber sie ist wirkungslos im Streit darüber, ob der restrukturierte Betrieb die bislang gemeinschaftlich genutzten Weideflächen nun einzäunen und nur noch privat nutzen darf oder nicht. Von feudalen Verhältnissen zu sprechen, erschwert ein tieferes Verständnis der tatsächlichen Situation aber noch aus einem zweiten Grund. Der Blick wird so fast unwillkürlich auf die dominierenden Einzelakteure gelenkt und stellt ihnen eine macht- und einflusslose Masse gegenüber. Den tatsächlichen Verhältnissen entspricht dies nur selten. Vielmehr sind die Mechanismen der »Macht von unten« häufig nur weniger sichtbar, auch deshalb, weil sie nicht mit konkreten Personen in Verbindung gebracht werden können, sondern von der Koordination größerer Gruppen oder der gesamten Dorfbevölkerung abhängen. Deren Konsens vorausgesetzt war beispielsweise die Abwahl eines Kolchozvorsitzenden selbst in der sowjetischen Zeit keine Unmöglichkeit, und in den restrukturierten Betrieben gilt dies erst recht. »Macht von unten« ist also oft latent und wird deshalb leicht übersehen. Den Hintergrund für die Analyse der territorial wirksamen Machtgefüge muss folglich die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Interessen zum einen und instrumentalisierbaren Ressourcen verschiedener Akteure und Gruppen zum anderen bilden. Bricht man das Schlagwort von den feudalen Verhältnissen derart auf, so kann man zumindest als Arbeitshypothese davon ausgehen, dass die dörflichen Gemeinschaften stark sozial stratifiziert und die Möglichkeiten der unterschiedlichen Gruppen (aber auch deren Be-
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reitschaft!), den Restrukturierungsprozess aktiv mit zu gestalten, alles andere als gleich verteilt sind. An der Spitze steht das »Triumvirat« aus Betriebsvorsitzendem, Chefbuchhalter und leitendem Agronomen, die zumeist über höhere Bildungsabschlüsse verfügen und nicht selten ihren Arbeitsplatz nach Abschluss des Studiums zugewiesen bekamen, also ortsfremd sind. In unmittelbarer sozialer und räumlicher Nähe folgt die Gruppe all derjenigen, die in der Hauptverwaltung des Betriebs (kontora) arbeiten und damit ungleich intensiver als die übrige Dorfbevölkerung in alle Entscheidungsprozesse eingebunden sind. Entscheidend ist: Besteht zwischen ihnen und der Masse der Beschäftigten im Hinblick auf die Restrukturierung des Betriebs ein Interessengegensatz und wenn ja, welche Ressourcen können von den am Konflikt beteiligen Gruppen mobilisiert werden? Die erste Frage ist keinesfalls selbstverständlich mit »Ja« zu beantworten, weisen doch einige Beispiele darauf hin, dass es angesichts der radikalen Verschlechterung der Lebensverhältnisse für fast alle Gruppen im ländlichen Raum zu Solidarisierungen zwischen Management und Beschäftigten gegen staatliche Vorgaben beziehungsweise – in den Städten – gegen die neuen Anteilseigner kam. Mit der zweiten Frage berührt man fast zwangsläufig eines der klassischen Forschungsthemen über den ländlichen Raum Russlands: Waren die formal bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts bestehenden russischen Dorfkommunen (mir, obščina) echte »Gemeinschaften« oder nur Verwaltungsorgane mit unterschiedlichen Funktionen (Organisation der Landverteilung und -bewirtschaftung, Steuereintreibung, Schlichtung von Konflikten, …) und wurden sie in 70 Jahren Sowjetzeit unwiederbringlich zerstört oder haben sich zumindest einzelne Traditionsstränge bis heute bewahrt? Diese Thematik hat in den 1990er Jahren vor allem auch deshalb wieder enorm an Interesse gewonnen (vgl. Chistobayev 1990: 157; Ehlers 1997: 109; Gray 2001: passim; Wegren 1994: 218f;), weil sie eine Einordnung und Bewertung der heute anzutreffenden Handlungsstrategien von ehemaligen Kolchozmitarbeitern impliziert: Handelt es sich um unter den gegebenen Umständen rationales Verhalten oder um kulturelle Spezifika aus dem letzten Jahrhundert? 4. Wie das Stereotyp von den »feudalen Verhältnissen« die Auseinandersetzung mit Interessen und Ressourcen unnötig verengt, so scheint mir die historisch orientierte Diskussion um die obščina den Blick auf die heutige Rolle der Dorfgemeinschaft, ihren inneren Zusammenhalt sowie auf die Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln eher zu verstellen als zu schärfen. Birgt die Dorfgemeinschaft – um es etwas überspitzt zu formulieren – eines der wenigen echten zivilgesellschaftlichen Elemente in sich, das im Rahmen einer pluralen politischen Ordnung nun erst richtig zur Geltung kommen kann? Gemeinsame Interessen
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oder zumindest die Herstellung eines vorübergehenden Konsenses wären dafür die Voraussetzung. Die Orte, an denen sich Gemeinschaft konstituiert, kollektive Motive und Symbole, um die sie sich gruppiert, und die argumentativen Muster, die dabei Verwendung finden, stecken für diese Frage den Rahmen ab. Dem Charakter der russischen Dorfgemeinschaften kommt im Hinblick auf den »richtigen« oder »falschen« Weg der Restrukturierung der ehemaligen Kollektivbetriebe zuerst einmal praktische Relevanz zu, da jedes konkrete Reformmodell sich mit ihm auseinandersetzen muss. In einem übergeordneten ideologischen Kontext besitzt er darüber hinaus aber auch erhebliche politische Brisanz. Nachdem die Privatisierung der Landwirtschaft im ehemaligen Ostblock eine Aufgabe darstellte, für die es keine historischen Vorbilder gab, orientierte man sich aus verschiedenen Gründen am Modell westlich-kapitalistischer Gesellschaften, was keineswegs so selbstverständlich war, wie es vielleicht erscheint – selbst prominente westliche Berater wie der ehemalige Chefökonom der Weltbank und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz denken mittlerweile laut darüber nach, ob die »chinesische Variante« nicht die bessere Alternative gewesen wäre (Stiglitz 1999: 3). Der privatbäuerliche Familienbetrieb wurde zu einem Orientierungspunkt für die Reformen, der unrealistische Hoffnungen auf einen schnellen wirtschaftlichen Aufschwung im ländlichen Raum weckte. Als sich dann aber viel weniger ehemalige Kolchozmitarbeiter selbstständig machen wollten als erhofft und auch die wenigen, die es tatsächlich versuchten, keineswegs bald zu Eigentümern florierender Bauernhöfe wurden, geriet dieser Weg insgesamt in die Kritik. Das kulturalistische Argument lautet, dass ein auf westlichen Individualismus aufbauendes Entwicklungsmodell nicht auf die kollektiv und egalitär geprägte Mentalität der Bevölkerung im ländlichen Raum Russlands angewandt werden könne. Bester Beleg dafür seien die vielen Berichte von Neid und Anfeindungen bis hin zu tätlichen Angriffen, denen die wenigen neuen Privatbauern durch ihre eigenen Nachbarn ausgesetzt sind. 5. Stellt man dieses Argument der veränderten Wirtschaftsweise im ländlichen Raum gegenüber, so ergibt sich ein Paradox, dessen Auflösung in erheblichem Maß zu einem besseren Verständnis der Restrukturierung und ihrer praktischen Konsequenzen beitragen kann: Auf der einen Seite wird allenthalben ein Festhalten am Kollektivismus konstatiert, auf der anderen aber sind die »Familie« beziehungsweise der »Hof« zur entscheidenden Sozial- und Wirtschaftseinheit des post-sozialistischen ländlichen Raums geworden, was faktisch einer zumindest partiellen Herauslösung aus dem Arbeitskollektiv gleichkommt. Es ist dieser Aspekt, der dem überall zu beobachtenden Phänomen der Ausbreitung einer subsistenten Wirtschaftsweise in den Dörfern seine ganz besondere Relevanz verleiht.
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Die unmittelbare Verbindung zum Prozess der Restrukturierung besteht darin, dass Hofwirtschaften 4 und restrukturierter Kollektivbetrieb als eine symbiotische Einheit gesehen werden müssen. Mit anderen Worten: Das Ergebnis der Privatisierung der Kolchoze wäre ein anderes, bestünde nicht ein spezifisches Austauschverhältnis mit den privaten Hofwirtschaften. Und diese wiederum könnten in der gegenwärtigen Form nicht existieren, stünden sie nicht in enger Beziehung zu den reformierten Kollektivbetrieben. So sind die ehemaligen Kolchozbauern darauf angewiesen, die Landwirtschaftstechnik der Betriebe zur Bearbeitung ihrer privaten Parzellen nutzen zu dürfen. Dies und nicht das oft mit monatelanger Verzögerung oder auch gar nicht ausgezahlte minimale Gehalt ist oft der Grund dafür, überhaupt weiterhin am Arbeitsplatz zu erscheinen. Aus der Perspektive der Betriebe wiederum ist die Tatsache, dass die teilsubsistente Wirtschaftsweise das Überleben nicht allein von Gehalts- oder Naturallohnzahlungen abhängig macht, die Voraussetzung dafür, dass überhaupt noch Mitarbeiter gefunden werden können und so die völlige Auflösung des Betriebs verhindert wird. Dennoch bedeutet »Subsistenz« in erster Linie nicht den Aufbau symbiotischer wirtschaftliche Beziehungen, sondern die Abkoppelung von übergeordneten ökonomischen Zusammenhängen. Am augenfälligsten und gleichzeitig umfassendsten kommt das zum Ausdruck im Fehlen von Geld, weil davon die Wirtschaftsweise an sich und nicht nur ein bestimmter Teilbereich betroffen ist. Da sowohl Renten als auch Gehälter weit unter dem Existenzminimum liegen und sich die privat erzeugten Agrarprodukte auf den Märkten in ländlich geprägten Regionen angesichts des bestehenden Überangebotes nur schwer absetzen lassen, steht den Haushalten auch kaum Geld zur Verfügung. Zwangsläufig spielt deshalb der Naturaltausch von Gütern und Dienstleistungen eine wichtige Rolle. Doch auch dessen Potenzial ist begrenzt, da innerhalb der Dorfgemeinschaft fast alle Haushalte ähnliches anzubieten haben oder nachfragen würden. Probleme tauchen folglich immer dann auf, 4 | Für die den Kolchozbauern bereits in der Sowjetzeit zugestandenen Landparzellen von bis zu 0,5 ha Größe – 0,2 ha bei Bewässerungsland – werden für gewöhnlich die Begriffe »Hofland« und dementsprechend »Hoflandwirtschaft« verwendet (vgl. Stadelbauer 1991: 21f). Im Folgenden wird zur Unterscheidung davon die nach erfolgter Restrukturierung der Kollektivbetriebe privat betriebene und überwiegend subsistenzorientierte Landwirtschaft der Dorfbewohner als »Hofwirtschaft« bezeichnet. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass Fläche kein entscheidender begrenzender Faktor mehr ist, aber aufgrund der fehlenden Marktorientierung auch noch nicht von »privatbäuerlicher Tätigkeit« gesprochen werden kann. Da die individuell bewirtschafteten Parzellen in der sowjetischen Zeit kein Privateigentum der Kolchozbauern waren, wird im Russischen die Bezeichnung »persönliche« (ličnoe) und nicht »private« (častnoe) Nebenerwerbswirtschaft verwendet.
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wenn Produkte benötigt werden, die auch unter findiger Nutzung aller lokal verfügbaren Ressourcen nicht selbst hergestellt werden können: Schuhe, Bekleidung, Haushaltsgegenstände, bestimmte Baumaterialien und ähnliches zählen dazu. Welche Ressourcen sind dies, und unter welchen Bedingungen können sie von den Hofwirtschaften eingesetzt werden, um einen erstaunlich großen Teil der im Alltag benötigten Güter selbst zu erzeugen? Zum einen existiert mit dem Kollektivbetrieb eine gigantische Produktionsinfrastruktur, die auf ein Spektrum von Erzeugnissen ausgerichtet ist, das die typischen Anbauprodukte der Hofwirtschaften mit einschließt. Das bereits genannte Beispiel der Nutzung von Landwirtschaftstechnik ist nur eines von vielen. Oft sind die Mechanismen und gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisse – wie beispielsweise beim Anschluss der Haushalte an das Gasnetz oder bei der Informationsbeschaffung – weit weniger unmittelbar und deshalb schwerer abzugrenzen. Dabei darf der Blick auf das symbiotische Verhältnis zwischen ehemaligen Kollektivbetrieben und Hofwirtschaften aber nicht dazu führen, deren Potenzial als selbstständige Wirtschaftseinheiten zu unterschätzen. Der Erhalt der Grundversorgung auf subsistenter Basis kann nur deshalb so gut funktionieren, weil es auch unabhängig von den Großunternehmen für jede einzelne Hofwirtschaft unzählige »Anknüpfungspunkte« aus der sozialistischen Zeit gibt, die oft nur geringfügig erweitert oder modifiziert werden müssen, um eine Grundlage für das Überleben unter den neuen Rahmenbedingungen zu bieten. Die Beispiele dafür reichen vom Vorhandensein relativ großer Betriebsgebäude über das bestehende landwirtschaftliche Know-how bis hin zur Einbindung in funktionierende soziale Netze. Sieht man die heute weitgehend subsistent produzierenden Hofwirtschaften als eine Betriebsform, die zwar mit der Abkoppelung von spezifischen wirtschaftlichen Verbindungen einhergeht, gleichzeitig aber auch den Aufbau neuer Verbindungen erforderlich macht, dann könnte ihre Analyse wichtige Hinweise auf die heutige Bedeutung der bäuerlichen Gemeinschaft sowie auf die kollektive Grundorientierung der ländlichen Bevölkerung liefern. 6. Schließlich bleibt noch ein Themenkreis, der während der empirischen Arbeit vor allem von den Dorfbewohnern und den Mitarbeitern der Betriebe selbst immer wieder ins Spiel gebracht wurde; er verläuft quer zu allen bisher genannten Aspekten und steht in einem prinzipiell anderen konzeptionellen Kontext: die Frage nach Sinn und Unsinn, Vor- und Nachteilen, Erfolgen und Misserfolgen der Reformen insgesamt und einzelner Varianten der Reorganisation im Speziellen. Bei den bislang genannten Themen ging es in erster Linie darum, unterschiedliche Blickwinkel auf die Frage zu eröffnen, wie die von oben eingeleitete Privatisierung der Kollektivbetriebe sich auf die Konstruktion und Re-
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produktion der Kategorien »privat«, »kollektiv« und »öffentlich« in den betroffenen Dörfern auswirkte. Nach den Faktoren von Erfolg oder Misserfolg zu fragen, impliziert hingegen eine normative Bewertung und verlangt einen entsprechenden Referenzrahmen, der dafür als Maßstab zugrunde gelegt werden kann. Natürlich wäre es möglich, allen Ambivalenzen aus dem Weg zu gehen, indem man sich auf den Wortlaut der Reformgesetze zurückzieht. Das Erfolgskriterium bestünde dann darin, dass möglichst viele Betriebe die Restrukturierung tatsächlich vollzogen haben, dass sich sowohl deren Land als auch das Kapital heute in privaten Händen befindet, dass die in den Gesetzen eröffneten Alternativen und Mechanismen praktikabel und einfach umsetzbar sind usw. Doch die Privatisierung war ja kein Selbstzweck, sondern sollte unter anderem die Effizienz der landwirtschaftlichen Produktion erhöhen und dadurch wird die Beurteilung sogleich wesentlich schwieriger. Das hängt zum einen damit zusammen, dass ein Vergleich »vorher – nachher« mangels verlässlicher Daten nur sehr grob angestellt werden kann. Zum anderen aber – und dieser Aspekt ist wesentlich wichtiger – wurden die Kollektivbetriebe ja nicht in einem ansonsten unveränderten Umfeld restrukturiert, sondern sämtliche mit deren produktiver Tätigkeit in Verbindung stehende Bereiche erlebten gleichermaßen fundamentale Umwälzungen, so dass Ursachen und kausale Verknüpfungen kaum zu isolieren sind. Liegt der wirtschaftliche Erfolg oder Misserfolg eines konkreten Betriebs wirklich an der Privatisierung bzw. an einer konkreten Restrukturierungsvariante oder daran, dass die Zuliefer- und Abnahmemärkte heute ganz anders oder eben gar nicht mehr funktionieren? Doch auch das erweiterte Erfolgskriterium »effiziente Produktion« steckt keineswegs den Rahmen ab, in dem die Frage nach Erfolg oder Misserfolg von den Betroffenen selbst diskutiert wird. Für sie ist es wesentlich entscheidender, wer von den Reformen profitiert hat und wer zu den Verlierern zählt. Was nützt der Dorfgemeinschaft ein effizienter Betrieb, wenn der Preis für diese Effizienz darin besteht, dass dieser sich nicht mehr für die dörfliche Infrastruktur zuständig fühlt und deshalb im Winter der Schulbetrieb eingestellt werden muss? Oder wenn die höheren Einnahmen so ungleich verteilt sind, dass sie für die Mitarbeiter kaum die gestiegenen Lebenshaltungskosten ausgleichen, während der Betriebsleiter heute über 200.000 $ Jahreseinkommen verfügt, wie es in einem der von mir untersuchten Betriebe tatsächlich der Fall war? So ist es denn auch typisch, dass innerhalb eines Dorfes völlig unterschiedliche Bewertungen des Reformprozesses anzutreffen sind. Jedes Urteil über Erfolg oder Misserfolg hat deshalb zuerst einmal offen zu legen, auf der Grundlage welcher Vergleichskriterien es getroffen wird. Nur wenn man »Markt« als eine »natürliche Tatsache« ansieht, die sich automatisch einstellt, sobald alle administrativen Hindernisse
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beseitigt sind, gelangt man zu einer pauschal positiven Bewertung von Privatisierungsmaßnahmen. Von diesem Transformationsverständnis, das überwiegend bei externen Beratern anzutreffen ist, distanzieren sich mittlerweile selbst prominente Vertreter eines marktliberalen Kurses wie der ehemalige Vorsitzende der US-Notenbank Alan Greenspan (1997). Die genannten sechs Leitfragen nach – der sozialen (und nicht juristischen) Bedeutung von Eigentum, – dem Grad lokaler Handlungsspielräume bei der Gestaltung der Restrukturierung, – dem Machtpotenzial einzelner Akteure und den zugrunde liegenden Ressourcen, – der Rolle der Dorfgemeinschaft, – den Implikationen des Zurückfallens in eine subsistente Wirtschaftsweise sowie – nach den wirtschaftlichen und sozialen Vor- und Nachteilen, mit denen die Restrukturierung für unterschiedliche Gruppen im Dorf verbunden war, kristallisierten sich im Verlauf der Feldarbeiten immer deutlicher als eine Art Prisma heraus, das einen differenzierteren Blick auf die Veränderung der Kategorien »privat«, »kollektiv« und »öffentlich« und damit auf den Restrukturierungsprozess erlaubt. Mit anderen Worten: Ein und derselbe als Folge oder Element der Restrukturierung erscheinende empirische Sachverhalt beginnt sich als eigenständige Einheit aufzulösen, wenn er unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und als Teilaspekt anderer sozial-räumlicher Zusammenhänge gesehen wird. Häufig sind es gerade diese »anderen sozial-räumlichen Zusammenhänge«, die der Entwicklung der ehemaligen Kollektivbetriebe nach der Privatisierung ihre Richtung geben. Ein einfaches Beispiel mag dies verdeutlichen: Im ländlichen Raum war es eine wichtige Voraussetzung der Restrukturierung, alle öffentlichen Aufgaben, die früher von den Kollektivbetrieben wahrgenommen wurden, offiziell der Gemeindeverwaltung zu übergeben. Diese Übergabe war deshalb so wichtig, weil sie die Voraussetzung dafür bildete, dass die Betriebe wirklich als Akteure in einem marktwirtschaftlichen Umfeld aktiv werden konnten. Nur wenn die öffentliche Infrastruktur nicht mehr in deren Zuständigkeitsbereich fällt, ist eine echte Orientierung betrieblicher Strategien am Gewinnkriterium, funktionale Spezialisierung und eine von den zu erwartenden Einnahmen abhängige Investitionsstrategie möglich. In der Praxis jedoch wurde die Entflechtung der Sphären »landwirtschaftliche Produktion« und »öffentliche Infrastruktur« fast nie konsequent umgesetzt. So erhielt einer der von mir untersuchten Orte während meines Aufenthaltes erstmals einen Anschluss an das nationale
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Gasnetz, was auch für die Dorfschule die Möglichkeit bot, das notorische Problem der Beheizung der Klassenräume im Winter zu lösen. Dazu war jedoch nicht nur die Anschaffung eines entsprechenden Brenners mit Kessel, sondern auch der Bau eines aus Sicherheitsgründen außerhalb der Schule gelegenen Kesselhauses sowie der Transport von Baumaterialien und der Heizanlage in das Dorf nötig. Da der Schulleitung dafür jegliche Ressourcen fehlten, willigte der Vorsitzende des Betriebs auf Bitten hin ein, sich um die Baumaßnahme zu kümmern und die anfallenden Arbeiten von Beschäftigten des Kolchoz ausführen zu lassen. – Im Hinblick auf die Privatisierung kann dieses Beispiel als Beleg dafür gesehen werden, dass die ehemaligen Kollektivbetriebe noch weit davon entfernt sind, sich wie westliche Unternehmen zu verhalten, da sie Geld und Ressourcen für Zwecke ausgeben, die mit den Zielen eines Betriebs in einem marktwirtschaftlichen Umfeld nichts zu tun haben. Es bietet Material für die Beantwortung der Frage, in welchen Situationen und aus welchen Gründen noch immer eine Art Gesamtverantwortung für einen funktionierenden Alltag im Dorf übernommen wird, und ermöglicht ein besseres Verständnis der Auswirkungen, die von der Privatisierung – abgesehen von formal-rechtlichen Veränderungen – im Alltag tatsächlich ausgingen oder aber ausblieben, obwohl sie vom Gesetzgeber intendiert waren. – Im Hinblick auf die lokale Autonomie, deren Kehrseite die Abkoppelung von staatlicher Unterstützung ist, wirft das Beispiel ganz andere Fragen auf. Hat sich mittlerweile selbst der Bildungssektor, ein im Allgemeinen sehr stark vom Zentrum aus organisierter Bereich, in ein Mosaik von Spezial- und Einzelfällen aufgelöst, die sich konkret nur aus den Bedingungen im lokalen Umfeld erklären lassen? Das wäre ein Indikator dafür, dass die Dörfer wirklich als eigenständige territoriale Einheiten verstanden werden müssen, in denen das gesamte öffentliche Leben vom Wohlwollen der Betriebsleitung abhängt, was diese in den Status einer zentralen Instanz erheben würde, die weit einflussreicher ist als die Verwaltungsbehörden – in erster Linie der Gemeindevorsteher – der entsprechenden Ebene. – Im Hinblick auf die Machtverteilung ist es entscheidend, inwieweit es im Dorf einen sozialen Konsens über die Aufgaben des Betriebs gibt, der dem Betriebsleiter gar keine andere Wahl lässt, als den Heizungsbau in der Schule zu organisieren, will er nicht seine Wiederwahl als Vorsitzender aufs Spiel setzen. Zu fragen wäre, auf welche Dinge sich ein entsprechender Konsens bezieht, aus welchen Quellen er sich speist und welche diskursiven oder materiellen Ressourcen der Betriebsleiter in diesem oder anderen Fällen mobilisieren kann, um betriebliche Interessen im engeren Sinn durchzusetzen. Könnte von ihm beispielsweise auch verlangt werden, sich um die Beheizung der Gemeindeverwaltung zu kümmern? (Die Frage stand im konkreten Fall tatsächlich zur Diskussion und der Kolchozvorsitzende erklärte sich erfolgreich als nicht zuständig!)
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Im Hinblick auf die Rolle der Dorfgemeinschaft wäre zu untersuchen, inwieweit die geleistete Hilfe und der offensichtlich bestehende Konsens über deren Legitimität mit einer kollektiven Organisation des wirtschaftlichen und sozialen Alltags in Verbindung zu bringen sind. Genauso allerdings könnte sie als Hinweis darauf verstanden werden, dass »Dorfgemeinschaft« sich heute weder über die Reproduktion einer »lokalen Identität« noch als Ergebnis eines kulturalistisch verstandenen ländlichen Kollektivismus konstituiert, sondern auf die Organisation der für die Allgemeinheit wichtigen und nur gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben beschränkt ist und gegenüber privatwirtschaftlichen Aktivitäten in den Hintergrund rücken würde, wäre der Staat in der Lage, diese Aufgaben zu übernehmen. Im Hinblick auf den Erfolg der Restrukturierung schließlich müsste bewertet werden, inwieweit derartige Tätigkeiten im eigentlich kommunalen Verantwortungsbereich finanziell überhaupt ins Gewicht fallen und tatsächlich ein entscheidender Grund für die ausbleibende wirtschaftliche Rentabilität vieler Betriebe sind. Zu fragen wäre auch, inwieweit sie auf informeller Ebene nicht durch Gegenleistungen – im genannten Beispiel etwa durch den Einsatz der Schüler als Erntehelfer in Jahren, in denen aufgrund der Witterungsbedingungen kurzfristig viel mehr Arbeitskräfte benötigt werden, als im Betrieb beschäftigt sind – zumindest teilweise kompensiert werden.
Aufbau des Buches Die konzeptionelle Fokussierung auf die drei Grundkategorien des Privatisierungsprozesses »öffentlich«, »kollektiv« und »privat«, betriebs- bzw. dorfinterne Aushandlungsprozesse als empirischer Ansatzpunkt und die sechs genannten Fragenkreise als Leitthemen bildeten also den Rahmen für die Auswertung des in Russland gesammelten Materials, das aus knapp 200 Seiten Feldtagebuch, 51 aufgenommenen und transkribierten Interviews sowie Kartierungen und diversen Materialien aus den Buchhaltungsabteilungen der mittlerweile privatisierten Kolchoze bestand. Sehr schnell zeigte sich dabei, dass die Mobilisierung der Vergangenheit als »sozialistisches Erbe« ebenso wie als »kulturelle Tradition« durch alle Beteiligten – Kolchozarbeiter ebenso wie Politiker – in diesen Aushandlungsprozessen eine zentrale Rolle einnimmt. Der Verweis auf die russische Geschichte wird sowohl herangezogen, um den Zwangscharakter der Restrukturierung zu legitimieren wie auch, um den Widerstand gegen Privatisierungsmaßnahmen zu begründen. Diese permanente Präsenz der Vergangenheit in den Diskursen über die Auflösung der Kollektivbetriebe führte dazu, dass dieses Buch einen stärker historischen Charakter annahm, als das ursprünglich geplant war. Mit Deutungsmustern konfrontiert, die sich längst verselb-
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ständigt hatten, erschien es mir nötig, deren Entstehungsbedingungen zu rekonstruieren, um sie in den gegenwärtigen Kontexten besser verstehen, aber auch anders interpretieren zu können. Der knappen Darstellung des dominanten »Redens über das russische Dorf« im ersten Kapitel werden in den Kapiteln 2 und 3 die Grundlagen der Sozial- und Wirtschaftsorganisation der vorrevolutionären Landkommunen sowie der sowjetischen Kolchoze gegenübergestellt. Im Vordergrund stehen dabei die Zeiträume von 1861 bis zur Jahrhundertwende einerseits sowie die Regierungszeit Breschnews andererseits. Für diese Auswahl gibt es mehrere, zum Teil rein pragmatische Gründe. Zwar waren im Jahr 1861 die Leibeigenschaft aufgehoben und ein umfassender Reformprozess eingeleitet worden, so dass streng genommen eigentlich nicht mehr von »Feudalismus« gesprochen werden kann, sondern eher vom Beginn der »Periode des Kapitalismus« im ländlichen Russland (Hoch 1986: 4). Doch gleichzeitig handelt es sich um den jüngsten Abschnitt der russischen Geschichte, in dem die Landkommunen ihre traditionellen Funktionen noch – trotz der Reformen – weitestgehend wahrnahmen.5 Die zwei Jahrzehnte vor Beginn der perestroika hingegen repräsentieren gerade für den ländlichen Raum eine Phase, in der die mit der Etablierung des sowjetischen Systems verbundenen Umbrüche vorbei waren und sich in der Agrarpolitik eine höhere Kontinuität als noch unter Chruschtschow abzeichnete. Sie werden im Russischen nicht zufällig die »Zeit des Stillstandes« (vremja zastoja) genannt, in der ein labiles Gleichgewicht zwischen staatlichen und privaten Ansprüchen in allen Lebensbereichen – auch im städtischen Raum – aufrecht erhalten wurde; rhetorische Attacken gegen die persönlichen Nebenerwerbswirtschaften der Kolchozbauern waren jetzt nur noch vereinzelt zu hören und mit ihrem vollständigen Verschwinden wurde auf absehbare Zeit nicht mehr gerechnet. Beiden Phasen ist gemeinsam, dass sie durch massive staatliche Anstrengungen – die Agrarreformen Stolypins 1906 einerseits sowie Gorbatschows und später Jelzins Reformprogramm andererseits – beendet wurden, die darauf abzielten, die bisherige Wirtschaftsorganisation im ländlichen Raum zu 5 | Selbst bis zum Ausbruch der Revolution, also auch nachdem unter Stolypin im Jahr 1906 noch ein zweites, weitaus tiefgreifenderes und explizit auf die Auflösung der Landkommunen abzielendes Reformprogramm im ländlichen Raum initiiert worden war, waren nur ca. 20 % der Bauern frei von allen kommunalen Verpflichtungen und hatten ihre Gemeindeverbände verlassen (Kerblay 1983: 93); Pallot (1999: 8) spricht von 8–50 %, je nachdem welche Kriterien (Einleitung des Verfahrens, formale Übergabe des Landes, vollendete Reparzellierung einschließlich der Verlagerung des Hofes, …) angelegt werden. Burds Monographie über die bäuerliche Arbeitsmigration in die Städte zeigt anhand einer Fülle von Beispielen sehr überzeugend, dass die Kommunen nach 1861 auch in administrativer Hinsicht nicht an Bedeutung verloren (1991a: 167f).
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reformieren. Aus diesem Grund findet gerade der Gegensatz zwischen »individuell« und »kommunal/kollektiv« in der entsprechenden Literatur besondere Beachtung und die Quellenlage ist vergleichsweise gut. Im Anschluss daran soll in Kapitel 4 hinterfragt werden, welche Bedeutung der Tatsache zukommt, dass sich Kollektivismus und Egalitarismus niemals auf räumlich disparate soziale Netzwerke bezogen, sondern immer territorial konzipiert waren. Dabei kommt es insbesondere darauf an, dem ambivalenten Charakter dieser territorialen Verankerung der dörflichen Gemeinschaften Rechnung zu tragen: Sie stellt einerseits ein Element der Kontinuität über den Einschnitt der Revolution hinweg dar, bildet andererseits aber nur einen Rahmen, der in einem veränderten politischen und wirtschaftlichen Umfeld auch mit neuen Inhalten gefüllt wurde. Sie war zwar einerseits ein konstitutives Moment der Entstehung von Gemeinschaft, determinierte andererseits aber weder deren Charakter noch das Verhältnis zur Außenwelt. Und sie blieb einerseits zwar nicht ohne Einfluss auf den Verlauf der Privatisierung, hatte andererseits aber auch nicht zur Folge, dass sich im ländlichen Raum ein einheitlicher Transformationspfad herauskristallisierte. Während sich der Teil zu den vorrevolutionären Landkommunen ausschließlich und der daran anschließende Abschnitt zu den sowjetischen Kolchozen überwiegend auf Sekundärquellen stützen, basieren die Kapitel zu den Entwicklungen nach 1991 auf Materialien (in erster Linie Leitfadeninterviews, aber auch Kartierungen und Auswertungen von Unterlagen in den Buchhaltungsabteilungen restrukturierter Kollektivbetriebe), die während eines 18monatigen Feldaufenthaltes in Russland zwischen Mai 2000 und November 2001 erhoben wurden. Kapitel 5 stellt die Rahmenbedingungen dieses empirischen Teils des Buches vor. Dazu zählen zum einen die Reformgesetzgebung, die den Privatisierungs- bzw. Restrukturierungsprozess erzwang und seinen Verlauf steuerte und zum anderen die konkrete methodische Herangehensweise bei der Materialerhebung. Überblicksartig werden die drei für die Feldarbeit ausgewählten Beispielbetriebe anhand der wichtigsten Strukturdaten sowie der beschrittenen Transformationspfade charakterisiert, damit der Kontext nachvollzogen werden kann, auf den sich die zitierten Interviewpassagen in den folgenden Abschnitten beziehen. In Kapitel 6 stehen die von den Reformen betroffenen Beschäftigten der Kollektivbetriebe im Zentrum. Sie kommen hier in Zitaten ausführlich selbst zu Wort und schildern die Konsequenzen des Zusammenbruchs der Sowjetunion, der Abkehr vom planwirtschaftlichen System und der erzwungenen Privatisierung der Kolchoze für den Alltag im ländlichen Raum aus ihrer Sicht. Gemäß der oben skizzierten Zielsetzung, die Verwobenheit konkreter Praktiken mit den sich wandelnden Modi der Einbindung lokaler Gemeinschaften in übergeordnete politische, wirtschaftliche und soziale Kontexte aufzuzeigen, soll die Verbindung aus nicht redigierten Gesprächs-
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passagen und kurzen kommentierenden Überleitungen dem Leser eine lebensweltliche Annäherung an die alltäglichen Herausforderungen der Transformationssituation ermöglichen. Gegliedert ist das sechste Kapitel in drei Unterabschnitte zu den Themen »privatisierte Großbetriebe«, »Hofwirtschaften« und »Patrimonialismus«. Diese Anordnung des Materials stellt das Ergebnis eines von Anfang an rekursiv konzipierten Forschungsprozesses dar: Zum einen ›provozierten‹ meine allgemeinen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen sowie die konkreten Fragen in den Interviews natürlich Antworten zu bestimmten Themenfeldern, zum anderen aber veränderten diese Antworten dann auch die Ausgangsfragestellung und den Gesprächsleitfaden in den folgenden Interviews. Die genannten drei Unterabschnitte ergaben sich daraus als ein Ordnungssystem, das sowohl von den Befragten selbst verwendet wurde als auch im Lauf der Zeit immer stärker mein Befragungsschema prägte. Kapitel 7 schließlich fasst die maßgeblichen, mit der erzwungenen Privatisierung der Kollektivbetriebe und deren Integration in ein marktwirtschaftliches System einhergehenden Veränderungen im ländlichen Raum noch einmal zusammen. Es entwirft das Bild eines Archipels sozialräumlicher Einheiten, deren Außenbeziehungen durch eine spezifische Kombination von Abschottung und Integration gekennzeichnet sind und denen umfassende Regelungskompetenzen sowie weit über den Bereich der »Produktion« hinausgehende Funktionen zukommen. Neue interne Handlungsspielräume ebenso wie sich verändernde politische und ökonomische Rahmenbedingungen sind jedoch dafür verantwortlich, dass dieses Bild lediglich als die Momentaufnahme eines fortschreitenden Differenzierungsprozesses verstanden werden darf.
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Egalitär und kollektiv? Erzählungen über das russische Dorf zwischen Feudalherrschaft und Zwangsprivatisierung
Es ist eine Eigentümlichkeit der Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, dass sie sich sowohl als die Bewältigung eines großen Umbruchs wie auch als geradliniger Entwicklungsprozess erzählen lässt. Eine nur geringfügige perspektivische Verschiebung reicht aus, um entweder die historische Stabilität einer Kultur sichtbar werden zu lassen, die mit den tief greifenden Veränderungen nach der Oktoberrevolution nicht nur in Einklang steht, sondern diese sogar selbst mit hervorrief, oder aber darin einen Einschnitt zu erkennen, der die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen fundamental in Frage stellte. Und je stärker die Kontinuität einer Entwicklung, die ihre Wurzeln in der vermeintlichen Persistenz kulturspezifischer Traditionen und Normen besitzt, in den Vordergrund gerückt wird, desto näher liegt es, auch die Schwierigkeiten der Transformation nach dem Ende der Sowjetunion auf eben diese kulturellen Grundlagen zurück zu führen.
Individualistisch – kollektiv: Grenzen und Identitäten »Egalitarismus« und »Kollektivismus« lauten die beiden Schlagworte, mit denen insbesondere der Geschichte des ländlichen Raumes in Russland eine Klammer verliehen wird, die nicht selten – trotz aller Unterschiedlichkeit – als Schlüssel sowohl für das Verständnis vorrevolutionärer wie auch sowjetischer und post-sowjetischer Dorfgemeinschaften dient.1 Diese essentialisierende Konstruktion eines territorialen Gebildes, das sich aufgrund 1 | Die im ländlichen Raum in Russland vor der Revolution dominierenden »Landkommunen« besaßen demokratisch legitimierte Selbstverwaltungsinstitutionen und begrenzten durch periodische Landumverteilungen die Entstehung
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seiner ebenso einmaligen wie einheitlichen kulturellen Charakteristika abgrenzen lässt, besitzt eine lange Tradition. Bereits in der Mitte des 19. Jh. erhoben die »Slawophilen«2 die hohe Wertschätzung der Gemeinschaft zu einer das Slawentum insgesamt auszeichnenden Eigenheit. Deren Wurzeln sahen sie in einer von der Industrialisierung unverdorbenen agrarischen Gesellschaft, denn »der Russe findet seine wahre, echte, die altrussische, slawische, die vorpetrinische Kultur auf dem Lande, ihr Träger ist der Bauer« (Masaryk 1913: 214). Hatte der 1843/44 durch Russland reisende und den Slawophilen nahe stehende Freiherr von Haxthausen diese Gesellschaft noch mit den drei Schlagworten »Gleichheit«, »Familiengemeinde« und »Patriarchalismus« charakterisiert, so rückte der dem Egalitätsprinzip widersprechende Patriarchalismus bald in den Hintergrund (Goehrke 1964: 37) und »Gleichheit« wurde zu einem der Geschichtlichkeit enthobenen Konzept stilisiert, das man zwar als Fundament für Veränderungen, selbst jedoch nicht als deren Inhalt ansah. In den Diskussionen um die Entstehung der Dorfgemeinschaften im ländlichen Raum wird das slawophile Geschichtsverständnis besonders deutlich. Der Position der »Westler«, die diese für ein Produkt der Politik Peters des I., der Bindung der Bauern an ihr Land sowie der Einführung der Kopfsteuer hielten, stellten sie eine Interpretation entgegen, in der die Kongruenz mit kulturellen Grunddispositionen betont wird und eine gemeinschaftsorientierte Lebens- und Wirtschaftsweise als deren notwendige Folge erscheint. Für die gesamte Kontroverse ist sowohl bezeichnend, dass es gerade die Slawophilen waren, die den russischen Begriff »obščina« für die Landkommunen einführten, als auch dass dieser einem städtisch-akademischen Kontext entsprang und somit eine Charakterisierung von außen darstellt: Während die Bauern selbst von »mir« sprachen und damit ganz allgemein diejenige »administrative, rechtliche, wirtschaftliche, fiskalische und soziale Einheit« meinten, die ihnen nach der Familie beziehungsweise dem Haushalt am nächsten stand, hebt obščina – als Kompromiss zwiungleicher Besitzverhältnisse (vgl. ausführlich dazu Kap. 2). Die vergleichsweise gute Quellenlage, sicher aber auch die Faszination, die von kollektiv-egalitären Wirtschaftsgemeinschaften an sich ausgeht, haben dazu geführt, dass die Literatur zum Thema »russische Landkommunen« inzwischen kaum mehr zu überblicken ist; bereits im letzten Viertel des 19. Jh. waren über 2.000 Publikationen dazu erschienen (Eklof 1981: 219). 2 | Als »slawophil« wird eine geisteswissenschaftliche Richtung in der Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnet, die von der Überlegenheit der russischen Orthodoxie und Kultur ausgeht, diese als eine integrierende und friedliebende Kraft ansieht und romantische Züge trägt. In der Formulierung einer ausdrücklichen Gegenposition zum als »westlich« angesehenen Rationalismus, der durch die Orientierung an Notwendigkeiten und durch Zwang gekennzeichnet sei, gewann sie auch politische Bedeutung (Chmielewski 1983: 228).
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schen etymologischer und inhaltlicher Nähe mit »Landumverteilungsgemeinschaft« zu übersetzen – insbesondere die Tradition der periodischen Neuverteilung des verfügbaren Agrarlandes zwischen den Bauern hervor, die zu einer Egalisierung der Eigentumsverhältnisse führte (Grant 1976: 636, 639, 643).3 Die von der Ideenwelt der Romantik beeinflusste Faszination für die russischen Landkommunen reichte im 19. Jh. weit über slawophile Kreise hinaus und ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sie einen zugleich normativen wie auch politischen Kern besaß: 4 »Wir sind nicht bourgeois, wir sind Bauern […] arm an Städten, aber reich an Dörfern« schrieb Alexander Herzen 1856 in einer antiwestlichen Polemik in der Zeitschrift »Polarstern« (Herzen 1856: VII) 5 und stellt damit »wir: bäuerlich-dörflich« und »Europa: kapitalistisch-städtisch« als einen Antagonismus dar, in dem das Bewusstsein moralischer Überlegenheit unübersehbar ist. Egalitäre Gemeinschaftlichkeit wurde als der ausdrückliche Gegenentwurf zu den als verwerflich erachteten Konsequenzen von Liberalismus, Kapitalismus 3 | Darüber, wie präzise der Begriff tatsächlich verwendet wurde, herrscht Uneinigkeit (vgl. Grant 1976: 639, 643 vs. Goehrke 1964: 3ff). Eine Übersetzung von »obščina« mit »Genossenschaft« ist zwar sprachlich nicht mehr am russischen Original orientiert und blendet den Aspekt der Abhängigkeit von einem Grundherren aus, verweist aber treffend auf einige andere wichtige Merkmale der Wirtschaftsorganisation in den bäuerlichen Gemeinschaften. »Dorfgemeinde« (Merl 1985: 420) halte ich hingegen für eine unglückliche Übersetzung, da der Begriff den Eindruck erweckt, als hätte eine Landumverteilungsgemeinschaft immer nur aus den Bewohnern einer einzigen Siedlung bestanden. Im Englischen treten dieselben Übersetzungsprobleme auf: Manchmal wird »mir« mit »village community«, »obščina« hingegen mit »land commune« oder »repartitional land commune« wiedergegeben und »commune« dient als unspezifische Sammelbezeichnung. Die 1861 reformierten administrativen Einheiten der untersten Ebene – »sel’skoe obščestvo« (vgl. Kap. 2) – werden hingegen oft mit »rural society« oder »village society« übersetzt, doch auch hier ist »village community« anzutreffen. Im Folgenden ist nur dann von »obščina«/»Landumverteilungsgemeinschaft« die Rede, wenn es speziell um den Aspekt der Verteilung des Agrarlandes geht und von »sel’skoe obščestvo«/»ländlicher Verwaltungsgemeinde«, wenn ausdrücklich auf die administrativen Einheiten von 1861 Bezug genommen wird. Ansonsten verwende ich »mir« bzw. »Bauerngemeinde«, »Landgemeinde«, »Landkommune« o.ä. als allgemeinen Oberbegriff. 4 | Kapitel 2 der Dissertation von Grant (1973: 69ff) bietet einen guten allgemeinen Überblick zur politischen Inanspruchnahme der Landkommunen von unterschiedlichsten Seiten, ohne dabei jedoch in die Tiefe zu gehen. 5 | Gooding (1989: 390) verweist auf diese Passage im Rahmen einer Analyse des Entstehungskontextes von Tolstojs Novelle »Luzern«, die ebenfalls tiefe Skepsis gegenüber der westlichen Variante von Fortschritt und Moderne zum Ausdruck bringt.
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und Sozialdarwinismus in Westeuropa verstanden (Frierson 1993: 10, 101ff) und diente als Leitmotiv für einen territorial orientierten Identitätsfindungsprozess.6 Wenn auch nicht in seiner Gesamtheit, so ist dieses Verständnis doch bis heute in vielen einzelnen Bildern und argumentativen Verknüpfungen lebendig. Zwar ist die Verbindung zu slawophilen Positionen gelöst, doch aus westlicher Perspektive bleibt die bäuerliche russische Kultur das »unbegreifliche Andere«. Im anti-rationalistischen Vers Tjučevs »mit dem Verstand ist Russland nicht zu begreifen, […] an Russland muss man einfach glauben«, im omnipräsenten Topos der »russischen Seele« 7 und in der Diskussion um Russlands Position zwischen Ost und West scheint diese Gegenüberstellung ebenso durch wie in der essentialisierenden Zurückführung einer russischen »Wirtschaftsgesinnung« auf »kulturgeschichtliche Tiefenstrukturen« (Uhlig 1994: 21), in der Feststellung, dass »alle früheren Modernisierungsansätze« im ländlichen Raum an der »Grundeinheit bäuerlichen Lebens in Rußland, der ›Obschtschina‹, gescheitert [sind]« (Ehlers 1997: 109) oder auch ganz einfach in der Identifikation eines »Partikularismus, der die Kontinuität der bäuerlichen mentalité in Russland« (Haimson 1988: 16) widerspiegelt. Inhaltlich führt sie zu einer Ent-Individualisierung, die ›den Bauern‹ nur noch als einen Repräsentanten, aber nicht mehr als Subjekt sieht. War bereits im 19. Jh. von einer »grauen Masse« die Rede, die unter staatlichen Schutz zu stellen und zu beaufsichtigen sei (Frank 1999: 10), so wiederholt sich diese Einschätzung bis heute in Feststellungen wie »das bäuerliche ›Ich‹ verschmolz mit dem kommunalen ›Wir‹« (Mironov 1985: 450) oder »russische Bauern waren nicht individualisiert und es fehlten ihnen Praktiken, um sich selbst zu autonomen Subjekten zu machen« (Kharkhordin 1995: 210f ).
6 | Gleiches gilt im ausgehenden 19. Jh. für die Perzeption Russlands in Deutschland, die zwischen Faszination und Ablehnung schwankte, orientalistische Züge trug und im nationalsozialistischen Propagandabegriff des »jüdischen Bolschewismus« Antisemitismus mit dem Bild eines gesichtslosen Kollektivismus verband; vgl. dazu Moore (2003). 7 | Belegstellen zu zitieren erübrigt sich hier – eine kurze Stichwortsuche im Internet zeigt die Aktualität dieser Zeilen eines Gedichts aus dem Jahr 1866 ebenso wie die des Stereotyps »russische Seele«. Schröder (2003: 3) hat jüngst an breitenwirksamer Stelle auf die problematischen Implikationen des zugrunde liegenden Kulturverständnisses hingewiesen.
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Strukturelle Analogien: Familie und Staat Doch trotz ihrer praktisch-politischen Konsequenzen wäre die aus heutiger Sicht weitestgehend unwissenschaftlich-romantisierende Debatte zwischen Westlern und Slawophilen vermutlich nur noch von historischer Bedeutung, hätte nicht eine Fülle jüngerer Untersuchungen unterschiedlichster theoretischer und methodischer Provenienz die kollektive Grundhaltung osteuropäischer Gesellschaften bestätigt. Deren Geschichte prägende und Persistenz begründende Kraft kommt am klarsten in strukturorientiertuniversalistischen Herangehensweisen zum Ausdruck. Todds (1988) von Osteuropawissenschaftlern wenig diskutierte Arbeit8 »The Explanation of Ideology: Family Structures and Social Systems« kann dafür wohl als eines der besten Beispiele gelten und soll deshalb etwas ausführlicher dargestellt werden. Abbildung 1: Beispiel für eine strukturorientiert-universalistische Herangehensweise – Familienstrukturen in Europa vom 16. bis zum 19. Jahrhundert nach Todd (1988: x) ��������
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8 | So stellt etwa in Worobecs (1991) Arbeit »Peasant Russia: Family and Community in the Post-Emancipation Period« der egalitäre und patriarchal-autoritäre Charakter der russischen Großfamilien ein durchgängig zentrales Thema dar, ohne dass Todd dabei erwähnt wird oder auch nur im Literaturverzeichnis erscheint.
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Ausgangspunkt der Argumentation ist hier eine Klassifikation von Familientypen anhand von drei Kriterien, die eine Einteilung Europas in unterschiedliche Großräume erlaubt9 (vgl. Abb. 1): – Autoritär vs. individualisierend (»authority« – »liberty«): Wohnen die Kinder nach der Heirat weiter bei den Eltern, sind damit eng in großfamiliäre Strukturen eingebunden und einem patriarchal agierenden Familienoberhaupt untergeordnet oder gründen sie eigene Haushalte? – Egalitär vs. ungleich (»equality« – »inequality«): Wird das Erbe unter den (männlichen) Nachkommen aufgeteilt oder gibt es einen Haupterben? – Endogam vs. exogam: Sind Kreuz- und/oder Parallelkusinenheiraten erlaubt oder bestehen strenge Regelungen zur Verhinderung der Verbindung auch entfernterer Blutsverwandter? Die Kongruenz der Verbreitung spezifischer Kombinationen dieser drei Merkmale mit der Akzeptanz unterschiedlicher politischer Ideologien ist für Todd der Anlass, auch eine inhaltliche Verbindung herzustellen: Fundamentale Wertedispositionen, die in der Familie im Verhältnis zwischen Vater und Söhnen (autoritär/individualisierend) und zwischen Brüdern (egalitär/differenzierend) angeeignet werden, würden auf die Organisation des Gemeinwesens als Ganzes übertragen und fänden dort ihr Spiegelbild. »Individualisierend-ungleich-exogame« Familienstrukturen brachten demzufolge den angelsächsischen Liberalismus hervor, die Grundprinzipien »égalité« und »liberté« der französischen Revolution entstanden auf der Grundlage einer »individualisierend-egalitär-exogamen« Familienorganisation und nicht zufällig fasste der Nationalsozialismus am stärksten im Verbreitungsgebiet »autoritär-ungleich-exogamer« Familien Fuß. In Osteuropa, das durch »autoritär-egalitär-exogame« Familienstrukturen gekennzeichnet ist, musste dementsprechend sozialistisches Gedankengut auf fruchtbaren Boden fallen. Folgerichtig ist für Todd nicht »Diktatur des Proletariats«, sondern die »Übertragung der moralischen Qualitäten und der Regulationsmechanismen der exogamen Gemeinschaftsfamilie auf den Parteistaat« eine angemessene Definition für »Kommunismus« (Todd 1988: 33). Das Gleichheitsideal schlägt sich im wirtschaftlichen Bereich in den Arbeitskollektiven und einer geringen Einkommensdifferenzierung nieder, und die dominierende Rolle der Partei bis hin zu ihrer Verkörperung in konkreten Führungspersönlichkeiten von Lenin über Stalin 9 | Obwohl Todds (1988: viii, 29) Kriterien ohne Zweifel zu den wichtigsten Elementen von »Kultur« gehören, ergibt seine Klassifikation im Weltmaßstab ein räumliches Muster, das mit den verbreiteten Einteilungen von Kulturräumen anhand ethnischer, linguistischer oder religiöser Gemeinsamkeiten nicht übereinstimmt – ein Beleg für die Problematik der Konstruktion solcher Einheiten, der fast immer eine Tendenz zur Reifizierung innewohnt.
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bis Breschnew wird als Korrelat zu den patriarchal-autoritären Zügen der russischen Großfamilien interpretiert. Für Todd sind Kollektivismus und Egalitarismus damit also ebenfalls ein Jahrhunderte altes Merkmal der russischen Gesellschaft und sozialistische politische Systeme deren konsequenter Ausdruck – dass Politik tatsächlich Gesellschaft gestalte und nicht umgekehrt sei nicht mehr als eine »große Illusion der revolutionären Philosophie« (Todd 1988: 11). 10 In der Verbindung der »anthropologischen Stabilität von Familientypen« mit der »geographischen Stabilität politischer Einstellungen« (Todd 1988: vii) kommt so ein sinnhaft aufeinander bezogenes Ganzes zum Vorschein, in dessen unwandelbarem Rahmen sich »Geschichte« abspielt. Die Entstehung dieses Rahmens selbst hingegen wird eher beiläufig behandelt: der Zufall als Äquivalent zur spontanen Mutation der Genetik spiele bei der Herausbildung regionaler Unterschiede eine wichtige Rolle (Todd 1988: 198) und generell besäßen anthropologische Strukturen die Tendenz, sich auf der Grundlage von Mechanismen selbst zu reproduzieren, die »vergleichbar dem genetischen DNA-RNA-Zyklus« seien (Todd 1988: 12, 196). Der Ausbruch der Revolution ausgerechnet in demjenigen Teil Europas, wo dies am wenigsten erwartet worden war, ist für Todd also das nahe liegende Resultat der eben diesen Raum kennzeichnenden Sozialstrukturen; sie ist demzufolge weniger als historischer Einschnitt denn als konsequenter Entwicklungsschritt zu sehen. Diese Interpretation wird keineswegs nur von Autoren geteilt, die dem strukturell-universalistischen Paradigma nahe stehen, sondern scheint auch in manchen Detailstudien zur russischen Geschichte des 20. Jh. durch oder klingt in Charakterisierungen wie »soziozentrische Verfaßtheit des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft« an (Studer/Unfried 1999: 90).
Zur falschen Zeit am falschen Ort: Die Stellung der Landkommunen im unilinearen Entwicklungsmodell der marxistischen Orthodoxie Ein derart ›strukturalisiertes‹ Revolutionsverständnis ist mit marxistischen Positionen selbstverständlich völlig unvereinbar. In der Praxis aber 10 | Todd kann gerade in Zusammenhang mit den Entwicklungen in der ehemaligen Sowjetunion seine eigene Argumentation nicht stringent durchhalten, denn er stellt fest, dass sozialistische Systeme große Anstrengungen unternehmen, ihre eigene »anthropologische Basis«, die egalitären Großfamilien, zu zerstören und damit auch außergewöhnlich erfolgreich waren. Der strukturelle Determinismus wäre damit eigentlich durchbrochen und lässt sich nur aufrechterhalten, indem diese Erfolge letztlich doch nicht politischen Maßnahmen, sondern einer der egalitären Großfamilie inhärenten Instabilität zugeschrieben werden (Todd 1988: 33ff).
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konfrontierten die Verhältnisse im ländlichen Raum Russlands auch die marxistischen Theoretiker mit der Grundfrage, ob ein Anknüpfen an die bestehenden »großbetrieblichen Eigentumsstrukturen, aber kleinbetrieblichen Nutzungsmuster« wie Litošenko (2001: 213) die Situation im ländlichen Raum treffend umschreibt, es erlauben könne, die Vollendung des Stadiums kapitalistischer Produktionsverhältnisse auf dem Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft zu überspringen. Dies galt umso mehr, als es unmöglich war, die Herzen’sche Utopie eines russischen Agrarsozialismus, der auf den Landkommunen aufbauen sollte, einfach zu ignorieren. Konkret: »Kann die russische Obschtschina, eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten Gemeinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehn (sic!)?« In dieser Form werfen Marx und Engels im Vorwort zur russischen Ausgabe des Kommunistischen Manifests von 1882 diese Frage explizit auf 11 und beantworten sie folgendermaßen: »Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so dass beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.« (Marx/Engels 1959: 576). Diese Position, die letztlich ein Abrücken von der ›orthodoxen‹ Vorstellung einer in zwingend aufeinander folgenden Stadien verlaufenden geschichtlichen Entwicklung zum Ausdruck bringt, charakterisiert allerdings erst den späten Marx. Sie kommt am deutlichsten in der Antwort auf einen Brief aus dem Jahr 1881 zum Ausdruck, in dem Vera Zasuliè, die den Landkommunen grundsätzlich positiv gegenüberstand und sich in dieser Zeit verstärkt dem Marxismus zuwandte, 12 die Frage aufwirft, ob man als Marxist für den Erhalt der Landkommunen eintreten solle oder nicht (Male 1963: 234). Hier tauchen Formulierungen auf, die zu früheren Texten in scharfem Gegensatz stehen: Die Kommune könne zu einem »unmittelbaren Ausgangspunkt für die sozialistische Wirtschaftsweise« und zu einem »Motor des sozialen Aufschwungs« werden, um sie zu retten, sei eine »russische Revolution« nötig (Marx rückt also sogar von der Vorstellung ab, eine europäische Revolution müsse für Russland als Vorbild dienen!) und vor dem Gebrauch des Wortes »archaisch« brauche man nicht zurückschrecken, denn »das neue System, auf das sich die moderne Gesellschaft zubewegt, wird eine Wiederbelebung des archaischen Typs in höherer Form sein« (zit.n. Shanin 1981: 116). Doch da bei weitem 11 | »Und nun Rußland!«– diese verwundert-bewundernde Feststellung im von Engels auf deutsch verfassten Original (Marx/Engels 1959: 577) bringt gut zum Ausdruck, dass die Entwicklungen in Russland im Allgemeinen und die Landkommunen im Speziellen zeitlich ebenso wie räumlich-regional ›Einordnungsprobleme‹ aufwarfen. 12 | Zasuliè gehörte ursprünglich der Narodniki-Bewegung an und wurde Mitglied der Partei »Schwarze Umteilung«, bevor sie 1883 an der Gründung der ersten Gruppe russischer Marxisten beteiligt war.
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nicht alle Stellen derart eindeutig sind, 13 gab das Thema Anlass zu äußerst kontrovers ausgetragenen Debatten, die sich bald verselbständigten (Male 1971: 156f; Merl 1985: 182). Insgesamt verweist die Verwendung der Begriffe »egalitär« und »kollektiv« in der marxistischen Literatur also nur selten auf Inhalte, die von den Autoren selbst mit den Charakteristika der vorrevolutionären Landkommunen in Verbindung gebracht werden. Dies gilt umso mehr, als die Mehrzahl der russischen Marxisten die Bedeutung der Landkommunen entweder unterschätzte oder einfach ignorierte (Kingston-Mann 1983: 183ff). Lenin, dessen Position stark von der Auseinandersetzung mit den Narodniki 14 geprägt wurde, blieb zwar vage in seiner Einordnung der Bauern als »Leibeigene«, »Proletarier« oder »Kleinbürger«, aber den Kommunen ein positives Potenzial für die Herstellung sozialistischer Produktionsverhältnisse zuzuschreiben, hielt er für absurd. Andererseits war er angesichts der Notwendigkeit, die revolutionäre Basis in Russland so breit wie möglich zu halten, in der politischen Praxis durchaus zu Kompromissen bereit 15 und so wurden vorrevolutionären bäuerlichen Traditionen im Landdekret vom Oktober 1917 außergewöhnliche Freiräume eingeräumt. 16 Diese Kompromissbereitschaft bestand auch nach Lenins Tod fort, sie zeigt sich beispielsweise im Rahmengesetz zur Bodennutzung und Landeinrichtung von 1928 (Merl 1985: 180ff) und sogar noch lange nach Abschluss der Zwangskollektivierung in der Übernahme rechtlicher Elemente der Landkommunen in die Kolchozstatuten (Brunner/Westen 1970a: 7). Dass es in der Praxis nicht gelingen konnte, nach der Revolution das Modell einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung am Reißbrett zu entwerfen und durch seine Implementierung die Spuren der Vergangenheit restlos zu beseitigen, ist kaum verwunderlich. Doch viele Autoren gehen in der Bewertung der historischen Bedeutung des spätfeudalen für das sozia13 | Vgl. dazu den Aufsatz von Shanin (1981), der sich mit den Gründen für Marx Abkehr von seinen frühen Positionen auseinandersetzt und die Frage stellt, warum dieser Wandel kaum zur Kenntnis genommen und z.T. sogar systematisch ausgeblendet wurde. 14 | Die Narodniki waren eine literarische und politische Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jh., die den Slawophilen nahe stand, stark von sozialistischen Ideen beeinflusst war und den Bauern ebenso wie den Landkommunen besondere Aufmerksamkeit schenkte, auch wenn deren Bedeutung für den angestrebten politischen Umsturz innerhalb der Bewegung umstritten war. 15 | Dies wird insbesondere im Positionswechsel angesichts der Bauernaufstände 1905–07 deutlich; vgl. Shanin (1986: 147ff). 16 | Für eine ausführliche Diskussion der Leninschen Position gegenüber den russischen Landkommunen vgl. Kingston-Mann (1983: 39, 43f, 48, 65, 107, 109, 183ff); dort wird das Landdekret sogar als »unmarxistisch« und »opportunistisch« bezeichnet (1983: 183).
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listische System noch weiter und sind der Ansicht, dass das Kolchozsystem fest auf den Fundamenten der vorrevolutionären Landkommunen ruhte. »Dementsprechend erscheint es nicht länger als paradox, dass die neuen Kollektivbetriebe, deren erklärter Zweck die Auflösung der Landkommunen und die Modernisierung der Landwirtschaft waren, sich in Wirklichkeit auf den patriarchalen Ethos des primitiven Egalitarismus stützten. Es gibt ein klares, auf Affinität beruhendes Nachfolgeverhältnis zwischen Kolchozen und traditionellen Bauernkommunen« behaupten beispielsweise Ioffe/ Nefedova (1997: 60). Dies gilt nicht nur für den ländlichen Raum und die Landwirtschaft. Višnevskij (1998: 177f ) führt das offiziell propagierte Bild des Sowjetmenschen ebenfalls auf die Landkommunen zurück und stellt fest: »Dies ist ein neuer, gemeinschaftlicher, einfacher Mensch, der sich von seinem bäuerlichen Vorgänger klar unterscheidet, allerdings nur in äußerlichen, instrumentellen Wesenszügen […]. Im Kern ist es derselbe Kommunenbauer, jetzt aber in städtischer Kleidung und mit moderner Ausbildung.« Darüber hinaus ist es bezeichnend, dass man auch in Diskussionen, in denen theoretische Überlegungen im Vordergrund standen, bereits in der sozialistischen Zeit nicht umhin konnte, potenzielle Verbindungen zwischen der vorrevolutionären Sozialordnung im ländlichen Raum und der Utopie einer egalitären Gesellschaft marxistischer Prägung immer wieder zu thematisieren. Hierbei von einem »Brückenschlag« zu sprechen, der als weiterer Beitrag zu einer Geschichte der Kontinuität von Kollektivismus und Egalitarismus gewertet werden kann, wäre sicherlich überzogen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die offizielle Sichtweise unter Stalin klar davon abrückte, den Landkommunen ein positives Entwicklungspotenzial zuzugestehen. Doch abgeschlossen war diese Diskussion damit noch lange nicht und Shanins (1981) Reinterpretation des späten Marx ist ein gutes Beispiel dafür, dass die inhaltliche Nähe oder Distanz der Begriffe »kollektiv« und »egalitär« im marxistisch-theoretischen Kontext einerseits und als Charakterisierung einer bestimmten Sozial- und Wirtschaftsorganisation im 19. Jh. andererseits noch immer umstritten ist.
Das »neue Paradigma« Die slawophile Position mag als zu fern vom bäuerlichen Alltag, die marxistische als zu pragmatisch (in der Praxis) beziehungsweise zu ideologisch (in der Theorie) und Todds Strukturalismus als zu essentialistisch erscheinen, um die Begriffe Egalitarismus und Kollektivismus tatsächlich mit Inhalt füllen zu können. Denn auf die Vielfalt der Routinen und Eigenheiten des Lebens in Dorfgemeinschaften wird hier kaum oder nur sehr selektiv – Landumverteilung, Heirats- und Erbsitten, Haushaltsneugründungen und Wohnsituation – Bezug genommen. Doch diese Kritik trifft sicher-
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lich nicht auf eine beeindruckende Anzahl jüngerer Publikationen zu, die dem losen Rahmen des »neuen Paradigmas der Forschung zur russischen Bauernschaft« zuzurechnen sind (Cox 2002: 573; Kingston-Mann 1991b: 13ff; Pallot 1999: 15). Das große Verdienst dieser Arbeiten ist es, Kollektivismus und Egalitarismus zu kontextualisieren, sie auf spezifische Handlungssituationen zu beziehen und damit Gültigkeitsbereiche und -grenzen ebenso wie die subjektiven Rationalitäten der Akteure aufzuzeigen. Alltäglich reproduzierte Normen und Traditionen des bäuerlichen Lebens vor der Jahrhundertwende stehen hier häufig im Zentrum des Interesses, die Eigenheiten unterschiedlicher Regionen sowie Veränderungen im Lauf weniger Jahrzehnte finden vermehrt Beachtung und es ist ein klares Bestreben zu erkennen, die Verbindung zwischen verallgemeinernden Interpretationen und den empirischen Quellenmaterialien – sofern zu diesem Thema überhaupt verfügbar – im Blick zu behalten. Kollektivismus und Egalitarismus nehmen auch im »neuen Paradigma« noch eine wichtige Stellung ein, verlieren aber ihren Charakter als Fundamente ländlicher Kultur und werden zu ›Sinnvollen‹ Handlungsstrategien, die es erlauben, die bäuerliche Lebens- und Wirtschaftsweise mit den Anforderungen einer sich ändernden Umwelt in Einklang zu bringen. 17 Insofern der gemeinsame Ausgangspunkt mehr in der methodologischen Herangehensweise als in einem kohärenten theoretischen Rahmen besteht, ist die Bezeichnung »neues Paradigma« nicht ganz treffend. Eine zusammenfassende Beschreibung dieser Arbeiten ist aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit jedenfalls kaum möglich; besser lässt sich die veränderte Perspektive anhand einiger konkreter Beispiele veranschaulichen. Die Agrarreformen Stolypins im Jahr 1906, in denen unter anderem die Voraussetzungen für die Vereinödung der Höfe geschaffen wurden, stellen für Pallot (1999) einen hervorragenden Prüfstein für die Bereitschaft der Bauern dar, sich aus dem Dorfverband zu lösen. Sie stellt die Frage, wie der »bäuerliche Hang zum Kollektivismus« (Pallot 1999: 249) zu spezifischen Reaktionen führte, einerseits gegenüber den neuen Möglichkeiten, andererseits aber auch gegenüber Gemeindemitgliedern, die sich selbständig machen wollten. Frierson (1990) hingegen nähert sich dem Thema anhand der Reichweite und Grenzen kommunaler Einmischung in Privatangelegenheiten am Beispiel der Haushaltsteilungen und Erbsitten. Sie stellt fest, dass »wirtschaftliche Interessen der Dorfgemeinschaft die Dorfältesten zwar nicht dazu brachten, Haushaltsteilungen zu verhindern, sie aber auf eine egalitäre Verteilung der Güter […] achten ließen« (Frierson 1990: 316). Kingston-Mann (1991c) untersucht den Einfluss der Kommunen 17 | Diese veränderte Herangehensweise beschränkt sich nicht auf Arbeiten zur Agrargeschichte Russlands; vgl. dazu auch den Überblicksartikel von Brass (1991).
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auf die Innovationsbereitschaft und leitet daraus ab, dass »kollektivistische Traditionen bei den Bauern nicht zu solchen Charaktermängeln wie Faulheit und Apathie führten, […] die kommunale Übernahme von Innovationen aber auch kein Beispiel kollektivistischen Selbstopfers darstellt«, sondern individuelle Leistungen auch individuell belohnt wurden (Kingston-Mann 1991c: 50). Frank (1987) zeigt ebenso wie Worobec (1987), wie sich die herausgehobene Bedeutung der Dorfgemeinschaft in einer Differenzierung zwischen »zugehörig« und »fremd« im Gewohnheitsrecht ebenso wie in Formen bäuerlicher Selbstjustiz niederschlug; beide kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass entsprechend differenzierte Strafpraktiken das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkten (Frank 1987: 265; Worobec 1987: 290). In besonderer Weise trägt Burds (1991a; 1991b) zu einem präziseren Bild kollektiver Handlungsstrategien bei, indem er untersucht, wie die Landkommunen auf die Herausforderung zunehmender Arbeitsmigration in die Städte gegen Ende des 19. Jh. reagierten und sich zu einer »sozialen Kontrolle bäuerlicher Arbeitskraft« genötigt sahen. Figes (1986) hingegen geht es darum, die enge Bindung der Egalitätsthematik an die periodische Neuverteilung des Agrarlandes zu lösen und anhand des Phänomens gemeinschaftlich bewirtschafteter Parzellen zu einem besseren Verständnis der »tieferen Auffassungen kollektiven Gemeinwohls und gegenseitiger Verantwortung« (Figes 1986: 95) zu gelangen. Und Atkinson (1990) schließlich befasst sich direkt mit der Frage, wie bäuerliche Gerechtigkeits- und Gleichheitsbegriffe einer »Ethik der Arbeit« entsprangen und eng an die Bereitschaft gekoppelt waren, Land auch selbst und ohne Beschäftigung von Lohnarbeitern zu bebauen. Ein Merkmal der meisten dieser Arbeiten ist die Prämisse der Existenz einer »eigenständigen bäuerlichen Welt« (Cox 2002: 574; Pallot 1999: 15), eines »Mikrokosmos, dominiert von lokalen Interessen« (Mironov 1985: 458), einer Kluft zwischen »bäuerlicher und offizieller Kultur« (Frank 1987: 265), des ausgeprägten »bäuerlichen Partikularismus« (Serengy 1991: 341) sowie »regionaler Loyalitäten« (Johnson 1990: 90). Doch diese und viele ähnliche Formulierungen suggerieren eine Gemeinsamkeit, die in Wirklichkeit nicht existiert. Denn die in vielfältiger Weise auf »Raum« Bezug nehmende Begrifflichkeit wird oft metaphorisch gebraucht und verweist auf drei sehr unterschiedliche Grundanliegen: – Die Ablehnung universalistischer Interpretationsversuche, insbesondere modernisierungstheoretischer oder marxistischer Provenienz. Stattdessen steht das bereits erwähnte Bestreben im Vordergrund, Traditionen und Normen des Lebens in ländlichen Gemeinschaften in ihrer Rationalisierung durch die Akteure selbst zu rekonstruieren. – Die Betonung der Spezifika einer Lebens- und Wirtschaftsweise, die auf agrarischer Produktion beruht, wobei nicht selten ausdrücklich an Scotts Thesen einer für Agrargemeinschaften typischen »Moral Eco-
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nomy« (1976) sowie des bäuerlichen Widerstands mit den »Weapons of the Weak« (1985) angeknüpft wird. 18 Die besondere Berücksichtigung der Tatsache, dass der ländliche Raum Russlands aus einem Mosaik weitgehend voneinander separierter Einheiten bestand, die von den Bauern selbst als disparate sozialräumliche Lebenswelten empfunden wurden.
Vor allem das zweite und das dritte dieser »Grundanliegen« führen dazu, dass Kollektivismus und Egalitarismus – wenn auch nicht immer explizit – in einer Identitätskonzeption verankert werden, die nicht ohne territoriale Bezüge auskommt. Auf diesen zentralen Aspekt will ich hier nicht weiter eingehen, er ist Ausdruck und zugleich Ergebnis eines spezifischen Verhältnisses zu staatlichen Strukturen und wird deshalb im vierten Kapitel ausführlicher behandelt.
»Sowjetische Kultur«? Die Beispiele zeigen, dass vielfältige Anknüpfungspunkte existieren, die Anlass dazu geben, in der bolschewikischen Machtübernahme keinen wirklichen Neuanfang, sondern eine Weiterentwicklung in historischer Kontinuität zu sehen. Diese Interpretation wird jedoch selten so explizit begründet wie bei Todd (1988). Viel häufiger verleiten einfach die sich wiederholenden Charakterisierungen »kollektiv« und »egalitär« in Beschreibungen Russlands vor der Revolution ebenso wie der Sowjetunion dazu, eine inhaltliche Verbindung zu postulieren. »Gemeinhin als Kampf gegen alle Formen von Privilegien interpretiert«, schreibt beispielsweise Figes (2002: 437), »war die praktische Ideologie der russischen Revolution weniger Marx verpflichtet, dessen Arbeiten die halb-gebildeten Massen kaum kannten, als vielmehr den egalitären Sitten und utopischen Sehnsüchten der Bauernschaft«. Folgt man der These Figes’, so markiert das Jahr 1917 keineswegs einen geschichtlichen Wendepunkt, denn »was als ideologische Konzeption der Bolschewiki erscheint, dürfte im Grunde ein langfristiges Charakteristikum der russischen Geschichte darstellen, Ausdruck der traditionalen sozialen Beziehungen in der russischen Gesellschaft, etwa der kollektivistischen Traditionen der russischen bäuerlichen Kultur« (Studer/Unfried 1999: 90). Für den ländlichen Raum bedeutet dies, dass die Existenz der Landkommunen als günstige Voraussetzung für die Einrichtung von Kolchozen und Sovchozen zu gelten hätte, da sie »die Bereitschaft dafür schuf, sich kollektiver Kontrolle unterzuordnen« 18 | Beispielsweise bei Bohac (1991), Christian (1991: 276), Cox (2002: 570), Haimson (1988: 16f), Hann (2003: 1), Humphrey (2002a: XXII), Kingston-Mann (1991b: 13) oder Shanin (1986: 136).
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(Male 1963: 243; ähnlich auch Humphrey 2002a: 169). Mit Braudels (1992: 283) allgemeiner Feststellung, weder die russische noch irgendeine andere Revolution könnte als radikaler kultureller Bruch gewertet werden, steht diese Sichtweise im Einklang, in der Unmittelbarkeit der Ableitung des sowjetischen Systems aus seiner »Vorgeschichte« geht sie sogar noch darüber hinaus. Die Gegenüberstellung von entweder »Kontinuität« oder »Neuanfang« führt zu einer Polarisierung, die zwar akademischen Klassifikationsbedürfnissen, weniger aber dem Lebensalltag in den Dörfern nach der Kollektivierung der Landwirtschaft gerecht werden dürfte. In der Praxis kam es insbesondere im ländlichen Raum zu einer Überlagerung, schrittweisen Veränderung, manchmal auch Ablösung bestehender und der Implementierung neuer Institutionen, was es gerechtfertigt erscheinen lässt, von »sowjetischer Kultur« zu sprechen. Der Begriff mag zwar »für manche befremdlich oder sogar völlig unpassend erscheinen. Aber 70 Jahre aktiver kultureller und wirtschaftlicher Prägung brachten institutionelle Formen hervor, die spezifisch für die sowjetische Gesellschaft waren oder zumindest in spezifischer Weise angeeignet wurden«, argumentiert beispielsweise Allina-Pisano (2003: 5). Das »Kollektiv« war ein Grundbaustein dieses Prägungsprozesses. Kharkhordin (1999: 7, 75, 79) nennt es ein »hochgradig kulturspezifisches, fast ausschließlich in der sowjetischen Gesellschaft existierendes« Phänomen, das »das Individuum als einzigen Fokus der Aufmerksamkeit und Handlungseinheit in den Schatten stellte« und »fast schon religiöse Bedeutung« besaß, und Jowitt (1992: 289f ) spricht von einer »semi-autarken Institution«, die zugleich als »neopatriarchaler Versorger« fungierte wie auch der gezielten »gesellschaftlichen Fragmentierung« diente. 19 Nachdem das sozialistische System über mehrere Generationen hinweg Bestand hatte, sind die dem Leben in Kollektiven entsprechenden Belege für eine kollektivistische Grundhaltung »nicht mehr einfach als ein Resultat von Gewalt und Zwang abzutun, die von Seiten der Staatsgewalt ausgeübt werden: Sie repräsentieren dessen ›positive Seite‹, die ins Bewußtsein eingeht und die zum Denkmodell geworden ist« wie Lewada (1992: 79) in seiner sehr umfangreichen empirischen Studie »Die Sowjetmenschen« feststellt. Dadurch erhielt auch der akademische Diskurs eine völlig neue und ganz eigene Dynamik: »Kollektiv« und »egalitär« konnten nun als die zu einem Teil der lokalen Kultur gewordene Art der Wirtschafts- und Gesellschaftsorganisation eines Systems gelten, das sich mit eben diesen Begriffen selbst 19 | Der Umgang mit »Egalität« ist ähnlich diffus und meist eng an den Kollektivitätsbegriff gebunden; Zinoviev (1984: 120) beispielsweise beschreibt Gleichheit als das Ergebnis einer in Kollektiven dominierenden Form der Konkurrenz in Analogie zu einem Wettlauf, bei dem die Läufer die Möglichkeit haben, sich gegenseitig zu behindern.
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charakterisierte. Die Frage, wie eng die Verbindung zu vorrevolutionären Strukturen wirklich war, trat häufig in den Hintergrund. Die Tatsache, dass nach der Auflösung der Sowjetunion die Privatisierung der Kollektivbetriebe insbesondere im ländlichen Raum auf weitaus größere Widerstände stieß als erwartet, schien die tiefe Verwurzelung kollektivistischer und egalitärer Einstellungen zu bestätigen. Enttäuscht begannen Mitarbeiter der Weltbank wie Amelina (2001: 37) zu fragen, ob der Konsens von Washington – eine marktliberale und primär auf makroökonomische Stabilität zielende Agenda – vielleicht doch nur für Staaten wie Estland, Lettland oder Litauen, die keine 70 Jahre sozialistischer Prägung durchlebt hatten, eine tragfähige Handlungsgrundlage biete. Wegren, der in den letzten 15 Jahren wohl mehr als jeder andere westliche Autor zu den russischen Agrarreformen publiziert hat, geht auf der Suche nach den Ursachen der Transformationsprobleme historisch sogar noch weiter zurück und stellt zwischen sowjetischer und vorrevolutionärer Kultur eine Verbindung her: »[…] um nachvollziehen zu können, wie sich die Landreformen entwickelten […] ist es nötig, die Verbindung zu kulturellen Normen der sowjetischen und vorrevolutionären Vergangenheit herzustellen. Das Bewusstsein kultureller Kontinuität erlaubt es zu verstehen, warum im ländlichen Raum Russlands keine massenhafte Dekollektivierung stattfand.« (Wegren 1994: 218f ). Im Titel einer später erschienenen Publikation formuliert er dieselbe Position in Form der anklagenden Frage: »Where is the Rural Elite?« (Wegren 2000a) und ergänzt sie um die These einer zu egalitären Gesetzgebung ›von oben‹, die einen für die Transformationsprobleme verantwortlichen Teufelskreis aus kulturellen Normen und gesetzlichen Rahmenbedingungen begründet. 150 Jahre nachdem die Slawophilen in Kollektivismus und Egalitarismus einen positiven Gegenentwurf zum westlichen Kapitalismus gesehen hatten, war daraus nun das wichtigste Feindbild für die postsowjetische Agrarpolitik geworden und der rational agierende, Gewinn maximierende privatbäuerliche Betrieb wurde zum positiven Antipoden des faulen und betrunkenen Kolchozbauern stilisiert (Perrotta 2002: 117). Nicht zufällig zog die Regierung unter Präsident Jelzin historische Parallelen, wenn sie von den Kolchozen als »semi-feudalen Einheiten« sprach, die sich jeder Form von Restrukturierung widersetzten (Nickolsky 1998: 204)20 und den alten Slogan »das Land den Bauern« erneut aufgriff (Uzun 2004: 440). 20 | »Feudal« ist eine nicht selten anzutreffende Charakterisierung des postsowjetischen ländlichen Raums in Russland, die Assoziationen zeitloser Kontinuität hervorruft. Sie wird häufig nur verwendet, um auf die hochgradig ungleiche Verteilung von Handlungsmacht in den reformierten Kollektivbetrieben aufmerksam zu machen, einige Autoren sehen jedoch auch darüber hinaus gehende Parallelen (Gambold Miller 2003). Angemessener ist es meiner Ansicht nach, von »patrimonialen Strukturen« zu sprechen (vgl. Kap. 6).
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Aber noch bezeichnender ist es vielleicht, dass die Stolypinschen Reformen von 1906, deren vorrangiges Ziel es gewesen war, die Dorfgemeinschaften aufzulösen, als mögliche Blaupause für die Privatisierung fast 100 Jahre später diskutiert wurden (Macey 1983: 40; 1993: 98). In »ManagementSchulungszentren« ausgebildete Agrarberater ermutigten die Bauern, die Kollektive zu verlassen (Humphrey 2002a: 169) und die Weltbank erarbeitete in einem Modellprojekt einen »Privatisierungsleitfaden« (International Finance Corporation/The Overseas Development Administration 1995), der an jeden der mehr als 25.000 Kolchoze kostenlos verschickt wurde und über die bloße Privatisierung hinaus eine Auflösung der bestehenden Kollektive vorsah (Lerman 2001: 10). Berichte über Feindseligkeiten gegen privatbäuerliche Betriebe passten gut in das Bild einer irrational kollektivistischen Bauernschaft und reichen von allgemeiner Skepsis über Ächtung bis hin zu Diebstählen (Van Atta 1993: 87) und brennenden Heustadeln oder Traktoren (Hivon 1995: 18; 1998: passim).
Kollektivismus und Egalitarismus als Deutungsrahmen Kollektivismus und Egalitarismus, das zeigen die auf den vorhergehenden Seiten zitierten Beispiele, stellen Topoi dar, die sich wie ein roter Faden durch Texte zur russischen und sowjetischen Agrargeschichte ziehen. Sie konstituieren einen Deutungsrahmen, eine »Metaerzählung«, 21 die einzelne historische Ereignisse dadurch miteinander in Verbindung bringt, dass sie vermeintlich gemeinsame Wurzeln offen legt. Derart unterschiedliche Dinge wie beispielsweise ein hoher Wähleranteil für die kommunistische Partei in genau den Regionen, die sich auch durch einen hohen Anteil Beschäftigter im Agrarsektor auszeichnen (vgl. Abb. 2), 22 die Weiterbeschäftigung von Angestellten in ehemaligen Kollektivbetrieben, für die es eigentlich keine Arbeit mehr gibt (Rodionova 2001: 229; Tchernina 1996: 14) oder die bereits erwähnten Feindseligkeiten gegenüber Kolchozbauern, die einen Privatbetrieb gründen wollen, lassen sich so um ein gemeinsames interpretatives Zentrum – die kollektivistische Grundhaltung – gruppieren. Die Stabilität dieses Rahmens kann darüber hinaus zur Entstehung von Stereotypen beitragen, die im Lauf der Zeit zur Selbstidentifikation auch von denjenigen übernommen oder strategisch geschickt eingesetzt werden, 21 | Zu Lyotards (1999: 102ff) Begriff der »Metaerzählung« besteht nur eine sehr lose Analogie, die erstens in der diskursstrukturierenden Wirkung und zweitens in der Bereitstellung einer Begründung liegt, die selbst nicht weiter begründet zu werden braucht. 22 | Häufig ist von einem »roten Gürtel« die Rede, der sich südlich von Moskau von Westen nach Osten bis zum südlichen Ural erstreckt (Clem/Craumer 1995: 462; Golunov 2001; Ioffe/Nefedova 1997: 147).
1 Egalitär und kollektiv? | 39 Abbildung 2: Stimmenanteil für G. Zjuganov (Kommunistische Partei) in den Präsidentschaftswahlen 1996 und Anteil der Beschäftigten im Agrarsektor ��
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zu deren Beschreibung sie ursprünglich primär von Außenstehenden verwendet wurden (Kotsonis 1999: 11); eine Grenzziehung zwischen akademischem Diskurs und den ›Objekt-Subjekten‹, auf die er sich bezieht, wird dadurch unmöglich. Die Wirkmächtigkeit des Bildes vom Bauern als dem selbstlosen Mitglied einer lokalen Gemeinschaft wirft aber auch grundsätzliche Fragen in Bezug auf den Stellenwert von Individualität und Konkurrenz im kulturellen Selbstverständnis gebildeter Gesellschaftsschichten im 19. Jh. auf. 23 Denn in dieser Zeit war ja die städtische Intelligenz an der
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Reproduktion dieses Bildes weitaus stärker beteiligt als die Dorfbewohner selbst und ganz allgemein kann die Suche nach »dem Wesen des Bauern« durchaus als »Schritt auf dem Weg zu einer nationalen Selbstdefinition« verstanden werden (Frierson 1993: 114f ). 24 Diese dreifache Relevanz für das Verständnis der Geschichte des ländlichen Raumes in Russland – die Bereitstellung eines Interpretationskontextes für Einzelereignisse, die Implikation historischer Kontinuität sowie das Angebot von Mustern zur Selbstidentifikation – soll mit den Begriffen »Deutungsrahmen« oder »Metaerzählung« zum Ausdruck gebracht werden. Die Kohärenz dieses Rahmens darf sicherlich nicht überschätzt werden. Zum einen können sich – wie oben gezeigt wurde – hinter den Bezeichnungen Kollektivismus und Egalitarismus sowohl kulturell-essentialisierende als auch strukturell-universalistische oder im weitesten Sinn »interpretative« Grundpositionen verbergen, in denen die Institutionalisierung spezifischer Handlungsmuster mit den Rahmenbedingungen des jeweiligen Wirtschaftsund Gesellschaftssystems in Verbindung gebracht wird. Zum anderen entziehen sich viele Arbeiten derartigen Einordnungen gänzlich. Sie weisen nur thematisch eng abgegrenzt und auf kurze Zeiträume beschränkt auf Kontinuitäten in der russischen Geschichte hin und reproduzieren – sicherlich meist unbeabsichtigt – »Kollektivismus« als generelles Erklärungskonzept durch die Bestätigung in einem speziellen Fall.25 Dass die Zwangskollektivierung vielleicht die Landkommunen beseitigt habe, nicht aber die bäuerlichen Haushalte als Bewahrer einer egalitären und patriarchal-autoritären Grundhaltung (Worobec 1991: 221), dass das Fehlen jeglicher Privatsphäre und die 23 | Friersons (1993) innovative Monographie »Peasant Icons: Representations of Rural People in Late Nineteenth-Century Russia« zeichnet insgesamt ein gelungenes Bild der Konstruktion unterschiedlicher Stereotypen der russischen Bauernschaft im 19. Jh. Ich stimme jedoch nicht mit der Schlussfolgerung überein, dass das Bild vom »Kommunenbauern« letztlich »an Kraft verlor« und nicht in der Lage war, die »Vorstellung vom rationalen Bauern« in Frage zu stellen (Frierson 1993: 6, 15). 24 | Kontinuierlich durchziehen die Themen »Egalitarismus« und »Kollektivismus« nur die westliche Literatur und nur darauf beziehen sich auch die Begriffe »Deutungsrahmen« und »Metaerzählung«. In Russland selbst verschwand dieses Thema verständlicherweise nach der Oktoberrevolution, tauchte aber mit dem Ende der Sowjetunion sofort wieder auf. 25 | Die explizite Intention des einzelnen Autors ist in Bezug auf die Rezeption und ›Verwertung‹ eines Textes von zweitrangiger Bedeutung; gerade im Hinblick auf das hier verfolgte Thema sind viele der entsprechenden Hinweise Foucaults (1997: 44) ausgesprochen hilfreich. Zwar sind Arbeiten wie Todds (1988) »The Explanation of Ideology« darauf angelegt, verallgemeinernde Erklärungen anzubieten, doch in anderen Fällen, etwa bei den meisten der dem »neuen Paradigma« zuzurechnenden Untersuchungen, entzieht es sich ganz einfach dem Einfluss ihrer Urheber, über die weitere Verwendung und Wirkung zu bestimmen.
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alles umfassende soziale Kontrolle kollektiv organisierter Dorfgemeinschaften in die Kommunistische Partei übernommen worden seien und die sowjetische Überwachungshysterie begründeten (Kharkhordin 1995: 214) oder dass der primär an materiellen Ressourcen orientierte Gerechtigkeits- und damit auch Gleichheitsbegriff der vorrevolutionären Bauerngemeinden zumindest eine »Teilantwort« auf die Frage biete, warum eine sozialistische Revolution ausgerechnet in Russland ausbrach (Atkinson 1990: 16), sind Beispiele dafür. Dass ganz explizit von einem »ländlichen Bewusstseinstypus ›Dorfkommune‹« die Rede ist, der sich durch eine »äußerst negative Einstellung zu Privateigentum an Boden« sowie durch »ausgeprägtes Unbehagen gegenüber der entstehenden sozialen Ungleichheit« in den 1990er Jahren auszeichne (Alekseev/Zubarevič 1999: 84), ist eher die Ausnahme. Das Argument, die Heterogenität der Beiträge verbiete es, sie als Episoden einer gemeinsamen Rahmenerzählung anzusehen, lässt sich auch umkehren: Die Rahmenerzählung ist gerade deshalb so stabil, weil in der Betonung des bäuerlichen Kollektivismus und Egalitarismus Beiträge unterschiedlichster thematischer und methodologischer Ausrichtung ein gemeinsames Zentrum finden. Die Kontexte mögen unterschiedlich sein und die genaue inhaltliche Bestimmung fällt sicherlich alles andere als einheitlich aus, doch die Persistenz als Erklärungskonzept steht außer Frage und geht über die bloße Wiederholung von Begriffen hinaus. Sie bringt einen gewissen Grad an diskursiver Selbstreferentialität im Sinn einer von der Empirie gelösten Reproduktion argumentativer Bezugnahmen zum Ausdruck und es wäre die sicherlich lohnende, hier aber nicht weiter verfolgte Aufgabe einer »Archäologie des Wissens« (Foucault 1997), diese Selbstreferentialität detailliert herauszuarbeiten, Spuren zurück zu verfolgen, explizite Bezugnahmen ebenso wie wiederkehrende Kontexte aufzuzeigen, Widersprüche26 offen zu legen sowie die Mechanismen ihrer Inkorporierung zu analysieren, um die Entstehungsbedingungen einer Erzählung zu klären, die nicht nur immer wieder reinterpretiert, sondern auch grundsätzlich in Frage gestellt wurde.27 26 | Nicht der einzige, aber einer der auffallendsten Widersprüche ist die Tatsache, dass Kollektivismus und Egalitarismus in Arbeiten, die dem marktliberalen Handlungsmodell des homo oeconomicus verpflichtet sind, häufig als Ursachen für das Scheitern der Agrarreformen genannt werden, obwohl eine kulturelle Verwurzelung vermeintlich irrationaler Praktiken in eben diesem Modell eigentlich keinen Platz haben dürften. 27 | Die wohl fundamentalste Kritik in dieser Hinsicht kommt von Yaney (1985: 33), der von einer »Reifizierung« der Landkommune spricht. In dieselbe Richtung gehend warnt Todorova (1990: 44) vor einer Mythologisierung der südosteuropäischen zadruga, aus mehreren Kernfamilien bestehenden Haushalten, die manchmal explizit mit den russischen Kommunen in Verbindung gebracht und als Beleg dafür verwendet werden, dass eine kollektivistische Grundhaltung im ländlichen Raum als panslawisches Phänomen zu gelten hat (Grant 1973: 40).
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Die Formulierung »gewisser Grad« an diskursiver Selbstreferentialität soll aber auch verdeutlichen, dass ich eine diskursanalytische Herangehensweise nicht für »erschöpfend«, den Diskurs also nicht in dem Maß für autonom halte, wie Foucault (1997) dies in der »Archäologie des Wissens« zu begründen versucht hat; Foucault selbst ist von dieser Position später wieder abgerückt und hat sich in Arbeiten wie »Überwachen und Strafen« (Foucault 1994) verstärkt den nicht-diskursiven, diskursermöglichenden und -beschränkenden Praktiken zugewandt. Die Stabilisierung eines Deutungsrahmens kommt nicht ohne eine ›Erdung‹ jenseits aller Mechanismen diskursiver Selbstreproduktion aus – die Frage nach der tatsächlichen oder vermeintlichen Kontinuität derjenigen Handlungsmuster und Institutionen, die seine Relevanz wieder und wieder zu belegen scheinen und ihn aktualisieren, ist allein diskursanalytisch nicht zu klären. Ihre Beantwortung unter Bezugnahme auf soziale Praktiken ist jedoch mit einer doppelten Unschärfe konfrontiert: Zum einen ist es ja – unter anderem – der Deutungsrahmen selbst, der die Wahrnehmung strukturiert und Praktiken ›schafft‹, indem er gerade sie und keine anderen aus einer potenziell unendlichen Menge auswählt, abgrenzt, in einer bestimmten Weise beschreibt und sie schlussendlich im Archiv der Belege für die kollektivistische und egalitaristische Grundhaltung der Bauern ablegt. Die verfügbaren Quellen sind somit zumindest teilweise sein Produkt, zumindest aber alles andere als eine unabhängige Instanz und es ist kein Zufall, dass kein Bereich des bäuerlichen Alltags im 19. Jh. in der Literatur so sehr dominiert wie die periodischen Landumverteilungen. Zum anderen verändert die interpretierende Beschreibung ihre Gegenstände, zumal sie mit der Macht und Autorität derjenigen ausgestattet ist, die für sich »Wissenschaftlichkeit« und ein »höheres kulturelles Niveau« (vgl. dazu Kap. 4) in Anspruch nehmen können und Außenstehenden deshalb als Referenzpunkte dienen. Präsident Jelzins massives Vorgehen in der Privatisierungsfrage, das später von seinem Agrarberater A. Emel’janov sogar als »stalinistisch« bezeichnet wurde, 28 lässt sich durchaus in diesem Sinn verstehen: Da den weithin als kollektiv und egalitär orientiert beschriebenen Bauern nicht zugetraut werden konnte, angemessen auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren und selbst eine rationale Entscheidung über die Gründung eines privatbäuerlichen Betriebs zu treffen, musste die Aufspaltung der Kollektive eben per Dekret ultimativ erzwungen werden. Dasselbe Problem thematisiert auch Macey (1993) in einem Aufsatz mit dem missverständlichen Titel »Stolypin Is Risen! The Ideology of Agrarian Reform in Contemporary Russia«: Nicht auf die tatsächliche Vergleichbarkeit der Agrarreformen von 1906 mit den Privatisierungsbestrebungen Jelzins soll damit hingewiesen 28) | Interview mit A. Emeljanov in der zweiteiligen Reportage »Das unerschlossene Land« von S. Sorokina, ausgestrahlt am 7. und 8. Februar 2001 um 19.50 Uhr im russischen Sender NTV.
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werden, sondern darauf, dass der Privatisierungsdiskurs der 1990er Jahre sich ausdrücklich auch auf die Ereignisse vor der Revolution bezog. Der Glaube, aus einem historischen Rückgriff Konsequenzen für die Gegenwart ableiten zu können, geht von einer Rahmenerzählung aus, die nahe legt, man habe es heute mit demselben Kollektivismus und Egalitarismus im ländlichen Raum zu tun wie zu Beginn des 20. Jh.; damals wie heute bildete sie den Ausgangspunkt für konkrete agrarpolitische Maßnahmen und rief entsprechende Reaktionen hervor, welche die Brücke zur Praxis schlugen. Die Wirkmächtigkeit des Deutungsrahmens – das zeigen diese wie viele andere der oben zitierten Beispiele – besteht darin, dass er dem Blick des Politikers ebenso wie des Planers und nicht selten auch des Sozialwissenschaftlers die Richtung vorgibt. Die Entwicklung und inhaltliche Bedeutung der als kollektiv und egalitär beschriebenen Charakteristika des Lebens im ländlichen Raum wird nun nicht mehr auf bestimmte historische und handlungspraktische Kontexte zurückgeführt, in denen sie angesiedelt sind, sondern Egalitarismus und Kollektivismus fungieren selbst als Erklärungskonzepte, um diese Charakteristika verallgemeinernd zu definieren, ihre Entstehung zu begründen und entsprechend darauf zu reagieren. In Orientierung an den Arbeiten des »neuen Paradigmas«, insbesondere an der Ablehnung universalistischer Interpretationen sowie der Berücksichtigung der sich wandelnden Spezifika bäuerlichen Lebens wird im Folgenden deshalb mit der Frage begonnen, in welches institutionelle Umfeld diejenigen Praktiken eingebettet waren, denen häufig die Attribute »kollektiv« und »egalitär« verliehen werden. In den Vordergrund rücken dabei die sich wandelnden Modi der Einbindung lokaler Gemeinschaften in übergeordnete politische, wirtschaftliche und soziale Kontexte, wobei sich der Vergleich aus praktischen Gründen – alles andere wäre nicht zu bewältigen gewesen – auf jeweils nur kurze Zeiträume innerhalb der drei dominierenden Integrationsformationen »(Spät-)Feudalismus«, »zentralplanwirtschaftlicher Sozialismus« und »marktwirtschaftlicher Kapitalismus« beschränken muss. Das Ziel dieser historischen Herangehensweise ist es, eine alternative Perspektive auf die sich derzeit abzeichnenden Entwicklungspfade der privatisierten Kollektivbetriebe im ländlichen Russland zu eröffnen, die auf Kollektivismus und Egalitarismus als Erklärungskonzepte verzichtet und stattdessen die politische und wirtschaftliche Fragmentierung nach dem Ende der Sowjetunion ins Zentrum stellt.
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»Was die Kommune anordnet, hat den Segen Gottes!«
Čto mir postanovljaet, to bog blagoslovljaet – »Was die Kommune anordnet, hat den Segen Gottes!« lautet eine Redensart, die im 19. Jh. im ländlichen Raum Russlands gebräuchlich war, und eine andere: »Die Kommune ist ein Über-Mensch!« (mir – velik čelovek). 1 Bildhaft kommen darin einige Eigenschaften der Landkommunen zum Ausdruck, die von den Bauern selbst als zentral erachtet wurden, und es ist bezeichnend, dass ein Hinweis auf das Gleichheitsprinzip hier wie auch in anderen Sprichwörtern fehlt – nicht von obščina, sondern von mir ist die Rede! 2 Erstens hatte die Kommune das Recht, Anordnungen zu treffen, die deren Mitglieder unbedingt befolgen mussten. Das mag banal erscheinen, ist es aber nicht, wenn man berücksichtigt, wie weit diese »Anordnungsbefugnis« in das eingreifen konnte, was später entweder als Domäne des Staates oder als Privatsphäre angesehen wurde. Zweitens waren diese Anordnungen mehr als nur pragmatische Kompromisse, die in langwierigen Aushandlungsprozessen erzielt wurden. Sie besaßen den »Segen Gottes«, wurden also mit zutiefst normativen Begriffen umschrieben, die verdeutlichen, dass die Kommune nicht nur eine Zweckgemeinschaft zur Erfüllung von Steuerpflichten war, sondern ihren Mitgliedern als Bezugspunkt für die Selbstidentifikation diente.3 Drittens kommt in der Metapher »Mensch« zum Ausdruck, dass 1 | Gemeint ist hier: »Die Kommune agiert als eine Einheit/ist sich einig«. 2 | Auf den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt der Begriffe mir (allgemein: Gemeinde/Gemeinschaft) und obščina (spezifisch: Landumverteilungsgemeinschaft) wurde bereits im ersten Kapitel hingewiesen. Für ergänzende Hinweise zu russischen Redensarten des 19. Jh. danke ich Prof. Zyrjanov vom historischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau (vgl. auch Dal’ 1957). 3 | Vor diesem Hintergrund verliert die Diskussion über die Entstehungsge-
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eine Kommune sich als Einheit mit klaren Grenzen zur Außenwelt verstand, für die die Unterscheidung zwischen »innen« und »außen«, »zugehörig« und »fremd« konstituierenden Charakter besaß. Und viertens schließlich kann der Vergleich mit einem Organismus als eine Anspielung darauf gesehen werden, dass die Existenzweise einer Kommune immer in einem koordinierten Zusammenspiel interner Institutionen mit unterschiedlichen Funktionen bestand. Primär waren es nicht schriftlich fixierte Regelungen, sondern informelle Normen, etablierte Praktiken und alltägliche Routinen, die diese Eigenschaften zum Ausdruck brachten und reproduzierten. Beim Versuch einer Rekonstruktion sieht man sich deshalb mit erheblichen Quellenproblemen konfrontiert, und es wird verständlich, warum das Bild der Landkommunen unscharf bleibt, obwohl sie seit Langem ein beliebtes Thema wissenschaftlicher Untersuchungen sind. 4 Die vielen vagen Formulierungen in einem ausgezeichneten Enzyklopädie-Artikel von Eklof machen dies sehr deutlich: Die Debatte über die Entstehung der obščina in Russland vor Peter dem Großen sei »nebulös« und ihre interne Dynamik, Struktur und der Grad der Autonomie zu dieser Zeit blieben ein »Feld für Spekulationen« (1981: 209), die Funktion der Versammlung der Mitglieder sei Objekt »beträchtlicher Auseinandersetzungen« (1981: 216), Belege für die Landneuverteilung und das Gleichheitsprinzip lägen »sogar noch mehr im Dunkeln« als die Antwort auf die Frage, ob die gemeinsame Verantwortung der Bauern für Steuerzahlungen vor-moskovitischen Ursprungs ist (1981: 210), und darüber, wie häufig das Land tatsächlich neu verteilt wurde, bestünden »weit differierende Schätzungen« (1981: 218). Die hier zum Ausdruck kommende prinzipielle Unsicherheit gilt selbstverständlich auch für die folgenden Ausführungen, die sich im Wesentlichen auf die Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jh. konzentrieren. Grundsätzlich müssen vier ›Akteure‹ unterschieden werden, deren Interessen sowie autoritative und allokative Ressourcen für die bäuerlichen Gemeinschaften die Handlungsspielräume absteckten bzw. am Zustandekommen spezifischer Handlungsstrategien beteiligt waren: Zar/Staat, schichte der Landkommunen (s.u.) etwas an Bedeutung: Unabhängig davon, ob die Etablierung von Kommunen ursprünglich nur eine Reaktion auf veränderte politische Rahmenbedingungen war oder nicht, entwickelten sie sich in der Folgezeit zu einer Form des Zusammenlebens und -wirtschaftens, die nicht in struktur-funktionalistischer Weise auf Anpassungsprozesse reduziert werden kann. 4 | Zu den empirisch oder konzeptionell wichtigsten jüngeren Arbeiten mit allgemeinem Überblickscharakter gehören aus meiner Sicht die Monographien von Atkinson (1983), Goehrke (1964), Hoch (1986), Moon (1999), Pallot (1999), Pearson (1989), Robinson (1960), Shanin (1972), Worobec (1991) und Zyrjanov (1992) sowie die Sammelbände von Barlett (1990), Eklof/Frank (1990) und Kingston-Mann/Mixter (1991a).
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Feudalherren, die Kommunen selbst sowie deren einzelne Haushalte. Auch wenn Hochs (1986: 1) Einschätzung, das ländliche Russland sei in der ersten Hälfte des 19. Jh. »nicht nur zu wenig, sondern in großen Teilen schlicht überhaupt nicht« staatlich verwaltet gewesen, überzogen sein mag, so erscheint es doch gerechtfertigt, Zar und Staat nur als Rahmen setzende Institutionen zu behandeln, deren Einfluss auf konkrete Praktiken begrenzt blieb. Es waren in erster Linie die Gutsherren, die Kommune sowie die einzelnen Haushalte, die untereinander die Verteilung von Verpflichtungen, Verantwortlichkeiten und Verfahrensweisen aushandelten und im Zentrum dieses Kapitels stehen.5 Dabei geht es mir nicht darum, möglichst detailliert die sozialen und wirtschaftlichen Organisationsprinzipien der Landkommunen bzw. im nächsten Kapitel der sowjetischen Kolchoze zu beschreiben, sondern es wird gezielt nur auf diejenigen Traditionen und Praktiken eingegangen, die als empirische Bausteine für die Beantwortung der Frage nach der Kontinuität von Kollektivismus und Egalitarismus im vierten Kapitel wieder aufgegriffen werden.
Landumverteilungen und Steuererhebung Der Einfluss der slawophilen Position, die in der obščina ein originäres Element slawischer Kultur sah und dementsprechend deren Entstehung nicht mit den konkreten sozialen und politischen Umständen einer bestimmten Epoche in Verbindung bringen wollte, ist mit dafür verantwortlich, dass die Entwicklungsgeschichte der Landgemeinden immer wieder Anlass zu heftigen Kontroversen gab (Aleksandrov 1990: 37). Darüber, dass eine vergleichsweise weit gehende gemeinschaftliche Organisation des dörflichen Lebens bereits im 16. Jh. existierte, besteht zwar trotz der schlechten Quellenlage Einigkeit, nicht jedoch über die ursprüngliche Bedeutung verwandtschaftlicher Beziehungen und den chronologischen Verlauf der Transformation von einem Personenverband hin zu einer territorial abgegrenzten Institution (Eklof 1981: 209, 220). Auf jeden Fall aber war der mir anfangs eine primär informelle, gewachsene soziale Institution, die zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich stark durch die Einbeziehung in einen übergeordneten gesetzlichen Rahmen formalisiert wurde. Diese Formalisierung erreichte im 19. Jh. und insbesondere im Rahmen der Reformen von 1861 ihren Höhepunkt, als die Landgemeinden offiziell Funktionen einer administrativen Einheit übertragen bekamen (s.u.) bis schließlich knapp 50 Jahre später Ministerpräsident Stolypin die Auflösung kollektiver Formen der Landwirtschaft anstrebte und die Gründung privatbäuerlicher Betriebe zu einer politischen Zielvorgabe erhob. 5 | Auf kirchlichen Gütern und Staatsdomänen galt dies sicherlich nicht pauschal; hier war es entscheidend, wie die Verwaltung in der Praxis organisiert war.
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Kurz vor diesem Zeitpunkt, im Jahr 1905, hatten sich nach Atkinson (1983: 71f) von 12,3 Mill. bäuerlichen Haushalten im europäischen Teil Russlands 9,5 Mill. und damit über 77 % in Bauerngemeinden befunden, die aus durchschnittlich ungefähr 96 Haushalten bestanden6 und zumindest einen Teil ihres Bodens als obščina kollektiv verwalteten. Diese Form dominierte in den nördlichen, zentralen und südöstlichen Gouvernements, während Kommunen mit vererbbarem Landbesitz vor allem im Westen und Südwesten anzutreffen waren (Robinson 1960: 71 – vgl. Abb. 3); darauf, dass auch in letzteren der mir eine wichtige Rolle spielte – beispielsweise für die Organisation und Kontrolle des Flurzwangs – wurde bereits hingewiesen. Die ambivalenten Reaktionen der Bauern auf die Reformbemühungen in den Folgejahren können hier nicht im Detail dargestellt werden.7 Vieles deutet jedoch darauf hin, dass die Bauerngemeinden noch bis in die Zeit des Staatskommunismus zwischen November 1917 und Sommer 1918 hinein nicht nur sehr einflussreich blieben, sondern in der Krisensituation sogar zusätzlich an Bedeutung gewannen (Stadelbauer 1996: 93). Eklof (1981: 213) und Shanin (1972: 164ff) sind im Gegensatz zu Stadelbauer (1996: 94) darüber hinaus der Ansicht, dass auch in der Anfangsphase der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) in der ersten Hälfte der 1920er Jahre die ländlichen Sowjets gegenüber dem mir im Hintergrund standen und von ihm abhängig waren. Formal wurden die Landgemeinden erst im Juli 1930 per Dekret aufgelöst. Die periodische Neuverteilung des Agrarlandes war wohl die meistbeachtete Funktion der obščina; das führte dazu, dass die Kommunen nicht selten fälschlich (Petrikov 1997: 153) als eine ausschließlich landwirtschaftliche Institution wahrgenommen wurden, die der Entstehung ungleicher Besitzverhältnisse entgegen wirkte. Wie das verfügbare Land eingeteilt und dementsprechend in die Umverteilungen mit einbezogen oder davon ausgenommen wurde, war regional nicht einheitlich geregelt; ein ›Grundmuster‹, dem die Unterscheidung von drei Kategorien von Land zugrunde liegt, lässt sich deshalb nur unter Vorbehalt identifizieren (Pallot 1982: 11): 6 | Diese Zahl stammt aus dem Zensus von 1897, es ist nicht ganz klar, ob sie sich auf alle Bauerngemeinden oder nur auf Landumverteilungsgemeinschaften bezieht (Shanin 1985: 93). Allerdings dürfte der Größenunterschied zwischen beiden Formen gering gewesen sein. Für das Jahr 1859 geht Mironov (1985: 441) von einer Durchschnittsgröße von 43 Haushalten aus, 1877/78 waren es dann 54 Haushalte. Da sich das Bevölkerungswachstum gegen Ende des 19. Jh. beschleunigt und zusätzlich eine Tendenz zu früheren Haushaltsteilungen bestanden hat, ist eine schnelle Steigerung der durchschnittlichen Kommunengröße grundsätzlich plausibel. Ob sich die Zahl der Haushalte zwischen 1859 und 1897 allerdings tatsächlich verdoppelt hat, muss offen bleiben. 7 | Wie unangemessen eine einfache Bewertung als »Erfolg« oder »Misserfolg« ist, die sich primär an Hofgründungszahlen orientiert, macht die auch in methodologischer Hinsicht vorbildliche Arbeit von Pallot (1999) deutlich.
2 »Was die Kommune anordnet, hat den Segen Gottes!« | 49 Abbildung 3: Anteil der in Landkommunen eingebundenen bäuerlichen Haushalte in den europäischen Gouvernements Russlands im Jahr 1905
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Die erste Kategorie bestand aus bebauten Grundstücken sowie aus Gartenland in unmittelbarem Anschluss an die Wohngebäude; dieses Land wurde dauerhaft von derselben Familie genutzt und konnte über Generationen hinweg weiter gegeben werden. Der zweiten Kategorie wurden meist natürliche Weiden, Wälder sowie Busch- und Ödland zugerechnet; die entsprechenden Areale standen allen zur freien Nutzung zur Verfügung. In gemeinschaftlichem Besitz befanden sich nur Ackerland und Wiesen,
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und nur Flächen dieser dritten Kategorie unterlagen einer periodischen Neuverteilung in unregelmäßigen Zeitabständen wobei die Bemessungsgrundlage für die Ansprüche der Haushalte unterschiedlich sein konnte (s.u.).8 In der Praxis verliefen Veränderungen der Landbesitz- und Landnutzungsmuster allerdings weitaus komplizierter, als es dieses Grundschema vermuten lässt, denn erstens existierte innerhalb der drei genannten Kategorien eine Vielzahl feiner Abstufungen und Detailregelungen und zweitens folgte der Prozess der Landneuverteilung weder einem gleich bleibenden noch einem überregional einheitlichen Muster. So gab es Ende des 19. Jh. in immerhin 26 russischen Gouvernements westlich des Ural Kommunen, die einen Teil ihres Landes als ›echtes‹ Kommunalland auch gemeinsam bewirtschafteten, um mit dem Erlös beispielsweise Getreidelager zu finanzieren (Figes 1986: 89). Manche Gemeinden überließen Haushalten Waldparzellen zur Rodung und anschließenden individuellen Nutzung, die dann erst nach einem Zeitraum von bis zu 45 Jahren in den Bestand der periodisch neu zu verteilenden Flächen übergeben werden mussten (Pallot/Shaw 1990a: 143). In anderen variierten die Nutzungsrechte im Jahresverlauf (individuell genutzte Wiesen mussten möglicherweise im Herbst als allgemeines Weideland zur Verfügung gestellt werden) oder die Zeiträume zwischen Neuverteilungen von Land der zweiten Kategorie hingen von der konkreten Nutzungsform ab (im Gegensatz zu Ackerland wurden Wiesen oft jährlich neu vergeben, vgl. Robinson 1960: 11). Und schließlich war es unter bestimmten Voraussetzungen auch möglich, das von der Kommune verteilte Land an andere Haushalte weiter zu verpachten. Diese zum Teil auf allgemeinen rechtlichen Vorgaben, zum Teil auf lokalen Traditionen beruhenden Konventionen wurden durch die Reformen des Jahres 1861 weiter verkompliziert, so dass eine klare Unterscheidung der beiden Begriffe »Eigentums-« und »Nutzungsrechte« für die Zeit danach kaum mehr zu treffen ist (Lewin 1985: 9). Zwar war durch die Möglichkeit, Boden in das Privateigentum seiner individuellen Nutzer überzuführen, ein Kernbestandteil des Feudalsystems beseitigt und die Voraussetzung für die Vergabe von Eigentumstiteln an die Haushalte geschaffen worden. Aber vorläufig hatte man das Land der Kommune insgesamt übertragen und ihre Mitglieder mussten die von ihnen genutzten Parzellen erst gemeinsam oder einzeln auslösen. Dies sowie die kommunale Verantwortlichkeit für den ordnungsgemäßen Ablauf des Ablöseprozesses, die erst 1903 zusammen mit der kollektiven Besteuerung aufgehoben wurde (Moon 1999: 229) sprechen dafür, den Boden wenigstens temporär noch als Kollektiveigen8 | Im Unterschied dazu gliedert Worobec (1991: 21) die von einzelnen Haushalten oder der Kommune gemeinsam hinzu gepachteten Flächen als eine separate vierte Kategorie aus.
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tum anzusehen.9 Andererseits besaß die Gemeinde jedoch nicht das Recht, von einem ihrer Mitglieder sein ihm momentan zugeteiltes Land zurück zu fordern oder die Überführung in ›echtes‹ Privateigentum durch Bezahlung zu verhindern, worin sich der bereits bestehende ›Eigentümerstatus‹ der Nutzer ausdrückt. Auch die Tatsache, dass bereits vor 1861 ›Investitionen‹ in das zugeteilte Land wie beispielsweise Meliorationsmaßnahmen bei der nächsten Umverteilung durchaus berücksichtigt werden konnten (Worobec 1990: 96) förderte das Bewusstsein, nicht nur fremden Boden zu bewirtschaften. In jedem Fall ist es fraglich, ob die Existenz der Landkommunen im Allgemeinen wirklich die Entstehung »einer individuellen und absoluten Vorstellung von Eigentumsrechten« verhinderte wie Macey (1990: 222) vermutet. Neuverteilungen führten zu Veränderungen der Flurnutzungsmuster sowie der Besitzverhältnisse unterschiedlicher Intensität. Den stärksten Eingriff stellte eine »grundsätzliche Reorganisation« dar, bei der die gesamte Flur neu parzelliert und dann aufgeteilt wurde. Häufiger jedoch behielt man die bestehende Parzellenstruktur bei und beschränkte sich darauf, neu zu berechnen, welchem Haushalt wie viel Land zustand. Um entstehende Ungleichheiten in der Zeit zwischen diesen beiden Typen der »allgemeinen Umverteilungen«, die in unregelmäßigen Abständen zwischen einem und 30 Jahren stattfanden, auszugleichen, wurden zusätzlich partielle Flächenanpassungen durchgeführt, die den Charakter eines kontinuierlichen Prozesses annehmen konnten (Pallot 1982: 14f ). 10 Obwohl man bei der Durchführung von Umverteilungen also durchaus flexibel war, wurde die Beibehaltung dieses Systems in der zweiten Hälfte des 19. Jh. immer problematischer. Aus dem sich beschleunigenden Bevölkerungswachstum resultierten Veränderungen der Familiengrößen, die Anpassungen in immer kürzeren Zeitabständen nötig machten, und grundsätzliche Differenzen über die Bemessungsgrundlage (offiziell erfasste Kommunenmitglieder bzw. Familien, 11 Haushalte, arbeitsfähige Männer, Haushaltsmitglieder, …) traten offen zu Tage. Die jüngere Generation 9 | Die Ablösung verlief allgemein sehr schleppend, unter anderem auch deshalb, weil zumindest im europäischen Teil Russlands die an die Gutsherren zu entrichtenden Ablösesummen erheblich über dem Marktwert des Landes lagen (Burds 1991b: 54); vorläufig bestanden also auch feudale Eigentumsrechte zumindest ›partiell‹ weiter. 10 | Worobec (1990) zeigt in einer aufschlussreichen Fallstudie aus der Region Orël sehr detailliert, wie variabel das Instrument der Umverteilung tatsächlich angewandt wurde und welche Überlegungen dabei eine Rolle spielten. 11 | »Offiziell erfasst« bezieht sich auf den letzten Zensus von 1858. Einige Kommunen hielten an dieser Zahl sehr lange fest, was zu einem zunehmenden Disproporz zwischen der tatsächlichen Größe der Haushalte und dem ihnen zugeteilten Land führte.
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drängte verstärkt darauf, nach einer Familiengründung nicht mehr weiter im Haushalt der Eltern mitzuarbeiten, sondern selbständig zu wirtschaften und ebenfalls Anteile am Kommunalland zu erhalten (Macey 1990: 226, Fßn. 64), was sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in einem steigenden Anteil von pre-mortem Haushaltsteilungen und sinkenden durchschnittlichen Haushaltsgrößen bemerkbar machte (Moon 1999: 163, 172, 176). 12 Um der allgemein zunehmenden Besitzzersplitterung Einhalt zu gebieten, wurden deshalb 1893 die Intervalle zwischen den Neuordnungen per Gesetz auf mindestens zwölf Jahre festgelegt. 13 War das Land verteilt und somit den beteiligten Haushalten mit der Verpflichtung zur Bewirtschaftung übergeben, so bedeutete dies nicht, dass die Anbauentscheidungen nun völlig unabhängig von den Kommunen getroffen werden konnten. Wo die naturräumlichen Voraussetzungen es erlaubten, einigte man sich auf ein Rotationssystem mit drei Zelgen (Brache/Weide – Winterfeld – Sommerfeld), 14 die jedoch je nach lokalen Gegebenheiten räumlich auf mehr als drei Flurstücke verteilt sein konnten. Da man auch innerhalb der Zelgen versuchte, Unterschieden in der Bodengüte Rechnung zu tragen, scheinen bis zu 50 Flurstücke pro Haushalt durchaus vorgekommen zu sein (Worobec 1991: 26). Absprachen innerhalb der Dorfgemeinschaft blieben unerlässlich, so lange man auf Brachen und abgeerntete Felder das Vieh zum Weiden trieb; die Unterschiede zwischen Landumverteilungsgemeinschaften und Kommunen mit vererbbarem Landbesitz waren deshalb in dieser Hinsicht gering. Einer der wichtigsten Effekte dieses Systems war seine egalisierende Wirkung: Eine Familie konnte nur dann viel Land besitzen, wenn sie aus vielen Mitgliedern bestand, und sie verlor diese privilegierte Stellung wieder, sobald die jüngere Generation eigene Haushalte gründete. So einfach dieser Zusammenhang auf den ersten Blick aussieht, so schwierig ist es, ihn 12 | Dieses Problem stellte sich natürlich auch in Kommunen mit vererbbarem Landbesitz. Die verfügbaren Zahlen deuten darauf hin, dass die einem Haushalt zur Verfügung stehende Fläche keineswegs größer war und es demzufolge unbegründet ist, die Tradition der Landumverteilung für eine besonders ausgeprägte Besitzzersplitterung verantwortlich zu machen (Atkinson 1983: 72). Generell ist der Trend zu kleineren Haushalten vor allem in der zentralen Schwarzerderegion anzutreffen, nördlich davon zeigten sich hingegen bis Ende des 19. Jh. kaum Veränderungen (Moon 1999: 163). 13 | Einige wenige detaillierte Fallbeispiele, die Flurbesitz und -verteilung auch in Karten zeigen, finden sich bei Meitzen (1895a: 219ff; 1895b: 321ff, 350ff). 14 | Zu den regional unterschiedlichen Fruchtfolgesystemen vgl. Pallot/Shaw (1990: 112ff). Ab Ende des 19. Jh. ging man dann zunehmend dazu über, Futterfrüchte anzubauen und die Dreifelderwirtschaft wurde durch kompliziertere Fruchtfolgen ersetzt. Dieser Prozess zog sich jedoch in vielen Kommunen bis weit in die 20er Jahre des 20. Jh. hin (Altrichter 1984: 76; Okuda 1990: 256).
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quantitativ nachzuweisen und seine tatsächliche Bedeutung abzuschätzen. Erstens stellt sich dabei das Problem der Basisgrößen sowie der Beurteilungskriterien: Auf welche Einheit – Haushalt oder Individuum – werden Eigentum und Einkommen bezogen und was wird als relevanter Indikator für »Wohlstand« angesehen? Und zweitens ist immer zu bedenken, dass ja nur ein Teil des von einem Haushalt genutzten Bodens in die Neuverteilungen einbezogen war; sonstiges für die Produktion benötigtes »Kapital« wie der Hof oder die Ausstattung mit Geräten und vor allem Zugtieren blieben sogar völlig ausgeklammert. Zumindest theoretisch ist deshalb die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Chancen, dieselbe Fläche Agrarland gleich intensiv zu bewirtschaften, unterschiedlich verteilt waren; Wohlstand muss also, wie Löwe (1987: 149) mit Recht argumentiert, keineswegs unmittelbar auf Landbesitz zurückgeführt werden können. 15 Dass diese Frage kaum mehr zu klären ist, da Erhebungen, die alle relevanten Faktoren beinhalten, aus der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht existieren, versteht sich von selbst. Erschwerend kommt hinzu, dass eine zunehmende soziale Differenzierung beziehungsweise die Entstehung von »Klassen« im Zuge einer fortschreitenden Kapitalakkumulation im ländlichen Raum als Prüfstein sowohl für liberale wie auch für marxistische Theorieansätze wurde. Analysen des verfügbaren Zahlenmaterials sind deshalb oft von »heißblütigen ideologischen Debatten« (Shanin 1985: 94) geprägt und nur begrenzt aussagekräftig. Trotz der genannten Einschränkungen lässt sich zumindest zweierlei festhalten: Erstens war die Stratifizierung in den Landkommunen insgesamt erstaunlich gering. Dies gilt vor allem, wenn man Größen wie »verfügbares Ackerland« oder »Anzahl der Zugtiere« nicht auf die Haushalte als Grundeinheit bezieht, sondern in Relation zur Anzahl ihrer Mitglieder setzt. Die beiden folgenden Tabellen stellen eine Kombination der verfügbaren Zahlen aus zwei Erhebungen der Jahre 1897 und 1905 dar, die Shanin (1985: 93ff) nach ausführlicher Diskussion der Quellen für das wirklichkeitsgetreueste Bild der Situation um die Jahrhundertwende hält. Demnach besaßen über 50 % aller Haushalte zwischen 7 und 15 Desjatinen 16 Land und 90 % aller Haushalte entsprechend 95 % der Bevölkerung im ländlichen Raum wirtschafteten als bäuerliche Familienbetriebe ohne Lohnarbeiter.
15 | Löwe (1987: 149ff) nimmt an, dass auf Höfen mit kleineren Gesamtflächen der Boden intensiver genutzt wurde. Leider geht er in seiner ansonsten akribisch recherchierten Arbeit zur »Lage der Bauern in Rußland 1880–1905« auf die Tradition der Landumverteilung als Egalisierungsmechanismus kaum ein. 16 | Russisches Flächenmaß; eine Desjatine entspricht 1,09 ha.
54 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess Tabelle 1: Landbesitz im europäischen Teil Russlands um 1905 Landbesitz in Desjatinen wohlhabend bäuerliche Mittelschicht arm
≥ 15
Prozent aller Haushalte 15,8
7 – 15
51,8
≤ 17
32,4
Quelle: Shanin (1985: 98), verändert; die Kriterien »wohlhabend«, »bäuerliche Mittelschicht« und »arm« gehen auf eine kritische Auseinandersetzung mit einer Arbeit Lenins über die soziale Differenzierung im ländlichen Raum zurück.
Tabelle 2: Bäuerliche Haushalte und Lohnarbeit im europäischen Teil Russlands um die Jahrhundertwende (berechnet aus Zahlen von 1897 und 1905) Haushalte in Mill.
in Prozent aller Haushalte
Betriebe mit zwei oder mehr Lohnarbeitern
0,10 – 10,15
0,8 – 01,2
Betriebe mit einem Lohnarbeiter
0,34 – 10,51
2,6 – 03,9
11,70 – 11,13
86,9 – 90,6
0,78 – 11,04
6,0 – 08,0
Familienbetriebe
Lohnarbeiter
Quelle: SHANIN (1985: 100), verändert.
Zweitens: Die Landumverteilungen waren keineswegs der einzige und vielleicht nicht einmal der wichtigste Egalisierungsmechanismus. Dafür sprechen mehrere Gründe (Shanin 1972: 79ff). So deuten die vereinzelt verfügbaren, zum Teil qualitativen Quellen darauf hin, dass gerade die wohlhabenderen Bauern einen überproportional hohen Anteil an Privatland besaßen, das ebenso wie das sonstige Eigentum von der Redistribution ausgenommen blieb. Darüber hinaus waren die Zeitabstände zwischen den Neuverteilungen oft so lang, dass deren Einfluss auf die Akkumulation von Privateigentum begrenzt bleiben musste. Am aussagekräftigsten aber ist die Tatsache, dass auch in Weißrussland, wo sich Agrarland fast ausschließlich in vererbbarem Besitz befand, keine ausgeprägten Unterschiede zwischen armen und reichen Bauern anzutreffen sind. Die Wirkweise des zweiten wichtigen Egalisierungsmechanismus muss folglich unabhängig von den Umverteilungen sein und hängt eng mit der demographischen Struktur im ländlichen Raum zusammen: Wohlhabende Haushalte waren im Durchschnitt größer und deshalb häufiger von Aufteilungen des Eigentums im Zuge von Haushaltsneugründungen der jüngeren Generation betroffen; zudem wurde das Eigentum im Fall des Todes des Haushaltsvorstandes
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auf eine größere Zahl von Erben verteilt. Auf der anderen Seite war bei ärmeren Familien die Tendenz größer, den ländlichen Raum zu verlassen, Arbeit in den Städten zu suchen und so weitere Aufteilungen des Besitzes zu vermeiden. Das heißt aber nicht, dass die regelmäßigen Neuverteilungen des Ackerlandes völlig bedeutungslos blieben. Mangels Erhebungen, die eine ausreichend große Zahl von Kommunen erfassten, um statistisch signifikante Korrelationen zu erlauben, ist ein direkter Vergleich zwischen Gemeinden mit und ohne Umverteilungspraxis nicht möglich. Als unbefriedigender Ausweg bleibt aber die pauschale Gegenüberstellung des durchschnittlichen Besitzes an Ackerland mit dem übrigen Eigentum der Haushalte, das kommunalen Zugriffen entzogen war. Field (1990, s. insbesondere auch Appendix 1) verwendet dazu die Anzahl der Pferde, errechnet die Gini-Koeffizienten als Maß für den Grad der Differenzierung zwischen Reich und Arm und vergleicht diese mit den entsprechenden Koeffizienten für den Bodenbesitz. Das Ergebnis bestätigt wie erwartet die egalisierende Wirkung der Landumverteilungen, ist darüber hinaus aber wenig aussagekräftig. Trotz aller Unsicherheiten über die jeweilige quantitative Bedeutung der unterschiedlichen Mechanismen, die zu einer Egalisierung der Eigentumsverhältnisse führten, wird deutlich, dass eine Kombination von Normen und traditionellen Praktiken die Entstehung einer ländlichen Elite in den Landkommunen über mehrere Generationen hinweg – zumindest allein auf der Grundlage landwirtschaftlicher Tätigkeiten – verhinderte. Diese Tatsache hat im Hinblick auf die Identifikation der »Kulaken« als eigene Klasse weit reichende Konsequenzen (Shanin 1972: 81, 131ff), denn zyklische soziale Mobilität, die dafür sorgt, dass sich die Zusammensetzung einer anhand ihres Eigentums abgegrenzten Gruppe ständig ändert, ist mit der marxistischen Vorstellung zunehmender Kapitalakkumulation kaum zu vereinbaren. Offen muss hier die Frage bleiben, inwieweit dieses Bild sich ändert, wenn Aktivitäten im Bereich des Handels und Geldverleihs als Einkommensquellen mit berücksichtigt werden. Wie eng die Ausbreitung der Praxis periodischer Landneuverteilungen entstehungsgeschichtlich mit der kollektiven Verantwortung für die Zahlung von Steuern zusammenhängt, ist umstritten. Für den Staat ebenso wie für die jeweiligen Feudalherren erwies es sich auf jeden Fall als am einfachsten, die abzuliefernde Summe bzw. die zu erbringende Arbeitsleistung – beide Formen waren in Russland üblich – pauschal von einer Kommune zu verlangen und es deren Mitgliedern selbst zu überlassen, wie sie die Belastung dann untereinander aufteilten (krugovaja poruka). Nicht einzelne Haushalte, sondern die Gemeinde als Ganzes war für Zar, Kirche und Adlige die entscheidende Einheit, wie eine unter Katharina der Großen durchgeführte Erfassung des Landbesitzes belegt, in der keine Anstalten gemacht wurden, unterhalb der Gemeindeebene weiter ins Detail zu gehen (Robinson 1960: 35). Nachdem sich diese Praxis
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erst einmal etabliert hatte, dürfte sie entscheidend mit dafür verantwortlich gewesen sein, dass auch die Reformen der Jahre 1861 bis 1866 die Kommunen nicht nur unangetastet ließen, sondern deren rechtlichen Status sogar noch aufwerteten. Zwar bedeuteten die Aufhebung der Leibeigenschaft sowie die Möglichkeit, Land in Privateigentum überzuführen, eigentlich eine ›Individualisierung‹ der Bauern. Um aber den Verwaltungsaufwand möglichst gering zu halten, lag es nahe, auch hier auf eingespielte Mechanismen zurückzugreifen und die Gemeinden an Stelle der einzelnen Haushalte für die Zahlung der Ablösesummen verantwortlich zu machen. 17 Dennoch bestünde zwischen der kollektiven Verantwortung für die Steuerzahlungen einerseits und den regelmäßigen Landneuverteilungen andererseits nur ein sehr loser Zusammenhang, wäre man nicht schrittweise vom »Land« als Steuerbasis zwischen 1645 und 1679 zu den Haushalten und 1722 unter Peter dem Großen schließlich dazu übergegangen, das Steueraufkommen einer Gemeinde auf die Zahl der arbeitsfähigen Männer zu beziehen (Atkinson 1983: 8; Moon 1999: 174). Damit waren alle Haushalte relativ – d.h. bezogen auf mitarbeitende Männer, Frauen und Kinder – in etwa gleich belastet. Somit war ein Anreiz geschaffen darauf zu achten, dass auch die zur Verfügung stehenden Flächen nicht allzu sehr variierten – für einen landarmen Bauern, der seinen Steueranteil nicht erwirtschaften konnte, hätte sonst ohnehin nur die Kommune mit aufkommen müssen. Und auch wenn es keine ursächliche Verbindung zwischen Landverteilungen und Steuerverantwortlichkeit gab, so trug die Kombination von beidem sicherlich entscheidend mit dazu bei, die »Einübung gemeinsamen Handelns« (Robinson 1960: 35) zu einem festen Bestandteil des bäuerlichen Alltags zu machen. Von der Steuererhebung gingen aber auch noch auf ganz andere Weise Einflüsse auf den Charakter und die Stabilität der Landgemeinden aus. So lange die Bauern in der Lage waren, ihre Steuerpflicht zu erfüllen, war es ihnen auch nicht verboten, ihre Gemeinden zu verlassen. Doch immer intensivere Bemühungen, das Steueraufkommen zu erhöhen, machten dies zunehmend schwieriger. Auf Staatsgütern etablierte sich um die Wende vom 16. zum 17. Jh. die Verpflichtung, dass man im Fall des Fortzuges selbst für einen Nachfolger zu sorgen hatte; die einem Feudalherren unterstellten Bauern waren immer stärker durch die Last ihrer Schulden an ihren Wohnort gebunden (Robinson 1960: 13, 19). Eine potenzielle Fluktuation der Mitglieder einer Gemeinde war damit unterbunden und die territoriale Definition sozialer Zugehörigkeit, die mit der abnehmenden Bedeutung verwandtschaftlicher Verbindungen ohnehin ins Zentrum gerückt war, wurde weiter gestärkt. 17 | In Kommunen mit vererbbarem Landbesitz konnten sich die Haushalte zwar auch einzeln freikaufen, in der Praxis blieb dies jedoch die Ausnahme (Robinson 1960: 72).
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Ein Netzwerk in Grenzen Zwar waren es in erster Linie die Landumverteilungen sowie die gemeinsame Verantwortlichkeit für die Bezahlung von Abgaben, die das wissenschaftliche Interesse auf sich zogen, doch die Kommunen erfüllten darüber hinaus auch noch eine Vielzahl administrativer Funktionen, die mindestens ebenso wichtig waren. Bis zur Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 1874 zählte dazu vor allem die Entsendung einer vorgegebenen Quote von jungen Männern zum Militär, wobei es möglich war, sich ganz oder teilweise von dieser Verpflichtung freizukaufen. Auch in diesem Fall war die Gemeinde insgesamt und nicht der einzelne Haushalt dafür verantwortlich, dass der fällige Betrag auch tatsächlich bezahlt wurde. Darüber hinaus konnten Beiträge für allgemeine Aufgaben in Form von Geld- oder Arbeitsleistungen eingefordert werden, deren Höhe manchmal bis zu 50 % der Zahlungen an den Staat oder den Grundherren betrug (Atkinson 1983: 17). Die Kommunen verwendeten dieses Geld dann beispielsweise, um Getreidevorräte anzulegen oder sogar eine eigene Mühle anzuschaffen. Dass auch kleinere Rechtsstreitigkeiten intern auf der Grundlage des Gewohnheitsrechtes geregelt wurden, ist unbestritten, nicht jedoch die Frage, ob diesen Regelungen überregional einheitliche Prinzipien zugrunde lagen. Als um die Jahrhundertwende die Möglichkeit diskutiert wurde, das Gewohnheitsrecht auch offiziell anzuerkennen, zu kodifizieren und zu verallgemeinern, vertraten jedenfalls einige Autoren die Ansicht, die entsprechenden Traditionen hätten »sich niemals über die Grenzen eines einzelnen Dorfes hinaus erstreckt« (Lewin 1985: 7). In der Unsicherheit über die tatsächliche Rechtspraxis kommt letztlich ein Sachverhalt zum Ausdruck, der für die administrativen Funktionen der Landgemeinden insgesamt gilt: Nur ein geringer Teil war einheitlich gültig und tatsächlich schriftlich festgehalten, so dass immer wieder zitierte Beispiele wie die Rekrutierung für das Militär auch nur einen kleinen Ausschnitt der wirklichen administrativen Bedeutung der Kommunen widerspiegeln. Die Reformen von 1861, oft selektiv wahrgenommen als der entscheidende Schritt zur Beendigung der Leibeigenschaft, werteten die bäuerlichen Gemeinschaften als administrative Einheiten noch einmal auf. Sie schufen unter der Bezeichnung sel’skoe obščestvo im ländlichen Raum Verwaltungsorgane der untersten Ebene, 18 die in der Praxis mit den bestehenden Gemeinden zusammenfielen (s.u.), da man den Aufwand gescheut hatte, flächendeckend ein System völlig neuer Behörden aufzubauen. Aufgaben wie die Instandhaltung von Wegen und Brunnen oder der Unterhalt einer Feuerwehr, die zum Teil ohnehin bereits von den Kommunen erledigt worden waren, gehörten nun auch offiziell in deren Zuständigkeitsbereich. 18 | Genau genommen wurden die ländlichen Verwaltungsgemeinden nicht völlig neu geschaffen, sondern knüpften an die bereits 1837/38 unter Minister Kiselev für die Bauern auf Staatsgütern neu eingerichteten Verwaltungsinstitutionen an.
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Inwieweit die Verwaltungsreform insgesamt nur die Formalisierung bereits etablierter Praktiken bedeutete und wo sie tatsächlich Veränderungen mit sich brachte, die auch im dörflichen Alltag zu spüren waren, ist im Detail kaum mehr nachvollziehbar. Aber sie macht unmissverständlich deutlich, dass von staatlicher Seite vorerst nicht daran gedacht wurde, die Landkommunen zu schwächen oder gar aufzulösen. In den 80er und sogar noch in den 90er Jahren des 19. Jh. verabschiedete Gesetze – also nur ein Jahrzehnt vor Stolypins Initiative zu einer ›echten Individualisierung‹ im ländlichen Raum! – bringen sogar eher eine genau gegenteilige Haltung zum Ausdruck: 1881 wurde die Realteilung eines Hofes vom Einverständnis von zwei Dritteln der Gemeindemitglieder abhängig gemacht und 1893 der Austritt eines Bauern auch formal-rechtlich an deren Zustimmung gebunden. Zwar ist »über die Wirksamkeit all dieser Gesetze […] fast nichts bekannt« (Beyrau/Hildermeier 1983: 59), aber sie lassen erkennen, dass die Gemeinden den eigenartig dualen Charakter, der sie bereits vor der Aufhebung der Leibeigenschaft auszeichnete, behielten: Einerseits wurden sie vom Staat als Instrument der Integration in übergeordnete Strukturen gemäß nationalen Zielsetzungen benutzt (Mironov 1985: 442ff), andererseits blieben sie doch zugleich auch ein informelles System von Regeln, das der autonomen Gestaltung des bäuerlichen Alltags diente, die Gemeinschaft als solche konstituierte und ihre Interessen nach außen vertrat. Kotsonis (1999: 33) spricht in dieser Hinsicht insbesondere von den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. als einer Phase der »Gegenreform«, in der autokratische Vorstellungen wieder an Einfluss gewannen, die Kommunen zugleich aber als Garanten für Stabilität im ländlichen Raum angesehen und deshalb gestärkt wurden. Die Schaffung des neuen Amtes des Landhauptmannes (zemskij načal’nik) 1889 ist Ausdruck eben jener Politik: 50–100 Adlige pro Gouvernement, die kaum von übergeordneten Behörden kontrolliert wurden (Pearson 1989: 204f) und mit weit reichenden, auch judikativen Vollmachten ausgestattet waren, sollten von nun an die Aktivitäten der Landgemeinden und ihrer gewählten Repräsentanten überwachen. Vor wie nach 1861 bestand der grundlegende Mechanismus der Entscheidungsfindung innerhalb der Kommunen keineswegs nur in informellen Aushandlungsprozessen, deren Ergebnisse dann der gegenseitigen sozialen Kontrolle unterworfen waren, sondern es existierten klare, wenn auch lokal unterschiedliche formale Verfahrensvorschriften. Unabhängig von den konkreten Wahlmodalitäten oder der Häufigkeit ihrer Einberufung war überall die Versammlung aller Kommunenmitglieder (schod) das wichtigste Entscheidungsgremium, dessen umfassende Kompetenz am besten in dem bereits zitierten Sprichwort »Was die Kommune anordnet, hat den Segen Gottes!« zum Ausdruck kommt. Sie trat je nach Bedarf zusammen – üblicherweise jedoch mindestens zwei Mal pro Jahr – und wählte einen Vorsitzenden (starosta) für drei Jahre. Daneben konnten für andere Aufgaben der lokalen Selbstverwaltung wie die Steuererhebung, die Bewachung
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von Getreidelagern und der Ambulanzstation oder für die Abfassung von Schriftstücken eigens Zuständige gewählt werden, deren Amtszeit oft kürzer war. 19 Bei allen Entscheidungsprozessen wurde großer Wert auf Einstimmigkeit gelegt, was häufig dazu führen konnte, dass schwierige Fragen über längere Zeiträume hinweg immer wieder vertagt werden mussten (Zyrjanov 1992: 30). Wie der Prozess der Konsensfindung genau ablief und welche weiteren dörflichen Institutionen daran beteiligt waren, ist aufgrund der Quellenlage leider kaum mehr zu rekonstruieren. In einigen Kommunen jedenfalls bestand zusätzlich zur Versammlung noch ein Ältestenrat und in anderen gab es neben dem Versammlungsvorsitzenden einen »Sprecher für Feldangelegenheiten«, deren Stellungnahmen je nach Streitfall besonderes Gewicht besaßen. Neben der periodischen Landumverteilung als Mechanismus des ökonomischen Ausgleichs war es vor allem die vermeintlich gleichberechtigte politische Partizipation in der Mitgliederversammlung, die dazu führte, dass die Bauerngemeinden oft positiv verklärt wahrgenommen wurden. Dabei besaß in den Zusammenkünften jeweils nur der männliche Vorstand jedes Land besitzenden Haushaltes (bol’šak) ein Stimmrecht, alle übrigen Haushaltsangehörigen blieben ausgeschlossen oder durften den Sitzungen bestenfalls beratend beiwohnen. 20 Für andere Personengruppen (Landlose, Verwaltungsangestellte, Witwen ohne Kinder im arbeitsfähigen Alter oder Frauen, deren Männer vorübergehend in der Stadt beschäftigt waren) war die Teilnahme an Abstimmungen regional unterschiedlich geregelt und hing von den zur Entscheidung anstehenden Fragen ab. So konnte beispielsweise ein landloser Bauer, der eigenes Vieh hielt, an allen Diskussionen über die Verteilung von Weiderechten als voll stimmberechtigtes Mitglied zur Teilnahme zugelassen werden, wurde möglicherweise jedoch ausgeschlossen, wenn es um die Neuverteilung der Ackerflächen ging (Kučumova 1981: 337). Doch auch unter den stimmberechtigten Mitgliedern war das politische Gewicht keinesfalls immer gleichmäßig verteilt. Zwar bringen im 19. Jh. institutionalisierte Praktiken zum Ausdruck, dass auch die reichen Bauern stark von Meinungsbildungsprozessen in der dörflichen 19 | Ein in dieser Hinsicht detailliertes und facettenreiches Bild liefern die Erhebungen der Russischen Geographischen Gesellschaft sowie der Ökonomischen Gesellschaft Vologda aus den 70er und 80er Jahren des 19. Jh. (Kučumova 1981). 20 | Mit dem Argument »auch eine patriarchale Gesellschaft ist hochgradig stratifiziert« lehnt Hoch (1986: 128) die pauschale Beschreibung der Landkommunen als »egalitär« ab und verweist auf die herausgehobene Machtposition der Haushaltsvorstände. Dem ist grundsätzlich sicherlich zuzustimmen, allerdings bezieht sich die allgemeine Diskussion über Egalitarismus im ländlichen Raum Russlands normalerweise primär auf die Einkommens- und Vermögensverteilung zwischen den Haushalten und nicht auf Machtpositionen innerhalb von Haushalten bzw. zwischen Generationen.
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Öffentlichkeit abhängig waren (Burds 1991a: 168), in den Versammlungen besaßen sie aber dennoch überproportionalen Einfluss (Macey 1990: 222). Schließlich wird ganz allgemein gegen die lokalen Selbstverwaltungsorgane oft der Vorwurf ausufernder Korruption erhoben (Pearson 1989: 21ff). Hier ist allerdings zu differenzieren: Berichte über Bestechlichkeit beziehen sich häufig auf die ständisch organisierten Selbstverwaltungsorgane der Kreisebene (zemstvo), wo die Beziehungen weniger persönlich und die Mechanismen sozialer Kontrolle weitaus schwächer waren. Zieht man an diesem Punkt eine erste Zwischenbilanz, so wird deutlich, dass in den Landkommunen tatsächlich ein nicht unerheblicher Teil des dörflichen Alltags eigenständig und gemeinsam organisiert wurde. In Form rechtlicher Vorschriften, der Einbindung in übergeordnete Verwaltungs- und Selbstverwaltungseinheiten und der Rechenschaftspflicht des Vorsitzenden, der jederzeit für Kompetenzüberschreitungen zur Verantwortung gezogen werden konnte, waren dieser Autonomie jedoch Grenzen gesetzt. Strukturell bestand damit eine Differenzierung, in der die Entstehung einer kollektiven Identität auf der Grundlage einer sozialen Trennlinie zwischen der lokalen Gemeinschaft (»wir«) und ihrer Umwelt (»die anderen«) bereits angelegt war. Feudalherren, Gutsverwalter oder der Staat traten den Landkommunen als Widerlager gegenüber, stellten Forderungen und beschnitten deren Selbstverwaltungshoheit, worauf diese mit dem Bestreben reagierten, möglichst geschlossen aufzutreten und ihre Positionen einstimmig zu formulieren. Die entscheidende Schnittstelle zwischen beiden Parteien und für die bäuerliche Gemeinschaft ein wichtiges Bindeglied zur Außenwelt stellte der gewählte Vorsitzende dar. Er gehörte zu den Wenigen im Dorf, die kontinuierlich in räumlich und inhaltlich weitläufigere kommunikative Netzwerke eingebunden waren. Daneben brachten vor allem saisonale Wanderarbeiter, die sich während der Wintermonate in den Städten aufhielten (Dunn/Dunn 1967: 9f), Erfahrungen, Wissen und Innovationen mit in den ländlichen Raum. Diese Verbindungen intensivierten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh., als immer mehr Bauern ihre Heimatgemeinden nicht mehr nur temporär, sondern dauerhaft verließen, um Arbeit im sekundären Sektor zu suchen – nach Burds (1991b: 55) war in den neun Gouvernements Zentralrusslands um 1890 im Schnitt bereits aus jedem Haushalt ein männliches Mitglied zeitweilig oder dauerhaft außerhalb der Landwirtschaft tätig. Quantitativ war der Prozess also in jedem Fall bedeutsam, und die Integration der Landkommunen in übergeordnete wirtschaftliche Verflechtungen änderte sich dadurch ganz offensichtlich; doch ob es deshalb gerechtfertigt ist, von einem »neuen Selbstverständnis« und einer »dritten Kultur« zwischen »traditionell ländlich« und »städtisch« zu sprechen (Burds 1991b: 53, 57), sei dahingestellt. Mironov (1985: 457) jedenfalls hält die horizontale Mobilität in dieser Zeit noch immer für gering: Selbst wenn man davon ausginge, dass das gesamte Wachstum der städtischen Bevölkerung in den
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Jahren 1863 bis 1885 dem Zuzug aus den Dörfern zuzuschreiben ist, so ergebe sich dennoch nur eine jährliche Abwanderungsrate von 0,28 %!21 Für Außenstehende waren die Gemeinden unzweifelhaft weiterhin primär territorial abgegrenzte soziale Einheiten, deren wirtschaftliche, administrative und politische Anliegen von einem gewählten Repräsentanten und nicht von einzelnen Bauern vertreten wurden. Die territoriale Verankerung war also ein wichtiger Stützpfeiler des kommunalen Wir-Gefühls, auch wenn gegen Ende des 19. Jh. die Verflechtungen mit den Städten intensiver wurden und die Versammlung der Kommunenmitglieder sich immer häufiger damit befassen musste, die Modi dieser Verbindungen zur Außenwelt zu regeln. Dennoch entstand Gemeinschaft weiterhin primär nicht aufgrund von Blutsverwandtschaft, Sprache und Ethnizität oder beruflicher Zugehörigkeit und erstreckte sich auch nicht auf ein Netz räumlich weit voneinander entfernt lebender Personen, sondern war auf den unmittelbaren Nahraum einer oder weniger Siedlungen beschränkt. Nicht Heirat, sondern die Zuteilung von Land durch die Versammlung der Kommunenmitglieder stellte das entscheidende Ein- beziehungsweise Ausschlusskriterium dar (auch wenn beides in der Praxis kaum zu trennen war). Vorübergehende Abwesenheit oder der endgültige Fortzug in die Stadt bedurften der Zustimmung durch die Kommune (Beyrau/Hildermeier 1983: 48), die Teilnahme an Abstimmungen in der Versammlung war an einen Wohnsitz und den Aufenthalt auf dem Gemeindegebiet gebunden und wer selbst nicht erscheinen konnte, durfte bestenfalls einen Vertreter bestimmen, der seine Position in die Diskussionen einbrachte; übertragbar war das Stimmrecht im Normalfall jedoch nicht. Falls die Kommunen auch dafür verantwortlich waren, ihren Mitgliedern Pässe auszustellen – eine weit verbreitete, aber nicht überall gängige Praxis (Moon 1999: 225) – besaßen sie ein weiteres wirkungsvolles Instrument zur Kontrolle räumlicher Mobilität. 21 | Die Differenzen zwischen Burds und Mironov liegen zum Teil an unterschiedlichen Datengrundlagen, zum Teil aber auch an der Bewertung dieser Zahlen. Burds bezieht sich auf die 1890er Jahre sowie die neun zentralrussischen Gouvernements und verwendet die Ausstellung von Pässen als Indikator, während Mironov Zahlen für Gesamtrussland im Zeitraum 1863 bis 1885 und insbesondere das Wachstum der städtischen Bevölkerung heranzieht. Dennoch sind die Unterschiede nicht so groß, wie es auf den ersten Blick erscheint: 3,9 Mill. in die Städte abgewanderte Bauern in einem Zeitraum von 23 Jahren entsprechen 6,2 % der gesamten ländlichen Bevölkerung, pro Jahr, also 177.000 Personen oder 0,28 % (Mironov 1985: 457). Burds geht von 6 Mill. Personen in den 1890er Jahren aus, 2 Mill. davon aus Zentralrussland, entsprechend 14 % der ländlichen Bevölkerung dieses Raumes oder – da die Migranten überwiegend männlich waren – 30 % der arbeitsfähigen Männer, also zumindest einer Person pro Haushalt (Burds 1991b: 55).
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Dieser etablierte sozial-territoriale Konnex war offensichtlich so stark, dass die 1861 ins Leben gerufenen ländlichen Verwaltungsgemeinden als wirklich eigenständige räumliche Einheiten kaum eine Rolle spielten; ohnehin stimmten zumindest in Zentralrussland zwei Drittel aller Verwaltungsgemeinden territorial mit bestehenden Landkommunen überein (Moon 1999: 229). Die offiziellen Regelungen waren aber in Hinblick auf physische Grenzziehungen ebenso wie auf die Abgrenzung von Zuständigkeiten alles andere als eindeutig. Grundsätzlich hatte man festgelegt, dass eine Verwaltungsgemeinde aus Bauern bestehen sollte, die zusammen Land oder »gemeinsame ökonomische Interessen« besaßen, was für eine direkte Orientierung an den bestehenden Kommunengrenzen sprach. Offen blieb damit allerdings, wie in Fällen zu verfahren sei, in denen zwei ansonsten völlig getrennte Landkommunen nur einen kleinen Teil der Flur gemeinsam nutzten. Lebten auf einem feudalen Gutsbesitz insgesamt nicht mehr als 20 Bauern, so sollten diese mit einer Nachbarkommune zu einer einzigen Verwaltungsgemeinde zusammengefasst werden, was ebenfalls ungeklärte Fragen in Bezug auf die Landnutzung aufwarf. Da »Konfusion und Improvisation« nicht nur die Ausarbeitung der Gesetze charakterisierte, sondern später auch deren »offizielle Interpretation und Umsetzung« (Robinson 1960: 69), hatte der Senat als höchste zuständige Rechtsinstanz jedenfalls die »nächsten Jahrzehnte« damit zu tun, in diesem Punkt Klarheit zu schaffen (Eklof 1981: 211). Die Verbesserungsvorschläge einer im Jahr 1882 gegründeten »Spezialkommission« griffen nicht zufällig genau diesen Aspekt der Reformgesetzgebung auf (Pearson 1989: 128). Das tatsächliche Verhältnis zwischen den bestehenden Landkommunen und den neuen Verwaltungsgemeinden kann demzufolge anhand der gesetzlichen Regelungen kaum adäquat beschrieben werden; diese eröffneten Spielräume für informelle Praktiken, die heute im Detail nicht mehr rekonstruierbar sind. Doch gerade weil weiterhin Handlungsspielräume für lokale Akteure existierten, konnten bestehende Traditionen im Normalfall fortgeführt werden, sofern sie den neuen Gesetzen nicht direkt zuwiderliefen beziehungsweise in der Lage waren, diese zu integrieren. Der Annahme Robinsons (1960: 69), dass die Mitgliederversammlungen der Landkommunen auch zum Entscheidungsorgan für Fragen wurden, die eigentlich die Verwaltungsgemeinden betrafen, ist meines Wissens bislang jedenfalls nirgends widersprochen worden. 22 22 | Es scheint häufig so gewesen zu sein, dass die gesetzliche Größengrenze für Verwaltungsgemeinden flexibel gehandhabt wurde. Wo beide Einheiten übereinstimmten, trat die Versammlung je nach Tagesordnung entweder in ihrer Eigenschaft als Versammlung der Landkommune oder der Verwaltungsgemeinde zusammen. In großen Landkommunen wies man zum Teil wohl nur formal mehrere Verwaltungsgemeinden aus, die dann einfach die Beschlüsse der Versammlung der Landkommune übernahmen.
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Neben der Verwaltungsgemeinde stellt die »Siedlung« die zweite territoriale Kategorie im ländlichen Raum dar, deren Verhältnis zur Kommune – zumindest in bestimmten Konstellationen – unklar war. Dies gilt nicht für den um 1860/70 typischen Fall (66 %), dass eine Kommune aus 4 bis 80 Haushalten beziehungsweise 20 bis 500 Personen bestand, die in einer einzigen Siedlung zusammen lebten. Aber 20 % der Landkommunen umfassten mehrere Dörfer (»zusammengesetzte Kommunen«) und 4 % befanden sich in großen Siedlungen, die in separate Zuständigkeitsbereiche mehrerer Kommunen aufgeteilt waren (»fragmentierte Kommunen«); die verbleibenden 10 % waren Großkommunen mit über 500 Mitgliedern in meist nicht mehr rein agrarisch geprägten Siedlungen (Mironov 1985: 440). Wenn eine Kommune aus mehreren Dörfern bestand, so wurden dort oft auch separate Versammlungen abgehalten, die selbst über so zentrale Fragen wie die Landumverteilung alleine entscheiden konnten. Mit der Feststellung: »Geboren wurde man nicht ›in der Kommune‹ sondern ›im Dorf‹« weist Lewin (1990: 21) aus diesem Grund mit Recht darauf hin, dass der Siedlung als einer räumlichen und zugleich sozialen Einheit häufig zu wenig Beachtung geschenkt wird. Doch ganz allgemein davon auszugehen, dass es »nicht die Kommune [war], die das Dorf ausmachte, sondern umgekehrt« (Lewin 1990: 22) erscheint mir eine weder be- noch widerlegbare Annahme, da in Fällen, wo eine Kommune nur aus einem einzigen Dorf bestand, kaum eine sinnvolle Unterscheidung zwischen beiden Einheiten getroffen werden kann. So ist es nicht verwunderlich, dass »Dorf« bei Lewin letztlich zu einer unspezifischen Sammelbezeichnung für eine lokale Gemeinschaft wird, die man dann wiederum genau so gut auch »Kommune« nennen könnte. Zusammenfassend lassen sich in Anlehnung an Mironov (1985: 441, verändert) zehn Aufgabenfelder unterscheiden, deren gemeinsame Wahrnehmung die einzelnen Haushalte zu einer »Kommune« verband: 1. Landwirtschaft: Aufteilung des Landes und Organisation der landwirtschaftlichen Arbeiten, Kontrolle der Einhaltung von Absprachen über die koordinierte Landnutzung im Rahmen der Anbaurotation. 2. Steuererhebung: Verantwortlichkeit für die Einhaltung der steuerlichen Verpflichtungen und Verteilung der Steuerlast auf die Haushalte; Erhebung eigener Steuern bzw. Beiträge in Form von Arbeitsleistungen für kommunale Zwecke. 3. Recht: Schlichtung von kleineren Rechtsstreitigkeiten und Festlegung von Kompensationen; z.T. weit darüber hinausgehend illegale Bestrafung (Selbstjustiz). 4. Administration und Polizei: Überwachung der öffentlichen Ordnung, Schutz von Eigentum, Entscheidung über die Aufnahme neuer Mitglieder, Zuteilung von Land für den Bau von Wohnhäusern und Aufteilung von Besitztiteln im Fall der Gründung neuer Haushalte, Instandhaltung von Brunnen, Wegen, Brücken und Organisation der Feuerwehr.
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5.
6. 7. 8. 9. 10.
Nach 1861 Verantwortung für die Zahlung der Ablösesummen für das genutzte Land. Integration: Aufrechterhaltung des Zusammengehörigkeitsbewusstseins und formale Konstitution einer sozialen Einheit, die als solche ihre Interessen gegenüber dem Staat oder den benachbarten Kommunen vertreten konnte. Wohlfahrt: Organisation der Unterstützung von Kranken und Bedürftigen, Vorsorge für Ernteausfälle. Sozialisation und Bildung: Weitergabe lokalen Wissens sowie der Normen des dörflichen Gemeinschaftslebens an die jüngere Generation. Kultur: Organisation von Festen und Gestaltung gemeinsamer Aktivitäten an Feiertagen. Religion: Instandhaltung der Kirchen, Unterhalt des Klerus und Unterstützung bei der Vorbereitung religiöser Feierlichkeiten. Kommunikation: Aufrechterhaltung eines kontinuierlichen Kontaktes zu übergeordneten Behörden und Kirchenvertretern.
Häufig werden die Landkommunen als eine »soziale Institution« bezeichnet. Insofern man mit diesem Begriff eine konkrete zugrunde liegende Leitidee oder Zielsetzung assoziiert, waren sie jedoch ›mehr‹. Zwar hatten sie genau festgelegte Aufgaben zu erfüllen, aber darüber hinaus traten sie immer auch dann in Erscheinung, wenn unvorhergesehene Ereignisse zu bewältigen waren oder von außen kommende Veränderungen den dörflichen Alltag insgesamt betrafen. Die Landkommunen stellten spezifische Mechanismen bereit, mit diesen Anforderungen umzugehen, aber sie sicherten auch ganz allgemein den Konsens über »richtige« und »falsche« Verhaltensweisen – nicht zuletzt durch die kontinuierliche soziale Kontrolle, die ein integraler Bestandteil ihrer Funktionsweise war. Die etwas umständliche Formulierung »Netzwerk in Grenzen« soll dies zum Ausdruck bringen: Die Kommunen waren eine spezifische Art der umfassenden Integration von einzelnen Haushalten zu einer Gemeinschaft und verbanden diese nicht nur in ihren jeweiligen Teileigenschaften als »Produzenten«, »Konsumenten«, »Steuerzahler« oder »juristische Einheiten«. Doch während die Bezeichnung »Netzwerk« üblicherweise gerade auf Beziehungsmuster verweist, für deren Entstehung ein »gemeinsames Territorium« sekundär ist, besaß die Existenz einer klaren Grenze zur Außenwelt für die bäuerlichen Gemeinschaften in Russland konstituierenden Charakter.
Haushalt und Kommune Als Organe lokaler Selbstverwaltung, Mechanismen kollektiver Handlungskoordination und Garanten egalitärer Eigentumsverhältnisse zogen die Landkommunen von jeher das wissenschaftliche Interesse auf sich.
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Dies führte dazu, dass ihre Mitglieder – die einzelnen Höfe – auffallend in den Hintergrund rückten. Als deren Vertreter und nicht als Individuen traten die bol’šaky (Haushaltsvorstände) in den Versammlungen auf und als Verantwortliche für die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit der Höfe waren sie die Adressaten kommunaler Kontrolle und Einmischung. Auch wenn sich der Umfang des einer Familie zur Verfügung stehenden Landes änderte, Steuern abgeführt werden mussten und viele Entscheidungen der alltäglichen Wirtschaftstätigkeit nur in Abstimmung mit der Kommune getroffen werden konnten, wurde das Geld- und Naturaleinkommen doch durch Arbeit auf Flächen verdient, die sich im Besitz einzelner Großfamilien befanden. Die Höfe waren die wirtschaftlichen Grundeinheiten, sie organisierten den Absatz des nicht selbst konsumierten Anteils der Agrarproduktion selbständig und trugen die volle Verantwortung für Erfolg oder Misserfolg. Ein Hof bestand üblicherweise aus einer (Groß-)Familie (sem’ja), die zugleich eine Wirtschaftsgemeinschaft (chozjajstvo) bildete und gemeinsam auf einem Grundstück mit Wohn- und Betriebsgebäuden (dvor im engeren Sinn) lebte. Dass das russische Wort dvor im allgemeinen Sprachgebrauch als Oberbegriff für diese drei Aspekte verwandt wurde (Confino 1985: 40) macht bereits deutlich, wie selbstverständlich es war, diese Einheit als Normalfall, jede Abweichung davon hingegen als Ausnahme zu betrachten. Sie bestand nicht nur organisatorisch, sondern war auch im Gewohnheitsrecht und ab 1861 sogar offiziell juristisch verankert: Das Eigentum eines Hofes gehörte mit wenigen Ausnahmen – z.B. der Mitgift der Frau (Worobec 1991: 62ff) – allen seinen Mitgliedern gemeinsam, wurde vom Haushaltsvorstand nur verwaltet und patrilinear zu gleichen Teilen vererbt. Zur Identität von Haushalt und Familie trug auch die Tatsache bei, dass die Grundeinheit der Verteilung der Steuerlast (tjaglo) im Normalfall von Ehepaaren verlangt wurde und die Zuteilung eines halben tjaglo an Junggesellen eine Ausnahme blieb (Hoch 1986: 92f). Diese Praxis führte dazu, dass sowohl die Gutsherren wie auch die Gemeinden selbst ein Interesse daran hatten, die Zahl der ledigen und verwitweten Personen möglichst gering zu halten und vor der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 war es durchaus vorgekommen, dass die Verheiratung von Alleinstehenden ultimativ angeordnet wurde, um die Steuerbasis zu verbreitern (Bohac 1991: 255f ). Erst die Stolypinschen Reformen der Jahre 1906–11 machten den bol’šak dann rechtlich zum alleinigen Eigentümer der zu einem Haushalt gehörenden Besitztümer (Moon 1999: 181). Das Verhältnis zwischen Kommune und Hof kann wohl am treffendsten als »kontrollierte Autonomie« charakterisiert werden. Im normalen bäuerlichen Alltag wirtschafteten die Einzelhöfe selbständig und mussten sich nur in Grundfragen wie der Entscheidung über Fruchtfolgen oder der Einhaltung des Flurzwangs untereinander abstimmen; dieses Mindestmaß an Koordination ist keineswegs nur für bäuerliche Gemeinschaften in
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Russland charakteristisch und von einem direkten Einfluss der Kommune kann hier deshalb kaum gesprochen werden. Anders sah es immer dann aus, wenn ein Haushalt entweder in eine wirtschaftliche Krise geriet oder Entscheidungen anstanden, die sich längerfristig auf seine ökonomische Überlebensfähigkeit auswirkten, denn dann waren wegen der kollektiven Verantwortung für das Steueraufkommen indirekt alle Kommunenmitglieder betroffen. Die Neugründung eines Hofes nach einer Heirat oder die Aufspaltung eines bestehenden Haushaltes nach dem Tod seines Vorstandes berührten die Kommune ebenso wie ein Brand, dessen Folgen eine Familie nur mit Hilfe der Dorfgemeinschaft bewältigen konnte. Manchmal waren aktive Hilfeleistungen oder Einmischung erforderlich, um kollektive Interessen zu wahren, doch in den meisten Fällen funktionierte die Kommune als Kontrollinstanz (Frierson 1990: 316). Deren bloße Existenz gewährleistete die Einhaltung bestimmter Regeln und machte weitere Eingriffe in die Autonomie ihrer Mitglieder überflüssig. So war es beispielsweise in vielen Gemeinschaften üblich, ein Testament von der Gemeindeversammlung absegnen zu lassen (Worobec 1991: 54). Damit war eine routinemäßige Prüfung etabliert, die bereits frühzeitig sicherstellte, dass kommunale Interessen beim Eintreten des Erbfalles nicht verletzt wurden. Da die Haushaltsvorstände selbst kommunale Entscheidungsprozesse dominierten, ist das Bild einer antagonistischen Beziehung zwischen auf Kontrolle bedachten Kommunen und nach Autonomie strebenden Haushalten wenn nicht falsch, so doch einseitig. Hochs (1986) Mikrostudie des Gutes Petrovskoe im Gouvernement Tambov ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Sie entwirft das Bild einer Gemeinschaft, in der die wichtigste Konfliktlinie weder zwischen der Kommune und den Haushalten noch zwischen der Kommune und dem Gutsverwalter, sondern zwischen den Generationen verlief. Gegenüber standen sich auf der einen Seite die bol’šaky, darauf bedacht, die frühzeitige Teilung ihrer Haushalte zu verhindern und nicht selten dieselben Interessen wie der Verwalter verfolgend und auf der anderen die wirtschaftlich abhängigen und politisch einflusslosen jüngeren Bauern. Die »Autonomie der Haushalte« wird hier als eine Ergänzung der Kontrollfunktion der Kommune durch die patriarchale Sozialordnung der Großfamilien beschrieben. Autonomie und Kontrolle im Verhältnis zwischen Kommune und Haushalten zu unterscheiden ist aber auch deshalb schwierig, weil viele im bäuerlichen Alltag gültige Normen die Kommune stützten und durch soziale Kontrolle innerhalb der Dorfgemeinschaft aufrecht erhalten wurden, ohne dass sich diese Normen auf ihre Funktion im Hinblick auf kommunale Interessen reduzieren und ausschließlich als Kontrollmechanismen interpretieren ließen. Falls es beispielsweise zutrifft, dass die Gemeinschaft einen Hof in einer wirtschaftlichen Notlage immer dann unterstützte, wenn abzusehen war, dass diese Hilfe wie im Fall eines Brandes nur vorübergehend nötig war und der betroffene Haushalt bald wieder in der Lage sein würde, seinen
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Steueranteil selbst zu bezahlen, sie aber nicht einsprang, wenn Verarmung durch Unfähigkeit – häufig Alkoholismus – verursacht wurde (Moon 1999: 226), so ist hier die Intentionalität kommunaler Normen noch unmittelbar nachvollziehbar. Anders sieht es hingegen in Bezug auf das Heiratsalter und die Neugründung von Haushalten aus. Einerseits jung zu heiraten, andererseits dann aber nicht sofort den elterlichen Haushalt zu verlassen, war eine allgemeine Norm im ländlichen Raum und durchaus im Sinn der Dorfgemeinschaft ebenso wie der Feudalherren, als deren Instrument die Kommunen ja nicht selten agieren mussten. Denn große, aus mehreren Familien bestehende Haushalte waren eher in der Lage, das eigene Überleben ohne die Hilfe der Kommune zu sichern, selbst für Alte und Kranke zu sorgen und ihren Steueranteil zuverlässig abzuliefern, da sie Risiken intern auf mehr Mitglieder verteilen und durch Diversifizierung – vom Anbau unterschiedlicher Feldfrüchte über die Nutzung einer größeren Zahl räumlich auseinander gelegener Parzellen bis hin zur Erwirtschaftung von Zusatzeinkommen durch handwerkliche Tätigkeiten – abschwächen konnten. Moon (1999: 168) sieht hier einen unmittelbaren kausalen Zusammenhang, wenn er schreibt: »Die Kommunen waren erpicht darauf, alle Bauern in ihren Dörfern zu frühen Heiraten zu bewegen, weil [Hervorheb. P.L.] eine hohe Geburtenrate die Zahl der Bauern und später der Arbeitsteams steigerte, die in der Lage waren, die kommunale Belastung durch Schulden und Steuerzahlungen an die Land besitzende und herrschende Elite mit zu tragen«. Mir erscheint die Ableitung grundsätzlicher Normen wie des Heiratsalters oder der Kinderzahl aus kommunalen Bedürfnissen als eine funktionalistische Verkürzung, die übersieht, dass die Entstehung derartiger Normen in weitaus umfassenderer Weise von einem Gesellschaftsbild abhängt, dessen Teil sie sind. »Was die Kommune anordnet, hat den Segen Gottes!« – in diesem Sprichwort kommen Anpassung und Unterordnung ebenso wie die Akzeptanz und Identifikation mit der lokalen Gemeinschaft zum Ausdruck. Vor allem aber wird deutlich, dass die Kommune selbständig Anordnungen treffen konnte, dass Entscheidungsspielräume bestanden und dass staatliche und gutsherrliche Einmischung sich auf spezifische Aspekte der Wirtschaftsorganisation beschränkten. Das sowjetische System, dessen vorrangiges Ziel es war, nicht nur alle Arten von Kollektiven zu kontrollieren, sondern letztendlich sogar die Privatsphäre von Familien und Individuen zu durchdringen, bereitete dieser lokalen Autonomie – zumindest offiziell – ein rasches Ende.
3
»Alles hier gehört dem Kolchoz, alles hier gehört mir!«
Vsë vokrug kolchoznoe, vsë vokrug moë! – »Alles hier gehört dem Kolchoz, alles hier gehört mir!« lautet der Refrain eines Liedes aus der sowjetischen Zeit, 1 an das sich fast alle Kolchozmitarbeiter der älteren Generation noch gut erinnern können. Selbstverständlich war dieser Satz als eine Würdigung der Errungenschaften des Sozialismus, der Enteignung der ›Kulaken‹ und der Kollektivierung der Landwirtschaft gedacht. Vsë vokrug kolchoznoe, vsë vokrug moë ist im ländlichen Raum auch heute noch zu hören, meist mit einem Augenzwinkern oder ironischen Grinsen vorgebracht und kann sich sowohl auf die Zeit vor der Restrukturierung als auch auf die momentane Situation beziehen. Der Satz besaß im Volksmund schon immer eine zweite Bedeutung, die nicht an Aktualität verloren hat: Alles hier, was eigentlich dem Kolchoz gehört, kann ich auch für mich, meinen Haushalt und meine Hoflandwirtschaft verwenden. Was sich dahinter in der Realität verbarg, reichte von informellen Vereinbarungen über ›geduldeten Schwund‹ bis hin zu echtem Diebstahl und Verkauf auf dem Schwarzmarkt. Vsë vokrug kolchoznoe, vsë vokrug moë bringt gut zum Ausdruck, dass es im Alltagshandeln nicht erst seit der Restrukturierung schwierig geworden ist, Kategorien wie »privat«, »kollektiv« und »öffentlich/staatlich« zu trennen. Und die Tatsache, dass der Kolchoz im Gegensatz zum Sovchoz offiziell eine Genossenschaft und somit tatsächlich Eigentümer der genutzten Produktionsmittel war, macht die Unterscheidung auch formal-juristisch nicht gerade einfacher. Ließe sich in dem Refrain »Alles hier gehört dem Kolchoz, alles hier gehört mir!« das Wort »Kolchoz« durch »Landkommune« ersetzten? Dieses 1 | »Dorožnaja« von S. A. Vasil’ev (Text) und I. Dunaev (Melodie) aus dem Jahr
1947.
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Gedankenspiel macht klar, dass trotz einiger augenscheinlicher Gemeinsamkeiten Differenzen grundsätzlicher Art bestehen. In seiner offiziellen Bedeutung bringt der Satz eine Identität zwischen Individuum/Haushalt und Kollektiv zum Ausdruck, die weit über den integrativen Anspruch von »Gemeinschaft« in den Landkommunen hinausreicht. In seiner ironischen Variante weist er auf einen Antagonismus hin, der dort in dieser Form nicht bestanden hat. Wie die Landkommunen waren auch die Kolchoze eine territorial orientierte Form der Integration der Haushalte eines oder mehrerer Dörfer. Doch nicht nur in deren Entstehungsgeschichte, sondern auch in ihrer alltäglichen Funktionsweise zeigt sich auf den ersten Blick eine völlig andere Bedeutung der Rolle des Staates. Bezug nehmend auf Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen, die in den Landgemeinden fehlten, sprechen einige Autoren von den sowjetischen Kollektivbetrieben deshalb als »totalen Institutionen« im Sinn Goffmans (vgl. Gambold Miller 2001: 152; Max Planck Institute for Social Anthropology 2001: 82, 127), die »sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren [lassen], die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen« (Goffman 1972: 11).2 Mag die Bezeichnung »totale Institution« auch überzogen sein, so ist doch zu fragen, wo die Grenze zwischen den gemeinschaftlich und im Rahmen der Organisationsform »Kolchoz« geregelten Bereichen des Alltags und der Privatsphäre seiner Mitglieder gezogen war. Auf die Art und Weise, in der die Kolchoze – formal wie informell – als Integrationsmechanismen wirkten, wird auf den folgenden Seiten näher eingegangen. Dieses Kapitel verfolgt darüber hinaus aber noch eine zweite Zielsetzung: Die Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Charakteristika der Kolchoze soll die Wirkweise des zentralen Mechanismus der Herstellung von Einheitlichkeit im ländlichen Raum Russlands aufzeigen, der die Voraussetzungen dafür schuf, dass überhaupt mit einer gewissen Berechtigung verallgemeinernd über »den« ländlichen Raum gesprochen werden kann. Denn grundsätzlich ist der Einwand, dass die regionalen Unterschiede trotz des ausgleichend wirkenden zentralplanwirtschaftlichen 2 | Sicherlich kann es nicht darum gehen, die Kolchoze im Hinblick auf einen aus Goffmans Arbeit gewonnenen Katalog definitorischer Merkmale totaler Institutionen hin abzuprüfen und dann einzuordnen – dass vieles, was Goffman für wesentlich hält, auf die sowjetischen Kollektivwirtschaften nicht zutrifft, ist nicht zu übersehen. Die Frage ist vielmehr, ob die von Goffman beschriebenen Integrations-, Ein- und Ausgrenzungsmechanismen auch in Kolchozen anzutreffen sind. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, dass Goffman selbst das »Holzfällerlager« als Beispiel anführt (1972: 21) und die bäuerliche Familie nur deshalb davon abgrenzt, weil sie nicht »kollektiv organisiert« sei (1972: 18) und damit ein Kriterium heranzieht, das für Russland zumindest in Frage gestellt werden muss.
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Systems auch in sowjetischer Zeit enorm blieben, mehr als berechtigt. Der Übertragbarkeit von Fallstudien sind damit sicher enge Grenzen gesetzt, selbst wenn man die Kategorie »ländlicher Raum« präzisiert und nur für Gegenden verwendet, in denen der überwiegende Teil der Bevölkerung tatsächlich in der Landwirtschaft beschäftigt ist (vgl. Stadelbauer 1979a: 242f ). Dabei ist zu berücksichtigen, dass einerseits bereits in den 1960er Jahren ein steigender Prozentsatz der ländlichen Bevölkerung außerhalb der Landwirtschaft beschäftigt war (Wädekin 1968), andererseits damit aber nicht zwangsläufig die vollständige Unabhängigkeit von der »Institution Kolchoz« einherging.3 Naturräumliche Verschiedenheit und damit einhergehend ein unterschiedliches agrarwirtschaftliches Potenzial, mehr oder weniger strikte Befolgung der staatlichen Vorgaben oder die Nähe zu städtischen Zentren sind Faktoren, die in sowjetischer Zeit genau wie heute zu ausgeprägten Differenzierungen führten. Die zu Beginn der Regierungszeit Gorbatschows 1985 existierenden 26.200 Kolchoze anhand von Mittelwerten wie 6.400 ha landwirtschaftlich genutzte Fläche oder 485 Mitarbeiter pro Betrieb (Central’noe Statističeskoe Upravlenie SSSR a 1986; Central’noe Statističeskoe Upravlenie SSSR b 1986) zu charakterisieren ist deshalb nur bedingt aussagekräftig. Wenn dennoch eine empirische Arbeit wie die jüngst unter dem neuen Titel »Marx Went Away – But Karl Stayed Behind« wieder aufgelegte Dissertation von Humphrey (1998 [1983]) zu den wichtigsten Quellen für meine Arbeit zählt, obwohl sie sich mit zwei Kolchozen befasst, die nicht nur mehr als 5.000 km von meinen eigenen Untersuchungsgebieten entfernt liegen, sondern deren Mitglieder auch einer mongolischen Volksgruppe mit ausgeprägten eigenen Traditionen angehören, so ist dies in erster Linie auf eben jene vereinheitlichende Wirkung der landesweiten Implementierung des Kolchozsystems zurückzuführen. Dessen prägende Kraft nahm im Verlauf der Zeit eher zu als ab und schloss auch die Nebenerwerbswirtschaft der Kolchozbauern mit ein: Waren im entscheidenden Gesetz von 1935 die Voraussetzungen für regionale Anpassungen der Normzahlen für den privaten Viehbesitz noch genau aufgeführt, so wurden im während der Regierungszeit Breschnews gültigen »dritten Musterstatut« entsprechende Möglichkeiten nur noch allgemein erwähnt (Giese 1973: 228; 1983: 558). 3 | Wädekins (1968: 184) Feststellung, man könne »auf Grund dieser Zahlen und Erwägungen annehmen, daß in den Dörfern etwa jeder vierte Haushalt die Verbindung zum Agrarbetrieb (aber nicht notwendig zur agrarischen privaten Nebenerwerbswirtschaft) ganz gelöst oder nie gehabt hat (z.B. Lehrer, Ärzte, Fachkräfte lokaler Industrien und Dienstleistungsbetriebe, die von auswärts zugezogen sind)« ist deshalb zumindest missverständlich. Sie entspringt einer zu formalistischen Betrachtungsweise, die dem Charakter der Kolchoze als umfassender Versorgungsinstitution im ländlichen Raum zu wenig Rechnung trägt und wird auf den folgenden Seiten des zitierten Aufsatzes auch indirekt wieder relativiert.
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Weitere Rechtsverordnungen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre bestätigen diesen Trend (Stadelbauer 1991: 26).
Die interne Verfasstheit des Kolchoz: Das dritte Musterstatut In der sowjetischen Zeit bildeten so genannte »Musterstatuten« – eine Art standardisierter Vorlage für individuelle Satzungen – die wichtigste Grundlage für die konkrete Ausgestaltung der internen Organisation des Kolchozalltags und die Regelung des Verhältnisses zwischen dem Betrieb und seinen Mitgliedern. Waren die prinzipiellen Grundsätze der Kollektivwirtschaft in der Verfassung verankert, so stellten Musterstatuten den unmittelbar folgenden Referenzpunkt auf der nächst niedrigeren legislativen Ebene dar, auf den immer wieder ausdrücklich verwiesen wurde (vgl. z.B. Art. 7 der sowjetischen Verfassung vom 5. Dezember 1936). Dennoch waren Musterstatuten keine umfangreichen und detaillierten Gesetzeswerke, sondern nur Rahmenregelungen, die einerseits durch Gesetze und Verordnungen in anderen Bereichen – in erster Linie das Bodengesetzbuch – ergänzt wurden, andererseits aber auch nicht unerhebliche Entscheidungsspielräume für die einzelnen Kollektive offen ließen.4 Im Hinblick auf die Frage, wie die Kolchoze zu Beginn der Transformation in den 1990er Jahren intern verfasst waren, ist das dritte Musterstatut entscheidend, das vom Unionskongress der Kolchozbauern am 27. November 1969 angenommen und dann am 28. November 1969 vom Zentralkomitee der KPdSU sowie vom Ministerrat bestätigt wurde.5 Es unterscheidet sich nicht wesentlich vom zweiten Musterstatut aus dem Jahr 1935 und ist somit Ausdruck einer Kontinuität, die erst das vierte, noch im August 1988 verabschiedete Musterstatut durchbrach (Paetzold 1989: 153; Wegren 1998: 64ff). Letzteres blieb allerdings weitgehend unbekannt und konnte in der Praxis kaum mehr Wirkung entfalten, da es wegen der Umbrüche Anfang der 1990er Jahre bald wieder obsolet wurde. 4 | Rechtskräftig wurde ein Musterstatut erst, wenn ein Kolchoz es durch Beschluss auch formal annahm oder genau genommen: es als Vorlage verwendete, um ein eigenes Statut auf der Grundlage des Musters auszuarbeiten, und wenn dieses dann von der Vollversammlung akzeptiert wurde. Tatsächlich jedoch waren die Muster in gedruckter Form erhältlich und wurden oft ohne betriebsspezifische Anpassungen einfach als Statut übernommen (Humphrey 1998: 77). In der sowjetischen Rechtssprechung wurden Musterstatuten als »gesetzesähnlicher Akt« behandelt (Brunner/Westen 1970a: 30), eine umfassende Rechtsgrundlage für die Kolchozwirtschaft stellten sie jedoch nicht dar (Bilinsky 1996: 129f). 5 | Eine ins Deutsche übersetzte Fassung des dritten Musterstatuts ist publiziert in Brunner/Westen (1970c: 147ff).
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Den Erörterungen des empirischen Teils vorgreifend muss bereits an dieser Stelle kurz die Frage aufgeworfen werden, welche Bedeutung derartige Regelwerke für eine Arbeit besitzen, der es ja gerade nicht darum geht, Kategorien wie »kollektiv«, »egalitär« oder »privat« formal-juristisch zu behandeln, sondern die nach sozial-räumlichen Prozessen der Bedeutungsentstehung in Alltagspraktiken fragt. Mit anderen Worten: Besaßen in der Sowjetunion, die ja im Allgemeinen durch ein erhebliches Auseinanderfallen der offiziell und öffentlich proklamierten sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und der alltäglichen Lebenswirklichkeit vieler Menschen gekennzeichnet war, Vorschriften wie das Musterstatut überhaupt praktische Relevanz (vgl. Garcelon 1997: 316; Wädekin 1969: 58)? Drei Aspekte, auf die sich in meinen Interviews immer wieder Hinweise ergaben, sind in dieser Hinsicht von Bedeutung: – Generell wurden offiziell gültige staatliche Regelungen in einem erheblich größeren Maß als in westlichen Ländern durch informelle Vereinbarungen erweitert, ergänzt und nicht selten auch ausgehebelt. Aber wirklich grundsätzliche neue Vorgaben konnten selbst im Rahmen eines informellen örtlichen Konsenses nicht einfach ignoriert werden, sondern führten höchstens zu Versuchen, deren negative Folgen abzumildern. Der Auflösung der Maschinen-Traktoren-Stationen im Jahr 1958 (Hahn 1970: 43f ) beispielsweise konnte man sich nicht widersetzen, bestenfalls war es möglich, alternativ dazu einen informellen Maschinentausch mit Nachbarbetrieben zu organisieren. In diesem Sinn waren die Handlungsstrategien der Akteure für gewöhnlich durchaus an gesetzliche Vorgaben gekoppelt, selbst wenn sich diese Abhängigkeit zuweilen paradox in Form von gezielten Aversionsstrategien äußerte. – Das massive Umgehen von gesetzlichen Regelungen mag insgesamt zwar weit reichende Folgen besessen haben, blieb im größeren Stil aber wenigen Mitgliedern der Nomenklatura vorbehalten, während den Kolchozarbeitern enge Grenzen gesteckt waren, da sonst der Schein des Funktionierens des sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells zusammengebrochen wäre. So war es beispielsweise ausgesprochen schwierig, Grundbesitz über die gesetzlichen Normen hinaus zu erweitern, und ganz offensichtlich illegal große Privatparzellen fand man weniger im ländlichen Raum als vielmehr in suburbanen Gebieten, wo städtische Eliten Datschengrundstücke besaßen. Einfachen Kolchozbauern war es im günstigsten Fall möglich, die Zäune ihrer Hoflandparzellen um einige Meter zu versetzen oder Öd- und Unland an Straßenrändern, Bahndämmen oder in Auenbereichen zu nutzen und so Anbaufläche hinzu zu gewinnen. In der Praxis konnten die im dritten Musterstatut festgeschriebenen Flächenobergrenzen auf diese Weise jedoch nur geringfügig überschritten werden. – Bedeutsamer als die beiden vorhergehenden Aspekte ist jedoch der dritte: Gerade im Fall der neueren Gesetzgebung zur Restrukturierung
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zeigt sich, dass Gesetze nicht als strikte Handlungsvorlagen, sondern als latente Handlungsressourcen zu verstehen sind. Da eine effektive Überwachung der Einhaltung und Umsetzung staatlicher Vorgaben in der sowjetischen Zeit genau so wenig wie nach 1991 funktionierte, können sie – den Konsens aller Betroffenen vorausgesetzt – häufig zumindest teilweise ignoriert werden. Dies ändert sich schlagartig immer dann, wenn irgendjemand zur Durchsetzung seiner Interessen gesetzliche Vorgaben als Argument benutzt und sie somit zum Gegenstand eines öffentlichen Diskurses macht, was in sowjetischer Zeit häufig in Form von gezielt initiierten Kampagnen in den Medien geschah. Dann bestand die Gefahr, dass übergeordnete Stellen auf Rechtswidrigkeiten aufmerksam wurden oder dass eine der Konfliktparteien den Weg einer gerichtlichen Klärung einschlug. Mit anderen Worten: Auch Gesetze, die vom Standpunkt einer Momentaufnahme aus völlig irrelevant erscheinen, können bereits kurze Zeit später Wirkung entfalten. Ein in dieser Hinsicht extremes Beispiel, das mir während meiner Feldarbeiten begegnete, war der Vorsitzende der »Revisionskommission« (revizionnaja komissija) eines Betriebs im Gebiet Brjansk: Er führte seine private »Parallel-Berichterstattung«, in der alle Mängel und Gesetzesverstöße der letzten Jahre, die er offiziell nicht beanstandet hatte, festgehalten waren. Faktisch existierten die entsprechenden Gesetze im betreffenden Betrieb also nicht, da derzeit über ihre Nichtbeachtung Konsens bestand, aber das konnte sich ändern, »falls es Probleme gibt oder ich sonst einmal etwas brauche«, wie der Kommissionsvorsitzende mir gegenüber stolz betonte. Das Musterstatut trägt in der Offenheit vieler seiner Regelungen insgesamt den Charakter eines »Potenzials« mit weiten Anwendungs- und Interpretationsspielräumen (vgl. Brunner/Westen 1970a: 31f, 66). Die Frage, ob »Gewohnheitsrecht und Verwaltungsrecht […] oft faktisch wichtiger als das Statut [waren], das doch die Grundlage des ganzen Kolchoz-Rechts darstellte« wie Wädekin (1969: 58) mutmaßt, ist deshalb kaum pauschal, sondern nur bezogen auf konkrete Betriebe und Situationen beantwortbar. Dabei erwies sich die Rekonstruktion der tatsächlichen Rechtspraxis in meinen Interviews als äußerst schwierig und konnte kaum mehr als vage Hinweise liefern. Denn gerade die mit der Transformationssituation einhergehende massive Verschlechterung der Lebensverhältnisse im ländlichen Raum führt zu einer starken Idealisierung der Vergangenheit. So war es typisch, dass die Erinnerungen und Beschreibungen der wenigen Transformationsgewinner im ländlichen Raum von denjenigen der Masse der Kolchozbauern extrem abwichen. »Vsë vokrug kolchoznoe, vsë vokrug moë!« bringt also die rechtliche Stellung der Kolchozmitarbeiter tatsächlich nicht völlig falsch zum Ausdruck. Denn Kolchoze waren im Gegensatz zu Sovchozen zumindest formal Genossenschaften und als solche eigenständige juristische Personen, die über
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»genossenschaftlich-kollektivwirtschaftliches Eigentum« – neben dem »Staatseigentum« die zweite in Art. 5 der Verfassung der UdSSR vom 5. Dezember 1936 verankerte Form sozialistischen Eigentums – verfügten. Mit der wichtigen Ausnahme des Produktionsfaktors Boden, der in ganz Russland nach der Revolution am 8. November bzw. 26. Oktober 19176 enteignet und später den Kolchozen nur zur »zeitlich unbegrenzten Nutzung« überlassen worden war, waren sie selbst Eigentümer der von ihnen genutzten Betriebsmittel. Auch wenn die Kluft zwischen dem, was der Status als »Genossenschaft« eigentlich impliziert und der wirtschaftlichen und sozialen Realität in der sowjetischen Zeit enorm war, so hatte diese rechtliche Stellung doch erhebliche praktische Konsequenzen. Denn sie bedeutete zum einen nach außen ein anderes, unabhängigeres Verhältnis dem Staat gegenüber und eröffnete zum anderen nach innen weiter gefasste Gestaltungskompetenzen und -verpflichtungen als dies bei Sovchozen oder staatlichen Industriebetrieben der Fall war. Diese ›Unabhängigkeit‹ war für den Betrieb zwar in erster Linie eine Belastung, die beispielsweise auch dazu führte, dass die Löhne in Kolchozen deutlich – im Jahr 1964 um fast 50 % (Wädekin 1973: 198) 7 – niedriger als in Sovchozen waren. Aber sie trug zugleich wesentlich dazu bei, dass Kolchoze den Charakter begrenzt eigenständiger territorialer, sozialer, wirtschaftlicher und in gewisser Hinsicht auch politischer Entitäten annahmen, welcher in Umschreibungen wie »Staat im Staat« (Clarke 1992: 27) prägnant zum Ausdruck kommt. Um Mitglied in einem Kolchoz zu werden, genügte die Annahme eines Beitrittsgesuchs durch die Vollversammlung; eine Aufnahmegebühr oder das Einbringen eines Eigenbeitrages sah das dritte Musterstatut im Gegensatz zum zweiten nicht mehr vor (Art. 3 des dritten Musterstatuts, im folgenden nur »Mst.«). Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass potenzielle Beitrittskandidaten mit Privatvermögen in den 1970er Jahren im Gegensatz zur Zeit der Zwangskollektivierung unter Stalin kaum mehr existierten (Brunner/Westen 1970b: 4f ). Entsprechend konnte ein Mitglied, das einen Antrag auf Austritt aus dem Kolchoz gestellt hatte, auch keine Auszahlung von Vermögensanteilen mehr verlangen – ein Fall, der in der Praxis ohnehin kaum vorgekommen sein dürfte. Die Mitgliedschaft war mit einigen Rechten verbunden, die zwar weit hinter denen eines »Genossen« im westlichen Verständnis zurückstanden, in der Sowjetunion aber 6 | In Russland wurde erst nach der Oktoberrevolution vom julianischen auf den gregorianischen Kalender umgestellt, indem man auf den 31. Januar 1918 direkt den 14. Februar 1918 folgen ließ. 7 | Dabei sind die aus der persönlichen Nebenerwerbswirtschaft erzielten Einkommen nicht berücksichtigt. Bei einem Vergleich der Familieneinkommen insgesamt reduziert sich diese Differenz auf 15–20 % (Wädekin 1972: 216). Vgl. ausführlicher zur Problematik derartiger Gegenüberstellungen Wädekin (1973: 189ff).
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idealisiert und als Grundlage der »Kolchozdemokratie« propagandistisch instrumentalisiert wurden. Dieser Begriff bringt ebenso wie die Präambel und Artikel 2 Mst. zum Ausdruck, dass Kolchoze nicht nur als wirtschaftliche, sondern auch als politische Einrichtungen mit erzieherischer Funktion verstanden wurden. »Der Kolchoz ist die Schule des Kommunismus für die Bauernschaft«, lautet die entsprechende Formulierung in der Präambel und Brunner/Westen (1970a: 27) gehen sogar so weit, von einer »in erster Linie politisch, in zweiter Linie wirtschaftlich motivierten Organisationsform« zu sprechen.8 Was den Aspekt der politischen Partizipation anbelangt, so bestanden die wichtigsten Rechte eines Mitglieds im Stimmrecht auf Versammlungen sowie im aktiven und passiven Wahlrecht für Kolchozämter. In der Praxis wesentlich bedeutender waren jedoch neben dem Arbeitslohn der aus der Mitgliedschaft resultierende Anspruch auf ein Stück Hofland, verschiedene Unterstützungsleistungen für die private Hoflandwirtschaft sowie die Berechtigung zur Nutzung der vom Kolchoz bereit gestellten Infrastruktur auch im soziokulturellen Bereich (Art. 4 Mst., s.u.). Abbbildung 4: Allgemeines Leitungsschema eines Kolchoz ��������������� �������������� ������������������� ���������� ���������� ��������������� ������������
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8 | Ein im selben Jahr wie das Musterstatut in Moskau erschienener, illustrierter Sammelband, der ebenfalls den Titel »Der Kolchoz – Schule des Kommunismus für die Bauernschaft« trägt (Alekseev/Karlov/Kopanev 1969), macht deutlich, was unter »politischer Funktion« zu verstehen ist.
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Das höchste Leitungsorgan (vgl. Abb. 4) des Kolchoz war die Vollversammlung, die regulär mindestens viermal im Jahr oder auf Antrag der Revisionskommission (s.u.) bzw. eines Drittels aller Mitglieder zusammentreten musste. Sie fasste ihre Beschlüsse mit einfacher Mehrheit, stimmte über das Kolchozstatut ab, wählte die Kolchozleitung, den Kolchozvorsitzenden und die Revisionskommission und entschied über eine Vielzahl weiterer, im Statut nur teilweise konkretisierter Fragen, die im Kolchozalltag auftraten (Art. 46, 47, 50 Mst.). Viele dieser Befugnisse waren in der Praxis allerdings bedeutungslos, da ›Vorentscheidungen‹ bereits an anderer Stelle getroffen wurden; als Vorsitzender des Kolchoz kandidierte beispielsweise meist nur eine Person, die vom Parteisekretär des Kreises nominiert wurde (Kerblay 1983: 97). Demgegenüber war der Kolchozvorstand bzw. dessen Vorsitzender das wichtigste ausführende Organ. Es bestand aus einer nicht näher festgelegten Zahl von Mitgliedern, wurde für drei Jahre gewählt und leitete die laufenden Geschäfte. In begründeten Fällen konnte der Vorstand auch Entscheidungen treffen, die eigentlich in den Kompetenzbereich der Vollversammlung fielen (Art. 49, 50 Mst.), musste dann allerdings beim nächsten regulären Zusammenkommen deren nachträgliche Zustimmung einholen. Welche Rolle diese Auflage in der Praxis früher tatsächlich spielte, ist heute nur mehr sehr schwer zu beurteilen und dürfte auch von Betrieb zu Betrieb stark unterschiedlich gewesen sein. Brunner/Westen (1970a: 53) jedenfalls halten sie für so unbedeutend, dass sie von einer reinen »Akklamationsdemokratie« sprechen. Die Aussagen in meinen eigenen Interviews weisen in dieselbe Richtung und deuten an, dass die unmittelbar von der Mitgliedervollversammlung ebenfalls für drei Jahre gewählten Vorsitzenden auch damals schon über eine Fülle informeller Machtressourcen verfügten, die es ihnen erlaubten, die Vollversammlung tatsächlich als »Akklamationsgremium« zu instrumentalisieren. Allerdings wurde mir während der Feldarbeit auch sehr detailliert von Fällen berichtet, in denen es der Vollversammlung mit Zustimmung des Parteisekretärs gelungen war, einen Kolchozvorsitzenden absetzen zu lassen. Die Revisionskommission schließlich war das eigentliche Kontrollorgan des Kolchoz. Sie wurde auf die Dauer von drei Jahren gewählt und war für die Prüfung der »Wirtschafts- und Finanztätigkeit des Vorstands und der Funktionäre« zuständig. Dieser an und für sich sehr umfassenden Aufgabe standen allerdings nur begrenzte Sanktionsmöglichkeiten gegenüber, die sich im Wesentlichen auf das Recht beschränkten, relevante Unterlagen einzusehen und Eingaben zu verfassen, die dann innerhalb festgesetzter Fristen von den entsprechenden Organen (Kolchozvorstand, Mitgliedervollversammlung, …) behandelt werden mussten (Art. 54 Mst.). Die Kontrolle funktionierte auch deshalb nur sehr unzureichend, weil die Mitglieder der Revisionskommission fast immer selbst leitende Funktionen im Kolchoz innehatten.
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Die meisten Regelungen, in denen die kolchozinternen Rechte, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten offiziell festgeschrieben waren, erscheinen auf den ersten Blick relativ eindeutig und transparent. In der alltäglichen Praxis sah dies jedoch oft anders aus. Wenn aus dem Musterstatut beispielsweise nicht eindeutig hervorging, für welche Fragen die Vollversammlung zuständig war, dann war ebenso wenig klar, was der Vorsitzende des Kolchoz alleine entscheiden durfte und was nicht. Derartige Unbestimmtheiten waren ganz offensichtlich beabsichtigt und öffneten willkürlichen Entscheidungen beziehungsweise einer starken Machtkonzentration in den Händen des Vorsitzenden Tür und Tor. Einige Originalzitate9 zum Bereich »Lohn- und Betriebsordnungen« machen dies unmittelbar nachvollziehbar: »Die Dauer und die Einteilung des Arbeitstages im Kolchos, die Festlegung der arbeitsfreien Tage und des bezahlten Jahresurlaubs sowie das von den arbeitsfähigen Mitgliedern in der gesellschaftlichen Wirtschaft zu leistende Arbeitsminimum werden durch die Bestimmungen über die innere Ordnung des Kolchos geregelt.« (Art. 24 Mst.). »Auf der Grundlage des vorliegenden Statuts erarbeitet der Kolchosvorstand die Bestimmungen über die innere Ordnung des Kolchos sowie die Ordnungen über den Arbeitslohn und die innerbetriebliche wirtschaftliche Rechnungsführung, die von der Mitgliedervollversammlung zu bestätigen sind.« (Art. 31 Mst.). »Die Arbeit wird im Kolchos im Einklang mit der Menge und Güte der Leistungen jedes Kolchosmitglieds in der gesellschaftlichen Wirtschaft nach dem Prinzip entlohnt: Für gute Arbeit, für bessere Arbeitsergebnisse – höherer Lohn.« (Art. 27 Mst.). »Die Arbeits- und Bewertungsnormen für landwirtschaftliche und andere Arbeiten werden unter breiter Beteiligung der Kolchosmitglieder und Fachleute ausgearbeitet und erforderlichenfalls revidiert, wobei von den Typenarbeitsnormen unter Berücksichtigung der konkreten Bedingungen des Betriebs auszugehen ist; ihre Bestätigung erfolgt durch den Kolchosvorstand.« (Art. 27 Mst.). »Für hohe Produktionsergebnisse, für die Ausarbeitung und Einführung von Rationalisierungsvorschlägen, für die Einsparung gesellschaftlicher Mittel, für langjährige vorbildliche Arbeit in der Kolchosproduktion sowie für andere Verdienste um den Kolchos wenden die Mitgliedervollversammlung oder der Kolchosvorstand folgende Maßnahmen zur Stimulierung der Kolchosmitglieder an:
9 | Die Zitate sind der Übersetzung des Musterstatuts ins Deutsche von Brunner/Westen (1970c: 147ff) entnommen; die dort verwendete Schreibweise russischer Termini wurde beibehalten.
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Belobigung, Gewährung einer Prämie, Auszeichnung mit einem wertvollen Geschenk, Auszeichnung mit einer Ehrenurkunde, Eintragung auf der Ehrentafel oder in das Ehrenbuch, Verleihung der Titel »Verdientes Kolchosmitglied« oder »Ehrenmitglied des Kolchos«.
Die Mitgliedervollversammlung kann nach eigenem Ermessen auch andere Maßnahmen zur Stimulierung festlegen.« (Art. 34 Mst.). Mit anderen Worten: So wichtige Fragen wie die Festsetzung der Löhne und der darüber hinausgehenden Prämien, der Arbeitszeit und des Urlaubs sowie Beförderungen konnten zumindest formal in den Betrieben individuell entschieden werden. In manchen Bereichen existierten zwar Vorlagen oder Rahmenrichtlinien wie die erwähnten »Typenarbeitsnormen« und für andere wurden sie nach Verabschiedung des Musterstatus festgelegt (eine Muster-Betriebsordnung wurde z.B. Anfang des Jahres 1970 publiziert), doch ob man diese Einzeldokumente in den Betrieben überhaupt noch zur Kenntnis nahm, ist fraglich. Und unabhängig davon bot die Möglichkeit, sich auf die »konkreten Bedingungen des Betriebs« (Art. 27 Mst.) zu berufen, immer eine potenzielle Rechtfertigung für abweichende Vereinbarungen. Für den Kolchozvorsitzenden bestanden also durchaus Spielräume, einen Betrieb individuell zu organisieren. Damit soll jedoch keinesfalls behauptet werden, dass ein einmal gewählter Betriebsleiter über unbegrenzte Handlungsautonomie verfügte. Zwar war die Mehrheit der Kolchozbauern in Entscheidungsprozesse sicher nicht involviert und auch der Vorstand wurde wohl meist nur formal eingebunden, aber die Partei war selbstverständlich auch in den Dörfern präsent. »Parteigrundorganisationen« als Einheiten der untersten Ebene orientierten sich im ländlichen Raum territorial an den Kollektivbetrieben; sie bestanden bereits Ende der 1960er Jahre in fast jedem Kolchoz, die durchschnittliche Mitgliederzahl lag bei ca. 40 Personen 10 und über 90 % aller Kolchozvorsitzenden waren Parteimitglieder. Jede Grundorganisation wählte einen Parteisekretär – ab 50 Mitgliedern pro Kolchoz auch ein Parteikomitee – wobei der Vorsitzende und der Parteisekretär zwar meist eng zusammen arbeiteten, beide Ämter jedoch im Normalfall nicht von derselben Person wahrgenommen wurden. Formal befand sich der Parteileiter in einer etwas stärkeren Position, denn das »Recht der Kontrolle« galt nur in eine Rich10 | Kerblay (1983: 99) spricht von 48 Personen, ohne ein genaues Bezugsjahr zu nennen, aus dem Kontext geht allerdings hervor, dass es sich um die Zeit handeln muss, in der Breschnew Generalsekretär war; zumindest die Größenordnung dürfte also ungefähr stimmen.
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tung, doch ein erfolgreicher Betriebsleiter konnte auf Kreisebene so starken Rückhalt haben, dass er sich wenig um die Parteivertreter in den Dörfern kümmern musste (Wädekin 1969: 85ff). Pauschale Aussagen sind hierzu kaum möglich, denn die Machtverhältnisse wurden dadurch verkompliziert, dass die Kompetenzen einerseits je nach Handlungsfeld unterschiedlich verteilt waren, andererseits über diese Felder hinweg persönliche Interessen zu gegenseitigen Abhängigkeiten führten. In der Regel waren es ohnehin nicht formal festgelegte Normen und Mechanismen, die den Kolchozalltag und die Rollen der einzelnen Akteure entscheidend bestimmten. Vielmehr stellten die innerhalb der Dorfgemeinschaft als »legitim« angesehenen Ansprüche der Kolchozmitarbeiter zum einen sowie politische Ideale und konkrete Vorgaben zum anderen zwei Pole dar, zwischen denen jeder Kolchozvorsitzende stets einen Ausgleich herstellen musste. Sichtbar wird die daraus resultierende Begrenzung der Handlungsspielräume im Verhältnis des Kolchoz zur Kommunalverwaltung sowie zur privaten Hoflandwirtschaft seiner Mitglieder.
Kolchoz und kommunale Verwaltung Grundsätzlich – und im Kontext der Privatisierung und Restrukturierung der Kollektivbetriebe in den 1990er Jahren kann die Bedeutung dieses Aspektes kaum hoch genug eingeschätzt werden (O’Brian 1998: 50ff) – konnten Kolchoze unmittelbare Eigentümer sozialer Einrichtungen und der dörflichen Infrastruktur im weitesten Sinn sein.11 Das rechtlich entscheidende Kriterium dafür war in der sowjetischen Gesetzgebung immer die »Zweckgebundenheit«, d.h. der Erwerb, Bau oder Unterhalt entsprechender Objekte musste den Zielen der Genossenschaft dienen. Da Art. 41 Mst. »Maßnahmen zur Verbesserung der kulturellen und sonstigen Lebensbedingungen der Kolchozmitglieder« sowie die »Festigung der Gesundheit der Kolchozmitglieder und ihrer Familien« ausdrücklich als allgemeine Aufgaben des Kolchoz nennt und sogar präzisiert, was darunter konkret zu verstehen ist, verwundert es nicht, dass die Kollektivbetriebe im ländlichen Raum die kommunale Verwaltung nicht nur ergänzten, sondern in weiten Bereichen vollständig ersetzten. Im Musterstatut heißt es wörtlich (bezogen auf die allgemeinen Ziele):
11 | Im Folgenden wird um der sprachlichen Einfachheit willen die Sammelbezeichnung »soziokulturelle Infrastruktur« verwendet. Gemeint sind damit Straßen, Wasserleitungen und das Stromnetz ebenso wie Schulen, Einrichtungen zur medizinischen Grundversorgung oder Fahrdienstleistungen. Im Russischen ist zumeist ebenso unpräzise von »social’naja infrastruktura« oder »sfera obsluživanija« die Rede.
3 »Alles hier gehört dem Kolchoz, alles hier gehört mir!« | 81 »Zu diesem Zweck – baut der Kolchos Klubs, Bibliotheken und andere Kultur- und Bildungsstätten sowie Sportanlagen und […] Kinderbetreuungsstätten; – wirkt der Kolchos mit Elternhaus und Schule bei der richtigen Erziehung der Kinder zusammen, unterhält er enge Verbindung zur Schule […]; – organisiert der Kolchos im Bedarfsfall Gemeinschaftsverpflegung […]; – erweist er den Organen des Gesundheitswesens Hilfe bei ärztlichen und vorbeugenden Maßnahmen, […] stellt er Kolchosmitgliedern unentgeltlich und vordringlich Transportmittel zur Einlieferung von Kranken in medizinische Einrichtungen zur Verfügung; – sorgt der Kolchos für die siedlungstechnische Ausgestaltung der Kolchosortschaften, für den Anschluß der Ortschaften und der Häuser der Kolchosmitglieder an das Stromnetz […] und erweist ihnen nach den im Kolchos geltenden Bestimmungen Hilfe beim Bau und bei der Reparatur von Wohnhäusern […]. – Der Kolchos sorgt für die verbesserte berufliche Fortbildung sowie für die Hebung des kulturellen und technischen Niveaus der Kolchosmitglieder.« (Art. 41 Mst.).
Diese Aufzählung ist sicherlich nur als normative Orientierungsgrundlage zu verstehen und nicht als konkreter Aufgabenkatalog, den jeder Betrieb zu erfüllen hatte, denn die dazu nötigen Ressourcen waren ganz offensichtlich in den wenigsten Kolchozen vorhanden. Ihre Bedeutung darf dennoch nicht unterschätzt werden. Jähnig (1983: 19) weist in diesem Zusammenhang mit Recht darauf hin, dass bei der Siedlungsplanung im ländlichen Raum »der sozio-kulturelle Sektor als gesellschaftlicher Zentralbereich eine Leitrolle spielt«. Diese Prioritätensetzung äußerte sich in der ländlichen Entwicklungsplanung darin, dass die Erfordernisse einer effizienten Produktion gegenüber dem Ausbau der sozialen Infrastruktur manchmal nur nachrangig Beachtung fanden. »In den Augen der Agrarwirtschaftler wurde durch diese Herangehensweise alles von den Füßen auf den Kopf gestellt«, zeichnet Alekseev (1988: 146ff) die bereits in der sowjetischen Zeit zum Teil heftig ausgetragenen Kontroversen nach. Um die Realisierung zu erleichtern, sah das Musterstatut ganz ausdrücklich auch die »zwischenkollektivwirtschaftliche« (Art. 40 Mst.) Durchführung von Infrastrukturmaßnahmen in Form von Gemeinschaftsprojekten vor. Meiner eigenen Erfahrung nach waren derartige Kooperationen beim Bau von »Sanatorien, Erholungsheimen, Pionierlagern, Feierabend- und Invalidenheimen« (Art. 40 Mst.) jedoch eher selten.12 Der Kolchoz, der grundsätzlich als eine klar nach außen abgegrenzte rechtliche und zugleich territoriale Einheit 12 | Die Anzahl der von mir untersuchten Betriebe ist sicherlich zu klein, um in dieser Hinsicht repräsentative Aussagen zuzulassen. Aber auch über meine Arbeitsgebiete hinaus ergaben sich weder aus der Literatur noch in Gesprächen mit
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konzipiert war, wurde von seinen Mitgliedern auch als solche wahrgenommen und plante in den entsprechenden Kategorien. Ein finanziell besser gestellter Nachbarbetrieb konnte kaum zur Zusammenarbeit bewogen werden, da ihm daraus nur Nachteile entstanden wären. Ein schlechter gestellter Kolchoz hingegen war als Partner uninteressant, da die Kooperation vermeintlich zu Wohlfahrtsverlusten für die eigene Bevölkerung geführt hätte. Anders sah dies im Fall der Gemeindeverwaltung aus: Hier bestand ein gemeinsames Interesse aufgrund der rechtlichen und in den meisten Fällen auch territorialen Identität der Zuständigkeitsbereiche; Formulierungen wie »[…] wirkt der Kolchos mit Elternhaus und Schule zusammen«, »[…] erweist er den Organen des Gesundheitswesens Hilfe« oder »[…] sorgt der Kolchos für die siedlungstechnische Ausgestaltung der Kolchosortschaften« (s.o.) ließen die Grenzen zu staatlichen Stellen ohnehin unscharf werden. Und in Art. 19 Mst. heißt es sogar explizit: »Auf Beschluß der Mitgliedervollversammlung kann der Kolchos einen Teil seiner Mittel mit den Mitteln der örtlichen Sowjets der Deputierten der Werktätigen […] zusammenlegen, um auf Anteilbasis kulturelle und soziale Objekte zu bauen […].« Außerdem scheint es seitens des Staates auch nicht unüblich gewesen zu sein, den Kolchozen über die im Musterstatut vorgesehenen Aufgaben hinaus beispielsweise im Straßenbau immer wieder Aufgaben »zuzuschanzen« (Brunner/Westen 1970a: 74), für die sie eigentlich nicht zuständig waren. Diese Konstellation führte dazu, dass die Betriebe nicht nur für einen Aufgabenbereich, der im Westen dem Staat zugeordnet war, die Verantwortung übernahmen, sondern dass sie in der Praxis aufgrund gemeinsamer Zuständigkeiten zumindest partiell mit den Organen der lokalen Verwaltung verschmolzen. Vor diesem Hintergrund gewinnt die sowjetische Politik der »Angleichung der Lebensverhältnisse in Städten und auf dem Land« wie sie im Programm der Kommunistischen Partei auf dem 22. Parteikongress 1961 als vorrangiges Ziel definiert und in der Präambel des dritten Musterstatutes wiederholt wurde, für die Betriebe besondere Bedeutung.13 Die Last der damit verbundenen Maßnahmen musste in der Praxis nämlich zu einem erheblichen Teil von den Kollektiven getragen werden, was deren Funktion als »verlängerter Arm« der staatlichen Verwaltung weiter in den russischen Kollegen Hinweise auf derartige Projekte. Anders stellt sich die Situation beim Bau von Einrichtungen dar, die sich nicht auf den sozialen Bereich, sondern unmittelbar auf die wirtschaftlichen Aufgaben der Kolchoze bezogen. Hier waren gemeinsame Aktivitäten häufiger anzutreffen und fanden ihre deutlichste offizielle Bestätigung in einer Verordnung der ZK der KPdSU vom 2. Juni 1976 mit dem Titel »Über die weitere Entwicklung der Spezialisierung und Konzentration landwirtschaftlicher Produktion auf der Basis zwischenbetrieblicher Kooperation und agro-industrieller Integration« (Stadelbauer 1979b: 213). Nove (1980: 181) spricht für das Jahr 1978 von 8.906 Kooperationsbetrieben mit insgesamt 1.690.000 Beschäftigten.
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Vordergrund treten ließ. Ein wichtiges Instrument im Rahmen der Angleichungspolitik war seit den 1960er Jahren die Unterscheidung zwischen »Perspektiv-« und »Nicht-Perspektivsiedlungen«: Erstere sollten gezielt weiter ausgebaut werden, letztere hingegen langsam wüst fallen (Jähnig 1983: 52, 85ff), so dass letztendlich nur mehr eine bis maximal zwei Siedlungen pro Kolchoz übrig geblieben wären (Pallot 1990b: 659). Auch wenn heute nur schwer abzuschätzen ist, wie stark die praktischen Auswirkungen dieses siedlungspolitischen Konzepts tatsächlich waren bzw. inwieweit hier nur ein ohnehin ablaufender Konzentrationsprozess planerisch begleitet und wissenschaftlich legitimiert wurde (Alekseev 2000: 27), so stärkte der damit notwendig werdende infrastrukturelle Ausbau von Zentraldörfern die administrative Rolle der Betriebe auf jeden Fall noch weiter. 14 Erst Ende der 1970er Jahre wurde diese Politik endgültig aufgegeben. Gleich gerichtete siedlungsgeographische Konsequenzen gingen auch von der Bestrebung aus, die wirtschaftliche Effizienz der Betriebe durch Vereinigungen und die Schaffung größerer Einheiten zu erhöhen (Giese 1974: 482). Zusammen mit der Umwandlung von Kolchozen in Sovchoze führte dies zu einer kontinuierlichen Abnahme der Zahl der Kollektivbetriebe von 240.000 im Jahr 1940 über 30.000 im Jahr 1970 auf 26.200 zu Beginn der Regierungszeit Gorbatschows 1985 (Central’noe Statističeskoe Upravlenie SSSR a 1971, 1986; Kovalev 1972: 37). Die für immer größere territoriale Einheiten – die Gesamtfläche eines Kolchoz in der Sowjetunion betrug 1985 durchschnittlich 6.400 ha – zuständigen Unternehmen konzentrierten sich auf den infrastrukturellen Ausbau des jeweiligen Hauptortes mit dem Sitz der Betriebsverwaltung. Die Auswirkungen dieses in erster Linie wirtschaftlich motivierten und nicht primär auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse abzielenden Prozesses waren grundsätzlich dieselben wie diejenigen der gezielten Förderung von Perspektivsiedlungen, die Betriebsleitungen waren jedoch noch unmittelbarer von der Übernahme kommunaler Aufgaben betroffen. Hatten die Gemeindeverwaltungen also in der Zeit der Zwangskollektivierung auf dem Land tatsächlich noch eine wichtige Rolle gespielt, so waren sie bereits in den 1960er Jahren primär zu ausführenden Organen geworden, die mehr Pflichten als Rechte und kaum Ressourcen besaßen. 13 | Tatsächlich konnte von einer »Angleichung« selbstverständlich nie die Rede sein. Stadelbauer (1979a: 257) bezeichnet entsprechende Behauptungen zu Recht als »ideologisch verbrämte Irrealität«. Zur bereits Ende der 1960er Jahre innerhalb der Sowjetunion aufkommenden Kritik an diesem Entwicklungsprinzip vgl. Alekseev (1988: 146ff). 14 | Zahlenangaben zur Entwicklung der Siedlungsgrößen sind zwar verfügbar und belegen den Trend zur Bevölkerungskonzentration in Zentraldörfern, werden hier aber bewusst nicht wiedergegeben, da unklar ist, inwieweit sie nur auf »statistische Artefakte« zurückzuführen sind. Für eine kritische Diskussion vgl. Alekseev (1988: 149ff).
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Die Gemeindevorsitzenden wurden häufig mit in die Kolchozleitungen aufgenommen und befanden sich dann automatisch in einer untergeordneten Position. Ihr Bildungsstand war gering, das Einkommen lag oft unter dem eines einfachen Sovchozarbeiters und dementsprechend genossen sie auch kein hohes soziales Ansehen. In sowjetischen Medien wurde diese Problematik durchaus thematisiert und führte zeitweise sogar zu einer Diskussion darüber, ob die Dorfsowjets nicht besser ganz abzuschaffen seien. Tief greifende Reformen blieben jedoch aus (Wädekin 1969: 300ff). Dennoch beteiligte sich der Staat an der Durchführung von Maßnahmen im Bereich der sozialen Infrastruktur, wenn auch in sehr unterschiedlichem Umfang. So wurden beispielsweise Schulen oft von staatlichen Stellen direkt gebaut und finanziert, die Folgekosten für die Instandhaltung der Gebäude übernahmen dann aber häufig die Kolchoze. Unabhängig davon, wie die Lastenteilung im konkreten Einzelfall aussah: Die Anschaffung neuer Betriebsmittel, Investitionen in die kommunale Infrastruktur und selbst die Höhe der Löhne waren – trotz der Einführung garantierter Mindestlöhne im Jahr 1966 – wechselseitig voneinander abhängige Größen, da Kolchoze auch nach dem allgemeinen Übergang zu einer eigenverantwortlichen Rechnungsführung (chozrasčët) deutlich weniger Zuschüsse vom Staat bekamen als Sovchoze und ihre Ausgaben im Wesentlichen aus dem erzielten Bruttoeinkommen (valovoj dochod) bestreiten mussten (Nove 1980: 175). Das Musterstatut blieb im Hinblick auf die Verteilung des Einkommens auf unterschiedliche Posten mehr als vage: »Bei der Einkommensverteilung müssen das richtige Verhältnis zwischen Akkumulation und Konsumtion, die ständige Vergrößerung der gesellschaftlichen Produktions-, Sicherheits-, Kultur-, und Sozialfonds sowie eine Hebung des Lebensstandards der Kolchosmitglieder gewährleistet werden.« (Art. 36 Mst.). Viele Entscheidungen, die im Kolchozvorstand getroffen wurden, betrafen die Dorfbevölkerung also wesentlich unmittelbarer als es der Fall gewesen wäre, hätte man die Einnahmen ausschließlich für betriebliche Ziele im engeren Sinn verwendet. Dies gilt umso mehr, als auch die Hoflandwirtschaft der Kolchozbauern auf Unterstützung angewiesen war und somit Aufwendungen verursachte, die ebenfalls zu Lasten der Kolchoze gingen. Deren privatwirtschaftliche Aktivitäten jedoch ausschließlich als Belastung für die Kollektivbetriebe anzusehen, griffe mit Sicherheit zu kurz.
Kolchoz und Hoflandwirtschaft Wie wohl kaum ein anderer Wirtschaftsbereich brachten die Hoflandparzellen der Kolchozbauern die sowjetische Führung in ein Dilemma, das bis zum Ende der Sowjetunion ungelöst blieb. Einerseits wurde – insbesondere nach Chruschtschows Versuchen, den privaten Sektor zurückzudrängen
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– immer unübersehbarer, dass auf die Erzeugnisse der persönlichen Nebenerwerbswirtschaften nicht verzichtet werden konnte. Andererseits verkörperten sie ein Element vorsozialistischer Wirtschaftsweise, dessen Persistenz ideologisch nur schwer zu rechtfertigen war. Zwar beschäftigten die Bauern keine Lohnarbeiter und befanden sich auch nur teilweise im Besitz ihrer Produktionsmittel, was den bestehenden Widerspruch abschwächte und eine Hintertür für Legitimationsversuche unterschiedlichster Art offen ließ, aber die bloße Existenz eines nicht-staatlichen Sektors barg immer die Gefahr, als Beleg für die Ineffektivität zentraler Wirtschaftsplanung angesehen zu werden. Dass die Kolchozbauern einen Teil ihrer Erzeugnisse auf je nach Region und politischer Konjunktur mehr oder weniger freien Märkten verkauften, vervollständigte das Bild eines Reliktes kapitalistischer Vergangenheit. Bestrebungen, der persönlichen Nebenerwerbswirtschaft einen legitimen Platz im sowjetischen Wirtschaftssystem zuzuweisen, waren teilweise rein pragmatischer Natur und hoben deren schiere Unverzichtbarkeit zur Versorgung der Bevölkerung angesichts der noch nicht im erhofften Maße funktionierenden Kollektivbetriebe hervor. Ideologischen Rechtfertigungsbemühungen hingegen lagen normalerweise zwei Argumentationsmuster zugrunde: Zum einen wurde betont, dass die Bauern ihren Lebensunterhalt primär durch Arbeit in den Kolchozen verdienten, also voll in den staatlichen Sektor integriert waren und die Hoflandparzellen nur die Quelle eines Zuerwerbs bildeten. Zum anderen war deren Bewirtschaftung ja auf die Unterstützung der Genossenschaften angewiesen. Diese enge Verflechtung verbot es aus sowjetischer Sicht, sie als privatwirtschaftlichen Fremdkörper in einem zentralplanwirtschaftlichen Umfeld zu sehen. Stattdessen sprach man, wenn nicht von einem Bestandteil des sozialistischen Wirtschaftsmodells, so doch von einer sinnvollen Ergänzung und Form der Arbeitsteilung. In einem Aufsatz in der sowjetischen Zeitschrift »Wirtschaftsfragen« aus dem Jahr 1966 betont Makeenko (1966: 64) beispielsweise die wichtige Funktion der Nebenerwerbswirtschaften im Hinblick auf die »Reproduktion der Arbeitskraft« und die »Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land« und spricht von einem »organischen Bestandteil der sozialistischen Wirtschaft«, der »wichtige gesellschaftliche Funktionen« auch in einer sich »ausweitenden sozialistischen Produktionsweise« besitze. Ganz ähnlich argumentiert Šmelëv (1964: 130, 134f), wenn er betont, Nebenerwerbswirtschaften und Kollektivbetriebe stünden nicht in einem ein-, sondern wechselseitigen Austauschverhältnis und die Hoflandwirtschaften dürften deshalb keinesfalls »künstlich« behindert werden, sondern würden im Zuge der Produktionssteigerungen und damit verbundenen Lohnerhöhungen im genossenschaftlichen Sektor irgendwann von alleine verschwinden. Fast kehrt sich in dieser Argumentation die in der westlichen Literatur dominierende Betrachtungsweise um: Die persönlichen Nebenerwerbswirtschaften stellen nicht einfach nur eine Erwerbsquelle zusätzlich
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zur Arbeit im Kolchoz dar und können erst recht nicht betrieben werden, obwohl das Haupteinkommen im staatlichen oder genossenschaftlichen Sektor erwirtschaftet wird, sondern sie sind gerade deshalb legitim, weil der Kollektivbetrieb der Hauptarbeitsplatz ist – ein »Bauernhof« dürfe eben nicht mit dem »Hof eines Kolchozbauern« verwechselt werden (Morozov 1965: 175f). Das Eigentum der Bauern und damit v.a. auch deren Produktionsmittel wurden als »persönlich« und nicht »privat« deklariert und so einer Kategorie zugerechnet, deren Fortbestehen auch unter sozialistischen Rahmenbedingungen zumindest nicht kategorisch ausgeschlossen werden musste. 15 Prinzipiell ist es durchaus gerechtfertigt, die persönliche Nebenerwerbswirtschaft der Kolchozbauern nicht als einen Produktionskomplex in bloßer Koexistenz mit dem genossenschaftlichen Sektor zu behandeln, sondern die enge Verflechtung der beiden Bereiche zu betonen. Von echtem Austausch über einseitige oder gegenseitige Abhängigkeit bis hin zur Zwangskooperation waren dabei alle Formen anzutreffen und gerade diese Vielfalt ließ an der Schnittstelle zwischen »privat/persönlich« und »genossenschaftlich« die wichtigste Arena dorfinterner Aushandlungsprozesse entstehen. Denn nicht nur die Bauern waren auf die Unterstützung durch den Kolchoz angewiesen, sondern dieser auch auf die Arbeitskraft seiner Mitglieder und nicht selten darüber hinaus auf deren privat erzeugte Agrarprodukte, die dann zur Erfüllung des Plansolls als das Ergebnis genossenschaftlicher Arbeit ausgegeben und an den Staat abgeliefert wurden – der Rückgang des Viehbestandes in privatem Besitz im Jahr 1980 lässt sich beispielsweise so erklären (Wädekin 1981: 384). In offiziell erlaubten Zwischenformen wie der Vertragstierhaltung, bei der die Bauern dem Kolchoz Vieh überschrieben, es aber für eine festgesetzte Zeit weiterhin auf ihrem Hof hielten und dafür das nötige Futter zur Verfügung gestellt bekamen oder auch beim legalen Aufkauf von Erzeugnissen der persönlichen Nebenerwerbswirtschaft durch den Großbetrieb verschwammen die Grenzen: Handelte es sich beim Mästen von Tieren, die dem Kolchoz gehörten, aber im Hof eines Bauern gehalten und dann an den Staat abgeliefert wurden, um private oder genossenschaftliche Produktion? Wie lange musste sich Vieh, das ein Kolchoznik verkauft hatte, im Besitz des Kollektivbetriebs befinden, damit es dann als »Kolchozprodukt« deklariert und abgeliefert werden konnte? Gerade diese legalen Kooperationsformen verstärkten das Dilemma: Einerseits galt noch immer die grundsätzliche Zielsetzung, die persönlichen 15 | Wirklich gelöst war das Problem damit freilich nicht und über die Kriterien der Unterscheidung zwischen »privatem« und »persönlichem Eigentum« bestand auch in der sowjetischen Literatur keine Einigkeit (vgl. Wädekin 1973: 10ff). Dennoch bildet diese Differenzierung die wichtigste Säule fast aller Versuche, den in der persönlichen Nebenerwerbswirtschaft verkörperten Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit argumentativ aufzulösen.
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Nebenerwerbswirtschaften im Zuge der vollständigen Realisierung des sowjetischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zum Verschwinden zu bringen, anderseits wurden sie auch offiziell zu einem immer fester etablierten Bestandteil der sowjetischen Agrarwirtschaft. Dies gilt insbesondere für die Regierungszeit Breschnews. Unter Chruschtschow und insbesondere in den Jahren zwischen 1958 und 1960 war die Zurückdrängung des privaten Sektors eines der Hauptanliegen sowjetischer Agrarpolitik gewesen und hatte doch genau das Gegenteil dessen bewirkt, was man damit intendiert hatte. Die Folgen des offiziell propagierten Verkaufs von privat gehaltenem Vieh an die Kolchoze seit Dezember 1957, des Verbots der Viehhaltung in vielen Städten vom August 1959, der Reduktion der erlaubten Tierzahl für nicht in Kolchozen lebende Personen ab Juli 1963, der Förderung einer mehrgeschossigen Bauweise in Dörfern sowie die immer wiederkehrenden Erinnerungen an Lenins Vorgabe, dass Sovchozarbeiter in keinem Fall eigenes Vieh besitzen sollten, führten deutlich vor Augen, wie wenig der sowjetische Agrarsektor auf die privaten Nebenerwerbswirtschaften verzichten konnte (Wädekin 1967: 38, 45, 48, 59, 69). Bereits die letzten Jahre der Amtszeit Chruschtschows waren von einer vorsichtigen Liberalisierung geprägt gewesen, doch erst sein Sturz im Oktober 1964 leitete einen klaren Richtungswechsel ein. Hatte es noch im dritten Parteiprogramm der KPdSU von 1961 geheißen, die persönlichen Nebenerwerbswirtschaften würden »nach und nach ökonomisch überflüssig« (Kommunistische Partei der Sowjetunion, XXII. Parteitag 1961: 9480), so wurde nun wenig verklausuliert anerkannt, dass Staatsbetriebe und Genossenschaften alleine nicht in der Lage seien, den Bedarf an Agrarprodukten zu decken. »Wenn die Kolchoze ihre Beschäftigten mit Nahrungsmitteln versorgen wollten und dennoch den vermarkteten Anteil ihrer Produktion auf demselben Niveau halten sollten, dann müssten sie 74 % mehr Milch, 75 % mehr Fleisch, 86 % mehr Gemüse und mehr als doppelt so viele Kartoffeln und Eier erzeugen […]. Allein schon aus diesem einen Grund liegt die vollständige Ersetzung der Hoflandwirtschaft durch die gesellschaftlich organisierte Produktion in ziemlich weiter Ferne« stellte beispielsweise Zaslavskaya (1966: 62), bis heute eine der einflussreichsten Kommentatorinnen sowjetischer und postsowjetischer Agrarpolitik am »Institut für Ökonomie und Organisation industrieller Produktion« in Novosibirsk, bereits im Jahr 1966 fest. Unter Chruschtschow verhängte Steuern auf Vieh im Privatbesitz von Städtern wurden wieder aufgehoben, die Kolchoze angewiesen, ihre Mitglieder bei der Vieh- und Futterbeschaffung für die privaten Nebenerwerbswirtschaften zu unterstützen und wo man die Hoflandparzellen besonders rigoros beschnitten hatte, kam es sogar vor, dass Land an die Bauern zurückgegeben wurde (Wädekin 1973: 316, 320). Im dritten Musterstatut von 1969 wird den Kolchozbauern »Hofland zur Nutzung als Gemüse- und Obstgarten sowie für andere Zwecke in einer Größe bis zu 0,50 ha, einschließlich der mit Gebäuden bebau-
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ten Fläche, auf Bewässerungsland in einer Größe bis zu 0,20 ha« zugestanden (Art. 42 Mst.), wobei regional begrenzte Heraufsetzungen der Obergrenzen, die auf der Grundlage des in dieser Hinsicht großzügigeren zweiten Musterstatuts getroffen worden waren, beibehalten werden konnten (Brunner/Westen 1970b: 43). Die Kolchozbauern dürfen »eine Kuh mit Nachzucht bis zum Alter von einem Jahr, ein Jungrind bis zum Alter von zwei Jahren, eine Muttersau mit Nachzucht bis zum Alter von drei Monaten oder zwei Mastschweine, bis zu zehn Schafe und Ziegen (insgesamt), Bienenstöcke, Geflügel und Kaninchen« in privatem Besitz halten (Art. 43 Mst.). Im Jahr 1969 lag die tatsächliche durchschnittliche Größe der Hoflandparzellen jedoch ebenso unter den Maximalwerten – im Mittel bei 0,31 ha – wie die Viehbestände mit 58 Kühen, 54 Schweinen und 112 Schafen pro 100 Haushalte (Wädekin 1973: 83). Hält man sich vor Augen, welchen Anteil an der agrarischen Gesamtproduktion die in diesen kleinen, genau reglementierten Nebenerwerbswirtschaften erzeugte Agrarproduktion in den 1960er Jahren einnahm (s.u. Tab. 3 und Abb. 5), so ist es wenig verwunderlich, dass deren Unverzichtbarkeit irgendwann auch offiziell anerkannt werden musste. Neben der prinzipiellen Frage nach der Vertrauenswürdigkeit der dazu verfügbaren Daten sowjetischer Provenienz 16 sind bei deren Interpretation allerdings einige Eigenheiten der Erfassungs- und Klassifikationssystematik zu beachten, die in der westlichen Literatur häufig übersehen werden und auch auf die im Folgenden zitierten Zahlen zutreffen: – Bei Statistiken, die mit zu Preisen bewerteten Mengen operieren, darf nicht übersehen werden, dass der nicht abgelieferte bzw. verkaufte Anteil bei den Kollektivbetrieben zu Erzeugungskosten, bei Hoflandwirtschaften hingegen zu den höheren durchschnittlichen Verkaufspreisen bewertet wird. – Die als »Bruttoproduktion« der Kollektivbetriebe ausgewiesenen Mengen enthalten einen unbestimmten Anteil von Erzeugnissen, die in den weiteren landwirtschaftlichen Produktionsprozess eingehen. Eigentlich dürfte beispielsweise selbst erzeugtes und verwendetes Saatgut hier nicht mit enthalten sein, was in der Praxis aber offensichtlich anders gehandhabt wird (Nove 1980: 403). 16 | Diese Frage ist grundsätzlich durchaus berechtigt, spielt im hier verfolgten Zusammenhang aber keine ausschlaggebende Rolle, da es mir nur um das Aufzeigen von Größenordnungen, nicht um jährliche Veränderungen als Folge von konkreten agrarpolitischen Maßnahmen geht. Wädekin hat sich über 40 Jahre lang kritisch mit offiziellen sowjetischen Statistiken auseinandergesetzt (vgl. Literaturverzeichnis der vorliegenden Arbeit) und kann wohl wie kaum jemand sonst deren Brauchbarkeit abschätzen; ich greife aus diesem Grund ausschließlich auf von ihm zitierte und kommentierte Zahlen zurück, verwende bewusst aber nur gerundete Werte um nicht eine Genauigkeit zu suggerieren, die durch das Quellenmaterial nicht gerechtfertigt ist.
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Der innerdörfliche Handel wird in der sowjetischen Statistik als »Eigenverbrauch« klassifiziert und nicht zum »vermarkteten Anteil« der jeweiligen Erzeuger (Privatproduzenten oder Kollektivbetriebe) gerechnet. Naturalzahlungen der Kollektivbetriebe an ihre Beschäftigten werden als »Produktionskosten« ausgewiesen und zählen nicht zu deren »vermarkteter Gesamterzeugung«. Zum Einkommen der Bauern aus Kolchoz-Arbeit werden häufig auch die Sozialleistungen sowie Aufwendungen des Kolchoz für die kommunale Infrastruktur und Kultur gerechnet. In manchen Quellen vermittelt der Begriff »Realeinkommen« ein verzerrtes Bild, da die Kolchozbauern als Genossenschaftsmitglieder Eigentümer ihres Betriebs sind, Investitionen also formal zu deren »Einkommen« gerechnet werden können. Den Reinerlös aus dem Verkauf von Produkten der persönlichen Nebenerwerbswirtschaft dem Geldeinkommen aus der Arbeit im Kolchoz gegenüberzustellen, wie dies teilweise geschieht, ist irreführend, denn auch für die private Produktion müssen Kosten gegengerechnet werden (Kauf von Saatgut, Vieh und Futter, Instandhaltung von Gebäuden und Geräten, …), die zwischen 30 und 40 % des Erlöses ausmachen (Wädekin 1973: 190). Eine Abnahme des Anteils privatwirtschaftlich und insbesondere in Kolchozen erzeugter Produkte an der Gesamterzeugung muss immer vor dem Hintergrund des abnehmenden Anteils ländlicher Bevölkerung und der Umwandlung von Kolchozen in Sovchoze gesehen werden, kann also durchaus mit einer steigenden Bedeutung und Produktivität der Hoflandwirtschaft pro Haushalt einher gehen. Aggregierte Größen wie »Gemüse« sind oft wenig aussagekräftig, wenn sie auf Gewichtsangaben basieren, da dann nicht ersichtlich ist, ob eine mengenmäßige Zunahme wie beispielsweise bei der Gemüseproduktion des privaten Sektors zwischen 1965 und 1967 auf eine Steigerung der Erzeugung von ›billigem‹ Kohl oder ›teuren‹ Zwiebeln zurückzuführen ist. Eine plötzlich steigende Fleischproduktion ist keineswegs immer ein positiver Indikator, sondern kann wie im Jahr 1963 auf Notschlachtungen zurückzuführen sein, die aufgrund von Futtermangel wegen einer schlechten Ernte notwendig wurden.
Der Wert aller vom Privatsektor – also nicht nur von den Kolchozbauern, sondern auch von den Arbeitern und Angestellten der Sovchoze sowie von Städtern im Besitz von Kleingärten und Datschengrundstücken – erzeugten Agrarprodukte machte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ungefähr 30 % des gesamten Bruttoproduktionswerts in der Landwirtschaft aus (Wädekin 1973: 61). Verdeutlicht schon allein diese Zahl den Stellenwert
90 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
der persönlichen Nebenerwerbswirtschaften, auf die der größte Teil dieser 30 % entfiel (s.u.), so ergibt sich ein noch eindrucksvolleres Bild, wenn man den Gesamtbetrag nach Produktgruppen unterteilt. Denn die Tatsache, dass Getreide überwiegend von den Kollektivbetrieben angebaut wurde, senkt den Schnitt beträchtlich. So betrug der Anteil privat produzierter Kartoffeln in diesem Zeitraum beispielsweise ca. 63 %, beim Gemüse lag der entsprechende Wert ebenso wie beim Fleisch bei 40 %, bei der Milch bei 39 % und bei Eiern sogar bei 63 % (Wädekin 1973: 64). Die erzeugten Mengen blieben zwischen 1965 und 1970 ungefähr konstant oder ließen sogar – wie beispielsweise bei Kartoffeln – eine leichte Steigerung erkennen (Wädekin 1973: 62), wohingegen in Relation zum staatlichen und genossenschaftlichen Sektor eine geringfügige Abnahme festzustellen ist. Wie groß genau der im Rahmen der persönlichen Nebenerwerbswirtschaft in Kolchozen produzierte Anteil an der Gesamtproduktion des privaten Sektors war, lässt sich nur ungefähr abschätzen. Wädekin (1973: 88) veranschlagt ihn für die Jahre 1964/65 auf insgesamt 60 %, bei Fleisch auf die Hälfte, bei Milch und Eiern auf knapp 60 % und bei Kartoffeln auf ca. 65 %. Hohe Differenzen zwischen staatlichen Produktionsplänen einerseits und den abzuliefernden Mengen andererseits (Wädekin 1973: 77) belegen auf jeden Fall, dass die lokalen Behörden zumindest in einigen Regionen die Erträge der Hoflandparzellen fest in ihre Planungen mit einbezogen. Insgesamt dürften in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wohl 20 % der privat produzierten Agrargüter auf unterschiedlichen Kanälen – Kolchozmärkte, Konsumgenossenschaften und staatliche Aufkaufstellen – verkauft und nicht selbst konsumiert worden sein (Wädekin 1973: 166). Diese Zahl war politisch immer hoch brisant, denn ein wichtiges Argument vieler Legitimationsversuche für die persönlichen Nebenerwerbswirtschaften war deren Subsistenzcharakter, während Kritiker neben der aus privatwirtschaftlicher Tätigkeit resultierenden »individualistischen Psychologie« (Šmelëv 1964: 128) vor allem die Marktorientierung als systemkonträres Element anprangerten. Sie war bei den Kolchozbauern auf jeden Fall höher als bei den Beschäftigten der Sovchoze oder bei Städtern und von Produkt zu Produkt sehr unterschiedlich; bei Fleisch betrug der vermarktete Anteil etwa 46 % und bei Eiern ca. 27 %, während nur 10 % der geernteten Kartoffeln und der Milch verkauft wurden (Wädekin 1973: 89). Berücksichtigt man auch den Handel innerhalb der Dörfer oder mit dem eigenen Betrieb, der offiziell als »Eigenverbrauch« klassifiziert wurde, so erhöhen sich die entsprechenden Werte jeweils um ca. 25 % (Wädekin 1973: 184). Wie unsicher diese Zahlen auch sein mögen – die Marktorientierung der Bauern war in der sowjetischen Zeit zweifellos weitaus stärker als vor der Revolution oder der Zwangskollektivierung (Wädekin 1973: 166)! Dieser Abhängigkeit der sowjetischen Nahrungsmittelerzeugung von den Hoflandparzellen der Genossenschaftsbauern trug das dritte Musterstatut für den Kolchoz ausdrücklich Rechnung. Zwar unterschied es sich
3 »Alles hier gehört dem Kolchoz, alles hier gehört mir!« | 91
auch im Hinblick auf den privaten Sektor nur wenig von seinem Vorgänger aus dem Jahr 1935, doch konnten die entsprechenden Regelungen damals angesichts der gerade erst vollendeten Zwangskollektivierung noch als vorübergehender Kompromiss angesehen werden. Sie im Jahr 1969 jedoch fast unverändert wiederholen zu müssen bedeutete, nun auf unbestimmte Zeit anzuerkennen, dass die Kolchoze nicht nur eine eigenständige Betriebsform waren, in der die Nebenerwerbswirtschaften bald aufgehen würden, sondern eine wichtige Funktion als deren Dienstleister zu erfüllen hatten. Die Paragraphen 4 sowie 42–44 des Musterstatuts bringen dies unmissverständlich zum Ausdruck: »Das Kolchosmitglied hat das Recht […] Kolchosweiden, kolchoseigenes Arbeitsvieh und kolchoseigene Transportmittel für persönliche Zwecke nach den im Kolchos geltenden Bestimmungen zu nutzen […].« (Art. 4 Mst.). »Der Kolchosvorstand gewährt den Kolchosmitgliedern nach den im Kolchos geltenden Bestimmungen Hilfe bei der Bearbeitung des Hoflandes.« (Art. 42 Mst.). »Der Kolchosvorstand gewährt den Kolchosmitgliedern bei der Anschaffung des Viehs, bei der tierärztlichen Betreuung sowie bei der Versorgung mit Futtermitteln und Weideland Hilfe.« (Art. 43 Mst.).
Dabei wird auch klar, dass nicht ausschließlich institutionelle Zugehörigkeit den Aufgabenbereich des Kolchoz bestimmte, sondern dass Zuständigkeiten, Verantwortung und Befugnisse territorial konzipiert waren: »Auf Beschluss der Mitgliedervollversammlung stellt der Kolchos Lehrern, Ärzten und anderen Fachleuten, die auf dem Lande arbeiten und im Kolchos wohnen, Hofland zur Verfügung. Arbeitern, Angestellten, Rentnern und Invaliden, die im Kolchos leben, kann, falls freies Hofland zur Verfügung steht, auf Beschluss der Mitgliedervollversammlung Hofland zugewiesen werden.« (Art. 44 Mst.).
Doch nicht nur der Staat brauchte die persönlichen Nebenerwerbswirtschaften, auch die Kolchozbauern waren angesichts der niedrigen Löhne in den Kollektivbetrieben auf die Erträge ihrer Hoflandparzellen angewiesen. Deren wirkliche Bedeutung abzuschätzen ist allerdings extrem schwierig, da sich unter zentralplanwirtschaftlichen Rahmenbedingungen Naturalerträge nicht einfach in einen monetären Wert umrechnen und dann zu Löhnen in Relation setzen lassen. Denn egal welchen Umrechnungspreis man zugrunde legt, die Vermarktungsbedingungen waren niemals stabil und der Erlös für dieselbe Menge war ein völlig anderer je nachdem, ob man seine Produkte zu freien Preisen auf dem Kolchozmarkt anbieten konnte
92 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
oder ›nachdrücklich‹ dazu aufgefordert wurde, sie dem eigenen Betrieb zu verkaufen. Für den Erwerb von Konsumgütern war man jedoch auf Geld angewiesen, so dass den sicheren monetären Einkommen aus der Arbeit im Kolchoz auf jeden Fall überproportionale Bedeutung zukam. Mitte der 1960er Jahre stammten etwa 44 % des Haushaltseinkommens (einschl. Naturallohn) einer Kolchozbauernfamilie von der Arbeit im Kollektivbetrieb, 42 % wurden in der persönlichen Nebenerwerbswirtschaft erzielt (netto, d.h. unter Abzug von ca. 40 % Produktionskosten und bei einer Bewertung des selbst konsumierten Anteils zu staatlichen Aufkaufpreisen) und 14 % kamen aus sonstigen Quellen wie Pensionsansprüchen oder Beschäftigungen in anderen Betrieben (Wädekin 1973: 190f). Problematisch ist bei derartigen Aufschlüsselungen immer die Einordnung der Zuwendungen aus so genannten »gesellschaftlichen Konsumptionsfonds«, die häufig zum Kolchozeinkommen gerechnet werden. Dazu zählen neben bezahltem Urlaub Aufwendungen für Bildung, medizinische Versorgung, Kultur, Sport u.ä. (Wädekin 1972: 235). So kommt eine andere Quelle, in der diese Ausgaben separat ausgewiesen sind, für das Jahr 1965 auf 37 % Kolchozlohn, 35 % Einkommen aus der Nebenerwerbswirtschaft, 19,5 % Zuwendungen aus gesellschaftlichen Konsumptionsfonds und 8 % sonstige Einkommen (Wädekin 1972: 217). In der Größenordnung entsprach der Kolchozlohn (ohne Konsumptionsfonds) in jedem Fall dem privat erwirtschafteten Einkommen. Damit gewährleistete die persönliche Nebenerwerbswirtschaft für die Kolchozbauern immer einen relativ hohen Grad an Autonomie gegenüber national-staatlichen Versorgungsleistungen, allerdings bei gleichzeitiger Abhängigkeit von lokal-betrieblicher Unterstützung bei der Bewirtschaftung der Hoflandparzellen und vor allem der Versorgung mit Futter für das privat gehaltene Vieh. 1964 produzierten die Bauern 91 % aller für den eigenen Lebensunterhalt benötigten Kartoffeln sowie 76 % des Gemüses, 85 % des Fleisches, 91 % aller Milchprodukte und 98 % der Eier selbst (Wädekin 1973: 56). Um den Bedarf an Grundnahrungsmitteln zu decken, war man also in erster Linie auf den Zukauf von Getreide und Zucker angewiesen. Tabelle 3 fasst die Abhängigkeit sowohl des Staates als auch der Kolchozbauern von der persönlichen Nebenerwerbswirtschaft zu Beginn der Regierungszeit Breschnews noch einmal in einigen wichtigen Kennzahlen zusammen.
3 »Alles hier gehört dem Kolchoz, alles hier gehört mir!« | 93 Tabelle 3: Kennzahlen zur Bedeutung des privaten Sektors und der persönlichen Nebenerwerbswirtschaft für Staat und Kolchozbauern Mitte der 1960er Jahre
Anteil des privaten Sektors an der Agrarproduktion davon von Kolchozbauern produziert davon nicht selbst konsumiert: ohne innerdörflichen Handel einschl. innerdörflichem Handel
Subsistenzgrad einer Kolchozbauernfamilie bei Grundnahrungsmitteln
Einkommen einer Kolchozbauernfamilie
Kartoffeln
Gemüse
Fleisch
Milch
Eier
63 %
40 %
40 %
39 %
63 %
insgesamt 30 %
65 %
k.A.
50 %
60 %
60 %
60 %
10 %
k.A.
46 %
10 %
27 %
20 %
12 %
k.A.
58 %
12 %
34 %
25 %
Kartoffeln
Gemüse
Fleisch
Milch
Eier
insgesamt
91 %
76 %
85 %
91 %
98 %
k.A.
Kolchozlohn
Hoflandwirtschaft
Konsumptionsfonds
sonstige
37 %
35 %
19,5 %
8%
k.A. = keine Angabe. Quellen: Eigene Zusammenstellung und Berechnung nach WÄDEKIN (1972; 1973).
Auch wenn »Zeit des Stillstandes« (vremja zastoja) sicherlich eine stark vereinfachende Charakterisierung der Jahre zwischen dem Sturz Chruschtschows 1964 und dem Tod Breschnews 1982 ist und sich die oben geschilderte Bedeutung der persönlichen Nebenerwerbswirtschaft Mitte der 1960er Jahre nicht einfach bis in die 1980er Jahre fortschreiben lässt, so war die Zeit fundamentaler Umbrüche dennoch vorbei. Richtungswechsel wurden nun weniger als früher im Sinn einer neuen und verbindlich umzusetzenden politischen Leitlinie verstanden, sondern bestanden in veränderten Prioritätensetzungen, die Spielräume für eine regional unterschiedliche Praxis ließen (Wädekin 1989: 549). Dies äußert sich beispielsweise auch darin, dass die Beurteilung des Jahrzehnts zwischen 1967 und 1977 durch westliche Beobachter uneinheitlich ausfällt. Der Wandel hin zu einem liberaleren Umgang mit den persönlichen Nebenerwerbswirtschaften nach 1964 war so tief greifend und unübersehbar, dass darüber Konsens besteht. Aber während Giese (1983: 562) die Jahre zwischen 1967 und 1970 als eine
94 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
Phase stärkerer Reglementierung ansieht und dann ab 1970 von zunehmender Liberalisierung spricht, schätzt Wädekin (1989: 549) die Zeit bis 1970 als »Zwischenperiode toleranter Politik« ein, die dann von einer repressiven »Tendenz« bis 1977 abgelöst wurde. Unstrittig ist, dass die Verordnungen »Über die persönlichen Hilfswirtschaften der Kolchozmitglieder, Arbeiter, Angestellten und anderen Staatsbürger und über den kollektiven Obst- und Gemüsegartenbau« vom 14. September 1977 (Central’nyj Komitet KPSS i Sovet Ministrov 1977) und »Über ergänzende Maßnahmen zur Steigerung der Erzeugung von Agrargütern in persönlichen Nebenerwerbswirtschaften« (1981, vgl. Wädekin 1981: 384ff) als klare Bekenntnisse zu einer Förderung privatwirtschaftlicher Aktivitäten zu werten sind. Betrachtet man die anteilige Bedeutung des privaten Sektors an der gesamten Agrarproduktion der Sowjetunion, so zeigt sich, dass der Trend zur Dominanz staatlicher und genossenschaftlicher Betriebe bis zum Ende der Regierungszeit Breschnews ungebrochen anhielt. 1982 stammten nur noch 32 % (1965: 41 %) der sowjetischen Gemüse-, 30 % (1965: 40 %) der Fleisch- und 30 % (1965: 39 %) der Milcherzeugung von Privatproduzenten (Central’noe Statističeskoe Upravlenie SSSR 1966a, 1986a). Doch im Hinblick auf die Frage, welche Rolle den persönlichen Nebenerwerbswirtschaften für die Organisation des wirtschaftlichen Alltags im ländlichen Raum zukam, zeichnen diese Zahlen ein irreführendes Bild. In den Abbildungen 5 a-d wurde für die vier landwirtschaftlichen Produkte »Kartoffeln«, »Gemüse«, »Fleisch« und »Milch« der relative Anteil des privaten Sektors am gesamten Output (Gewichts-, nicht Wertanteil; rechte Ordinate) so eingezeichnet, dass er für das Jahr 1965 mit der produzierten Menge in Mill. Tonnen (linke Ordinate) zusammenfällt.17 Die Divergenz der beiden Kurven belegt eindrucksvoll, dass die sinkenden Anteile des privaten Sektors im Wesentlichen auf Produktionsausweitungen in Kolchozen und Staatsbetrieben zurückzuführen sind, wohingegen die privat erzeugten Mengen sich weitaus weniger stark veränderten. Diese Entwicklung bringt zum Ausdruck, dass die veränderte Prioritätensetzung unter Breschnew – zwischen 1966 und 1981 vervierfachten sich die Investitionen in die Landwirtschaft und erreichten im Jahr 1982 27 % der staatlichen Gesamtinvestitionen (Wegren 1992: 7) – nicht ohne Wirkung blieb. Nur bei Kartoffeln zeigt sich ein abweichendes Bild; hier führte die allgemeine Schwerpunktverlagerung auf höherwertige Produkte zu einem absoluten Rückgang bei kaum verändertem prozentualem Anteil des privaten Sektors.
17 | Die Graphiken zeigen die Entwicklungen in Russland, nicht in der gesamten UdSSR, da auch die von mir untersuchten Betriebe auf dem Gebiet der ehemaligen RSFSR liegen.
3 »Alles hier gehört dem Kolchoz, alles hier gehört mir!« | 95 Abbildung 5a: Entwicklung der privaten Fleischproduktion in Russland ������������������������� �� � �� �
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Quelle: Central’noe Statisticˇeskoe Upravlenie SSSR b, versch. Jg.
Abbildung 5b: Entwicklung der privaten Milchproduktion in Russland �� �
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Quelle: Central’noe Statisticˇeskoe Upravlenie SSSR b, versch. Jg.
Abbildung 5c: Entwicklung der privaten Kartoffelproduktion in Russland ����������
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Quelle: Central’noe Statisticˇeskoe Upravlenie SSSR b, versch. Jg.
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96 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess Abbildung 5d: Entwicklung der privaten Gemüseproduktion in Russland ������
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Quelle: Central’noe Statisticˇeskoe Upravlenie SSSR b, versch. Jg.
Wie wichtig die Hoflandwirtschaften für die Kolchozbauern blieben, wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass die ländliche Bevölkerung in Russland zwischen 1965 und 1985 von 53,1 Mio. (42 %) auf 39,2 Mio. (27 %) abnahm. Zwar lassen sich die beiden verfügbaren statistischen Kategorien »ländliche Bevölkerung« und »private landwirtschaftliche Produktion« nicht unmittelbar aufeinander beziehen – einerseits besitzen auch Städter Gartengrundstücke und andererseits betreiben nicht alle Dorfbewohner eine Hoflandwirtschaft –, aber unzweifelhaft wird der überwiegende Teil der privaten Agrarproduktion im ländlichen Raum erbracht. Aussagen über die Veränderung der Produktionsmenge pro Kopf sind also sicher nicht möglich, wohl aber lässt sich ein klarer Trend aufzeigen. In den Abbildungen 5 a-d wurde dazu die gesamte Agrarproduktion auf die Anzahl der im ländlichen Raum lebenden Personen bezogen, indiziert (1965=100) und so in die Graphiken eingetragen, dass der Wert des Jahres 1965 mit dem Anfangspunkt der beiden Kurven für die relative Bedeutung des privaten Sektors und die privat produzierte Menge in Mio. Tonnen übereinstimmt. Bei allen vier untersuchten Produkten zeigt sich, dass die Bevölkerungsabnahme den Produktionsrückgang bei weitem überwog, eine gleich bleibende oder nur leicht sinkende Menge an Fleisch, Milch, Gemüse und Kartoffeln also von einer immer geringeren Anzahl ländlicher Haushalte erzeugt wurde. Angesichts dieser Zahlen kann zwar von einer abnehmenden Bedeutung der persönlichen Nebenerwerbswirtschaften für die sowjetische bzw. russische Nahrungsmittelversorgung, jedoch nicht für die Haushalte im ländlichen Raum gesprochen werden. Die daraus resultierenden persönlichen Interessen einerseits und die Verpflichtung der Betriebe andererseits, diesen in einem nicht genau festgelegten Umfang auch Rechnung zu tragen, schufen die sozialen und rechtlichen Voraussetzungen für die Dualität einer staatlichen und privaten Sphäre innerhalb jedes einzelnen Kolchoz’, welche den Charakter der Dorfgemeinschaften gegenüber der Zeit vor der Zwangskollektivierung fundamental veränderte.
4
Die Entstehung »paralleler Halböffentlichkeiten«
In den beiden vorhergehenden Kapiteln dürfte deutlich geworden sein, dass es zwischen den vorrevolutionären Landkommunen und den sowjetischen Kolchozen tatsächlich einige strukturelle Gemeinsamkeiten gab, die man als Fundament für die Kontinuität von Kollektivismus und Egalitarismus ansehen könnte. In beiden Fällen existierte eine einflussreiche lokale Institution, die das Verhältnis der Einzelhöfe zu ihrer wirtschaftlichen und politischen Umwelt regelte, in diesem oft spannungsgeladenen Verhältnis Vermittlungsmechanismen ebenso wie Disziplinierungsinstrumente bereitstellte und nur Bestand haben konnte, solange die Beteiligten sich mit ihr zumindest partiell identifizierten. Auf der einen Seite standen die Haushalte als Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaften, die auch in rechtlicher Hinsicht eigenständige Einheiten bildeten und vollständig oder doch zu einem erheblichen Teil von der privaten Produktion lebten; in den Landkommune waren sie und nicht Einzelpersonen die Mitglieder der Dorfgemeinschaft (Brunner/Westen 1970a: 7) und das dritte Musterstatut für den Kolchoz nennt die Familie bzw. den Kolchozhof, nicht das Kolchozmitglied, als Träger der Hoflandwirtschaft (Brunner/Westen 1970b: 36). Auf der anderen Seite befanden sich die Gutsherren und der Staat, die daran interessiert waren, einen möglichst großen Teil des produktiven Potenzials der Haushalte in Form von Naturalabgaben, monetären Zahlungen oder Arbeitsleistungen abzuschöpfen. In beiden Fällen funktionierte die institutionalisierte und organisierte Form 1 der lokalen 1 | »Institution« bezieht sich auf den Aspekt internalisierter Verhaltensweisen, »Organisation« auf die formal-rechtliche Verfasstheit. Diese Differenzierung durchzieht die gesamte sozialwissenschaftliche Diskussion über soziale Institutionen, sie ist bereits bei Hauriou (1965: 34ff) angedeutet und wurde dann weiter ausgearbeitet
98 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
Gemeinschaft unter dem Dach der »Landkommune« beziehungsweise des »Kolchoz« als Instrument, um diese Abschöpfung zu organisieren und die Haushalte zu kontrollieren. In beiden Fällen nahm sie jedoch zugleich noch eine Fülle anderer Aufgaben wahr und fungierte als Integrationsmechanismus, der keinesfalls immer nur in dem vom Staat oder den Gutsherren intendierten Sinn wirkte. Die Feststellung struktureller Gemeinsamkeiten in dieser allgemeinen Form erlaubt es jedoch nicht, auf Kontinuität in der Entwicklung des ländlichen Raums in Russland zu schließen, denn gerade sowjetische Institutionen entziehen sich derart einfachen Einordnungsversuchen. Sie bauten oft auf vorrevolutionären Traditionen auf, instrumentalisierten diese aber im Sinn politischer Vorgaben, ließen manchmal eine Parallelwelt informeller Standards neben der Fassade des offiziell Erwünschten bis zu einem gewissen Grad zu und erzwangen in anderen Fällen unter der Oberfläche vermeintlicher Gemeinsamkeiten Umbrüche, die eine völlig neue Ausgangssituation schufen. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden über eine funktionale Zuordnung von Strukturen und Praktiken – »kollektive Verantwortlichkeit für die Bezahlung von Steuern und Abgaben erforderte periodische Landumverteilungen« – hinaus der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise sich die Landkommunen einerseits und die sowjetischen Kolchoze andererseits tatsächlich als lokale Gemeinschaften bzw. lokale Gemeinschaften konstituierten.
Die vorrevolutionären Landkommunen: lokale Gemeinschaften Wenn sich, wie Eklof (1988: 68) in einem »Forschungsbericht« anmerkt, die Überlebensfähigkeit der Kommunen und die Intensität dörflicher Bindungen mittlerweile tatsächlich als eine Art »neue Orthodoxie« in der jüngeren Literatur zur russischen Bauernschaft zwischen 1861 und 1914 etabliert haben, so ist es für diese Arbeiten mindestens ebenso kennzeichnend, dass der ländliche Raum darin als eine eigene Lebenswelt verstanden wird, die sich aus einer Vielzahl disparat nebeneinander liegender territorial-sozialer Einheiten zusammensetzt. Dieser Aspekt taucht meist eher beiläufig auf, er rückt gegenüber dem Thema »kollektivistische und egalitaristische Traditionen« in den Hintergrund und ist damit doch auf das engste verwoben. Ein kursorischer Literaturüberblick vermittelt einen Eindruck der vielfältigen Kontexte, in denen räumliche Grenzziehungen und Abgegrenztheit als Kernelemente bäuerlicher Kultur beschrieben werden. (vgl. Schülein 1987 für eine gelungen Überblicksdarstellung). North (1992: 4ff) beschreibt den Unterschied anschaulich im Bild eines Spiels mit Spielregeln (Institutionen) und Spielern (Organisationen).
4 Die Entstehung »paralleler Halböffentlichkeiten« | 99
Am augenfälligsten ist vielleicht die politische Dimension der lokalen Grundorientierung, da sie sowohl Bestandteil vieler Ideen und Idealisierungen der Landkommunen ist als auch unmittelbare praktische Relevanz besaß. So verbanden einige der Reformer der 60er und 70er Jahre des 19. Jh. mit dem Leben im Dorf im Allgemeinen »Dezentralisierung«, »Föderalismus« und »Regionalismus« und damit die positive Antithese zu einem als allzu zentralistisch empfundenen Staat (Grant 1973: 87); das bekannte russische Sprichwort »Gott ist groß und der Zar ist weit« bzw. »Russland ist groß und der Zar ist weit« wird oft als Beleg für eine entsprechende Grundhaltung zitiert (Field 1976: 15). Lokale Verwurzelung wird hier zu einem integralen Bestandteil bäuerlicher Kultur, dessen Beschreibung – ähnlich wie die des bäuerlichen »Kollektivismus« und »Egalitarismus« – oft essentialisierende Züge trägt. Leicht wird der territoriale Aspekt aus konkreten politischen Kontexten gelöst und der »berühmte bäuerliche Isolationismus« zu einer »der fundamentalen Kontinuitäten russischer Kultur und Sozialbeziehungen« generalisiert; die Aufstände der Jahre 1905–06 bringen dementsprechend den »bäuerlichen Traum nicht nur vom Boden, sondern auch von lokaler Macht« zum Ausdruck (Seregny 1991: 341ff). Noch deutlicher wird in dieser Hinsicht Confino (1987: 23f ) wenn er schreibt: »Das wichtigste Merkmal der bäuerlichen Haltung gegenüber dem Staat über ungefähr 200 Jahre hinweg war kontinuierliche und unerbittliche Opposition […]. Diese Opposition war keine episodische oder an das Zusammentreffen kritischer Ereignisse gebundene Erscheinung, sondern sie war permanent und endemisch, tief im bäuerlichen Leben und der bäuerlichen Mentalität verwurzelt und drückte eine fundamentale, naive, aber mächtige, spontan-anarchistische Grundhaltung aus.« Dabei ist zu berücksichtigen, dass die staatliche Verwaltung sich auch lange Zeit kaum um den ländlichen Raum gekümmert hatte; »das ländliche Russland war in der ersten Hälfte des 19. Jh. nicht nur unzureichend verwaltet, es war weithin gar nicht verwaltet« beschreibt Hoch (1986: 1) diesen Zustand. In anderen Arbeiten wird die Priorität des Lokalen in spezifischen historischen Zusammenhängen herausgestellt. So relativiert Perrie (1990: 214) das Interesse der Bauern an politischen und sozialen Fragen im nationalen Rahmen, indem er die Unruhen zu Beginn des 20. Jh. als Rebellion gegen die »Manifestationen fundamentaler sozialer Verschiebungen auf Gemeindeebene« charakterisiert. Dem entspricht es, dass sich viele Kommunen nach 1917 zu »autonomen Republiken« erklärten und Konflikte zwischen diesen Einheiten offensichtlich »die Regel« waren (Figes 1991: 380). »Lokal war die Gesellschaft, lokal waren ihre Aktionen. Lokalistisch hatte man in der Revolution den Bestand der Landgemeinde gegen die Ansprüche des Nachbardorfes verteidigt, und lokalistisch vertrat man die Position des Dorfes gegenüber der neuen Obrigkeit […]« beschreibt auch Altrichter (1984: 100) die Situation vor der Revolution und macht damit ebenfalls die lokale Identität zu einem wichtigen Erklärungsfaktor für fehlendes Klassen-
100 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
bewusstsein auf dem Land. Für Marx war die Tatsache, dass die Kommunen primär »lokal« und nicht »verwandtschaftlich« organisiert waren, bereits ein Indikator für deren »relative Fortschrittlichkeit«, wobei die noch immer bestehende »Isolation« durch einen revolutionären Umbruch aufgehoben werden müsse (Shanin 1981: 116). Folglich beseitigte nach sozialistischer Lesart dann auch erst die Oktoberrevolution den Lokalismus, vollendete das »Aufbrechen der lokalen Begrenztheiten bäuerlicher Denkhorizonte, Interessen und Beziehungsmuster« und ermöglichte »die ›Entstehung‹ des Bauern jenseits der Beschränkungen der kommunal-lokalen Welt« (Danilov 1990: 299). In nicht primär politisch-historisch orientierten Texten verschiebt sich der Betrachtungsschwerpunkt etwas. Mironov (1985: 458) spricht von einer »halb-geschlossenen sozialen Organisation« während Okuda (1990: 267) die Kommune als die »territoriale Organisation traditionell privater bäuerlicher Haushalte« bezeichnet. Sehr anschaulich kommt die Bedeutung regionaler Identität im von den Bauern selbst gebrauchten Begriff »zemljak« zum Ausdruck: Er leitet sich vom Wort »zemlja« für »Boden«/»Erde«/»Land« ab und bedeutet allgemein so viel wie »Landmann«, weist jedoch in vielen Kontexten speziell auf »regionale Loyalitätsverpflichtungen« zwischen Bewohnern wesentlich kleinerer räumlicher Einheiten hin (Johnson 1990: 90f). Selbst in unmittelbarer räumlicher Nähe liegende Ortschaften entwickelten unterschiedliche Traditionen, so dass die Gegner aller Bestrebungen, lokales Recht zu erhalten und zu kodifizieren, sogar behaupten konnten: »Wenn es Sitten und Gebräuche gab, so erstreckten diese sich niemals über die Grenzen eines Dorfes.« (Lewin 1985: 7). Doch obwohl die Einheitlichkeit von Rechtstraditionen immer wieder angezweifelt wurde bestand Konsens darüber, dass Praktiken kommunaler Selbstjustiz weit verbreitet waren und Unzufriedenheit sowie mangelndes Vertrauen in eine offizielle Rechtsprechung widerspiegeln, die »lokalen Bedürfnissen und Anliegen« oft nicht Rechnung trug (Frank 1987: 264). Die Summe aller Eigenheiten führte dazu, dass die Kommunen eine Lebenswelt für die Bauern bildeten, in der »die Vögel anders singen und die Blumen prächtiger blühen«, wie es in einer bäuerlichen Redensart heißt (Kingston-Mann 1991b: 15). »Die Gesellschaft war in faktisch autonome Einheiten atomisiert […]. Von wenigen Ausnahmen abgesehen war das Leben im Dorf das Leben insgesamt«, bringt Hoch (1986: 2) die Kongruenz der lokalen Gemeinschaft mit dem alltagsweltlichen Horizont jedes Einzelnen ihrer Mitglieder auf den Punkt. Die Abgegrenztheit der Landkommunen, so wird klar, besaß sehr unterschiedliche Dimensionen: Sie bestand in der Distanz zur staatlichen Verwaltung und beinhaltete eine partiell autonome lokale Selbstverwaltung, die als Selbstjustiz auch den Bereich des Rechts nicht ausgespart hat, sie äußerte sich als Differenz zur städtischen Kultur und führte zur Entwicklung ausgeprägter eigenständiger Traditionen, sie war territoriale Identität, lokales Selbstbewusstsein und Loyalität zu anderen Kommunenmitgliedern
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in der fremden Umgebung der Städte. Sie war von außen vorgegeben und besaß insofern Zwangscharakter: erzwungene Orientierungen an Grenzen, die nicht selbst gewählt worden waren, Beschränkung auf lokal vorhandene Ressourcen, um sowohl Abgaben an die Gutsherren zu bezahlen als auch das eigene Auskommen zu sichern, staatlich eingeschränkte Mobilität und die Verpflichtung, als territorial-administrative Einheit gemeinsam für die Erfüllung der Quote für den Militärdienst zu sorgen. Aber sie konstituierte sich zugleich auch in der selbst gewählten Ausgrenzung Fremder, dem eigeninitiativen Bemühen, jede Form staatlicher Einmischung abzuwenden, der lokalen Gültigkeit des Subsidiaritätsprinzips und der »kollektiven Verteidigung der dörflichen Autonomie«, beispielsweise auch durch den Aufbau eigener Kreditinstitutionen (Burds 1998: 90ff). Die Heterogenität dieser Aspekte sowie die Verwendung von Begriffen wie »Isolationismus« führen dazu, dass zwei der wichtigsten Merkmale des territorialen Charakters der Landkommunen leicht übersehen werden: Zum einen handelt es sich dabei nicht um einen statischen Zustand, sondern um einen Konsens, der ständig neu hergestellt werden musste. Zum zweiten beruhte dieser Konsens auf einer intensiven Auseinandersetzung mit der sich verändernden Umwelt, hat also nichts mit »Isolation« zu tun, sondern besteht in der lokalen Aneignung, Umsetzung und Reaktion auf sich verändernde Rahmenbedingungen. Was im zweiten Kapitel mit Bezug auf administrative Funktionen und kommunale Handlungsspielräume als »Netzwerk in Grenzen« bezeichnet wurde, ist nicht zeitlose und hermetische Abgeschlossenheit, sondern die Produktion und Reproduktion von »Abgegrenztheit« in einem aktiven, kontinuierlichen Prozess der »Abgrenzung« durch Außenstehende ebenso wie durch die Mitglieder der Landkommunen selbst.
Die vorrevolutionären Landkommunen: lokale Gemeinschaften Der territoriale Charakter der Landkommunen ist weder nur ein »Begleitmotiv« für die Metaerzählung des russischen Kollektivismus noch eine historisch zufällige Parallelerscheinung. Vielmehr bringen die oben zitierten Beispiele zum Ausdruck, dass »Gemeinschaft« als eine sich selbst lokal definierende und anhand territorialer Zugehörigkeit abgrenzbare Kategorie und nicht als räumlich loses agnatisches, ethnisches oder religiös bestimmtes Netzwerk verstanden wird. Die Verwendung einer räumlichen Semantik in Texten über die Landkommunen nimmt deshalb immer eine gewisse Zwitterstellung ein und besitzt nicht selten metaphorische Bedeutung: Sie beschreibt den dominierenden Konstitutionsmodus des Sozialen ebenso wie die vorherrschende politische, wirtschaftliche und soziale Produktion von Territorialität. Wo von »kollektiven Handlungsmustern« in den Landkom-
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munen des 19. Jh. die Rede ist, wird meist – wenn auch selten explizit – auf die Rekursivität dieser beiden Aspekte Bezug genommen. Es mag euphemistisch erscheinen, angesichts der Zwangssituation, in der sich die Leibeigenen befanden, von einem aktiven Prozess der Gestaltung einer lokalen Gemeinschaft zu sprechen. Doch auch wenn die Feudalherren die Abgabenhöhe für eine territorial abgegrenzte Gruppe von Bauern festlegten, der Staat eine territoriale Grenze verwendete, um die Rekrutierungsquote zu bestimmen, wenn die territoriale Mobilität eingeschränkt war und bis zum Jahr 1903 kollektive Strafen für die gemeinsam auf einem Territorium lebenden Bauern verhängt werden konnten (Kotsonis 1999: 21) – all diese von außen festgelegten Grenzziehungen wurden doch erst dadurch zu einer sozialen Realität, dass sie Eingang in bäuerliche Handlungsstrategien fanden. Diese Handlungsstrategien waren keineswegs nur »Anpassungen« in einem deterministischen Sinn, sondern »aktive Problemlösungen«. Sie konstituierten Kollektive durch gemeinsames Handeln in Orientierung an den vorgegebenen Grenzziehungen, implizierten räumliche »Aneignung« in einem handlungspraktischen ebenso wie symbolischen Sinn und füllten den für die russischen Bauern enorm bedeutenden Begriff rodnoj – im Deutschen etwa mit »heimatlich«/»eigen« wiederzugeben – mit Inhalt. Komplementär dazu erhielten sich natürlich Vorstellungen von dem, was als »fremd« anzusehen war, und fanden ihren Niederschlag in Charakterisierungen wie die »weißäugigen Dummköpfe« für die Bewohner der Region Perm oder die »Großohren« aus Jaroslawl (Kingston-Mann 1991b: 15). Die Landkommune war dabei keinesfalls die einzige Referenzeinheit territorialer Identität – rodnoj kann sich je nach Kontext auf Bezugsräume von einem einzelnen Dorf bis zum gesamten russischen Staat beziehen – doch sicherlich die alltagsweltlich Wichtigste. Der soziale Ort der Aushandlung dieser aktiven Problemlösungen, der inhaltlichen Bestimmung von »eigen« und »fremd« war die kommunale Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit war selbstverständlich alles andere als eine »bürgerliche« im Habermas’schen Sinn, von dessen sozialhistorischer Analyse (Habermas 1990) der Begriff heute kaum mehr zu trennen ist. Sie konstituierte sich nicht als Form der Interaktion im nationalen Maßstab, es fehlte ihr das emanzipatorische Moment, das sowohl auf kultureller Kompetenz wie auch auf wirtschaftlicher Unabhängigkeit basierte und sie war nicht einmal »öffentlich« insofern, als sich im zahlenmäßig überschaubaren Kreis einer Landkommune keine wirklich Fremden begegneten; »kommunale Halböffentlichkeit« ist deshalb vielleicht eine treffendere, wenn auch umständliche Bezeichnung. Doch diese Halböffentlichkeit besaß mit ihrem westeuropäisch-bürgerlichen Pendant eine entscheidende Gemeinsamkeit: Sie war ein allgemein zugängliches Forum des Informationsaustausches – mit den im zweiten Kapitel genannten Zugangsbeschränkungen, was die reguläre Versammlung der Kommunenmitglieder anbelangt – und ein Medium der Konsensfindung für eine Gruppe von Haushalten (»Produ-
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zenten«), der in der Person des Gutsherren oder seines Verwalters dieselbe Rahmen setzende Macht und somit ein Adressat für die Artikulation gemeinsamer Interessen gegenüberstand. 2 Die kommunale Halböffentlichkeit war allerdings nicht nur das Forum, in dem Positionen formuliert wurden, die dann ein Versammlungsvorsitzender oder gewählter Gutsverwalter als Repräsentant nach außen zu vertreten hatte, sondern sie schuf zugleich die Grundlage für Kontrolle nach innen, auch im Sinn einer Erfüllung der den Gemeinden auferlegten Verpflichtungen. Die Habermas’schen Bezugspunkte von Öffentlichkeit verschmelzen in diesem Fall also mit administrativen und exekutiven Funktionen. Diese Bereiche trennen zu wollen oder sie gar als exklusiv anzusehen – entweder Interessenvertretung nach außen, Selbstverwaltungs- oder Ausführorgan – würde den Blick auf die »Existenz des Politischen innerhalb der Dorfgemeinschaften« (Moon 1999: 230) verstellen. Die Idealisierung einer »Dorfdemokratie« ist keineswegs eine notwendige Konsequenz dieser Feststellung. Geschlecht, Alter, Vermögen sowie persönliche Beziehungen waren bekanntermaßen wichtige Kriterien der ungleich verteilten Chancen auf Interessendurchsetzung in kommunalen Aushandlungsprozessen; Moon selbst spricht an anderer Stelle explizit von einer »Dorfoligarchie« (1999: 232). Vielmehr wird damit nur darauf verwiesen, dass die bestehenden Spielräume für die eigenständige Regelung kommunaler Angelegenheiten weder eine direkte Verbindung von externen Vorgaben noch von den nur vermeintlich homogenen Interessen der Haushalte hin zu konkreten Entscheidungen und Praktiken erlauben. ›Dazwischen‹ lagen oft langwierige Aushandlungsprozesse, die »Felder verdichteter Kommunikation mit porösen Grenzen [Hervorheb. P.L.]« (Peters 1994: 56) konstituierten. Bauernunruhen wie die »Nüchternheitsbewegung« 1858–59 (Christian 1991) oder die Gründung eines nationalen »Bauernbundes« 1905 (s.u.) zeigen, dass eine lokale Organisationsstruktur mit überregionaler Vernetzung Hand in Hand gehen konnte und im Zuge der zunehmenden Integration des ländlichen Raumes in nationale, politische und wirtschaftliche Zusammenhänge auch immer bedeutender wurde. Wie diese »Aushandlungsprozesse« tatsächlich ablaufen konnten, in welcher Weise die Landkommunen einen eigenen »Rechtsraum« konstituierten und inwieweit die kommunalen Halböffentlichkeiten in eine nationale russische Öffentlichkeit integriert waren, soll im Folgenden anhand von drei Beispielen veranschaulicht werden: Den 2 | Habermas’ Einwände gegen die Verwendung des Öffentlichkeitsbegriffs im feudalen Kontext beziehen sich primär auf Versuche, den Gegensatz zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit auf die Feudalherren selbst zu beziehen. Hingegen sieht er in genossenschaftlichen Elementen wie der Allmende oder dem Dorfbrunnen, sofern sie sich unter feudalen Produktionsverhältnissen überhaupt behaupten konnten, durchaus eine Entsprechung zum klassischen »locus publicus«, dem das Private als »Sonderinteresse« gegenüberstand (Habermas 1990: 58ff).
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Verhandlungen einer Kommune mit ihrem Gutsherren über die Höhe der Abgaben, der bäuerlichen Selbstjustiz und der politischen Interessenvertretung gegenüber staatlichen Institutionen. Kommune und Gutsherr: Die Spielräume für eine eigenständige Politik zur Regelung kommunaler Angelegenheiten mit dem Gutsherren waren keineswegs überall gleich groß. Sie hingen von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren ab, nicht zuletzt vom persönlichen Verwaltungsstil eines Adeligen – Samarin, einer der größten Grundbesitzer in Russland, führte beispielsweise in seinen Ländereien im späten 18. Jh. äußerst detaillierte Regelungen und Kontrollen ein, die sein Sohn für kontraproduktiv hielt und wieder abschaffte. Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass auf kleinen Gütern, auf denen sich die Eigentümer häufiger persönlich aufhielten, die Entscheidungsbefugnisse der Kommunen wesentlich geringer waren als auf den Besitztümern eines Grafen Šeremet’ev, dem 1859 ungefähr 150.000 Bauern (männliche Arbeitskräfte im arbeitsfähigen Alter) auf über ganz Russland verteilten Ländereien gehörten. Grundsätzlich nahm im Verlauf des 19. Jh. die Zahl der Landeigentümer ab und der Landbesitz wuchs, so dass eine immer größere Anzahl von Kommunen ihre Feudalherren nur selten zu sehen bekam. Um 1850 gehörten 42 % der Bauern einem Eigentümer, der insgesamt mehr als 500 Bauern besaß, und nur noch 20 % waren Gutsbesitzern mit weniger als 100 Bauern Gesamteigentum abgabepflichtig. Zwischen einem Drittel und der Hälfte aller Adeligen hielten sich im 19. Jh. zumindest zeitweise auf ihren Ländereien auf, was im Rückschluss aber nicht bedeutet, dass im selben Anteil von Kommunen auch Lehensherren anwesend waren, da die meisten Adeligen ja mehrere Güter besaßen (Moon 1999: 202ff). Das Gut Manuilovo in der Provinz Tver wurde von seinem Eigentümer, dem Grafen Gagarin, so gut wie nie aufgesucht.3 Hier lebten zu Beginn des 19. Jh. ungefähr 1.000 Leibeigene, die selbst einen Verwalter wählten, der Gagarin rechenschaftspflichtig war und mit Hilfe eines Schreibers die Korrespondenz mit dessen Büro in Moskau abwickelte. Die erhaltenen Briefe, Petitionen, Berichte, Direktiven und Statistiken sind eine Quelle, aus der anschaulich hervorgeht, mit welchen Argumenten, aber auch ungleichen Durchsetzungspotenzialen zwischen der Dorfgemeinschaft – manchmal auch einzelnen Leibeigenen – auf der einen und dem Eigentümer auf der anderen Seite um die Zahlung der Abgaben verhandelt wurde. Inwieweit diese Dokumente in wirtschaftlicher Hinsicht tatsächlich die realen Verhältnisse widerspiegeln, ist fraglich, da meist ein sich abzeichnender Konflikt der Anlass für einen Schriftwechsel war, in dem Interessen taktisch klug formuliert werden mussten. Doch genau darin besteht ihr Wert als Quelle 3 | Das folgende Beispiel ist der Arbeit von Bohac (1991) entnommen, um der besseren Lesbarkeit willen wurde auf den Nachweis von Seitenzahlen im Einzelnen verzichtet.
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für die Analyse von Ansprüchen, zugeschriebenen Verantwortlichkeiten und Legitimitätsvorstellungen. Sie lassen die Intensität der vorausgehenden Abstimmungsprozesse innerhalb der Dorfgemeinschaft insbesondere angesichts der im zweiten Kapitel bereits erwähnten Bedeutung des Einstimmigkeitsprinzips erahnen, können jedoch leider keinen Aufschluss über deren konkreten Verlauf geben, da darüber selbstverständlich nicht Protokoll geführt wurde. »Vom Gutsverwalter und der gesamten Landkommune« lautete normalerweise der Anfang aller Schriftstücke, die nach Moskau geschickt wurden. In dieser Formulierung kommt zum Ausdruck, dass die Bauern nach außen als Kollektiv auftraten und ihnen diese Rolle auch zugeschrieben wurde; Gagarin selbst war ausdrücklich der Ansicht, die Kommunen sollten echte Gemeinschaften mit Zielen sein, für die sie auch gemeinsam arbeiteten. Zudem dürfte der Verwaltung aus rein pragmatischen Gründen wenig daran gelegen gewesen sein, mit einzelnen Haushalten oder Gruppen verhandeln zu müssen, obwohl auch das vorkam. Eine 100 Jahre jüngere Charakterisierung »des russischen Bauern« – der Singular entspricht dem Original – durch einen Adeligen als »Tier in der Herde«, das nicht versteht, dass »das Eigentum eines anderen heilig ist« (Frank 1999: 9) legt die Wurzeln dieser Haltung offen: Wo das Verhalten des Einzelnen nur dem aller anderen entspricht und Eigentum als Grundkategorie des Privaten fehlt, kann auch nicht von »Individuen«, sondern nur von einem »Kollektiv« die Rede sein. Inwieweit »vom Gutsverwalter und der gesamten Landkommune« allerdings nur als Leerformel gebraucht wurde, die nicht einen wirklichen Konsens zum Ausdruck brachte, sondern dazu diente, durchsetzungskräftige Partikularinteressen zu verschleiern, muss offen bleiben. In Manuilovo verteilten die Bauern die Abgabenlast selbstständig auf die einzelnen Haushalte, denen damit auch die individuelle Verantwortung für eine termingerechte Zahlung übertragen wurde. Probleme begannen erstmals in den Jahren zwischen 1810 und 1814 aufzutreten, als der Graf seine Geldforderungen massiv erhöhte, was dazu führte, dass 1817 bereits 40 % der Haushalte mit der Zahlung ihrer Schulden in Verzug waren. Interessanterweise nehmen die ersten schriftlichen Versuche, die Abgabenlast zu senken, auf die Erhöhungen gar nicht Bezug, sondern betonen die schlechte Bodenqualität und die Notwendigkeit, aufgrund des Holzmangels Geld für Baumaterialien ausgeben zu müssen. Tatsächlich reduzierte Gagarin daraufhin die zu zahlende Summe von ursprünglich vorgesehenen 9 bis 12,50 Rubel pro Kopf auf 7,50 Rubel, ließ jedoch zugleich einen neuen Zensus durchführen, um das tatsächliche Abgabenpotenzial besser einschätzen zu können. Aus dem Ergebnis zog er dann den Schluss, er könne sogar 20 Rubel pro Kopf verlangen, 4 wogegen die Bauern heftig protestierten. 17,80 4 | Gagarin scheint die Höhe der Abgabensumme zwar von der Mitgliederzahl der Kommune abhängig gemacht zu haben, berücksichtigte dabei aber offensichtlich
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Rubel stellten aus der Sicht des Grafen schließlich einen »Kompromiss« dar, auf dessen Einhaltung er auch im folgenden Jahr trotz einer schlechten Ernte bestand. Allein die Schwankungsbreite der hier diskutierten Beträge verdeutlicht, wie »viel« es tatsächlich zu verhandeln gab. Kontroverse Diskussionen innerhalb der Dorfgemeinschaft dürften Gagarins Entscheidung im Jahr 1812 ausgelöst haben, Listen von arbeitsfähigen Männern erstellen zu lassen, die den Sommer über auf anderen Ländereien als Waldarbeiter oder Schreiner arbeiten könnten, um vom Verdienst ihre Schulden abzubezahlen. Der Widerstand der Bauern artikulierte sich in einem typischen Rückgriff auf die »Waffen der Schwachen« (Scott 1985): Um den Arbeitskräfteverlust zu reduzieren, wurden auf die Listen immer wieder Kinder und Alte gesetzt, die für die vorgesehenen Tätigkeiten offensichtlich nicht geeignet waren. Dass deren Erstellung in der Kommune ein enormes Konfliktpotenzial barg, ist angesichts des permanenten Mangels an Arbeitskräften unschwer nachvollziehbar. Der Gutsverwalter stellte sich in dieser Angelegenheit klar auf die Seite der Bauern, befand sich jedoch hier wie auch in vielen anderen Fällen in einer unangenehmen Zwischenstellung: Fielen die Ergebnisse der Verhandlungen aus der Sicht der Kommunenmitglieder nicht befriedigend aus oder traten anderweitig Probleme auf, so konnte er dafür verantwortlich gemacht und abgewählt werden, auch wenn seine Einflussmöglichkeiten in Wirklichkeit sehr begrenzt waren.5 Acht Tote im Krieg gegen Napoleon, die Konfiszierung von Heu durch das Militär sowie eine hohe Inflation führten beispielsweise dazu, dass in Manuilovo zwischen 1810 und 1820 acht Mal neue Verwalter gewählt wurden, weil sich die Gemeinde davon Verbesserungen in einer allgemein schwierigen Situation erhoffte. In den 1820er Jahren brachten mehrere aufeinander folgende Missernten die Bauern in eine Situation, die es erforderlich machte, sich von sich aus an Gagarin zu wenden, an seine Verantwortung und patrimoniale Rolle zu appellieren und um Saatgut zu bitten. Der Graf ging darauf ein, sandte Getreide und Mehl, und brachte bei dieser Gelegenheit – sicherlich nicht aus reinem Altruismus – seine Auffassung von der Kommune als einem auch die Anzahl der Personen im arbeitsfähigen Alter. Anders ist kaum zu erklären, warum ihn ein Zensus dazu brachte, pro Person und nicht insgesamt mehr zu verlangen. 5 | Ein anderes anschauliches Beispiel für die Loyalitätskonflikte, in denen sich gewählte Bauernvertreter häufig befanden, gibt Seregny (1991: 361): In einem Kreis des Gouvernements Vladimir hatte der liberale Adlige Bunin 1904 einen Vorschlag in der zemstvo-Versammlung zur Abstimmung gebracht, der darauf abzielte, die Steuer- und Abgabenlast für die Bauern zu verringern. Viele der Vertreter der Bauernschaft stimmten dagegen, da sie sich dem Druck seitens der Adligen und der staatlichen Verwaltung nicht gewachsen sahen, entschuldigten sich aber nach der Versammlung persönlich bei Bunin.
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Kollektiv gleich gestellter Mitglieder sehr deutlich zum Ausdruck: Es müsse gewährleistet sein, dass die reicheren Bauern diese Lieferung nicht auf dem Markt verkauften, dass bei der Aufstellung der Listen arbeitsfähiger Männer für Tätigkeiten auf anderen Gütern Reiche und Arme gleich behandelt würden, dass die Kommune die Altschulden von Haushalten übernehme, die aufgrund des Fehlens von Arbeitskräften inzwischen gar nicht mehr belastet wurden, und dass das Land von Familien, die ihren einzigen arbeitsfähigen Mann zu einem Arbeitseinsatz auf ein anderes Gut geschickt hatten, von der Gemeinde mit gepflügt werde. Die konkrete Umsetzung (oder auch Missachtung) dieser Richtlinien oblag jedoch der Gemeinde und erzeugte ohne Zweifel erheblichen Abstimmungsbedarf. Gleichzeitig erhöhte Gagarin aber massiv den Druck auf die Bauern: Er hielt ihnen in einem Schreiben einen höheren als den tatsächlichen Schuldenstand vor, ließ einen neuen Zensus erstellen, folgerte, dass alle Haushalte, die bislang niemanden zu Arbeiten auf andere Ländereien geschickt hatten, ganz offensichtlich reich genug sein müssten, um ihre Schulden im Lauf eines Jahres zu bezahlen, und verlangte ultimativ, ihm 200 Arbeiter für einen Einsatz außerhalb der Kommune zur Verfügung zu stellen. Der Verwalter schilderte daraufhin in seiner Antwort drastisch, dass angesichts dieser Auflagen einige Familien im Winter verhungern würden, und erreichte tatsächlich eine Reduktion der Zahl geforderter Arbeitskräfte; zwei Haushalte erhielten außerdem auf individuelle Bitten hin erneut Kredite in Form von Mehl. Aber erstmals begann Gagarin nun, auch seinem Verwalter persönlich zu misstrauen, was eine Entwicklung einleitete, die zumindest vorübergehend zu einer radikalen Reduktion der lokalen Handlungsspielräume führte. Die ständig steigenden Schulden sowie der Zwang, eine immer größere Zahl von Männern zur Arbeit auf andere Güter zu schicken, ließ zugleich nämlich auch die Kommune zunehmend unzufrieden mit ihrem derzeitigen Verwalter werden. 1825 und 1826 schickte eine Gruppe von Bauern Briefe an Gagarin, in denen Vorwürfe gegen ihn erhoben wurden, die von Trunkenheit über Unterschlagung bis hin zur angeblich unbegründeten körperlichen Züchtigung einer Bäuerin reichten. Diese Anschuldigungen schienen Gagarins Misstrauen zu bestätigen und sind ein Zeichen dafür, dass die dörflichen Institutionen nicht mehr in der Lage waren, einen kommunalen Konsens herzustellen, der ein geeintes Auftreten nach außen ermöglicht hätte. Zwar stellte sich, nachdem Gagarin zwei Inspektoren zur Untersuchung des Falles in das Dorf geschickt hatte, heraus, dass die Anschuldigungen frei erfunden waren und der Dorfschreiber von sieben Bauern zum Verfassen der Briefe gezwungen worden war, aber die Situation war mittlerweile so verfahren, dass Gagarin es für nötig hielt, mit drakonischen Strafen seine Autorität wieder herzustellen. Was nun folgte, bewirkte zumindest vorübergehend den Zusammenbruch der kommunalen Entscheidungsautonomie. Die Inspektoren be-
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gannen persönlich von Haus zu Haus zu gehen und alles Bargeld einzusammeln, ein Teil der Bauern wurde gezwungen ihre Höfe zu verlassen und den Sommer über in St. Petersburg zu arbeiten und ein Beamter aus Moskau wurde als Aufseher dauerhaft in die Kommune geschickt. 1827 siedelte Gagarin dann 21 Haushalte auf ein anderes Gut bei Moskau um und verlangte von zwei Dritteln der verbleibenden Familien, ihre Schulden in Zukunft nicht mehr zu bezahlen (obrok), sondern direkt auf dem Land ihres Besitzers abzuarbeiten (barščina).6 Die Gemeinde hatte nun die Möglichkeit verloren, direkt mit Gagarin in Kontakt zu treten, um ihre Anliegen vorzubringen. Zudem griff der neue Aufseher sogar in so tief im bäuerlichen Alltag verankerte Institutionen ein wie das Heiraten, indem er ledige Frauen zur Optimierung des Arbeitspotenzials zwangsvermählte. Die Entwicklungen auf dem Gut Manuilovo während eines vergleichsweise kurzen Zeitraums von nur 20 Jahren zeigen, dass nicht nur die regionale Vielfalt, sondern auch der zeitliche Wandel generalisierende Aussagen über den Grad lokaler Autonomie unmöglich macht. Zwangsumsiedlungen, die Umstellung von finanziellen Abgaben auf streng reglementierte und überwachte Arbeitsdienste sowie die Präsenz eines eingesetzten Aufsehers, aber auch interne Rivalitäten konnten die Handlungsspielräume massiv einschränken und die kommunale Halböffentlichkeit als Forum der Integration, Konsensfindung und Kontrolle fast bedeutungslos werden lassen. Doch auch in Manuilovo scheint man nach der Abreise des von Gagarin bestellten Aufsehers bald wieder zur alten Rolle zurück gefunden zu haben. Romanov, der bereits 1822 erstmals zum Verwalter gewählt worden war, trat dieses Amt erneut an und schon im Jahr 1829 lassen Schreiben an den Grafen auf die Wiederaufnahme echter Verhandlungen über kommunale Angelegenheiten schließen. So wurde im Namen der Gemeinde die Rückgabe einer früher abgetretenen Parzelle erbeten, um Unterstützung für den Freikauf junger Männer vom Militärdienst ersucht oder darauf hingewiesen, man könne nicht alleine für die Rückreisekosten der Frau von Gagarins Aufseher nach Moskau aufkommen. Bäuerliche Selbstjustiz: Es liegt in den Machtverhältnissen und dem Interessengegensatz zwischen Eigentümer und Kommune sowie in der Funktion der Schriftwechsel begründet, dass sie zwar die aktive Rolle der Gemeinde belegen, aber wenig über deren Zustandekommen als Ergebnis interner Strategiediskussionen aussagen. In einigen der Berichte über die zahlreichen Fälle bäuerlicher Selbstjustiz ist dies anders.7 Bei deren Interpretation besteht allerdings die Gefahr, dass der teilweise grausame 6 | Diese Umstellung mag wohl als Strafmaßnahme Wirkung gezeigt haben, erwies sich finanziell aber offensichtlich als wenig effektiv, denn sie wurde bereits 1829 wieder rückgängig gemacht. 7 | Alle folgenden Beispiele für Strafpraktiken entstammen den Arbeiten von Frank (1987; 1999), Lewin (1985) und Worobec (1985; 1987; 1991).
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Charakter dieses Phänomens dazu führt, den in vieler Hinsicht bezeichnenderen alltäglichen Disziplinierungsmaßnahmen weniger Bedeutung beizumessen. Strafpraktiken wie beispielsweise das Verbrennen von Frauen mit angeblich »magischen Kräften« in vernagelten Häusern, die Tötung von Pferdedieben durch wiederholtes Hochziehen an einem Seil und Fallen lassen auf das Steißbein oder Folter durch Einführen von Gegenständen mit Widerhaken in den Anus sind Extrembeispiele, in denen das kommunale Rechtsempfinden aber keineswegs klarer zum Ausdruck kommt als in der einfachen öffentlichen Bloßstellung. Schließlich darf auch nicht übersehen werden, dass die Kommunen abgesehen von illegalen Formen der Selbstjustiz ganz offiziell über so machtvolle Instrumente zur Aufrecherhaltung oder Wiederherstellung ihres sozialen Zusammenhalts wie die Deportation von Straftätern nach Sibirien verfügten – von »mehreren Hunderttausend« unfreiwillig Exilierten im letzten Viertel des 19. Jh. war die Hälfte nicht von der Zentralregierung, sondern von ihren eigenen Dorfgemeinden vertrieben worden (Eklov 1988: 67)! Die etablierten Praktiken bäuerlicher Selbstjustiz sind im Hinblick auf die Konstitution der kommunalen Halböffentlichkeit in mehrfacher Hinsicht besonders aufschlussreich. Erstens liefern sie Hinweise auf die Eigenheiten einer bäuerlichen Lebenswelt, deren Rechtsempfinden sich an einem wirtschaftlichen und sozialen Alltag orientierte, dem die staatliche Gerichtsbarkeit offenbar nicht Rechnung trug. Nicht zufällig wandte man die brutalsten, oft tödlichen Strafpraktiken bei Pferdediebstahl an, wurde dadurch doch die unmittelbare Überlebensfähigkeit eines bäuerlichen Haushaltes bedroht, ohne dass eine der Schwere des Vergehens entsprechende Strafe von den offiziellen Gerichten zu erwarten war (Frank 1987: 257ff; Frank 1999: 87, 93; Worobec 1987: 282ff). Was wie eine retrospektiv-funktionale Verknüpfung zwischen »Notwendigkeiten« und »Handlungsstrategien« wirken mag, belegen reflektiert-rationale Überlegungen der Bauern selbst: Einem Pferdedieb in einem Dorf des Gouvernements Pskov wurden von den Bauern die Beine verkrüppelt, damit er »weniger auf Höfen anderer herumspazieren« könne, nachdem man gemeinsam ausführlich erörtert hatte, dass bei einer Auslieferung an die Behörden die Strafe wohl zu gering ausfallen würde (Worobec 1987: 286). Zweitens bestätigen Praktiken der Selbstjustiz die Bedeutung der sozialen Trennlinie zwischen Kommunenmitgliedern und Außenstehenden durch eine entsprechende Differenzierung der Strafmaßnahmen (Frank 1987: 257ff; Frank 1999: 246; Worobec 1987: 290). Drittens zeigen sie, dass die Kommune in bestimmten Kontexten für die Bauern die Funktion einer staatsähnlichen Institution mit judikativen und exekutiven Rechten erfüllen konnte, denn Selbstjustiz manifestierte sich keineswegs nur in der unkontrollierten Rache einer aufgebrachten Menge, sondern in der Mehrzahl der überlieferten Fälle trat die Dorfversammlung zusammen und entschied über das angemessene Strafmaß (Frank 1987: 244, 250).
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Viertens schließlich war Selbstjustiz als Gemeinschaftsangelegenheit nicht nur Resultat kommunaler Identität, sondern trug auch dazu bei, das Zusammengehörigkeitsbewusstsein zu reproduzieren, da die Bestrafung nicht zwischen dem Schuldigen und dem Geschädigten geregelt wurde, sondern dafür das Kollektiv die Verantwortung übernahm. Dies konnte – wie im Fall eines Pferdediebes im Gouvernement Kiew – so weit gehen, dass alle Kommunenmitglieder einschließlich der Alten und der Kinder gezwungen wurden, dem bereits leblosen Körper eines Schuldigen mit einem Knüppel einen weiteren Schlag zu versetzten um sicherzustellen, dass die Bestrafung kollektiven Charakter erhielt und niemand dafür individuell für schuldig erklärt werden konnte (Worobec 1987: 289). Alle vier Aspekte verdeutlichen die Schwierigkeit der Integration und Auflösung lokaler Öffentlichkeiten in nationalen Institutionen. Dennoch ist der Bereich »Recht« insgesamt nicht dazu geeignet, die These einer wirklich strikten Trennung zwischen lokalen Gemeinschaften und staatlichem Rahmen zu stützen. Vielmehr lebten die Bauern im 19. Jahrhundert in zwei parallelen Rechtswelten (Lewin 1985: 5), die sich manchmal überlagerten, manchmal widersprachen und oft situationsspezifisch unterschiedlich relevant wurden. Der folgende aus dem Gouvernement Orël vom Ende des 19. Jh. überlieferte Fall bringt dies anschaulich zum Ausdruck: 8 Die Bäuerin Anna Akuličeva wurde beschuldigt, ein Stück Leinen gestohlen zu haben, und sollte dafür mit einer ritualisierten öffentlichen Erniedrigung bestraft werden. Man nahm ihr das Kopftuch ab, teerte ihr Hemd und band ihr eines ihrer eigenen Leinentücher als Symbol für den Diebstahl um. Dann fesselte man sie an einen Wagen und führte sie durchs Dorf, wobei mit lauten Beschimpfungen und dem Schlagen auf Ofenrohre die allgemeine Aufmerksamkeit erregt wurde. Schließlich verließ der Zug das Dorf und durchquerte den nahe gelegenen Fluss, dessen Strömung Akuličevas Hemd symbolisch reinigte. Normalerweise wäre der Fall damit beendet gewesen und einem Gerechtigkeitsempfinden genüge getan worden, das primär immer restitutiven und nicht strafenden Charakter besaß, da es auf eine Reintegration der Schuldigen in die Gemeinschaft abzielte (Frank 1999: 96). Doch die gedemütigte Akuličeva – möglicherweise hatte man sie tatsächlich zu Unrecht beschuldigt – war offensichtlich nicht bereit, sich mit dieser Strafe einfach abzufinden. Auf dem Weg zurück ins Dorf entriss sie einem der Vertreter der Kommune seine Peitsche und schlug damit wild um sich. Der Androhung des Gemeindevorstehers, sie unter Arrest zu nehmen, entkam sie und berichtete dem Landhauptmann des Distrikts von dem Vorfall. Dieser verhaftete den Gemeindevorsteher und berief eine Versammlung aller Kommunenmitglieder ein um darauf hinzuweisen, dass derartige Streitfälle von offiziellen Gerichten und nicht von den Bauern selbst zu 8 | Nach Worobec (1991: 5f).
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verhandeln seien. Wenige Dekaden früher wären ähnliche Beschwerden wohl ohne Wirkung geblieben, aber das Amt des Landhauptmanns war 1889 ausdrücklich im Zuge verstärkter Bemühungen geschaffen worden, die Bauern einer stärkeren zentralen Kontrolle zu unterwerfen. Dieses Beispiel zeigt zwar, dass den Handlungsspielräumen der Kommune durch die Anrufung externer Instanzen Grenzen gesetzt werden konnten. Doch die Reaktion darauf macht auch klar, dass Einmischung von außen nicht das Ende der kommunalen Autonomie war: Die Tatsache, dass Akuličeva in einer eindeutig als »intern« angesehenen Angelegenheit die Hilfe staatlicher Instanzen angerufen hatte, wurde wohl als ein wesentlich schwerwiegenderer Normenverstoß angesehen als der Diebstahl des Leinens. Jedenfalls trat die Versammlung erneut zusammen und beschloss, dass die Bäuerin erst nach einer massiveren Züchtigung als der vorangehenden öffentlichen Erniedrigung wieder in die Gemeinde aufgenommen werden könne und beauftragte ihren Mann, der bislang ohne Erfolg versucht hatte, mäßigend auf seine Frau einzuwirken, sie auf dem Dorfplatz auszupeitschen. Doch die Beschuldigte war noch immer nicht gewillt, sich dem Urteil der Gemeinde in vollem Umfang zu beugen und versteckte ihr Hab und Gut in der Erwartung, Kompensation leisten zu müssen. Dieser anhaltende Widerstand machte eine Reintegration schließlich unmöglich; Akuličeva verlor auch die Unterstützung ihrer eigenen Familienangehörigen und wurde aus der Kommune verstoßen. Politische Interessenvertretung: Wie in Westeuropa die Entwicklung des Strafrechts in engem Zusammenhang mit der Entstehung eines verletzbaren national-öffentlichen und nicht nur privaten Interesses stand (Frank 1999: 95), so wurde die Persistenz des Gewohnheitsrechts in den Landkommunen entscheidend dadurch gestützt, dass staatliche Institutionen ›kommunal-halböffentlichen‹ Belangen im ländlichen Raum nur wenig Beachtung schenkten;9 kollektive Verantwortlichkeit, daraus resultierende gemeinsame Interessen und juristische Autorität waren eng aufeinander bezogen. Dabei wurde die Trennlinie zwischen den kommunalen Halböffentlichkeiten und einer im Werden begriffenen nationalen Öffentlichkeit wechselseitig gezogen: Wie die Bauern den Staat nicht als Ort ansahen, an dem ihre Belange Gehör fanden, 10 so besaß der Begriff »Gesellschaft« – obščestvo –, wie er in gebildeten Kreisen im Russland des 19. Jh. benutzt wurde, zwar einen nationalen Bezugspunkt, schloss aber die Bauern nicht mit ein (Kotsonis 1999: 13), für die man narod – »Volk«, hier im Sinn von 9 | Selbstverständlich gab es Ausnahmen: 1880 reagierte der Staat beispielsweise mit einer verschärften Gesetzgebung gegen Pferdediebstahl auf die diesbezügliche Unzufriedenheit der Bauern (Worobec 1987: 284). 10 | Auf die ambivalente Rolle des Zaren oder vielmehr der bäuerlichen Zarenverehrung, die in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick paradox wirkt, kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu Field (1976).
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»gemeines Volk« – verwendete (Field 1976: 4). Doch je mehr radikale und liberale Gruppierungen die russische Bevölkerung als eine »im Entstehen begriffene, wenn nicht gar bereits existierende Nation« (Haimson 1988: 2) ansahen und eine Idee von Gemeinwohl entwickelten, die die Bauern mit einschloss, desto häufiger wurden die zemstvo-Organe für die Landkommunen zu Kristallisationspunkten überregionaler Vernetzungen. Das Ende der Leibeigenschaft, die zunehmende Arbeitsmigration, die Einrichtung der Institution des Landhauptmanns, der steigende Anteil von Lehrern und Intellektuellen im ländlichen Raum sowie die Rückkehr von Bauern aus dem Krieg mit Japan förderten diese Tendenz und führten dazu, dass nationale Fragen in Form von Informationen, Gesetzen und wirtschaftlichen Entwicklungen immer stärker Eingang in die Landkommunen fanden und die politische Interessenvertretung gegenüber staatlichen Institutionen stimulierten. Die spektakuläre Gründung eines nationalen »Bauernbundes« im Verlauf weniger Monate, dem es dann im Jahr 1905 gelang, mehrere hunderttausend Bauern zu mobilisieren, kann als Bestandteil dieser Entwicklung gesehen werden. Inwieweit die Bauernunruhen der Jahre 1905–06, deren allgemeine politische Mobilisierung zur Gründung des Bauernbundes führte, in erster Linie ein lokales Phänomen waren, dessen Wurzeln im bäuerlichen Alltag zu suchen sind oder von nationalen Utopien getragen waren, ist umstritten. Shanin (1986: 138ff), für den die in den Protesten zum Ausdruck kommenden Ziele entscheidend sind, gelangt zu der Überzeugung, dass keine der politischen Parteien und Gruppierungen wirklich in der Lage war, den bäuerlichen Unmut für die Unterstützung der Vision eines wie auch immer gearteten Systemwechsels zu nutzen und folgert: »1905–07 folgten die Bauern in erster Linie ihren eigenen Vorstellungen und nicht denen radikaler Intellektueller oder des Proletariats« (Shanin 1986: 169). Dem widerspricht Bushnell (1987: 83) vehement: Eine »Fehlinterpretation der Ursachen der Rebellion 1905 und 1906« sei die notwendige Voraussetzung dafür, diese These überhaupt aufstellen zu können, und verbaue Shanin den Weg zur offensichtlichen Schlussfolgerung, dass »die Bauernunruhen durch Ereignisse außerhalb der bäuerlichen Gemeinschaft ausgelöst wurden.« Die substantiellen Unterschiede in den Positionen Shanins und Bushnells sind unverkennbar. Doch zumindest in Teilen ist diese Kontroverse von Missverständnissen geprägt, die für die Frage der überregionalen Integration kommunaler Halböffentlichkeiten entscheidend sind. Wenn Shanin der Ansicht ist, die Ziele der Bauern entstammten unmittelbar deren eigenen Alltagserfahrungen, so heißt dies nicht, dass auch die Organisation des Protests ohne externe Unterstützung möglich gewesen wäre. Shanins Argumentation liegen zwei Hauptthesen zugrunde: Erstens hätten sich die Bauern weder von Sozialrevolutionären noch von Sozialdemokraten oder Sozialisten vereinnahmen und instrumentalisieren lassen, obwohl alle diese Gruppen die Unruhen im ländlichen Raum gerne als Teil ›ihrer‹
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Bewegung darstellten, und zweitens sei ihnen zwar an einer Veränderung der Machtverhältnisse in den Gemeinden oder Kreisen gelegen gewesen, nicht jedoch an einem nationalen politischen Umsturz – die Person des Zaren blieb für die Bauern integer und selbst einem Boykott der Wahlen zur ersten Duma 1906 wollten sie sich nicht anschließen. Zu der empirischen Beobachtung, dass Intellektuelle und liberale Adlige in den Bauernunruhen im Allgemeinen und für die Gründung des nationalen Bauernbundes im Speziellen eine wichtige Rolle spielten, stehen diese Thesen nicht zwangsläufig im Widerspruch, wie ein Beispiel aus dem Kreis Jur’ev im Gouvernement Vladimir zeigt. 11 In Jur’ev hatte sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jh. bereits ein erhebliches Protestpotenzial aufgestaut. Die zemstvo-Behörden waren hier von besonders konservativen Adeligen dominiert und hatten sich weder wie in anderen Kreisen um den Ausbau des Schulwesens gekümmert noch eine Reform des Steuersystems unterstützt, das die Bauern überproportional belastete. Vom Statistiker des Kreises sind Klagen der Bauern über den Mangel an Wiesen und Weiden überliefert; insbesondere die Tatsache, dass sich die Wälder im Besitz des Adels oder privater Eigentümer befanden und zunehmend kommerziell genutzt wurden, während es für die Bauern immer schwieriger wurde, Holz zu bekommen, verletzte deren Rechtsempfinden. All diese schon damals schriftlich festgehaltenen Gründe für die anwachsende Unzufriedenheit bezogen sich ganz unmittelbar auf die Lebensverhältnisse vor Ort. Die Ankunft des Adeligen Bunin als stellvertretender zemstvo-Vorsitzender um die Jahrhundertwende sorgte schlagartig für eine Erschütterung des etablierten Machtgefüges. Bunin war der Ansicht, dass die staatliche Wirtschafts- und Finanzpolitik sowohl die Gutsbesitzer wie auch die Bauern in den Ruin treibe, und begann sofort damit, die bislang stabile Front der Konservativen dadurch herauszufordern, dass er sowohl deren Schul- wie auch die Steuerpolitik in Frage stellte. Die aufgrund der Urbanisierung exorbitant in die Höhe geschossenen Holzpreise hatten die bereits in den 1860er Jahren festgelegten Steuersätze immer ungerechter werden lassen und so forderte Bunin eine Überarbeitung der Berechnungsgrundlage, wohl wissend, dass dies die Belastung des Adels um ein Vielfaches erhöht hätte und deshalb enormes Konfliktpotenzial barg. Durch Artikel in Lokalzeitungen machte er sein Anliegen publik – der Konflikt mit Japan hatte dazu geführt, dass die Bauern Zeitungen als Informationsmedien viel intensiver nutzten als noch wenige Jahre zuvor – und 1904 gelang es ihm in der zemstvo-Versammlung eine geheime Abstimmung über diese Frage 11 | Vgl. Seregny (1991: 357ff); dort wird auch ein zweites Fallbeispiel aus dem Gouvernement Char’kov geschildert, das dieselben Grundmuster erkennen lässt; die für die Organisation der Bauernbewegung entscheidende Persönlichkeit war in diesem Fall ein russischer Remigrant aus den USA.
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zu erzwingen, die er allerdings verlor. Zugleich erhob er schwere Vorwürfe gegen die Behörden, ihre Amtspflichten zu vernachlässigen, oft überhaupt nicht im Dienst zu erscheinen und die Gehälter der Lehrer nicht rechtzeitig auszubezahlen. Bunin hatte sich damit als Anwalt der Bauern profiliert und begann nun mit einem spektakulären Schritt, diese auch direkt politisch zu mobilisieren. Auf seinem eigenen Gut überschrieb er im Frühjahr 1905 jedem Haushalt »angesichts der Unangemessenheit der Parzellen«, die von seinen Vorfahren zur Verfügung gestellt worden waren, eine Desjatine des besten Landes. Außerdem verfasste er einen offenen Brief an den Adelsmarschall, in dem er erneut die Forderung nach einer gerechteren Besteuerung des Bodens erhob und den lokalen Behörden Blockadepolitik vorwarf. Dieser Brief wurde in über 1.000 Exemplaren gedruckt und an die Bevölkerung verteilt. Er war der Auslöser für eine Protestwelle bei den Bauern, in der sich die lange aufgestaute Unzufriedenheit jetzt entlud. Geldverschwendung durch die zemstvo-Behörden, private Nutzung der Pferde durch Angestellte, unnötige Verzögerungen bei der Behandlung im Krankenhaus, unzuverlässige Auszahlung der Unterstützung für Frauen, deren Männer im Krieg waren und eine generelle Ignoranz gegenüber den Anliegen der Bauern kamen nun offen zur Sprache. Eine offizielle Untersuchung wurde eingeleitet und bestätigte diese Vorwürfe, in denen sehr deutlich die Unzufriedenheit mit den lokalen Verhältnissen zum Ausdruck kommt, in vielen Punkten. Von einer grundsätzlichen Reform des politischen Systems aber war bis dahin offensichtlich kaum die Rede und die in manchen Kommunen erfolgende Ausrufung von »Bauernregierungen« (Shanin 1986: 103) bestätigt den Ansatz, lokale Probleme durch eine Veränderung der lokalen Machtverhältnisse beseitigen zu wollen. Mit Bunins weiterer Unterstützung begann der Protest immer stärker von den Bauern selbst auszugehen, fand formalere Ausdrucksformen und bezog sich verstärkt auf institutionelle Reformen, allerdings weiterhin primär im regionalen Rahmen. Im Juni 1905 versammelten sich die Delegierten von 19 Dörfern auf seinem Gut zu einer öffentlichen Verlesung des Briefes an den Adelsmarschall. Bei diesem Anlass riet Bunin den Bauern, auf Gewalt zu verzichten und stattdessen Petitionen an die Behörden zu richten. Er entwarf eine Art Mustervorlage, die später von 100 bis 150 Landkommunen übernommen wurde. Darüber hinaus forderten die Bauern eine außerordentliche zemstvo-Versammlung, um die Frage der Steuererhebung zu erörtern, und verlangten, dass das Budget und die behördlichen Ausgaben in Zukunft öffentlich zu machen seien. Tatsächlich wurden im September 1905 die Steuerlast umverteilt und eine generelle Revision in Aussicht gestellt, bei der Bauern als Berater mitarbeiten sollten. Im Einzugsbereich der Stadt Jur’ev-Pol’skij beschloss Bunin, die Proteste der Bauern auf eine stabilere organisatorische Basis zu stellen und einen Bauernbund zu gründen. Bezeichnend sind die Berufe derjenigen
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Personen, die Seregny (1991: 366) ausdrücklich als Helfer bei diesem Vorhaben nennt: Ein Sohn eines örtlichen Gutsbesitzers, der am Moskauer Agrarinstitut studierte, zwei Lehrer, ein Sohn eines Priesters, ein Arzt, ein Fabrikangestellter und nur wenige Bauern, die aber meist zumindest eine einfache Schulbildung besaßen oder bereits in Fabriken gearbeitet hatten. Ab Oktober 1905 fanden in den Dörfern der Gegend fast täglich Versammlungen statt, auf denen bis zu 2.000 Teilnehmer erschienen. Dort wurde ein Flugblatt des Bauernbundes mit dem Titel »Was wollen diejenigen, die unter der roten Flagge marschieren?« verteilt und Helfer Bunins riefen dazu auf, dem Bauernbund beizutreten. Erst jetzt kamen ausdrücklich auch nationale Fragen wie die Zukunft des Zaren zur Sprache und an Ministerpräsident Witte schickte man ein Telegramm mit der Forderung, sowohl den Adelsvertreter in den Gouvernementsbehörden wie auch den Gouverneur selbst zu entlassen. Der Höhepunkt des Widerstandes war damit erreicht und währte nicht lange: Im Dezember 1905 wurden die Bauernbünde zerschlagen und 1906 mussten sich Bunin und einige seiner Helfer vor Gericht verantworten, wurden aber freigesprochen. Die Entstehungsgeschichte des Bauernbundes in Jur’ev liefert ein facettenreiches Bild des Öffnungsprozesses kommunaler Halböffentlichkeiten hin zu einer nationalen russischen Öffentlichkeit. Die Wurzeln des Protestes lagen in der immer schwieriger werdenden wirtschaftlichen und sozialen Situation, deren Ursachen anfangs primär in den Verhältnissen vor Ort gesucht wurden; darauf bezogen sich die konkreten Forderungen der Bauern, ohne dass national-politische Utopien oder Ideale für die Mobilisierung nötig gewesen wären. Im Unmut über die schlechte Behandlung durch die zemstvo-Behörden deutete sich aber auch schon der Anspruch auf allgemeine Bürgerrechte an, das offene Aufbegehren gegen die Gutsherren stellte die Ständeordnung ganz allgemein in Frage und die Gründung des Bauernbundes als solche lässt das wachsende Bewusstsein für die nationale Dimension des Problems erkennen, die offensichtlich auch eine nationale Interessenvertretung erforderte. Schließlich hatte sich in der Kritik an den zemstvo-Behörden der Unmut ohnehin schon auf Strukturen bezogen, die den engeren Kreis der einzelnen Kommunen überschritten. Doch als Katalysatoren waren Personen nötig, deren Lebenswelt nicht primär aus dem Nahraum einer einzigen Landkommune bestand. Die Gründung eines nationalen Bauernbundes markiert mit Sicherheit nicht die endgültige Auflösung der kommunalen Halböffentlichkeiten. Mit einiger Berechtigung lässt sich sogar das Gegenteil vermuten: Die Unterdrückung einer überregionalen Protestbewegung, die sich selbst aufgrund der liberalen Manifeste des Zaren vom Februar und Oktober 1905 als durchaus legitim verstanden hatte, bedeutete eine enttäuschende Erfahrung im Umgang mit dem Staat und förderte den Rückzug auf die überschaubaren Verhältnisse einzelner Gemeinden (Seregny 1991: 377). Stolypins »Angriff auf die Landkommunen« 1906 jedenfalls traf bei den
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Bauern auf Widerstände und die verhältnismäßig hohe Zahl der Anträge auf Landzuteilung und Aussiedlung des Hofes darf keinesfalls als sicherer Indikator für die Bereitschaft der Kommunen gewertet werden, sich selbst aufzulösen (Pallot 1999: 248f). Auch nach der Jahrhundertwende waren Armee, Schulwesen, städtische Kultur und Stolypins Reformen noch »nicht in der Lage, die russischen Bauern zu modernen Staatsbürgern zu machen, […] die sich zur Idee einer nationalen anstatt parochialen Kultur bekannten« (Worobec 1991: 8). Vor dem Hintergrund der weiterhin fehlenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Integration des ländlichen Raumes ist auch die Zwangskollektivierung knapp 25 Jahre später zu sehen; was meist als Kampf des Staates gegen die Bauern gesehen wird, war für Stalin nur die Reaktion auf einen Krieg der Bauern gegen den Staat. 12
Egalitarismus und Kollektivismus als Praktiken der kommunalen Halböffentlichkeit Wenn von bäuerlichem Egalitarismus und Kollektivismus die Rede ist, so stützt sich diese Charakterisierung meist auf den Rückschluss von strukturellen Merkmalen der Landgemeinden auf die Existenz allgemeiner sozialer Normen. Gemeinsam verfügte man über einen territorial begrenzten Pool an Ressourcen, der als Eigentum angesehen wurde, da man ihn durch eigene Arbeit in Wert setzte (Frank 1999: 105), dessen Nutzung Legitimitätskriterien folgte, die in eigenen Rechtsvorstellungen zum Ausdruck kamen und gegenseitiger Kontrolle unterworfen war. Geeint trat man gegenüber den Gutsherren auf, gemeinsam überwachte man die Einhaltung der Erbsitten, teilte neuen Familien Land zu, brachte Mittel für religiöse Zwecke auf, entschied über die Einhaltung von Feiertagen, 13 organisierte die Unterstützung für von einem Unglück betroffenen Höfe oder traf allgemeine Vorsorgemaßnahmen wie die Anlage von Getreidespeichern. Derartige Inventarisierungen von Handlungsstrategien und Institutionen, die im Vergleich zur Organisation des bäuerlichen Alltags in anderen Regionen oder zu anderen Zeiten viel weniger allein dem Individuum oder der einzelnen Hofwirtschaft überließen, illustrieren facettenreich, was oft als Ausdrucksform einer kollektiven Grundhaltung interpretiert wird. 12 | Stalin selbst spricht in einem Brief von einem »italienischen Streik« der Bauern und einem »stillen Krieg gegen die Sowjetmacht« (zit. bei Scott 1998: 202). 13 | 1894 beispielsweise bestrafte im Gouvernement Tver eine Kommune einen ihrer Bauern, der wegen des guten Wetters an einem Feiertag auf seinen Wiesen arbeiten wollte damit, dass man gemeinsam das zum Trocknen ausgebreitete Heu mit dem Spritzwagen der Feuerwehr völlig einweichte; außerdem wurde er so verprügelt, dass er nach eigenen Aussagen »bis Mariä Himmelfahrt« nicht mehr aus dem Bett kam (Frank 1999: 87f).
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Wie schwierig dieser Rückschluss auf eine allgemeine Norm jedoch ist, wird insbesondere bei allen Versuchen deutlich, den Begriff »Egalitarismus« zu präzisieren; für »Kollektivismus« gilt dies prinzipiell in gleicher Weise. Dass von der regelmäßigen Neuverteilung des Ackerlandes in wirtschaftlicher Hinsicht eine egalisierende Wirkung ausging, ist unstrittig, nicht aber, ob es sich dabei wirklich um mehr als eine pragmatische Problemlösung handelte – die Debatte darüber, ob die Landkommune nur die Antwort auf eine bestimmte Art der Besteuerung darstellte (also unter veränderten Rahmenbedingungen auch relativ schnell wieder verschwinden könnte) oder Ausdruck eines Kernbestandteils der bäuerlichen Kultur Russlands war, betrifft genau diesen Punkt. Eine egalitäre Landverteilung und nicht nur ganz allgemein die Neuordnung der Eigentumsverhältnisse sowie den Erlass der noch ausstehenden Ablösesummen für das verteilte Land als »bäuerlichen Traum« (Shanin 1986: 120ff) zu bezeichnen, bedeutet, Egalitarismus unabhängig vom Modus der Steuererhebung als Orientierungshorizont bäuerlichen Handelns anzusehen. Doch diese Verallgemeinerung und vor allem auch Dekontextualisierung lässt viele Fragen offen: Wo Armut als selbstverschuldet angesehen wurde, stieß der Egalitarismus in den Kommunen schnell an Grenzen (Moon 1999: 226), und Berichte aus der Zeit Ende des 19. Jh. belegen ein geradezu »fanatisches Bestreben«, den Arbeitseinsatz Einzelner auch individuell gerecht zu entlohnen; Beispiele dafür sind die Honorierung von eigeninitiativ durchgeführten Bodenmeliorationsmaßnahmen bei der Landneuverteilung oder die differenzierte Regelung der Entlohnung für Bauern, die ein Bienenvolk gefunden hatten, wobei sogar berücksichtigt wurde, ob der Fund Zufall oder das Ergebnis einer gezielten Suche war (Kingston-Mann 1991c: 44f ).14 Dieser Problematik Rechnung tragend sieht Lewin (1985: 6) in Anlehnung an Kačorovskij eine umfassende »Ethik der Arbeit«, die individualisierende Rechte aus der Arbeit ebenso wie ein auf Vergemeinschaftung hinwirkendes Recht auf Arbeit beinhaltete, als wichtigste Säule des bäuerlichen Normensystems an. Wirtschaftliche Ungleichheit wurde demzufolge vor allem dann als ungerecht empfunden, wenn das Vermögen nicht mehr individuell erarbeitet, also Lohnarbeiter oder Leibeigene beschäftigt wurden. Doch in politischer Hinsicht führt die Verortung des bäuerlichen Egalitarismus in einem an »Arbeit« gekoppelten Rechtsempfinden nicht weiter: Lässt sich die Verteilung der Stimmrechte in der Dorfversammlung 14 | Es wurden nicht nur – jenseits aller Gleichheitsideale – Leistungen individuell entlohnt, sondern auch Schulden als ein Problem des Einzelnen angesehen. In Agrarkooperativen, die in Russland ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre des 19. Jh. gegründet wurden und sogar gemäß ihren Satzungen für Verbindlichkeiten gegenüber Dritten als Kollektiv verantwortlich waren, schob man die Verantwortung oft von einem Bauern auf den nächsten ab, was dazu führte, dass die Gläubiger letztlich leer ausgingen (Kotsonis 1999: 19ff).
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– jeder Hof eine Stimme – ebenfalls mit dem Gleichheitsprinzip in Einklang bringen? Oder ist sie aufgrund der ungleichen Partizipationsmöglichkeiten für Männer und Frauen, Haushaltsvorstände und ihre mitarbeitenden Kinder, landbesitzende und landlose Haushalte eher ein Beleg dafür, dass von einem allgemeinen Egalitarismus nicht die Rede sein kann? Atkinson (1990: 14) versucht, diesen Widerspruch aufzulösen, indem sie die Bereiche »Wirtschaft« und »Politik« trennt, und hält es für ein Charakteristikum der russischen Landkommunen, dass ein im Vergleich zu westlichen Ländern »viel radikalerer« wirtschaftlicher Egalitarismus mit der Akzeptanz einer ausgeprägten Ungleichheit der Verteilung politischer Rechte einherging. Dass alle Bemühungen, konkrete Merkmale der Organisation des Alltags in Landkommunen auf allgemeine Normen zurückzuführen, bislang unbefriedigend blieben, mag man teilweise als Quellenproblem ansehen. Doch abgesehen davon zeigt sich darin auch das Resultat eines einseitig verengten Blicks auf die Art und Weise, wie die entsprechenden Handlungsmuster beschrieben werden. Denn nicht nur »was« (das Inventar egalisierender Institutionen und Maßnahmen) »warum« (ausgehend von welchen sozialen Normen) entschieden wurde, sondern auch »wie« diese Entscheidungen zustande kamen und kontrolliert wurden, ist von Bedeutung. In der Dimension als soziale Praxis ist das entscheidende Merkmal des bäuerlichen Egalitarismus und Kollektivismus, dass sie in kommunalen Halböffentlichkeiten verwurzelt waren, die im Spannungsfeld zwischen lokaler Ressourcenkontrolle und von außen herangetragenen Ansprüchen entstanden. Konkrete Regelungen standen in den Landkommunen immer wieder zur Debatte, wurden gemeinsam besprochen, als legitim erachtet und aufrechterhalten oder manchmal auch fallen gelassen. Sicherlich besteht die Gefahr, den Grad der Autonomie der kommunalen Halböffentlichkeiten zu hoch einzuschätzen, da die bloße Existenz andauernder Aushandlungsprozesse den Eindruck erweckt, die lokalen Handlungsspielräume seien größer und ein Eingriff von außen sei unwahrscheinlicher gewesen, als dies in Wirklichkeit der Fall war. Nicht nur die Gutsverwalter trugen dazu bei, eine allzu ausgeprägte ökonomische Stratifizierung zu verhindern (Hoch 1986: 118), sondern auch der Staat förderte bewusst die egalisierende Landumverteilung (Atkinson 1990: 15) und die oben dargestellten Beispiele zu »Aushandlungsprozessen«, einem »eigenen Rechtsraum« und zur »nationalen Integration« zeigen Spielräume ebenso wie Grenzen, Mechanismen der Abschottung ebenso wie Öffnungstendenzen. Doch wie eingeschränkt die Autonomie der Gemeinden auch war, die kommunale Halböffentlichkeit sicherte innerhalb der restriktiven Rahmenbedingungen die geregelte Beilegung von Verteilungskonflikten und konstituierte eine territorial verankerte Gemeinschaft dadurch, dass hier ein lokaler Konsens kontinuierlich reproduziert wurde, wenn nicht über alle getroffenen Entscheidungen, so doch über die angewandten Verfahrensweisen ihres Zustandekommens. In diesem Sinn charakterisieren auch die neben »Landkommune« anderen beiden Bedeu-
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tungen des russischen Wortes mir, »Friede« und »Welt«, das Leben in den Bauerngemeinden. Erst nach der Revolution begann sich die inhaltliche Verankerung des ländlichen »Kollektivismus« und »Egalitarismus« in der Praxis einer kommunalen Halböffentlichkeit teilweise und im Zuge der Zwangskollektivierung dann endgültig aufzulösen.
Öffentlichkeit als Medium der Repräsentation Die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Landkommunen und Kolchozen erscheinen auf den ersten Blick so vielfältig, dass die Annahme nahe liegt, hier sei eine bestehende Institution zwar modifiziert und mit neuem Namen versehen, in ihren Kernbestandteilen aber einfach übernommen worden. Die Landkommunen nahmen ebenso wie später die Kolchoze ein breites Spektrum von Funktionen wahr, die den dörflichen Alltag insgesamt und nicht nur die landwirtschaftliche Produktion betrafen. In beiden Fällen gab es klare, auch formal festgelegte Kriterien der Zugehörigkeit, die eine Verbindung zwischen Territorium und Mitgliedschaft aufrechterhielten: Wer auf dem Gebiet einer Landkommune lebte, war im Normalfall auch Mitglied und wer Mitglied war, besaß Anteile an der landwirtschaftlichen Fläche; wer auf dem Gebiet eines Kolchoz lebte, war üblicherweise Kolchozmitglied und alle Kolchozmitglieder lebten für gewöhnlich auf dessen Territorium. Hier wie dort gab es zwar Ausnahmen – Personen ohne Landbesitz, Arbeitsmigranten, Staatsangestellte in der Gemeindeverwaltung, den Schulen und Kindergärten oder Kolchozmitglieder mit Wohnsitz im nächstgelegenen städtischen Zentrum –, doch von einer echten Auflösung der klaren Grenze kann deshalb nicht die Rede sein. Die staatlichen Gemeindeverwaltungen spielten im ländlichen Raum kaum eine Rolle, da sie »weitgehend vom Betrieb aufgesogen« (Wädekin 1969: 22) waren, und so ist es auch nicht verwunderlich, dass der »Lokalismus der Landkommunen« in der Literatur über die Kolchoze eine Analogie in Charakterisierungen wie »Staat im Staat« (Clarke 1992: 27), »Mikrokosmos eines Staates« (Humphrey 1998: 3) oder »totale Institution« (Gambold Miller 2001: 153; Max Planck Institute for Social Anthropology 2001: 82) findet. Sieht man Egalitarismus und Kollektivismus jedoch als die begrifflichen Repräsentationen von Handlungsmustern und Normen an, deren spezifische soziale Bedeutung von der Struktur der kommunalen Halböffentlichkeit her bestimmt wurde, so berührt die Frage nach der Kontinuität dieser Handlungsmuster und Normen unweigerlich das Problem der »Öffentlichkeit« in sozialistischen Gesellschaften. Auf den ersten Blick deutet sich hier eine Paradoxie an, die daraus resultiert, dass die westliche Trennlinie zwischen Staat und Gesellschaft in der Sowjetunion so nicht existierte. Dem Kriterium der Interessenvertretung in Opposition zum Staat konnten daher nur informelle Gruppen und Foren genügen, die alles
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andere als »öffentlich« waren, da sich hier nicht Fremde trafen, sondern Vertrauen eine Zugangsvoraussetzung war. Bekanntenkreise, in denen samizdat-Literatur 15 zirkulierte, sind dafür das im Westen wohl bekannteste Beispiel. »Öffentlichkeit« als Ort der Begegnung und Kommunikation zwischen Fremden hingegen war denkbar ungeeignet, um persönliche Interessen zu artikulieren, und wurde vom Staat misstrauisch kontrolliert – an zentralen Orten wie dem Roten Platz in Moskau wurden »widerrechtliche Ansammlungen« mehrerer Personen von der Miliz sofort zerstreut (Neidhart 2000: 64). Vor diesem Hintergrund wird Kharkhordins (1995: 209) Kritik verständlich, westliche Wissenschaftler nähmen zwar wahr, dass »etwas Spezifisches in der Art und Weise liegt, wie Öffentlichkeit und Privatheit in kommunistischen Gesellschaften zusammenhängen, scheiterten aber daran, es konzeptionell zu fassen«. Die meisten Arbeiten, die sich mit diesem Thema beschäftigen, widmen dem ländlichen Raum bestenfalls eine Randbemerkung. 16 Das liegt zu einem erheblichen Teil daran, dass aus der Zeit nach der Revolution nur wenig brauchbares Quellenmaterial verfügbar ist. Grundsätzlich war jede wissenschaftliche Beschäftigung mit Themen, die sich mit einer gesellschaftlichen Wirklichkeit außerhalb des offiziellen Leitbildes befassten, nur als vorsichtiges Ausloten von Spielräumen und Grenzen möglich, wie insbesondere die Diskussion um die persönliche Nebenerwerbswirtschaft in den 1960er Jahren zeigt; Wissenschaft war eben selbst Teil der offiziellen Öffentlichkeit und hatte zu repräsentieren, was deren Inhalte und Funktion waren. Darüber hinaus waren die Sozialwissenschaften in der Sowjetunion durch drei weitere Eigenheiten gekennzeichnet, die für diesen »weißen Fleck« auf der gesellschaftlichen Landkarte des ländlichen Russland verantwortlich sind: Sie mussten sich erstens als Wissenschaften im Dienst der Partei verstehen, die ihre Themen entsprechend zu wählen hatten, und behandelten zweitens soziale Entwicklungen als einen administrativtechnisch steuerbaren Prozess, für den es Know-how bereitzustellen galt; die »Stärke dieser Arbeiten lag mehr in der Sammlung von empirischem Material als in der Klärung der Grundprozesse sozialen Wandels« (Vucinich 1971: 324). Drittens schließlich waren sie einem methodologischen Positivismus verpflichtet, dem informelle Strukturen entgingen, da er sich überwiegend auf quantitativ-formale Erhebungsverfahren stützte (Cox 1979: 87ff). In der Summe resultierte daraus ein verzerrter Blick auf den 15 | Wörtlich etwa mit »Selbstverlag-Literatur« zu übersetzen; samizdat ist die russische Bezeichnung für vom Staat als systemkritisch erachtete Literatur, die nur privat reproduziert und weitergegeben werden konnte. 16 | Vgl. Boym (1994), Forest/Johnson (2002), Garcelon (1997), Grützmacher (2002), Kharkhordin (1995; 1997), Oswald/Voronkov (2003), Rolf (2002), Schlögel (1998), Shlapentokh (1989) oder Studer/Unfried (1999).
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ländlichen Raum, in dem das Dorf als eine noch zu entwickelnde Stadt und die Landwirtschaft als die zu lösende Aufgabe agroindustrieller Produktion gesehen wurden. Der Einleitungsabsatz eines russischen Geografen zu einem Aufsatz über die Krise eines Sovchoz in der Transformationssituation bringt dieses Problem so anschaulich zum Ausdruck, dass er in voller Länge zitiert werden soll: »Der Autor dieser Zeilen wurde in einem Dorf geboren und wuchs dort auf, hat sich aber nie mit Fragen des ländlichen Raums beschäftigt, bevor er von Beruf Geograf wurde. Viele Jahrzehnte lang wurden die Ideale der Angleichung von städtischem und ländlichem Lebensstil, der überragenden Bedeutung von Technologie für die ländliche Entwicklung und der Perspektivlosigkeit kleiner Dörfer nicht in Frage gestellt. Andere Ansichten wurden nicht öffentlich geäußert und natürlich auch nicht publiziert. Gefangen in einem Gebäude aus Slogans und leeren Phrasen ernteten die Dörfer lange Jahre die Früchte irrationaler Führung und einer barbarischen Einstellung zur Natur und zu kulturellen Werten.« (Chistobayev 1990: 151).
Was Chistobayev hier als »barbarische Einstellung zur Natur und zu kulturellen Werten« bezeichnet, war das Resultat einer nicht offen geäußerten, aber überall spürbaren Grundhaltung, die den ländlichen Raum als ›zurückgeblieben‹ und ›kulturlos‹ und seine Bewohner als Bevölkerung zweiter Klasse ansah; das Sozialprestige der Beschäftigten in der Landwirtschaft lag weit unter dem von Industriearbeitern, wie eine Umfrage aus den 1970er Jahren zweifelsfrei belegt (Shlapentokh 1989: 72). Die Ursachen dieser allgemeinen Geringschätzung sieht Vucinich (1971: 307) in fünf sich gegenseitig ergänzenden und verstärkenden Argumentationsmustern: – Aus ideologischer Perspektive war die Verwirklichung der sozialistischen Utopie vom Proletariat zu erwarten und dementsprechend standen die sozialen Verhältnisse in den Städten, nicht im ländlichen Raum im Zentrum der Aufmerksamkeit. – Historisch ging die Sozialisierung der Produktionsmittel in der Industrie der Kollektivierung in der Landwirtschaft voraus, was als Beleg für die fortschrittlicheren Verhältnisse in den Städten gesehen werden konnte. – In psychologischer und kultureller Hinsicht galten die Bauern immer als traditionsbewusst und konservativ, im Rahmen des dominierenden Fortschrittsmodells also als zurückgeblieben. – Der Status einer Person hing in der Sowjetunion stark von der Stellung im Produktionssystem ab (Smith 1989: 327); die Entwicklung der Industrie als vorrangiges Ziel zu definieren, wie es unter Stalin geschah, bedeutete also zugleich all diejenigen, die noch im primären Sektor beschäftigt waren, sozial abzuwerten. – Schließlich war die Wertschöpfung in der Landwirtschaft weitaus nied-
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riger als in der Industrie, was die Bauern gegenüber den Industriearbeitern auch ökonomisch nur als zweitrangig erscheinen ließ. 17 Vor diesem Hintergrund gewinnt die im dritten Kapitel angesprochene Politik der »Angleichung der Lebensverhältnisse in Städten und auf dem Land« eine zusätzliche Bedeutungskomponente. Sie richtete sich nicht nur auf die Annäherung an einen urbanen Lebensstil, eine bessere infrastrukturelle Versorgung und höhere Einkommen für die Bauern, sondern drückt zugleich auch das missionarische Selbstbewusstsein aus, durch die Einführung einer sozialistischen Lebensweise deren »kulturelles Niveau« (Art. 41 Mst.) zu heben. 18 Zwar war die Optimierung der Produktion das vorrangige Ziel sämtlicher sektoraler Politikbereiche im ländlichen Raum, doch auch ökonomisch bedeutungslose Details des Alltagslebens im Kolchoz wurden als Indikatoren kultureller Transformation aufmerksam registriert und normativ klassifiziert. In den Dörfern selbst war das neue Koordinatensystem einer »fortschrittlichen«, also »guten« Lebensweise durchaus präsent und bewusst, was allerdings nicht heißt, dass sich das individuelle Verhalten wirklich daran orientierte. »The Village of Viriatino« (Benet 1970), 19 eine der ersten umfangreichen ethnologischen Dorfstudien, die in der Sowjetunion durchgeführt wurden, ist ein anschauliches Spiegelbild dieses modernisierungstheoretischen Entwicklungsverständnisses sozialistischer Prägung. Die Arbeit ist das Ergebnis eines Gemeinschaftsprojekts des ethnologischen Instituts der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion und basiert auf umfangreichen Feldarbeiten in einem Dorf im Gebiet Tambov, das für diese Region als »typisch« 17 | Aus dieser Aufzählung ebenso wie aus dem Zitat von Chistobayev wird deutlich, wie eng die Wertigkeit des ländlichen Raums an sozialistische Entwicklungsideale gebunden war. Dementsprechend wird eine in der sowjetischen Literatur der 1970er Jahre einsetzende Hinwendung zum Leben im Dorf als dem »Echten«, »Wahren« und »Natürlichen« zugleich auch als kaum verhüllte Abwendung vom sozialistischen Realismus interpretiert (Lejderman/Lipovezkij 2001: 42ff). 18 | Der in der Sowjetunion allseits bekannte Film »Der erste Lehrer« (Pervyj Učitel’) von Andrej Končalovskij aus dem Jahr 1965 bringt dieses kulturell-missionarische Element idealtypisch zum Ausdruck. Er erzählt die Geschichte eines überzeugten Kommunisten, der freiwillig in ein kirgisisches Dorf geht, um dort als Lehrer zu arbeiten und den Bruch mit der Tradition zu beschleunigen. Auch in der im Folgenden ausführlicher vorgestellten Studie »The Village of Viriatino« (Benet 1970) werden ausdrücklich der »allgemeine kulturelle Aufschwung« nach der Revolution und das »kulturelle Wachstum« hervorgehoben (Krupyanskaya 1970: 260, 263). Wädekin (1969: 80) zitiert ebenfalls sowjetische Quellen, in denen von einem »im Vergleich zur Stadt niedrigeren Kulturniveau« auf dem Land die Rede ist. 19 | Das russische Original erschien erstmals 1958.
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erachtet und deshalb ausgewählt wurde. Der Sammelband zielt also weder primär auf Außenwirkung noch war er als praktische Handlungsanweisung gedacht; bewusst politisch-ideologische Bezugnahmen entsprechen dem üblichen Maß, gehen aber auch nicht darüber hinaus. 20 Das Kapitel über Familienstrukturen und Familienleben (Krupyanskaya 1970) ist aus mehreren Gründen besonders aufschlussreich. Vom ersten Satz an wird klar, dass das als »stagnierend« (Krupyanskaya 1970: 243) charakterisierte Leben in den vorrevolutionären Großfamilien zu überwinden sei, und bezeichnenderweise werden die aus dem Bürgerkrieg zurückkehrenden Soldaten als erster wichtiger Impuls für Veränderungen genannt; eine Seite weiter (Krupyanskaya 1970: 244) ist dann von der »schrittweisen Zerstörung der bäuerlichen Isolation« durch die Begegnung mit Politik die Rede. Um zu zeigen, wie sich der soziale Wandel im Alltag abspielt, gibt die Autorin die Geschichte einer jungen Kolchozbäuerin wieder, deren zukünftigen Mann sie als »typischen Vertreter der kultivierten Jugend, die zum Komsomol gehört« (Krupyanskaya 1970: 244f), bezeichnet. Als Informant wird die Bäuerin selbst, nicht ihr Ehemann genannt, was als Hinweis darauf zu verstehen ist, dass die ›sozialistische Aufklärung‹ im Nachhinein auch von den ›Aufgeklärten‹ selbst als positiv empfunden wurde. Der Hochzeit stand erst einmal ein Konflikt zwischen vorrevolutionärer Tradition und sozialistischer Moderne entgegen: Die Braut wollte ebenso wenig wie ihre Familie auf eine kirchliche Trauung verzichten, die der Bräutigam jedoch strikt ablehnte. Doch nachdem für dieses Problem eine Kompromisslösung gefunden worden war – anstatt des üblichen Zeremoniells beschränkte man sich darauf, drei Mal um die Kirche herum zu gehen – begann ein Leben »auf der Grundlage neuer Prinzipien«. »Der Mann tat sein Bestes, um seine Frau für neue Formen der Lebensführung zu interessieren und versuchte, ihre Aufmerksamkeit von den Aktivitäten der Kirche abzulenken, indem er ihr die Absurdität des Aberglaubens erläuterte; er half ihr Bücher zu lesen, indem er laut vorlas, und nahm sie mit ins Kino und zu Treffen der lokalen Komsomol-Jugend. Als sie Kinder bekamen, bestand er darauf, einen Babysitter zu nehmen, damit er zusammen mit seiner Frau an Veranstaltungen und Festen teilnehmen konnte. Das waren völlig neue Entwicklungen und überall, wo sie sich bemerkbar machten, konnte man reale Beweise einer fundamentalen sozialen Reorganisation des Familienlebens erkennen« (Krupyanskaya 1970: 244f ). Es geht mir nicht darum, auf die ideologische Färbung der sowjetischen Sozialwissenschaften hinzuweisen – dafür gäbe es bessere Beispiele – und es 20 | Zu beachten ist, dass die englische Fassung vom Übersetzer um »ideologische Leerformeln« (Benet 1970: x) gekürzt wurde. Dieser wenig hilfreiche Versuch, den Text auf vermeintlich ›objektive‹ Inhalte zu reduzieren, trägt unbeabsichtigt dazu bei, dass das in der gesamten Anlage der Studie durchscheinende Entwicklungsverständnis nicht mehr so klar zum Ausdruck kommt wie im Originaltext.
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besteht auch kein Grund zu bezweifeln, dass diese Geschichte den Feldforschern tatsächlich so oder so ähnlich berichtet worden war (auch wenn der Verzicht auf eine traditionelle Hochzeit sicherlich nicht repräsentativ ist, wie wenige Seiten später eingeräumt wird – Krupyanskaya 1970: 271). Vielmehr sind es zwei andere Eigenheiten des zugrunde liegenden Modernisierungsverständnisses, die hier sehr anschaulich zum Ausdruck kommen. Zum einen werden Wandel und Entwicklung immer als von außen initiierte Prozesse interpretiert und zum anderen beschränken sie sich nicht auf gesellschaftliche Teilbereiche wie Wirtschaft oder Politik, sondern sollen bis in die Privatsphäre des Ehelebens hinein zu einer normativen Umorientierung führen. Ob die zurückkehrenden Soldaten erwähnt werden, die (nationale) Politik oder die Komsomol-Bewegung: Fortschritt ist immer verbunden mit einer Überwindung der »bäuerlichen Isolation« und setzt die Präsenz des Nationalen und letztlich auch des Global-Universellen in der lokalen Welt des Dorfes voraus. Chruschtschows Slogan, die USA »ein- und überholen« zu wollen, in Verbindung mit der zeitweise überall gegenwärtigen Werbung für den forcierten Maisanbau beispielsweise positionierte die Bauern im Kräftefeld einer bipolaren Weltordnung und zielte auf ein Bewusstsein, das die Agrarproduktion als eine nationale Aufgabe und nicht als private Einkommensquelle verstand. Im weiteren Verlauf des Textes taucht dieses Grundmotiv in vielen Beispielen positiver Entwicklungen immer wieder auf: Die »moderne Lebensweise« der Frauen im Dorf wird durch die hohe Mobilität erklärt (Krupyanskaya 1970: 249), lächerliche und peinliche Hochzeitsbräuche werden auf Initiative von Personengruppen abgeschafft, die »gewöhnlich in der Industrie beschäftigt sind« (Krupyanskaya 1970: 270), und zu den Elementen einer positiven biographischen Entwicklung gehören auf jeden Fall Lesen, Radio-Hören – »das Programm ›sowjetische Mutter‹« – und der regelmäßige Besuch des Kinos (Krupyanskaya 1970: 261). 21 Die dörfliche Kultur findet in Theatergruppen Anschluss an städtische Vorbilder und neue sozialistische Lieder, die die bislang gebräuchliche Volksmusik ersetzten, symbolisieren die Öffnung der lokalen Lebenswelt (Pushkareva 1970: 297). Dass darüber hinaus insbesondere die Errungenschaften einer sozialistischen Gesellschaftsordnung hervorgehoben werden, versteht sich von selbst: Die »sozialistische Wirtschaft schuf die Grundlagen für die Etablierung neuer Rollenverteilungen in der Familie« (Krupyanskaya 1970: 250), die Kolchozwirtschaft ermöglichte die Emanzipation der Frauen (Krupyanskaya 1970: 271) und die »Fürsorge, die Müttern im sowjetischen Staat zuteil wird«, verschaffte ihnen eine neue Position in der Familie (Krupyanskaya 1970: 252). 21 | Von Lenin, der den Film v.a. als Propagandainstruement ansah, ist der Satz überliefert »für uns ist das Kino die bedeutendste aller Künste«. Das Kino sollte die »Reichweite der Partei auf die entlegenen Landgebiete ausdehnen« und dort nach Trotzki »den Wettbewerb mit der Kirche und der Schänke aufnehmen« (Figes 2003: 471ff).
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Dass der sozialistische Neubeginn auch vor der Privatsphäre nicht halt machen sollte, war keineswegs ein exklusives Charakteristikum des ländlichen Raums. »Das Alltagsleben ist keine Privatsache, es ist der wichtigste Bereich des Klassenkampfes« schrieb beispielsweise die Zeitung »Komsomol’skaja Pravda« am 15. Dezember 1938 (Kharkhordin 1997: 357) und forderte somit faktisch die Öffnung aller Lebensbereiche für den staatlichen Zugriff. Das »Private«, »Persönliche«, »durch das eigene Interesse Bedingte« wurde offiziell negativ bewertet, mit »eigennützig«, »egoistisch« und »habgierig« assoziiert, galt als im Widerspruch zum »Interesse der Allgemeinheit« stehend und sollte deshalb zum Verschwinden gebracht werden (Lewada 1992: 84). In der semantischen Differenz zwischen den russischen Begriffen »ličnaja žizn’« und »častnaja žizn’«, die im Deutschen beide mit »Privatleben« wiedergegeben werden, kommt die Reichweite dieses sozialistischen Anspruchs auf ideologische Durchdringung der gesamten Gesellschaft gut zum Ausdruck. Ličnaja žizn’ als das »persönliche Leben« bezog sich zwar auf Alltagsbereiche, die nicht unmittelbar in den Staat oder in gesellschaftliche Organisationen integriert waren, beinhaltete aber den Aspekt einer (kontrollierten) »vorbildlichen Lebensführung«, die Erfüllung einer sozialen Rolle und war insofern alles andere als eine »Privatangelegenheit« im westlichen Verständnis. Častnaja žizn’ hingegen bezeichnet das »Partielle«, von der Allgemeinheit losgelöste – das russische Wort »čast’« bedeutet »Teil« – und hatte im sowjetischen System zumindest idealiter keinen Platz mehr, auch wenn die Realität anders aussah (Kharkhordin 1997: 343ff). Praktiken des Abgleichs zwischen sozialem Anspruch und persönlicher Lebensführung sollten insbesondere bei den Kadern der Kommunistischen Partei dafür sorgen, dass die Kontrolle durch das Kollektiv zur Selbstkontrolle internalisiert wurde. Dazu gehörte beispielsweise das wiederholte Abfassen von ausführlichen Lebensläufen, die dann gesammelt und verglichen werden konnten. Doch der Versuch, den Einzelnen an eine Grundhaltung zu gewöhnen, die im kontinuierlichen AuskunftGeben und Rechenschaft-Ablegen bestand, ist noch klarer in den Praktiken der erzwungenen Selbstkritik vor dem Kollektiv zu erkennen, welche in den Archiven der Kommunistischen Internationale aus den 1930er Jahren dokumentiert sind. »Parteifreund Braun« beispielsweise musste öffentlich einräumen: »Diesen meinen schweren Fehler habe ich wiederholt und vertieft, als ich in der Parteiversammlung des Sektors, statt meinen Fehler zuzugeben, zu kritisieren, und seine Wurzeln zu analysieren, versucht habe, ihn zu erläutern und zu verteidigen. Ich muß zugeben, dass der Inhalt und das Wesen des Fehlers partei- und sowjetfeindlich sind, dass ich nicht genügend gegen das Eindringen klassenfeindlicher Ideologien gewappnet bin und dass ich noch sehr viel an mir arbeiten muß, um die Reste solcher Ideologien zu entfernen […].« (Studer/Unfried 1999: 98).
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Hier geht es nicht darum, ein Geständnis zu erpressen, sondern eine »Technologie des Selbst« (Studer/Unfried 1999: 90; Foucault 1993) zu etablieren, die zu Identitätskonstruktionen führen sollte, deren Maßstab die Vorgaben der Partei und des Kollektivs waren – im konkreten Fall sogar als Selbstkritik einer vorangegangenen Selbstkritik, die unzureichend war, weil sie die Wurzeln eines Fehlers nicht tief genug in der Persönlichkeit des Beschuldigten gesucht hatte. Wo die individuelle Identität aber in der Inkorporierung staatlicher Vorgaben bestehen sollte, durfte es auch keine Privatsphäre mehr geben, die als Schutzraum unkontrollierbare Abweichungen davon ermöglicht hätte. Die wohl konsequenteste Umsetzung dieses Verständnisses von Privatheit im physischen Raum stellten die städtischen Gemeinschaftswohnungen (kommunalki) dar. Zwar waren Enteignungen, Wohnraumumverteilungen und die zimmerweise Vergabe an neue, einander fremde Personen und Familien in den 1920er Jahren eine pragmatische Reaktion auf den Zustrom der Landbevölkerung in die Städte. Doch sie passten bruchlos in den Rahmen der avisierten neuen Lebensweise und so wurde die Entindividualisierung der Wohninfrastruktur einschließlich der Bäder, Küchen und Flure im Bewusstsein der Sowjetbürger bald zum Idealtypus sozialistischen Wohnens. Obwohl die kommunalki also weiterhin nicht »öffentlicher Raum« im engeren Sinn waren, reduzierten sie das Refugium des Privaten doch auf einzelne Zimmer und schufen eine neue Sphäre, die den persönlichen Alltag – das častnaja žizn’ – für Mitbewohner transparent werden ließ; allein das Bewusstsein der gegenseitigen Kontrolle sicherte hier die permanente Präsenz der offiziellen Vorstellungen von einem sozialistischen Verhalten im Alltag, deren Verletzung unangenehme Folgen haben konnte (Gerasimova 2003: 165). Im ländlichen Raum waren es die Kolchoze, die als »Schule des Kommunismus« einen kulturellen Fortschritt gewährleisten sollten, der in der Implementierung einer sozialistischen Ansprüchen folgenden Alltagsgestaltung bestand; in vielen der oben zitierten Passagen aus »The Village of Viriatino« (Benet 1970) klingt diese Zielsetzung indirekt an. Eine unabdingbare Voraussetzung dafür war der Entzug derjenigen lokalen Kompetenzen, die ehemals in den kommunalen Halböffentlichkeiten, teilweise aber auch in der wirtschaftlichen Autonomie der Haushalte verankert waren. Mit der Verstaatlichung des Bodens verloren die Landkommunen einen ihrer wichtigsten Zuständigkeitsbereiche und die Überführung der Betriebsmittel in genossenschaftlichen Besitz machte aus den Bauern abhängig Beschäftigte, die auf lokaler Ebene kaum mehr als Interessenvertreter eigener Hofwirtschaften zu agieren brauchten. Die Bezahlung garantierter Mindestlöhne seit der Abschaffung des Systems der Tagwerk-Entlohnung 1958 einerseits und die Ablieferung der Agrarproduktion an den Staat andererseits lockerten die unmittelbare Verbindung zwischen lokalen Ressourcen und erzielten Haushaltseinkommen und somit auch die Notwendigkeit,
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Nutzungsrechte im Konsens zu regeln; ohnehin bestanden innerhalb der ›Kolchozdemokratie‹ nur noch unbedeutende Relikte der dafür ehemals vorhandenen rechtlichen Spielräume. Schließlich übernahm die staatliche Gemeindeverwaltung in Zusammenarbeit mit der Kolchozleitung die Instandhaltung und den Ausbau der dörflichen Infrastruktur ebenso wie die Organisation des kulturellen Lebens. Lokales wurde nun durch sowjetisches Recht ersetzt, faktisch erhielten die Kolchoze die Kompetenzen einer niederen Gerichtsbarkeit (Wädekin 1969: 59) und die Praktiken kommunaler Selbstjustiz verschwanden. Was als »sowjetische Kultur« im weitesten Sinn im ländlichen Raum institutionalisiert wurde, war ein engmaschiges Netz von Regelungen und Symbolen, das nach Wädekin (1969: 23) zu einer »Aufsaugung des öffentlichen Lebens in den Dörfern« führte. Doch diese Charakterisierung trifft nur zu, wenn Öffentlichkeit als Sphäre der Artikulation individueller und Vertretung gemeinsamer Interessen verstanden wird. Aus sozialistischer Perspektive hingegen bedeutete eben jene »Aufsaugung« die Überwindung des Lokalismus der Landkommunen durch die wirtschaftliche, administrative, ideologische und kulturelle Integration der Bauern in eine gesamtstaatliche Öffentlichkeit. Freilich handelte es sich hierbei nicht um Integration im föderalen Sinn, sondern um eine vom Zentrum aus gesteuerte Vereinheitlichung; die Kolchoze waren eben keine Institutionen, die lokale Anliegen an übergeordnete Verwaltungsebenen weitergeben sollten, sondern Ausführorgane und Repräsentanten staatlicher Vorgaben und Ziele in der Peripherie. Wie das »Musterstatut für den Kolchoz« landesweit gültig war, so ähnelten sich die Symbole im öffentlichen Raum, von den oft meterhohen und künstlerisch gestalteten Markierungen der Kolchozgrenzen an Straßen bis zu den Leninstatuen und Kulturhäusern in den Dörfern. Für vorbildliche Arbeit erhielt man überall dieselben Auszeichnungen, sozialistische Feiertage wurden einheitlich begangen und die erhaltenen Relikte marktwirtschaftlicher Strukturen in Form der Kolchozmärkte regelte der Staat. Die Verfügbarkeit kontrollierter Medien – Zeitungen, Radio und Fernsehen – trug zu dieser Integration darüber hinaus auch unter Umgehung kollektivbetrieblicher Strukturen bei und sozialistische Namen wie »Kolchoz Lenin« o.ä. sollten lokale Identitäten unmittelbar auf die staatstragende Ideologie zurückführen. Die spezifische Form der Öffentlichkeit, die unter diesen Bedingungen in den Dörfern entstand, könnte man als repräsentativ-offizielle Öffentlichkeit bezeichnen. Ganz anders als in marktwirtschaftlichen Systemen dehnte sich die Sphäre unmittelbarer staatlicher Einflussnahme damit auch auf den Arbeitsplatz aus, an dem man einen erheblichen Teil des Tages verbrachte (Shlapentokh 1989: 3). Die erzieherische Funktion der neuen Öffentlichkeit sprach Chruschtschow auf dem 22. Parteitag der KPdSU 1961 offen an, als er ausführte: »Es ist notwendig, die öffentliche Aufmerksamkeit für und die Anforderungen an das Verhalten der Men-
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schen zu erhöhen. Denn verwerfliche Handlungen werden von Menschen begangen, die Mitglieder des einen oder anderen Kollektivs sind […]. Wir sollten das moralische Gewicht und die Autorität der Öffentlichkeit aktiver nutzen, um gegen diejenigen vorzugehen, die die Normen und Regeln des gemeinsamen sozialistischen Lebens verletzen.« (zit.n. Kharkhordin 1999: 298). Dieses Zitat bringt neben dem instrumentellen Charakter eine weitere Eigenheit der repräsentativ-offiziellen Öffentlichkeit sowjetischer Prägung zum Ausdruck: Zwar war sie auf landesweite Vereinheitlichung angelegt, doch nicht in Form eines intern offenen Feldes, sondern als System inselhafter Teilöffentlichkeiten, die durch die Kollektive geschaffen und kontrolliert werden sollten. Eine hierarchisch abgestufte territoriale Fragmentierung, die im städtischen Raum bei den Wächtern am Eingang einzelner Wohnblocks einsetzte und sich bis hin zu den nationalen Sicherheitsbehörden erstreckte, stellte eines der grundlegendsten Organisationsmerkmale der Sowjetunion dar; zu Recht geht Zaslavsky (1982: 75) davon aus, dass »die Wechselwirkung zwischen sozialer Schichtung und geographischer Hierarchisierung […] von herausragender Bedeutung für das Verständnis der inneren Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft« ist. Die Kolchoze repräsentierten innerhalb dieses Systems in doppelter Hinsicht einen »Extremtypus«: Hierarchisch befanden sie sich am untersten Ende der Stufenleiter sozio-territorialer Einheiten (s.o.), organisatorisch schuf hier die territoriale Identität von Kollektiv, Wohn- und Arbeitsort der Mitglieder, Gemeindeverwaltung und Parteiorganisation 22 bessere Voraussetzungen für die Kontrolle jedes einzelnen Haushaltes als in den Städten. Von außen wurde ihnen eine diffuse, auf jeden Fall aber sehr umfassende Verantwortung für ›ihre‹ Höfe zugeschrieben; staatliche Stellen buchten beispielsweise manchmal die Stromrechnungen der einzelnen Haushalte einfach von den Konten des Kolchoz ab und überließen es dann diesem, sich bei seinen Mitgliedern um die Rückerstattung zu kümmern. Die sich immer mehr durchsetzende Praxis, Kolchozvorsitzende faktisch zu ernennen und durch Wahl nur noch bestätigen zu lassen, sowie die Umwandlung der Anteile der Genossenschaftsmitglieder in »unteilbares Grundkapital« (Vucinich 1971: 321) zeugen davon, dass die Abhängigkeit von der nächst höheren Ebene im Lauf der Zeit eher zu- als abnahm, ohne dass dadurch allerdings die Grenzen der einzelnen Einheiten an Bedeutung verloren hätten. 22 | Im Hinblick auf Kontrollfunktionen ebenso wie auf die Herstellung der repräsentativ-offiziellen Öffentlichkeit wäre eigentlich eine genauere Differenzierung zwischen Kolchoz- und Parteistrukturen nötig, die aber die Quellenlage leider nicht erlaubt. Die umfassendste mir bekannte Quelle – wenngleich auch sie nur eine quantitativ-deskriptive Darstellung der Rolle der Partei auf dem Land in den 1960er Jahren enthält – findet sich bei Wädekin (1969: 85ff).
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Im ländlichen Raum wurde die Stabilität dieser Einheiten durch die geringe Mobilität zusätzlich gestärkt und ließ Gemeinschaften von Familien entstehen, deren Beziehungen untereinander sich über Generationen hinweg entwickelten. Ein einseitiger Austritt aus dem Kolchoz war nicht möglich und mit der Wiedereinführung eines restriktiven Ausweissystems 1932 erhielten die Kolchozbauern als einzige Personengruppe in der Sowjetunion keine Pässe, so dass sie nur mit einer Ausnahmegenehmigung das Gebiet ihres Betriebs längerfristig verlassen konnten; Brunner/Westen (1970c: 105) sprechen deshalb mit Recht von einem »Zwangsverband«. Doch auch die Lockerung der Passregelung 1974 bedeutete keinesfalls, dass – wie in der Literatur manchmal fälschlich angenommen – die ländliche Bevölkerung nun den Stadtbewohnern gleichgestellt war, sondern eröffnete nur die Möglichkeit, einen Antrag auf Ausstellung eines Passes zu stellen, der aber jederzeit auch abgelehnt werden konnte. Erschwerend kam hinzu, dass den Bauern ihr Kolchoz-Dienstalter bei der Festsetzung der Rente nicht angerechnet wurde, wenn sie den Betrieb aus eigenem Entschluss verlassen hatten, und dass umgekehrt ihr Anspruch auf Kolchoz-Alters- oder Invalidenrente verloren ging, wenn sie bei Eintritt des Rentenfalls nicht mehr Mitglied waren (Wädekin 1972: 231). »Kolchoznik« wurde damit fast zu einer von den Eltern ererbten Standeszugehörigkeit und auch zwischen den beiden anderen sozio-territorialen Hierarchiestufen »Städte« und »geschlossene Städte« nahm unter Breschnew die Mobilität ab (Smith 1989: 328, 332). Zwar musste die Aufnahme in den Kolchoz eigentlich mit 16 Jahren erst offiziell beantragt werden, doch in der Praxis war es lediglich nötig, ein vorausgefülltes Dokument zu unterschreiben und in vielen Fällen verzichtete man selbst auf diese unbedeutende Formalie, falls die Eltern eines Jugendlichen bereits Kolchozmitglieder waren (Wädekin 1969: 54f). Die »von politischen Machthabern auf dem Verwaltungsweg eingeführte territoriale Schichtung« (Zaslavsky 1982: 131) hatte den ländlichen Raum zu einem Mosaik lokaler Ableger einer nationalen Öffentlichkeit gemacht, die zugleich Überwachungsräume wie auch Foren organisierter Zustimmung und noch allgemeiner der Repräsentation eines als legitim erachteten Alltags waren. Diese Sphäre verkörpert die spezifische Aporie sozialistischer Systeme, die Macht mit Zwangsmaßnahmen sichern zu müssen und dennoch auf die permanente Demonstration von Zustimmung durch die Bevölkerung angewiesen zu sein (Beyrau 2002: 162). Daher verwundert es nicht, dass in sowjetischen Publikationen innerhalb der Einheit »Betrieb« ausgerechnet das Parteikollektiv als »leitender Kern« angesehen wurde, »um den herum sich die ländliche sowjetische Öffentlichkeit formiert« (nach Wädekin 1969: 102). Doch gerade die Tatsache, dass die auf territorialer Fragmentierung basierende Integration in den Kolchozen in idealtypischer Weise realisiert werden konnte, schuf auch die Voraussetzungen dafür, dass hier eine Parallelöffentlichkeit entstehen konnte, die der soziale Ort
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für die ironische Variante des im dritten Kapitel zitierten Refrains, »alles hier gehört dem Kolchoz, alles hier gehört mir«, wurde.
Die lokal-informelle Sphäre Die Bezeichnung »Zeit des Stillstands« – vremja zastoja – charakterisiert nach Zaslavsky (1982: 126) einen »historischen Kompromiss«, der darin bestand, dass die Bevölkerung die bestehenden Machtverhältnisse in Kauf nahm, so lange erstens die Preise für Grundnahrungsmittel, Mieten und öffentliche Dienstleistungen stabil blieben, zweitens Vollbeschäftigung gewährleistet war und drittens Spielräume für individuelles Fortkommen bestanden. 23 Sie bezieht sich damit auf einen Mechanismus, den Jowitt (1992: 59f) für ein grundlegendes Merkmal aller sozialistischen Systeme hält: Wollte man auf die unmittelbare Androhung oder Anwendung von Gewalt verzichten, so konnte Gehorsam in einem bestimmten Handlungsfeld oft nur durch Duldung in einem anderen erkauft werden. Selbst Stalins Anstrengungen, die offizielle Ideologie zur Entscheidungsgrundlage in allen Lebensbereichen werden zu lassen, hatten nicht verhindern können, dass ein informeller Komplex von Normen und Strukturen entstand, von dem jeder wusste, ohne eigentlich davon wissen zu dürfen; bereits seit Anfang der 1940er Jahre gab sich der Staat dann ohnehin mehr und mehr mit bloß rituellen Loyalitätsbekundungen und kodifizierten Verhaltensweisen in der Öffentlichkeit zufrieden (Studer/Unfried 1999: 86). Diese Sphäre war für sozialistische Systeme im Allgemeinen und für die Kolchozwirtschaft im Speziellen keineswegs dysfunktional, sondern glich Defizite aus und erhöhte somit deren Stabilität (Scott 1998: 203). Auf grauen Märkten und in komplizierten Tauschringen konnten oft Lösungen für Probleme ausgehandelt werden, die durch ideologisch motivierte und praxisferne offizielle Vorschriften erst geschaffen worden waren. »Priobretali po dekretu, no poživali po sekretu« – »Gemäß Dekret 24 war ihnen gegeben worden, aber ihr Leben führten sie weiterhin im Geheimen« lautete ein Sprichwort über die Bauern in der sowjetischen Zeit, das man unschwer als Hinweis auf die Existenz dieses informellen Normenkomplexes jenseits der durch offizielle Dekrete geregelten kollektivwirtschaftlichen Produktionsweise identifizieren kann. Die starren Vorgaben regelkonfor23 | Noch stärker verallgemeinernd spricht Wegren (1998: 109) von einem »Sozialvertrag im ländlichen Raum«: Die Sowjetunion habe sich im Lauf der Zeit von einem Staat, in dem Zustimmung verpflichtend war und erzwungen wurde hin zu einem System entwickelt, in dem politische Unterstützung an Bedingungen und Leistungen gebunden war (vgl. auch Wegren 2003). 24 | Gemeint ist das Landdekret von 1917, das die Nationalisierung des Bodens verfügte.
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men Verhaltens in der offiziell-repräsentativen Öffentlichkeit verlangten von jedem Einzelnen ein hohes Maß an Anpassung, das häufig dazu führte, dass hier nur die geforderten Rollen gespielt wurden, während persönliche Interessen und Bedürfnisse ihren Niederschlag in der Sphäre des »Geheimen« fanden. Kharkhordin (1995) geht so weit, in Anlehnung an Foucaults Charakterisierung des abendländischen Menschen als durch permanente Selbstanalyse gekennzeichnetes »confessing animal« vom Sowjetbürger als einem »dissimulating animal« zu sprechen. Dabei waren es nicht selten gerade die erwähnten Praktiken öffentlicher Selbstoffenbarung und Kontrolle, die sich zu einer Fassade zweckentfremden ließen, hinter der man sich verbergen konnte. So wurde z.B. die Praxis erzwungener Selbstkritik anhand bestimmter Formulierungen beurteilt, die – war man mit dem Ritual gut genug vertraut – auch leerformelhaft wiederholt werden konnten, um vor weiteren Nachfragen sicher zu sein (Studer/Unfried 1999: 98, 107f) und Kameradschaftsgerichte, offiziell eingerichtet als nicht-staatliche Überwachungsinstrumente der Mitglieder eines Kollektivs untereinander, wandelten sich bald zu einem solidarischen Schutzmechanismus gegen weitere Strafverfolgung (Kharkhordin 1999: 282ff, 296ff). 25 Seit Mitte der 1960er Jahre war insbesondere die Duldung der Freiräume, die man den Kolchozbauern im Rahmen ihrer persönlichen Nebenerwerbswirtschaften zugestand, nicht länger bedroht. Die »zentrale Streitfrage« der Breschnew-Ära bezog sich in der Agrarpolitik auf ein angemessenes Verhältnis zwischen »Plan und Markt« (Emel’janov 1999: 186) und bringt zum Ausdruck, dass der eigentlich systemkonträre private Sektor nicht mehr grundsätzlich zur Disposition stand, auch wenn über seinen Umfang und die zukünftige Entwicklung keine Einigkeit bestand. Einer Betrachtung der Verschiebung zwischen öffentlichem und privatem Leben in der Sowjetunion nach Stalins Tod im Allgemeinen gibt Shlapentokh (1989: 154) bezeichnenderweise die Abschnittsüberschrift »Die Sowjetbürger – Helden der Privatisierung« und er führt aus: »Der wichtigste Beitrag der herrschenden Elite [zur Privatisierung der sowjetischen Gesellschaft] war eine Politik, die allmählich Millionen von Menschen in nennenswertem Umfang – nach sowjetischen Maßstäben – zu Eigentümern von Privateigentum machte und damit deren psychische Einstellungen und Verhaltensweisen radikal änderte. Den entscheidenden Schritt unternahm die sowjetische Führung, als sie ihre Haltung gegenüber den Hoflandparzellen änderte« (Shlapentokh 1989: 160f). Überall verloren die Arbeitskollektive mehr und mehr ihre Funktion als Überwachungsinstrumente des Staates und wurden zum persönlichen Machtbereich von Direktoren, die auf die Komplizenschaft ihrer Mitarbeiter angewiesen waren und dafür deren privaten Interessen – vorübergehende Abwesenheit vom Arbeitsplatz, private 25 | In den 1960er Jahren gab es in der gesamten Sowjetunion über 200.000 Kameradschaftsgerichte (Boiter 1969: 506).
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Benutzung von Betriebsmitteln, in begrenztem Umfang auch Diebstahl – nachgeben mussten (Shlapentokh 1989: 137f ). Den ländlichen Raum betreffend spricht Amelina (2001: 290) von einem »listigen 50jährigen Projekt, sich vor dem kontrollierenden Blick des Staates zu verbergen«, das unmittelbar nach der Zwangskollektivierung begonnen hatte und ausgesprochen erfolgreich war. Die Voraussetzungen für diese Entwicklung waren im ländlichen Raum besonders günstig. Als »Peripherie« auch in einem normativen Sinn war er nur in ökonomischer Hinsicht unverzichtbar; die Indikatoren für Fortschritte auf dem Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft wurden primär in den Städten gesucht. Hier hatten Ordnung und Symbolik im öffentlichen Raum nach außen wie nach innen zu verhindern, dass zwischen dem Alltag der Bürger und der staatstragenden Ideologie allzu große Dissonanzen spürbar wurden, denn latent bestand immer die Gefahr, dass daraus eine nicht mehr kontrollierbare Massenbewegung werden konnte. Als in den 1950er Jahren in den Städten die »stiljagi« auftauchten – modisch gekleidete Jugendliche, oft mit langen Haaren, Schuhen mit Plateausohlen, engen Hosen und breiten Krawatten – löste dieser Nonkonformismus eine Welle von Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen aus, sowohl seitens der Staatsmacht als auch in unorganisierter Form durch soziale Kontrolle und offene Kritik durch Mitbürger, obwohl eine politische oder gar oppositionelle Intention kaum auszumachen war; der öffentliche Raum war bald wieder ›gesäubert‹ und die stiljagi zogen sich in die Privatsphäre zurück (Kharkhordin 1999: 289ff). Die Entstehung einer ähnlichen Bewegung wäre in ländlichen Gebieten natürlich kaum denkbar gewesen, doch andere Formen illegitimen Verhaltens waren auch hier durchaus anzutreffen und wurden geduldet; auf eine penible Kontrolle des dörflichen Alltags in jedem einzelnen Kollektivbetrieb zu verzichten, erschien in der ohnehin fragmentierten Kolchozlandschaft nicht ganz so problematisch wie in großen Agglomerationen. Eine der Situation in den Städten vergleichbare Überwachung war in den Kolchozen aber auch gar nicht möglich. Denn die spezifische Konstellation gemeinsamer Abhängigkeit von einem begrenzten Pool an Ressourcen einerseits und Abschottung nach außen andererseits machte es für den Staat extrem schwer zu verhindern, dass sich neben den in der offiziell-repräsentativen Sphäre angesiedelten Praktiken nicht weitere wirtschaftliche und soziale Arrangements etablierten, die über die lokale Gemeinschaft hinaus nicht bekannt wurden. Die persönlichen Nebenerwerbswirtschaften der Kolchozmitglieder stellten eine nie versiegende Quelle gemeinsamer Interessen dar, von deren Berücksichtigung über das legale Maß hinaus alle, einschließlich der Betriebsleitungen und der Parteimitglieder, profitierten; geschädigt wurde nur der Staat. Viele der bekannten Probleme der sowjetischen Agrarproduktion, vom viel zu hohen ›Schwund‹ bei Saatgut, Futtermitteln, Dünger und Pestiziden über die eigenmächtige Nutzung der Betriebsmittel für die Bearbeitung der Hoflandparzellen bis hin zur Krank-
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meldung in Zeiten hoher Arbeitsbelastung in der persönlichen Nebenerwerbswirtschaft haben hier ihre Wurzeln. Die Gefahr, dass die konkreten Modalitäten dieser Arrangements bekannt wurden, war viel geringer als in einem städtischen Industrieunternehmen: Da die Betriebe die territorial identischen Gemeindeverwaltungen dominierten, die meisten öffentlichen Aufgaben selbst wahrnahmen und die Behördenmitarbeiter ebenso wie die Parteimitglieder von der persönlichen Nebenerwerbswirtschaft nicht ausgeschlossen waren, existierte keine wirklich unabhängige Kontrollinstitution in den Dörfern. Diese Konstellation schuf den Freiraum für die Entstehung lokal-informeller Halböffentlichkeiten in den Kolchozen. Hier formulierten die Bauern ihre Interessen und Forderungen als Privatpersonen und ›Privatunternehmer‹ gegenüber der für sie entscheidenden, Rahmen setzenden Institution »Kolchoz«; die symbiotische Beziehung zwischen Nebenerwerbswirtschaften und Kollektivbetrieb erhielt in dieser Sphäre ihre konkrete Ausgestaltung. Wie weit das Feld möglicher Themen und Fragen war, die zur Disposition stehen konnten, wurde im dritten Kapitel gezeigt: Löhne und Sondergratifikationen, die Reparatur der Schule und des Kindergartens oder die Anlage neuer Wege, die Preise für die private Nutzung von Zugtieren und Betriebsmitteln oder Weiderechte, die Modalitäten des Transports von privat erzeugten Produkten zum Kolchozmarkt oder der Verkauf an den Betrieb zur Erfüllung des Plansolls gehörten dazu. Und das ebenfalls bereits zitierte Beispiel des Leiters einer Revisionskommission, der seine private ›Parallelberichterstattung‹ als Druckmittel gegen den Kolchozvorsitzenden verwendete, illustriert, mit welchen Mitteln die Auseinandersetzungen im Extremfall geführt werden konnten. Diese Aufzählung macht aber auch deutlich, dass die Grenze zwischen der repräsentativ-offiziellen Öffentlichkeit und der lokal-informellen Halböffentlichkeit ausgesprochen unscharf war. Sie kann kaum anhand von Fragen oder Themen, sondern nur unter Berücksichtigung der konkreten Art ihrer Behandlung und Lösung gezogen werden. Prinzipiell wäre es natürlich möglich gewesen, in all den genannten Bereichen Regelungen zu folgen, die sich in vollständiger Übereinstimmung mit den offiziellen Vorgaben befanden, obwohl es in der Praxis allein schon deshalb schwierig war, die Kriterien offizieller Repräsentation wirklich zu erfüllen, weil die persönlichen Nebenerwerbswirtschaften an sich unverzichtbar und daher geduldet, aber eigentlich nicht erwünscht waren. Doch darüber hinaus führten der Druck der Bauern auf die Kolchozleitung ebenso wie die ureigenen Interessen der Leitungsangehörigen als Privatproduzenten häufig zu Verletzungen der normativen Vorgaben für ein »mustergültiges Kollektiv«, wie es die offiziell-repräsentative Sphäre eigentlich widerspiegeln sollte. Diese blieb sogar selbst immer ein fragiles Gebilde, das nicht dagegen gefeit war, als Forum für systemkonträre Meinungs- und Interessenartikulation missbraucht zu werden. Die jährliche Versammlung der Kolchozmitglieder
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beispielsweise, eigentlich ein idealtypisches Element dieser Sphäre, das die »Kolchozdemokratie« zu verkörpern hatte, wurde zumindest in den Anfangsjahren der Kollektivierung immer wieder zu einem »Instrument der bäuerlichen Selbstorganisation gegen den Staat« (Merl 1998: 138f ) umfunktionalisiert und der Dorfsowjet konnte als Protestforum zweckentfremdet werden (Rittersporn 1998: 158). Dasselbe gilt im Übrigen auch für die repräsentativ-offizielle Öffentlichkeit in ihrer nationalen Dimension: Grützmacher (2002: 219ff) etwa beschreibt den Bau der Bajkal-AmurMagistrale als ein landesweites Mobilisierungsprojekt – »das ganze Land baut die BAM« –, das sich zwar seine eigene Öffentlichkeit wie vorgesehen schuf, damit aber auch eine Plattform für Kritik hervorbrachte, die dazu tendierte, den Rahmen der vorgesehenen Inszenierung zu sprengen. Städtische Arbeitskollektive, denen eine finanziell wesentlich besser ausgestattete staatliche Verwaltung gegenüberstand, die weit weniger umfassend für ihre Beschäftigten zuständig waren und deren integrative Kraft auch dadurch eingeschränkt war, dass die Mitglieder sich nach der Arbeit aus ihrem Zuständigkeitsbereich entfernten, konnten niemals dieselbe Rolle spielen wie die Kolchoze im ländlichen Raum. Dennoch finden sich auch in Lewadas (1992) Analyse des »einfachen Sowjetmenschen« – so die wörtliche Übersetzung des russischen Originaltitels –, deren empirische Grundlage die Befragung einer für die Sowjetbevölkerung repräsentativen Stichprobe von 2.696 Personen ist, Passagen, die auf die Existenz paralleler Öffentlichkeiten in sowjetischen Kollektiven im Allgemeinen hinweisen: »[…] so ist auch das Kollektiv, in das das Individuum unmittelbar eingeht, durch eine hartnäckige Dualität und fundamentale Doppeldeutigkeit der Definitionen gekennzeichnet. Einerseits findet in ihm eine pseudofunktionale Differenzierung (Spezialisierung) statt, andererseits bildet es eine symbolische, informelle Gemeinschaft aus den ›Seinen‹. Im ersten Fall werden Rituale demonstrativer Loyalität ›nach oben‹ inszeniert, an denen teilzunehmen für alle obligatorisch ist, handele es sich um offene Partei- oder Betriebsversammlungen, feierliche Fest- oder Jubiläumssitzungen oder um Demonstrationen, Arbeitseinsätze im ›Gemüsestützpunkt‹, d.h. um verschiedene Formen der ›kleinen Mobilisierung‹. Im zweiten Fall werden geheim, hinter verschlossenen Türen Saufgelage von einfachen Mitarbeitern und direkten Vorgesetzten anlässlich von Geburtstagen, Auftragserledigungen, inoffiziellen Feiertagen u.a.m. veranstaltet, die periodisch die Barrieren der hierarchischen Bestimmung auf heben.« (Lewada 1992: 72).
»Verheimlichen« und »sich verstellen« – in Kharkhordins (1995) Metapher »dissimulating animal« verstanden als eine individuelle Strategie zur Verteidigung der Privatsphäre vor dem Zugriff eines Staates, dessen Ziel die Errichtung einer ›öffentlichen Gesellschaft‹ ohne Rückzugsräume war – schufen als gemeinschaftliche Strategie in Kollektiven den Raum für die Entstehung einer
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verborgenen Halböffentlichkeit. »Sollen die Behörden denken, ich bin ein unbedeutender Bauer« wurde nach Chistobayev (1990: 157) zur Leitlinie der individuellen Außendarstellung; analog dazu bestand der unausgesprochene Konsens der gemeinsamen Außendarstellung in dem Grundsatz »sollen die Behörden denken, wir sind ein vorbildliches Kollektiv«. Unter dem Vorbehalt grober Vereinfachung, die dem Versuch, soziale Strukturen oder Prozesse grafisch darzustellen, immer zu Eigen ist, stellt Abbildung 6 die Konstitution lokaler Öffentlichkeiten im ausgehenden 19. Jh. und in der späten Sowjetzeit vergleichend gegenüber. Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen zwischen der Frühzeit der Zwangskollektivierung und den Jahren unter Breschnew als Generalsekretär müssten darin sowohl durch einen unterschiedlichen Umfang der einzelnen Bereiche wie auch in der Durchlässigkeit der Schnittstellen ihren Niederschlag finden: War unter Stalin die Privatsphäre zu einem minimalen Residualraum geworden und die lokal-informelle Halböffentlichkeit nur schwach ausgeprägt, so hatten beide in der »Zeit des Stillstands« an Raum gewonnen. Die Abgrenzungen 1 und 2 waren nun offener – persönliche Ansprüche konnten in beschränktem Maße sowohl individuell als auch gemeinsam im Rahmen offizieller Kolchozinstitutionen artikuliert werden – und die im dritten Kapitel zitierten Diskussionen über die Zukunft der Nebenerwerbswirtschaften in staatlichen Medien zeigen, dass für die persönlichen Interessen der Bauern nun auch in der repräsentativ-offiziellen Öffentlichkeit auf der nationalen Ebene Platz war. Abbildung 6: Öffentlichkeiten im 19. Jh. (links) und in der sowjetischen Zeit (rechts) ������������������������
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In den einzelnen Betrieben hingen der Umfang der lokal-informellen Halböffentlichkeit und der repräsentativ-offiziellen Öffentlichkeit in erster Linie von den Kolchozvorsitzenden ab. Sie waren es, die immer wieder den Ausgleich herstellen mussten zwischen den Interessen der Bauern, die oft auch ihre eigenen als Mitglieder der lokalen Gemeinschaft waren, und den Vorgaben des Staates, als dessen lokale Repräsentanten sie für
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›Fehlentwicklungen‹ verantwortlich gemacht werden konnten. Houghs (1971: 106) aus der Analyse von insgesamt 310 autobiographischen Texten von Kolchozvorsitzenden resultierende Einschätzung, dass Betriebsleiter oft mehr zum »wir« des Kollektivs als zum »sie« der übergeordneten Behörden gehörten und als schützender »Prellbock nach außen« fungierten, dürfte nicht nur für die 1930er Jahre zutreffend gewesen sein. Diese Rollenverteilung brachte es mit sich, dass häufig allein die Kolchozvorsitzenden wussten, wie das Bild, das ihr Betrieb – auch in Form offizieller Kennzahlen und Statistiken – nach außen vermittelte, wirklich zustande kam. Das »Mysterium der Selbstkosten« (Kitching 2001) ist Teil dieser strategisch notwendigen und selbst für Mitglieder, sofern sie nicht der Leitungsebene angehörten, schwer nachvollziehbaren Selbstpräsentation der Kollektive im regionalen und nationalen Rahmen.
Exkurs: Das Mysterium der Selbstkosten Die Frage des angemessenen Umgangs mit den verfügbaren Statistiken wirft für jeden Wissenschaftler, der sich historisch oder gegenwartsorientiert mit den Staaten des ehemaligen Ostblocks befasst, erhebliche Probleme auf. Dem grundsätzlichen Konsens darüber, dass auf die Verwendung statistischer Daten nicht verzichtet werden kann, stehen unausräumbare Zweifel an deren Zuverlässigkeit gegenüber. Typischerweise besteht der Ausweg aus diesem Dilemma darin, offizielles Zahlenmaterial zumindest als ›zusätzlichen Indikator‹ zu verwenden und in Nebensätzen oder Fußnoten die bestehenden Vorbehalte deutlich zum Ausdruck zu bringen. Der Versuch, der »Fahrt ins Blaue« (Kitching 2001: 57) durch die Statistiken ehemals sozialistischer Staaten Orientierungshilfen und ein Ziel zu verleihen, ist unvermeidbar mit zwei Schwierigkeiten verbunden: Zum einen sind generelle Aussagen über »die« Statistik oder auch nur über einen sektoralen Teilbereich (Agrarstatistiken, Bevölkerungsstatistiken, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung usw.) nicht möglich, sondern der Versuch einer Abschätzung der Reliabilität muss für jede Größe einzeln erfolgen. Zum anderen kann eine Abschätzung nicht ausschließlich von einer Analyse der systemimmanenten Logik ausgehen – »welche grundsätzlichen Ziele gab es und welche Verzerrungen sind folglich zu erwarten?« –, sondern muss empirisch versuchen, den Prozess der Datenerhebung in ganz konkreten Handlungskontexten nachzuvollziehen. Gavin Kitching kommt das Verdienst zu, diese beiden Schwierigkeiten in einem Aufsatz mit dem Titel »The Concept of Sebestoimost’ in Russian Farm Accounting: A Very Unmagical Mystery Tour« gezielt aufgegriffen zu haben. Die gelungene Verbindung von konzeptioneller Analyse mit den Ergebnissen eigener Feldarbeit liefert einen der ganz wenigen konkreten Anknüpfungspunkte für eine weitere Diskussion wichtiger Kennziffern der sowjetischen Agrarstatistik.
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Kitching geht davon aus, dass die sowjetische Buchhaltungssystematik im Allgemeinen und das Selbstkostenprinzip – der Versuch, die Herstellungskosten für jedes einzelne Erzeugnis separat zu berechnen – im Besonderen den direkten Versuch einer Umsetzung von Grundgedanken aus Marx’ »Kapital« darstellen (Kitching 2001: 65f ), womit implizit bereits die Frage ihrer Tauglichkeit in einem anderen politökonomischen Umfeld angedeutet wird. Den Selbstkosten sei eine zentrale, wenn auch sich wandelnde Funktion einerseits als Orientierungsgröße für die Festlegung staatlicher Preise (ab Mitte der 1950er Jahre), andererseits als Maßstab für die Effizienz der Produktion zugekommen. Dementsprechend hätte eine Weitergabe falscher Selbstkostenziffern durch die Betriebe das zentralplanwirtschaftliche System an einer entscheidenden Stelle empfindlich durcheinander bringen müssen und genau das war nach Kitchings (2001: 69) Ansicht auch der Fall. Der Grund dafür liege in einem fatalen Aufeinandertreffen von unklaren Buchungsrichtlinien und schwachen Kontrollmechanismen des Staates auf der einen Seite sowie wirtschaftlichen Anreizen für die Betriebe, die Produktionskosten zu manipulieren, auf der anderen. Auf die Frage, welchen produktspezifischen Kosten beispielsweise die Arbeitszeit zugerechnet werden soll, die »Oleg der Traktorfahrer« (Kitching 2001: 67) für die Reparatur seines Pfluges aufwendet, mit dem er später sowohl ein Mais- als auch ein Weizenfeld bestellt, böten die russischen Standardhandbücher keine befriedigende Antwort (Kitching 2001: 61). Und auch wenn die befragten Betriebsvorsitzenden auf die Existenz entsprechender Normen verwiesen, bleibe es mehr als fraglich, ob diese tatsächlich eingehalten und kontrolliert wurden (Kitching 2001: 68). Für die Betriebsleiter wären demzufolge erhebliche Entscheidungsspielräume entstanden, die dazu genutzt wurden, das Betriebseinkommen zu steigern. Grundlage dafür sei die Tatsache gewesen, dass die Ausweisung höherer Kosten die sowjetischen Planungsbehörden dazu veranlasst habe, die staatlichen Abnahmepreise ebenfalls zu erhöhen (Kitching 2001: 62, 69, 74). Wollte man beispielsweise sinkenden Preisen bei profitabel produziertem Gemüse vorbeugen, so empfahl es sich, einen Teil der Kosten der Getreideproduktion buchhalterisch ›umzuschichten‹ und so die tatsächlichen Einnahmeüberschüsse zu verschleiern. Falls diese Beschreibung die Praxis der Selbstkostenberechnung tatsächlich treffend wiedergibt, so ergäben sich daraus für die retrospektive Beurteilung des sowjetischen Wirtschaftssystems in zweifacher Hinsicht Konsequenzen: Zum einen wäre damit ein wichtiger Faktor identifiziert, der für das Scheitern zentralplanwirtschaftlicher Wirtschaftsordnungen mit verantwortlich ist. Staatliche Planung wäre dann tatsächlich als »iterativer Prozess, Bluff, Gegen-Bluff und Desinformation zwischen Planern und Betriebsleitern« (Kitching 2001: 69) zu verstehen, als ein zirkulärer Mechanismus also, in dem sich die Kolchozvorsitzenden bei der Angabe ihrer Selbstkosten an den zu erwarteten Preisen orientierten und die Behörden
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bei der Kalkulation der Preise die vermeintlichen Selbstkosten zugrunde legten. Zum anderen müsste die tatsächliche Effizienz der sowjetischen Landwirtschaft völlig neu bewertet werden, denn die Kostenmanipulation der Betriebe zielte darauf ab, rentable Produktion durch die Zuschreibung fiktiver Kosten als defizitär zu verschleiern (Kitching 2001: 62), um so eine Senkung der Abnahmepreise zu verhindern. Die Feststellung, dass es bei der Bestimmung der Selbstkosten für die Betriebe reichlich Spielraum für Manipulationen gab, ist unmittelbar einsichtig. Einerseits ist es gerade in der Landwirtschaft tatsächlich niemals vollständig möglich, die auftretenden Kosten exakt bestimmten Produkten zuzuordnen (Gray 1979: 548), 26 andererseits ist die Verbuchung im nachhinein nur äußerst schwer zu kontrollieren. Wenn diese Spielräume also wirklich bestanden, dann ist die Bewertung der Selbstkostenrechnungen weniger eine Frage buchhalterischer Systematik oder gesetzlicher Rahmenbedingungen, als vielmehr ein Problem der Handlungsebene. Prinzipiell ist Kitching also zuzustimmen, wenn er die Selbstkostenfrage im Kontext strategischer Überlegungen von Betriebsleitern analysiert. Doch zumindest an zwei Stellen ruht seine Analyse auf tönernen Füßen. Erstens basieren die zentralen Hypothesen im Wesentlichen auf den Aussagen eines einzigen Informanten in einem Interview, das zu einem Zeitpunkt geführt wurde, als bereits reichlich Wodka geflossen war (Kitching 2001: 68, Fßn. 8). Erst danach, d.h. also nachdem zur Selbstkostenfrage eine erste Arbeitshypothese gebildet worden war, die weiteren Befragten vorgelegt werden konnte und selbst dann nur »nach einigem Widerstreben« (Kitching 2001: 68), war es möglich, von weiteren Gesprächspartnern Bestätigungen zu erhalten. Dieser Problematik ist sich Kitching wohl bewusst – »das in diesem Aufsatz präsentierte Material ist zu spärlich, um die Hypothese zu beweisen« (Kitching 2001: 57) – und er betont deshalb ausdrücklich, dass er »jede weitere Detailinformation zu diesem Thema, die irgendein Leser dieses Artikels beisteuern kann,« begrüßen würde (Kitching 2001: 68, Fßn. 9). Aus der dünnen empirischen Basis ergibt sich ein zweites Problem. Die Frage ist nicht, ob es grundsätzlich einen allgemeinen Zusammenhang zwischen Selbstkosten und Aufkaufpreisen gab, sondern ob die einzelnen Betriebsleiter wirklich damit rechneten, dass die von ihnen individuell ausgewiesenen Selbstkosten sich über Preise unmittelbar auf ihre Erlöse in den folgenden Jahren auswirkten. Ersteres ist unstrittig und wird in sowjetischen Handbüchern oder der Zeitschrift »Planwirtschaft« auch unmissverständlich so dargestellt (Gluškov 1985: 52; Gumerov 1979: 90f). Letzteres hingegen erscheint angesichts von Preisen, die für landwirtschaft26 | Oft wird in diesem Zusammenhang das Beispiel der Schafzucht zitiert, wo keine von den erzielten Erlösen unabhängigen Kriterien gefunden werden können, um die Kosten für Futter auf die beiden Produkte »Fleisch« und »Wolle« zu verteilen.
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liche Großregionen festgelegt wurden, nur schwer vorstellbar; dass über die Mikroebene der Relevanz einzelbetrieblicher Selbstkostenausweisung für die Preisbildung so gut wie nichts bekannt ist, räumt auch Kitching (2001: 74, Fßn. 28) offen ein. Grundsätzlich wurden die landwirtschaftlichen Abnahmepreise dem Ministerrat von der zentralen staatlichen Preisbehörde als »Empfehlung« vorgelegt, doch es ist unklar, welche Spielräume für Anpassungen regionalen und lokalen Behörden dann noch eingeräumt wurden (Bornstein 1978: 489). Gezielte Nachforschungen in zwei von mir untersuchten Betrieben – Interviews mit Betriebsvorsitzenden, Buchhaltern und Mitarbeitern der Agrarbehörden in den Zentren, die bereits in der sowjetischen Zeit mit Produktionsplänen und Selbstkostenberechnungen befasst waren – lieferten ähnlich vage Ergebnisse wie die Befragungen Kitchings, deuten jedoch in eine etwas andere Richtung. Die erste Stelle, an der die Erzeugungskosten eines bestimmten Produktes in schriftlicher Form auftauchen, ist der am Anfang jeden Jahres erstellte »Produktionsplan«. Doch die darin festgehaltenen Selbstkostenprognosen werden nur verständlich, wenn man die Bedeutung und den Erstellungsprozess dieses Planes kennt. Produktionspläne wurden von den Kolchozen seit Mitte der 1960er Jahre angefertigt (Gray 1979: 552) und stellen formal eine Art selbständig ausgearbeiteter ›Geschäftsprognose‹ für das kommende Haushaltsjahr dar, in der Einnahmen, Ausgaben, Anbauflächen usw. kalkuliert wurden. Selbstverständlich existierten aber zugleich Fünfjahrespläne, in denen für die einzelnen Kreise nicht nur die abzuliefernden Mengen, sondern auch eine Vielzahl anderer Eckwerte der Produktion bereits festgelegt waren. So stellt sich die Frage, wie diese ›Selbstständigkeit‹ mit den staatlichen Vorgaben in Einklang gebracht werden konnte. Die ehemalige Buchhalterin eines Kolchoz im Gebiet Nižnij Novgorod äußerte sich dazu mir gegenüber folgendermaßen: »Na wie schon? Wir wussten doch, was wir ungefähr produzieren mussten und welche Ausgaben wir hatten, schließlich haben wir das ja nicht zum ersten Mal gemacht. Und wenn etwas unklar war, dann haben wir eben beim Landwirtschaftsamt des Kreises angerufen und haben nachgefragt.« (07/08/2001) 27
Dieses Zitat verweist auf die zwei für die Erstellung von Produktionsplänen und damit auch die erste Fixierung der zu erwartenden Selbstkosten entscheidenden Mechanismen: Fortschreibung der Pläne vorangegangener Jahre und Aushandlung mit den für die Erfüllung der Planvorgabe verantwortlichen Behörden. – Fortschreibung: Das Fehlen von Information über Produktionsfaktoren, Kosten und Bedürfnisse stellte eines der wichtigsten Probleme für Zen27 | Zur Zitierweise aus transkribierten Interviews und Gedächtnisprotokollen vgl. Kapitel 5.
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tralplanwirtschaften dar und deshalb wurde auch in der sowjetischen Planung auf einen Mechanismus zurückgegriffen, der für jedes Privatunternehmen in einem marktwirtschaftlichen Umfeld selbstverständlich ist: Prognosen betrieblicher oder volkswirtschaftlicher Entwicklungen basieren weniger auf der Sammlung von Marktinformationen, als vielmehr auf Erfahrungen aus vorangegangenen Jahren. »From the Achieved Level« nennt Birman (1978) dieses Verfahren, das darin bestand, »zu den verfügbaren ex post-Zahlen einen bestimmten Wachstumsprozentsatz [zu] addieren« (Birman 1978: 161); er hält es für das zentrale Prinzip von »Planung« in allen Sektoren und auf allen administrativen Ebenen der ehemaligen Sowjetunion. In Bezug auf die Selbstkostenrechnung wurde das Fortschreibungsprinzip tatsächlich nicht nur von den Buchhaltungsabteilungen der Betriebe angewandt, sondern auch von den übergeordneten staatlichen Stellen. Auf meine Frage, nach welchen Kriterien die von den Betrieben vorgelegten Produktionspläne bewertet bzw. korrigiert worden seien, antwortete mir eine Angestellte der Landwirtschaftsbehörden des Kreises mit fast denselben Worten wie die bereits zitierte Buchhalterin. Der einzige Unterschied bestand darin, dass für sie »Fortschreibung« in Bezug auf Selbstkosten bedeutete, den Vorjahreswert immer um einige Prozentpunkte zu unterbieten. Aushandlung: Das sowjetische Wirtschaftssystem ließ an vielen Punkten wesentlich größere Spielräume für ›Verhandlungen‹, als es auf den ersten Blick erscheint (Birman 1978: 163). Wenn beispielsweise ein Kreis eine bestimmte Menge eines Agrarproduktes abzuliefern hatte, so lag es im Kompetenzbereich lokaler Behörden, die Gesamtforderung auf die Betriebe zu verteilen. Die einzelnen Kolchozleiter, denen dieser Mechanismus selbstverständlich bekannt war, sahen sich also am Anfang des Jahres keineswegs einer unabänderlichen Plangröße gegenübergestellt, die sie zu erfüllen hatten. Vielmehr konnten sie das Ablieferungssoll für ihre Betriebe als eine Art »Vertrag mit den Landwirtschaftsbehörden« aushandeln welche bestrebt waren, den Vorgaben von oben entsprechend die Selbstkosten der Produktion Jahr für Jahr zu verringern und entsprechenden Druck auf die Kolchozvorsitzenden ausübten.
Produktionspläne entsprachen also weder realistischen »Business-Plänen« im westlichen Sinn noch entstanden sie durch einfaches »Herunterrechnen« der Fünfjahrespläne auf ein Wirtschaftsjahr und einen konkreten Betrieb, sondern sie waren das Produkt der Kombination von »Erfahrungswerten« mit »Verhandlungsmacht«. Waren darin die Selbstkosten einmal festgeschrieben, so galt es, die entsprechenden Werte unter Einsatz aller betriebswirtschaftlichen und buchhalterischen Strategien auch zu erreichen, denn Planerfüllung war das oberste Ziel und somit auch der entscheidende Grund für die Betriebsleiter, von vornherein auf höhere Selbstkosten in den Produktionsplänen zu drängen.
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Musste dann zum Jahresende der Rechenschaftsbericht angefertigt werden, in dem die endgültigen Selbstkostenziffern für das Wirtschaftsjahr festgehalten und für die offizielle Statistik weitergegeben wurden, kamen die von Kitching beschriebenen »Umschichtungsstrategien« soweit möglich tatsächlich zum Einsatz, wie mir in Interviews mehrmals erstaunlich offen bestätigt wurde: Innerhalb einer Betriebsabteilung (»Pflanzenbau«, »Viehwirtschaft«, …) wurden die Kosten zwischen den einzelnen Gütern relativ problemlos hin und her geschoben, zwischen den Abteilungen scheint die Hemmschwelle zwar etwas größer, aber nicht wirklich begrenzend gewesen zu sein. Doch dabei ging es immer darum, die ausgehandelten Soll-Zahlen einzuhalten; Hinweise auf Überlegungen, in Zukunft mit steigenden staatlichen Aufkaufpreisen rechnen zu können, sind mir demgegenüber nie begegnet. Die Möglichkeit, über Preise tatsächlich das Betriebsergebnis aufzubessern, bestand hingegen an einem völlig anderen Punkt des Produktions- und Ablieferungsprozesses: Für fast alle Produkte – vermeintlich homogene Güter wie Milch eingeschlossen – gab es mehrere Preisstufen, die von der Qualität und dem Verunreinigungsgrad abhingen. Hier gab es Verhandlungsspielraum und der für die abgelieferte Menge tatsächlich erzielte Preis hing nicht zuletzt von den persönlichen Beziehungen zu den Leitern der Abnahmestellen ab, von denen die Preisklasseneinstufung vorgenommen wurde, sobald die Ware eintraf. Insgesamt waren meinem Eindruck nach auf der handlungspraktischen im Gegensatz zur planerisch-konzeptionellen Ebene die Selbstkosten überhaupt nur von nachrangiger Bedeutung. Im Zentrum aller Verhandlungsanstrengungen stand das Ziel, die abzuliefernden Mengen zu senken und auf andere Betriebe desselben Kreises abzuwälzen. Sollten an zweiter oder dritter Stelle der Ziele des »Plan-Spiels« aus der Sicht der Betriebsleiter tatsächlich auch Überlegungen eine Rolle gespielt haben, über Selbstkosten auf die Preise Einfluss zu nehmen, so war der Handlungsspielraum dafür wohl wesentlich geringer, als Kitching annimmt. Die lokalen Landwirtschaftsbehörden besaßen nämlich genug Erfahrung und konnten auf die Vergleichszahlen anderer Betriebe ihres Kreises zurückgreifen, um die tatsächlichen Selbstkosten realistisch abzuschätzen: »Was meinen Sie denn, ich arbeite hier seit über 20 Jahren. Meinen Sie, ich weiß nicht, wie unsere Betriebe hier aussehen? Da kann mir keiner was erzählen!« entgegnete mir die langjährige Leiterin einer Kreisbehörde auf die Frage, ob es nicht schwierig gewesen sei, die Selbstkostenrechnung der Betriebe zu prüfen. Im Gegensatz zu den Kolchozvorsitzenden hatte man hier aber kein Interesse an hohen Kosten, sondern gab den von oben kommenden generellen Selbstkostendruck nach unten weiter und war bemüht, den eigenen Kreis in einem möglichst positiven Licht zu präsentieren. Dass die Kolchozleiter oft mehr dem »wir« des Kollektivs als dem »sie« der übergeordneten Behörden angehörten (Hough 1971: 106) scheint sich im Fall der Aushandlung von Produktionsplänen jedenfalls zu bestätigen.
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Das Kolchoz-Kollektiv Die Feststellung struktureller Ähnlichkeiten zwischen Landkommunen und Kolchozen einerseits und der von anderen Autoren konstatierte Bruch mit der Tradition durch die Zwangskollektivierung andererseits zeichnen ein äußerst widersprüchliches Bild des Kolchoz als einer lokalen, teilautonomen Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft. Humphrey (1983: 441) beispielsweise betont, die »in Gemeinschaftlichkeit verwurzelten Werte, die der Arbeit in einem Kolchoz eigen sind«, während Chistobayev (1990: 157) den Verlust eben dieses »im Lauf von Jahrhunderten« entstandenen Gemeinschaftsgefühls in den Kolchozen beklagt. Die ebenso unklare Vorstellung von »Öffentlichkeit« in sozialistischen Systemen (Kharkhordin 1995: 209) scheint mir mit dieser Widersprüchlichkeit in engem Zusammenhang zu stehen. Denn das Verhältnis und die Gewichtung von »Öffentlichkeit« als Forum der Artikulation von Meinungen und Interessen und »Öffentlichkeit« als Raum der Repräsentation staatlicher Ideologie und Macht sind entscheidend für die Entstehung einer Identität als Kollektiv, die ihre Wurzeln entweder in koordinierten Aushandlungsprozessen oder im Nachspielen eines vorgegebenen Plots hat. Die oft als ›Rollenspiele‹ inszenierten Vollversammlungen der Kolchozmitglieder und die Versammlungen der Haushaltsvorstände in den Landkommunen repräsentieren in diesem Sinn in idealtypischer Weise zwei völlig unterschiedliche Ankerpunkte eines dörflichen Gemeinschaftsgefühls. Der Kollektivismus der Landkommunen war verwurzelt in dem Bestreben, im Rahmen der bestehenden Spielräume und Verpflichtungen die wirtschaftliche und soziale Ordnung im Gemeinwesen aufrecht zu erhalten. Sein sozialer Ort war die kommunale Halböffentlichkeit, die als Sphäre der Interessenvertretung zwar durchaus Parallelen zur lokalinformellen Halböffentlichkeit der sowjetischen Kolchoze aufweist, sich von dieser aber in entscheidenden Aspekten unterschied, nachdem die Zwangskollektivierung die gemeinsam zu tragende durch eine hierarchisch abgestufte Verantwortlichkeit ersetzt hatte: Die einzelnen Haushalte waren nun vom Kolchozvorstand abhängig, der selbst wiederum ebenso wie der Gemeindevorsitzende den Verwaltungsbehörden der Kreisebene unterstand. Der daraus resultierende Bedeutungsverlust kommunaler Abstimmungsprozesse wurde durch staatliche Bestrebungen, den gesamten dörflichen Alltag zu durchdringen, zusätzlich verstärkt. Zwar reagierten die Bauern darauf insbesondere noch unter Stalin mit massivem Widerstand – Rittersporn (1998) spricht in diesem Zusammenhang von einer bäuerlichen »Gegenkultur« – doch zugleich machten sie die einzelnen Haushalte zu Schutz- und Rückzugsräumen, die sich nach außen immer stärker abschotteten. In der unter sowjetischen Rahmenbedingungen ›individualisierten‹, nicht-staatlichen Sphäre kamen all diejenigen Belange der persönlichen Nebenerwerbswirtschaften zur Sprache, die nicht formal im Kolchozsta-
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tut oder in offiziellen Beschlüssen des Kolchozvorstandes festgehalten waren. Da die Nebenerwerbswirtschaften über die gesamte Regierungszeit Breschnews hinweg ihre gleich bleibend hohe Bedeutung für das Haushaltseinkommen jedes einzelnen Kolchozbauern behielten (vgl. Kap. 3), stellten sie eine wichtige, wenn auch sicher nicht die einzige Quelle von Partikularinteressen dar, die nach außen vertreten, aber im Gegensatz zu früher ebenfalls nicht mehr gemeinschaftlich abgestimmt werden mussten. Hatte in den Landkommunen noch gegolten, dass »mehr« für den Einen zwangsläufig »weniger« für alle anderen bedeutete (Atkinson 1990: 14), so war nun der Staat in Gestalt des Kolchoz der Geschädigte; vergrößerte beispielsweise ein Haushalt seine Hoflandparzelle, dann betraf dies jetzt seine Nachbarn in keiner Weise. Institutionalisierte Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse waren in vielen Fällen aber nicht nur unnötig, sondern sogar unmöglich geworden. Einerseits hatte man die Kommunen weitestgehend entmachtet und lokale Entscheidungsspielräume entweder stark eingeschränkt, durch behördliche Regelungen ersetzt oder in den unmittelbaren Zuständigkeitsbereich der Kolchozvorsitzenden übertragen. Andererseits bewegte sich die Verfolgung der Interessen des eigenen Haushaltes nun meist in einem unklaren Übergangsbereich zwischen nur illegitimen oder bereits illegalen Arrangements, die zwar informell ausgehandelt, aber nicht gemeinsam – beispielsweise im Rahmen einer Mitgliedervollversammlung – erörtert werden konnten. Der bilaterale Charakter der Kommunikation in der lokal-informellen Sphäre ist aber nicht nur ein Ergebnis der Tatsache, dass viele der hier getroffenen Vereinbarungen den Verhaltensregeln der offiziell-repräsentativen Sphäre zuwider liefen, sondern auch eine direkte Folge der spezifisch sowjetischen Verschränkung von allokativen und autoritativen Ressourcen. Die im Alltag benötigten Güter befanden sich in den meisten Fällen nicht im Eigentum einer Person, von der sie erworben werden konnten, sondern waren ›Volkseigentum‹, das im Lauf des Produktionsprozesses von einer Hand in die andere wanderte und immer nur im staatlichen Auftrag verwaltet bzw. weiter verarbeitet wurde. Amelina (2001: 45) spricht in diesem Zusammenhang von einem »zugangsbasierten Macht- und Verteilungssystem«. Ämter und berufliche Positionen, nicht Eigentumsrechte, bestimmten die individuelle Verfügungsgewalt über Dinge und begründeten einen Tauschmechanismus, in dem innerhalb eines Kolchoz jeder etwas anzubieten hatte: Die Melkerinnen und Stallarbeiter hatten Zugang zu Milch, der Aufseher der Tankstelle konnte Benzin besorgen, der Traktorist Brennholz transportieren und die Verfügungsgewalt eines Vorsitzenden erstreckte sich im Grunde auf alle in einem Betrieb vorhandenen Güter und Betriebsmittel. Das Spektrum der sich auf dieser Grundlage entwickelnden Praktiken war weit; es reichte von der bloß großzügigen Auslegung der durch das Musterstatut für den Kolchoz eingeräumten Spielräume bis hin zu eindeutigem
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Diebstahl. Gesetzeswidrigkeit stellte zwar keineswegs ein durchgängiges Merkmal des zugangsbasierten Verteilungssystems dar, aber mit der offiziell-repräsentativen Sphäre war es dennoch nicht kompatibel und so konnte es auch nicht in allgemein gültigen und öffentlich bekannt gemachten Regelungen kodifiziert werden. Stattdessen sprachen sich Präzedenzfälle und Entscheidungen der Kolchozleitung in der Dorfgemeinschaft schnell herum und begründeten einen allgemeinen Anspruch; es waren eher Begegnungen unter vier Augen im privaten Raum, in denen Informationen weiter gegeben wurden, als offizielle Anschläge im Dorfzentrum. Was »offensichtlich« war – beispielsweise die gängige Praxis, privates Vieh zusammen mit der Herde des Kolchoz auf die Weide zu treiben (Shlapentokh 1989: 205) – durfte nicht immer auch »öffentlich« werden, sondern musste den Charakter einer stillschweigenden Übereinkunft behalten. Aus der Sicht des Staates handelte es sich um eine Fehlentwicklung, die zwar bekannt, aber kaum wirkungsvoll zu unterbinden war. Fast resigniert klingt der Bericht einer Gruppe von Juristen, die 1964 die Region Kuban bereiste: »Im ganzen werden in der Mehrzahl der Kolchoze der Provinz die wichtigsten Fragen gegenwärtig nicht durch die Statuten entschieden, sondern durch zahlreiche Beschlüsse der innerbetrieblichen Leitungsorgane, die oft der gültigen Gesetzgebung zuwiderlaufen. Die an den Statuten vorbeigehende Entscheidung von Fragen des Kolchozlebens […] schafft nicht selten die Voraussetzungen für Verletzungen der Gesetzlichkeit in der Tätigkeit der Kolchoze […].« (zit.n. Wädekin 1969: 189f).
Die Verlagerung eines erheblichen Teils der privaten Interessen in die Informalität zog also unweigerlich das Verschwinden kollektiver Praktiken nach sich. Sollte die Bezeichnung »lokal-informelle Halböffentlichkeit« Assoziationen an das Idealbild einer Gemeinschaft hervorrufen, in der jeder Einzelne seine Interessen dem Allgemeinwohl unterordnet, so wäre sie irreführend; latente Konkurrenz und nicht Kooperation kennzeichnete diese Sphäre. 28 Im Lauf der 70-jährigen sowjetischen Geschichte war die gezielt betriebene Auflösung der in der kommunalen Autonomie und den sie verkörpernden Praktiken verankerten Selbstrepräsentation der Bauerngemeinden als »Gemeinschaften« gelungen. Doch statt Transparenz, Integration in staatliche Strukturen und Kontrollierbarkeit etablierte sich nun ein verdecktes Geflecht bilateraler Vereinbarungen und stillschweigender Übereinkünfte – unter dem Dach der neuen Einheit »Kolchoz« waren es 28 | Die Konkurrenz in der lokal-informellen Halböffentlichkeit kann durchaus als die kolchozspezifische Entsprechung dessen gesehen werden, was Lewada (1992: 94) als »Wettbewerbsbeziehung um das defizitäre Gut« bezeichnet und etwas überzogen für die »grundlegende Beziehung zum sozialen Partner« in sozialistischen Systemen hält.
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gerade die dem neuen System entstammenden Autoritären und Zuständigkeiten, die auch neue Handlungsspielräume eröffnet hatten. Über die bereits mehrfach genannten strukturellen Zwänge hinaus, die von der eingeschränkten Mobilität bis zur Abhängigkeit von den Kolchozen als wohlfahrtsstaatlichen Versorgungsinstitutionen reichten, implementierte das neue System jedoch auch neue Modi der Reproduktion eines positiven Zusammengehörigkeitsbewusstseins, die mehr als bloße »Zwangsgemeinschaften« entstehen ließen. Zum sozialen Ort des Erlebens kollektiver Identität war nun die sowjetische Kultur der repräsentativ-offiziellen Sphäre geworden. Hier war Kommunikation wirklich »öffentlich«, wenn auch stark ritualisiert, hier war Interaktion im großen Kreis möglich, auch wenn das, was nach »Absprachen« aussah, in Wirklichkeit meist mehr den Charakter von »Anordnungen« besaß, und hier wurde man von außen als Kollektiv wahrgenommen, ausgezeichnet und kritisiert. Die Mitglieder eines Kolchoz begingen gemeinsam die sozialistischen Feiertage, kümmerten sich um die Infrastruktur in ihrer Siedlung, nahmen im dorfeigenen »Kulturhaus« (dom kul’tury) an denselben Veranstaltungen teil und sahen dieselben Filme. Die Arbeit in der Landwirtschaft, früher eine individuelle Angelegenheit der einzelnen Haushalte, stellte in den Kolchozen ein weiteres wichtiges Feld der Begegnung dar. Im selben Betrieb beschäftigt zu sein bedeutete, einen großen Teil des Alltags nicht mehr zusammen mit anderen Familienangehörigen, sondern im Kreis der Mitglieder des Kollektivs zu verbringen. Aus der Sicht des Staates war »Arbeit« – im Allgemeinen, nicht nur in den Kolchozen – ein wirkungsvolles Instrument zur Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft und der Arbeitsplatz deshalb primär eine Bühne, deren Strukturierung den Regeln der repräsentativ-offiziellen Sphäre folgte und das kommunale Gemeinschaftsbewusstsein entsprechend prägte. Allerdings boten sich natürlich immer wieder Gelegenheiten, diesen Rahmen zu durchbrechen und Freiräume für die Verfolgung individueller Interessen zu schaffen. Kaneff (2000: 2; 2002: 181) betont, dass gemeinsame Arbeit grundsätzlich eine wichtige Säule der lokalen Identität im ländlichen Raum darstellt, und betrachtet in seiner Schilderung der Geschichte eines bulgarischen Dorfes deshalb die Kollektivierung als relativ bruchlosen Übergang, obwohl der ideologisch-instrumentelle Charakter der Beschäftigung in den Kollektiven nicht unerwähnt bleibt (Kaneff 2000: 7; 2002: 187). Dabei wird aber nicht nur übersehen, dass gemeinschaftliche Arbeit gegenüber der Arbeit in der Großfamilie vor der Kollektivierung eine Ausnahme blieb, sondern es werden auch Projekte wie der Bau einer Kirche, einer Schule oder eines Gemeindezentrums in der vorsozialistischen Zeit undifferenziert mit der Beschäftigung in einem Kollektivbetrieb gleichgesetzt. Erstere erforderten jedoch echte Kooperation und eine Aushandlung des Beitrags jedes einzelnen Haushaltes. Sie reproduzierten damit die Trennung zwischen den Höfen als wirtschaftlichen Grundeinheiten auf der einen Seite und dem,
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was man an Arbeitszeit und Ressourcen für kollektive Ziele aufzubringen bereit war; Kontroll- und Sanktionsmechanismen musste die Dorfgemeinschaft selbst finden. Die Beschäftigung im Kolchoz hingegen integrierte die Hoflandwirtschaften in den Kollektivbetrieb, auf dessen Unterstützung sie angewiesen waren, und sicherte das Familieneinkommen. Sie war kein »freiwilliger Beitrag«, sondern geprägt von Verpflichtungen, denen man nur nachkam, so weit es nötig war. Kooperation im Sinn von »Aushandlungsprozessen« war ebenso unnötig wie unmöglich, denn die Aufgaben waren vorgegeben und auf ein klares hierarchisches System, das vom Leiter einer Brigade bis zum Kolchozvorsitzenden reichte, abgestimmt. Die Grundlagen der Stratifizierung hatten sich damit umgekehrt. In den Landkommunen begründeten individualisierte Eigentumsrechte – soweit die Akkumulation von Vermögen im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung überhaupt möglich war –, einen überproportionalen Einfluss in der Dorfversammlung; der relative Reichtum und damit die Autorität der »Dorfoligarchie« (Moon 1999: 232) hingen von lokalen Bedingungen ab und mussten in der lokalen Gemeinschaft gesichert werden. In der offiziell-repräsentativen Sphäre der Kolchoze hingegen konstituierte die Position im politischen und wirtschaftlichen System, über deren Vergabe extern entschieden wurde, sowohl autoritative wie auch allokative Ressourcen; das Mitbestimmungsrecht der Mitglieder des Kollektivs blieb selbst in Kernbereichen der ›Kolchozdemokratie‹, wie beispielsweise bei der Wahl des Vorsitzenden, meist nur Fassade. Die egalitäre Eigentumsverteilung war eine der Normen, für deren Einhaltung nun die neuen Autoritäten verantwortlich waren. Damit ging schrittweise die Verwurzelung und Reproduktion in lokalen Praktiken verloren, denn sowohl die Einkommen aus der Arbeit im Betrieb wie auch die persönliche Nebenerwerbswirtschaft unterlagen strikten Regelungen, die nur schwer unterlaufen werden konnten. Sicherlich bestanden Grauzonen, und illegale Bereicherung wurde immer wieder in den Medien angeprangert, aber insgesamt blieben die Unterschiede zwischen Arm und Reich in den Dörfern vergleichsweise gering. Relative wirtschaftliche Gleichheit war – ebenso wie die ausgeprägte Ungleichheit politischer Partizipationsmöglichkeiten – ein Grundmerkmal des sozialistischen Systems, das gleichsam ›automatisch‹ aufrecht erhalten wurde; sie war zumindest keine Angelegenheit, um die sich die Dorfgemeinschaft selbst noch aktiv kümmerte. Da sie ihre Legitimität aus dem machtvoll von außen strukturierten Raum der repräsentativoffiziellen Sphäre bezog, wurde die egalitäre Einkommensverteilung in der lokal-informellen Öffentlichkeit nicht als gemeinsames Anliegen, sondern – wenn überhaupt – in Form eines individuellen Anspruchs artikuliert: Die Bedingungen, zu denen andere Dienstleistungen oder Güter des Kolchoz erhalten hatten, konnte man auch für sich selbst verlangen. Darin drückt sich eine inhaltliche Verschiebung des Gleichheitsprinzips aus. In der dörflichen Praxis – nicht in seiner theoretisch idealen Form!
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– bezog es sich nun primär auf »gleiche (restriktive) Rahmenbedingungen für alle« sowie »(weitgehend) gleiche Einkommen und Leistungen vom Betrieb«. Der letztgenannte Aspekt hatte in den Landkommunen vor der Revolution keine Rolle gespielt; eine begrenzte wirtschaftliche Stratifizierung aufgrund unterschiedlicher Bereitschaft und Fähigkeit zur Arbeit hingegen war damals der Normalfall gewesen und verlor erst im Kolchozsystem an Bedeutung. 29 Ungleiche Vermögensverhältnisse, die auf individuelle Leistungen im weitesten Sinn zurückgeführt werden können, wurden erst im Zuge der Privatisierung in den 1990er Jahren wieder aktuell. Die verbreitete Kritik an den neuen Privatbauern kann deshalb nicht einfach mit dem Fortbestehen des sozialistischen Gleichheitsideals begründet werden. Die Verschränkung zweier unterschiedlicher Formen von »Öffentlichkeit«, in denen jeweils eigene Legitimitätsstandards galten, die nicht unabhängig voneinander waren, sondern immer wieder neu ausbalanciert werden mussten und Raum sowohl für die Aushandlung privater Interessen wie auch für die Aufrechterhaltung einer gemeinsamen lokalen Identität boten, bildete die Ausgangskonfiguration für die Privatisierung der Kollektivbetriebe seit 1991. Dass in dieser Situation der plötzliche Rückzug des Staates nicht nur eine Befreiung von als repressiv empfundenen Strukturen war, sondern auch einen »Zusammenbruch« bedeutete, mag einleuchten. Aber auch die in der lokal-informellen Sphäre angesiedelten ›privatwirtschaftlichen Elemente‹ ließen sich nicht einfach in einen anonymen nationalen Markt als neue Integrationsform überführen, wie eine kurze Passage aus einem Gespräch mit einem ehemaligen Kolchozvorsitzenden eindrucksvoll deutlich macht: »1994 war ich in Gomel auf dem Markt und sehe plötzlich einen meiner besten Freunde dort verkaufen. Ich traue meinen Augen nicht, ich konnte mir niemals vorstellen, dass der feilschen kann. ›Du hier?‹ frage ich ihn ›Seit wann kannst Du denn handeln?‹ ›Ja‹, antwortet er, ›am Anfang habe ich mich auch nicht wohl in meiner Haut gefühlt, hier zu stehen und Preise auszuhandeln, aber man gewöhnt sich schnell daran.‹ Mir ging es ganz genauso, als ich zum ersten Mal mit einem Kalb auf den Markt ging, da war mir ganz schön komisch zumute!« (12/11/2000, Kolchozvorsitzender).30 29 | Es sei nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Charakterisierung der Situation in der sowjetischen Zeit nur in relationaler Perspektive, also im Vergleich zu den vorrevolutionären Landkommunen und den Jahren nach dem Ende des zentralplanwirtschaftlichen Systems gilt. Auch innerhalb jedes einzelnen Kolchoz existierte ein Wohlstandsgefälle, das nicht nur auf das genossenschaftliche Einkommen, sondern auch auf die individuell unterschiedliche Arbeit in der Hoflandwirtschaft zurückzuführen war. 30 | Zur Methodik meiner eigenen Erhebung und der Zitierweise aus Interviews vgl. Kapitel 5.
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Föderale Vorgaben und lokale Antworten
»Die Kolchoze und Sovchoze sind verpflichtet, sich bis zum 1. Januar 1993 zu reorganisieren und ihren rechtlichen Status in Einklang mit dem Gesetz der Russischen Föderation ›Über Unternehmen und unternehmerische Tätigkeit‹ zu bringen« – mit diesen einfachen Worten beendete am 29. Dezember 1991 der Regierungserlass Nr. 86 mehr als sechs Jahrzehnte Kollektivwirtschaft im ländlichen Raum Russlands. Hält man sich vor Augen, wie eng das gesamte Leben der Dorfbevölkerung mit dem Kolchozsystem verwoben war, so gewinnt man einen Eindruck von der Größe des Vakuums, das dessen Auflösung hinterlassen musste. Eine Rückgabe des Landes an die Alteigentümer stand in Russland nie zur Debatte, da hier im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Staaten seit der Enteignung bereits zu viel Zeit vergangen und materieller Besitz – in erster Linie Gebäude – insbesondere im ländlichen Raum seit langem zerstört war. Erschwerend hinzu kam die ausgesprochen komplizierte Ausgangssituation aus der Zeit vor der Revolution, als man im Zuge der Stolypin’schen Reformen mit der Reorganisation der Flur, häufig in Verbindung mit Hofaussiedlungen, bereits begonnen hatte, ohne sie zu vollenden; der erste Weltkrieg und die Revolution brachten diesen Prozess zum Erliegen. »Privatisierung« bedeutete in Russland nach dem Ende der Sowjetunion also erstens die Übergabe des Landes an seine Nutzer, zweitens die Verteilung der Betriebsmittel an die Beschäftigten und drittens die rechtliche Überführung der ehemaligen Kollektivbetriebe in marktwirtschaftliche Unternehmensformen wie privatbäuerliche Betriebe, Genossenschaften oder auch Kapitalgesellschaften. Bereits früh zeichneten sich dabei drei Problemkreise ab, deren Folgen die postsozialistische Agrarlandschaft bis heute prägen: Erstens mussten gerechte und zugleich praktikable Regelungen zur Verteilung von Besitz und Boden gefunden werden. Zweitens setzte marktwirtschaftliches Agieren die Entflech-
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tung von Betrieben, Gemeindeverwaltung und sozialstaatlichen Aufgaben sowie von persönlichen Nebenerwerbswirtschaften und restrukturierten Kolchozen voraus. Drittens schließlich implizierte »Privatisierung« eine tief greifende normative Umorientierung und verlangte die Akzeptanz einer völlig neuen Verteilung von Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten, Rollen und Aufgaben im ländlichen Raum.
Die Reformgesetzgebung Die Gesetzgebung zur Reform der Landwirtschaft in der Sowjetunion bzw. in Russland lässt sich prinzipiell in drei Phasen einteilen, wobei die Trennlinien nicht scharf gezogen werden können. Im Hinblick auf die hier verfolgte Fragestellung sind dabei v.a. die ersten beiden Etappen, in denen sich die Grundlagen der neuen Eigentums- und Machtverteilung herauskristallisierten, von Interesse: 1 1. In einem einleitenden Schritt wurde bereits Ende der 1980er Jahre damit begonnen, seit Jahrzehnten gültige Grundsätze der sowjetischen Gesetzgebung aufzuweichen, ohne damit jedoch den Fortbestand der Kolchoze und Sovchoze prinzipiell in Frage zu stellen. Einerseits sollten die Kollektivbetriebe reformiert, andererseits zugleich zusätzliche Spielräume für die Haushalte und neue Kooperationsformen geschaffen werden. In der Frühphase der Reformen diente die Einführung von Pachtverträgen als wichtigstes Instrument zur Diversifizierung agrarwirtschaftlicher Tätigkeiten. Interessenten – der Kreis der Berechtigten war nicht auf die Mitglieder von landwirtschaftlichen Kollektivbetrieben beschränkt – wurde seit 1988 die Möglichkeit eingeräumt, von den Kolchozen und Sovchozen Land zu pachten und selbständig zu bewirtschaften. Pächter konnten dabei Einzelpersonen, Familien oder auch neue Arbeitsgemeinschaften sein, für die diese Form der begrenzten Autonomie zusätzlich dadurch attraktiv gemacht werden sollte, dass die Ansprüche auf Sozialleistungen und das Recht auf 1 | Andere Periodisierungsvorschläge finden sich bei Amelina (2001: 55ff), Petrikov (2000: 55ff), Wegren (1998: 69ff) und der OECD (1998: 147). Die Einteilung der OECD erscheint mir gegenüber Petrikov in der Abgrenzung der ersten Phase wesentlich schlüssiger, da Dekret 323 vom 27.12.1991 insofern bereits einen wirklich neuen Charakter besitzt, als es Veränderungen nicht mehr nur erlaubt, sondern zwingend vorschreibt; es markiert damit einen klaren Kurswechsel und den Beginn einer neuen Etappe. Auf die dritte Phase ab Mitte der 1990er Jahre wird hier nicht weiter eingegangen, da zu diesem Zeitpunkt die wichtigsten Weichenstellungen bereits erfolgt waren und nun Korrekturen und Detailregelungen wie beispielsweise zum formalen Ausscheiden unrentabler Betriebe in Konkursverfahren u.ä. im Mittelpunkt standen.
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die Nutzung der vom Betrieb unterhaltenen sozialen Infrastruktur erhalten blieben. Tatsächlich hatten bis Januar 1991 63 % aller russischen Kollektivbetriebe Pachtverträge abgeschlossen (Wegren 1998: 67); allerdings ist dabei zu vermuten, dass es sich häufig nur um formale Arrangements mit den eigenen Mitarbeitern oder einzelnen Abteilungen handelte. Mit den Gesetzen »Über den privatbäuerlichen Betrieb« (Nr. 348–1 vom 22.11.1990) und »Über die Bodenreform« (Nr. 374–1 vom 23.11.1990) sowie den dazugehörigen Verfassungsänderungen wuchsen die Spielräume weiter. Beide stehen in engem inhaltlichen Zusammenhang und wurden im zeitlichen Abstand von nur einem Tag verabschiedet. Das Gesetz »Über die Bodenreform« kann insofern als historischer Einschnitt angesehen werden, als es die am zweiten Tag der Oktoberrevolution verfügte Nationalisierung des Bodens aufhob und somit erstmals seit 73 Jahren wieder unterschiedliche Formen des Landeigentums zuließ. Auf dieser Grundlage konnte im Gesetz über den privatbäuerlichen Betrieb die Möglichkeit eingeräumt werden, ein landwirtschaftliches Unternehmen selbständig zu führen, Boden privat zu besitzen2 und den Absatz der Produktion eigenständig zu organisieren. Zumindest formal war damit ein Rahmen abgesteckt, der sich von der entsprechenden Gesetzgebung in westlichen Ländern nicht mehr kategorial, sondern nur noch graduell unterschied. Einen wichtigen Nebenaspekt dieser beiden Gesetzgebungsprojekte stellte die Stärkung der Rechte der Bauern gegenüber der staatlichen Verwaltung dar. So wurden der Anspruch auf kostenlose Zuteilung von Boden aus einem Verteilungsfond geregelt, eine maximale Bearbeitungsfrist für Hofgründungsanträge festgelegt und die Kostenfreiheit administrativer Verfahren garantiert. Dass diese Vorgaben häufig nur auf dem Papier existierten, ist bekannt, entsprach jedoch nicht den Intentionen der Reformgesetzgebung, sondern muss im Kontext bestehender Machtkonstellationen und Interessenkonflikte auf der Mikroebene bzw. institutioneller Defizite im ländlichen Raum gesehen werden. 2 | Dem widersprechen andere Gesetze, so dass die Rechtslage im Hinblick auf einen freien Bodenmarkt in Russland lange Zeit alles andere als eindeutig war (vgl. auch Skyner 2001; Zentner 2000). Erst am 26.10.2001 unterzeichnete Präsident Putin ein neues Bodengesetzbuch und sorgte damit für Klarheit in einem der volkswirtschaftlich wichtigsten Teilbereiche; landwirtschaftlich genutzte Flächen blieben aus politischen Gründen vorerst jedoch ausgeklammert (Gerasin 2004: 3). Handel mit Agrarland zwischen Privateigentümern fand zur Zeit meiner Feldarbeiten in begrenztem Umfang zwar statt, die Kaufgeschäfte wurden jedoch fast nie offiziell registriert. Zu den Modalitäten der immer häufiger anzutreffenden Übernahme gesamter Betriebe durch Unternehmen des sekundären Sektors wie beispielsweise »Gazprom« gibt es kaum verlässliche Angaben; für einen allgemeinen Einblick vgl. Nikulin (2005).
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Parallel zu diesen Schritten in Richtung einer Erweiterung des Spektrums möglicher Betriebsformen wurden aber auch Anstrengungen unternommen, die Kolchoze und Sovchoze zu reformieren. Sie konzentrierten sich auf die Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen und Kompetenzen, nicht nur im Bereich der Landwirtschaft, sondern auch in der lokalen Verwaltung. Exemplarisch dafür steht bereits das im August 1988 verabschiedete, aber niemals vollständig veröffentlichte vierte Musterstatut für den Kolchoz (Wegren 1998: 64ff). Es sah zwar vor, dass Zwangsablieferungen der Produktion an den Staat grundsätzlich beibehalten werden sollten, garantierte aber weitaus mehr Autonomie in fast allen betriebswirtschaftlichen Bereichen und stärkte demokratische Entscheidungs- und Wahlprinzipien. War das Plansoll erfüllt, so konnten Überschüsse nun völlig frei – auch auf dem internationalen Markt – verkauft werden, die Versammlung der Kolchozmitglieder stimmte über Sondergratifikationen für die Betriebsleitung ab, unter Berücksichtigung von Mindestlohnvorschriften durften die Löhne jetzt in den Betrieben selbst festgelegt werden und sogar der Import von Betriebsmitteln aus dem Ausland war theoretisch möglich. Die praktische Relevanz der meisten dieser Neuregelungen blieb zwar gering, da sie bereits nach kurzer Zeit wieder überholt waren, aber die Intentionen der Reformer werden darin unmissverständlich deutlich. In exakt dieselbe Richtung zielte das Gesetz »Über die lokale Selbstverwaltung in der Russischen Föderation« (Nr. 1550–1 vom 06.07.1991). Es regelte das Verhältnis des Zentralstaates zu den untergeordneten administrativen Einheiten neu und beendete das bis dahin alles dominierende Prinzip der »doppelten Unterstellung« lokaler Verwaltungen, die horizontal gegenüber den Sowjets und vertikal gegenüber den Exekutivorganen der nächst höheren Ebene verantwortlich waren (Mildner 1996: 59; Kropp 1995: 203). Dass auch hier die Praxis bis heute oft anders aussieht, weil finanzielle Spielräume fehlen, weil sich viele Behördenvertreter nicht an die neuen Vorgaben halten oder auch, weil bereits das Gesetz selbst ambivalente Regelungen enthält, versteht sich fast schon von selbst.3 Dennoch gewannen damit lokale Behörden als Ansprechpartner auch für die Kollektivbetriebe an Bedeutung und schwächten deren vertikale Abhängigkeit. Insgesamt kann bereits diese erste Reformphase als ein Transfer von Handlungspotenzialen auf die lokale Ebene charakterisiert werden, der eigentlich einen völlig anderen analytischen Zugang zur Transformation im ländlichen Raum erforderlich gemacht hätte, in der wissenschaftlichen Literatur jedoch nur wenig Beachtung fand. »Transformation« 3 | Für eine sehr kritische Bewertung der Gesetzgebung über die lokale Selbstverwaltung bzw. deren regional differierende Konkretisierung vergleiche Mildner (1996: 96ff) und Kropp (1995: 205ff, 296ff).
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wurde jetzt zunehmend zu einer Frage der Strategien lokaler Akteure, ihrer Bereitschaft und Möglichkeiten, entstandene Handlungsspielräume zu nutzen bzw. der lokal wirksamen Restriktionen, die eine Interessenwahrnehmung für bestimmte Gruppen verhinderten; mit dem Bedeutungsverlust des vertikal-hierarchischen Kontrollsystems verloren also auch quantitativ-statistische oder auf der föderalen Gesetzgebung basierende Analysen der Makroebene an Aussagekraft. Diese erste Phase endet im Dezember des Jahres 1991 mit den Gesetzen zur Restrukturierung der Kollektivbetriebe. 2. Zeitgleich mit der Auflösung der Sowjetunion begann in Russland dann eine zweite Gesetzgebungsphase, in der die Restrukturierung der Kollektivbetriebe sowie die Privatisierung des Bodens und der Betriebsmittel von oben angeordnet und angesichts des massiven staatlichen Drucks zumindest formal auch umgesetzt wurden. Dieses Vorgehen ist Beleg dafür, dass die Resonanz auf die bislang eröffneten Möglichkeiten hinter den Erwartungen der Gesetzgeber zurückgeblieben war, und lässt einen Interessengegensatz erkennen, der für den Reformprozess insgesamt charakteristisch ist: Die Auflösung der Kolchoze und Sovchoze und die Verteilung ihrer Betriebsmittel ebenso wie des Agrarlandes waren in Russland nicht von den Bauern erzwungen worden, sondern es handelte sich um einen von ›oben‹ initiierten Prozess, der gegen den Willen der Betroffenen durchgesetzt werden musste. Den entscheidenden Anstoß gaben der einleitend bereits zitierte Regierungserlass Nr. 86 vom 29.12.1991 (»Über den Ablauf der Reorganisation der Kolchoze und Sovchoze«) und das am selben Tag herausgegebene Präsidialdekret Nr. 323 (»Über dringende Maßnahmen zur Realisierung der Agrarreformen in der Russischen Föderation«): Ultimativ wurde den Kollektivbetrieben nun eine Frist zur Reorganisation bis zum 1. Januar 1993 gesetzt, um ihren »Status mit dem Gesetz über Unternehmen und unternehmerische Tätigkeit« in Einklang zu bringen, was faktisch den Zwang zur Privatisierung bzw. Auflösung bedeutete. Zu entscheiden hatten Vollversammlungen aller Mitglieder, die in überwältigender Mehrheit für eine Rechtsform votierten, in der das Arbeitskollektiv weiterhin intakt blieb (Aktiengesellschaft, Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Produktionskooperative – vgl. Tab. 4). Demgegenüber entstanden bis Januar 1994 im Rahmen der Reorganisation durchschnittlich nur ca. 3,3 neue privatbäuerliche Betriebe pro Kolchoz (Wegren 1998: 83); deren Gesamtzahl – also einschließlich der unabhängig von der Reorganisation oder bereits vorher gegründeten Höfe – erreichte damit nicht einmal 300.000 und nahm im Verlauf der 1990er Jahre auch kaum mehr weiter zu (vgl. Tab. 5). Häufig stand als Motiv für die Gründung die Inanspruchnahme staatlicher Vergünstigungen im Vordergrund, ohne dass jemals beabsichtigt war, einen echten Vollerwerbsbetrieb zu führen. Aussagekräftiger als die Zahl der Neugründungen ist
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denn auch deren Beitrag zur Bruttoagrarproduktion Russlands, der im Jahr 2003 bei nur 4,5 % lag (Nefedova 2005: 61f). Tabelle 4: Ausgewählte Indikatoren zum Reorganisationsprozess Rechtlicher Status Gesamtzahl reorganisierter Betriebe, davon: bisherigen Status beibehalten* ›geschlossene‹ Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung offene Aktiengesellschaften Produktionskooperativen privatbäuerliche Vereinigungen
Januar 1993 19.700 (= 77 % aller Betr.) 7.000 (36 %)
Januar 1994 24.300 (= 95 % aller Betr.) 8.400 (35 %)
8.600 (44 %)
11.500 (47 %)
300 0(2 %) 1.700 0(9 %)
300 0(1 %) 1.900 0(8 %)
700 0(4 %)
900 0(4 %)
*) Gemäß Regierungsbeschluss Nr. 138 vom 06.03.1992, der den ausnahmslosen Zwang zur Reorganisation wieder aufhob. Quelle: BROOKS u.a. (1996: 2); gerundet. In der Quelle auftretende Differenzen zwischen der Gesamtsumme und der Summe der Einzelwerte sind vermutlich auf Konkurse, Aufspaltung in einzelne privatbäuerliche Betriebe und weitere, nicht berücksichtigte Rechtsformen zurückzuführen. Die in Klammern stehenden Prozentwerte können deshalb nur näherungsweise gelten.
Tabelle 5: Entwicklung privatbäuerlicher Betriebe anhand ausgewählter Indikatoren in den ersten zehn Jahren nach der Restrukturierung der Kolchoze und Sovchoze Jahr
Anzahl privatbäuerlicher Betriebe
Zu-/Abnahme im Vergleich zum Vorjahr
Gesamtfläche aller Betriebe in Tsd. ha
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001
104.400 149.000 183.400 269.900 279.200 280.100 278.600 274.300 270.200 261.100 261.700
– + 044.600 + 134.400 + 186.500 + 109.300 + 100.900 - 1011.500 - 1014.300 - 0014.100 - 1119.100 + 000.600
10.181 12.068 07.810 11.340 11.870 12.001 12.237 13.045 13.845 14.384 15.292
durchschnittliche Betriebsgröße in ha 41 42 43 42 43 43 44 48 51 55 58
Quelle: Goskomstat Rossii (2003: 410); Petrikov (2000: 190); wo die beiden Quellen geringfügige Differenzen aufwiesen, wurde das neuere Zahlenmaterial des statistischen Zentralamts ver wendet.
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Gleichzeitig wurde die Privatisierung des Betriebsvermögens – Anlage- und Umlaufvermögen sowie Boden – verbindlich vorgeschrieben. Die Grundlage dafür bildete die Ausgabe von separaten Vermögensund Bodenanteilsscheinen (paj), die dann von den Kolchozmitgliedern entweder in natura eingelöst werden konnten, was in der Praxis die Ausnahme blieb, oder aber gegen Zahlung einer jährlichen Dividende bzw. Ertragsbeteiligung wieder in das reorganisierte Unternehmen eingebracht wurden. Auf die Verfahrensweise der Verteilung des Vermögens an die Mitarbeiter wird weiter unten in Zusammenhang mit dem im Gebiet Nižnij Novgorod durchgeführten Modellprojekt näher eingegangen. 4 Schließlich wurde den Kollektivbetrieben die Möglichkeit eingeräumt, sich ganz auf ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten zu konzentrierten und alle Objekte und Aufgaben, die dem soziokulturellen Bereich angehörten (Schulen, Kindergärten, Straßen und Wege, Energie-, Wasser- und Gasversorgung, Telefonnetz, Fahrdienstleistungen u.ä.), an die Gemeindeverwaltungen zu übergeben. Da diese den Unterhalt aus finanziellen Gründen kaum gewährleisten konnten, ergab sich ein Dilemma, in dem viele Betriebe auch noch zehn Jahre nach der Reorganisation steckten: Um die Rentabilität der restrukturierten Kolchoze zu steigern, hätten die Beschäftigten, die ja nun zugleich auch Eigentümer waren, Maßnahmen zustimmen müssen, die zu einer Verschlechterung der infrastrukturellen Versorgung und damit des Lebensstandards an ihrem eigenen Wohnort geführt hätten. Betrachtet man nur die wichtigsten, im Zusammenhang mit der Restrukturierung der russischen Landwirtschaft immer wieder zitierten legislativen Akte, so könnte leicht der Eindruck entstehen, als hätte im Dezember 1991 ein konsequent geplanter Reformprozess seinen Höhepunkt und Abschluss erreicht. Tatsächlich aber waren die Vorgaben äußerst widersprüchlich. Bereits im März 1992 wurde das vermeintlich klare Ziel, ausnahmslos alle Kolchoze und Sovchoze in marktwirtschaftliche Unternehmen umzuwan4 | Über die technische Durchführung der Vermögensaufteilung herrschte in den Betrieben lange Zeit völlige Unklarheit. Details wurden erst später festgelegt, beispielsweise in der Empfehlung des russischen Landwirtschaftsministeriums »Zur Reorganisation der Kolchoze und Sovchoze« vom 14.01.1992, im Präsidialdekret Nr. 213 vom 02.03.1992 »Über das Vorgehen bei der Aufstellung von Normen zur kostenlosen Übergabe von Grundstücken in das Eigentum der Bürger«, im Regierungserlass Nr. 708 vom 04.09.1992 »Über das Verfahren der Privatisierung und die Reorganisation von Unternehmen und Organisationen des agroindustriellen Komplexes« sowie im Präsidialdekret Nr. 1767 vom 27.10.1993 »Über die Regelung der bodenrechtlichen Verhältnisse und die Entwicklung der Agrarreformen in Russland«.
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deln, durch den Regierungsbeschluss »Über Verlauf und Entwicklung der Agrarreformen in der Russländischen Föderation« (Nr. 138 vom 06.03.1992) relativiert und die Möglichkeit eingeräumt, unter bestimmten Voraussetzungen den bisherigen Rechtsstatus beizubehalten. Darüber, ob dieser Richtungswechsel in erster Linie ein Zugeständnis an die Opposition war, kann nur spekuliert werden. Fest steht jedenfalls, dass Präsident Jelzin schon im Januar 1992 öffentlich klarstellte, die Reorganisation der Kollektivbetriebe bedeute keinesfalls zwangsläufig deren Auflösung (Wegren 1998: 70); damit widersprach er eindeutig seinem eigenen, erst einen Monat alten Dekret. Das gesamte Restrukturierungsvorhaben war zweifellos ein vom politischen Zentrum des Landes ausgehendes Projekt und keine Basisbewegung. Dennoch dürfen Macht und Möglichkeiten des russischen Präsidenten in der ersten Hälfte der 1990er Jahre nicht überschätzt werden. Der Oberste Sowjet bzw. der Föderationsrat bildeten in dieser Zeit einflussreiche Gegenpole und es ist kein Zufall, dass nicht Gesetze, sondern Präsidialdekrete und Regierungsbeschlüsse zu den wichtigsten legislativen Steuerungsinstrumenten wurden. Doch noch wesentlich schwerer wiegt die Tatsache, dass es den Administrationen der Regionen, Gebieten und untergeordneten Gebietskörperschaften gelang, sich der Kontrolle von oben erfolgreich zu entziehen. Auf zentrifugale Tendenzen in der Russischen Föderation musste Präsident Jelzin mit weit reichenden Zugeständnissen reagieren und in einigen Gebieten konnte man den Eindruck gewinnen, als habe das Zentrum die Kontrollgewalt vollständig verloren. Selbst nach der Annahme der neuen Verfassung im Dezember 1993 widersetzten sich zehn Föderationssubjekte der Anerkennung von Privateigentum mit Verweis auf die gemeinsame Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich (Brooks u.a. 1996: 16), einige Kolchoze erklärten sich zu staatsähnlichen Gebilden, die sogar ihr eigenes Geld druckten (Humphrey 2002a: 13), und die Region Krasnodar verabschiedete noch 1999 ein Gesetz (»Über die besondere Ordnung der Bodennutzung in der Region Krasnodar«), welches das föderal geltende Recht einfach umkehrte indem es Landverkäufe prinzipiell verbot und nur in Ausnahmefällen gestattete. Die Liste derartiger Beispiele für einen »aggressiven Partikularismus« (Humphrey 2002a: 20) ließe sich problemlos fortsetzen. Das Auseinanderklaffen zwischen der föderalen Gesetzgebung und ihrer Implementierung in den Betrieben trug in der ersten Hälfte der 1990er Jahre manchmal fast groteske Züge. Auf der einen Seite wurde versucht, den Reformprozess mit immer detaillierteren Regelungen zu steuern, während auf der anderen noch nicht einmal die Grundfragen marktwirtschaftlicher Betriebsführung bekannt waren. Die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Rechtsformen blieben den Betroffenen unklar und es verwundert deshalb nicht, dass restrukturierte Kollektivbetriebe wie ein (ehemaliger?) Sovchoz im Gebiet Rostov sich als »Kollektives Landwirtschaftsunternehmen, Akti-
5 Föderale Vorgaben und lokale Antworten | 157
engesellschaft geschlossenen Typs, Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Sovchoz ›Osetrovskij‹« bezeichneten (Petrikov 2000: 123). Die Regierung erließ Regelungen, die den Unterschied zwischen der dauerhaften und der temporären Übereignung eines Anteilsscheins in das Grundkapital eines Agrarunternehmens präzisierten, während beispielsweise in einem der von mir untersuchten Betriebe der Nennwert einer Aktie noch mit dem Kurswert verwechselt und jährlich per Stempel an den veränderten Bilanzwert des Unternehmens angeglichen wurde (vgl. Abb. 7). Dass man gegenüber den legislativen die institutionellen Aspekte völlig aus den Augen verloren hatte, kritisiert Amelina (2001: 310) mit Recht als eines der schwerwiegendsten Versäumnisse der russischen Agrarreformen. Abbildung 7: Per Stempelaufdruck berichtigte Nennwertaktie eines Betriebs aus der Region Krasnodar
Methodische Annäherung I: Auswahl von Beispielbetrieben Die Zunahme lokaler Autonomie nach dem Ende der Sowjetunion hat zu einer Vielfalt von Transformationspfaden im ländlichen Raum geführt, die eine Generalisierung von Einzelfällen bislang unmöglich macht.5 Für meine eigene Feldarbeit habe ich aus diesem Grund drei Betriebe ausgewählt, die 5 | Nikulin (2002) versucht diese Vielfalt zu ordnen, indem er vier Haupttypen zugrunde legt (vgl. Lindner 2003: 22).
158 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
sich im Hinblick auf Rechtsform, interne Organisationsstruktur und wirtschaftliche Situation so weit wie möglich unterscheiden. Das Grundproblem der Zulässigkeit von Verallgemeinerungen ist damit freilich nicht gelöst, aber die vergleichende Gegenüberstellung lenkt den Blick auf das Spektrum der tatsächlich bestehenden Möglichkeiten und sensibilisiert für die Kontingenz vermeintlich zwangsläufiger Entwicklungen. Der Hintergrund, vor dem die Ereignisse an einem konkreten Ort interpretiert und eingeordnet werden können, reicht damit weit über diesen Ort selbst hinaus; gleichwohl beschränkt er sich auf systematische Erhebungen in einem nur formal restrukturierten Kollektivbetrieb im Gebiet Brjansk, einer Agroholding in der Region Krasnodar und einem in mehrere Einzelbetriebe aufgeteilten ehemaligen Kolchoz nördlich von Nižnij Novgorod. Ergänzend dazu waren für mich mehrere Kurzbesuche in anderen Betrieben zusammen mit Mitarbeitern des »Zentrums für Forschungen zum Bauerntum« der »Moscow School of Social and Economic Sciences« von unschätzbarem Wert für die Arbeit in ›meinen‹ drei Untersuchungsgebieten. 1. Der Kolchoz »Put’ Il’iča« (»Weg Iljitschs [Lenins]«) im Gebiet Brjansk entschied sich 1992 dafür, an der Rechtsform »Kolchoz« festzuhalten. Zwar erhielt auch hier jeder, der auf dem Territorium des Betriebs lebte – also nicht nur die Beschäftigten – einen Bodenanteilsschein über 4,7 ha, doch das anteilige Betriebsvermögen pro Mitarbeiter wurde nur formal berechnet. 3,1 ha dieser 4,7 ha waren Ackerland und verblieben vollständig in kollektiver Bewirtschaftung, 1,6 ha bestanden aus Wiesen und Weiden; nur ein Teil davon wurde tatsächlich in natura ausgewiesen und den einzelnen Höfen dauerhaft zugeteilt, der Rest wird bis heute jährlich neu bestimmt. Außerdem entschied die Vollversammlung, die bereits in der sowjetischen Zeit privat genutzten 0,25 bis 0,35 ha Hofland auf 1 ha aufzustocken. Da dieser Prozess in mehreren Schritten erfolgte und das Land jeder Familie sich auf drei bis vier entfernt voneinander gelegene Parzellen verteilt, wäre heute eigentlich bereits eine Flurbereinigung nötig. Abbildung 8 zeigt beispielhaft die Situation in einem kleinen Teil des Kolchozgebiets am Rand des Hauptortes Dubrovka. Klar zu erkennen sind sowohl die aus der sowjetischen Zeit stammenden Flächen mit Hofanschluss als auch die bis zu drei neue Parzellen pro Haushalt (vgl. z.B. Haushalt »1«; die Zahlen auf den Grundstücken kennzeichnen die Eigentümer). Put’ Il’iča ist ein für sowjetische Verhältnisse vergleichsweise kleiner Betrieb, dessen Gesamtgebiet im Jahr 1989 3.335 ha umfasste, wovon 2.711 ha landwirtschaftlich genutzt wurden. Auf diesem Territorium lebten damals, verteilt auf sechs Siedlungen, 638 Personen, von denen 200 auch im Kolchoz arbeiteten. 45 Personen waren bei staatlichen Institutionen wie der Schule, dem Kindergarten, dem Kulturhaus, der Gemeindeverwaltung und der Ambulanz beschäftigt oder pendelten zur Arbeit in die nächste Kreisstadt. Alle übrigen – in erster Linie Invaliden, Rentner, Jugendliche und ausschließlich im Haushalt tätige Personen – wurden
5 Föderale Vorgaben und lokale Antworten | 159 Abbildung 8: Landeigentumsverhältnisse am südwestlichen Rand des Dorfes Dubrovka im Jahr 2000
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offiziell als Nicht-Erwerbspersonen gezählt. Bis zum Jahr 2000 hatte die Gesamtbevölkerung um 37 Personen abgenommen, die Zahl der Kolchozmitglieder war aber offiziell auf 140 Personen gesunken, von denen nur noch ca. 80 wirklich fest als Vollzeitarbeitskräfte tätig waren. Die Voraussetzungen für die landwirtschaftliche Nutzung sind auf dem Gebiet von Put’ Il’iča vergleichsweise ungünstig und der Kolchoz wirtschaftete deshalb auch in der sowjetischen Zeit niemals kostendeckend (Gunja 2005). Zwar wäre die durchschnittliche jährliche Niederschlagsmenge von 588 mm für den Getreideanbau durchaus ausreichend und das Trockenheitsrisiko ist geringer als die Gefahr zu starker Regenfälle in der Erntezeit, aber knapp 90 % aller Böden sind unterschiedlich stark lessivierte Podsole mit geringen Humusanteilen, die aufwändige Meliorationsmaßnahmen erforderlich machen. Hinzu
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kommt, dass eine starke Versumpfung sowie die Zerschneidung der Flächen durch Bäche und Staatsforsten den Einsatz großer Maschinen erschweren. Da die sowjetische Subventionspolitik, zu deren Maßnahmen unter anderem eine ausreichende Versorgung mit Dünger sowie das großflächige Ausbringen von Herbiziden mit Flugzeugen zählte, keine echte Spezialisierung erzwang, wurde in Put’ Il’iča ein Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche für den Anbau von Getreide verwendet, ein Drittel als Weiden und Wiesen genutzt und auf den verbleibenden Flächen baute man Hackfrüchte und Futterpflanzen an. Zu Beginn der 1990er Jahre besaß der Betrieb zudem 1.400 Rinder. 2. Anders als in Put’ Il’iča einigte man sich in dem an der Küste des Asowschen Meeres gelegenen Kolchoz »Imeni Lenina« (»Lenin«) darauf, im Zuge der Restrukturierung die Rechtsform zu ändern und eine »geschlossene Aktiengesellschaft«6 zu gründen. Die Vorarbeiten dafür begannen 1993. Nachdem beschlossen worden war, dass nur Personen, die zu diesem Zeitpunkt tatsächlich im Kolchoz beschäftigt oder mittlerweile pensioniert waren, auch Bodenanteilsscheine bekommen sollten, wurde zunächst deren genaue Zahl ermittelt. Anschließend verteilte man die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche rechnerisch auf die 2.932 Berechtigten und jeder erhielt unabhängig von seinem Alter, der Betriebszugehörigkeit oder der beruflichen Position einen Anteil von 4,58 ha Land. 10 % der neuen Eigentümer beschlossen, alleine oder in Kooperation mit anderen weiter zu arbeiten, und verließen den Kolchoz. Alle anderen brachten ihr Land vollständig in das Betriebsvermögen ein und beziehen dafür seitdem eine Naturalentlohnung, die jährlich neu festgelegt wird. Einen in Form von Aktien verbrieften Anteil am Betriebsvermögen erhielten hingegen nur Personen, die zum Zeitpunkt der Restrukturierung auch tatsächlich im Kolchoz beschäftigt waren, nicht aber die Rentner. Die Höhe dieser individuellen Anteile entsprach dem ›Versteigerungsgeld‹ im Kolchoz »Emel’janov«, dessen Berechnung weiter unten näher erläutert wird. Im neuen Namen des Unternehmens wurde der Bruch mit der Vergangenheit schließlich auch symbolisch bekräftigt: Er bezieht sich heute nicht mehr wie ehemals »Kolchoz Lenin« auf die sozialistische Geschichte, sondern greift den Namen des Hauptortes auf und lautet »Geschlossene Aktiengesellschaft Privol’noe«. Abbildung 9 zeigt die Landeigentumsverhältnisse im Jahr 2001; der in der Legende erwähnte Betrieb »Agrotech« ist eine Tochterfirma der AG Privol’noe, die zur Zeit der Kartierung damit begonnen hatte, sich in eine Agro-Holding mit teilselbständigen funktionalen Unterabteilungen umzuwandeln. 6 | Wörtliche Übersetzung aus dem Russischen; bei dieser Rechtsform entsprechen die ausgegebenen Aktien der vinkulierten Namensaktie des deutschen Aktienrechts und können nur mit Zustimmung der Hauptversammlung bzw. des Vorstandes verkauft werden.
5 Föderale Vorgaben und lokale Antworten | 161 Abbildung 9: Landeigentumsverhältnisse auf dem Gebiet des ehemaligen Kolchoz Imeni Lenina im Jahr 2001
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Auf dem Gebiet der Gemeinde, das vor der Restrukturierung mit dem Territorium des Kolchoz (16.346 ha) weitestgehend, aber nicht vollständig übereinstimmte, lebten im Jahr 2000 7.054 Personen. Davon waren zu diesem Zeitpunkt nur mehr 896 Personen in der neuen Aktiengesellschaft beschäftigt, die als Kollektivbetrieb vor der Restrukturierung im Jahr 1993 noch 1.661 Mitarbeiter gezählt hatte. 184 Personen arbeiteten in einem am Rande des Gemeindegebiets gelegenen Fischereikolchoz, 85 Personen beim Energieerzeuger Gazprom, der hier seit den 1950er Jahren eine kleine Erdgasförderstation betreibt, und 1.768 Personen waren als Rentner
162 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
gemeldet. Auch wenn man die Auspendler in den Zentralort des Kreises, die Beschäftigten in staatlichen Behörden und Institutionen sowie 75 im tertiären Sektor (v.a. Lebensmittel- und Gemischtwarenläden) tätige Personen berücksichtigt, dürften in sowjetischer Zeit dennoch mehr als zwei Drittel aller Erwerbstätigen bei Imeni Lenina angestellt gewesen sein. Der Betrieb befindet sich in einem der naturräumlich besonders begünstigten Anbaugebiete Russlands. Es dominieren Schwarzerden mit Mächtigkeiten zwischen 110–130 cm und einem Humusgehalt von 4 % und die durchschnittliche jährliche Niederschlagsmenge beträgt 515 mm. Das Land ist eben, die einzelnen Felder sind bis zu 2 km lang und können mühelos mit schweren Maschinen bearbeitet werden; Bodenverdichtung und eine ausgeprägte Winderosion sind die Folgen dieser Bewirtschaftungsweise. 1989 wurden in Imeni Lenina 94 % der insgesamt 14.852 ha landwirtschaftlichen Nutzfläche für den Ackerbau genutzt, wobei Getreide bei Flächenerträgen zwischen 4 und 5 t pro Hektar (ohne Mais) die weitaus wichtigste Anbaufrucht war. Der Kolchoz besaß aber auch Abteilungen für Fleischproduktion und Milchwirtschaft mit 5.600 Rindern und 4.500 Schweinen. 3. Der Kolchoz »Emel’janovo« war ebenso wie Put’ Il’iča ein nur wenig spezialisierter Betrieb, der sowohl Vieh besaß als auch Gemüse und Getreide anbaute; die Hektarerträge lagen in der sowjetischen Zeit beim Getreide unter 3 t. Das gesamte zugehörige Territorium umfasste eine Fläche von ungefähr 4.100 ha, wovon 3.000 ha landwirtschaftlich genutzt werden konnten. Aus verschiedenen Gründen war es hier wesentlich schwieriger als in den beiden anderen Unternehmen, verlässliches Zahlenmaterial zu bekommen. Von den 2.300 Einwohnern der Gemeinde arbeiteten Ende der 1980er Jahre nur 500 beim Kolchoz selbst – die Nachfolgebetriebe beschäftigen heute noch ca. 200 Personen – während die meisten anderen Erwerbstätigen in einen nahe gelegenen Industriebetrieb mit über 20.000 Arbeitsplätzen pendelten. Dementsprechend war im Kolchoz auch nur eine begrenzte Zahl von Haushalten statistisch erfasst. 1994 führte die Aufteilung des Betriebs im Zuge der Restrukturierung (s.u.) schließlich dazu, dass auch das zentrale Archiv nicht mehr weiter gepflegt wurde und viele Unterlagen verloren gingen. Zudem wurde dadurch die territoriale Identität von Betrieb und Gemeinde aufgehoben, woraufhin sich die gut ausgestattete und erfahrene Buchhaltungsabteilung des Kolchoz auch nicht mehr um die entsprechenden Gesamtstatistiken kümmerte, während der Gemeindeverwaltung die dafür nötigen Ressourcen fehlten. Noch schwerwiegender aber machte sich ein anderer Faktor bemerkbar: Sowohl die Privatisierung in Form einer Versteigerung wie auch die Lage des Betriebs an einem als Naherholungsgebiet für Stadtbewohner attraktiven See hatten dazu geführt, dass hier die in der informellen Halböffentlichkeit durchaus bekannten Aktivitäten einiger Mitarbeiter die
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Grauzone des Halblegalen weit überschritten. So wurde beispielsweise in der Zeit meiner Feldarbeit immer noch darüber gestritten, ob Teile des Betriebsvermögens bereits vor der Restrukturierung beiseite geschafft worden waren, Betriebsleiter verpachteten Teile ihrer Flächen ohne die Miteigentümer zu informieren, ein externer Investor erwarb zu unklaren Konditionen das ehemalige Sanatorium und im Uferbereich waren entgegen allen gesetzlichen Bestimmungen Grundstücke verkauft worden, auf denen heute ansehnliche Villen stehen. Aus diesem Grund waren selbst einfache Flurkarten hier nur informell zu erhalten. Der Kolchoz stellt im Hinblick auf die Restrukturierung einen Sonderfall dar, auf den es sich lohnt näher einzugehen, da er die Schwierigkeiten einer physischen und nicht nur rechtlichen Aufteilung genossenschaftlichen Eigentums beispielhaft veranschaulicht und mögliche Lösungsansätze aufzeigt. Emel’janovo war eines von fünf Unternehmen, anhand derer im Rahmen eines Modellprojektes eine Restrukturierungskonzeption erarbeitet und getestet wurde, die dann für ganz Russland als Vorbild dienen sollte. Diese Konzeption fand später Eingang in die nationale Gesetzgebung (Regierungsbeschlüsse 324 vom 15. April 1994 und 874 vom 27. Juli 1994), wurde in Form eines »Privatisierungshandbuches« (International Finance Corporation/The Overseas Development Administration 1995) veröffentlicht, über 25.000 Mal gedruckt und kostenlos an die Leiter aller landwirtschaftlichen Großbetriebe verschickt.7 Tatsächlich folgten später Unternehmen in anderen Regionen dem Nižnij Novgoroder Beispiel, auch wenn es niemals echte Breitenwirkung entfaltete.8 Die Initiative zu diesem Projekt ging vom damaligen Gouverneur des Gebietes Nižnij Novgorod, Boris Nemcov, aus, der sich mit seinem Anliegen Ende 1992 an die International Finance Cooperation, eine Tochterorganisation der Weltbank, wandte. Diese hatte bereits Erfahrungen mit Privatisierungsverfahren in städtischen Betrieben des sekundären und tertiären Sektors gesammelt, kooperierte für das neue Vorhaben aber eng mit dem Moskauer Agrarinstitut, welches schon seit längerem an einer ähnlichen Konzeption arbeitete und maßgeblichen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung nahm. Der immer wieder zu 7 | Die folgende Darstellung folgt den Richtlinien dieses Handbuches. Auf geringfügige Abweichungen davon bei der Restrukturierung von Emel’janovo wird später an den entsprechenden Stellen hingewiesen. 8 | Mir geht es nicht darum, Erfolg oder Misserfolg des Nižnij Novgoroder Restrukturierungsmodells zu bewerten (vgl. dazu Rodionova 2001). Im Hinblick auf diese Frage wird allerdings häufig übersehen, dass die Ausweitung des privatwirtschaftlichen Sektors im ländlichen Raum keineswegs die einzige Zielsetzung des Projektes war. Darüber hinaus ging es darum, eine politische Rückkehr zum Zustand vor der Transformation zu erschweren, die Produktivität zu erhöhen, den Wettbewerb zu stimulieren und den Subventionsbedarf zu senken (Buss/Yancer 1996: 222ff).
164 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
hörende Vorwurf, es handle sich um eine ›typisch westliche WeltbankIdee‹ trifft in diesem Fall also nur eingeschränkt zu. Im Hinblick auf die scharfen ideologischen Debatten der 1990er Jahre, in denen Vorwürfe laut wurden, die Privatisierung in Russland müsse in einem geopolitischen Koordinatensystem betrachtet werden und habe darauf abgezielt, das Land in einen deindustrialisierten Rohstofflieferanten mit offenem Absatzmarkt für Agrargüter zu verwandeln (z.B. bei Širokalova 1997), ist dieser Sachverhalt durchaus bedeutsam. Das Modell sieht vor, dass im Fall einer Mehrheitsentscheidung für eine Reorganisation alle Mitarbeiter und Pensionäre sowie die Beschäftigten in Institutionen des soziokulturellen Bereichs einen Bodenanteil erhalten, letztere aber von der Zuteilung der Vermögensanteile ausgenommen bleiben. Sind gemäß dieser Regelung die Namenslisten erstellt und etwaige Einsprüche geklärt, so beginnt der Reorganisationsprozess mit der Ausstellung von Urkunden über das Landeigentum. Jeder erhält einen Anteil derselben Größe, die sich einfach als Quotient aus der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche und der Zahl der Berechtigten ergibt – im Fall von Emel’janovo 3,68 ha. Ergänzend dazu wird auf den Urkunden der Wert eines Landanteils als Quotient aus der Summe aller entsprechend ihrer Güte bewerteten Parzellen und der Zahl der Berechtigten in »Flächenpunkten« festgehalten (also z.B. 4,0 ha; 120 Flächenpunkte). Zur Bestimmung der Höhe des Vermögensanteils wird das Durchschnittseinkommen jedes Beschäftigten während seiner letzten fünf Arbeitsjahre ermittelt und so indiziert, dass dieser Wert unabhängig davon ist, in welchen Zeitraum diese letzten fünf Bezugsjahre fallen (das Durchschnittseinkommen eines Traktoristen, der 1980 in Rente ging, entsprach also dem eines Beschäftigten gleichen Alters und Qualifikationsniveaus, der im Jahr 1993 noch arbeitete). Der indizierte Fünfjahres-Durchschnittswert wird dann mit der individuellen Zeit der Betriebszugehörigkeit in Jahren multipliziert und die so standardisierten Lebenszeiteinkommen aller Mitarbeiter werden addiert. Das Ergebnis setzt man nun in Relation zum Bilanzwert des Unternehmens, der in einer aufwändigen Erfassung der einzelnen Vermögensgegenstände – von noch in Vorratsräumen lagerndem Dünger über das Vieh in den Ställen bis hin zu Maschinen und Gebäuden – ermittelt werden muss (also z.B. »Summe aller Lebenszeiteinkommen: 72,2 Mill. Rubel«/ »Bilanzwert des Unternehmens: 166 Mill. Rubel« ergibt ein Verhältnis von 1 : 2,3). Auf der Urkunde jedes Beschäftigten oder Pensionärs wird der Wert seines Vermögensanteils nun als Produkt aus dem individuellen Lebenszeiteinkommen und dem Einkommen-Bilanzwert-Verhältnis festgehalten (in obigem Beispiel erhielte ein Beschäftigter mit einem ermittelten Lebenszeiteinkommen von 100.000 Rubel also ein Vermögensanteilszertifikat über 230.000 Rubel).
5 Föderale Vorgaben und lokale Antworten | 165
Sind die Zertifikate verteilt, so wird allen Beteiligten Zeit gegeben, sich zu entscheiden, in welcher Form sie weiter wirtschaften wollen. Jedem bleibt es selbst überlassen, einen Bauernhof auf Familienbasis anzumelden, mit Freunden eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu gründen oder sich zusammen mit einer großen Zahl von Miteigentümern als Aktiengesellschaft neu registrieren zu lassen. In jedem Fall muss ein Verantwortlicher oder zukünftiger Manager bestimmt werden, der auf der bevorstehenden Versteigerung das Recht hat, stellvertretend für seine Vertragspartner als Bieter zu agieren. Spätestens drei Wochen vor Beginn der Auktion müssen nun Listen erstellt und veröffentlicht werden, in denen das gesamte Eigentum des Betriebs – Land ebenso wie das Anlage- und Umlaufvermögen – eindeutig identifizierbar aufgeführt ist und ein Anfangswert für die Versteigerung genannt wird. Die landwirtschaftliche Nutzfläche muss dazu in Parzellen einer sinnvollen Größe und Form aufgeteilt werden, deren Wert in Flächenpunkten sich als Produkt aus der Größe und der Güteklasse ergibt. Beim Vermögen ist das Kriterium einer »eigenständigen Nutzbarkeit« entscheidend – ein Traktor wird also nur als Ganzes und nicht in Einzelteilen aufgeführt – und der buchhalterische Wert als Anfangswert angesetzt. Der Wert aller zur Versteigerung anstehenden Landparzellen entspricht gemäß dieser Vorgehensweise dann der Summe aller Flächenpunkte der ausgegebenen Bodenanteilsurkunden und der Wert aller Vermögensgegenstände der Summe der Einzelwerte aller Vermögensanteilszertifikate. Bereits vor der Versteigerung reichen die zukünftigen Unternehmen oder selbstständigen Höfe Kaufanträge auf bestimmte Landparzellen oder Vermögensgegenstände ein, die öffentlich einsehbar sind. Auf diese Weise ist es allen möglich, rechtzeitig abzuschätzen, wie hoch die Chancen sind, die eigenen Wünsche tatsächlich auch realisieren zu können, sich Gedanken über alternative Versteigerungsstrategien zu machen oder gemeinsam mit potenziellen Konkurrenten bereits im Vorfeld Kompromissvereinbarungen zu treffen. In den Versteigerungen selbst kann nur mit auf Zertifikaten nachgewiesenen Flächenpunkten für Landparzellen oder Vermögensanteilszertifikaten für das Betriebsvermögen geboten und bezahlt werden, nicht jedoch mit ›echtem‹ Geld. In der ersten Runde der Landversteigerung werden all diejenigen Parzellen angeboten, um die sich mehr als ein Kaufinteressent beworben hat. Anschließend stehen in der zweiten Runde Parzellen, für die es nur einen Bewerber gibt, zum Verkauf. Da es nicht möglich ist, sich ohne vorherige Antragstellung jetzt noch spontan zu beteiligen, findet in dieser zweiten Runde kein Bieterwettbewerb mehr statt. Allerdings kann es vorkommen, dass einige Parzellen von registrierten Interessenten nicht mehr bezahlt werden können und übrig bleiben, da die potenziellen Käufer in der ersten Runde bereits zu viele Flächenpunkte
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ausgegeben haben, um auch nur den Einstiegspreis zu begleichen. Für eine dritte Runde wird deshalb ein Koeffizient aus der Summe aller noch im Umlauf befindlichen Flächenpunkte und dem Gesamtwert der verbliebenen Parzellen errechnet und deren Einstiegspreise werden entsprechend reduziert. In dieser dritten und letzten Runde dürfen dann alle, die noch Flächenpunkte besitzen, unabhängig von einer vorherigen Antragstellung Gebote abgeben. Die Verteilung des Eigentums beginnt damit, dass die neuen Landbesitzer das unmittelbar an ihre Parzellen gebundene Vermögen wie beispielsweise noch nicht geerntete Feldfrüchte oder fest installierte Bewässerungsanlagen übernehmen müssen, wodurch ihre Vermögensanteilszertifikate entsprechend reduziert werden. Daraufhin steht in einer ersten und zweiten Runde nur das Anlagevermögen des Betriebs der Verfahrensweise bei der Versteigerung des Landes entsprechend zum Verkauf. Da Umlaufvermögen in vielen Fällen an das Anlagevermögen gebunden ist – Rinder und Ställe an unterschiedliche Personen zu vergeben kann nur in Ausnahmefällen sinnvoll sein – wird es direkt im Anschluss an die zweite Runde versteigert. Abschließend erfolgt eine Anpassung der Preise sämtlicher verbliebener Vermögensgegenstände an die Summe der noch verfügbaren Anteilszertifikate und alle Beteiligten haben unabhängig von einer vorherigen Antragstellung noch einmal das Recht, sich an einer letzten Auktionsrunde zu beteiligen. In Tabelle 6 sind die aus dem Kolchoz Emel’janovo im Zuge der Restrukturierung hervorgegangenen neuen Betriebe anhand einiger Strukturdaten gegenübergestellt. Die darin zum Ausdruck kommende Vielfalt trügt allerdings: Moločnoe wurde bereits kurze Zeit nach der Gründung von Beloreč’e übernommen und bei den Betrieben mit den Nummern 8 bis 14 handelt es sich um Kleinstunternehmen, die entweder im sekundären (Schreinerei) oder tertiären Sektor (Transportdienstleistungen mit einem einzigen Fahrzeug) aktiv sind bzw. sich kaum von den Hofwirtschaften vor der Restrukturierung unterscheiden.9 Abbildung 10 zeigt die Landbesitzverhältnisse im Jahr 2001, die sich seit der Restrukturierung 1993 abgesehen von der Übernahme Moločnoes durch Beloreč’e nur geringfügig geändert haben. Unübersehbar ist hier eine Asymmetrie, die in Zusammenhang mit der Privatisierung in Russland überall beklagt wird: Die neuen privatbäuerlichen Betriebe sind durch die räumliche Lage ihrer Felder massiv benachteiligt; der östlich in der Nähe des Hauptortes gelegene Parzellenkomplex widerlegt dieses Grundmuster nicht, da es sich hier um die nur formal-juristisch eigenständige Saatgutgewinnungsund Zuchtabteilung des ehemaligen Kolchoz handelt.
9 | Der Betrieb »Pčëlka«, in der Tabelle ohne Landeigentum verzeichnet, bewirtschaftet mittlerweile mit Lohnarbeitern über 100 ha.
5 Föderale Vorgaben und lokale Antworten | 167 Tabelle 6: Aus der Restrukturierung des Kolchoz Emel’janovo hervorgegangene neue Betriebe Name des Betriebs
Spezialisierung
1. Belorecˇ’e
Getreide, Kartoffeln, Gemüse, Fleisch und Milch Viehzucht, Fleisch und Milch Fleisch und Milch, Gemüse, Verarbeitung von Agrarprodukten Getreide, Kartoffeln, Gemüse Gemüse
2. Molocˇnoe 3. Timirjazevo
4. Rostok 5. Ovošcˇevod 6. Konygin, V. 7. Pcˇëlka 8. Janin 9. Motovilov 10. Konygin, S. 11. Kiselëv 12. Kocˇnëv 13. Pecˇekladov 14. Abramov
Getreide, Kartoffeln, Transportdienstleistungen Imkerei, Gemüse Transportdienstleistungen Transportdienstleistungen Möbel Mischbetrieb Mischbetrieb Bäckerei, Mischbetrieb Gemüse
Anzahl der beteiligten Personen*
Landeigentum in ha
von Emel’janovo übernommenes Vermögen in 1.000 Rubel
267
955,4
89.714
148
625,4
33.030
279
351,6
17.518
174
722,5
41.018
259
194,1
18.418
227
092,3
04.068
222 223 223 222 222 221 223 221
kein Land kein Land kein Land kein Land 021,0 227,2 019,5 010,0
00.366 00.959 00.991 00.139 00.134 00.116 00.841 00.137
*) »Beteiligte Personen« bezeichnet nicht die aktiven Mitarbeiter, sondern die Zahl aller Personen, die ihren Vermögensanteil in das Grundkapital des jeweiligen Unternehmens eingebracht haben (also z.B. auch Rentner und ehemalige Kolchozarbeiter, die nach der Restrukturierung einen Arbeitsplatz in einem Industriebetrieb annahmen). Quellen: International Finance Corporation/The Overseas Development Administration (1995: 12); eigene Erhebung.
168 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess Abbildung 10: Landeigentumsverhältnisse auf dem Gebiet des ehemaligen Kolchoz Emel’janovo im Jahr 2001
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Methodische Annäherung II: empirische Vorgehensweise Die Integration des ländlichen Raums in sozialistische staatliche Strukturen seit Beginn der Zwangskollektivierung führte im Lauf der Zeit zu einer Trennung lokaler Teilöffentlichkeiten in eine repräsentativ-offizielle und eine informelle Sphäre mit jeweils unterschiedlichen Legitimitätsvorstellungen, Praktiken und Symboliken. Nicht Kontinuität, sondern Wandel und nicht die pauschale Gültigkeit kultureller Merkmale, wie sie die Metaerzählung des russischen Kollektivismus und Egalitarismus verkörpert, sondern Differenzierungen und zum Teil auch Widersprüchlichkeiten
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kennzeichnen diese Entwicklung. Paradoxerweise ist es aber dieselbe Trennung, die zugleich auch dazu beiträgt, dass empirische wissenschaftliche Untersuchungen die Tendenz aufweisen, den ländlichen Kollektivismus und Egalitarismus pauschal zu bestätigen. Denn die Begegnung mit Personen, die dem lokalen Kollektiv nicht angehören – privaten Gästen genau so wie Wissenschaftlern – schafft für Interaktionen einen »Rahmen« im Sinn Goffmans (1980), der wesentlich durch die Tatsache der Fremdheit der Gesprächspartner strukturiert wird und dadurch einen formalen Charakter erhält, den ein Aufnahmegerät oder Fragebogen zusätzlich verstärkt. Fremdheit begründet die Einordnung der Situation als der repräsentativ-offiziellen Sphäre zugehörig, in der Standards zu gelten haben, die nicht auf die lokale Gemeinschaft beschränkt und nur dieser bekannt sind. Was hier gesagt wird, muss auch nach außen dringen dürfen, ohne in Widerspruch zu den geltenden ideologischen Grundsätzen zu treten und Sanktionen zu provozieren. Ein kaum wegzudenkender Bestandteil der Selbstrepräsentation in dieser Sphäre ist die Identifikation mit einem Kollektiv von Gleichen. »Jetzt gibt es bei uns, obwohl, das sagt man eigentlich nicht, dass es, also wir, so wie es jetzt ist, gibt es hier Reiche und Arme.« (12: 28–7) – diese Passage aus einem Gespräch mit einer Lehrerin bringt die Verlegenheit und das Gefühl zum Ausdruck, dass Interaktionsrahmen und -inhalt nicht mehr zusammen passen, wenn man in einem ›offiziellen‹ Interview beginnt von Dingen zu sprechen, die es ›offiziell‹ nicht geben sollte, obwohl sie allen bekannt sind. Das Ende der Sowjetunion und die damit verbundene Abkehr von einem sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in Russland leiteten den Zusammenbruch der repräsentativ-offiziellen Halböffentlichkeiten ein. Doch vorerst besteht noch eine enorme Differenz zwischen dem, was früher selbstverständlich gewesen war und vielerorts noch immer gilt, und der nun propagierten pluralistisch-marktwirtschaftlichen Normalität, deren eigene Ansprüche mit der dörflichen Wirklichkeit so wenig übereinstimmen. Wo sich aber alte und neue Legitimitäten überlagern, die rechtliche Situation unklar ist und allgemein darüber spekuliert wird, ob nicht Umbrüche vergleichbar denen der vergangenen zehn Jahre den derzeitigen Status quo bald wieder in Frage stellen könnten, da erfolgt auch in der Begegnung mit Fremden die Abkehr von den Standards der Vergangenheit nur langsam und zögerlich. Insbesondere mein neugieriges Interesse an den vielen informellen Regelungen, die das derzeit bestehende legislative Vakuum füllen, rief immer wieder Unbehagen und Misstrauen hervor. Der einfache Versuch beispielsweise, die gegenwärtigen Landnutzungsmuster zu kartieren, gab in einem der Dörfer Anlass zu dem Gerücht, ich sei in Wirklichkeit ein Investor, der den Betrieb aufkaufen wolle, und machte sinnvolle Befragungen für einige Zeit unmöglich. Während des 18-monatigen Aufenthaltes in Russland verbrachte ich insgesamt neun Monate in den drei oben beschriebenen Betrieben, die
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übrige Zeit in Moskau. Den ersten Kontakt zu den Betriebsleitungen stellten immer Freunde und Bekannte her, die entweder selbst aus den jeweiligen Regionen stammten oder dort länger gearbeitet hatten und mich bei vorbereitenden Kurzbesuchen begleiteten. Anknüpfungspunkte für weitere Treffen und schließlich auch Interviews, die ich auf Band aufzeichnen konnte, ergaben sich meist auf zwei ganz unterschiedlichen Wegen: Zum einen über die Familien, bei denen ich während der Arbeit in den Betrieben wohnte und zum anderen in den Planungstreffen der Betriebsleitungen (planërka), an denen ich fast täglich teilnahm. – Die Entscheidung über die Unterkunft bedeutet zwangsläufig eine erste Positionierung innerhalb der Dorfgemeinschaft und prägt deshalb nicht unwesentlich den weiteren Verlauf der Feldarbeit. Wohnt man beim Kolchozvorsitzenden 10 oder beim Gemeindevorsteher, so erfährt man im Idealfall wesentlich mehr über die Gründe und Mechanismen, die letztlich zu einer bestimmten Restrukturierungsvariante geführt haben, wird aber auch mit der dörflichen Elite11 identifiziert und sieht sich folglich mit einer stärkeren Zurückhaltung seitens der übrigen Dorfbewohner konfrontiert. Je nachdem, ob in einem Betrieb Mitarbeiter und Leitung eher eine Solidargemeinschaft bilden oder ob die Atmosphäre von Interessengegensätzen und einer ungleichen Machtverteilung geprägt ist, kann diese Positionierung, die zu einem Zeitpunkt stattfindet, an dem man die Verhältnisse im Ort noch nicht kennt, durchaus folgenreich sein. Für eine Arbeit, die sich weniger mit der Mikroebene einzelner Haushalte als vielmehr mit der Verschränkung von Dorfgemeinschaft und Betrieb befasst, erschien es mir trotz einiger Nachteile geeigneter, primär den Kontakt zu den Mitgliedern der Betriebsleitungen zu suchen, was in zwei der drei Orte auch möglich war; im dritten konnte ich das Angebot nicht ausschlagen, ein Gästezimmer im neu renovierten dorfeigenen Kurhaus zu beziehen, welches der Stolz des Kolchozvorsitzenden war. Der Wechsel der Unterkunft im Ort Dubrovka (Kolchoz Put’ Il’iča) war in gewisser Weise für meine sich ändernde Rolle in der Dorfgemeinschaft – auch in Privol’noe (ehem. Kolchoz Imeni Lenina) und Timirjazeva (ehem. Kolchoz Emel’janovo) – typisch. Er ist im Kontext eines im ländlichen Raum »weit verbreiteten Misstrauens gegenüber 10 | Im Folgenden verwende ich gemäß dem umgangssprachlichen Sprachgebrauch im ländlichen Raum selbst weiterhin die Bezeichnung »Kolchozvorsitzender« für die Leiter der mittlerweile restrukturierten Kollektivbetriebe. 11 | Die Befragten selbst gebrauchten in den Interviews häufig den Begriff »verchuška«, was soviel wie »Oberschicht« bedeutet – ein deutlicher Hinweis darauf, dass von einem Selbstverständnis als egalitäre Gemeinschaft nicht uneingeschränkt die Rede sein kann. Zu dörflichen Eliten in der sowjetischen Zeit vgl. Wädekin (1969).
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Ausländern« (Alekseev 1999: 84), insbesondere aus dem Westen zu sehen, das vor allem bei der älteren Generation zuweilen skurrile Züge annimmt: Im Volksmund wird beispielsweise ein Wildkraut, das seit einigen Jahren verstärkt auf Rübenfeldern auftritt, »Amerikana« genannt, weil es Gerüchten zufolge bewusst von den Amerikanern in Russland verbreitet wurde, um der Landwirtschaft zu schaden. Doch dieses Misstrauen ist darüber hinaus auch eine Folge der Existenz informeller Halböffentlichkeiten, für deren Integrität Fremde im Allgemeinen und nicht nur Ausländer eine potenzielle Bedrohung darstellen. Als Gast aus dem Ausland nahm mich anfangs der Kolchozvorsitzende bei sich auf, wobei das Verhältnis von einer Mischung aus neugieriger Aufgeschlossenheit und distanziertem Misstrauen geprägt war. Nach zwei Wochen hatte er sich dann einerseits ein Bild von mir gemacht und war wohl andererseits auch zu dem Schluss gekommen, dass angesichts der beengten Wohnverhältnisse meine permanente Präsenz, beispielsweise auch bei Telefonaten oder Besuchen, zu Einblicken führen würde, die er mir eigentlich verwehren wollte; er organisierte deshalb eine andere Unterkunft im Ort, nicht ohne zu betonen, ich könne weiterhin jederzeit bei ihm ein- und ausgehen. Erst nach ungefähr sechs bis acht Wochen war der Umgang mit mir so unbefangen geworden, dass man zumindest das, was innerhalb der kommunalen Halböffentlichkeit allgemein bekannt war, auch in meiner Gegenwart offen erzählte und mich der Kolchozvorsitzende bat, nun wieder bei ihm zu wohnen. Zu diesem Zeitpunkt galt die Bitte um ein Interview in der Dorfgemeinschaft bereits als Kompliment, bedeutete sie doch, als kompetenter Gesprächspartner für die Geschichte des Dorfes und die Probleme des Umbruchs eingeschätzt zu werden. Gegen Ende meines Aufenthaltes kamen vereinzelt sogar Kolchozmitglieder von sich aus auf mich zu und fragten vorwurfsvoll, warum ich sie noch nicht zu einem Gespräch eingeladen hätte. Die Unterkunft und der damit verbundene Kontakt zu Besuchern, die mich dann häufig auch zu sich nach Hause einluden, eröffneten den ersten Zugang zum weiteren Kreis der Dorfgemeinschaft und machten mich mit den kommunikativen Fixpunkten des gemeinsamen Alltags vertraut, zu denen Familien- und Kirchenfeste ebenso wie die wiederkehrenden Konflikte über Eigentum und Nutzungsrechte zählten. Die Teilnahme an den täglichen betrieblichen Planungstreffen hingegen, die üblicherweise zwischen einer viertel und einer ganzen Stunde dauerten und entweder vor Beginn des Arbeitstages oder am späten Nachmittag stattfanden, ermöglichte eine völlig andere Perspektive. Hier kamen einerseits die praktischen Probleme der betrieblichen Arbeitsorganisation, andererseits aber auch die Ansprüche und Erwartungen der Bevölkerung zur Sprache, in deren Augen die restrukturierten Kolchoze weiterhin für das Leben im Dorf im Allgemeinen zuständig waren. Ob für die Schule ein neues Kesselhaus gebaut oder die Antragsformulare
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für den Anschluss von Privatgebäuden an das Gasnetz ausgefüllt werden mussten – die planërka war der Ort, an dem diese Dinge zur Sprache kamen und organisiert oder abgelehnt wurden. Darüber hinaus ergab sich nach den Planungstreffen die Möglichkeit, die Abteilungsleiter kennen zu lernen und bei der Arbeit zu begleiten. Das Spektrum der angewandten Forschungsmethoden war ausgesprochen weit und häufig allein davon bestimmt, was unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich war. Leitfadeninterviews einerseits und die strukturierte teilnehmende Beobachtung andererseits spielten jedoch die wichtigste Rolle. Die Befragungen folgten dabei keinem standardisierten Schema, sondern einem an den sechs im Vorwort genannten Themen orientierten Fragenkatalog, den ich vor jedem Interview je nach Gesprächspartner individuell zusammenstellte. Anders wäre es nicht möglich gewesen, auf die unterschiedlichen Perspektiven von Rentnern und Jugendlichen, Betriebsleitern und einfachen Arbeitern oder Angestellten der Gemeindeverwaltung angemessen einzugehen. Insgesamt 51 Interviews mit Kolchozmitarbeitern wurden auf Tonband aufgezeichnet und bereits in Russland transkribiert. Aus diesen Texten ergaben sich immer wieder neue Arbeitshypothesen, die sich in veränderten Interviewleitfäden niederschlugen. Eine echte »Auswertung« in Orientierung an der Vorgehensweise der strukturierend-qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (1995) erfolgte allerdings erst nach Abschluss der Feldarbeit. Da mit einigen der Interviewpartner Vertraulichkeit vereinbart worden war, werden Zitate aus den Transkripten im Folgenden nur mit Verweis auf die Nummer des Interviews, die Seitenzahl, den Absatz sowie den Beruf des Interviewten belegt. »(47: 9–4, Kolchoz-Stallarbeiterin)« bedeutet also, dass das Gespräch mit einer Stallarbeiterin geführt wurde und die Passage dem vierten Absatz auf Seite neun des siebenundvierzigsten Interviews entnommen ist. Häufig nahmen mehrere Personen an einer Befragung teil, so der Nummer eines Interviews nicht immer ein und dieselbe Berufsbezeichnung zugeordnet werden kann. Die teilnehmende Beobachtung konzentrierte sich auf die Führungsebene der Betriebe und erwies sich im Vergleich zu den Interviews letztendlich sogar als aufschlussreicher, da hier der offiziell-repräsentative Rahmen viel leichter und häufiger verlassen wurde. Einen Arbeitstag lang mitzuverfolgen, welche Aufgaben wie erledigt wurden oder welche unvorhergesehen auftretenden Probleme gelöst werden mussten, erlaubte Einblicke in Routinesituationen, die nicht mehr durch meine Präsenz als ausländischer Beobachter dominiert wurden. Jeden Abend fertigte ich möglichst detaillierte Gedächtnisprotokolle der Ereignisse und Begegnungen des Tages an, so dass mein Feldtagebuch nach Ende der empirischen Arbeiten knapp 200 Schreibmaschinenseiten umfasste. Das Ergebnis dieser Herangehensweise war, dass das gesammelte Material insgesamt keineswegs ein kohärentes
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Bild, sondern vielfältige Unstimmigkeiten zwischen beobachteten Praktiken und Beschreibungen in Interviews widerspiegelte. Anfängliche Versuche, diese Widersprüchlichkeiten in einem umfassenden Interpretationsrahmen aufzulösen, gab ich bald auf und konzentrierte mich stattdessen gerade darauf, ihnen als einem Charakteristikum der Umbruchssituation bei der Auswertung besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Wörtliche Zitate, die nicht einem transkribierten Interview, sondern dem Tagebuch entnommen sind, werden im Folgenden mit dem Datum des entsprechenden Eintrags zitiert, also z.B. 23.01.2001 für ein Zitat vom 23. Januar 2001. Ergänzend dazu, jedoch fallbezogen und nicht in allen Orten einheitlich, habe ich die Landverteilung und -nutzung nach der Privatisierung kartiert sowie Pläne repräsentativer Privatgebäude angefertigt, die Art und Umfang der Hofwirtschaft demonstrieren. In Dubrovka verbrachte ich viel Zeit damit, das Gemeinderegister (pochozjajstvennaja kniga) 12 sowie alte Buchhaltungsunterlagen des Kolchoz zu fotografieren und auszuwerten, in Privol’naja erstellte ich ein Verzeichnis der im Ausland gekauften Betriebsmittel und arbeitete die letzten Jahrgänge der Lokalzeitung durch. Diese und ähnliche Materialien waren weder überall verfügbar noch an jedem Ort gleichermaßen relevant; wo sie im Folgenden verwendet werden, wird jeweils auch auf ihre Bedeutung und Verlässlichkeit näher eingegangen.
12 | Die sowjetischen Gemeinderegister sind eine Quelle, deren Aussagekraft meinem Eindruck nach häufig überschätzt wird. Nicht bewusst falsche Angaben, beispielsweise zum privaten Viehbesitz, sondern eine schlampige Buchführung machen selbst an und für sich ›unverdächtige‹ Daten wie die Zu- und Fortzüge oft unbrauchbar.
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Hofwirtschaften und Großbetriebe auf dem Weg in die Marktgesellschaft
Das Ende der Sowjetunion und die Restrukturierung der Kollektivbetriebe bedeuteten für den Alltag im ländlichen Raum selbstverständlich erheblich mehr als nur eine Veränderung der Wirtschaftsweise und eine neue Gewichtung der unterschiedlichen Formen der Erwerbsarbeit für das Familieneinkommen. Ist es deshalb eine unangemessene Überbewertung des Ökonomischen, mit einer Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Hofwirtschaften und privatisierten Großbetrieben zu beginnen? Eigentlich geht es doch um die Frage, wie unter den neuen Rahmenbedingungen mit den geteilten Öffentlichkeiten der sowjetischen Zeit umgegangen wird, die den entscheidenden Handlungskontext für häufig als »kollektivistisch« und »egalitär« bezeichnete Praktiken bilden. Dieser Einwand übersieht, dass Hofwirtschaften und privatisierte Großbetriebe selbst weit mehr als nur wirtschaftliche Akteure sind, die sich durch »Produktion« und »Einkommenserzielung« auszeichnen. Vielmehr handelt es sich für die Bewohner des ländlichen Raums um die beiden wohl wichtigsten sozialen Institutionen in den Dörfern, die miteinander wie auch mit so wirtschaftsfernen Bereichen wie Familienfesten, Folkloregruppen oder Kindergärten auf das Engste verwoben sind. Sie bilden die Ausgangspunkte aller Praktiken, welche die lokal-informelle Sphäre einerseits und die repräsentativ-offizielle Sphäre andererseits konstituieren und reproduzieren. Die Begriffe »öffentliches« oder »gesellschaftliches Leben«, »Kolchoz« und »Hoflandwirtschaft« tauchen deshalb – wie in der folgenden Passage, die einem Gespräch mit dem Kolchozvorsitzenden in Dubrovka entnommen ist – immer wieder in unmittelbarem textlichem Zusammenhang auf und belegen, dass diese Einschätzung nicht nur das Ergebnis wissenschaftlicher Modellbildung ist:
176 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess »Die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens entsteht auf den Territorien der Kreise und Gemeinden. […] Die Menschen, faktisch bereits eine ganze Generation, haben sich an dieses gesellschaftliche Leben, an diese Psychologie, gewöhnt. Das betrifft die Wirtschaftsweise, die vielschichtige Ordnung der Wirtschaftsweise. […] Diesen Komplex kann man heute nicht einfach auseinander nehmen. […] Ein Bauer kann heute sein Getreide nur ernten, wenn er den Mähdrescher des Kolchoz benutzt.« (2: 9–3, Kolchozvorsitzender).
Auch in den Dorfgemeinschaften standen zur Zeit meiner Feldarbeiten Kolchoz und Hofwirtschaft, neue Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und Abgrenzungen im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses und die Gespräche ließen sich manchmal nur mit Mühe auf andere Themen lenken. »Demokratie« beispielsweise, ein Lieblingsthema westlicher Kommentatoren, war für die Kolchozbauern ein negativ belegtes, im günstigsten Fall abstraktes und als irrelevant angesehenes Schlagwort, das man mit der Verschlechterung des Lebensstandards und dem Verlust von Recht und Ordnung in Verbindung brachte. Nur in sehr seltenen Fällen und meist von Personen mit höherem Bildungsabschluss wurde in kurzen Passagen über Veränderungen und noch seltener über Verbesserungen in anderen Bereichen nachgedacht. »Wir kannten nichts, keine Orangen, keinen Kaffee, das war alles ›Defizit‹, Mandarinen, Obst – wenn du heute auf den Markt gehst, kannst du jede beliebige Frucht kaufen«, resümiert beispielsweise eine Dorflehrerin (12: 5–1) und ergänzt: »Freier fühlt man sich vielleicht in der Hinsicht, dass man heute Geld verdienen kann; es verbietet dir jetzt niemand mehr, drei Beschäftigungen gleichzeitig nachzugehen.« (12: 5–5). Doch auch hier kehrte die Unterhaltung bereits im nächsten Satz wieder darauf zurück, dass dafür im sowjetischen System jeder im Dorf Arbeit im Kolchoz fand, während es heute mehr und mehr Arbeitslose gibt, die alleine von der Hofwirtschaft leben müssen. Gegenüber dem bisherigen Text sind dieses und das nächste Kapitel geprägt von einer Verlagerung des methodologischen Schwerpunktes von einer eher struktur- hin zu einer stärker akteursorientierten Betrachtung, die zugleich das Ergebnis einer bewussten Entscheidung wie auch das Resultat äußerer Umstände ist. Erstens war die bisherige Rekonstruktion der Situation im letzten Drittel des 19. Jh. und während der Regierungszeit Breschnews auf Sekundärquellen angewiesen, in denen meist allgemeine Entwicklungen herausgearbeitet und auf eine strukturelle Gesamtkonfiguration zurückgeführt wurden; das Zustandekommen individueller Handlungsentscheidungen rückt hier ebenso in den Hintergrund wie die vielfältigen Unterschiede, die zwischen den »das Allgemeine« konstituierenden Einzelfällen tatsächlich bestanden. Zweitens aber – über diskurs- und quellenbedingte Einschränkung hinausreichend – standen bislang nicht Phasen tief greifender Umbrüche im Vordergrund, 1 sondern Zeiten, in denen relativ stabile und homogenisierend wirkende 1 | Noch einmal soll an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen werden,
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wirtschaftliche ebenso wie politische Rahmenbedingungen die Entstehung von verallgemeinerten Praktiken und Routinen begünstigt hatten. Nicht nur »Zwang«, sondern auch »Kommunikation« als Prozess des Erfahrungsaustausches, aber auch der Konsensbildung, bildeten dafür die Grundlage. Die Transformationssituation seit 1991 unterscheidet sich davon grundlegend. Ein schwacher Zentralstaat, der einen erheblichen Teil seiner Regelungskompetenzen an regionale und lokale Institutionen abgeben musste, ist für diesen Unterschied ebenso mit verantwortlich wie die Tatsache, dass das zur zentralen Planwirtschaft alternative Normierungssystem »Markt« noch im Entstehen begriffen ist und bislang keine einheitliche Gestalt angenommen hat. Von Einzelpersönlichkeiten und spezifischen Konstellationen in den jeweiligen Betrieben abhängige Grundsatzentscheidungen, in denen die Weichen für die weitere Entwicklung der restrukturierten Kolchoze gestellt wurden, haben deshalb an Gewicht gewonnen. Hinzu kommt, dass die Möglichkeit, in einer empirischen Herangehensweise die jüngsten Veränderungen von den Akteuren selbst kommentieren zu lassen, es erlaubt, der Rekonstruktion von Handlungsentscheidungen den Stellenwert einzuräumen, den sie eigentlich auch in den historischen Betrachtungen der vorhergehenden Kapitel verdient hätte. Humphrey (1998) hat der Neuauflage ihres erstmals 1983 erschienenen Buches »Karl Marx Collective« den Titel »Marx Went Away, But Karl Stayed Behind« gegeben. Sie greift damit den Kommentar eines Kolchozbauern zu einem sowjetischen Denkmal auf, aus dessen Inschrift zwar das Wort »Marx«, nicht aber der Vorname »Karl« entfernt worden war. Eine treffendere Metaphorik ließe sich auch für den Inhalt der nächsten beiden Kapitel kaum finden: Veränderungen und ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit kennzeichnen die Transformationssituation mindestens ebenso sehr wie Kontinuitäten und die oft unvermutete Inwertsetzung vermeintlich überholter Relikte der sozialistischen Planwirtschaft. Gegliedert in drei thematische Abschnitte soll diese ›neue Unübersichtlichkteit‹ nun in einer Weise dargestellt werden, die verständlich macht, wie sich die von marktwirtschaftlich orientierten Reformern gegen den Willen der Mehrheit der Betroffenen erzwungene Privatisierung tatsächlich auf das Kolchozsystem und die persönlichen Nebenerwerbswirtschaften als dessen integraler Bestandteil auswirkte. Dabei geht es mir in einem ersten Schritt primär darum, die Position der Kolchozarbeiter und Betriebsleiter selbst nachvollziehbar zu machen und sie dementsprechend in diesem Kapitel ausführlich und nur ergänzt durch überleitende Kommentare und Erläuterungen zu den über die unmittelbare Situation hinaus gehenden Handlungskontexten zu dass sich im letzten Drittel des 19. Jh. im ländlichen Raum Russlands zwar fundamentale Umwälzungen abspielten, es mir in den entsprechenden Kapiteln jedoch um eine Rekonstruktion der Situation vor dem Ende der Leibeigenschaft und der Integration in frühkapitalistisch-städtische Wirtschaftsstrukturen ging.
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Wort kommen zu lassen. Redundanzen sind dabei durchaus beabsichtigt: Wenn beispielsweise »Desintegration« als prägendes Charakteristikum herausgestellt wird, so gewinnt der abstrakte Begriff nur dadurch Inhalt und Bedeutung, dass gezeigt wird, inwiefern sich sowohl Betriebsleiter in Bezug auf die nationale Agrarpolitik wie auch Kolchozarbeiter in Bezug auf Sozialleistungen oder die Infrastruktur im ländlichen Raum vom Staat alleine gelassen fühlen – kurz, dass eine ähnliche Erfahrung von unterschiedlichsten Personengruppen in den unterschiedlichsten Kontexten geschildert wird. Erst im nächsten Kapitel folgt dann eine darüber hinaus gehende Interpretation im Hinblick auf veränderte Formen der Integration und Exklusion der Hofwirtschaften, Dorfgemeinschaften und restrukturierten Betriebe in ihrem neuen marktwirtschaftlichen Umfeld.
Die Privatisierung der Großbetriebe »Wir haben euch ins Wasser geworfen – schwimmt!« »Wir haben Euch ins Wasser geworfen – schwimmt!« (21: 11–1) – mit diesen Worten charakterisierte ein Betriebsleiter mir gegenüber in einem Interview die Haltung des Gesetzgebers und der staatlichen Behörden zur Privatisierung der Kollektivbetriebe und er fuhr fort: »14 wurden ins Wasser geworfen, 8 schwimmen. Und die anderen 6? Sollen ertrinken, ja? Aber dort leben doch auch Menschen!«.2 In diesem Bild kommt die hoffnungslose Überforderung der meisten Betriebe mit den sich innerhalb weniger Jahre rapide verändernden Rahmenbedingungen zum Ausdruck: Zur Privatisierung war man verpflichtet worden, aber niemand wusste, wie das Eigentum eines Kollektivbetriebs tatsächlich aufgeteilt werden könnte. Der Vorsitzende des Kolchoz im Gebiet Brjansk beschreibt die allgemeine Verwirrung im Jahr 1992 folgendermaßen: »Als der Moment nahte, da die Betriebsmittel aufgeteilt werden sollten, da war es allen ein Rätsel, wie das gehen könnte. Angesichts der Tatsache, dass es dafür keine russischen Gesetze gab, versuchten wir dieses Rätsel auf einer Vollversammlung zu lösen. Aber egal von welcher Seite her wir das Problem angingen – wenn man 200 Bodenanteilseigner hat, wie sollen wir dann die vier Saatmaschinen aufteilen, die wir zu diesem Zeitpunkt besaßen? Wie die zehn Traktoren, von denen jeder für ungefähr 100 bis 120 Hektar ausgelegt ist? Wie die sechs oder sieben Mähdrescher? […] Als wir das alles wieder und wieder durchdacht hatten beschlossen wir, die kollektive Betriebsorganisation beizubehalten, das heißt, weiterhin ein Kolchoz zu bleiben.« (11: 2–1). 2 | Im Landkreis gibt es insgesamt 14 Kolchoze, von denen heute immerhin 8 rentabel wirtschaften. Der Betrieb liegt im zentralen Schwarzerdegebiet, in anderen Regionen sieht die Relation weitaus schlechter aus.
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»Schwimmen ohne Anleitung« wurde aber nicht nur im Hinblick auf rechtliche Unklarheiten und Verfahrensweisen, sondern auch auf wirtschaftliche Fragen erwartet. Zwar wuchs der Entscheidungsspielraum der Betriebe, weil es keine detaillierten Anbauvorschriften mehr gab, gleichzeitig wurde aber auch die Subventionierung von Betriebsmitteln eingestellt, und auf eine garantierte Abnahme ihrer Produkte konnten sich die Erzeuger nicht länger verlassen. Besonders schwerwiegend wirkte sich die Veränderung der Relation zwischen den Erlösen für landwirtschaftliche Produkte und den Preisen für Betriebsmittel aus, die sich in genau dem Zeitraum kontinuierlich verschlechterte, als auch die Privatisierung bewältigt werden musste (Abb. 11). Abbildung 11: Veränderung der Relation landwirtschaftlicher Out- und Inputpreise in Russland 1990 – 1996 ���
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Quelle: OECD (1998: 46).
Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, detailliert den allgemeinen Niedergang der russischen Landwirtschaft nach der Auflösung der Sowjetunion nachzuzeichnen. Doch wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, beeinflusst der wirtschaftliche Erfolg oder Misserfolg eines Betriebs das Sozial- und Wirtschaftsgefüge an einem Ort insgesamt: »Erfolg« – immer relational, d.h. im Verhältnis zu den umliegenden Landwirtschaftsunternehmen verstanden – wird einerseits von den Betriebsleitern zur Legitimation einer über ihren eigentlichen Aufgabenbereich hinausreichenden Machtfülle herangezogen; »Erfolg« wirkt sich andererseits unmittelbar auf jeden einzelnen der vier klassischen Funktionsbereiche eines Kolchoz – »Bestellung des Landes/Produktion«, »Arbeitgeber/Einkommensquelle«, »Dienstleister für die Hoflandwirtschaften« und »Bereitstellung von Infrastruktur/Sozialleistungen« (Davydova/Franks 2006: 52) – aus. Aus diesem Grund ist es erforderlich, einige Eckdaten zu den Schwierigkeiten im Agrarsektor in den 1990er Jahren voranzustellen. 1998 trug die Landwirtschaft in Russland noch 5,6 % zum Bruttoinlandsprodukt bei und beschäftigte 14 % aller Erwerbstätigen (einschl. Forstwirt-
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schaft; International Monetary Fund 2005: 3, 8); die Bruttoagrarproduktion hatte in den Jahren davor – zwischen 1990 und 1996 – um 36 % abgenommen (OECD 1998: 47). In der Bevölkerung wird der Rückgang häufig mit dem Satz »die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer« kommentiert. Lorenz-Kurven der wirtschaftlichen Entwicklung der restrukturierten Kollektivbetriebe in den Jahren 1995 bis 2000 belegen diese Einschätzung (Abb. 12).3 Auf nationaler Ebene ließen sich zunehmende Divergenzen noch plausibel allein als Folge der Abschaffung des ausgleichend wirkenden zentralplanwirtschaftlichen Systems und des damit verbundenen wachsenden Einflusses naturräumlicher Unterschiede interpretieren. Dafür spricht in erster Linie die Tatsache, dass die Summe direkter und indirekter staatlicher Subventionen Mitte der 1980er Jahre noch ca. 60 Mrd. $ pro Jahr betrug (Ioffe 2005: 183) und damit in etwa dem derzeitigen Agrarhaushalt der gesamten Europäischen Union entsprochen hatte. Die Einstellung dieser Subventionierung führte dazu, dass nach kurzer Zeit 83-86 % der Betriebe faktisch bankrott waren, da ihre Ausgaben die Einnahmen kontinuierlich überstiegen; mehr als die Hälfte aller Unternehmen konnte nicht mehr über die eigenen Konten verfügen, da die Banken ihnen den Zugang gesperrt hatten (Ioffe 2005: 182). Doch die Entwicklung innerhalb einzelner Gebiete zeigt die beschränkte Gültigkeit dieser Erklärung. Selbst in den kleinräumigen Grenzen von Landkreisen, wo die klimatische und pedologische Varianz sicherlich unbedeutend ist, nehmen die Disparitäten zu und verweisen auf soziale und betriebswirtschaftliche Ursachenkomplexe; »das liegt an der Leitung, am Faktor Mensch, an der Einstellung zur Arbeit und so weiter« (21: 11–1) kommentierte diesen Sachverhalt einer der Betriebsleiter in einem Interview. Darauf, dass für die wachsenden Unterschiede auch Selbstverstärkungsmechanismen eine wichtige Rolle spielen, habe ich an anderer Stelle bereits hingewiesen (Lindner 2002). Meine Arbeitsgebiete hatte ich bewusst so gewählt, dass sich darunter sowohl ein Kolchoz in einer schweren wirtschaftlichen Krise (Put’ Il’iča im Gebiet Brjansk) wie auch ein prosperierender Betrieb (Imeni Lenina in der Region Krasnodar) befanden. Emel’janovo im Gebiet Nižnij Novgorod nimmt eine Zwischenstellung ein; hier ist eine pauschale Bewertung wegen der Aufteilung in kleinere Einheiten im Rahmen des Restrukturierungsprogramms der Weltbank allerdings nicht möglich.
3 | Für die Überlassung eines Datenbankauszugs des Zentralamtes für Statistik, in dem alle russischen Landwirtschaftsbetriebe einzeln erfasst waren, danke ich Prof. Dr. V. Uzun vom Moskauer Agrarinstitut. Die Tatsache, dass hier primäre relationale Veränderungen interessieren, lässt es vertretbar erscheinen, auch statistisch ›problematische‹ Indikatoren wie den Erlös zu verwenden. Weitere, in die Abbildungen nicht mit aufgenommene Kennziffern bestätigen den Trend.
6 Hofwirtschaften und Großbetriebe auf dem Weg … | 181 Abbildung 12: Zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den Betrieben, dargestellt anhand der Indikatoren »Erlös« und »Rinderbestand«
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Quelle: Unveröffentl. Rohdaten des russischen Zentralamtes für Statistik, eigene Auswertung.
Der Rückgang der Produktion in Put’ Il’iča (Abb. 13) betraf sowohl tierische wie auch pflanzliche Erzeugnisse. Es fehlte an Ersatzteilen für die veralteten Maschinen und an Krediten für Neuanschaffungen, an Düngemitteln und Pestiziden, aber auch an Benzin, um in den oft nur kurzen Phasen trockener Witterung im Sommer die Ernte einzubringen. Der Betrieb reagierte darauf natürlich mit einer Reduzierung der Anbauflächen, die heute vielfach bereits deutliche Zeichen von Verbuschung aufweisen und konzentrierte sich auf Gunstlagen, so dass die Flächenproduktivität nicht in gleichem Maße abnahm (Abb. 14). Gegenüber 1985 hatte sich im Jahr 2000 der Gesamtertrag bei den wichtigsten Anbauprodukten »Getreide« und »Hackfrüchte« (in der Grafik nicht mit abgebildet) ebenso wie bei der abgelieferten Milch um ca. 75 % verringert und der Anbau von Kartoffeln wurde praktisch eingestellt. Stattdessen begann man nun,
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mit neuen Produktionsrichtungen wie dem Obstanbau und der Käseherstellung zu experimentieren, ohne dass sich bislang nennenswerte Erfolge abzeichneten. Abbildung 13: Entwicklung der Produktion im Betrieb Put’ Il’iča anhand der wichtigsten landwirtschaftlichen Erzeugnisse ���������
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Quelle: Buchhaltungsunterlagen des Betriebs Put’ Il’iča.
Abbildung 14: Entwicklung der Produktivität im Betrieb Put’ Il’iča anhand der wichtigsten landwirtschaftlichen Erzeugnisse �������������
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Quelle: Buchhaltungsunterlagen des Betriebs Put’ Il’iča.
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In Imeni Lenina – heute Privol’noe – hingegen gelang es, den Übergang in die Marktwirtschaft praktisch ohne größere Produktionsrückgänge zu bewältigen; selbst die geringfügigen Einbrüche in der ersten Hälfte der 1990er Jahre sind weniger auf die Privatisierung als vielmehr auf eine vorübergehende Abwesenheit des Betriebsleiters und auf Missmanagement zurückzuführen (Abb. 15). Für diese schnelle Umstellung sind die hervorragende Ausgangssituation und die naturräumlichen Rahmenbedingungen im Schwarzerdegebiet ebenso ursächlich verantwortlich wie die guten wirtschaftlichen und politischen Kontakte des Betriebsleiters, der eine Legislaturperiode lang dem Agrarausschuss der Duma angehörte. Auf eigene Initiative unternahm er in den 1990er Jahren mehrere Informationsreisen nach Deutschland und in die USA und erwarb trotz der um ein Vielfaches höheren Kosten Landwirtschaftstechnik bei westlichen Firmen (Tab. 7). Da er nicht nur die Produktion aufrecht erhalten oder sogar steigern konnte – die Anbauflächen blieben in etwa konstant, so dass der in der Grafik abgebildete Getreideertrag pro Hektar auch die Entwicklung bei der Gesamterntemenge widerspiegelt – sondern durch massive Entlassungen auch die Kosten senkte, wurde im Jahr 2001 ein offizieller Reingewinn von knapp 2 Mill. $ erwirtschaftet (der tatsächliche Gewinn dürfte weit darüber liegen). Abbildung 15: Entwicklung der Produktion/Produktivität im Betrieb Imeni Lenina/ Privol’noe anhand der wichtigsten landwirtschaftlichen Erzeugnisse ����������������� � ��������
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Quelle: Buchhaltungsunterlagen des Betriebs Imeni Lenina/Privol’noe.
184 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess Tabelle 7: In der AG Privol’noe in den Jahren 1998–2000 angeschaffte Betriebsmittel ausländischer Herkunft Betriebsmittel
Herkunftsland
Anschaffungspreis in EUR*
USA Deutschland Türkei
163.093,– 122.829,– 157.612,–
1999: Mähdrescher »Mammut« Melkkarussell »Alfa Laval«
Österreich Schweden
199.165,– 124.961,–
2000: Anhängerzubehör Zubehör zum Mähdrescher »Mammut« Kombinationspflug »Evropak AR-6« Feldhäcksler »Jaguar« Mähdrescher »Monsei« (Ratenzahlung) Melkausrüstung »Alfa Laval«
Österreich Österreich Ukraine Österreich Dänemark Schweden
101.448,– 105.506,– 120.320,– 152.440,– 109.075,– 159.858,–
1998: Sämaschine »Concorde«, 2 St. Ballenpresse »Fortschritt« Getreidemühle
*) Unabhängig vom Zeitpunkt der Anschaffung umgerechnet zum Kurs von 100 Rubel = 3,93 EUR. Quelle: Eigene Erhebung.
Für alle Betriebe, unabhängig davon, wie sie in wirtschaftlicher Hinsicht mit den Umbrüchen der 1990er Jahre zurechtkamen, bedeutete das Ende der Zentralplanwirtschaft die strukturelle Abkoppelung von einem national organisierten System von Verwaltungsinstitutionen, Anbauvorschriften, Kontrollinstanzen, Hilfsleistungen und Absatzgarantien. Wegren (2000b: 51ff) betont zu Recht, dass es sich dabei nicht um die Folgen der politischen und wirtschaftlichen Machtlosigkeit des Staates, sondern um einen gezielten staatlichen Rückzug aus dem ländlichen Raum handelte. Zum entscheidenden Medium der Reintegration lokaler Einheiten in nationale und wo möglich sogar internationale Strukturen sollte der »Markt« werden. Rechtsstaatlichkeit als unabdingbare Voraussetzung der Durchsetzbarkeit von Eigentumsrechten wurde dabei stillschweigend angenommen; sie fand erst in der jüngeren wissenschaftlichen Diskussion um die Ursachen der Persistenz kolchozähnlicher Betriebsformen angemessene Beachtung (Allina-Pisano 2003). Von diesem Ideal ist das, was »Marktwirtschaft« in der ersten Hälfte der 1990er Jahre tatsächlich ausmachte aus der Perspektive der von den Reformen Betroffenen denkbar weit entfernt. Die Leiterin eines der aus dem Restrukturierungsprogramm der Weltbank hervorgegangenen Unternehmen beschreibt die Situation folgendermaßen:
6 Hofwirtschaften und Großbetriebe auf dem Weg … | 185 »Die strikte staatliche Regulierung der Produktion verschwand bei uns augenblicklich in dem Moment, als die Sowjetunion auf hörte zu existieren. […] Es entstand eine chaotische, irgendwie anarchische Situation. Ja. Und wir – nun, wirklich, bei uns gibt es keinen ›Markt‹, das ist ein ›Basar‹ wie viele sagen, wirklich, der folgt keinen normal-menschlichen Gesetzmäßigkeiten.« (40: 1–1f).
Das Bild des »Basars«, der keinen »normal-menschlichen Gesetzmäßigkeiten« folgt, widerspricht den Prämissen einer erfolgreichen Einführung marktwirtschaftlicher Strukturen in doppelter Hinsicht: Erstens verweist es darauf, dass ein Kernbestandteil des Idealtyps von »Markt«, nämlich der »Tausch zwischen anonymen Teilnehmern« nicht möglich ist, da mit »Basar« persönliche Verbindungen zwischen den Vertragspartnern assoziiert werden. Zweitens fehlt ein verlässliches, rahmendes Regelwerk, auf das man sich gegebenenfalls berufen kann. Nebenbemerkungen in Interviews zum Vertrauen in Gesetze wie »das ist Theorie, in der Praxis sieht es völlig anders aus« (25: 9–24, Ehefrau eines Privatbauern) oder »es ist Zeit zu kapieren, dass Geld hier alles entscheidet« (24: 14–9, Gelegenheitsarbeiter) belegen überzeugend das Gefühl der Rechtsunsicherheit. Dass in einem der Betriebe, in denen ich mich längere Zeit aufgehalten habe, die Finanzbeamten ihre Pkws zur Reparatur abgaben und man deshalb mit einer großzügigen Bearbeitung der Steuerunterlagen rechnen konnte, ist nur einer von vielen Hinweisen dafür, dass diese Einschätzung nicht völlig falsch ist. Zwei Beispiele mögen verdeutlichen, welche Probleme das, was liberale Reformer als »Marktimperfektionen« bezeichnen würden, im Betriebsalltag mit sich bringt: 1. Nachdem sich 1999 der Anbau von Kohl als außerordentlich rentabel erwiesen hatte, war im Kolchoz Put’ Il’iča im darauf folgenden Jahr die Anbaufläche erheblich ausgeweitet worden. Noch bevor die gesamte Menge geerntet war, zeigte sich bereits, dass der Absatz Probleme bereiten würde. In der Folgezeit dominierte das ›Kohl-Problem‹ über fast drei Wochen hinweg sämtliche Betriebsbesprechungen, da der Markt selbst für den seit über 20 Jahren in leitender Funktion tätigen Kolchozvorsitzenden nicht einfach zu überblicken war. Versuchsweise wurden geringe Mengen auf lokalen Märkten zum Verkauf angeboten und man bemühte sich auch, über ein Inserat in der Zeitung des Landkreises Kaufinteressenten zu finden. Doch das zeitaufwändige persönliche Vorsprechen bei weiterverarbeitenden Betrieben bzw. in den Kantinen größerer Industrieunternehmen und Freizeiteinrichtungen sahen alle als am Erfolg versprechendsten an. Als jedoch die Zeit knapp wurde – geeignete Lagerungsmöglichkeiten fehlten – begann man mit dem Verkauf an die eigenen Mitarbeiter zu einem Preis, der nur die Hälfte des derzeitigen Preises auf lokalen Märkten betrug. Zu diesem Preis fand sich schließlich auch ein Händler, der
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bereit war, einen Teil der Gesamtmenge abzunehmen und auf eigenes Risiko in mehr als 1.000 km weiter im Norden gelegenen Landkreisen anzubieten. Der Rest musste schließlich untergepflügt oder zu Silage verarbeitet werden. 2. In Privol’noe konnte ich im Büro des Vorsitzenden der AG folgendes Verhandlungsgespräch über den Kauf von drei Pflügen im Gesamtwert von 11.000,– EUR miterleben: Vorsitzender: »Ok, wir bezahlen euch den vollen Preis, aber in Konserven, eigentlich wären bei der Summe ja Abschläge drin!« Händler: »Nein, Konserven, das kann ich nicht machen, Konserven gehen im Moment total schlecht.« Vorsitzender: »Was heißt ›Konserven gehen total schlecht‹? Tschetschenien ist um die Ecke, Dagestan ist nicht weit, da könnt ihr überall Konserven verkaufen, ihr kommt doch aus Krasnodar!« Händler: »Nein, Konserven laufen schlecht, das geht auf gar keinen Fall.« Vorsitzender: »Ok, dann schlage ich Euch etwas anderes vor: Wenn ihr Geld wollt, dann müsst ihr noch warten, bis wir einen Teil des Getreides verkauft haben, das jetzt noch in den Silos liegt. Aber ich könnte euch jetzt sofort mit Mehl bezahlen. Ihr habt ja die Nachrichten gehört: Der Brotpreis steigt, das geht sicher auch noch eine Weile so weiter. Rechnen wir mit 5,40 Rubel pro Kilo Mehl. Ich bezahle einen Pflug in bar und die zwei anderen gegen Mehl.« Händler: »Mehl ist besser, da haben wir einen Abnehmer in Dagestan, aber der lässt nicht mit sich verhandeln. 5,20 Rubel pro Kilo wäre ok. Und nur ein Pflug gegen Mehl, die beiden andern in bar.« Vorsitzender: »Über den Preis können wir reden, aber ich kann auf keinen Fall zwei Pflüge bar bezahlen.« Händler: »Gut, dann muss ich mit unserem Abnehmer reden. Ich weiß nicht, ob er 35 Tonnen Mehl auf einmal nimmt.« Er führt vor der Türe ein längeres Telefonat. »Nein, das geht nicht, 35 Tonnen kann er im Moment nicht absetzen.« Vorsitzender: »Gut, dann bleibt uns nur eines: Wir schließen das Geschäft jetzt ab, ihr reserviert uns die Pflüge und in zwei Wochen haben wir genug Geld, um zwei in bar und einen gegen Mehl zu bezahlen.« Zu diesen Konditionen kam das Geschäft dann auch tatsächlich zustande.
Beide Beispiele können als durchaus typisch gelten: Im ländlichen Raum, wo die Märkte stark regional fragmentiert sind und die Vergangenheit noch keinen verlässlichen Orientierungsrahmen für Entscheidungen bietet, die auf die Zukunft hin ausgerichtet sind, ist das »Schweinezyklusproblem« häufig anzutreffen. In Ovoščevod, einem der Nachfolgebetriebe des Kolchoz Emel’janovo, wurde mir von exakt denselben Schwierigkeiten wie in Put’ Il’iča berichtet, nachdem man sich entschlossen hatte, die Anbaufläche für Kartoffeln stark zu vergrößern.
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Die vielfältigen Ursachen für das im zweiten Beispiel angesprochene Phänomen des Naturaltausches – im Russischen wird dafür die englische Vokabel »barter« verwendet – haben seit langem das Interesse der Transformationsforschung geweckt (Commander/Dolinskaya/Mumssen 2000; Dolud 2001; Gorokhovskij 2001; Voigt/Dolud 2001; Woodruff 1999). Hohe Inflationsraten in den 1990er Jahren sind dafür ebenso mit verantwortlich wie die fehlende Verfügbarkeit von Krediten, hohe Zinsen und das unzureichend entwickelte Bankensystem, aber auch die Möglichkeit der Steuerhinterziehung spielt eine Rolle. Bartergeschäfte setzen im Gegensatz zu monetären Transaktionen weit ausgreifende soziale Netzwerke voraus, da Tauschpartner gefunden werden müssen, die für die angebotene Ware zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt auch Verwendung haben; nicht selten sind dabei weit mehr als zwei Parteien involviert wie in folgendem von Dolud (2001: 17f ) zitierten Beispiel: – Ein Betrieb aus Novgorod liefert Ventile an ein Atomkraftwerk, das nicht in der Lage ist, mit Bargeld zu bezahlen. – Stattdessen erlässt das Atomkraftwerk einem Unternehmen in Kasachstan einen Teil seiner Schulden für Elektroenergie. – Dieses Unternehmen erklärt sich bereit, dafür Gussstahl an einen Betrieb in Baschkirien zu liefern. – In Baschkirien werden nun andere Ventile produziert und an das Novgoroder Unternehmen geliefert, von dem die Barterkette ursprünglich angestoßen worden war. – Das Novgoroder Unternehmen kann mit diesen Ventilen zwar selbst nichts anfangen, liefert sie aber weiter an einen Betrieb in Lipezk. – Der Betrieb in Lipezk versorgt dafür sechs Autowerke in Russland und Weißrussland mit Metallwalzgut. – Die Autowerke liefern Lkws und Pkws an das Novgoroder Unternehmen. – Diese Lkws und Pkws können nun verkauft werden, so dass man letztendlich tatsächlich Bargeld für die an das Atomkraftwerk gelieferten Ventile in den Händen hält. Die Beispiele zeigen, dass hohe Transaktionskosten das vielleicht wichtigste Charakteristikum des Marktes in der Frühphase der Transformation darstellten. Einerseits war die Beschaffung von Marktinformationen extrem aufwändig bzw. überhaupt nicht möglich, andererseits vertraute niemand auf die Einhaltung oder Einklagbarkeit von Verträgen und wäre bereit gewesen, die Bezahlung einer Ware zu einem späteren Zeitpunkt zu akzeptieren. In beiden Fällen führten die Lösungsstrategien zu einer Aufwertung von persönlichen Kontakten und sozialen Netzwerken sowie zu ständig neu auszuhandelnden Einzelfalllösungen, was wiederum die Reproduktion einer Form von »Markt« begünstigte, die klar vom westlichen Ideal mit seinen Kernbestandteilen »Anonymität« und »universale Gültigkeit« abweicht.
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Nach den Gründen für den Erfolg des größten privatbäuerlichen Betriebs in Privol’naja befragt antworteten denn mehrmals auch einfache Angestellte spontan: »Er hatte schon vorher eine gute Position, der hatte Beziehungen, immer irgendwohin, zu irgendwem, irgendetwas, der war mit jedem in Kontakt.« (36: 20–9, Kolchozangestellte). Dementsprechend war die Antwort auf meine in vielen Interviews bewusst naiv gestellte Frage, ob ich, aus dem Westen kommend und mit den Prinzipien marktwirtschaftlichen Handelns seit langem vertraut, Chancen hätte, in Russland erfolgreich einen Betrieb zu leiten, auch immer ein eindeutiges »nein, niemals«. Räumliche und zeitliche »Unmittelbarkeit« im Sinn einer persönlichen Anwesenheit der Geschäftspartner und des gleichzeitigen Tausches von Ware und Bezahlung kennzeichnen die meisten Transaktionen im ländlichen Raum. Der Kontrast zum sowjetischen System, wo man sich an festen Planvorgaben orientieren konnte, welche Monate, manchmal sogar Jahre im Voraus bekannt waren (vgl. den Exkurs zum »Mysterium Selbstkosten« im vierten Kapitel) und wo über weite Distanzen Vereinbarungen getroffen und Waren geliefert wurden, hätte kaum größer sein können. Insbesondere vor dem Hintergrund dieser Erfahrung wird verständlich, warum die Ende des Jahres 1991 erzwungene Privatisierung angesichts des damaligen marktwirtschaftlichen Umfelds das Gefühl hinterließ, »ins Wasser geworfen zu werden, ohne eine Anleitung zum Schwimmen bekommen zu haben«. Ein Gefühl, nun völlig auf sich gestellt zu sein, kam bei den Betroffenen in den Interviews in den unterschiedlichsten Kontexten und Formulierungen immer wieder zum Ausdruck. »Von denen da oben beachtet niemand die Bauern, ich meine, dass man sich um sie kümmert, dass sie irgendwie Hilfe brauchen, […] nein, von oben kommt nichts, man kann sogar sagen, dass man an die Bauern nicht einmal denkt. Überlebst du, ok, dann überlebst du, wenn du willst, dann bebau’ das Land, wenn nicht, dann lass’ es bleiben« (15: 3–1) beklagte sich beispielsweise der leitende Agronom von Put’ Il’iča. »Auf sich selbst gestellt sein« bedeutet eine Aufwertung des Lokalen: Naturräumliche Gunst oder Ungunst, Nähe oder Entfernung zu städtischen Absatzmärkten, soziale Netzwerke oder das Fehlen persönlicher Kontakte, die betriebsinternen Arbeitsbeziehungen oder unternehmerisches Talent – all diese einzelbetrieblichen Faktoren bestimmten den ökonomischen Erfolg nun wesentlich stärker als früher. Die Auswirkungen der neuen Bindung an das Lokale müssen keinesfalls zwangsläufig negativ sein, sie löste aber in der Praxis unter den gegebenen Rahmenbedingungen in den meisten Betrieben eine tief greifende wirtschaftliche Krise aus. Wo dies nicht der Fall war wie im ehemaligen Kolchoz Imeni Lenina, zeigen sich die Konturen neuer Formen einer globalen Einbettung: Hier gilt die Produktivität westlicher Betriebe als Referenzrahmen, den Beschäftigten werden Filme von Landwirtschaftsunternehmen in Europa und den USA vorgeführt und das Getreide wird über vergleichsweise kurze Ketten von Zwischenhändlern zu Weltmarktpreisen verkauft. Nicht zuletzt ist es die
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bereits erwähnte Einführung westlicher Landwirtschaftstechnik (Tab. 7), die eine zugleich disziplinierende wie normierende Wirkung ausübt: Die höhere Produktivität rechtfertigt Entlassungen, der Anschaffungspreis dient als Begründung für eine zeitlich optimale Ausnutzung, harte Strafen für zu spätes Erscheinen am Arbeitsplatz und einen sorgsamen Umgang und die Komplexität der Technik erzwingt die Bereitschaft, sich auf ein völlig neues Arbeitsumfeld einzustellen. Der Leiter einer Stallanlage, in der vor kurzem ein computerisiertes Melkkarussell eingeführt worden war, beschreibt die Veränderungen folgendermaßen: »Wie war das früher? Da gab es vier Arbeiter. Keiner beeilt sich, ganz in Ruhe, eine [Kuh], dann noch eine, die Verantwortung war null. […] Heute können nur noch die dableiben, die arbeiten können und wollen. Die, die – nun, eben die Faulenzer und Drückeberger, die werden ausgesiebt, die Realität selbst schiebt sie zur Seite. Wenn es einer nicht schafft, verstehst du, dann können die anderen ihn nicht ertragen. Der bekommt gesagt: ›Hör zu, entweder du arbeitest, oder nicht, entweder du tust was, oder nicht. Wenn nicht, dann bleib zu Hause, wenn ja, dann los.‹« (29: 4–5).
Obwohl er in dieser wie in einigen anderen Passagen des Gesprächs eine grundsätzlich positive Haltung zu den Veränderungen erkennen lässt, ist er zugleich selbst davon betroffen und überfordert: »Irgendwo gibt es dafür eine Automatik, verstehst du? Keine Sau kennt das Ding, also wo? Weil ich nicht weiß, wie das ganze Ding aufgebaut ist, ich sag’s dir ja. Aber ich müsste das wissen, das ist doch schließlich das Grundprinzip des Jobs. […] Ich bin Tierspezialist (»zootechnik«), ich weiß, wie beispielsweise ein Rindermagen funktioniert. Das weiß ich, das habe ich gelernt, auch in der Praxis usw. Aber diese Technik hier versteht keine Sau, schau’, nun, wo, was? Ich müsste das genau wissen, das ist das Problem.« (29: 4–15ff ).
Selbst der Leiter des Betriebs, Initiator und ständiger Motor der Veränderungen, merkt an: »Das geht heute per Computer, das erschreckt mich, wegen meines Alters, ich will bereits nicht mehr lernen, mit dem Internet vertraut zu werden. Sehen Sie, ich habe hier keinen Computer, ich bin schon zu alt, ich gehöre ausgewechselt.« (21: 9–3).
»Ins Wasser geworfen werden ohne eine Anleitung zum Schwimmen zu bekommen« beschreibt metaphorisch einen Umbruch, in dem die bisherigen Verbindungen der Betriebe zu ihrer Umgebung gekappt wurden, und der eine Neubestimmung der eigenen ›Position‹ durch Einbindung in überlokale Kontexte innerhalb eines radikal veränderten Umfelds er-
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forderlich machte. Doch der Umbruch der 1990er Jahre betraf nicht nur die Außenbeziehungen der ehemaligen Kolchoze, sondern wirkte sich auch intern auf das Verhältnis der Arbeiter und Miteigentümer zu ›ihrem‹ Unternehmen aus.
Kolchozbauern, Arbeiter und Miteigentümer Die tatsächliche wirtschaftliche Effizienz des Kolchozsystems zu bewerten, ist weitaus schwieriger, als es einfache Gegenüberstellungen der persönlichen Nebenerwerbswirtschaften und der Kollektivbetriebe glauben machen. Erstere schneiden dabei normalerweise viel zu positiv ab, da sie auf kostenlose Inputfaktoren der Kolchoze zurückgreifen konnten, die meist unberücksichtigt bleiben. Bei letzteren hingegen müsste eigentlich ein Teil der privaten Produktion in Rechnung gestellt werden, was aus praktischen Gründen aber kaum möglich ist; der symbiotische Charakter der beiden Betriebsformen entzieht sich systematisch jeder Quantifizierbarkeit. Doch in keinem meiner Interviews wurde grundsätzlich in Frage gestellt, dass – vorsichtig formuliert – die Sorge der Arbeiter primär immer ihren Hoflandparzellen und nicht der Produktion im Kolchoz galt. Einem Kolchozvorsitzenden, der selbst an den Kollektivbetrieben in reformierter Form festhalten will, entgegnete seine Frau während eines Interviews: »Zu Hause, da arbeitet jeder ordentlich. […] Wenn es an das Ausjäten auf den Rübenfeldern geht, nun? Zu Hause, da jäten wir aus, ich, und alle anderen genau so, jedes einzelne Gräschen rupfen wir aus. […] Aber im Kolchoz? Da nehmen wir das Dingsda, der eine jätet aus, der andere nicht, eine Reihe wird gemacht, fertig, und tschüss! […] So arbeitet man auf gesellschaftlichem Eigentum!« (20: 12–4ff ).
Der unentgeltliche Transfer von Gütern bzw. die Inanspruchnahme von Dienstleistungen für die Hoflandwirtschaft vollzog sich meist in einer rechtlichen Grauzone, denn die Kolchozarbeiter als Genossenschaftsmitglieder waren dazu in begrenztem, teilweise lokal festzulegendem und teilweise individuell aushandelbarem Umfang berechtigt. Dennoch ist es erstaunlich, mit welcher Offenheit das Thema »Diebstahl« im Vergleich zu anderen Themenkreisen in den Interviews angesprochen wurde. Fast beiläufig einfließende Bemerkungen wie »Benzin gab es früher ohne Ende, die Tankwarte haben geklaut, für jeden so viel wie er gebraucht hat haben sie auch geklaut« (9: 17–1, Kolchozarbeiter, zurzeit arbeitslos) oder »die Leute hier sind in Ordnung, bei uns beklaut man sich nicht gegenseitig, da klaut man schon eher im Kolchoz« (12.11.2000, Kolchoz-Chefelektriker) zeugen davon, dass offizielle Legalität und sozial gültige Legitimität nicht dasselbe waren: die Grundversorgung mit bestimmten Gütern wie Dünger
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oder auch Benzin galt lokal als eine Selbstverständlichkeit, die allerdings nicht öffentlich werden durfte. Falls überhaupt weitere Erklärungen für nötig gehalten wurden, beschrieb man Diebstahl im Kolchoz immer als pure Notwendigkeit und rückte ihn damit in die Nähe von »Mundraub«. Man musste ein Haus bauen, die Familie ernähren und eine persönliche Nebenerwerbswirtschaft betreiben, doch der Lohn aus der Arbeit im Kollektivbetrieb reichte dafür nicht aus: »Was heißt schon ›Diebstahl‹ bei den Löhnen damals, das kann man nicht ›Diebstahl‹ nennen, das war ganz normale, nun, Befriedigung von Grundbedürfnissen an Nahrungsmitteln. […] Die Menschen haben Dinge mit nach Hause genommen, um sich dann etwas kaufen zu können. Nun, zum Beispiel, wenn man ihnen kein Kraftfutter gegeben hat: Sie haben schließlich Vieh gehalten, das man dann verkauft hat, um Geld und Fleisch zu bekommen.« (27: 1–3ff, Dorflehrer).
Oder: »Wenn Du irgendetwas unterm Arm nach Hause trägst, ist das etwa Diebstahl? Diebstahl ist, wenn man im Auto oder im Lastwagen die Sachen abtransportiert. Als wir das Haus gebaut haben, hatten wir auch kein Geld mehr und die Treppe war noch nicht fertig. Unterm Arm habe ich jeden Tag nach der Arbeit aus dem Kolchoz zwei Ziegelsteine mitgenommen, immer wieder zwei, und so konnten wir am Schluss die Treppe bauen.« (16.11.2000, Rentnerin, ehemalige Stallarbeiterin).
Hinzu kommt, dass Geld als Tauschmittel im Kolchozsystem in vielen Bereichen keine Rolle spielte und deshalb die dem Betrieb vom Staat bereitgestellten Güter wertmäßig nicht in Relation zu Einkommen oder Alltagsgegenständen gesetzt wurden, die man bezahlen musste: »Man hat uns Berge von Dünger angekarrt, der dann Jahre lang herumlag und vermodert ist – niemand wusste, wie wertvoll er war, das kostet doch enorme Summen Geld und vermodert dann. […] Ein Mähdrescher: irgendjemand – zack zack – montiert die Räder ab, dann verrostet er im Regen – niemand wusste, was das kostete.« (46: 6–1, Schreiner und Gelegenheitsarbeiter).
Es wäre jedoch völlig falsch, Gesprächspassagen, in denen der Umgang mit sozialistischem Eigentum geschildert wird, pauschal als Kritik am Kolchozsystem insgesamt oder gar an der sowjetischen Vergangenheit begreifen zu wollen. Deren ökonomische Effizienz interessierte Planer und Wissenschaftler, bildete aber für die Arbeiter im Vergleich zu ihrem persönlichen Lebensstandard, der unter anderem auch von der allgemeinen infrastrukturellen Ausstattung der Dörfer abhing, keinen entschei-
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denden Referenzpunkt; in den folgenden Abschnitten wird darauf noch ausführlich eingegangen. Eine Ausnahme stellen in erster Linie Personen dar, die vom Ende der Zentralplanwirtschaft profitiert oder sich zumindest in der Hoffnung darauf frühzeitig selbständig gemacht haben, und die mit der Kritik an der Sowjetunion auch ihre persönliche Biographie begründen – nicht zufällig entstammt das letzte Zitat einem Interview mit jemandem, der sich im Zuge der Restrukturierung entschlossen hat, einen privatbäuerlichen Betrieb zu gründen. Als Eigentümer, Betriebsleiter und Arbeitgeber sind sie heute die entscheidenden Akteure der lokalen Ebene, die institutionelle Leerräume füllen und daran arbeiten, ihre Vorstellungen von Marktwirtschaft durchzusetzen. Dabei geht es nicht nur um Eigentumsrechte, sondern es wird auch die geläufige Kritik an der zu geringen Arbeitsmoral in Kollektivbetrieben und einem nicht funktionierenden Anreizsystem wiederholt. Der für die Aufteilung des Kolchoz Emel’janovo verantwortliche ehemalige Vorsitzende illustrierte dies an einem Beispiel: »›Ich habe meine Arbeitsnorm abgearbeitet, also bezahl’‹, hieß es damals. Was dabei rauskam, wie jemand gepflügt hat, nicht 20, sondern nur 15 Zentimeter tief, pah! Ich antworte: ›Semjon, warum pflügst du nur 13 Zentimeter tief, ich habe doch gesagt 20!‹ ›Valerij Ivanovič, so verdiene ich mehr.‹ Er schafft mehr und verdient mehr. Das heißt, man hat den Menschen nicht beigebracht, so zu arbeiten, wie es sich gehört.« (38: 10–9).
Ein wichtiges Ziel der Privatisierung war es, das Verhältnis zwischen den Beschäftigten und ihren Arbeitgebern auf eine neue Grundlage zu stellen. Als Miteigentümer sollten die ehemaligen Kolchozbauern – formal waren sie ja bereits früher Genossenschaftsmitglieder gewesen – nun Interesse am Wohlergehen ihres Betriebs entwickeln, betriebliches Eigentum respektieren und zu qualitativ besserer Arbeit motiviert werden. Es gehört zu den vielen »Paradoxa der Agrarreformen in Russland« (Kalugina 2000), dass in den meisten ehemaligen Kolchozen das genaue Gegenteil der Fall war und die Probleme im Vergleich zur sowjetischen Zeit eher zu- als abgenommen haben. Einschätzungen wie »früher gab es das nicht, so viel Diebstahl und Betrug« (5: 7–3, Kolchoz-Feuerwehrmann), »früher hat man zuerst an den Kolchoz gedacht und dann an sich selbst, heute ist es umgekehrt« (07.10.2000, Hirte) oder »heute trinken alle und man achtet nicht mehr darauf […], früher war es einem unangenehm, betrunken am Arbeitsplatz aufzutauchen« (8: 3–5, Wehrdienstleistender aus einem Kolchoz) sind zwar mit Vorsicht zu bewerten, da sie nicht selten dem Kontext einer allgemeinen Verklärung der Vergangenheit entstammen, in der Einkommen und Lebensstandard höher waren und den Befragten zugleich als Belege dafür dienen, dass Privatisierung und Demokratie mit Chaos und Rechtsunsicherheit gleichzusetzen sind. Doch sie sind zu zahlreich
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und vor allem zu stichhaltig begründet, als dass man sie als »kollektive Fehlwahrnehmung« interpretieren könnte. »Was Diebstahl anbelangt: die letzten zwei Jahre ist es extrem schwer geworden, die Dinge zusammen zu halten, alles, was man klauen kann, wird auch geklaut« (50: 7–5) vergleicht der Leiter eines der Nachfolgebetriebe von Emel’janovo die Situation heute mit der Vergangenheit. Genau wie früher ist die am häufigsten zu hörende Rechtfertigung für Diebstahl im Betrieb die Notwendigkeit, angesichts der geringen und zeitweise sogar völlig ausgesetzten Lohnzahlungen das eigene Überleben auf der Grundlage der Hofwirtschaft sichern zu müssen. So erläuterte eine mittlerweile in Rente lebende Kolchozbäuerin, dass die 2 Tonnen Getreide, die sie jährlich als Naturaldividende für ihren Bodenanteil erhält, gerade ausreichen, um 20 Hühner halten zu können und sie fuhr fort: »Wenn ich im Kolchoz arbeite und dort klauen kann, dann kann ich auch noch ein Schwein halten, wenn ich dort nicht klauen kann, dann geht das nicht.« (24: 9–21). Wenig später ergänzte sie: »Es ist schwerer geworden zu stehlen, aber trotzdem klauen alle, die Leute müssen überleben. Schließlich haben sie Familien!« (24: 13–15). Dass dieses Argument keineswegs an den Haaren herbeigezogen ist, wird im nächsten Abschnitt zum Stellenwert der Hofwirtschaften und den Einkommensverhältnissen noch näher erläutert; an dieser Stelle mögen einige wenige Zahlen zur Illustration genügen: In den von mir untersuchten Betrieben betrug der Monatslohn für einfache Beschäftigte – Feld- und Stallarbeiter einschließlich Traktoristen und Abteilungsleitern der untersten Ebene – je nach Betrieb und Position zwischen 300 und 1.200 Rubel, umgerechnet zu Kursen des Jahres 2000 also zwischen 12,– und 50,– EUR. Aussagekraft erhalten diese Zahlen erst in Relation zu den Preisen für die wichtigsten im Alltag benötigten Güter: So kostete eine große Flasche Gas im Jahr 2000 in Dubrovka 90,– Rubel, ein Kubikmeter Gas für Haushalte mit Anschluss an das zentrale Versorgungssystem 0,30 Rubel, eine Kilowattstunde Strom 0,23 Rubel, Tee 100,– Rubel/kg, Brot 4,30 Rubel pro Laib, Zucker 13,50 Rubel/kg, Nudeln 11,– Rubel/kg, Bier 7–15,– Rubel/Flasche, Wodka 45,– Rubel/Flasche und ein paar Gummistiefel 140,– Rubel. In der Annahme, dass es mir als Deutschem schwer fallen würde, den Unterschied zwischen legitimem und illegitimem Diebstahl zu verstehen, wurde mir diese Grenzziehung mehrmals sehr ausführlich erläutert: »Einige klauen, so für sich eben, für sich und für ihre Familie, verstehst du das? Da klaut einer einen Sack mit irgendetwas, hält ein Schwein, schlachtet es, das macht das Überleben leichter. […] Aber es gibt auch solche, weißt du, die klauen wegen des Wodkas, um zu trinken, da klaut einer, verkauft das Zeug, das ist dann schon etwas ganz anderes. Verstehst du: Das ist auch ein Dieb, genau wie der andere, nun, gibt es da einen moralischen Unterschied?« (33: 18–8, Rentner, Ehemann einer Kolchoz-Stallarbeiterin).
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Auch Probleme mit der Arbeitsdisziplin wurden häufig pauschal mit den geringen Löhnen in Verbindung gebracht, obwohl sich hier zwischen den Betrieben enorme Unterschiede zeigten. »Alle sind heute weniger verantwortungsbewusst«, stellte die Leiterin des Postamtes und Frau des Chefelektrikers in Dubrovka fest, und fuhr fort: »Wenn der Lohn normal wäre, dort, wo normale Löhne bezahlt werden, dort ist man auch diszipliniert, dort macht man seine Arbeit, dort herrscht Ordnung.« (10: 6–8). Dabei handelt es sich nicht selten durchaus um Probleme von unmittelbarer wirtschaftlicher Tragweite: Während der Zeit meiner Feldarbeiten in Put’ Il’iča kam es beispielsweise innerhalb eines Monats zwei Mal vor, dass betrunkene Hirten nachts die Rinderherde auf den Weiden ›verloren‹. Am nächsten Morgen mussten nicht nur aus allen Abteilungen Beschäftigte abgezogen werden, um sich an der Suche zu beteiligen, sondern es dauerte auch mehrere Tage, bis sich bei den Kühen wieder die normale Milchleistung eingestellt hatte. »Fehlende Arbeitsdisziplin« ist ein Topos, der sich nahtlos in das allgemeine Gefühl von Regellosigkeit einpasst, wie es durch die Transformation weithin ausgelöst wurde. Deshalb ist es schwierig zu beurteilen, ob sich in dieser Hinsicht im Vergleich zu früher tatsächlich etwas verändert hat. Aber es war auffallend, dass entsprechende Klagen in den Interviews in Betrieben, deren wirtschaftliche Situation in etwa gleich geblieben war (Nachfolgeunternehmen von Emel’janovo in Nižnij Novgorod) oder sich sogar verbessert hatte (AG Privol’noe in Krasnodar) wesentlich seltener zu hören waren. Sicherlich sind dafür nicht ausschließlich geringere Löhne verantwortlich, sondern auch die Tatsache, dass ein im Niedergang begriffener Betrieb seine Kraft als motivierende Identifikationseinheit verloren hat. Den entscheidenden Vergleichshintergrund für die Gegenwart liefern die Erinnerungen an das gezielt eingeführte sozialistische Belohnungs- und Auszeichnungssystem, dessen praktische Wirkung sicherlich gering blieb, sowie »spürbare Fortschritte in Dorf und Betrieb«, »positive Arbeitseinstellung« und »offizielle Anerkennung«; »Held der sozialistischen Arbeit« oder »bester Traktorist des Landkreises« geworden zu sein, war durchaus bedeutsam. »Sie waren stolz auf ihre Arbeit, dass sie Arbeit hatten. Das gibt es heute nicht mehr, sie sind nicht mehr stolz, den Bezug zur Arbeit, den sie früher hatten, den gibt es heute nicht mehr« (8: 1–4) beschrieb ein junger Wehrdienstleistender die Veränderungen, die ihm bei seinen Eltern aufgefallen sind. Diebstahl und geringe Arbeitsmotivation standen in vielen Interviews aber noch in einem anderen Kontext, der unmittelbar mit dem Prozess der Privatisierung zu tun hat: Einige Bauern gebrauchten in diesem Zusammenhang verbittert die künstliche Wortschöpfung »prichvatizacija«, die sich aus dem Substantiv für »Privatisierung« und dem umgangssprachlich gebrauchten Verb für »mitnehmen« zusammensetzt. Darin drückt sich der Ärger über den Verlauf der Privatisierung insgesamt aus, über unzählige Berichte von illegaler Bereicherung ebenso wie über die unmittelbar selbst erlebte Übervorteilung im Zuge der Voucher-Vergabe (vgl. Vorwort). Die
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Überzeugung, vom Staat betrogen, zumindest aber nicht geschützt worden zu sein, ließ in den Augen mancher Kolchozarbeiter Diebstahl und geringe Arbeitsdisziplin zu einer Art »Wiedergutmachung« werden. Selten kam das so deutlich zum Ausdruck wie in der an das letzte Zitat aus Interview 8 (s.o.) unmittelbar anschließenden Bemerkung »der Staat hat das Dorf vergessen – bei uns gibt es so einen Aphorismus – also vergiss’ auch den Staat, das sagen heute viele« (8: 2–1). Aber wenn von der geringen Motivation der Beschäftigten die Rede ist, dann standen nicht selten Passagen wie die folgende in unmittelbarer Nähe: »Früher haben alle gleich gearbeitet, das Gehalt war, nun, mal etwas mehr, mal etwas weniger. Aber du konntest hoffen, für dieses Geld auch etwas zu bekommen. Man hat gespart, und dann haben die Leute viel Geld verloren, sind von der Regierung beschissen worden. Wie beschissen? Sie haben gespart, das ganze Leben lang, nimm meinen Vater, 17.000 Rubel, die sind verfallen, er ist gestorben, 17.000, dafür habe ich dann noch 3.600 bekommen.« (10: 2–7, Kolchoz-Chefelektriker). —
Stand bislang die Perspektive der ›normalen‹ Beschäftigten – Kolchozarbeiter bzw. Anteilseigner und Arbeiter der privatisierten Kollektivbetriebe – im Vordergrund, so soll nun die Perspektive gewechselt und auf die Bemühungen der Vorsitzenden bzw. Manager eingegangen werden, im Bereich »Arbeit« neue Regeln zu etablieren. Dabei ist zu beachten, dass das Problem »Diebstahl« keineswegs nur die eigenen Arbeiter betrifft: Zur Erntezeit kommen oft Stadtbewohner mit Pkws, um sich auf den Feldern zu bedienen, was in Dubrovka dazu geführt hat, dass im Sommer nichtasphaltierte Wege mit dem Pflug aufgerissen werden, um den Zugang zu erschweren und in Krasnodar haben einige Unternehmen sogar bereits Wachdienste engagiert. Auf diesen Aspekt wird im Folgenden allerdings nicht weiter eingegangen. Eine geringe Arbeitsmotivation wurde von den Betriebsleitern ausnahmslos nicht als die wichtigste Ursache der ökonomischen Schwierigkeiten angesehen, sondern folgte immer erst nach der Kritik an den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Doch die Unzufriedenheit mit den eigenen Beschäftigten war in allen Interviews ein Thema, dem viel Aufmerksamkeit zuteil wurde. Zwei unterschiedliche Herangehensweisen kennzeichneten diese Reflexionen: Auf der einen Seite wurde – manchmal mit ausdrücklichem Bezug auf die sowjetische Vergangenheit – die konkrete Arbeitsorganisation verantwortlich gemacht, auf der anderen stand eine ›Individualisierung‹ beziehungsweise Essentialisierung, die sich in der Unterscheidung zwischen »guten« Arbeitern und »Faulenzern« ausdrückte. Im ersten Fall sah man die Lösung eher in einer Reorganisation und in Reformen, im zweiten in der ›Reinigung‹ des Kollektivs von schlechten Einflüssen; letzteres gilt beispielsweise für den Betriebsleiter von Put’ Il’iča:
196 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess »Den Betrieb am Laufen zu halten, ist bis heute eine Sache der motivierten Arbeiter, derjenigen, die gut arbeiten, ordentlich leben und gut arbeiten können. […] Ich würde sagen, das ist auch die Mehrheit, nun, ich denke, so 70 % wollen wirklich hier im Dorf ein anderes Leben verwirklichen. Das heißt: nicht mehr für die Faulenzer arbeiten, die es auch heute noch im Betrieb gibt. […] Das Problem, das unbedingt gelöst werden muss, besteht darin, die Faulenzer aus dem Betrieb auszusondern, das macht mir Sorgen.« (11: 2–1, 7).
Der Vorsitzende des größten Nachfolgeunternehmens von Emel’janovo ging sogar noch weiter, wenn er im Zusammenhang mit dem Problem des Alkoholismus resümierte: »Vielleicht ist das einfach die russische Natur, wenn man ein wenig müde ist, dann ›puh, Zeit auszuruhen‹ und schwupp.« (50: 7–13). Doch die beiden Positionen gelten nicht exklusiv. Vielmehr ist es gerade für das Suchen nach Lösungen in einer Situation allgemeiner Verunsicherung charakteristisch, dass die von den Betroffenen herangezogenen Erklärungen voller Widersprüche und Unvereinbarkeiten stecken. Wo immer von Reformen die Rede war, bestand jenseits aller Differenzen über Rechtsformen, den Grad der Eigenverantwortlichkeit und die Rolle des Staates ein Grundkonsens darüber, dass die wirtschaftlich-organisatorischen Einheiten kleiner werden müssten. Lermann (1998: 309), der selbst mehrfach als Berater internationaler Organisationen gearbeitet hat, bezeichnet diese Haltung als das »vorherrschende Verständnis von Landreformen in Marktwirtschaften«, das in Nižnij Novgorod durchgeführte Reformprojekt zielte auf die Aufteilung der Kolchoze in mehrere unabhängige Kleinbetriebe und sowohl der Vorsitzende des nicht reformierten Kolchoz Put’ Il’iča in Brjansk wie auch der Direktor der neu entstandenen Agro-Holding Privol’noe in Krasnodar argumentierten in dieselbe Richtung. Letztere sehen dabei keinesfalls eine neue, erst unter marktwirtschaftlichen Bedingungen relevante Notwendigkeit, sondern knüpfen ausdrücklich an die sowjetische Vergangenheit an, als es ebenfalls nicht möglich war, »2.000 Menschen zu kontrollieren, zum Arbeiten zu bewegen« (21: 1–1, Betriebsleiter). 400 ha landwirtschaftliche Nutzfläche und 10–15 Beschäftigte hält der Vorsitzende von Put’ Il’iča für die ideale Größe. Aufbauend auf die formal bereits durchgeführte Privatisierung sollen kleinere Einheiten 4 bei den Beschäftigten erstens das Bewusstsein wachsen lassen, Miteigentümer der Unternehmen zu sein und zweitens eine engere Koppelung von Leistung und Lohn spürbar machen. Das neue Ideal ist nun 4 | In den Interviews war häufig von »kleinen Kollektiven« die Rede, doch hier besteht ein Übersetzungsproblem, das sich unmittelbar auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit bezieht: Im Russischen wird sehr häufig das Wort »Kollektiv« verwendet, wobei manchmal nur eine organisatorische Einheit gemeint ist, manchmal aber auch bewusst der Aspekt des »Gemeinschaftlichen« betont wird. Eine konsequente Wiedergabe mit »Kollektiv« auch im Deutschen wäre sicherlich
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Abbildung 16: Organisationsschema der Agro-Holding Privol’noe nach Abschluss der derzeit laufenden Umstrukturierungsmaßnahmen
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der »chozjain« als Leiter einer Wirtschaftsgemeinschaft (chozjajstvo), wobei der Begriff eine Verantwortlichkeit assoziiert, die über das rein Ökonomische hinausreicht; als chozjain wird beispielsweise auch das Familienoberhaupt einer Bauernfamilie bezeichnet: »Jede Abteilung, jeder Produktionsbereich muss selbständig arbeiten, für sich. Beispielsweise der Bereich pflanzliche Produktion: Das muss eine selbständige Struktur sein, mit einem gesetzlich gültigen eigenen Stempel, mit vollständiger Verantwortlichkeit der Leitung. […] Man muss den Menschen die Möglichkeit geben zu verstehen, dass sie selbst chozjain sind. […] Dann gibt es einen echten Stimulus im wirtschaftlichen Sinn.« (20: 3–1ff, Kolchozvorsitzender).
»Kleine Einheiten, in denen jeder spürt, dass er selbst Miteigentümer ist« – so beschreibt der Vorstand des Unternehmens Privol’noe5 die Zielrichtung der in seinem Betrieb bereits eingeleiteten Reformen. Die einzelnen Abteilungen sollen zu rechtlich und wirtschaftlich unabhängigen Einheiten mit 10–30 Beschäftigten werden, die Güter und Dienstleistungen untereinander zu Marktpreisen abrechnen und jährlich einen festen Prozentsatz ihres Gewinns an die Holding als Dachorganisation abführen (Abb. 16).6 Auch im Kolchoz Emel’janovo hatte man bereits vor der endgültigen Aufteilung den Betrieb in eine Art Holding mit begrenzt selbständigen Abteilungen umgewandelt. Koordinationsprobleme, Kompetenzstreitigkeiten sowie die Verpflichtung, einen unverhältnismäßig hohen Anteil von 30 % des Gewinns an die Zentralverwaltung abgeben zu müssen, führten jedoch dazu, dass dieses Modell bald wieder aufgegeben wurde. Von den wenig später im Rahmen des Nižnij Novgoroder Pilotprojektes entstandenen Unternehmen (vgl. Tab. 6) waren im Jahr 2001 – sieht man von den privatbäuerlichen Betrieben ab – noch drei aktiv: Beloreč’e mit 136, Rostok mit 20 und Ovoščevod mit 23 Beschäftigten. Moločnoe war von Beloreč’e übernommen worden und Timirjazevo befand sich in extremen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, so dass ein großer Teil der Flächen verpachtet werden musste und die verbleibenden 11 Beschäftigten ihren Lohn nur mehr unregelmäßig erhielten. irreführend, letztlich kann die Bedeutung nur im Einzelfall und aus dem Kontext des gesamten Textes erschlossen werden. 5 | Interview mit S. Sorokina in der zweiteiligen Reportage »Das unerschlossene Land«, ausgestrahlt am 7. und 8. Februar 2001 um 19.50 Uhr im russischen Sender NTV. 6 | Es geht mir hier nicht darum, zu beurteilen, inwieweit das Konzept der »selbständigen Abteilungen« wirklich konsequent umgesetzt wird. Tatsächlich ist der Vorsitzende nur in sehr begrenztem Umfang bereit, Kompetenzen abzugeben und mischt sich dauernd in Betriebsabläufe ein, so dass viele Abteilungsleiter die neue ›Selbständigkeit‹ als Farce empfinden.
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Der Leiter von Beloreč’e sieht sein Unternehmen weiterhin als Kolchoz und betont: »Insgesamt unterscheidet sich unser Betrieb nicht [von einem Kolchoz…]. Wie wir hier kollektiv gearbeitet haben, so tun wir das noch immer.« (50: 6–13); seine Angestellten bestätigen diese Einschätzung. In Rostok und Ovoščevod hingegen werden Veränderungen spürbar, die mit der geringeren Größe zusammenhängen: »Wissen Sie, ein ganz einfaches Beispiel: Früher hatten wir ganz schön mit Bestechung zu kämpfen, das heißt, wenn wir unsere Traktorfahrer zu einer konkreten Arbeit geschickt haben, dann hat jeder versucht, in der Arbeitszeit private Grundstücke zu bearbeiten um dafür Bargeld zu bekommen, mal Geld, mal die Nationalwährung: eine Flasche Wodka. Heute hat sich dieses Bild zumindest in den kleinen Betrieben, bei uns, bei Ovoščevod, bei den Privatbauern, geändert. Warum in den kleinen? Weil es offensichtlich viel einfacher ist, eine kleine Gruppe zusammen zu bekommen, die an einem Strang zieht, als eine große.« (40: 2–3, Betriebsleiterin).
Dabei spielt es allerdings eine entscheidende Rolle, dass in beiden Unternehmen inzwischen mehrheitlich Angehörige von zwei oder drei Familien arbeiten; auch deshalb ist der wirtschaftliche Erfolg stärker als früher zu einem »gemeinsamen Anliegen« geworden – in einem Interview war gar von »Dynastien« (44: 14–9, Kolchoz-Buchhalterin) die Rede. Für wirklich einschneidend hält man die ökonomischen Konsequenzen sowohl in Ovoščevod als auch in Rostok bislang dennoch nicht. In den Befragungen wurde mehrfach betont, dass den möglichen Vorteilen einer Verkleinerung durch Aufteilung die nicht zu unterschätzende Schwierigkeit gegenüberzustellen sei, dann noch wirtschaftlich tragfähige Kombinationen aus verfügbaren Flächen, Anbauspezialisierung und dafür benötigter Landwirtschaftstechnik gewährleisten zu können. Interviews über die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Reorganisationsoptionen versetzen die Unternehmensleiter in die Rolle von Experten für betriebswirtschaftliche Fragen. Diese Feststellung ist zwar banal, weist aber auf die wichtige Tatsache hin, dass alle bislang verwendeten Zitate aus Interviews im Kontext einer ganz spezifischen Interaktionssituation zu lesen sind. Ausgehend von der Beobachtung, dass Mitarbeitern weitaus seltener gekündigt wird, als es die Befragten selbst für nötig halten, dass Fehlverhalten sehr nachsichtig bestraft und Diebstahl in begrenztem Umfang toleriert wird, dass ganz allgemein im Bereich der Arbeitsorganisation wesentlich weniger Reformen tatsächlich in Angriff genommen werden als es die Texte glauben machen, lassen sich Fragen zu denselben Themen auch in einem ganz anderen Kontext stellen und ›provozieren‹ dann auch andere Antworten: Angesprochen als die einzigen Akteure im ländlichen Raum, die über ausreichend Ressourcen verfügen, um die dörfliche Infrastruktur zu erhalten und Ersatz für fehlende staatliche Sozialleistungen bereit zu
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stellen, ›positionieren‹ sich die Unternehmensleiter selbst völlig anders. Erst unter Berücksichtigung beider Perspektiven werden oft widersprüchlich erscheinende Einzelentscheidungen verständlich. Da auf die letztgenannte Rolle im Abschnitt über ein »patrimoniales Leitungsverständnis« noch näher eingegangen wird, beschränke ich mich hier auf einige wenige Beispiele. Eine etwas längere Passage aus einem Interview mit dem Leiter eines der Betriebe, die aus dem Restrukturierungsprogramm in Nižnij Novgorod hervorgegangenen sind, bringt die Unmöglichkeit isoliert betriebswirtschaftlicher Entscheidungen anschaulich zum Ausdruck: »In diesem Jahr hatten wir so einen Fall, ich habe auf der Versammlung getobt und gebrüllt: ›Ich räum’ dich aus dem Weg, jetzt bekommst du Artikel 33!‹ 7 Danach kommt er zu mir ins Büro und fragt: ›Was passiert jetzt mit mir?‹ Ich antworte: ›Geh’ mir aus den Augen!‹ Seine Frau ist bei uns Sekretärin und ich frage sie: ›Natascha, hast du’s ihm eingetragen?‹ Ich hatte ihr ja gesagt, dass er Artikel 33 eingetragen bekommt. Sie sagt: ›Noch nicht…‹ Sie hat immer Mitleid mit den Leuten, sie ist auch ziemlich nachsichtig. Und ich: ›Natascha, lass’ es sein!‹ Im Dorf ist so etwas sehr schwer, wenn du alle kennst, du kennst nicht nur ihre Kinder, die Frau, die Eltern, sondern du kennst auch ihre Vorfahren, Väter, Großväter. Und sie kennen meinen Stammbaum, verstehst du? Du triffst sie auf der Straße […].« (50: 8–4ff ).
Der soziale Druck auf die Unternehmensleiter wächst, je eindeutiger sie alleine für das Schicksal ganzer Familien verantwortlich gemacht werden können. Er ist dementsprechend in Dubrovka, wo es keine anderen Arbeitgeber gibt, größer als in Privol’naja, da es hier zumindest prinzipiell möglich ist, Arbeit im verkehrsmäßig besser angebundenen Kreiszentrum zu suchen. Gestützt auf das Argument, mit hochproduktiven westlichen Betrieben in Konkurrenz zu stehen, reduzierte der Betriebsleiter hier die Belegschaft in weniger als 15 Jahren um knapp 50 %, ohne dass es zu nennenswertem Widerstand gekommen wäre (Abb. 17). Doch allen Betriebsleitern ist klar, dass einem Arbeitslosen im Dorf nichts anderes bleibt, als die für den Betrieb der Hofwirtschaft nötigen Ressourcen zu stehlen. »In den Städten, selbst in städtischen Siedlungen, wo es eine soziokulturelle und wirtschaftliche Infrastruktur gibt, da ist das etwas anderes« erläuterte mir der Kolchozvorsitzende aus Dubrovka dieses Problem »wenn wir hier im Betrieb jemanden außen vor lassen, […] dann schädigt er den Betrieb, 7 | Artikel 33 des sowjetischen Arbeitsrechts regelte die Gründe für eine fristlose Kündigung. Absatz 7 erwähnt ausdrücklich »Trunkenheit am Arbeitsplatz« und im allgemeinen Sprachgebrauch steht »Artikel 33« fast immer für Alkoholismus als Grund für eine Entlassung. Der Entlassene erhielt einen förmlichen Vermerk über »Artikel 33« in sein »Arbeitsbuch«, was eine Neuanstellung bei einem anderen Betrieb fast unmöglich machte.
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er versucht zu klauen usw.« (20: 2–1). Unter rein betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten könnten seiner Ansicht nach ca. 40 % der derzeitigen Belegschaft entlassen werden (01.11.2000). Abbildung 17: Entwicklung der Beschäftigtenzahl im Betrieb Imeni Lenina/Privol’noe ���������������������� ����
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Quelle: Buchhaltungsunterlagen des Betriebs Imeni Lenina/Privol’noe.
Noch deutlicher wird die ambivalente Position, in der sich die Unternehmensleiter befinden in Bezug auf die Bestrafung von Diebstahl. Auf der einen Seite sind sie bemüht, ein verändertes Eigentumsbewusstsein zu etablieren, wie es im Selbstverständnis des chozjain zum Ausdruck kommt; auf der anderen wissen sie, dass die in den Betrieben bezahlten Löhne alleine nicht ausreichen, um das Überleben einer mehrköpfigen Familie zu gewährleisten. Daraus resultiert die Bereitschaft, Diebstahl als eine legitime zusätzliche Einkommensquelle anzusehen. Der Betriebsleiter der Agro-Holding Privol’noe schätzt, dass seinem Unternehmen dadurch jährlich eine Summe in Höhe von ca. 10 % des Gewinns verloren geht und sagt seinen Mitarbeitern auf Versammlungen dennoch: »Wenn Ihr Euch an der Quelle bedient, dann denkt daran, niemals so viel zu nehmen, dass sie versiegt«; 8 in einem meiner Interviews trat er ausdrücklich gegen die Bewachung der Felder ein und merkte dazu an: »Vor dem eigenen Volk kann man nicht davonlaufen, sollen sie nehmen, was sie brauchen.« (21: 8–1).
8 | Zitat aus einem Interview, das im Rahmen eines Forschungsprojektes der »Moscow School of Social and Economic Sciences« geführt wurde. Ich danke Dr. A. Nikulin für diesen Hinweis und die Überlassung des Textes.
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Die neue Rolle der Hofwirtschaften Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsprozesse Das Vertrauen in die ökonomischen ›Selbstheilungskräfte‹ ebenso wie die soziale Integrationskraft des Marktes kommen vielleicht nirgends so deutlich zum Ausdruck wie im Traum vieler Reformer von einem kleinbäuerlich dominierten ländlichen Raum in Russland. So hatte beispielsweise der damalige russische Landwirtschaftsminister Viktor Chlystun im Juli 1993 euphorisch die Entstehung von 600.000–650.000 Bauernhöfen mit einer Durchschnittsgröße von 75 ha entsprechend 20 % der landwirtschaftlich genutzten Fläche Russlands bis Ende 1995 vorhergesagt (Craumer 1994: 339). Auf den privatbäuerlichen Unternehmer als Symbol und zugleich Prototyp marktwirtschaftlich stimulierter Kreativität konzentrierte sich insbesondere das Interesse westlicher Autoren in einem Maße, das russische Wissenschaftler nicht selten mit einer Mischung aus Erstaunen und Befremden zur Kenntnis nahmen (Ioffe/Nefedova 1997: 305). Als sich abzuzeichnen begann, dass die tatsächliche Entwicklung eine völlig andere Richtung nehmen würde, zeugte die Unterschiedlichkeit der Antworten auf die immer wieder gestellte Frage nach den Gründen für die fehlende Bereitschaft zur Dekollektivierung von einer gewissen Ratlosigkeit: Das Spektrum reichte von den im ersten Kapitel bereits erwähnten kulturalistischen Erklärungen, die sich auf eine jahrhunderte alte Tradition des Kollektivismus beziehen (Wegren 1994: 218f) bis hin zu einer konsequent neoliberalen Perspektive, für die alleine das bestehende Anreizsystem entscheidend ist (Amelina 2000: 490ff). Sowohl den optimistischen Prognosen von Praktikern als auch den vielen wissenschaftlichen Publikationen lag die implizite Vorstellung zugrunde, die Kolchozarbeiter hätten die ihnen in der sozialistischen Zeit zustehenden 0,5 ha Land als eine rigide Einschränkung empfunden und würden demzufolge sofort jede Möglichkeit, weiteres Land zu erhalten, bereitwillig in Anspruch nehmen. In der Praxis stellten die sowjetischen Vorgaben für die persönliche Nebenerwerbswirtschaft jedoch nur für sehr wenige Familien eine echte Einschränkung dar. Vielmehr war der bestimmende Faktor für den Wunsch der Haushalte nach mehr Land deren individuell unterschiedliche Möglichkeit, zusätzliche Flächen unter den gegebenen Rahmenbedingungen – verfügbare Arbeitskräfte und Landwirtschaftstechnik – auch nutzen zu können. Kurz und bündig kommentierte beispielsweise eine Melkerin in Put’ Il’iča, die alleine mit ihrem Mann zusammenlebt, die Aufstockung der privat genutzten Flächen auf 1 ha pro Familie mit den Worten: »Wir haben dazu nichts gesagt, ich habe dieses Land nie gebraucht, ich brauche es auch heute nicht, mir reicht die Kraft nicht, dieses Land zu bebauen.« (9: 5–17). Für die Hofwirtschaften hatten sich in den 1990er Jahren die infrastrukturellen Voraussetzungen gegenüber der sowjetischen Zeit keinesfalls
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verbessert und folglich bestand die Antwort auf meine Frage nach dem Wunsch, zusätzliche Anbauflächen zu erhalten, meist in der Gegenfrage: »Und wie sollen wir das bearbeiten?« Zwar wollte im Zuge der Privatisierung niemand freiwillig auf Land verzichten und wo Parzellen in natura ausgewiesen worden waren, hatte man sich bemüht, die Grenzen durch Bestechung der Vermesser zu erweitern, aber dabei stand in erster Linie die Überlegung im Hintergrund, sich Besitztitel »für alle Fälle« zu sichern. 1–2 ha stellten für die meisten Familien die Obergrenze dar. Falls man darüber hinaus überhaupt noch Land behalten hatte, anstatt es dem restrukturierten Kolchoz zu verpachten, fiel es bald wieder brach. In Privol’naja waren große Teile der ursprünglich den Haushalten für die Hofwirtschaft zugeteilten Flächen nachträglich wieder an den Betrieb zurück gegeben worden9 und auf Kreisebene drohte das Amt für Landangelegenheiten sogar damit, nicht genutzte Parzellen auf der Grundlage eines »Nutzungsverpflichtungsgesetzes« zu konfiszieren. Die für eine wirklich nennenswerte Erweiterung der Hoflandwirtschaften bestehenden Hindernisse zu überwinden und einen privatbäuerlichen Betrieb zu gründen war nur sehr schwer möglich: Die Anschaffung von Landwirtschaftstechnik hätte fast vollständig über Kredite finanziert werden müssen und selbst dann wäre es bestenfalls möglich gewesen, von den Kolchozen gebrauchte, wartungsanfällige Maschinen zu kaufen, die für völlig andere Flächendimensionen ausgelegt waren. Der Austritt aus dem Großbetrieb bedeutete zudem fast zwangsläufig einen erschwerten Zugang zu so unerlässlichen Infrastruktureinrichtungen wie Tankstellen oder Reparaturwerkstätten und dagegen, Flächen in Ungunstlagen zugewiesen zu bekommen, konnte man sich selten erfolgreich zur Wehr setzen. »Bei den Einsiedeleien, im Schilf, in irgendeinem Sumpf bekommt man sein Land« (24: 6–16) bemerkte eine Rentnerin sarkastisch und die Abbildungen 9 und 10 belegen, dass dieses Misstrauen nicht ganz unbegründet ist. Dass zu den Voraussetzungen einer erfolgreichen Etablierung privatbäuerlicher Betriebe aber nicht nur ›technische‹ Rahmenbedingungen, eine gelungene Privatisierung der Kollektivbetriebe sowie der Aufbau eines marktwirtschaftlichen Umfelds zählen, sondern dass »Markt« auch die soziale Akzeptanz von Interaktionsformen voraussetzt, die über Jahrzehnte hinweg stigmatisiert worden waren, fand zum Zeitpunkt der Reformen keine Beachtung. Ich möchte die »soziale Akzeptanz« in ihrer Bedeutung nicht über viele andere Aspekte stellen, die für den schleppenden Verlauf 9 | In Privol’naja spielte allerdings auch die Tatsache eine Rolle, dass die den Haushalten zusätzlich zugeteilten Parzellen wegen der kompakten Siedlungsweise in einem Massiv am Ortsrand und somit oft in beträchtlicher Entfernung von den Höfen lagen. Diebstahl war hier leicht möglich und trug mit dazu bei, dass das Interesse an der Bewirtschaftung dieser Flächen bald wieder nachließ.
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der Dekollektivierung mit verantwortlich sind, aber es ist bezeichnend, dass er in der gesamten Diskussion über die Agrarreformen am wenigsten Beachtung fand – der zentralistische Top-down-Ansatz der Reformer und die Dominanz quantitativer und primär an der Makroebene interessierter Forschungsdesigns stützten und bestärkten sich wechselseitig. Trotz der Jahrzehnte langen Existenz von Kolchozmärkten, auf denen die Preise zwischen Verkäufern und Käufern innerhalb bestimmter Grenzen frei vereinbart werden konnten, sowie der immer wieder nötigen Neuaushandlung der Nutzungskonditionen für die Betriebsmittel der Kollektivbetriebe waren die meisten Kolchozarbeiter von der plötzlichen Notwendigkeit, marktwirtschaftlich agieren zu müssen, »verschreckt« (40: 1–3, Betriebsleiterin). »Das ganze Leben lang, bis heute, hatten wir keine Ahnung, was ein ›Markt‹ ist, so lange ich lebe, ich bin niemals auf den Markt gefahren, um etwas zu verkaufen«, fasste die Frau eines Kolchoz-Feuerwehrmanns dieses Gefühl in Worte. Im öffentlichen Raum eigene Interessen zu vertreten, um dadurch den persönlichen monetären Gewinn zu maximieren, wie es marktwirtschaftliches »Handeln« – im doppelten Sinn des Wortes – geradezu idealtypisch verkörpert, war keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Dass dies selbst für einen Kolchozvorsitzenden gilt, der mehr als einfache Arbeiter und Angestellte zumindest an Verhandlungssituationen in anderen Kontexten gewöhnt war, bringt das Zitat am Ende von Kapitel 4 anschaulich zum Ausdruck. Die Fremdheit der neuen Rolle spiegelt sich auch in der Begrifflichkeit: Für Kolchozarbeiter, die sich im Rahmen der Reformen entschlossen, einen eigenständigen Betrieb zu gründen, wird nicht das etablierte russische Wort für »Bauer«, sondern der dem Englischen entlehnte und somit auf einen anderen sozioökonomischen Kontext verweisende Begriff »fermer« verwendet. Weithin war die Wahrnehmung dieser Rolle keineswegs wertneutral. »Die Leute hier sind nicht gewohnt, [auf Märkten] zu handeln, […] einen Russen bringst Du nicht zum Handeln, das gibt’s dort, na, in Mittelasien, in Kasachstan, dort handeln alle […]« (46: 6–9), erläuterte mir ein Schreiner und Gelegenheitsarbeiter die Ablehnung marktwirtschaftlichen Gütertauschs. Das Selbstbewusstsein kultureller Überlegenheit – »Produktion« in Russland vs. »Handel« in Mittelasien und Kasachstan – war dabei unüberhörbar. Die fast schon überheblich klingende Ablehnung einer Rentnerin, die Erzeugnisse ihrer Hofwirtschaft im Kreiszentrum zu verkaufen, bestätigt diese Einschätzung: »Ich kann das nicht, da auf dem Markt rumstehen, so was, nein wirklich, vielen Dank, ich kann nicht handeln.« (24: 10–7). Nicht »innovative Kreativität« oder »schöpferische Zerstörung«, sondern der Ruf des »Spekulantentums«, in der sowjetischen Zeit Inbegriff unproduktiver Bereicherung, haftete jeder Form des Handelns an und war auch vom Bild des »Privatbauern« – obwohl »Produzent« – nicht völlig zu trennen. In der Schilderung eines in Rente lebenden Kolchozmitglieds, wie unangenehm es für ihn ist, heute gezwungen zu sein, Kartoffeln auf dem
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lokalen Markt zu verkaufen, steht diese normative Dimension der Rolle des Händlers klar im Vordergrund – es geht zugleich um »Gewissensbisse« wie auch um »Erniedrigung«: »Ich hab’ das zwei Mal probiert und ich habe Gewissensbisse bekommen, also, es geht da nicht um große Summen, aber meiner Meinung nach erniedrigst du dich damit, ich bin für’s Handeln nicht geschaffen.« (38: 20–14).
Hatte man sich dennoch überwunden auf den Markt zu fahren, so waren die ersten persönlichen Erfahrungen mit dem freien Verkauf der selbst erzeugten Produkte oft nicht dazu geeignet, bestehende Vorbehalte abzubauen, sondern wurden bestimmt von Verunsicherung und Enttäuschungen. »Nachdrücklich und unmissverständlich von bestimmten ›Jungs‹ aufgefordert zu werden, mit seinen Preisen andere Anbieter nicht zu unterbieten« (18.07.2001, Rentner, ehemaliger Kolchozarbeiter) oder dabei betrogen worden zu sein, wie es eine ehemalige Melkerin über ihren ersten Versuch berichtet, selbst gemästete Ferkel auf dem Markt im Kreiszentrum zu verkaufen, ist keineswegs untypisch: »Da hat man sie [die Ferkel] dann und weiß nicht, wie man zum Markt kommen soll. Dann war ich dort, mit sieben Stück, und wurde nur beschissen. Jemand hat mir eines abgenommen und wollte noch Geld zum Bezahlen aus dem Auto holen, dann ist er nicht zurückgekommen. Ein anderer hatte die Geldscheine so gefaltet, dass ich nicht gemerkt habe, dass es nur 300 anstatt 800 Rubel waren. Abends saß ich zu Hause und habe geheult.« (13.11.2000). —
Für die Entscheidung, einen privatbäuerlichen Betrieb zu gründen, kam schließlich erschwerend hinzu, dass zu dem Zeitpunkt, als Kredite vergleichsweise günstig zu erhalten gewesen wären, der »Landverteilungsfond« auf Kreisebene noch gefüllt war und die entscheidenden Weichenstellungen für die Zukunft (Verbleib im Großbetrieb oder Selbständigkeit) getroffen werden mussten, das Vertrauen in die Stabilität der momentanen politischen und wirtschaftlichen Situation ausgesprochen gering war. Einschneidende Ereignisse aus der russischen Vergangenheit mögen vielleicht nicht immer ernsthaft für prinzipiell wiederholbar gehalten worden sein, doch dass sie in diesem Zusammenhang als Argument gebraucht wurden, drückt das Ausmaß der empfundenen Verunsicherung aus: »Dafür [um sich selbständig zu machen], also, zu zweit schaffst du das nicht, das läuft auf ein System mit Lohnarbeitern hinaus, für die acht Hektar müsste man jemanden anstellen, und so weiter und so fort. Ein System wie früher. Wenn du dann jemanden anstellst, dann zählst du als Kulak. Und dann kommt die nächste Entkulakisierung. Dann schicken sie dich irgendwohin nach Sibirien.« (12: 10–1, Dorflehrerin).
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Der Staat erscheint hier wie in vielen anderen Interviews als eine externe Größe, deren Willkür man ausgeliefert ist. Stellungnahmen wie »dem Staat vertraut man bei uns nicht, stabil ist hier gar nichts, heute so, morgen kann dann schon wieder alles völlig anders sein« (25: 11–10, Frau eines Privatbauern) oder »Russland ist ein unkalkulierbares Land« (10: 16–4, Kolchoz-Chefelektriker) weisen darauf hin, dass der zu Beginn der 1990er Jahre durchlebte Umbruch keineswegs als endgültig angesehen wurde und die sich in Konturen abzeichnende neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht als verlässliche Handlungsgrundlage galt. Zwar erwiesen sich nicht alle unerwartet eintretenden Ereignisse als negativ – die wenigen Privatbauern profitierten aufgrund ihrer Verschuldung sowohl von den hohen Inflationsraten als auch von der Verteuerung importierter Lebensmittel – doch die grundlegende Skepsis gegenüber Stabilität, Verlässlichkeit und offiziellen Versprechungen wurde durch die Rubel- und Bankenkrise des Jahres 1998 noch einmal verstärkt: Wie sollte man sich auf garantierte Eigentumsrechte verlassen, wenn es passieren konnte, dass ohne nachvollziehbaren Grund plötzlich das angesparte Vermögen eines ganzen Jahrzehnts verfiel? Die sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre stark verschlechternde Kosten-Erlös-Relation, erhebliche Angebots- und damit Preisschwankungen für Agrarprodukte, infrastrukturelle Defizite im ländlichen Raum und die Abhängigkeit vom Großbetrieb als Versorgungs- und Dienstleistungsinstitution, regional stark fragmentierte, z.T. von organisierten kriminellen Gruppen kontrollierte Absatzmärkte, das Fehlen einer für kleinbäuerliche Betriebe geeigneten Landwirtschaftstechnik, Benachteiligung bei der Flächenvergabe, allgemeine Rechtsunsicherheit, der »Markt« als Symbol unproduktiven Spekulantentums, geringes Vertrauen in die politische und wirtschaftliche Stabilität – in der Summe führten diese Faktoren dazu, dass sich auch die russischen Reformer vom Traum eines kleinbäuerlich geprägten ländlichen Raums bald wieder verabschieden mussten. Die Mehrheit der Kolchozarbeiter votierte für den Erhalt der Großbetriebe und zeigte wenig Interesse daran, diese zu verlassen. In den von mir untersuchten drei – vor der Aufteilung von Emel’janovo – Betrieben mit zusammen mehr als 20.000 ha landwirtschaftlich genutzter Fläche gab es insgesamt nur vier Personen, die in Bezug auf ihre Haupterwerbsquelle sowie das Verhältnis zu den restrukturierten Kolchozen tatsächlich als »Privatbauern« bezeichnet werden können und diesen Status nicht nur formal-juristisch besitzen; sie bewirtschaften jeweils Flächen zwischen 10 und 700 ha. Sowohl von kulturalistischer wie auch von neoliberaler Seite her tendiert die Diskussion über den zögerlichen Verlauf der Dekollektivierung in Russland dazu, das Jahrhunderte alte Bild vom Bauern als dem Vertreter einer weitgehend homogenen grauen Masse (vgl. Kap. 1) zu reproduzieren. In beiden Fällen ist sie geprägt von der Suche nach dem entscheidenden Faktor oder Faktorenkomplex, nicht aber nach Differenzierungen und Akteuren,
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die sich in unterschiedlichen Ausgangssituationen und Handlungskontexten befinden. Insbesondere die Positionierung der Betroffenen in einem Feld ungleich verteilter Macht tritt dadurch in den Hintergrund. Dabei geht es nicht nur um die Durchsetzbarkeit individueller Interessen gegenüber den Betriebsvorsitzenden, wie sie in Latifundien-Analogien (Amelina 2000: 489) aufgeworfen wird. Vielmehr ist auf einer ›darunter‹ liegenden Ebene zu hinterfragen, inwieweit die Selbstrepräsentation einzelner Personen oder Personengruppen in der Reformsituation überhaupt der ihnen zugedachten Rolle von Akteuren entsprach, die den weiteren Verlauf des von oben eingeleiteten Prozesses maßgeblich beeinflussen können und Entscheidungen über ihre eigene Zukunft zu treffen haben. Tatsächlich war dies in der Realität bei der Mehrzahl der Betroffenen nicht der Fall. 10 Das in der Sowjetunion vorherrschende Entwicklungsideal, in dem sich der ländliche Raum auf der untersten Stufe befand (vgl. Kap. 4), war an den Kolchozarbeitern nicht spurlos vorübergegangen. Typisch ist in dieser Hinsicht die beiläufige Anmerkung einer Rentnerin während eines Gesprächs über die wirtschaftliche Situation in den 1990er Jahren: »Ich bin mein Leben lang nirgendwo anders gewesen als in diesem verlorenen und kulturlosen Nest!« (5: 12–6).11 Das hier zum Ausdruck kommende Gefühl räumlicher und sozialer Marginalisierung, dem eine tiefe Verunsicherung im Hinblick auf die eigene Entscheidungskompetenz entspringt, bestimmte häufig auch die Haltung im Privatisierungsprozess. Als »Kolchoznik« traute man sich nicht zu, die Richtung des ›von oben‹ bestimmten Entwicklungswegs beeinflussen zu können und scheute in manchen Fällen sogar resigniert vor der Wahrnehmung der ureigensten Interessen zurück. Auf meine Frage, warum sie bislang weder Aktien noch einen Bodenanteilsschein bekommen habe und dementsprechend auch keine Dividende erhielt, antwortete beispielsweise eine Kolchozarbeiterin in Privol’naja: »Nun, wir sind Kolchozniki, 10 | Die praxisorientierte Frage, welche Alternativen es zum Privatisierungs- und Restrukturierungsprozess in der Form, wie er in Russland geplant und durchgeführt wurde, gegeben hätte, habe ich in dieser Arbeit bewusst ausgeklammert. Für einen der größten Fehler halte ich jedoch die Tatsache, dass darauf verzichtet wurde, den Reformen den Charakter eines »repetitiven Prozesses« zu verleihen und eine jährliche Neuaushandlung des Verhältnisses zwischen dem Großbetrieb und seinen Mitarbeitern bzw. Gesellschaftern/Aktionären verbindlich zu institutionalisieren. Faktisch gewannen viele der im Kontext der spezifischen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Situation in der ersten Hälfte der 1990er Jahre getroffenen Entscheidungen irreversiblen Charakter und eine Veränderung ihres Status quo auf der Grundlage neuer Erfahrungen war für die einzelnen Haushalte später nur sehr schwer möglich. 11 | Diese Stelle ist im Deutschen nur schwer adäquat wiederzugeben. Im Original wurde das Adjektiv »tëmnyj« verwendet, das sowohl »dunkel/finster« wie auch »unwissend/ungebildet« bedeutet, zugleich aber räumliche Abgeschiedenheit assoziiert.
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wir wissen nicht, wie man so etwas fordert, und sie [die Betriebsleitung] gibt uns keine [Aktien und Bodenanteilsscheine].« (31: 2–9). Statt in der Rolle von Mitwirkenden bei der Entscheidung über die eigene Zukunft und die des Betriebs sahen sich viele ehemalige Kolchozarbeiter, wie beispielsweise die Buchhalterin in einem der Nachfolgeunternehmen von Emel’janovo, als Opfer eines Experiments: »Ich weiß nicht, warum sie unseren Betrieb aufgeteilt haben, keine Ahnung. Man hat einfach ein Experiment veranstaltet, fertig, das denke ich, das ist meine Meinung. Durchführen, und dann beobachten, was passiert.« (44: 14–3). Dabei muss in Rechnung gestellt werden, dass in Emel’janovo im Rahmen des Restrukturierungsprozesses noch vergleichsweise viel Zeit dafür verwendet wurde, alle Beteiligten über die ihnen offen stehenden Handlungsoptionen zu informieren. Was im Lauf der Privatisierung passierte, wird wie im letzten Zitat häufig in der unpersönlichen dritten Person geschildert, obwohl man selbst unmittelbar involviert war: »Sie« – nicht »wir« oder »ich« – »haben das so beschlossen« (12: 8–24) erzählte auch eine Dorflehrerin von einer Versammlung mit Abstimmung über die Zukunft des Kolchoz, an der sie sich persönlich beteiligt hatte. Wenn »sie« – die Kolchozleitung, manchmal auch der Staat – die Entscheidungen trafen, so bedeutete das keinesfalls immer, dass sich die Betroffenen übergangen fühlten. Die Beschreibung der Privatisierungsgesetzgebung und des Restrukturierungsprozesses im fünften Kapitel dürften nachvollziehbar machen, dass gerade bei der älteren Generation oft ein Gefühl hoffnungsloser Überforderung dominierte und man deshalb einfach Personen seines Vertrauens folgte. Gerüchte machten in den Dörfern die Runde, dass die Übernahme des Unternehmens durch »die Amerikaner« (in Timirjazeva; 44: 13–8, Kolchoz-Buchhalterin) beziehungsweise durch »auswärtige Investoren« (in Dubrovka; 12: 21–2, Rentnerin) drohe und man deshalb schnellstmöglich wieder gemeinsam einen Großbetrieb gründen müsse, und stützten die Interessen der Betriebsleitungen, die in den meisten Fällen eine Aufteilung in privatbäuerliche Kleinbetriebe verhindern wollten. Ein Rentner beschrieb den Meinungsbildungsbildungsprozess im Kreis seiner ehemaligen Arbeitskollegen folgendermaßen: »Niemand verstand irgendetwas. […] Alle meine Bekannten beispielsweise verstanden nichts. ›Oh! Hurra! Man hat uns 4,5 Hektar Land gegeben. Aber was sollen wir damit anfangen, mit diesem Land? Nun, geben wir’s dem Kolchoz, ja, soll der Kolchoz was damit anfangen. Aha, auch Aktien haben wir bekommen, entsprechend unserem Einkommen. Aber die darf man nicht anrühren! Denn wenn du keine Aktien und keinen Bodenanteilsschein mehr hast, dann hat das in erster Linie zur Folge, dass du rausfliegen kannst.‹« (36: 18–3).
Wollte die Betriebsleitung hingegen eine Aufteilung des Kolchoz wie in Timirjazeva erreichen, so ließ sich auch dafür Zustimmung ›schaffen‹. Eine
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Kolchozarbeiterin, die mit der damaligen Entscheidung heute unzufrieden ist, antwortete auf meine Frage, weshalb denn so wenige Anteilseigner gegen die Auflösung gestimmt hätten: »Nun, sie haben uns eingeredet, dass wir dann besser leben würden.« (39: 9–6). Wenn also festgestellt werden kann, dass die überwältigende Mehrheit der Kolchozarbeiter dafür votierte, als Anteilseigner im Großbetrieb zu verbleiben, so heißt das keineswegs, dass alle dabei dieselben Vor- und Nachteile abwogen, Chancen und Risiken sahen. Vielmehr setzt sich diese vermeintlich homogene Gruppe aus äußerst unterschiedlichen ›Mitgliedern‹ zusammen. Primär an der Nutzung der Landwirtschaftstechnik interessierte Abteilungsleiter, die sich strategisch entschieden, heute nur mehr 20 % ihres monetären Gesamteinkommens im Großbetrieb erzielen und deshalb in mancher Hinsicht bereits als »Privatbauern« bezeichnet werden können, zählen dazu ebenso wie Rentner, die vom Reformprozess schlichtweg überfordert waren. 12 Neben Überlegungen, die ihren Ausgangspunkt von der individuellen Situation nahmen, spielte für ausnahmslos alle Befragten aber auch die allgemeine Sorge um die kommunale Infrastruktur und die Aufrechterhaltung einer garantierten Mindestversorgung mit »Sozialleistungen« im weitesten Sinn – von der Reparatur des Schulgebäudes bis hin zu Fahrdiensten für Kranke – eine Rolle; im Fall einer Auflösung des Großbetriebs hätten Staat und Gemeinde einspringen müssen, die dazu ganz offensichtlich nicht in der Lage waren. Nirgends wurde das so deutlich wie im Plädoyer eines Privatbauern, der sich ansonsten in jeder Hinsicht abfällig über die sozialistische »Gleichmacherei« (uravnilovka), Kollektivbetriebe im Allgemeinen und die Kolchoze im Besonderen äußerte und dennoch die Großbetriebe weiterhin für notwendig erachtete: »Nicht für mich, ich komme auch so zurecht, aber es gibt einige, die packen das nicht.« (18: 24–12). Dieser Aspekt sowie die Tatsache, dass die Betriebsleiter im Konfliktfall über eine ungleich günstigere Ausgangsposition verfügten, um ihre Ansichten und Interessen durchzusetzen, werden in den nachfolgenden Abschnitten noch ausführlicher erläutert, sie sind von der Frage nach »Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsprozessen« im Verlauf der Restrukturierung jedoch nicht zu trennen. 12 | In ärmeren und überwiegend landwirtschaftlich geprägten Gemeinden spielen die Rentner für die lokalen Wirtschaftskreisläufe eine Sonderrolle, auf die hier nur am Rand eingegangen werden kann. Zwar fehlt ihnen die direkte Zugriffsmöglichkeit auf die Betriebsmittel des Großbetriebs und beim Unterhalt ihrer Hofwirtschaften sind sie auf Hilfe angewiesen, aber die staatliche Rente – zur Zeit meiner Feldarbeit betrug die Mindestrente 600,– Rubel (ca. 20,– EUR), hinzu kamen oft Hinterbliebenenrenten sowie diverse Sonderzahlungen – liegt häufig weit über dem Durchschnittseinkommen der Arbeiter in den restrukturierten Kollektivbetrieben. Ihr Geldeinkommen besitzt für das Tauschsystem der ansonsten subsistenzorientierten Lokalökonomien deshalb besondere Bedeutung.
210 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
Subsistenzlandwirtschaft, Marktorientierung und Lohneinkommen Subsistenzlandwirtschaft, Markt- und Lohneinkünfte – genau wie in der sowjetischen Zeit basieren Unterhalt und Einkommen der Haushalte im ländlichen Raum auch nach der Privatisierung der Kollektivbetriebe auf diesen drei Säulen. Die Gewichtungen haben sich jedoch verschoben und von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich entwickelt, die wechselseitigen Abhängigkeiten sind nicht mehr dieselben und die insgesamt veränderte Form der Existenzsicherung vermittelt nicht zuletzt auch eine symbolische Neupositionierung im sozialen Raum – als Kolchozarbeiter auf einem ›modernen‹ sowjetischen Traktor zu arbeiten oder aber sein Privatland mit Pferd und Pflug bewirtschaften zu müssen, bedeutet einen Unterschied, der sich nicht allein auf die Höhe des Einkommens reduzieren lässt. Ebenso wie die Entscheidung, für den Verbleib im Großbetrieb zu stimmen, äußerst unterschiedlich motiviert war, so sind auch die Hofwirtschaften der Beschäftigten heute in Umfang, Intensität und in ihrer Bedeutung als Einkommensquelle weit weniger einheitlich als die pauschale Behandlung in der Literatur und statistische Aggregatbildungen es oft suggerieren; dass es sich in Wirklichkeit um ein weites Spektrum von Betrieben zwischen reiner Subsistenzwirtschaft auf der einen und überwiegender Marktorientierung auf der anderen Seite handelt (Pallot/Nefedova 2003: 42), gerät durch den zusammenfassenden Begriff »Hofwirtschaft« leicht aus dem Blick. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Tatsache, dass sie in umfassender Weise auf die persönlichen Nebenerwerbswirtschaften der sozialistischen Zeit aufbauen – in Bezug auf agrarwirtschaftliches Wissen ebenso wie auf die notwendige materielle Ausstattung – und ohne dieses Fundament nicht denkbar sind. Wäre es in der Sowjetunion tatsächlich gelungen, systemfremde Elemente wie das Hofland der Kolchozarbeiter vollständig in den kollektiven Sektor zu integrieren, so hätte das Ende der Zentralplanwirtschaft zu unabsehbaren Konsequenzen für die Bevölkerung im ländlichen Raum geführt. Abbildung 18 vermittelt einen Eindruck davon, in welch hohem Maß in der Krisensituation seit Anfang der 1990er Jahre eine marktunabhängige Überlebenssicherung allein auf der Grundlage der Hofwirtschaft möglich ist. Die Versicherung einer mittlerweile in Rente lebenden Kolchozarbeiterin: »Wir bauen alles selbst an, wir müssen nicht auf den Markt, wir leben ohne Geld« (5: 3–3) zeigt, dass einige Haushalte dieses Potenzial auch wirklich in vollem Umfang ausschöpfen. Dennoch darf die Abbildung nicht als Beleg dafür fehlinterpretiert werden, dass alle oder zumindest die meisten Haushalte im ländlichen Raum sich auch tatsächlich derart stark auf die Subsistenzproduktion zurückziehen mussten; wo der Anbau von Getreide auch auf kleinen Flächen rentabel und die Entfernung zu städtischen Absatzmärkten nicht zu weit ist, oder wo
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Zuerwerbsmöglichkeiten im sekundären Sektor bestehen, sind häufig ganz andere Nutzungsintensitäten oder Spezialisierungen auf einzelne Produkte anzutreffen. Abbildung 18a: Kolchozhof in Dubrovka – Gesamtanlage im Überblick � � � � � � �
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Quelle: Eigene Kartierung.
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212 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess Abbildung 18b: Kolchozhof in Dubrovka – ehemaliges Wohnhaus und Betriebsgebäude
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Quelle: Eigene Kartierung.
Auf den in Abbildung 18 kartierten Hof, der sich im Ort Dubrovka befindet und seit Ende der 1980er Jahre nicht mehr verändert wurde, trifft all dies nicht zu. Er gehört einem Traktoristen, dessen Frau als Melkerin gearbeitet hat und heute in Rente lebt, konnte also errichtet werden, ohne dass dafür
6 Hofwirtschaften und Großbetriebe auf dem Weg … | 213 Abbildung 18c: Kolchozhof in Dubrovka – neues Wohnhaus
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Quelle: Eigene Kartierung.
Einkommen und Beziehungen nötig waren, über die nur die Angehörigen der Kolchozleitung verfügten. Obwohl auch die vorhandenen Betriebsmittel ausnahmslos noch aus der sowjetischen Zeit stammen, kann er nicht ohne Einschränkungen als »repräsentativ« bezeichnet werden, da auch innerhalb gleicher Einkommensschichten und Berufsgruppen die Ausstattung der Privatgebäude in den Kolchozen stark variierte und viel vom persönlichen Engagement der Eigentümer abhing. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Bewirtschaftung des in Dubrovka auf einen oder – falls zwei oder drei Generationen noch zusammen lebten und bei der Landverteilung als separate Haushalte gerechnet wurden – zwei Hektar erweiterten Privatlandes ist die Möglichkeit, vom Kolchoz ein Pferd als Zugtier zu erwerben oder von Nachbarn gegen Bezahlung auszuleihen. Damit lässt sich nun auch der Nahrungsmittelbedarf einer größeren Familie problemlos decken, ohne dass man sich auf einen einseitigen Speiseplan beschränken muss. Angebaut werden Kartoffeln, Kohl, Gurken, Tomaten, Getreide, Rüben, Kürbisse, Zucchini, Karotten, Lauch, Knoblauch,
214 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
Bohnen, Erbsen, Paprika, Zwiebeln und Erdbeeren. In vielen Gärten stehen zudem Obstbäume (Apfel, Birne, Kirsche und Pflaume) sowie Johannisbeerund Stachelbeersträucher, so dass auch Marmelade, Kompott und Fruchtsäfte für den Eigenbedarf erzeugt werden können. Pilze, Himbeeren, Brombeeren und Wacholderbeeren sowie Nüsse werden in der Umgebung gesammelt und getrocknet oder eingemacht, Tee kocht man aus der ebenfalls häufig vorkommenden Minze und einige Haushalte besitzen sogar eigene Bienenstöcke. Den limitierenden Faktor für eine Ausweitung der Hofwirtschaften stellt heute angesichts des geringen Technisierungsgrades nicht das Fehlen freier Flächen dar, sondern die verfügbare Arbeitskraft. Insbesondere für einen Zwei-Personen-Haushalt ist es kaum möglich, zusätzlich zum Anbau von Gemüse, Getreide und Obst in den Sommermonaten noch genug Heu einzubringen, um im Winter Schafe, Kühe und ein Pferd versorgen zu können. Die Schafhaltung ist deshalb in den letzten zehn Jahren stark zurückgegangen, doch eine Kuh und damit das gesamte Spektrum an Milchprodukten – Milch, Butter, Sahne, Quark und Käse – gibt es in jedem Haushalt. Ebenso verbreitet ist die Mast von zwei oder drei Schweinen, so dass mindestens ein Mal pro Jahr geschlachtet werden kann und gepökeltes oder geräuchertes Fleisch und Speck das ansonsten überwiegend pflanzliche Nahrungsmittelspektrum ergänzen. Fast jeder Kolchozhof hält außerdem 10–20 Hühner, manche darüber hinaus auch noch Enten, Gänse oder Kaninchen. Der Produktion der Hofwirtschaft hinzuzurechnen ist noch die vom Betrieb für die Überlassung des Bodenanteils gezahlte Naturaldividende. Sie unterscheidet sich von Unternehmen zu Unternehmen und je nach Wirtschaftslage auch von Anbausaison zu Anbausaison. Die Situation in den von mir untersuchten Betrieben ist deshalb nur wenig mehr als eine Momentaufnahme von Einzelfällen in den Jahren 2000/2001; zwar waren hier die Veränderungen seit der Privatisierung und der erstmaligen Zahlung einer Naturaldividende gering geblieben, aber Stabilität auch in Zukunft lässt sich daraus nicht ableiten: – In Put’ Il’iča war die Ertragslage so schlecht, dass den Mitarbeitern kostenlos nur Flächen zum Heu machen zur Verfügung gestellt werden konnten. Abgesehen davon bestand die Entlohnung für die Bodenanteile in der Bereitstellung von Dienstleistungen zu besonderen Konditionen. Als grobe Orientierungsgröße galten 50 % der Kosten, die dem Betrieb aus diesen Leistungen entstanden, wobei aufgrund des Fehlens einer exakten Kostenrechnung letztlich einfach Preise festgelegt wurden, die von beiden Seiten als »tragbar« angesehen wurden. Konkret waren beispielsweise für die Nutzung eines Mähdreschers 3,– Rubel je 100 qm, für das Pflügen eines Gemüsegartens pauschal 30,– Rubel, für das Mahlen einer Tonne Getreide 100,– Rubel und für Arbeiten im Sägewerk 30,– Rubel pro Kubikmeter Holz zu bezahlen.13 Unentgeltliche allgemeine 13 | Im Jahr 2000 betrugen 100 Rubel ungefähr 4,– EUR.
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–
Dienst- oder Infrastrukturleistungen, auf die weiter unten noch näher eingegangen wird (Instandhaltung der Brunnen, Verfügbarkeit eines Fahrzeugs für Krankentransporte rund um die Uhr usw.), wurden von der Kolchozleitung aber ebenfalls ausdrücklich als Kompensation für die Nutzung des Bodens betrachtet. In Privol’noe erhielt man pro Anteilsschein 1 t Getreide, 50 kg Zucker und 20 kg Sonnenblumenöl pro Jahr. Für diesen Naturallohn mussten allerdings wie in Put’ Il’iča die entstehenden »Selbstkosten« – 900,– Rubel für 1 t Getreide, 6,– Rubel pro kg Zucker und ebenfalls 6,– Rubel pro kg Öl – entrichtet werden. Für das Mahlen des Getreides wurden dann zusätzlich noch 20 % der Gesamtmenge als Kostenbeitrag einbehalten (zum Vergleich: der Marktpreis betrug in dieser Zeit 5,30 Rubel pro kg Mehl). Hatte man für Agrarprodukte keine Verwendung und wollte den Verkauf auf dem Markt nicht selbst organisieren, so konnte man sich stattdessen auch einen Betrag von 1.374,– Rubel pro Anteilsschein in bar auszahlen lassen. Da der Wert der Naturaldividende zu Marktpreisen jedoch weit höher war, wurde dieses Angebot insgesamt nur von 40 Personen tatsächlich in Anspruch genommen.
Grundsätzlich ist eine subsistente Versorgung mit Nahrungsmitteln im ländlichen Raum also durchaus möglich und stellt in der Realität auch keine Ausnahme dar. Haushalte, deren Marktintegration minimal ist, beschränken sich im Normalfall auf den Zukauf von Zucker, Tee, Hefe, ggf. Tabak und Brot, da das tägliche Backen den meisten zu arbeitsaufwändig ist. 14 Große Schwierigkeiten bereitet in dieser Situation natürlich die Anschaffung von Kleidung, langlebigen Konsumgütern oder Baumaterialien, für die man Bargeld benötigt. Im Ort Dubrovka, der erst im Jahr nach meinen Feldarbeiten an das nationale Gasnetz angeschlossen wurde, kam als besonderes Problem alljährlich die Beschaffung von Brennholz hinzu. Je nach Größe des Hofes und des Haushalts benötigte man vier bis zehn Kubikmeter Holz für den Winter; bei Händlern kostete ein Kubikmeter ca. 50,– Rubel plus pauschal 100,– Rubel für die Anlieferung. Häufig wurde Brennholz deshalb im Staatsforst gestohlen oder man ›einigte‹ sich mit den Förstern, was für gewöhnlich keine allzu großen Schwierigkeiten bereitete: »Wenn welche da 14 | Große Mengen Zucker werden vor allem deshalb benötigt, weil selbst gebrannter Schnaps – samogon – oder Wodka in jedem Haushalt verfügbar sein muss, sowohl um etwaige Gäste zu bewirten als auch um damit im Sinn einer ›Alternativwährung‹ Hilfsleistungen zu bezahlen. Unter Zugabe von Wasser und Hefe wird eine Maische angesetzt, die über mehrere Tage hinweg bei Zimmertemperatur vergärt und dann – meist ohne Zugabe von Getreide oder Kartoffeln – destilliert wird. Aus 8 kg Zucker für 112,– Rubel und 0,5 kg Hefe für 10,– Rubel lassen sich so 10 Liter Schnaps gewinnen, während dieselbe Menge Wodka in einem Geschäft ca. 800,– Rubel kosten würde.
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sind, dann trinkst du mit ihnen ein Fläschchen und sie sagen dir nur, dass man das Holz so holen soll, dass es nicht sofort zu sehen ist.« (12.11.2000, Kolchozarbeiter). Für Rentner stellte neben der Beschaffung aber auch der Abtransport ein schwieriges Problem dar. Leben in einem Haushalt jedoch mehrere Personen im arbeitsfähigen Alter zusammen, die auch tatsächlich im Kolchoz beschäftigt sind, so lässt sich auf der Grundlage der oben gezeigten Ausstattung eines Hofes mit zwei Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche ein monetärer Erlös erzielen, der zumindest zur Befriedigung von Grundbedürfnissen auch über die bloße Nahrungsmittelversorgung hinaus ausreicht. Das Jahreseinkommen eines Haushaltes, der aus einem noch berufstätigen Ehepaar mit zwei Kindern und einem in Rente lebenden Elternteil besteht, sieht dann im Optimalfall – intensivst mögliche Nutzung der Hofwirtschaft – folgendermaßen aus: Kolchoz-Durchschnittslohn (350,– Rubel), 2 Personen
18.400,–
Rente, 1 Person
17.200,–
Verkauf der Milch von 2 Kühen auf dem Markt (3,– Rubel/Liter; Eigenbedarf bereits abgezogen)
12.000,–
Verkauf eines Kalbes auf dem Markt
12.000,–
Verkauf von Ferkeln auf dem Markt (für ein Ferkel erzielt man bereits nach nur vier Wochen Mast ca. 500,– Rubel)
10.000,–
Verkauf geringfügiger Mengen überschüssigen Gemüses oder von Kartoffeln auf dem Markt
12.000,–
gesamt
41.600,–
Im Kolchoz Put’ Il’iča, auf den sich diese Beispielrechnung bezieht, waren keine Aktien auf das Grundkapital ausgegeben worden, zusätzliche Einnahmen aus Dividenden gibt es also nicht. In Privol’noe hingegen besitzt jeder Beschäftigte im Durchschnitt ca. 250 Aktien, Mitglieder der Leitungsebene haben sich unmittelbar nach der Verteilung oft noch zusätzliche Anteilsscheine gekauft und kommen mittlerweile auf bis zu 10.000, der Vorstand auf eine noch deutlich höhere Anzahl von Aktien. Aus diesem Besitz beziehen die Beschäftigten ein Dividendeneinkommen, das zwischen einem halben und einem Monatsgehalt liegt: 1991 wurde 1 Rubel pro Aktie bezahlt, 1992 waren es dann 2 Rubel (in Form von Naturalien), zwischen 1993 und 1998 entschloss man sich, den Betriebsgewinn voll zu reinvestieren und vergab keine Dividenden, in den Jahren 1999 und 2000 betrug die Ausschüttung pro Aktie dann wieder 2 Rubel. Da sich in Privol’noe der monatliche Durchschnittslohn mittlerweile bereits auf über 1.000,– Rubel, in einem benachbarten Unternehmen sogar auf 2.000,– Rubel beläuft, die Privatparzellen oft weit entfernt von den Höfen liegen, es im Kreiszentrum
6 Hofwirtschaften und Großbetriebe auf dem Weg … | 217
alternative Beschäftigungsmöglichkeiten gibt und kurzfristige Abwesenheit im Betrieb – beispielsweise um das eigene Vieh zu versorgen – streng bestraft wird, spielt die Hofwirtschaft hier eine weitaus geringere Rolle als in Dubrovka. Aber auch in Privol’noe gibt es Familien, die damit zusätzlich zum regulären Lohn bis zu 50.000,– Rubel jährlich erwirtschaften; die Arbeitsorganisation im Unternehmen muss auf deren Bedürfnisse Rücksicht nehmen, beispielsweise indem Melkerinnen eine zweistündige Mittagspause eingeräumt wird, in der sie mit betriebseigenen Bussen nach Hause gefahren werden, um auch ihre privaten Kühe melken zu können. Je nach Betrachtungsperspektive befinden sich die Haushalte im ländlichen Raum heute in einer Situation, die sowohl als »Autarkie« wie auch als »neue Abhängigkeit« umschrieben werden kann und auch so wahrgenommen wird. Basierend auf eigene Ressourcen – Arbeitskraft, Betriebsmittel und Land – ist die für das bloße Überleben nötige Grundversorgung gewährleistet. Dabei handelt es sich nicht nur um eine theoretische Möglichkeit, sondern vor allem für Personen im Ruhestand um eine alltägliche Realität; lediglich die staatlichen Rentenzahlungen stellen für diese Personengruppe eine notwendige Unterstützung von außen dar. Um sich darüber hinaus gehende Wünsche zu erfüllen oder die Ausbildung eines Kindes finanzieren zu können, muss der Großbetrieb jedoch bereit sein, seine bereits in der sowjetischen Zeit bestehende Rolle als Dienstleister für die Hofwirtschaften weiterhin zu spielen. Rentner vertreten deshalb mitunter durchaus die Ansicht, »wir kommen auch ohne Kolchoz ›gut‹ aus«, allerdings nicht ohne dann erläuternd hinzuzufügen, was »auskommen« für sie bedeutet: »Wenn Sie hier bleiben würden, dann würden Sie merken, dass das die reinste Hölle und kein Leben ist!« (5: 4–9, 19). Wer seine Hofwirtschaft hingegen intensivst nutzt, um über die Eigenversorgung hinaus einen maximalen monetären Gewinn zu erzielen, für den ist ein Leben ohne Kolchoz unvorstellbar: »Die Sache ist doch: Wenn der Kolchoz hier sich auflöst, dann bleibt mein Gemüsegarten, dieser Hektar hier, ungepflügt. […] Egal was man braucht – alles gibt’s nur im Kolchoz, es läuft über den Kolchoz, beim Kolchoz, zum Kolchoz, dort gehe ich hin. Irgendetwas, egal was, ein Fahrzeug, ein Mähdrescher, ein Traktor, ein Pferd, sonst noch was. Da muss mal ein Haken geschweißt werden – du musst in die Kolchoz-Schmiede gehen, wieder nur dort, du brauchst einen Bolzen, irgendeine Schraube, fertig, ich gehe in den Kolchoz. Schließlich kaufe ich das Zeug nicht!« (10: 7–14ff, Kolchoz-Chefelektriker).
Der heute von Kolchozhof zu Kolchozhof extrem unterschiedliche Grad der Marktintegration in Verbindung mit der ebenso stark variierenden Abhängigkeit vom Großbetrieb verlangt einen weitaus kritischeren Umgang mit der für die Diskussion über die Agrarreformen in Russland zentralen Kategorie »Privatbauer« als dies meist der Fall ist. Auf der einen Seite sind
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nur sehr wenige der als »privatbäuerliche Betriebe« registrierten Höfe auch tatsächlich als solche aktiv, auf der anderen besitzt für manchen Beschäftigten eines ehemaligen Kolchoz die Hofwirtschaft eine so dominierende Bedeutung, dass hier durchaus von »privatbäuerlicher Tätigkeit« gesprochen werden könnte und diese Bezeichnung auch der Selbsteinschätzung nahe kommt. So erläuterte beispielsweise der leitende Agronom von Put’ Il’iča, obwohl seine Position eine weitaus höhere Identifikation mit dem Unternehmen verlangt als die eines einfachen Kolchozbeschäftigten und auch sein betriebliches Einkommen über dem Durchschnitt liegt: »In erster Linie sind wir heute alle Bauern, die Hoffnung richtet sich auf das, was die Hofwirtschaft bringt.« (15: 1–2). Abhängigkeit oder Autarkie wurden in den Befragungen je nach persönlicher wirtschaftlicher Situation unterschiedlich stark in den Vordergrund gerückt, grundsätzlich aber nicht als sich gegenseitig ausschließende Kategorien angesehen. Vielmehr ist es gerade die Kombination von beidem, aus der sich das verbreitete Grundgefühl speist, in eine vormoderne Lebensweise zurückgefallen zu sein. Es drückt sich zum einen in Selbstbeschreibungen wie »Sklaven« oder »Leibeigene« aus – auf diesen Aspekt wird im nächsten Abschnitt zum »patrimonialen Leitungsverständnis« der Betriebsvorsitzenden näher eingegangen – und zum anderen darin, dass die heutige Lebens- und Wirtschaftsweise als »primitiv« empfunden wird. Die wirtschaftliche Krise der Großbetriebe sowie massive Kürzungen bei den unentgeltlichen staatlichen Leistungen aller Art brachten insbesondere im ländlichen Raum eine spürbare Verschlechterung des Lebensstandards mit sich; nur über einen sehr kurzen Zeitraum Anfang der 1990er Jahre hinweg war die Versorgungssituation in den Ballungsräumen so problematisch, dass sich übliche Migrationsmuster umkehrten und die Bevölkerung von den Städten aufs Land zog. 15 Von einer als primitiv empfundenen Lebens- und Wirtschaftsweise zu sprechen, bedeutet deshalb nicht, faktische Verschlechterungen relativieren zu wollen, sondern die Kontexte offen zu legen, in denen sie wahrgenommen und eingeordnet wurden. Das über Jahrzehnte hinweg prägende sowjetische Modernisierungsverständnis bildet dafür einen immer wiederkehrenden Referenzpunkt. Eine effiziente Organisation der Landwirtschaft beruhte im Rahmen dieses Modernisierungsverständnisses einerseits auf »Größe« und andererseits auf dem »Grad der Technisierung«. Sicherlich gab es Diskussionen 15 | Die Bevölkerungszunahme im ländlichen Raum 1991/1992 wird häufig überbewertet. Sie ist nicht nur auf Stadt-Land-Wanderungen zurückzuführen, sondern auch auf die Rückkehr der russischen Bevölkerung aus den jetzt unabhängigen GUS-Staaten sowie auf Statuswechsel ehemals städtischer Siedlungen im ländlichen Raum, die dadurch Vergünstigungen wie beispielsweise reduzierte Preise für die Energieversorgung erhielten (Alekseev/Zubarevič 1999: 91f).
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über sinnvolle Obergrenzen für die Größe von Betrieben, Feldern oder Agrarmaschinen, aber einer wirklich kleinbetrieblichen Struktur haftete immer das Image des Vormodernen an. Absolute Mengen und Flächengrößen, die Zahl der Arbeitskräfte, Traktoren und Mähdrescher, natürlich auch die Erträge pro Hektar oder die durchschnittliche Milchleistung einer Kuh waren die für Betriebsleiter entscheidenden Kennziffern, nicht eine an Kostengesichtspunkten festgemachte Effizienz (Clarke 1992: 7; Dolud 2001: 10). Vor dem Hintergrund dieses Ideals musste jede Tendenz zur Aufteilung eines Betriebs und zur Dezentralisierung im Sinn einer Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten auf die Haushalte als Rückschritt gelten. In den Interviews verwendeten die Befragten dafür fast immer den Begriff »razval«, womit der allgemeine ökonomische Niedergang gemeint war, aber insbesondere der Aspekt des »Zerfalls in kleinere Einheiten« bezeichnet wird. Die Intention hingegen, durch die Vergabe von Bodenanteilsurkunden und Aktien den Eindruck des Auseinanderfallens zu verhindern und stattdessen den Beginn eines Entwicklungsprozesses zu symbolisieren, der zur Entstehung eines neuen Eigentümerbewusstseins führen sollte, schlug völlig fehl; allein die Frage danach erschien den Betroffenen manchmal fast schon absurd. So waren sich beispielsweise zwei Rentnerinnen in Privol’naja einig: R1: »Was, bitte, soll das für ein Eigentum sein?« R2: »Eigentum – das ist das, was hier bei mir in der Hütte steht und das Gemüsebeet. Das ist alles! […]« R1: »Dass es das [Bodenanteile] früher nicht gab und heute gibt – das ist völlig egal. […]« R2: »Ja, früher haben wir alles eben über den Lohn abgerechnet bekommen, da gab es keine Anteile, so einen Unsinn! […]« R1: »Was soll daran schon persönliches Eigentum sein? Wer gibt mir den Boden zur privaten Nutzung? Nun, wer, wer gibt ihn mir, hm?« (24: 4–10f, 6–1f, 12–9).
Ein Dorflehrer aus demselben Ort bestätigte dieses Verständnis und erläuterte es an einem Beispiel: »In der Holding fühlt sich niemand als Eigentümer. Wenn ein Traktor Öl verliert, dann fährt man trotzdem weiter. […] Ein Privatbauer hingegen legt sich unter den Traktor, schraubt zwei oder drei Stunden daran herum und wechselt die Dichtungen. […] Ich sag’ Ihnen was: Die Kolchozmitglieder, die Mitglieder dieser Holding, haben noch nicht kapiert, dass sie Eigentümer sind und im Prinzip, denke ich, sie sind auch bis heute noch keine Eigentümer.« (27: 7–6).
Nicht als Eigentümer privatisierter Kolchoze, die ›nebenbei‹ auch ihr eigenes Land bewirtschaften, sondern als schlecht bezahlte Angestellte erwarten
220 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
die ehemaligen Kolchozarbeiter heute Dienstleistungen von den Großbetrieben. Diese können ihnen jedoch nur mehr in weitaus geringerem Umfang als früher angeboten werden, da die notwenige Landwirtschaftstechnik fehlt und der enorme Kostendruck strengere Zugangsbeschränkungen erforderlich macht. Selbst der Betriebsleiter von Put’ Il’iča, der ansonsten keine Bestrebungen unternimmt, den Kolchoz in ein ausschließlich gewinnorientiertes Unternehmen umzuwandeln und sämtliche Versorgungsfunktionen einzustellen, sieht für die Zukunft keine andere Möglichkeit, als einen immer größeren Teil der Dienstleistungen nur noch gegen Entgelt anzubieten. Angesichts der geringen Löhne ist die zwangsläufige Reaktion darauf von Seiten der Hofwirtschaften die Umstellung auf manuelle Arbeit und die Benutzung von Gerätschaften, in denen sich »Primitivität« geradezu idealtypisch ausdrückt: »Im Kolchoz gibt es keine Landwirtschaftstechnik mehr und das ist auch für uns schlecht. Das heißt, dass uns nichts bleibt als zu vorrevolutionären Zuständen zurückzukehren, eine Sichel zu kaufen und das Gras in Bündeln zu mähen. Ansonsten war’s das. […] Wir säen wieder von Hand, den Eimer unter’n Arm und zurück in die Vergangenheit.« (5: 5–9).
Dieselbe Befragte, die im Kolchoz Put’ Il’iča beschäftigt war und mittlerweile in Rente lebt, fügte wenig später noch hinzu: »Es geht zurück in die 50er Jahre. Ich kann mich daran noch erinnern, als ich jung war: Das Leben war zum Heulen, kein Hoffnungsschimmer war zu sehen, wir haben gearbeitet und zum Heizen gab es nichts. Alleine mussten wir Torf stechen und haben mit Torf geheizt, Holz gab es in den 50ern nicht.« (5: 11–12).
Immer wieder wurde in den Interviews die Gegenwart entweder wie hier als Rückfall in eine Vergangenheit, der man auf dem Weg des Fortschritts längst entkommen zu sein glaubte, oder als Rückschritt hinter die Errungenschaften der sozialistischen Zeit beschrieben. Erinnerungen wie »mit Brot haben wir die Schweine gefüttert« (13: 4–13, Rentnerin) stellen der heutigen Mangelsituation die Erfolge der sowjetischen Modernisierung gegenüber. Längst überwundene Problemlagen, welche in drastischen Worten geschildert werden, waren nun unversehens – wie der Mangel an Heizmaterialien nach der Einstellung der staatlich subventionierten Kohlelieferungen im letzten Zitat – in fast derselben Weise wie früher wieder aktuell geworden. Wird die sowjetische Planwirtschaft aus westlicher Perspektive oft als bloße Mängelverwaltung wahrgenommen, so hatte sie im ländlichen Raum doch eine Versorgung gewährleistet, die das Normalitätsverständnis erfolgreich prägte und einen Lebensstandard ermöglichte, der im Vergleich mit der Situation heute gut abschneidet. Ein Rentner erläuterte mir, was zu diesem
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Lebensstandard zählt und er drückt dabei zugleich seine Zufriedenheit mit dieser ›sowjetischen Normalität‹ aus; insbesondere die einen ›modernen‹ Haushalt charakterisierenden Elektrogeräte sind zwar von früher noch weithin vorhanden, aber eine Neuanschaffung ist ungleich schwerer geworden: »Nun was? Was ist das Wichtigste? Ich habe einen Kühlschrank, einen Fernseher, ein Auto, ein Haus, eine Familie und ich habe Kinder großgezogen. […] Ich denke, ich habe getan, was man tun muss und werde zufrieden sterben können.« (32: 3–1). 16
Der durch das Ende der Sowjetunion ausgelöste Entwicklungsrückschritt wog um so schwerer, als weithin klar war, dass selbst der bereits erreichte Lebensstandard der 1980er Jahre im ländlichen Raum noch weit hinter dem westlicher Staaten zurückgelegen hatte. Chruschtschows öffentlichkeitswirksame Prophezeiung, »wir holen die USA ein und überholen sie«, hatte paradoxerweise den Systemunterschied insofern relativiert, als sie ein zumindest in Teilbereichen gleiches Modernisierungsverständnis offenbarte. Es war bekannt, dass dieses Versprechen nie eingelöst worden war, und der Westen oder vielmehr eine spezifische, nicht selten verzerrte Repräsentation der Landwirtschaft in westlichen Staaten war als Vergleichsmaßstab in so unterschiedlichen Fragen wie der Agrarpolitik, der betrieblichen Organisation oder der Technisierung, aber eben auch der allgemeinen Lebensverhältnisse in den Befragungen immer wieder präsent. »In den USA verdient man mindestens sieben Dollar in der Stunde, das ist gesetzlich so […] bei uns sieben Dollar im Monat – das ist doch ein Witz!« (8: 3–5) kommentierte zum Beispiel ein Jugendlicher die derzeit bezahlten Löhne in seinem Betrieb. Die Distanzen begannen wieder zu wachsen, zum Westen ebenso wie zu den städtischen Zentren im eigenen Land und in wirtschaftlicher ebenso wie in kultureller Hinsicht. Die damit verbundene Aufwertung »des Lokalen« in materieller genau so wie in sozialer Hinsicht schuf die Voraussetzung für die Entstehung eines »postsowjetischen Patrimonialismus«, in dem sich Abhängigkeitsverhältnissen und Verantwortlichkeiten nach dem Ende des sozialistischen Gesellschaftsmodells auf neue Weise verbanden.
16 | Der Befragte war in der sowjetischen Zeit mehrfach auch außerhalb der Landwirtschaft tätig gewesen, unter anderem auch als Lkw-Fahrer. Sein Einkommen lag damals über dem eines typischen Kolchozarbeiters und persönliche Beziehungen erleichterten ihm die Anschaffung eines Autos, das ansonsten keine Selbstverständlichkeit war.
222 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
Postsowjetischer Patrimonialismus In jüngeren Arbeiten zur Lebens- und Wirtschaftsweise in den privatisierten Kolchozen ist häufig von »feudalen« Einheiten die Rede. Die »Beziehungen der Dorfbewohner zueinander, zwischen Dorfbewohnern und Betriebsvorsitzenden sowie zwischen den Betriebsvorsitzenden und den lokalen Behörden tragen Züge, die man am besten als ihrer Natur nach feudal verstehen kann« begründet beispielsweise Gambold Miller (2003: 1ff) diese Begriffswahl und sie fährt fort: »Diese spezifisch russische Form des Feudalismus legte das Fundament für ein Agrarsystem, das in Russland bis heute anzutreffen ist.« Es zeichne sich dadurch aus, dass das Verhältnis zwischen Haushalten und restrukturierten Großbetrieben zwar von symbiotischer Abhängigkeit, zugleich aber von einer asymmetrischen Machtverteilung zugunsten der Betriebsvorsitzenden geprägt sei. Für die Bereitschaft, den Betrieben ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, erhielten die Beschäftigten Natural- sowie von Zeit zu Zeit auch Geldzahlungen und es werde eine soziale Grundsicherung garantiert. Nicht der expansive Prozess voranschreitender Marktintegration, sondern der Rückzug in die zunehmende Isolation und die Beschränkung des politischen und sozialen Lebens auf lokale Angelegenheiten kennzeichneten die Entwicklung seit dem Ende der Sowjetunion. Humphrey (2002a: XXI) und Verdery (1996: 204ff) verweisen ausdrücklich darauf, dass die Charakterisierung »feudal« von den Betroffenen selbst stammt; die zitierten Belege dafür erinnern teilweise an die oben wiedergegebenen Interviewpassagen, in denen die gegenwärtige Wirtschaftsweise als »Rückfall in die Vergangenheit« beschrieben wird. Dennoch verwendet Verdery den Begriff nur unter Vorbehalten und in erster Linie mit der Absicht, provozierend dem dominierenden teleologischen Entwicklungsverständnis entgegenzutreten, das eine marktwirtschaftliche Verfassung westlichen Typs als letztes Ziel der Reformen ansieht. Was, so ihr kritischer Einwand, wenn die Metapher der »Schocktherapie« – der am Sozialismus erkrankte Patient wird als geheilt angesehen, sobald eine funktionierende Marktwirtschaft etabliert ist – genauso in die Irre führt wie die Charakterisierung des Sozialismus als »längster und schmerzhaftester (Um-)Weg von der Marktwirtschaft zur Marktwirtschaft« 17 und sich als Ergebnis der Transformation quasi-feudale Strukturen abzuzeichnen begännen? Diese Überlegungen stützen sich primär auf die Beobachtung des Zerfalls staatlicher Strukturen sowie der Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf lokale Einheiten; eben darin sieht Verdery auch das konstitutive Prinzip jeder feudalen Wirtschaftsweise. Das wichtigste Argument dafür, von feudalen Strukturen zu sprechen, liefert sicherlich die in manchen Fällen fast unbegrenzt erscheinende Machtfülle der neuen Betriebsvorsitzenden. Im neutraleren Begriff »Ho17 | Vgl. den nicht paginierten Vorspann der Monographie von Verdery
(1996).
6 Hofwirtschaften und Großbetriebe auf dem Weg … | 223
heitsgebiete« (suzerainties), den Humphrey (2002a: 6ff) der Metapher »Feudalismus« mit Recht vorzieht, kommt genau diese Machtasymmetrie innerhalb derselben lokalen Gemeinschaften zum Ausdruck, die von anderen Autoren paradoxerweise als »egalitär« beschrieben werden. Die Fundamente und Wirkweisen der herausgehobenen Position der Betriebsvorsitzenden lassen sich am besten anhand der Situation in Privol’naja im Gebiet Krasnodar erläutern; dieses Beispiel birgt jedoch auch die Gefahr, in doppelter Hinsicht Missverständnisse hervorzurufen: – Der Betriebsvorsitzende der Agro-Holding Privol’noe hat ein ausgefeiltes System der Machtkonzentration errichtet und in einer Weise perfektioniert, wie es wohl nur in wenigen anderen Fällen anzutreffen ist.18 Zugute kam ihm dabei sicherlich auch die Tatsache, dass insbesondere in der Region Krasnodar die Gerichte dazu tendieren, mit ihren Entscheidungen die lokalen Eliten zu stützen (Hanson 1996: 182). Das Beispiel ist deshalb vor allem dazu geeignet, die bestehenden Möglichkeiten aufzuzeigen, sollte aber nicht zu der Annahme verleiten, dass dieselben Potenziale anderswo tatsächlich auch in derselben Weise genutzt werden. Um dies an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen: Auch der Kolchozvorsitzende von Put’ Il’iča könnte autokratisch darüber entscheiden, welche Infrastrukturprojekte vom Kolchoz gefördert werden und welche nicht, doch er hat sich dafür entschieden, die morgendliche planërka zu einer Art »Sprechstunde« zu machen, in der die Anliegen der Dorfbewohner vorgebracht und gemeinsam diskutiert werden können. Damit setzt er sich freiwillig der Kritik aller Anwesenden und dem Druck zur Kompromissfindung aus, auch wenn das letzte Wort bei jeder strittigen Entscheidung selbstverständlich weiterhin bei ihm liegt. – Die enorme Machtkonzentration in den Händen eines Einzelnen legt die Vermutung nahe, das dörfliche Leben sei erstens überwiegend von Interessengegensätzen geprägt und zweitens würde immer zugunsten der Betriebsvorsitzenden entschieden. Das ist keineswegs zwangsläufig der Fall, insbesondere dann nicht, wenn diese sich selbst in einer patrimonialen Rolle sehen und nicht nur die Verantwortung für den wirtschaftlichen Erfolg des Betriebs im engeren Sinn, sondern auch die Aufgaben der Gemeindeverwaltung teilweise mit übernehmen. Ein für ländliche Verhältnisse gigantisches Kulturhaus mit Museum, das in Privol’naja mit Marmor gebaut wurde, der in Moskau von der Baustelle einer Metrostation ›abgezweigt‹ worden war, ist beispielsweise für den Vorsitzenden ein wichtiges Symbol seines Erfolges, zugleich aber auch der Stolz der Dorfbewohner und ein tatsächlich genutztes Zentrum des Gemeindelebens. 18 | Diese Einschätzung beruht in erster Linie auf Gesprächen mit Moskauer und Novosibirsker Agrarsoziologen, die seit mehreren Jahren sowohl in Privol’noe als auch in vielen anderen privatisierten Kolchozen in Russland arbeiten.
224 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
Selbst wenn man den Begriff »feudal« in Bezug auf die privatisierten Kollektivbetriebe nur metaphorisch verwendet, halte ich ihn für denkbar unpassend und sogar irreführend. Denn der Blick auf das Neue und Unvergleichbare der Transformationssituation wird durch die inhaltliche oder auch nur assoziative Bezugnahme auf eine spezifische Form der Wirtschafts- und Sozialorganisation im 19. Jh. vorschnell verengt und dazu verleitet, lediglich Variationen eines längst bekannten Musters zu erkennen. Sieht man jedoch über die bloße Begrifflichkeit hinweg, so steht das Etikett »feudale Wirtschafts- und Sozialorganisation« für eine Vielzahl wichtiger Einzelaspekte, die den postsozialistischen Alltag im ländlichen Raum tatsächlich kennzeichnen. Dazu zählen die schwache Einbindung in staatliche Strukturen und die kleinräumige Fragmentierung legislativer, judikativer und exekutiver Kompetenzen, Selbstversorgung und fehlende marktwirtschaftliche Integration, asymmetrische Macht- und symbiotische Abhängigkeitsverhältnisse, aber auch primär lokale Versorgungsstrukturen, eine stark eingeschränkte Mobilität und eine wachsende Entfernung vom Leben in den Städten. Diese vermeintlichen Belege einer Re-Feudalisierung, die treffender als »postsowjetischer Patrimonialismus« zu bezeichnen ist, werden in den folgenden beiden Abschnitten zu »Infrastruktur und Isolation« 19 sowie zu »Macht und Verantwortung« näher beleuchtet.
Infrastruktur und Isolation »Postsowjetischer Patrimonialismus« verweist auf Zuständigkeits- und Abhängigkeitsverhältnisse, die im Fall des postsozialistischen ländlichen Raums in Russland kleinmaßstäblichen territorialen Grenzziehungen folgen. Die Voraussetzung dafür war die Herauslösung der einzelnen Haushalte sowie der restrukturierten Kolchoze einerseits aus dem Netz national gültiger Regelungen und Vorgaben sowie andererseits aus den sozialstaatlichen und infrastrukturellen Versorgungssystemen, wie sie in vielen Zitaten der vorhergehenden Abschnitte bereits deutlich wurde. Diese Herauslösung im Sinn einer zeitlich-räumlichen wie auch symbolischen »Distanzierung« liegt dem Bild vom »Rückschritt in die Vergangenheit«, der Klage über »anarchische Zustände« als Antonym zu »Integration«, aber auch der gestiegenen Abhängigkeit von den privatisierten Kollektivbetrieben 19 | Zur Charakterisierung der Situation im ländlichen Raum ist der Begriff »Isolation« heute genau so ungeeignet wie in der sowjetischen Zeit (vgl. Kap. 4), stellen doch veränderte Wirtschaftsstrukturen und soziale Beziehungen in den Dörfern in erster Linie Antworten – erzwungene Anpassung ebenso wie kreative Nutzung – auf externe Veränderungen dar. Ich verwende ihn hier ausschließlich, um die Sichtweise der Betroffenen zu vermitteln, die sich selbst heute stärker als früher marginalisiert, an die räumliche und soziale Peripherie gedrängt und isoliert von ihrer Umgebung sehen.
6 Hofwirtschaften und Großbetriebe auf dem Weg … | 225
für die Erwirtschaftung eines über das Subsistenzniveau hinausgehenden Lebensunterhaltes zugrunde. Die bislang angeführten Beispiele und Interviewsequenzen beziehen sich dabei alle mehr oder weniger unmittelbar auf die Frage der wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit der Haushalte und ehemaligen Kolchoze. Für die Entstehung eines patrimonialen Systems ist es jedoch entscheidend, dass auch über den Bereich des Ökonomischen hinaus eine Abkoppelung empfunden wird, die mit dem zunehmenden Angewiesensein auf das Wohlwollen lokaler Entscheidungsträger – insbesondere der Betriebsvorsitzenden – einhergeht. Tatsächlich hinterließ der Rückzug des Staates aus dem ländlichen Raum in mehrfacher Hinsicht ein Vakuum, das die Betriebsvorsitzenden ausfüllen können, aber nicht müssen. Denn im Zuge der Privatisierung war es den Kolchozen freigestellt worden, alle Aufgaben außerhalb ihrer ›Kernkompetenzen‹ – der gewinnorientierten Produktion von Agrargütern – an die Gemeindeverwaltungen bzw. an übergeordnete staatliche Behörden zu übergeben und die entsprechenden Objekte wie Kulturhäuser oder zentrale Heizkraftwerke von ihren Bilanzen zu streichen; gewinnbringende außerlandwirtschaftliche Aktivitäten, die faktisch allerdings einen seltenen Ausnahmefall darstellten, durften jedoch auch fortgeführt werden. 20 In der Praxis waren in den meisten Fällen einige, aber nur selten alle sozialen Leistungen und Objekte der dörflichen Infrastruktur abgegeben worden. Selbst in Bereichen, wo dies formal geschehen war, wurden weiterhin Zuschüsse bezahlt oder die Kosten sogar vollständig übernommen; offen spricht der ehemalige Kolchozvorsitzende in Privol’naja davon, dass einige Aufgaben von vornherein »nur symbolisch« (21: 3–1) überschrieben worden seien. Die in den Tabellen 8 und 9 wiedergegebenen Ausgaben in den beiden Betrieben »Pobeda« im Gebiet Kursk und »Tichij Don« in Voronež dürften in dieser Hinsicht durchaus typisch sein21 und entsprechen in ihrem anteilsmäßigen Gewicht an den Gesamtausgaben – nicht in der absoluten 20 | Regierungserlasse Nr. 86 vom 29.12.1991 »Über den Ablauf der Reorganisation der Kolchoze und Sovchoze« und Nr. 708 vom 04.09.1992 »Über das Verfahren der Privatisierung und die Reorganisation von Unternehmen und Organisationen des agroindustriellen Komplexes«. 21 | Eine exakte Kostenaufschlüsselung, für die sowohl die Buchhaltungsunterlagen der Betriebe wie auch der Gemeindeverwaltungen gesichtet werden müssen, ist ein extrem aufwändiges Unterfangen. Pobeda und Tichij Don wurden nach der Privatisierung von einem deutschen Investor übernommen, der bereit war, eine studentische Hilfskraft über mehrere Monate hinweg in seinem Unternehmen mitarbeiten zu lassen und alle erforderlichen Materialien zur Verfügung zu stellen. Ich danke dem neuen Eigentümer, Stephan Dürr, für seine Unterstützungsbereitschaft, Muriel Taurinus für die akribische Auswertung und die Abfassung eines Gesamtberichts sowie der Frau Dorothea und Dr. Dr. Richard Zantner-Busch-Stiftung für einen namhaften Reisekostenzuschuss.
226 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess
Höhe! – grob den Zuzahlungen in den von mir untersuchten Unternehmen. So gibt beispielsweise der Betriebsleiter von Privol’noe – der Betrag ist vermutlich eher zu hoch als zu niedrig angesetzt – seine jährlichen Aufwendungen für soziale Zwecke und infrastrukturelle Leistungen mit 12–18 % des Gewinns in Höhe von 2 Mill. $ (im Jahr 2001) an, während das Gesamtbudget der Gemeinde nur ca. 30.000,– $ beträgt. Tabelle 8: Leistungen des Betriebs »Pobeda« (Kursk) für die dörfliche Infrastruktur im Jahr 2001 (1.000 Rubel entsprachen im Jahr 2001 ca. 36,– EUR) Leistung
Kosten in Rubel/Jahr
Anteil a. d. Gesamtkosten
Beschäftigte im Bereich »Wasserversorgung« (5 Personen) Kindergärtnerinnen (3 Personen) Beschäftigte in der zentralen Kohleheizanlage (3 Personen) Elektrizität (Verbrauch) für
172.000 128.930 146.800
100% 198% 157%
Wassertürme Zentrale Kohleheizanlage Kindergarten
131.700 135.000 101.400
100% 100% 100%
130.210
100%
Zentrale Kohleheizanlage (Abschreibungen) Zentrale Kohleheizanlage (Instandhaltungskosten) Zentrale Kohleheizanlage (Transport der Kohle) Kultur und Soziales
125.500 107.800 125.000
100% 100% n.a.
Zuschüsse zu Dorffesten Hilfen bei der medizinischen Versorgung
102.000 105.000
n.a. n.a.
Löhne für nicht landwirtschaftliches Personal
Kohle und Wasser Wassertürme (Abschreibungen ohne laufende Instandhaltungskosten)
n.a. = nicht aufgeschlüsselt Quelle: Erhebung M. Taurinus.
Diese Zahlen machen deutlich, dass die Übernahme kommunaler Leistungen durch die Betriebe angesichts der desolaten Finanzsituation in den Gemeinden und Kreisen unerlässlich ist, um die seit der Auflösung der Sowjetunion ohnehin nur mehr minimale Grundversorgung im ländlichen Raum nicht völlig zusammenbrechen zu lassen. Die Bereitschaft dazu ist auch deshalb ausgesprochen hoch, weil mit der Übernahme von Verantwortung für die gesamte Gemeinde an sowjetische Legitimitätsmaßstäbe angeknüpft wird, die bis heute nicht bedeutungslos geworden sind; zu Recht weist Clarke (1992: 7) darauf hin, dass zum »öffentlichen Erfolgskriterium« sozialistischer Betriebe auch die »Zahl der errichteten Wohnhäuser, der Kindergartenplätze und Ferienlager, der Sporteinrichtungen, die medi-
6 Hofwirtschaften und Großbetriebe auf dem Weg … | 227 Tabelle 9: Leistungen des Betriebs »Tichij Don« (Voronež) für die dörfliche Infrastruktur im Jahr 2001 (1.000 Rubel entsprachen im Jahr 2001 ca. 36,– EUR) Leistung
Kosten in Rubel/Jahr
Anteil a. d. Gesamtkosten
Kindergärtnerin Teilzeitbeschäftigter in der Ambulanz Fahrer des Krankenwagens Elektrizität und Gas (Verbrauch) für
136.000 104.800 124.000
100% n.a. 100%
Kindergarten (Strom) Gemeindeverwaltung (Strom) Gemeindeverwaltung (Gasverbrauch) Gas und Wasser
115.000 101.500 102.200
100% 100% 100%
Gasleitungen (Instandhaltung) Wasserleitungen (Instandhaltung) Reparaturen (einmalige Kosten 2001)
120.000 190.000
n.a. 100%
Schule Kindergarten Kultur, Soziales und sonstige Kosten
110.000 106.000
100% 100%
Krankenwagen (Kraftstoff und Reparaturen) Zuschüsse zu Dorffesten finanzielle Hilfen bei Beerdigungen Feuerwehr Dorfbanja (russische Sauna)
169.000 107.000 130.000 n.a. 72.000 (2000)
100% n.a. n.a. n.a. 100%
Löhne für nicht landwirtschaftliches Personal
1
n.a. = nicht aufgeschlüsselt Quelle: Erhebung M. Taurinus.
zinische Versorgung und das kulturelle Angebot sowie die Unterstützung der Rentner« zählten. Das bereits erwähnte Kulturhaus in Privol’noe – zugleich kommunale Leistung wie auch ›persönliches Prestigeprojekt‹ des Betriebsvorsitzenden und völlig ohne Rücksicht auf Rentabilitätskriterien errichtet – ist kein Einzelfall. Der Bau eines für ländliche Verhältnisse außergewöhnlich gut ausgestatteten Sanatoriums mit überlokalem Einzugsbereich folgte demselben Schema. Obwohl in Privol’naja von 7.000 Einwohnern nur 900 bis heute im ehemaligen Kolchoz beschäftigt sind, bekennt sich dessen Leiter selbstbewusst und mit Stolz zur Zuständigkeit für alle, die auf dem Gemeindegebiet wohnen:22 22 | Die stark autobiographisch geprägte Dissertationsschrift des Kolchozvorsitzenden von Privol’noe (Kočegura 2001) ist voll von Belegen dafür. Allerdings handelt es sich dabei um eine Quelle, die im Kontext ihrer Entstehungsbedingungen zu lesen ist: Sie wurde als Auftragsarbeit von Moskauer Sozialwissenschaftlern verfasst, die
228 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess »Im Moment ist die Verpflegung für die Schüler ein großes Thema. Da trifft sich dann der Gemeinderat, ich mache einen Vorschlag und wir stimmen ab, wer wie viel bekommt und wie viel bezahlen muss. Schließlich sind es unsere Kinder. Genauso ist es mit dem Dorf – schließlich kommt niemand mit Freizeitangeboten hierher, nichts wird hier angeboten, weil wir hier selbst die Hausherren sind. Ein Kolchoz. Und mehr als 6.500 Einwohner. Die gehören alle zu uns, wir müssen für ihre Bildung sorgen, für Erholungsmöglichkeiten, für ihre Gesundheit und dafür haben wir die Grundlagen geschaffen. Sie müssen erhalten bleiben und wir werden sie auch erhalten. […] Das nimmt der Betrieb auf sich.« (21: 2–5).
Oft sind es nicht aufwändige und teure Großprojekte, sondern im Alltag benötigte Kleinigkeiten, in denen die Abhängigkeit des Lebens in den Dörfern von den Großbetrieben besonders deutlich wird. Ausdruck davon sind die Anliegen, die in Dubrovka in der planërka oder im Anschluss daran im Büro des Vorsitzenden verhandelt wurden: Hier fand sich beispielsweise die Direktorin der Schule ein und bat um Ersatz für einen am Vortag kaputt gegangenen Fußball, ein Kolchozarbeiter beantragte einen Pkw und Benzin, um seine erblindete Großmutter in das 200 km entfernte Gebietskrankenhaus zur Routineuntersuchung zu fahren, eine Melkerin erkundigte sich nach einem Zuschuss, um die Internatskosten einer Spezialschule für ihr behindertes Kind bezahlen zu können usw. In Privol’naja vergibt der Betrieb jährlich Stipendien, um den Jahrgangsbesten der Dorfschule ein Studium zu ermöglichen, und aus einer »Sozialkasse«, in die jeder Beschäftigte 1 % seines Monatseinkommens einzahlt, kann eine anteilsmäßige Finanzierung außerordentlicher Belastungen aufgrund von Krankheiten oder Unfällen beantragt werden. Insbesondere die Tatsache, dass die Betriebe nicht nur nach transparenten Kriterien finanzielle Hilfen gewähren, sondern auch Organisationsund Beratungsfunktionen übernehmen, schafft eine enge Verbindung zur Privatsphäre der Haushalte und Familien. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür war der Anschluss des Dorfes Dubrovka an das nationale Gasnetz in der Zeit meiner Feldarbeiten. Erste Vorüberlegungen dazu stammten aus dem Jahr 1989 und gingen bereits damals ausschließlich auf die Initiative des Kolchozvorsitzenden zurück. Es folgten elf Jahre zäher Verhandlungen, in denen immer wieder neue Anträge ein- und nachgereicht werden mussten, Bedarfsermittlungen durchgeführt und Kostenvoranschläge erstellt wurden, bis im Mai 2000 tatsächlich der erste Spatenstich für eine 7 km lange Pipeline vom Kreiszentrum aus erfolgte. sich dafür lange Zeit in Privol’naja aufhielten, Interviews mit dem Betriebsleiter ebenso wie mit seinen Mitarbeitern führten und den Inhalt der einzelnen Kapitel immer wieder mit dem ›Autor‹ diskutierten. Das Ergebnis ist eine heterogene Mischung aus Autobiographie und Reportage sowie wissenschaftlicher und praktischbetriebswirtschaftlicher Analyse, in der sich zudem Innen- und Außenperspektive überschneiden.
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Doch für die Kolchozleitung war die Angelegenheit mit diesem Erfolg keinesfalls beendet. Denn für die Verlegung des Leitungssystems entlang der Straßen innerhalb der Ortschaft wurde ein fester Kostenbeitrag in Höhe von 3.000 Rubel pro Anrainer verlangt, 23 der nur aufgebracht werden konnte, wenn sich eine ausreichend große Zahl von Haushalten daran beteiligte. Zudem musste in jedem Gebäude aus Sicherheitsgründen für den Heizkessel eine von den Wohnräumen getrennte Kammer errichtet werden, die von einem staatlichen Prüfer abgenommen wurde. Da abzusehen war, dass die Eigenkonstruktionen der Kolchozmitarbeiter den erforderlichen Standards nicht genügen würden, war der Vorsitzende gezwungen, jeden einzelnen Haushalt persönlich aufzusuchen und einen Bauplan auszuarbeiten, zu dessen Einhaltung sich der Haushaltsvorstand verpflichtete. Außerdem musste ein Finanzierungsmodell gefunden werden, das einen Anschluss an das Gasnetz auch für ärmere Familien möglich machte. Also vergab der Kolchoz an jeden Haushalt einen zinslosen Kredit in Höhe von 3.000 Rubel mit einer Laufzeit von drei Jahren, der auch in Naturalien zurückgezahlt werden konnte, und bot alle für den Bau der Kesselkammern nötigen Materialien zu reduzierten Preisen an. Nur auf dieser Grundlage gelang es – bereits im ersten Jahr nach Fertigstellung der Hauptleitung! – 70 % aller Haushalte einen Anschluss an das Gasnetz zu ermöglichen. Die Aufzählung von Beispielen für die Übernahme kommunaler Aufgaben und allgemeiner Dienstleistungsfunktionen durch die Betriebe ließe sich noch lange fortsetzen. Sie belegt, dass die dem Systemtypus »Marktwirtschaft« inhärente Abgrenzung ökonomischer von nicht-ökonomischen Bereichen im ländlichen Raum Russlands so nicht besteht bzw. anderen Trennlinien folgt. Dass für manche Leistungen auch nicht-monetäre Gegenleistungen erwartet werden, verstärkt die Unschärfen – die staatliche Institution »Schule« ist nicht nur auf die Hilfe eines privaten Wirtschaftsunternehmens angewiesen, das die Schulküche unentgeltlich beliefert und sich im Winter um die Heizung kümmert, sondern im Gegenzug dazu auch bereit, das Unternehmen zu unterstützen und die Schüler in der Erntezeit klassenweise zur Arbeit auf die Felder zu schicken. Die Grundidee marktwirtschaftlicher Reformen konterkarierend, hat diese Form der Kooperation in Dubrovka im Vergleich zur sozialistischen Zeit nicht ab-, sondern zugenommen. Eine Folge davon ist, dass der Gemeindevorsitzende gegenüber dem Betriebsleiter als lokale Autorität nur eine Nebenrolle spielt. »Bei uns hat der Kolchozvorsitzende das Kommando, über alles« stellte eine Melkerin klar und fuhr fort: »Was soll das für ein Bürgermeister sein? Der säuft alles was brennt und arbeiten tut der Kol23 | Dabei handelt es sich nur um einen Fixpreis für die Verlegung der Leitungen entlang der Straßen. Für den Anschluss der einzelnen Wohngebäude, eine Kesselkammer und den Heizkessel sowie für die Verlegung von Heizröhren in den Häusern fielen zusätzlich zwischen 10.000 und 50.000 Rubel an.
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chozvorsitzende, dem zehrt es an den Nerven!« (9: 20–18). Dubrovka ist sicherlich ein Extremfall, doch prinzipiell gilt dieselbe Hierarchie auch in anderen Ortschaften. Dass die Dorfbewohner die Übernahme kommunaler und staatlicher Aufgaben befürworten, erscheint selbstverständlich, ist es jedoch aus der formal-ökonomischen Perspektive marktwirtschaftlicher Logik nicht. Denn als Eigentümer der privatisierten Betriebe, denen die Vorsitzenden zur Rechenschaft verpflichtet sind, müsste ihnen eigentlich daran gelegen sein, deren Rentabilität zu steigern. Doch die daraus in ferner Zukunft möglicherweise resultierende Anhebung der Löhne und Dividenden tritt gegenüber den kurzfristigen Notwendigkeiten des Alltagslebens in den Hintergrund. Mit den einfachen Worten: »Niemand hat da etwas dagegen, schließlich hat jeder im Kolchoz Kinder oder Neffen, Ausbildung muss sein und die Kinder müssen im Warmen sitzen« (15: 14–1) beschreibt der leitende Agronom in Dubrovka die bestehende stillschweigende Übereinkunft. In gewisser Weise relativiert dieser Konsens auch die vermeintlich unanfechtbare Machtposition der Betriebsleiter: In manchen Fällen agieren sie weniger autonom als es den Anschein hat; vielmehr entsprechen sie den Forderungen der Dorfbevölkerung, von deren Zustimmung sie bei den jährlichen Hauptversammlungen der Anteilseigner abhängig sind. Wie sehr sich die privatisierten Kollektivbetriebe allerdings auch um kommunale Aufgaben kümmern: das Niveau der sowjetischen Vergangenheit ist in den allermeisten Dörfern vorläufig nicht mehr erreichbar. Der Zielkonflikt zwischen der Rentabilität des Unternehmens und der Übernahme von Verantwortung für das Leben im ländlichen Raum im Allgemeinen ist den Mitarbeitern bewusst und folglich ist ein gewisses Verständnis dafür, dass die Betriebsleiter bemüht sind, die Abgrenzungen schärfer zu ziehen, auch durchaus vorhanden. Zugleich aber rückt durch den Rückzug der Betriebe nach der Privatisierung die Vergangenheit nicht nur in ökonomischer Hinsicht in ein ausgesprochen positives Licht, sondern auch die Bereiche »Kultur« und »Folklore« nehmen in den entsprechenden Schilderungen breiten Raum ein. Filme, Tanzveranstaltungen oder ein dorfeigener Chor sind darin zentrale Bestandteile, und die Formulierung »singend und mit Musik begann der erste Erntetag« wiederholte sich in fast schon stereotyper Gleichförmigkeit in vielen Gesprächen. Häufig wird das dörfliche Kulturhaus in seinem heute desolaten Zustand zum Symbol für den Niedergang des kulturellen Lebens insgesamt: »In genau demselben Zustand [wie der Dorfladen] ist auch unser Kulturhaus. Man müsste ihn [den Betriebsvorsitzenden] zur Seite nehmen und fragen: ›Der Laden wird repariert, aber wer richtet das Kulturhaus her, warum richtest du es nicht her? […] Reparier’ es, zusammen mit dem Gemeinderat, auf geht’s, jetzt wird das Kulturhaus hergerichtet.‹ Es sieht mittlerweile schrecklich aus.
6 Hofwirtschaften und Großbetriebe auf dem Weg … | 231 Und er [der Betriebsvorsitzende] hat es gebaut, das war richtig so, schön, dafür vielen Dank! […] Ja, er hat viel gebaut, aber heute verfällt alles und er kümmert sich nicht darum.« (37: 12–18, Kolchoz-Stallarbeiterin).
Wenn vehement behauptet wird, früher sei alles »100 Mal besser« (31: 5–1) gewesen, oder wenn die Charakterisierung »Zeit des Stillstandes« für die Regierungszeit Breschnews im Rückblick als böswillige Verfälschung erscheint (10: 14–3), dann drückt sich darin eine Verklärung der Vergangenheit aus, die nicht allein in der funktionalen Verfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen begründet liegt. Vielmehr ist sie zugleich als Folge des Verlusts der symbolischen Einbindung in das Identität stiftende größere Ganze der sozialistischen Gesellschaft zu verstehen. In Bereichen, die von ökonomischen Interessen vermeintlich frei sind, wird dies besonders deutlich: Die Teilhabe an einem gemeinsamen kulturellen Leben in Form von Filmvorführungen, Musikdarbietungen und kulturellen Großereignissen ist heute nur noch sehr eingeschränkt möglich wodurch ein Gefühl zunehmender Desintegration erzeugt wird, die eine zutiefst normative Komponente besitzt: Es geht nicht nur ganz allgemein um »Trennung« und »Auflösung«, sondern um das Gefühl, von der »städtischen Zivilisation« abgekoppelt zu werden, deren Ausbreitung auch auf dem Land ein zentraler Bestandteil des sowjetischen Entwicklungsideals war. Zwar war man von diesem Ziel in der Realität weit entfernt geblieben. Aber in einem normativen Sinn hatte »Entwicklung« damit ihre Richtung bekommen: vom unzivilisierten Leben auf dem Land hin zur kultivierten Lebensweise der Städte. 24 Miterleben zu müssen, wie die Differenzen nun wieder größer werden, bedeutet deshalb für die Dorfbewohner weit mehr als vorgeblich objektive und quantifizierbare Indikatoren wiedergeben, mit denen »Lebensstandard« üblicherweise gemessen wird. Gerade die Anwesenheit eines Fremden rückte dieses Thema immer wieder ins Blickfeld: Davon ausgehend, dass sie auf einen Besucher aus der Stadt primitiv und kulturlos wirken müssten, begannen viele Befragte darzulegen, wie wenig normal ihre momentane Lebensweise auch für sie selbst ist. Eindringlich und ausführlich betonte beispielsweise ein Betriebsleiter:
24 | Gänzlich verschont vom Niedergang der »Kultur« und der Rückkehr ihres Antipoden, der »rohen Natur«, waren nach Ansicht der ländlichen Bevölkerung freilich auch die Städte nicht geblieben. Nachdem vom Staat »nichts mehr zu erwarten« war, begann sich nun in ganz Russland eine Gesellschaft zu entwickeln, in der »der Stärkere überlebt, wie in der Biologie« (12: 23–3, Dorflehrerin). Sozialer Aufstieg – fast immer verbunden mit dem Umzug in eine Stadt – erscheint heute also noch schwieriger als in der sowjetischen Zeit, denn in der Position des »Stärkeren« sehen sich die ehemaligen Kolchozarbeiter aus gutem Grund nicht.
232 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess »Mascha, Mascha, Mascha, 25 die Menschen hier wollen genauso leben wie in Moskau, genau so! Ich habe mit Peter darüber schon gesprochen: Als die Perestroika begann, hatte hier jeder die Möglichkeit, in Urlaub zu fahren, nach Kislovodsk, in die Berge, im Frühling Ausflüge zu machen, zum Baden zu fahren. Wer sind wir? Weshalb sollen wir schlechter sein? […] Wir konnten ins Restaurant gehen, ich selbst, nicht nur ich, jeder Kolchoznik hatte die Möglichkeit, in ein Restaurant zu gehen. Jeder Kolchoznik! […] Wer sind wir eigentlich? Sind wir schon solche Hinterwäldler, dass wir nur melken können und das war’s dann? Nein! […] Nur, damit ihr nicht denkt, im Dorf sind alles Knechte, nein, das sind sie vielleicht heute, aber früher haben wir anders gelebt!« (20: 6–5ff ).
In der Nicht-Teilhabe am kulturellen Leben im weitesten Sinn wird am anschaulichsten deutlich, wie eng die Beschränkung auf das Lokale mit dem Gefühl der Unzivilisiertheit verbunden ist. Der Besuch eines Restaurants oder Festes wird dabei ebenso zur »Kultur« gezählt wie die Verfügbarkeit von und das Interesse für Informationen über nationale Belange und internationale Politik. In der Antwort eines jungen Wehrdienstleistenden aus einem Kolchoz auf meine Nachfrage: »In welchem Sinn meinst du, dass sich die Gemeinschaft hier im Dorf im Lauf der 1990er Jahre verändert hat?« verbinden sich wiederum die beiden Aspekte »Abgeschottetheit« und »Kulturlosigkeit«: »Verändert? Sie hat sich extrem verändert! Erstens: Information. Viele erhalten heute weniger Informationen, wegen ihrer finanziellen Lage, das heißt weil sie kein Geld haben, Zeitungen zu abonnieren. Weißt du, wie viele Zeitungen ich früher bekommen habe? Heute abonnieren wir höchstens noch zwei, damit wir wenigstens noch irgendetwas mitbekommen! Früher bekamen alle Zeitungen, man hat sich für das Leben interessiert, irgendwie war die Gemeinschaft kultivierter, jetzt, wie soll man das erklären, das ist eine Informationsblockade. […] Früher hat man sich vielseitiger interessiert, was im Land so vorgeht und nicht nur bei sich. Jetzt kümmert man sich mehr darum, was zu Hause passiert oder, na, da im Vorgarten, als in Russland. […] Ehrlich, die Leute waren früher wirklich kultivierter, viel kultivierter!« (8: 10–3). 26
Die weitgehend subsistente Wirtschaftsweise und ein Niedergang des kulturellen Lebens sind aber keinesfalls die einzigen Bereiche, in denen sich 25 | Die Anrede gilt Dr. M. Savoskul von der Geographischen Fakultät der Staatlichen Universität Lomonossov in Moskau, die mich bei diesem Interview begleitete und genau wie ich als Repräsentantin städtischer Kultur wahrgenommen wurde. 26 | Im selben Ort schätzte der Betriebsvorsitzende in einem anderen Interview, dass die Zahl der abonnierten Zeitungen und Zeitschriften nach dem Ende der Sowjetunion um ca. 90 % zurückgegangen ist (14: 15–1).
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manifestiert, was Alekseev/Zubarevič (1999: 86) eine »Abkapselung des Alltagslebens innerhalb der Grenzen der eigenen Siedlung« nennen. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch der Rückgang aller Formen räumlicher Mobilität. So hatte die überwältigende Mehrheit der Dorfbewohner in dem von Alekseev/Zubarevič (1999: 86) untersuchten Kreis im Gebiet Kostroma seit über fünf Jahren keine Fahrt mehr in die Gebietshauptstadt unternommen und die Klage über den schlechten Zustand des öffentlichen Personennahverkehrs war auch in meinen Interviews allgegenwärtig; im Ort Dubrovka musste die Busanbindung an das Kreiszentrum auf drei Fahrten täglich reduziert werden und in Privol’naja wurden die Verbindungen nach Krasnodar und Rostov mittlerweile ganz eingestellt. Erschwerend kommt eine deutliche Erhöhung der Postgebühren hinzu, so dass für Transporte von Gegenständen das Verschicken keine Alternative ist. Die Leiterin des Postamtes in Dubrovka behauptete – vermutlich etwas überzogen –, 40 Pakete am Tag seien früher keine Seltenheit gewesen, heute würde oft nur noch eines pro Monat aufgegeben. Neben der Schwierigkeit, zu alltäglichen Erledigungen in das Kreiszentrum oder die Gebietshauptstadt zu gelangen, hinterlässt heute vor allem die Tatsache, dass die in der Sowjetunion staatlich organisierten Urlaubsreisen nicht mehr möglich sind, das Gefühl, von der Umwelt abgeschottet zu sein. Sätze wie: »Früher konnte man von einem Monatsgehalt die gesamte Sowjetunion bereisen, heute komme ich damit nicht einmal mehr in die nächste Stadt« (10: 3–7) oder: »Früher sind wir öfter Bekannte besuchen gefahren, das ist heute nicht mehr drin« (12: 12–6), waren in den Interviews häufig zu hören. In den Erinnerungen eines ehemaligen Mitglieds der Kommunistischen Partei aus Privol’naja zu diesem Thema kommt zum Ausdruck, dass auch das Reisen nicht selten im Kontext von »Bildung«, »Fortschritt« und »Kultur« steht: »Ich war Kommunistin, bei den Parteiorganen hier, aber aus Geldnot bin ich jetzt hier eingesperrt, jetzt fahre ich nirgendwo mehr hin, nicht auf Parteiversammlungen – da habe ich damals außerordentliche Menschen getroffen, ich habe Kondratenko und den Kosmonauten Sevast’janov und Glotov, 27 der jetzt in der Duma sitzt, getroffen, ganz persönlich. Ich bin auf Konferenzen gefahren, auf Versammlungen, auf Parteisymposien und jetzt, wie man so schön sagt: ›Weder Kleider noch Schuhe‹.« (26: 3–10).
Bei großen Teilen der Bevölkerung in abgelegenen Regionen bleibt das Gefühl zurück, heute »in einer Art Pferch zu leben« (20: 5–7), wie es der Betriebsvorsitzende aus Dubrovka drastisch ausdrückte. Dieses Gefühl prägt das Verhältnis zum Staat und seinen gewählten Vertretern, die für die 27 | Nikolaj I. Kondratenko wurde 1996 Gouverneur (glava administracij) der Region Krasnodar, Vitalij I. Sebast’janov war Kosmonaut und wie auch Sergej A. Glotov seit 1995 Dumaabgeordneter.
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Vernachlässigung des ländlichen Raums verantwortlich gemacht werden. Man wartet vergeblich auf Hilfe oder auch nur auf Beratung von außen, doch »zu uns kommt niemand, weder aus Moskau noch aus Brjansk, selbst Spezialisten aus unserem Bereich kommen nicht« (20: 5–7, Kolchozvorsitzender), und sieht sich – wie die im zweiten Abschnitt dieses Kapitels zitierte Buchhalterin – als Objekt und Opfer eines Experiments der Obrigkeit. Nicht »Partizipation« und »Interessenvertretung« als Mechanismen der Integration, sondern »Willkür« und »Korruption« kennzeichnen in den Augen vieler ehemaliger Kolchozarbeiter das neue politische System, in dem Präsident Putin als Ausnahmeerscheinung gilt: »Die Führung arbeitet in Russland nicht für die Bevölkerung, sondern nur für sich selbst. Egal wer, in der Duma, im Föderationsrat, im Weißen Haus, 28 sie arbeiten nur für sich. Die Menschen interessieren sie überhaupt nicht, sie denken nur darüber nach, wie sie sich die eigenen Taschen voll stopfen können. Nimm Tschubais, 29 die Gasversorgung. Wenn Tschubajs will, dann stellt er uns eben den Strom ab. Wenn er sich das so denkt, dann dreht er den Hahn zu.« (5: 12–6, Kolchoz-Feuerwehrmann).
In der aus dieser Wahrnehmung resultierenden Ablehnung der Demokratie sowie der politischen Eliten und damit des derzeitigen staatlichen Systems insgesamt erhält die Abschottung dörflicher Gemeinschaften, die ansonsten passivisch als »Abgekoppelt-Werden« beschrieben wird, eine aktive Komponente: »Der Staat hat das Dorf vergessen, also vergiss’ auch den Staat, das sagen heute viele« lautete das bereits zitierte Resumée eines Jugendlichen in Dubrovka. Srubar (1998: 77) hebt in einer modellhaften Gegenüberstellung des sozialistischen und des liberalen Gesellschaftsmodells hervor, dass sich beide unter anderem durch diametral entgegen gesetzte Perspektiven auf die individuelle und gesamtgesellschaftliche Zukunft unterscheiden: Im Liberalismus als gesellschaftlichem Endzustand resultiert jede Entwicklung zum Positiveren aus der für individuelles Fortkommen offenen Zukunft der einzelnen Gesellschaftsmitglieder, während im Sozialismus eine noch zu verwirklichende gesamtgesellschaftliche Utopie faktisch mit extrem eingeschränkten Möglichkeiten individueller Zukunftsplanung einherging. Transformation hätte in diesem Sinn die Eröffnung neuer Gestaltungsspielräume für jeden Einzelnen bedeuten müssen, doch davon ist im ländlichen Raum in Russ28 | Bezeichnung für das Parlamentsgebäude in Moskau. 29 | Liberaler Reformpolitiker, ehemals Regierungsmitglied, heute Leiter des halbstaatlichen (52 % der Aktien befinden sich in staatlicher Hand) Energiekonzerns RAO EES (Tompson 2005: 4). Zum Image von RAO EES bei der russischen Bevölkerung vgl. Forschungsstelle Osteuropa/Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (2005b).
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land bislang nichts zu spüren. Vielmehr hinterließen die Privatisierung der Kollektivbetriebe und der gleichzeitige Rückzug des Staates ein resigniertes Gefühl zeitlich-räumlichen Isoliert-Seins und individueller Abhängigkeit von den Betriebsvorsitzenden, die als einzige über die notwendigen Ressourcen verfügen, um die Teilhabe der lokalen Gemeinschaften an einer breiteren Öffentlichkeit wenigstens in Grundzügen aufrecht zu erhalten.
Macht und Verantwortung Ob und in welcher Weise die Betriebsleiter nicht nur im ländlichen Raum, sondern auch in den Städten die Rekonfiguration ihrer Handlungsressourcen wahrnehmen und nutzen, ist eine der Schlüsselfragen der Transformationsforschung. Anschaulich kommt die in dieser Hinsicht in vielen Arbeiten vorherrschende Widersprüchlichkeit in einer Rezension des von Hanson/Bradshaw (2000) herausgegebenen Sammelbandes »Regional Economic Change in Russia« zum Ausdruck (Mitchnek 2002). Die Rezensentin möchte den Leser einerseits »warnen, dass trotz der spezifischen Charakteristika und der Kombination von unterschiedlichen Persönlichkeiten in Führungspositionen, die regionale Entwicklungen prägen, eine wachsende Zahl von Arbeiten die Ähnlichkeit des Verlaufs politischer Transformationsprozesse überall in Russland nahe legt« (Mitchnek 2002: 136), hebt andererseits aber zugleich hervor, dass die Maßnahmen ökonomischer Restrukturierung selbst innerhalb von Regionen gegensätzliche Entwicklungen zum Ausdruck bringen. Im Folgenden neigt sie dann klarer der Akteurs-Perspektive zu, kritisiert den Sammelband für die Überbetonung struktureller Erklärungen angesichts einer wachsenden Zahl von Hinweisen auf die bedeutende Rolle von Einzelpersönlichkeiten und fordert abschließend »weitere Belege, um mich davon zu überzeugen, dass Struktur über Handlung dominiert« (Mitchnek 2002: 137). Wo diese Frage in den vorhergehenden Abschnitten der vorliegenden Arbeit berührt wurde, habe ich sie bewusst offen gehalten. Einerseits deuten die Lorenz-Kurven auf strukturelle Abhängigkeiten hin (»die Reichen werden immer reicher«), andererseits sind kleinräumig divergente Entwicklungen ein Hinweis auf den dominanten Einfluss von Einzelpersönlichkeiten; einerseits war von einer manchmal fast unbegrenzt erscheinenden Machtfülle der neuen Betriebsleiter die Rede, andererseits wurde betont, dass vermeintliche Autonomie häufig die Abhängigkeit vom Konsens der Dorfbevölkerung verdeckt, auf deren Zustimmung die ehemaligen Kolchozvorsitzenden bei den jährlichen Hauptversammlungen der Anteilseigner angewiesen sind; einerseits standen hinter vielen der bislang beschriebenen Entwicklungen der mehrfach erwähnte Rückzug des Staates aus dem ländlichen Raum und ein daraus resultierendes Machtvakuum, andererseits wird dieses Vakuum keinesfalls zwangsläufig von den Betriebsvorsitzenden gefüllt. Auch hier war der Eindruck der »Widersprüchlichkeit« vermutlich nicht ganz zu vermeiden.
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Ein Problem bei allen auf der Mesoebene angesiedelten Studien zur Regionalentwicklung liegt darin, dass hier auf Indikatoren und aggregierte Daten zurückgegriffen wird, wobei »Kontinuität« oder »Einheitlichkeit« meist als Beleg für die Dominanz von Struktur verstanden wird, während »Veränderung« oder »Divergenz« eher als Hinweis auf die Handlungsmacht von Akteuren gilt. Dass – wie es in Dubrovka tendenziell der Fall ist – Betriebsleiter, die über nicht unerhebliche Gestaltungsspielräume verfügen, bewusst und im Einvernehmen mit der Dorfgemeinschaft eine Entwicklungsvariante verfolgen, die sich zumindest im Spiegelbild üblicher Indikatoren als »strukturelle Kontinuität« darstellt, gerät damit leicht aus dem Blickfeld. Im Folgenden steht deshalb nicht die Frage nach Stabilität oder Wandel im Vordergrund, sondern es wird aufgezeigt, über welche Handlungsressourcen die Betriebsleiter verfügen und wie sie diese in konkreten Entscheidungssituationen nutzen können. In der Frühphase der Reformen bestanden weithin Bedenken, dass die Kollektivbetriebe im Zuge der Privatisierung von »Triumviraten« (Ioffe/ Nefedova 1997: 153) aus Vorsitzenden, leitenden Ökonomen und Agronomen übernommen werden könnten. Dass dieses Szenario – in gewisser Weise das negative Gegenmodell zur anfangs favorisierten kleinbäuerlichen Struktur – die schlimmsten Befürchtungen hervorrief, ist verständlich. Angesichts der umfassenden Abhängigkeit des Lebens im ländlichen Raum von den Agrarunternehmen und ihrer territorialen Monopolstellung, die einen Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber faktisch unmöglich macht, wären die Arbeiter und Angestellten in den Betrieben den neuen Eigentümern dann bedingungslos ausgeliefert gewesen. In Emel’janovo und in Put’ Il’iča hat es derartige Bestrebungen seitens der ehemaligen Kolchozvorsitzenden niemals gegeben. Der Betriebsleiter von Privol’noe hingegen begann nach der Ausgabe der Boden- und Vermögensanteilsscheine an der ›internen Börse‹ weitere Besitztitel zu erwerben. Sein prozentualer Anteil an der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche blieb jedoch bis heute marginal. Ihm – ebenso wie seinem Stellvertreter, dem leitenden Ökonomen und dem Chefbuchhalter – gelang es zwar, jeweils ca. 50–70 Bodenanteile entsprechend einer Fläche von ca. 300 ha Land zu übernehmen (Nikulin 2003: 21), doch dann geriet der Akkumulationsprozess ins Stocken. Sicherlich wäre es möglich gewesen, den bis dahin extrem niedrigen Preis – für einen Hektar Land in Privol’naja, wo die Bodenfruchtbarkeit durchwegs exzellent ist, wurden nur zwischen 15 und 25 $ bezahlt! – anzuheben30 und somit weitere Eigentümer zum Verkauf zu bewegen, doch es gab einfachere Möglichkeiten, das eigene Einkommen 30 | Eigentlich hätte sich der Preis natürlich aus Angebot und Nachfrage ergeben müssen; da Landtransaktionen aber vom Betriebsvorstand genehmigt werden mussten, legte dieser entgegen den Bestimmungen der Privatisierungsgesetzgebung auch gleich den Preis fest.
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zu steigern als die Naturalpacht zu erhöhen und damit zwangsläufig auch alle anderen Landbesitzer partizipieren zu lassen. Zudem dürften auch moralische Skrupel eine gewisse Rolle gespielt haben. »Ich hätte das alles zu meinem Eigentum machen können, aber um so etwas zu tun, müsste man wirklich völlig gewissenlos sein« (Nikulin 2003: 21),31 erläuterte der Betriebsleiter, während sein Stellvertreter diese Skrupel folgendermaßen umschrieb: »Ich hätte drei Mal so viele Anteile kaufen können, aber es ist mir peinlich, das gleich jetzt zu tun, besser Schritt für Schritt. Als ich 100 Hektar hatte, kamen mein Vater und meine Mutter zu mir und fragten: ›Junge, brauchst du wirklich so viel Land? Dafür können sie dich nach Sibirien schicken!‹ Kannst du dir vorstellen, dass das dein eigener Vater und deine Mutter sagen? Wie redet man dann erst im Dorf über dich?« (Nikulin 2003: 21).
Ihre Anteile verkauft hatten fast nur Personen, die unbedingt Geld benötigten, etwa für die Ausbildung ihrer Kinder oder für eine Hochzeit, aber auch viele Alkoholiker. Die meisten anderen lehnten die Privatisierung zwar ab und betonten in den Interviews mehrfach, die Bodenanteile seien wertlos und sie könnten darauf gut verzichten, sahen letztlich darin aber doch eine Art Sicherheit für die Zukunft, wie es eine Angestellte des betriebseigenen Sanatoriums in Privol’naja beschrieb: »Ich denke, dass ich meinen Bodenanteil nie abgebe, auch wenn es mir schlecht geht. Egal, auch wenn er nichts wert ist, ich habe ja keine Ahnung, wie mein Leben so weitergeht. […] Ich glaube einfach, das ist so eine Art Reserve, die darf man nicht einfach weggeben, soll das ruhig einfach so bleiben. Ich komme jetzt gut ohne aus, bin gut ohne ausgekommen und kann so leben, aber ich weiß nicht, was meine Kinder erwartet. Das ist wie eine unantastbare Reserve, verstehen Sie das?« (36: 18–5).
Die Entscheidung, seine Anteile zu behalten, garantierte jedoch nicht nur eine vage Versicherung für die Zukunft, sondern besaß auch ganz konkrete Gründe: Aus den Boden- und Vermögensanteilen erwuchs zwar kein formal-juristischer Anspruch auf einen Arbeitsplatz, aber ein Stimmrecht auf der Jahreshauptversammlung besaßen nur Miteigentümer. Jeder gekündigte Anteilseigner konnte sich dort öffentlich zu Wort melden und protestieren; die Solidarität der übrigen Beschäftigten, für die der Status als Miteigentümer und das Recht auf Arbeit sehr wohl zusammenhingen, war ihm sicher. Anteilseignern konnte der Betriebsleiter folglich nur in begründeten Ausnahmefällen kündigen, da er 31 | Dieses und einige der folgenden Zitate sind Interviews aus Privol’naja entnommen, die nicht von mir selbst, sondern von Dr. A. Nikulin geführt wurden und in der angegebenen Quelle im Wortlaut zitiert sind.
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sonst – im schlimmsten Fall – seine eigene Wiederwahl gefährdet hätte. Eine Nebenfolge dieser informellen Bindung des Arbeitsplatzes an den Besitz von Bodenanteilen war, dass die ortsansässigen privatbäuerlichen Betriebe einen unverhältnismäßig hohen Pachtzins anbieten mussten, um Land zu erhalten, da die Vergabe des Bodens an einen Privatbauern für einen Mitarbeiter des Großbetriebs fast unweigerlich eine Kündigung nach sich zog.32 Echte Eigentumsrechte spielten als Fundament der Macht der Betriebsvorsitzenden also entgegen einem gängigen Stereotyp in keinem der von mir untersuchten Betriebe die entscheidende Rolle. Vielmehr könnte wie bereits in der sowjetischen Zeit von einem »zugangsbasierten Macht- und Verteilungssystem« gesprochen werden, in dem die berufliche Position als ›Manager‹ die Verfügungsgewalt über Eigentum konstituierte, das man eigentlich nur treuhänderisch – früher im Auftrag des Volkes bzw. des Staates, heute für die Anteilseigner – zu verwalten hatte. »Bei uns gibt es keine Tradition privaten Eigentums. […] In unserer Gesellschaft hängt alles von deiner Position und der Macht deines Mandats ab«, zitiert Humphrey (2002b: 144f) einen Landwirtschaftsberater in Burjatien und die Vorgehensweise staatlicher Organe unter Präsident Putin gegen einige der ›Oligarchen‹ scheint die unveränderte Gültigkeit dieser Feststellung zu belegen. Da angesichts der geringeren Löhne und der schlechteren allgemeinen Versorgungslage im ländlichen Raum die Abhängigkeit von den Ressourcen der privatisierten Kollektivbetriebe heute wesentlich größer ist als früher, hat auch die aus ihrer Verfügungsgewalt erwachsende Machtposition der Betriebsleiter sogar noch an Gewicht gewonnen. Eine Angestellte des Postamtes in Dubrovka schilderte anschaulich, wie d‡s Angewiesensein auf die Agrartechnik des Kolchoz latent wie eine ständige Drohung wirkt: »Alle haben Angst, denn wenn das [Kritik] nach außen dringt – alle fürchten sich, etwas zu sagen. Wenn das bekannt wird, dem Vorsitzenden zu Ohren kommt, puh, ›du hast da das und das über mich gesagt‹, er wird sauer und wenn du das nächste Mal wegen irgendetwas kommst, heißt es: ›Bekommst du nicht.‹ ›Ich brauche ein Auto!‹ – ›Gibt es nicht.‹ Es ist nicht so, dass er dich beleidigt oder beschimpft – er gibt dir einfach nichts.« (10: 21–21).
Dieselbe Angst, die hier dafür verantwortlich gemacht wird, dass niemand laut Kritik übt, bewegte beispielsweise auch die Rentner in Dubrovka dazu, weiterhin bei der Rübenernte zu helfen: »Wir gehen, auch wenn wir schon in Rente sind und obwohl es eine Qual ist, wir gehen. Ansonsten bekommen wir den Mähdrescher nicht mehr.« (19: 7–11, Rentnerin). Doch obwohl diese Situation durchaus typisch ist und sich noch viele ähnlich gelagerte Fälle 32 | Zudem musste dazu die Fläche erst in natura ausgewiesen werden, was aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen in Privol’naja, auf die weiter unten noch genauer eingegangen wird, nur schwer möglich war.
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anführen ließen, beginnt sich in den dörflichen Gemeinschaften mit dem »Privateigentum« neben der »Position« schrittweise ein zweites hierarchisierendes Differenzierungsprinzip zu etablieren, das noch weitgehend neu ist, wie eine Angestellte in der Kolchoz-Kantine von Privol’noe bestätigte: »Es ist, wie wir es früher in der Schule gelernt haben. Das kannten wir nur aus Büchern, dass Reiche sich mit Armen nicht angefreundet haben, sie verachteten und die Armen verspotteten. Genau diese Unterschiede gibt es jetzt. Genau dasselbe. Die Reichen gehen den Armen aus dem Weg, es ist schon so weit gekommen, dass man mit den Kindern der Armen nicht mehr spielt.« (31: 5–9).
Hier wirkt nicht »Verfügungsgewalt«, sondern echtes Privateigentum gewinnt symbolische Macht als Distinktionsmittel und dient dazu, neue soziale Grenzen zu ziehen. Sie kommen insbesondere dort zum Vorschein, wo die Einkommensunterschiede zwischen der Betriebsleitung und den einfachen Arbeitern und Angestellten extrem groß sind: »Obwohl er [der Kolchozvorsitzende] auch schon früher reich war und Geld hatte, aber irgendwie hat er sich diskret verhalten, weißt du, er hat es nicht raushängen lassen, das war keine Beleidigung. Heute aber, die Reichen, weißt du, er macht einen Vorwurf an dich daraus, er beleidigt dich. […] Er erniedrigt dich, so: ›Wer bist du schon, ich bin was, aber du?‹« (37: 12–6, Kolchoz-Stallarbeiterin).
Doch während die in Partei und Staat verwurzelte autoritative »Macht über Menschen« im Vergleich zu einer nicht eigentums-, sondern positionsbestimmten allokativen »Verfügungsmacht über Dinge« an Bedeutung verloren hat, die Grenzziehungen sich in Fluss befinden und der Ausgang vieler Konflikte und Rechtsstreitigkeiten deshalb unkalkulierbar geworden ist, etabliert das neue privatwirtschaftliche System auch neue autoritative Ressourcen. In Privol’noe bot die Möglichkeit des Protestes auf der Jahreshauptversammlung zwar einen gewissen Schutz vor Kündigungen, doch prinzipiell war gemäß marktwirtschaftlichen Spielregeln mit der Position eines Betriebsleiters selbstverständlich auch das Recht auf Entlassung von Mitarbeitern verbunden. Da sich eine Begründung dafür gegebenenfalls immer finden ließ, war die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, allgegenwärtig und wie Abb. 17 zeigt auch durchaus begründet; ein Hinweis darauf fehlte in fast keinem Interview: »Nehmen wir mal an, ich fliege aus dem Kolchoz raus. Ich kann nirgends sonst hingehen. Die Entlassungen sind in vollem Gange. Bei uns im Stall haben 47 Personen gearbeitet, jetzt sind es noch 32. 12 oder 15 sind entlassen worden, wegen kleinster Kleinigkeiten!« (24: 3–7, Rentnerin, bis vor kurzem Stallarbeiterin).
240 | Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess »Die Menschen haben Angst vor ihm [dem Betriebsleiter]. Wenn ich jetzt den Mund aufmache, dann – wie man so schön sagt – dann nimmt er meine Hacke und meinen Spaten einfach nicht mehr. […] Erst kürzlich war Versammlung, der letzte, der da eine Frage gestellt hat: ›Warum ist das Getreide so teuer?‹ Er [der Betriebsleiter] hat geantwortet: ›Ich habe eine Sprechstunde, am Freitag bin ich zu sprechen, komm’, wir besprechen das unter vier Augen.‹« (37: 1–6, Kolchoz-Stallarbeiterin).
Die unklare rechtliche Situation, eine schlecht funktionierende Gerichtsbarkeit und fehlendes Vertrauen in die Neutralität der Gerichte sind entscheidende Voraussetzungen dafür, dass es einigen Unternehmensleitern gelingt, wie mit hoheitlichen Rechtsbefugnissen ausgestattete Landeigentümer zu agieren. Rentner beispielsweise, die keine Kündigung mehr zu fürchten brauchten und deshalb auf den Jahreshauptversammlungen ein wesentlich schwerer zu kontrollierendes Unruhepotenzial darstellten, wurden in Privol’naja beim Verschicken der Einladungen mit der Zugangsberechtigung und den Abstimmungsunterlagen einfach ›vergessen‹. Der Zusammenbruch der repräsentativ-offiziellen Sphäre sowjetischer Prägung, in der Partei- und Polizeiapparat für die Einhaltung bestimmter Spielregeln gesorgt hatten, wird dementsprechend von vielen Kolchozarbeitern auch nicht als Befreiung von Repression, sondern primär als Verlust von Institutionen zur Kontrolle der Betriebsleiter wahrgenommen. Damit einher geht wiederum das bereits mehrfach angesprochene Gefühl des Zerfalls nationaler Integration und der Abhängigkeit von der Willkür lokaler Eliten: »Bei uns im Land ist es jetzt so unklar, in Moskau kommt niemand zurecht und unser Vorsitzender findet sich, sozusagen, selbst zurecht. Wenn es jemandem gut gehen soll, dann heißt das, dass es ihm gut gehen muss. Wenn der Vorsitzende sagt, dass es jemandem schlecht gehen soll, dann heißt das, dass es dem auch schlecht gehen wird. So sieht es aus, so ein System haben wir hier jetzt.« (26: 2–3, Kolchozarbeiterin).
Die Erzählung einer Kolchozarbeiterin, die in der Zeit vor der Privatisierung aus persönlichen Gründen von der Obdachlosigkeit bedroht gewesen war, brachte demgegenüber die Bedeutung externer Appellationsinstanzen in der sowjetischen Zeit klar zum Ausdruck: »Ich habe den Kolchoz um Hilfe gebeten und nur Absagen bekommen, ich bin in die Gemeindeverwaltung gegangen […] und bin aus dem Büro gejagt worden. Was blieb mir anderes, als einen Brief an die regionalen Parteiorgane in Krasnodar und nach Moskau an die Zeitung ›Leben auf dem Land‹ zu schreiben? Dann, erst dann, es gab Druck aus Moskau und von den Parteiorganen auf den Gemeinderat und auf den Kolchozvorsitzenden, von zwei Seiten. Dann erst hat man mir geholfen ein Häuschen zu kaufen, damit ich nicht auf der Straße lande.« (26: 10–2).
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Selbstverständlich wird hier – zur Sowjetzeit – kein System transparenter und einklagbarer Rechte beschrieben und einige der Zitate in den vorhergehenden Abschnitten verdeutlichen unmissverständlich, dass man sich in der sozialistischen Zeit staatlicher Willkür in vieler Hinsicht schutzlos ausgeliefert sah. Doch zugleich bildeten Partei und Staat für die Kolchozarbeiter einen wichtigen Gegenpol zur Macht der Kolchozvorsitzenden, dessen Präsenz nicht nur im Fall von offenen Konflikten, sondern auch in ganz alltäglichen Interaktionssituationen Spuren hinterließ. »Damals bestand auch im Bereich ›Maschinenpark‹ eine Parteiorganisation, die die Kolchozleitung im Zaum hielt« (32: 6–1), beschrieb beispielsweise ein ehemaliger Lkw-Fahrer die Situation vor dem Ende der Sowjetunion und eine Kantinenangestellte stellte im Vergleich zu den 1970er Jahren fest: »Früher haben wir kein Blatt vor den Mund genommen, niemand hatte Angst, man hat seine Arbeit nicht verloren, denn irgendwo fand man schon ein Gesetz, aber heute gibt es keine Gesetze mehr.« (31: 4–13).
Wie sehr sich der Betriebsleiter von Privol’noe der Tatsache bewusst ist, dass seine Machtposition im Kreis der Dorfbewohner unanfechtbar ist, zeigen immer wieder auch gezielte Provokationen seiner Mitarbeiter wie beispielsweise in folgender Episode: »Mein Betrieb ist doch wie ein Betrieb im Westen, was meinst du?« fragte er eines Tages einen Moskauer Soziologen, der im Dorf Privol’naja arbeitete. Dieser antwortete ihm, dass es doch einen entscheidenden Unterschied gebe: Zwar bewundere er die Originalität der Reformen und den Erfolg der technischen Experimente, aber einer der wichtigsten westlichen Werte, nämlich die Freiheit des Individuums, sei bislang nicht verwirklicht. Und er fügte hinzu: »Lenin hat zwei Wege zum Agrarkapitalismus unterschieden: den preußischen und den amerikanischen. Der amerikanische Weg basiert auf der freien Arbeitskraft einzelner Bauern in einer demokratischen Gesellschaft, während der preußische Weg die Kontrolle ländlicher Gemeinschaften durch Großgrundbesitzer in einer konservativen Gesellschaft bedeutet. Sie scheinen eher den preußischen Weg einzuschlagen.« Der Betriebsleiter überlegte, antwortete darauf jedoch nicht unmittelbar, sondern griff dieses Gespräch Wochen später während eines abendlichen Erntefestes wieder auf, als er seine Mitarbeiter fragte: »Hey, habt ihr schon von den jüngsten Erkenntnissen der Agrarsoziologie gehört? Wisst ihr, dass es zwei Wege der Agrarentwicklung gibt, den preußischen und den amerikanischen? Nun, der amerikanische Weg hat etwas mit Demokratie und freien Bauern zu tun. Wollt ihr das wirklich? Ihr braucht keine Freiheit! Jelzin hat euch Freiheit gegeben, ich habe euch Freiheit gegeben, aber ihr nutzt sie nicht. Also ist der amerikanische Weg nichts für euch, ihr bekommt die preußische Variante. Habt ihr eine Vorstellung, was das heißt? Natürlich nicht! Nun, das ist ganz einfach: Ich werde hier Großgrundbesitzer und ihr alle seid dann meine Leibeigenen!« (Nikulin 2002: 23f).
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Der Vergleich mit der Rolle eines Großgrundbesitzers bringt anschaulich das Vertrauen des Betriebsleiters in seine autoritativen und allokativen Ressourcen zum Ausdruck; dass er darüber auch offen sprechen kann, ohne missbilligende Kommentare oder gar Kritik zu ernten, zeigt, wie begründet dieses Vertrauen ist. Eine Anekdote,33 die er selbst sehr gerne immer wieder mit humorvoller Selbstironie, jedoch nicht ohne warnenden Unterton erzählt, verweist auf einen weiteren wichtigen Aspekt der Immunisierung gegen Proteste oder gar den Ungehorsam seiner Angestellten: »Stalin fordert eine Gruppe von Soldaten auf: ›Heute gehen alle nach Luminium graben, Abmarsch!‹ Einer meldet sich und entgegnet: ›Es heißt nicht ›Luminium‹, sondern ›Aluminium‹.‹ Daraufhin Stalin: ›Wer hat das gesagt? Vortreten! Sie gehen heute in die Eisenerzgrube und alle anderen graben nach Luminium.‹« Was wie ein beliebig austauschbarer und zufällig herausgegriffener Witz erscheinen mag, gewinnt vor dem Hintergrund konkreter Interaktionssituationen in Privol’naja exemplarische Bedeutung. Hier war immer wieder der Anspruch des Betriebsleiters zu spüren, in praktisch allen Lebensbereichen die Definitionsmacht über »richtig« und »falsch« auszuüben. Die Anekdote ist allerdings insofern irreführend, als er nicht einfach nur auf seinem Recht beharrte, sondern sich konkreter argumentativer Strategien bediente, denen seine Mitarbeiter nichts entgegenzusetzen wussten. Diese Strategien basierten zu einem erheblichen Teil auf seiner höheren Schulbildung sowie auf seinem im Vergleich zu den meisten anderen Dorfbewohnern weiteren Erfahrungshorizont; strukturell gleiche Argumentationsmuster waren auch bei den Leitern der anderen von mir untersuchten Betriebe anzutreffen, wurden dort jedoch nicht so scharf und provozierend verwendet wie in Privol’naja: – »Der Westen«/Marktwirtschaft: Einen der wichtigsten Referenzrahmen für den Betriebsleiter stellte die »westliche Marktwirtschaft« oder einfach nur »der Westen« dar. Obwohl die Errungenschaften des sozialistischen Systems sowie der vorrevolutionären russischen Kultur in den Interviews allseits präsent waren, wurden doch niemals ernsthafte Zweifel an der ökonomischen Überlegenheit des westlichen Wirtschaftsmodells geäußert; immer wieder anzutreffende verallgemeinernde Kommentare wie: »Meiner Ansicht nach hat unser Verhaltensniveau noch nicht das in euren Gesellschaften erreicht, wobei ich bewusst ›Verhalten‹ und nicht ›Wissen‹ sage« (27: 1–1, Dorflehrer) weisen darauf hin, dass die Bewunderung oft auch über den Bereich des Ökonomischen hinausreicht.34 33 | Das Erzählen von Anekdoten oder Witzen besitzt in Russland weithin einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert und dient nicht selten dazu, sich indirekt kulturell oder politisch zu verorten. 34 | Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ein semantisches Differential zur Frage: »Welche der aufgeführten Begriffe verbinden Sie mit den führenden Ländern Europas und welche mit Russland?« in Forschungsstelle Osteuropa/Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (2005a: 17).
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Darauf aufbauend konnte alles, was glaubhaft als »westlich« oder »marktwirtschaftlich« vermittelt wurde, nur schwer kritisiert werden. Geschickt verstand es der Betriebsvorsitzende dabei die Tatsache auszunutzen, dass nur er sowie ganz wenige ausgewählte Mitglieder der Betriebsleitung bereits in Westeuropa und den USA gewesen waren. In Thüringen hatte er während einer dieser Reisen eine Filmdokumentation über eine privatisierte Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft anfertigen lassen, aus der er später ›geeignete‹ Sequenzen auswählte, um sie den Beschäftigten auf Betriebsversammlungen zu zeigen und etwas »für ihre Bildung« (34: 9–13, Betriebsleiter) zu tun. Er präsentierte sich damit in einem aufklärerischen Sinn als Überbringer einer westlichen Lebensweise, deren Inhalte er selbst festlegte, und verlieh so betriebswirtschaftlichen Strategien wie Entlassungen als notwendige Antworten auf die Herausforderungen des marktwirtschaftlichen Systems den Charakter des Unvermeidlichen. Doch natürlich vermochten die Filmvorführungen nicht alle zu überzeugen, wie der Kommentar einer Kolchozarbeiterin zu diesen Veranstaltungen zeigt: »Ja, er hat uns gezeigt, wie man leben muss. Aber warum lässt er uns dann nicht so leben wie in Deutschland? […] Er hat ihn [den Film] uns gezeigt und gesagt: ›Lernt, wie man leben muss.‹ Wie sollen wir das lernen, dazu bräuchten wir auch den entsprechenden Betriebsleiter.« (26: 3–4).
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Recht: Im Abschnitt zu »Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsprozessen« wurde bereits deutlich, dass die meisten Kolchozniki von den komplizierten Details der Privatisierungsgesetzgebung hoffnungslos überfordert waren und sich damit auch gar nicht befassen wollten. Für die Betriebsleiter eröffneten sich folglich weite ›Interpretationsspielräume‹, die sie zur Durchsetzung eigener Interessen nutzen können. »Tut mir leid, aber das erlauben die gesetzlichen Regelungen leider nicht« war ein Satz, mit dem sich in Privol’noe insbesondere angesichts der allgemein unklaren und teilweise auch widersprüchlichen Rechtssituation Anliegen und Ansprüche der Beschäftigten leicht abweisen ließen. Dabei ging es keinesfalls immer um deren direkte Übervorteilung, sondern manchmal auch nur darum, sich juristischer Rechtfertigungen zu bedienen, um betriebliche Entwicklungsstrategien durchzusetzen. Ein Beispiel dafür war in Privol’naja der Umgang mit Privatbauern, denen die Betriebe auf Antrag ihr Land in natura ausweisen und übergeben mussten. Um – nachdem bereits erste Abspaltungen stattgefunden hatten – einen weiteren Zerfall zu verhindern, nutzte der Betriebsleiter eine rechtliche Sonderregelung, die besagt, dass Saatgutgewinnungsund Zuchtbetriebe wegen ihrer strategischen Bedeutung für die nationale Versorgungssicherheit kein Land abtreten müssen. Er eröffnete kleine Saatgutgewinnungs- und Zuchtabteilungen, erhielt das Recht, den
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entsprechenden Zusatz »Plemzavod« im Namen des Unternehmens zu führen und kann seitdem alle Anträge auf Landzuteilung ablehnen. Wissenschaft: Die »wissenschaftliche« Begründung nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch politischer Entscheidungen spielte bereits in der Sowjetunion eine wichtige Rolle; Sozialwissenschaften hatten »praxisrelevant« zu sein und die soziale Praxis sollte im Gegenzug dazu ein wissenschaftliches Fundament besitzen. »Wissenschaftliche Rationalität« ist bis heute ein gewichtiges Argument in jeder Diskussion geblieben, gewinnt ihre Überzeugungskraft jedoch meist weniger aus inhaltlichen Positionen als vielmehr aus in Form von Bildungstiteln objektiviertem kulturellem Kapital.35 Diesbezüglich besitzen die ehemaligen Kolchozvorsitzenden im ländlichen Raum, wo nur sehr wenige Personen über höhere Bildungsabschlüsse verfügen, einen erheblichen Vorteil und brauchen nur selten mit Widerspruch zu rechnen. Der Betriebsleiter von Privol’noe machte mir gegenüber in Interviews auch mehrfach klar, dass die Privatisierung der Kollektivbetriebe und betriebswirtschaftliche Fragen den intellektuellen Horizont der ländlichen Bevölkerung seiner Ansicht nach bei weitem überstiegen. So antwortete er auf meine Frage, welche Haltung zur Privatisierung die Mehrheit der Dorfbewohner einnimmt, in einer längeren Passage, die sein Selbstbewusstsein intellektueller Überlegenheit und das daraus resultierende Recht, ›einsame Entscheidungen‹ zu treffen, klar widerspiegelt: »Wissen Sie, das ist eine extrem schwierige Frage. Sie ist extrem schwierig, weil – sehen Sie, meine Frau hat einen Mittelschulabschluss, sie hat als Leiterin in einem Handelsunternehmen gearbeitet, sie war Leiterin in einem Einzelhandelsgeschäft und hat noch in einigen anderen Bereichen gearbeitet. Sie ist gebildet und unterhält sich viel mit mir, sie versteht einiges. Sie liest häufiger Zeitung als ich. Sie ist nahe an der Welt dran, die das Fernsehen vermittelt, sie kennt das und trotzdem – sie versteht nicht, was passiert. Wie, bitte schön,
35 | Trotz des völlig anderen Kontextes, dem Bourdieus Studie zu den »feinen Unterschieden« entstammt, drängen sich hier Parallelen auf: »Die Verbindung zwischen (mehr oder weniger willkürlich nach Bereichen und Disziplinen) hierarchisiertem Wissen und ihrerseits hierarchisierten Schulabschlüssen und Diplomen bewirkt zum Beispiel, daß ein sehr hohes Diplom implizit alle durch ihm untergeordnete Diplome bescheinigten Kenntnisse zu gewährleisten scheint, und auch, daß zwei Individuen mit derselben beruflichen Funktion und derselben praktischen, d.h. zur Ausübung ihrer Funktion unmittelbar erforderlichen Kompetenz, aber verschiedenen Diplomen, höchstwahrscheinlich in ihrem Status (und natürlich auch in ihrem Gehalt) unterschieden sein werden, und zwar der Vorstellung gemäß, daß nur die von den höchsten Diplomen beglaubigte Kompetenz Zugang zu den ›Grundlagen‹-Kenntnissen gewährleisten könne, auf denen die sogenannten praktischen oder angewandten Kenntnisse aufbauen.« (Bourdieu 1993: 514).
6 Hofwirtschaften und Großbetriebe auf dem Weg … | 245 soll das dann ein einfacher Kolchoznik verstehen? […] Deshalb haben 98 % der Kolchozniki heute überhaupt keine Vorstellungen. Und die fragt man dann [im Fernsehen] mit dem Mikrofon in der Hand: ›Was halten sie von der Möglichkeit, Grundbesitz frei erwerben und verkaufen zu dürfen?‹ oder so ähnlich. Hören Sie mal, was läuft hier ab? Das sind Leute, die – man kann das nicht ansprechen! Das muss nicht sein, man darf sich doch nicht die Gefühle von Menschen zunutze machen, die nichts verstehen!« (21: 10–5).
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Erfolg: Eine letzte argumentative Strategie schließlich, die insbesondere im Vorfeld der Vorstandswahlen und auf der Jahreshauptversammlung der Anteilseigner zu beobachten war, ist der Verweis auf den relativen wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens. Die allgemeine Krise im ländlichen Raum war den Beschäftigten durchaus bewusst und ein Vergleich mit den umliegenden Betrieben, in denen in etwa dieselben Löhne bezahlt wurden, demonstrierte eindrucksvoll die Geschäftstüchtigkeit des Vorsitzenden; in einem vom Landwirtschaftsministerium herausgegebenen Ranking der 300 (von 27.000) profitabelsten Agrarunternehmen in Russland, dem so genannten »Klub-300« (Uzun/ Zorina 2001), belegte Privol’noe im Jahr 2001 nicht zufällig den 115. Platz. Angesichts dieser Ausgangssituation barg eine Abwahl des Betriebsleiters für die Anteilseigner ein zu hohes Risiko und er wurde trotz massiver Kritik immer wieder im Amt bestätigt. Beloreč’e war weit weniger erfolgreich, doch auch hier konnte der Vorsitzende auf der Jahreshauptversammlung erfolgreich drohen: »Wenn ihr von mir höhere Löhne verlangt, dann gehe ich!« (50: 4–4). Und selbst ein Gelegenheitsarbeiter, dem in Privol’noe gekündigt worden war und der zu Beginn unseres Gesprächs seinem Ärger über den Vorsitzenden in deutlichen Worten Luft gemacht hatte, musste zugestehen: »Nein, er [der Betriebsleiter] ist schon verdammt gut, er hat den Betrieb in einer Zeit zusammengehalten, als andere Verluste gemacht haben, ohne Schulden. Anderswo wurde einfach alles geklaut, er hat den Betrieb geschützt und sogar vergrößert, das heißt, einiges lief unter ihm wirklich rentabel.« (23: 11–3).
Dergestalt mehrfach abgesichert konnte tatsächlich der Eindruck entstehen, der Unternehmensleiter in Privol’naja und in weniger ausgeprägter Form auch die Vorsitzenden von Put’ Il’iča und der Nachfolgebetriebe von Emel’janovo übten innerhalb der Grenzen ihrer Betriebe uneingeschränkte Hoheitsrechte aus. Wenn sie abends nach dem Ende der offiziellen Arbeitszeit manchmal noch mehrere Stunden lang die Felder kontrollierten und dabei hin und wieder auch Mitarbeiter antrafen, die gerade mit Fahrrädern oder kleinen Motorrädern mit Beiwagen Feldfrüchte oder Dünger beiseite schafften, dann wurde die ›angemessene‹ Strafe sofort festgelegt. Legislative (Bestimmung von Toleranzgrenzen), exekutive (Kontrolle) und
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judikative (Festlegung der Bestrafung) Gewalt schienen hier in einer Person vereint und bedurften keiner weiteren Rechtfertigung. Doch so wenig das Fundament, auf dem die Macht der Vorsitzenden ruht, mit einer »feudalen« Machtbasis zu vergleichen ist, so wenig wäre es angemessen, das Ziel ihres Gebrauchs allein in der Maximierung des Betriebsgewinns oder des persönlichen Einkommens der Unternehmensleiter zu sehen. »Unser Vorsitzender ist schon o.k., da kann man nichts sagen, aber er benimmt sich wie Pinochet« (18: 4–16) – das in dieser Beschreibung eines Privatbauern aus Dubrovka enthaltene Paradoxon wird nur verständlich, wenn man in Rechnung stellt, dass die Betriebsleiter – in den einzelnen Orten selbstverständlich zu einem unterschiedlichen Grad – Verantwortung für das Leben der Gemeinde insgesamt übernahmen. So lange sie glaubhaft vermittelten, ihrer allgemeinen Fürsorgepflicht nachzukommen, führte auch der autokratische Leitungsstil nicht zu ernsthaften Protesten, sondern wurde nur im kleinen Kreis geäußert, wo man sich insbesondere in Privol’naja einig war, dass der Vorsitzende »uns melken wird bis er verreckt« (26: 8–3, Kolchozarbeiterin). Indirekt kam der patrimoniale Charakter der Leitung eines Betriebs in den beiden vorhergehenden Abschnitten »Kolchozbauern, Arbeiter und Miteigentümer« sowie »Infrastruktur und Isolation« bereits mehrfach zum Ausdruck. Die dort – ausgehend von alltäglichen Problemen, Interaktionssituationen und Praktiken – geschilderte Situation soll im Folgenden anhand von einigen wenigen Interviewpassagen um die Selbstrepräsentationen der Betriebsleiter ergänzt werden. Grundsätzlich ist dabei natürlich zu berücksichtigen, dass diese Darstellungen nicht zuletzt der Legitimation der eigenen Machtfülle dienten und tendenziell ein zu positives Bild entwerfen. Doch die teilnehmende Beobachtung belegte, dass sie tatsächlich ein Rollenmodell für den Kolchozalltag nachzeichnen, das handlungsleitend wirkt. Voraussetzung für ein patrimoniales Selbstverständnis ist die Einordnung der eigenen Funktion im Unternehmen als Teil eines wesentlich umfassenderen Verantwortungsbereichs, der sich sozial nicht auf die »Mitarbeiter« und inhaltlich nicht auf »betriebswirtschaftliche Ziele« beschränkt. Stattdessen wird eine territoriale Abgrenzung – das mit den administrativen Grenzen der »Gemeinde« identische Gebiet des Betriebs – zugrunde gelegt, die den als »zugehörig« erachteten Personenkreis bestimmt und folglich auch sachlich alles einschließt, was die »lokale Öffentlichkeit« betrifft. Die folgende längere Gesprächspassage zeigt sehr anschaulich, wie die Grenzen zwischen »Betrieb«, »Verwaltungsgemeinde« und »lokaler Gemeinschaft« sowie zwischen »Produktion«, »Infrastruktur« und »kulturellem Leben« ineinander übergehen: »Welche Rolle –, oder wie hilft der Kolchoz der Bevölkerung? Was trägt er zum Lebensalltag der Gemeinschaft bei, die in diesem Kollektiv oder dieser Gemeinde oder diesem unserem Kolchoz lebt? Er besitzt gewisse Grenzen, das, was man als seine ›eigene Gemeinschaft‹ sieht, seine ›eigenen Aufgaben‹, die
6 Hofwirtschaften und Großbetriebe auf dem Weg … | 247 ihn vom Nachbarkolchoz unterscheiden, wo es eine eigene Verwaltung gibt, wo – wie man so schön sagt – die ›eigene‹ Macht und ›eigene‹ Strukturen gelten. Im Prinzip lebt diese Gemeinschaft auch ein gemeinsames Leben. Was heißt das? Es geht hier nicht nur um die Kolchozniki, die ihre Jobs im Bereich der Produktion machen: Pflanzenbau, Tierzucht, Getreideanbau usw., d.h. sich mit der Produktion beschäftigen. Hier, zu dieser Gemeinschaft müssen auch die gezählt werden, die sonst noch hier leben und arbeiten. Schulen, in denen die Kinder unserer Kolchozniki lernen, das Gemeindehaus für Festveranstaltungen an Feiertagen, insbesondere die Jugend.« (14: 1–1).
Die hier zum Ausdruck kommende Verflechtung dessen, was im Zuge der Privatisierung formal-rechtlich längst als separate Einheiten bzw. Zuständigkeitsbereiche abgegrenzt worden war, bildete auch in der Selbsteinschätzung den Hintergrund für die Bestimmung des Verantwortungsbereiches eines Betriebsleiters. Entscheidend waren nicht die Aufgaben als gewählter Verwalter des von den Anteilseignern eingebrachten Kapitals, sondern die oben beschriebene Verfügungsmacht über allokative Ressourcen, die quasi-natürliche Autorität eines Kolchozvorsitzenden und die höhere Allgemeinbildung. Diese Ressourcen versetzten die Unternehmensleiter in eine Position, zu der man sich »berufen« fühlte, die aber unausweichlich auch Verpflichtungen mit sich brachte. Der Leiter von Beloreč’e beschrieb das entsprechende Selbstverständnis folgendermaßen: »Weißt du, bei uns in der orthodoxen Kirche sagt man: ›Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.‹ Verstehst du? Ich muss ihnen vergeben, ich muss von Anfang an über ihnen stehen. ›Vergib ihnen, Herr, denn sie wissen nicht, was sie tun.‹« (50: 8–10).
Das Bewusstsein, nicht nur als einziger über notwendige Ressourcen zu verfügen, sondern in einem umfassenderen Sinn »über den anderen zu stehen«, legte es nahe, sich in der Rolle eines »Erziehers« zu sehen. Während meiner Feldarbeit wurde der patrimoniale Charakter von Herrschaft nirgends so deutlich wie in diversen Maßnahmen, die dazu dienten, den Menschen im ländlichen Raum »Kultur beizubringen«. Es ist bezeichnend, dass auch hier »der Westen« wieder den Referenzrahmen bildete: »Wir fordern von den Kolchozniki, nun, wir haben Wege gefunden, sie zu zwingen, sie dazu zu bringen, Ordnung um ihre Höfe zu halten. Wir haben ihnen erzählt, dass das Ökologie ist, dass es das Leben eines jeden von uns betrifft. Wenn wir kultiviert leben wollen, dann muss Kultur auch überall sichtbar sein. Wir wundern uns, sind begeistert, dass in Deutschland überall Blumen blühen, in Frankreich usw. Und warum nicht in Privol’naja? Das heißt, man muss die Menschen zur Kultur erziehen, dazu, dass sie diesen Vorbildern an Lebensführung auch folgen.« (34: 11–10, Betriebsleiter). —
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Obwohl die Betriebsleiter ihre Verfügungsmacht über das Eigentum des Unternehmens als Druckmittel benutzen konnten, ihre »Position« ihnen eine Autorität verlieh, die sich sowohl aus alten sozialistischen wie auch aus neuen marktwirtschaftlichen Legitimitätsvorstellungen speiste, und sie ihren Beschäftigten in Auseinandersetzungen rhetorisch weit überlegen waren, blieb Widerstand keineswegs immer erfolglos. Abschließend soll eine kurze Episode, die sich während meiner Feldarbeit in Dubrovka zutrug, illustrieren, dass Protest sich an vermeintlich belanglosen Alltagsfragen entzünden und zu unvorhersehbaren Solidarisierungen führen kann, die innerdörfliche Konflikte ergebnisoffener verlaufen lassen als es das Stereotyp von der unumschränkten Machtfülle der postsozialistischen Unternehmensleiter nahe legt: Eines Tages kam der technische Leiter des Kolchoz von Dubrovka zu der Rentnerin, bei der ich zu diesem Zeitpunkt wohnte und verlangte die Herausgabe einer Rolle Draht, die ihr mittlerweile verstorbener Mann vorgeblich gestohlen hatte. Sie widersprach zwar der Darstellung, dass der Draht gestohlen worden sei, gab ihren anfänglichen Widerstand dann aber bald auf und übergab die Rolle. In den nächsten Tagen jedoch informierte sie alle ihre Verwandten, Bekannten und Nachbarn über den Vorfall und beklagte sich über die Kolchozleitung. Die Diskussionen trugen insofern rein »privaten« Charakter, als sie in der Küche des Wohnhauses stattfanden, doch manchmal waren daran bis zu 12 Personen beteiligt, so dass die Angelegenheit schnell »öffentliche« Bedeutung erlangte. Bald ging es nicht mehr nur um eine Rolle Draht, sondern viel allgemeiner um den Umgang der privatisierten Kolchoze mit ihren ehemaligen Mitarbeitern, die in der sowjetischen Zeit ein viel höheres Maß an Unterstützung genossen hatten. Der angestaute Unmut mit den Entwicklungen der letzten Jahre wurde nun offen geäußert und es zeigte sich, dass niemand den privatisierten Kolchoz als marktorientiertes Unternehmen ansah. Vielmehr erachtete man Ansprüche als legitim, die dem Betrieb weiterhin die Rolle einer administrativen und wohlfahrtsstaatlichen Einrichtung zuschrieben, zu deren Kernaufgaben die Sorge um das Wohl der Rentner und die Unterstützung der Hofwirtschaften der Kolchozbauern gehörte (mit dem Draht sollten die Gemüsebeete vor dem Vieh der Nachbarn geschützt werden). Im Lauf der Auseinandersetzung wurde die Rolle Draht, deren finanzieller Wert für den Streit völlig belanglos war, zu einem Symbol für die Ungerechtigkeiten der Privatisierung und rief derart laute Proteste hervor, dass der Betriebsleiter nicht umhin konnte, die Rentnerin für den Verlust zu entschädigen. Wenige Tage später gab sie mir gegenüber zu, dass ihr Mann den Draht tatsächlich aus dem Kolchoz gestohlen hatte.
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Der postsowjetische ›Kolchoz-Archipel‹
Das letzte Kapitel machte deutlich, wie sich der Zusammenbruch des sozialistischen Systems, das Ende der Zentralplanwirtschaft und die Privatisierung der Kollektivbetriebe auf den Alltag im ländlichen Raum auswirkten. Dabei habe ich bewusst auf abstrahierende Interpretationen und die Bezugnahme auf theoretische Modelle so weit wie möglich verzichtet und stattdessen die Schilderung so handlungs- und gegenstandsnah wie möglich gehalten. Die Betrachtung verlagerte sich damit im Vergleich zu den vorhergehenden Kapiteln stärker auf die Akteursebene. Im Vordergrund standen die unterschiedlichen Reaktionsweisen auf die im Dezember 1991 überraschend erzwungene Privatisierung, Probleme mit »Marktimperfektionen« und Strategien zur Reduzierung der exorbitanten Transaktionskosten. Der Blick auf die Differenz zwischen formal festgelegten Verfügungsrechten und in der sozialen Praxis verankerter Verfügungsmacht erfolgte aus der Perspektive der Betroffenen – Unternehmensleiter ebenso wie Beschäftigte – und nicht, um fehlende Voraussetzungen für die Entstehung eines funktionierenden Marktes zu identifizieren; der Umgang der Betriebsvorsitzenden mit Diebstahl und ihre Bestrebungen, die Arbeitsorganisation effizienter zu gestalten, dienten dafür als Beispiele. Um nachvollziehbar zu machen, warum die in der Sowjetunion streng begrenzten Flächen für die persönliche Nebenerwerbswirtschaft auch heute nur selten über 2 ha groß sind und weshalb entgegen euphorischen Prognosen zu Beginn der 1990er Jahre nur sehr wenige privatbäuerliche Betriebe entstanden, kamen die Kolchozbauern selbst zu Wort. Welche Form die bereits in der sozialistischen Zeit existierende Symbiose zwischen Großbetrieb und Nebenerwerbswirtschaften heute angenommen hat, wurde einerseits anhand der Voraussetzungen für eine weitgehend subsistente Wirtschaftsweise und andererseits durch den Vergleich unterschiedlicher monetärer Einkom-
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mensquellen verdeutlicht; negative Erfahrungen mit der Rechtssicherheit auf lokalen Märkten, der Eindruck, vom Staat vergessen worden zu sein und in vormoderne Verhältnisse zurück zu fallen sowie die ambivalente Situation zwischen Autarkie und Abhängigkeit spielten dabei eine wichtige Rolle. Schließlich ging es mir darum, das Stereotyp einer »feudalen Wirtschaftsweise« zu hinterfragen und aufzuzeigen, aus welchen Quellen sich das Gefühl lokaler Isolation speist und welche Handlungsressourcen in konkreten Interaktionssituationen die Machtasymmetrie zwischen Betriebsleitern und Beschäftigten konstituieren. Bilden »Kollektivismus« und »Egalitarismus« eine geeignete Klammer, um die vielfältigen Umgangsweisen mit den Veränderungen der 1990er Jahre zusammenfassend zu charakterisieren? Ist also, was wie die manchmal kreative, manchmal allzu geradlinige Reaktion auf eine Umbruchssituation aussieht, in Wirklichkeit als bloße Reproduktion von »kulturellen Normen der sowjetischen und vorrevolutionären Vergangenheit« zu sehen, die »den neuen Institutionen zugrunde liegen« (Wegren 1994: 218f)? Was im ersten Kapitel als wirkmächtige Geschichtsinterpretation diskutiert wurde, lässt sich nun nur mehr in Form einer rhetorischen Frage formulieren. Richtet man den Blick auf die als Belege für den ländlichen Kollektivismus und Egalitarismus angeführten Praktiken, so zerfällt das Bild kultureller Einheitlichkeit in Bruchstücke, die sich auch zu ganz anderen Motiven kombinieren ließen. Schwerer noch wiegt jedoch die Tatsache, dass – um die Metapher beizubehalten – die Urheber dieses Bildes gezwungen sind, es aus einem Fundus von Fragmenten zusammenzusetzen, der sich im Zuge ökonomischer und politischer Veränderungen permanent wandelt. Die Beibehaltung des Titels »Kollektivismus und Egalitarismus« jedoch suggeriert Kontinuität und lässt diesen Wandel leicht in Vergessenheit geraten. Damit sollte keineswegs in Frage gestellt werden, dass die verwendeten Fragmente den wirtschaftlichen und sozialen Alltag im ländlichen Raum tatsächlich treffend charakterisieren. Vielmehr ging es mir darum, sie als Praktiken in spezifischen Handlungskontexten ernst zu nehmen, die ihren sozialen Sinn (mit-)bestimmen, Reichweiten und Gültigkeitsgrenzen festlegen und weitere Differenzierungen erlauben. Die Änderung von Kontexten ist eben nicht nur vernachlässigbares Beiwerk des sozialen Wirksam-Werdens ›reiner‹ Normen, sondern ein wesentlicher inhaltlicher Bestandteil; das Widerstreben der ländlichen Bevölkerung gegen die ›Privatisierungsinitiativen‹ Stolypins und Jelzins lässt sich ebenso wenig auf denselben bäuerlichen Kollektivismus und Egalitarismus reduzieren wie die gemeinsame Sorge um die dörfliche Infrastruktur in den vorrevolutionären Landkommunen und den restrukturierten Kolchozen. In diesem Sinn ist die Trennung zwischen »Praktiken« und »Kontexten« auch nie mehr als eine temporäre Grenzziehung aus heuristischen Gründen. Im vierten Kapitel habe ich dargelegt, dass insbesondere die Trennlinien lokaler Gemeinschaften nach ›oben‹ (Staat) und ›unten‹ (Privatsphäre
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der Haushalte) einem Wandel unterworfen waren, der in erster Linie von außen erzwungen wurde und kaum einen Lebensbereich unberührt ließ; schematisch kann er als Auflösung der kommunalen Halböffentlichkeiten durch den umfassenden Kontrollanspruch des Staates beschrieben werden, der auch im ländlichen Raum eine repräsentativ-offizielle Sphäre etablierte, die gleichzeitige Entstehung einer lokal-informellen Halböffentlichkeit aber nicht zu verhindern vermochte (Abb. 6). Damit erhielten die Legitimität bzw. Illegitimität ökonomischer Stratifizierung sowie ungleich verteilter politischer Macht ein völlig neues Fundament, und es wurden andere Kontroll-, Korrektur- und Strafmechanismen wirksam, um die Einhaltung der neuen Grenzziehungen zu gewährleisten. Kommunale Foren der Entscheidungs- und Konsensfindung hörten auf zu existieren, die unmittelbare Abhängigkeit von lokalen Ressourcen wurde durch Lohnzahlungen und Zwangsablieferungen ersetzt und die in die Informalität abgedrängte Interessenvertretung der Haushalte als Privatunternehmer war von einem hierarchischen Abhängigkeitsverhältnis von den Betriebsvorsitzenden geprägt. Kurz: Die Unterschiede zwischen Landkommunen und Kolchoz-Kollektiven sind fundamental und die sie konstituierenden Praktiken – man mag dabei die jeweilige Etikettierung als »kollektiv« und »egalitär« für angemessen halten oder nicht – deshalb nicht vergleichbar. Wie im ersten Kapitel gezeigt, liefern die Reaktionen auf das, was im Westen vornehmlich als »Befreiung«, in den russischen Kolchozen selbst jedoch weithin als »Zwangsprivatisierung« wahrgenommen wird, der Metaerzählung des ländlichen Kollektivismus und Egalitarismus neuen Stoff. Das konservativ-kommunistische Wahlverhalten, Feindseligkeiten gegenüber privatbäuerlichen Betrieben und die vermeintlich geringe wirtschaftliche Stratifizierung innerhalb der Gemeinden scheinen die Kontinuität einer Kultur, die bis in das 19. Jh. zurückreicht, ebenso zu belegen wie die von den Großbetrieben wahrgenommene Verantwortung für die kommunale Infrastruktur und die Weiterbeschäftigung von ehemaligen Kolchozmitgliedern, für die es keine Arbeit mehr gibt. Dass diese Einordnung zur Wahrnehmung der Betroffenen in diametralem Gegensatz steht, dürfte in den Interviewauszügen des sechsten Kapitels hinreichend deutlich geworden sein. In den meisten der thematisierten Bereiche zeigen sich Brüche mit der sozialistischen Vergangenheit, manchmal nur als vermeintlich geringfügige Modifikationen, manchmal als tief greifende Veränderungen. Kategoriell neue Entscheidungen müssen getroffen werden und in den unterschiedlichsten Routinen des Alltagslebens sind Anpassungen erforderlich, die auch die wirtschaftliche und soziale Institution »Kolchoz« in ihren Kernbereichen betreffen. Welche Praktiken auch immer man unter den neuen Bedingungen als »kollektiv« und »egalitär« charakterisiert: sie sind in diesen veränderten Kontexten verwurzelt, nehmen auf sie Bezug und können deshalb nicht unabhängig davon bestimmt werden.
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Prägend und den vielleicht schärfsten Gegensatz zur sowjetischen Zeit konstituierend ist das Gefühl einer neuen Abgeschottetheit, einer fortschreitenden Desintegration, die das Bewusstsein vermittelt, auf das Lokale zurückgeworfen zu sein. 1 Es resultiert auf vielfache Weise aus dem Zerfall dessen, was ich im vierten Kapitel als die »repräsentativ-offizielle Öffentlichkeit« bezeichnet habe. Mit dem Ende der Sowjetunion, der Abkehr von der Planwirtschaft und dem Bruch mit dem sozialistischen Integrations- und Kontrollsystem verloren auch die darauf bezogenen Symbole, Rollen und Institutionen ihre Bedeutung oder wurden zumindest substanziell entwertet; 2 wo dies heute auf den ersten Blick nicht der Fall zu sein scheint, waren Redefinitionen und Neuerfindungen von Traditionen vorausgegangen. Die heftigen Auseinandersetzungen, die darüber entbrannt sind – am bekanntesten wurden der Streit über die Entfernung Lenins aus dem Mausoleum am Roten Platz sowie die Diskussion um die Wiederherstellung des Dzeržinskij-Denkmals vor dem Hauptgebäude des KGB in Moskau –, zeigen, dass dieser Verlust keineswegs als belanglos empfunden wird. Unverständnis und Empörung rief im Ort Dubrovka beispielsweise die Tatsache hervor, dass über dem Eingang des Kulturhauses ein Gemälde im Stil des sozialistischen Realismus, das die Verortung und Verwurzelung im Gesamtraum der Sowjetunion zum Ausdruck brachte, in der ersten Hälfte der 1990er Jahre übermalt worden war.3 Sozialistische Denkmäler blieben im ländlichen Raum zwar meist erhalten, erfüllen ihre Funktion als unangefochtene Symbole für einen landesweiten Konsens aber längst nicht mehr, und die Beibehaltung der alten Feiertage erweckt vielleicht den Eindruck von Kontinuität, doch was einmal ein nationales Ereignis war, ist heute von der Entscheidung über die Durchführung bis zur Organisation, Finanzierung und dem konkreten Ablauf zu einer lokalen Angelegenheit geworden. Das ›Selbst-Bewusstsein‹ der Gemeindemitglieder, verstanden als »Summe der individuellen Vorstellungen über das, was die lokale Gemeinschaft ausmacht«, blieb von diesen Veränderungen nicht unberührt. Während Familienfeierlichkeiten wie Hochzeiten oder die Verabschiedung von Jugendlichen zum Militärdienst weiterhin begangen werden, reduzierte sich die Anzahl öffentlicher und gemeinschaftlich organisierter Feste be1 | Die folgende, gegenüber dem sechsten Kapitel stärker abstrahierende Darstellung trägt den vielfältigen Unterschieden zwischen den Betrieben nicht ausreichend Rechnung. Insbesondere dort, wo es neben den Großbetrieben weitere Arbeitgeber gibt oder wo in der unmittelbaren Umgebung alternative Erwerbsmöglichkeiten bestehen, verändern sich auch die Interessen und Ressourcen der beteiligten Akteure. 2 | Vgl. allgemein zum Umgang mit Denkmälern und Symbolen im öffentlichen Raum nach dem Ende der Sowjetunion Forest/Johnson (2002). 3 | Mittlerweile wurde an zentraler Stelle im Ort ein Kreuz errichtet, das eine neue Verbindung zu über-lokalen Symbolräumen herstellt.
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trächtlich. Die Kulturhäuser als Treffpunkte und Zentren des Gemeindelebens mussten ihre Arbeit einstellen oder stark einschränken. Positive Gemeinschaftserlebnisse wie die im sechsten Kapitel zitierten Schilderungen: »singend zogen wir zu Erntebeginn auf die Felder«, bezogen sich ausschließlich auf die Vergangenheit; Entlassungen und geringere Löhne entwerteten die gemeinsame Arbeit im Großbetrieb. Was die Institution Kolchoz zusammengehalten hat, scheint in Auflösung begriffen und in den Interviews wurde häufig betont, dass in der schwierigen Situation nach dem Ende der Sowjetunion stattdessen die Verlässlichkeit verwandtschaftlicher Verbindungen in den Vordergrund rückte. Abgeschnitten von den Entwicklungen in den Zentren fühlen sich die Bewohner des ländlichen Raums auch in wirtschaftlicher Hinsicht; in den Interviews kam dieser Aspekt meist sogar als erstes zur Sprache. Insofern die Versorgung mit bestimmten Gütern weit mehr als ein rein funktionales Kriterium für einen bestimmten Lebensstandard ist, spielt auch in diesem Zusammenhang der Verlust der symbolischen Anbindung eine wichtige Rolle. Dass man sich Haushaltstechnik und langlebige Konsumgüter heute schwerer als früher leisten kann, wird nicht nur als spürbare Abnahme der Lebensqualität empfunden, sondern auch als Abkoppelung von der ›Modernität‹ und ›Kultur‹ einer städtischen Lebensweise. Hervorgerufen durch gestiegene Preise sowie durch die niedrigeren Löhne in den landwirtschaftlichen Großbetrieben ist die ökonomisch-symbolische Distanzierung überall dort mit einer Aufwertung des Lokalen verbunden, wo alternative Erwerbsquellen fehlen. Die Hofwirtschaft muss dann einen erheblich größeren Anteil als früher zum Lebensunterhalt beitragen, kann zugleich aber weniger auf externe Zuwendungen und Dienstleistungen zurückgreifen. Die lokal verfügbaren Ressourcen rücken damit ins Zentrum des gemeinsamen Interesses und rufen insbesondere im Hinblick auf Ansprüche an die privatisierten Kolchoze Auseinandersetzungen hervor. Da die staatliche Dezentralisierungspolitik einerseits mit einer notorischen Unterfinanzierung der Kommunal- und Kreisverwaltungen einher ging und andererseits von Rechtssicherheit nicht die Rede sein kann, gewann Desintegration auch administrativ-praktische Relevanz. In Bezug auf die infrastrukturelle Ausstattung in den Dörfern verschob sich die Verantwortlichkeit von den auch früher schon wenig eigenständig agierenden Leitern der Gemeindeverwaltungen noch stärker hin zu den ehemaligen Kolchozvorsitzenden und das Verschwinden der Parteifunktionäre aus den Großbetrieben bedeutete nicht nur eine Schwächung des alten Kontrollsystems, sondern nahm den Kolchozmitgliedern zugleich auch eine wichtige Anlaufstelle für Beschwerden aller Art. Die Entflechtung aus über-lokalen Zusammenhängen wurde dementsprechend auch in den Bereichen »Administration«, »infrastrukturelle Ausstattung/Anbindung« und »Recht« spürbar. Zudem löste sich das in der sozialistischen Zeit eng geknüpfte Netz sozialer Sicherungssysteme zunehmend auf, wodurch sich der Eindruck
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verstärkte, von einem Staat allein gelassen zu werden, der sich aktiv und bewusst aus dem ländlichen Raum zurückzog. Schließlich reduzierte sich auch der alltägliche Erfahrungshorizont immer stärker auf die unmittelbare Umgebung des eigenen Betriebs. Einsparungen im öffentlichen Personennahverkehr bewirkten, dass Fahrten in das Kreis- oder gar Gebietszentrum komplizierter zu planen waren und in Relation zu den geringeren Einkommen auch wesentlich teurer wurden. Früher staatlich organisierte Urlaubsreisen und die von den Leitern der Kulturzentren organisierten Austauschprogramme gibt es seit Anfang der 1990er Jahre nicht mehr und die Einstellung der kostenlosen Verteilung von Zeitungen und Zeitschriften verstärkte das Gefühl, dass die Barrieren zur Welt außerhalb der eigenen Gemeinde immer größer werden, obwohl die meisten Haushalte einen Fernseher besitzen. Die Einführung der Marktwirtschaft als neue potenzielle Integrationsform trug nicht dazu bei, dieses Gefühl zu relativieren, da die ersten Erfahrungen damit meist negativ waren. Betrug war auf lokalen Märkten keine Seltenheit, inoffizielle ›Regelungen‹, persönliche Kontakte und Naturaltausch kennzeichneten weithin das Marktgeschehen und viele ehemalige Kolchozniks ebenso wie Großbetriebe, die vorsichtig begannen, sich zu spezialisieren, litten unter dem »Schweinezyklusproblem«. Der im ersten Kapitel erwähnte »rote Gürtel« (vgl. Abb. 2), mit einem überproportionalen Anteil Beschäftigter in der Landwirtschaft und zugleich hohen Stimmanteilen für die Kommunistische Partei, ist ein Hinweis darauf, dass das Gefühl, stärker als früher von der Außenwelt abgeschottet und auf das Lokale zurückgeworfen zu sein, die Vergangenheit in einem positiven Licht erscheinen ließ. Gleichzeitig ging davon ein Impuls zur Redefinition des Verhältnisses zwischen Haushalten und Großbetrieben aus, der in Verbindung mit der erzwungenen Privatisierung die Aushandlung neuer Grenzziehungen und Kooperationsformen unvermeidlich machte. Für deren Verständnis ist es wichtig, sich die von der sowjetischen Zeit geprägte Ausgangskonstellation von Akteuren, Interessen und Ressourcen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen: Territorial stimmen die Grenzen der ländlichen Gemeinden mit denjenigen der Großbetriebe überein; letztere stellen die einzigen (bedeutenden) Arbeitgeber innerhalb dieser Grenzen dar, bei denen auch (fast) die gesamte Wohnbevölkerung einer jeweiligen Gemeinde beschäftigt war; seit der Privatisierung befindet sich der Arbeitgeber »landwirtschaftlicher Großbetrieb« im Besitz der Gemeindebewohner, wobei die Eigentumsanteile in etwa gleich verteilt sind. Damit sind einerseits Handlungspotenziale auf die lokale Ebene übertragen worden – die Betriebe unterliegen keiner externen Kontrolle mehr – und andererseits besteht angesichts der weitgehenden Identität von Wohnbevölkerung, Beschäftigten und Eigentümern ein Interesse daran, gemeinsam auf die oben beschriebenen vielfältigen Folgen der neuen »Abschottung« zu reagieren.
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Die Frage, in welcher Weise dies zu geschehen hat, eröffnete zwar eine neue Arena dorfinterner Auseinandersetzungen, insbesondere zwischen den Beschäftigten und den Betriebsleitungen, doch selbst letztere sehen die Maximierung des Unternehmensgewinns nicht als ihr oberstes Ziel an. Stattdessen werden Dienstleistungen als »öffentliche Güter« unentgeltlich oder zu stark reduzierten Preisen zur Verfügung gestellt und im Gegenzug nehmen die Beschäftigten trotz der geringen Löhne ihre Aufgaben im Betrieb weiterhin wahr. Vor diesem Hintergrund und nicht als Folge einer Kultur des Kollektivismus erklärt sich die Skepsis gegenüber Privatbauern, die öffentliche Güter – Straßen, Schulen, Wasserleitungen usw. – wie alle anderen Dorfbewohner nutzen, jedoch als »Trittbrettfahrer« keinen Beitrag zu deren Finanzierung in Form von Arbeit im Großbetrieb mehr leisten. Bei Amelina (2003: 305f ) paradox erscheinende Befragungsergebnisse widersprechen dem in keiner Weise: Der Wert »gemeinsamer Arbeit« wird im Vergleich zu anderen Gründen, den Großbetrieb nicht zu verlassen, in vermeintlich weniger »kollektiv orientierten« Dörfern, wo die Entflechtung von restrukturierten Kolchozen und Hofwirtschaften bereits weiter fortgeschritten ist, höher eingeschätzt. Er tritt eben nur dadurch in den Vordergrund, dass die als wesentlich wichtiger erachteten »allgemeinen Leistungen« der Betriebe hier bereits auf anderer Grundlage bereitgestellt werden. Abb. 6 legt modellhaft nahe, dass die lokal-informellen Halböffentlichkeiten im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaftsordnung zu einem zivilgesellschaftlichen Element im Sinn lokaler Interessenvertretung werden könnten. Eine Entwicklung in diese Richtung zeichnet sich jedoch aus mehreren Gründen bislang nicht ab. Zum einen ist dafür die Tatsache verantwortlich, dass hier in der sowjetischen Zeit gerade das verhandelt wurde, was nicht nach außen dringen sollte; nicht die Vertretung gemeinsamer Anliegen gegenüber übergeordneten Verwaltungsinstanzen, sondern individuelle und informelle Problemlösungen, die am offiziell erwünschten Bild eines Kolchoz-Kollektivs nichts ändern durften, bildeten den Kern der lokal-informellen Halböffentlichkeiten. Da zudem vieles, was dieser Sphäre zuzuordnen ist, die Grenze der Legalität damals ebenso wie nach der Privatisierung der Kollektivbetriebe überschritt (die ›Organisation‹ von Brennholz in Staatsforsten, das Wissen um Einkaufsmöglichkeiten für illegal gebrannten Wodka usw.), hat sich auch an der Notwendigkeit der Abschließung nach außen nur teilweise – in erster Linie im Verhältnis der Haushalte zu den Großbetrieben – etwas geändert. Zum anderen waren die lokal-informellen Halböffentlichkeiten nicht durch gemeinsame Abstimmungsprozesse und Institutionen gekennzeichnet, die »Konsens«, »Interessenausgleich« oder »Mehrheitsentscheidungen« sicherstellten, sondern durch geteilte Wissensbestände als Resultat informell-bilateraler Aushandlungsprozesse. Die Ressourcen der Akteure waren hier keineswegs gleich verteilt; sie hingen primär von beruflichen und politischen
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Positionen ab, welche Verfügungsmacht über Güter und Dienstleistungen garantierten. 4 Eine hochgradig ungleiche Machtverteilung kennzeichnet auch die postsozialistischen Gemeinden im ländlichen Raum, doch die dafür häufig anzutreffende Charakterisierung »feudal« ist irreführend. Hatten die in der repräsentativ-offiziellen Sphäre angesiedelten Kontrollmechanismen den Handlungsspielräumen der politischen und wirtschaftlichen Funktionsträger im Sowjetsystem noch Grenzen gesetzt, so sind Eingriffe von außen in das, was nun als »interne Angelegenheiten« der privatisierten Betriebe gilt, selten geworden; vielfach hinterließ der Rückzug des Staates sogar ein regulatives Vakuum, das die ehemaligen Kolchozvorsitzenden schnell füllten. Die Machtbalance zwischen den Betriebsleitern und ihren Beschäftigten blieb davon nicht unberührt: Die sowjetischen Arbeitskollektive waren für ihre Mitglieder so transparent gewesen, dass ein Fundus an gemeinsamem Wissen bestand, der immer auch gegen die eigene Leitung verwendet werden konnte (Kharkhordin 1999: 325); dieses geteilte Wissen ist als latentes Druckmittel inzwischen weitgehend wirkungslos geworden. Zwar führt beispielsweise der Vorsitzende der Revisionskommission im Kolchoz Put’ Il’iča bis heute über Unregelmäßigkeiten im Unternehmen Buch, doch verwertbar wäre das gesammelte Material nur in einem Gerichtsverfahren mit mehr als ungewissem Ausgang; in der Praxis ist dieses Szenario aufgrund der Abhängigkeit der Hofwirtschaften von den Großbetrieben ohnehin wenig realistisch. Während die Privatisierung die allokativen Handlungsressourcen der Betriebsleiter nur oberflächlich beeinflusste, wurde ihre Autorität auf eine neue Grundlage gestellt. Auf der einen Seite spielten Verfügungsrechte wie in der sozialistischen Zeit gegenüber der in der sozialen Praxis tatsächlich realisierbaren Verfügungsmacht weiterhin eine untergeordnete Rolle; das System blieb »zugangs-«, nicht »eigentumsbasiert«, und wo früher Kolchozvorsitzende über die Nutzung von Gütern bestimmt hatten, die sich eigentlich im Staatsbesitz befanden, können heute Betriebsleiter über das Vermögen der Anteilseigner entscheiden. Dabei ist deren Abhängigkeit von der Unterstützung der Großbetriebe aufgrund der im Vergleich zum allgemeinen Preisniveau niedrigeren Löhne erheblich größer geworden. Auf der anderen Seite gründen die autoritativen Ressourcen der ›Manager‹ nun in der Legitimation durch regelmäßige Wahlen und der Zustimmung der Vollversammlung aller Anteilseigner, wodurch sie erheblich gestärkt sind. Ohnehin lassen sich mit den »Notwendigkeiten der neuen marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen« Entlassungen leichter als früher begründen. 4 | Gambold Miller (2003: 19) sieht genau darin die Ursache dafür, dass aus den »Kollektiven« (collectives) bislang keine »Gemeinschaften« (communities) im zivilgesellschaftlichen Sinn wurden.
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Diese Konstellation legt die Frage nahe, warum die Wahl der Betriebsleiter weithin eine rein formale Angelegenheit bleibt und nicht als Möglichkeit wahrgenommen wird, ein Votum zu unternehmerischen Richtungsentscheidungen abzugeben, die die Interessen der Beschäftigten berühren. Grundsätzlich darf dabei nicht übersehen werden, dass die oben beschriebene herausgehobene Position der ehemaligen Kolchozvorsitzenden zwar Spielräume eröffnet, aber keinesfalls zwangsläufig die ausschließliche Verfolgung persönlicher Interessen impliziert. Vielmehr dominiert häufig ein patrimoniales Leitungsverständnis, das einerseits von Machtfülle und Willkür gekennzeichnet ist, andererseits aber ein an sowjetischen Maßstäben orientiertes »Gemeinwohl« nicht aus den Augen verliert; viele ehemalige Kolchozvorsitzende fühlen sich sowohl für die Familien ihrer Beschäftigten wie auch für die kommunale Infrastruktur weiterhin verantwortlich. Zwei andere Charakteristika der Situation im ländlichen Raum tragen mit dazu bei, dass die Abwahl von Betriebsleitern zwar durchaus vorkommt, aber eher selten bleibt. Zum einen gibt es in den meisten Gemeinden nur sehr wenige Personen, die sich glaubwürdig als Alternativkandidaten präsentieren können. Wer einen höheren Bildungsabschluss erworben hat, kehrt oft nicht in den ländlichen Raum zurück oder arbeitet in völlig anderen Bereichen wie dem Schulwesen. Zudem verfügen im Regelfall selbst Angehörige der Kolchozleitungen wie Buchhalter oder leitende Agronomen nicht über dieselben Kontakte zu Verwaltungsbehörden und potenziellen Abnehmern wie die Vorsitzenden. Zum anderen ermöglichen der weitere Erfahrungshorizont sowie die absolvierte Ausbildung es den Unternehmensleitern, Kritik an ihrer Tätigkeit zu entkräften. Verweise auf ihren »relativen wirtschaftlichen Erfolg«, die »etablierte Praxis im Westen«, die »Rechtslage« oder »wissenschaftliche Erkenntnisse« stellen typische Argumentationsmuster dar, denen einfache Kolchozarbeiter nur selten etwas entgegensetzen können. Mit dem Ende der Sowjetunion begann in Russland der Aufbruch in die »globale Marktgesellschaft« (Callon 1998: 33). Der Beginn der Transformation war nicht von der Suche nach Alternativen zu den Modellen westlicher Staaten geprägt, sondern von der Hoffnung auf einen möglichst schnellen Übergang vom Plan zum Markt. Vonseiten westlicher Berater war die Entscheidung zu Gunsten einer »Schocktherapie« und gegen schrittweise Reformen nicht zuletzt von einem »Triumphgefühl« (Stiglitz 1999: 22) geprägt, das seine Wurzeln im Wettlauf der Systeme zur Zeit des »Kalten Krieges« besaß. Russische Reformer entwarfen im Auftrag von Michail Gorbatschow und Boris Jelzin bereits im September 1990 ein Programm für die Einführung der Marktwirtschaft in nur 500 Tagen (Yavlinski 1991) und der damalige Landwirtschaftsministers Viktor Chlystun prognostizierte 1993 euphorisch, in Russland werde es bis Ende 1995 zwischen 600.000 und 650.000 Bauernhöfe mit einer durchschnittlichen Größe von 75 ha geben (Craumer 1994: 339). Die hierin zum Ausdruck kommende und
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Anfang der 1990er Jahre weithin dominierende Grundhaltung offenbart ein Verständnis, für das »Markt« das zwangsläufige weil »natürliche« Resultat der Aufhebung des Verbots unternehmerischer Tätigkeit und nicht das Ergebnis eines langen historischen Prozesses ist. Der tatsächliche Verlauf der Privatisierung im ländlichen Raum stellte dieses Verständnis in Frage und bereits das von November 1993 bis April 1994 im Gebiet Nižnij Novgorod erprobte Restrukturierungsprogramm (International Finance Corporation/The Overseas Development Administration 1995) kann als eine erste Reaktion darauf verstanden werden. Das Erreichen der Hauptziele der Privatisierung – klare Abgrenzung und Individualisierung von Verfügungsrechten, Aufteilung der Großbetriebe und das Aufgeben nicht-agrarischer Tätigkeitsfelder – sollte nun durch verbindliche Verfahrensvorgaben beschleunigt werden. Auch in anderen Wirtschaftssektoren geriet die auf eine universalistische Marktinterpretation und daraus abgeleitete Prioritätensetzungen basierende Privatisierungskonzeption zunehmend in die Kritik. Joseph Stiglitz, zwischen 1997 und 1999 Vizepräsident und Chefökonom der Weltbank, kritisiert die »todsicheren Rezepte« westlicher Berater (1999: 1), denen ein »falsches Verständnis der genauen Grundlagen von Marktwirtschaft« (1999: 3) zugrunde liege und wirft die Frage auf, ob Russland sich nicht besser an China orientiert hätte, das »seinen eigenen Weg der Transformation schuf (anstatt die »Blaupause« oder das »Rezept« westlicher Berater anzuwenden).« (1999: 3; Hervorheb. P.L.). Bezug nehmend auf die Probleme bei der Privatisierung großer Industrieunternehmen schlägt er als Konsequenz die Verteilung des Eigentums an Personen mit langfristigen Entwicklungsinteressen (Stakeholder) – in erster Linie Beschäftigte und das Management – vor (Stiglitz 1999: 12ff). In den ehemaligen Kolchozen, die nur in den seltensten Fällen von externen Investoren übernommen wurden, fand eine Trennung von Anteilseignern (Shareholdern) und Stakeholdern bzw. lang- und kurzfristigen Interessen niemals statt.5 Das Resultat – diese Bewertung mag angesichts der extremen Verschlechterung der Lebensverhältnisse im ländlichen Raum zynisch klingen – garantierte in den meisten Fällen zumindest die Erhaltung der kommunalen Infrastruktur auf niedrigem Niveau sowie eine subsistente Versorgung mit Nahrungsmitteln und schützte somit vor den negativen Folgen einer vollständigen Auflösung der Großbetriebe. Von den ursprünglichen Zielsetzungen der Reformer ist es jedoch weit entfernt. Statt einer kleinbäuerlich geprägten Betriebsstruktur und Unternehmen, die sich ausschließlich auf die gewinnorientierte Produktion von Agrargütern konzentrieren, entstand ein Archipel6 sozial-räumlicher Einheiten mit 5 | Erst in jüngerer Zeit beginnen große Industrieunternehmen, im ländlichen Raum zu investieren; vgl. dazu Nikulin (2005). 6 | Ich verwende die Metapher »Archipel« hier in einem wesentlich umfassenderen Sinn als Ioffe (2005: 198), der in ökonomischer Hinsicht – nur mehr
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jeweils scharfen Grenzen zu ihrer Umwelt und umfassenden Funktionen und Regelungskompetenzen. Es ist gekennzeichnet von einer sich in den unterschiedlichsten Lebens- und Wirtschaftsbereichen manifestierenden Abschottung (s.o.), einem symbiotischen Verhältnis zwischen Haushalten und Großbetrieben ohne klare Abgrenzung und Zuordnung von Verfügungsrechten, einer spezifischen Form lokaler Öffentlichkeit sowie von einer intern ungleichen Machtverteilung und einem patrimonialen Leitungsverständnis. Insofern die restrukturierten Großbetriebe häufig nicht nur administrative, sondern auch legislative, exekutive und judikative Aufgaben übernehmen, ist die Frage berechtigt, ob hier wirklich der Staat die Wirtschaft privatisiert hat oder ob nicht vielmehr den Unternehmen eine Teilprivatisierung des Staates gelungen ist (Clarke 1992: 5). Der postsowjetische Kolchoz-Archipel – die Bezeichnung ist insofern gerechtfertigt, als umgangssprachlich bis heute der Begriff »Kolchoz« verwendet wird – erinnert in mancher Hinsicht an die administrativ, politisch und ökonomisch motivierte Fragmentierung des ländlichen Raums in der sowjetischen Zeit, die mit gutem Grund ebenfalls mit dem Begriff »Archipel« paraphrasiert werden könnte. Doch die im letzten Kapitel thematisierte Perspektive der ehemaligen Kolchozmitglieder zeigt, dass von »Kontinuität« nicht die Rede sein kann. Zudem ist in den von externer Kontrolle befreiten Betrieben die patrimoniale Machtkonfiguration nicht nur ein Gemeinsamkeit begründendes Charakteristikum, sondern zugleich auch die Voraussetzung für divergente Entwicklungen. Die neuen Handlungsspielräume erlauben es den Betriebsleitern, erheblichen Einfluss auf lokale Transformationspfade zu nehmen und ermöglichen stärker integrative ebenso wie ›individualisierende‹, hierarchische ebenso wie gemeinschaftliche und an einem umfassenden Verantwortlichkeitsbewusstsein ebenso wie strenger an marktwirtschaftlichem Erfolg orientierte Unternehmensmodelle. Die von Nikulin (2002: 407ff; Lindner 2003: 22) skizzierten sozioökonomischen Entwicklungsvarianten »Verbäuerlichung« ( fermerizacija), »Kooperation« (kooperacija), »Haziendisierung« (as’endizacija) sowie »Holdingisierung« (choldingizacija) sind Ausdruck des daraus resultierenden, anhaltenden Differenzierungsprozesses. Der Kolchoz-Archipel ist kein Relikt einer von der Ausbreitung der globalen Marktgesellschaft noch nicht berührten Vergangenheit, sondern stellt eine spezifische Form der Reaktion und Integration dar. Seine Entstehung belegt eindrucksvoll, dass »Markt« nicht als eine natürliche Tatsache unter den Ruinen des zentralplanwirtschaftlichen Systems zum Vorschein kommt, sondern mit dessen Ruinen errichtet wird (Stark 1996: 995). Insofern das Gebäude der globalen Marktgesellschaft ständig um- und weitergebaut wird, repräsentiert auch der Kolchoz-Archipel in der oben inselhafte Bewirtschaftung des Agrarlandes – ebenfalls vom postsozialistischen ländlichen Russland als einem »Archipel« spricht.
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beschriebenen Form nur eine Momentaufnahme. Doch je länger dieses Bauwerk bewohnt wird, desto intensiver prägen sich die darin vorgegebenen Wege ein und werden zu einer nicht hinterfragten Lebenswirklichkeit, die nicht nur durch die Rahmenbedingungen der Makroebene, sondern auch durch die alltäglichsten Gegenstände und Verhaltensregeln unmittelbarer Interaktionen bestimmt ist. Wie weit dieser Prozess in manchen Bereichen bereits fortgeschritten ist und einen notwendigen Konsens über »Legitimität« durch ›Sachzwänge‹ ersetzt, bringt der bereits zitierte Kommentar eines ehemaligen Brigadeleiters zu den Auswirkungen der Einführung rationellerer Landwirtschaftstechnik in aller Deutlichkeit zum Ausdruck: »[…] nun, eben die Faulenzer und Drückeberger, die werden ausgesiebt, die Realität selbst schiebt sie zur Seite.« (29: 4–5).
Literatur
Das Jahr der Erstpublikation ist in eckigen Klammern nur dort mit aufgeführt, wo diese Angabe für den Kontext, in dem auf die jeweilige Publikation Bezug genommen wird, von Bedeutung ist. Die Titel russischer Veröffentlichungen sind in eckigen Klammern auch in Deutsch wiedergegeben; die Übersetzung erfolgte dabei relativ frei und orientiert sich am Inhalt der Publikationen. Aleksandrov, Vadim A. 1990. Land Re-Allotment in the Peasant Communes of Late-Feudal Russia. In: Barlett, Roger (Hg.). 1990. Land Commune and Peasant Community in Russia: Communal Forms in Imperial and Early Soviet Society. New York. S. 36–44. Alekseev, Aleksandr I. 1988. Sel’skoe rasselenie: Koncepcii i real’nost’ [Dörfliche Siedlungsstrukturen: Konzepte und Realität]. In: Belen’kuj, V. P. und B. S. Chorev (Hg.). 1988. Sovremennoe selo: Puti razvitija [Das Dorf in der Gegenwart: Entwicklungswege] (=Voprosy Geografii; Sbornik 132). Moskva. S. 144–182. Alekseev, Aleksandr I. und Natal’ja Zubarevič. 1999. Krizis urbanizacii i sel’skaja mestnost’ Rossii [Die Urbanisierungskrise und der ländliche Raum in Russland]. In: Zajončkovskoj, Ž. A. (Hg.). 1999. Migracija i urbanizacija v SNG i Baltii v 90e gody [Migration und Urbanisierung in der GUS und im Baltikum]. Moskva. S. 83–94. Alekseev, Aleksandr I. 2000. Territorial’naja organizacija sel’skoj mestnosti Rossii v XX veke: Ėvoljucija i »velikie perelomy« [Die territoriale Organisation des ländlichen Raums in Russland im 20. Jh.: Evolution und »große Umbrüche«]. In: Golubčik, M. M. u.a. (Hg.). Social’no-ėkonomičeskie i ėkologičeskie problemy razvitija sel’skoj mestnosti: Materialy meždunarodnoj naučnoj konferencii 2–5 okt., čast’ I [Sozioökonomische und ökologische Probleme der Entwicklung des
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