Illustrierte Kriegspost: Briefe und Karten deutscher Künstler als Zeitzeugen 9783847115151, 9783847015154, 9783737015158, 3847115154

Der Kunsthistoriker Dr. Wolfgang Knop hat über Jahrzehnte eine umfangreiche Sammlung mit Illustrationen sowie Postkarten

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Illustrierte Kriegspost: Briefe und Karten deutscher Künstler als Zeitzeugen
 9783847115151, 9783847015154, 9783737015158, 3847115154

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Veröffentlichung des Universitätsverlages Osnabrück bei V&R unipress Krieg und Literatur / War and Literature Vol. XXVIII (2022)

Herausgegeben von Claudia Junk und Thomas F. Schneider Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Erich Maria Remarque-Archiv / Forschungsstelle Krieg und Literatur

Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Committee Prof. Dr. em. Alan Bance, University of Southampton, Great Britain Dr. Fabian Brändle, Zürich, Schweiz Dr. Jens Ebert, Historiker und Publizist, Berlin, BR Deutschland Prof. Dr. em. Frederick J. Harris, Fordham University, New York, USA Prof. Dr. Christa Ehrmann-Hämmerle, Universität Wien, Österreich Prof. Dr. em. Walter Hölbling, Karl-Franzens-Universität Graz, Österreich Prof. Dr. em. Bernd Hüppauf, New York University, New York, USA Prof. Dr. em. Holger M. Klein, Universität Salzburg, Österreich Prof. Dr. em. Manfred Messerschmidt, Freiburg/Br., BR Deutschland Dr. Holger Nehring, University of Stirling, Great Britain Prof. Dr. em. Hubert Orłowski, Uniwersytet Poznan, Polska PD Dr. Matthias Schöning, Universität Konstanz, BR Deutschland Prof. Dr. Benjamin Ziemann, University of Sheffield, Great Britain

Claudia Junk / Thomas F. Schneider (Hg.)

Illustrierte Kriegspost Briefe und Karten deutscher Künstler als Zeitzeugen

Der Farbdruck wurde gefördert durch die Stadt Osnabrück

Herausgeber / Editor Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Erich Maria Remarque-Archiv/Arbeitsstelle Krieg und Literatur Universität Osnabrück, Markt 6, D-49074 Osnabrück Herausgebergremium / Editorial Board Claudia Junk, Thomas F. Schneider Redaktion / Editing Claudia Junk, Emilia Brauer, Luise Jöllenbeck, Arthur Kliewer, Stephan Pohlmann, Pit Warmbold Gestaltung / Layout Claudia Junk, Thomas F. Schneider Titelbildnachweis Manfred Bofinger. Taube mit Maulkorb. Buchdruck und Faserschreiber, 2003 © Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Osnabrück

Krieg und Literatur / War and Literature erscheint einmal jährlich. Preis pro Heft EUR 45,00 / Abonnement: EUR 40,00 p.a (+ Porto) © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Birkstraße 10, D-25917 Leck / Printed in the EU. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-8471-1515-1 | ISBN (E-Book) 978-3-8470-1515-4 ISBN (V&R eLibrary) 978-3-7370-1515-8 | ISSN 0935-9060

Inhalt



7 Wolfgang Knop Illustrierte Kriegspost Briefe und Karten deutscher Künstler als authentische Zeitzeugen, Botschaften der Mahnung und Erinnerung 215 Rezension/Review Uwe Wittstock. Februar 1933. Der Winter der Literatur (Thomas Amos)

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Eingegangene Bücher/Books Received Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe/ Contributors to this Edition

Wolfgang Knop

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Briefe und Karten deutscher Künstler als authentische Zeitzeugen, Botschaften der Mahnung und Erinnerung Kriege sind leider allgegenwärtig in Vergangenheit und Gegenwart in Deutschland und anderswo. Die Geschichte der Menschheit ist prall gefüllt mit kleinen und auch großen kriegerischen Auseinandersetzungen. Tote, Verwundete, zerstörte Wohnungen, Krankenhäuser, Kulturdenkmäler, Arbeitsstätten sind die Folge. Ebenso unermessliches Leid und Schmerz. Zuletzt hat man mit bangen Ahnungen den gewaltigen Militäraufmarsch russischer Truppen an den Grenzen der Ukraine verfolgt. Das aggressive Russland belagert mit militärischer Übermacht wochenlang drohend die Grenzen des Landes. Internationale Appelle, auf Verhandlungen zu setzen, statt auf Waffen, fruchten nicht. Am 24. Februar 2022 überfällt Russland auf Befehl Putins die Ukraine von mehreren Seiten. Alle in dieser Publikation folgenden Text- und Bildbeispiele möchte man als Mahnung und Abschreckung verstanden wissen. Jeder einzelne Brief und jede Karte mit ihren verbalen Mitteilungen und Kunstwerken, die im Hauptteil besprochen werden, artikulieren sich gegen jeden Krieg. Natürlich nachträglich auch gegen diesen Putin-Krieg, dessen schreckliche Bilder wir täglich über die Medien empfangen. Die Abfassung dieser Schrift stand sehr unter dem Zeichen dieser völkerrechtswidrigen Ereignisse. Da haben wir in Deutschland noch tödliche Erinnerungen an zwei der schlimmsten Kriege, die von hier ausgegangen sind: den Ersten Weltkrieg 1914 – 1918 und den Zweiten Weltkrieg 1939 – 1945. Letzterer kehrte bekanntlich mit großer Wucht am Ende wieder nach Deutschland zurück. Zehn Jahre nach dem Ersten Weltkrieg sind auf dem Gebiet der Literatur drei ganz große Standardwerke zum Krieg und gegen ihn erschienen. Einmal von

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Ludwig Renn1 der Roman Krieg. Ebenfalls 1928 kam von Erich Maria Remarque Im Westen nichts Neues heraus. Im selben Jahr begann Arnold Zweig die auf acht Bände geplante Romanfolge Der große Krieg der weißen Männer. Alle genannten Bücher sind ungemein beeindruckend, aufrüttelnd, mahnend. Dennoch kam es nach den unermesslichen Leiden der Menschen, den vielen Toten und Zerstörungen des Ersten Weltkrieges schon 1939 zu einem zweiten großen Gemetzel. Und das trotz der schlimmen Erfahrungen und der fundierten Mahnungen kluger Köpfe. Wie ist so etwas möglich gewesen und noch immer möglich? Remarque greift diese Frage auch fassungslos auf und betont: Ich sehe, dass Völker gegeneinander getrieben werden und sich schweigend, unwissend, töricht, gehorsam, unschuldig töten. Ich sehe, dass die klügsten Gehirne der Welt Waffen und Worte erfinden, um das alles noch raffinierter und länger dauernd zu machen.2

Sichtlich aufgebracht ergänzt Remarque: Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist! Es muss alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, dass diese Ströme von Blut vergossen wurden, dass diese Kerker der Qualen zu Hunderttausenden existieren.3

Die »schreibende Zunft« musste vielerlei Abhängigkeiten berücksichtigen (Genehmigungen, Geldgeber, Förderer der Projekte, Druck, Bindung, Vertrieb). Deshalb dauerte es zehn Jahre bis zum Erscheinen der im Krieg gereiften Erlebnisse. Im Vergleich dazu hatten es die bildenden Künstler doch weitaus leichter. Insbesondere diejenigen, die sich mit Bleistift, Feder, Tusche und Aquarell begnügen konnten, besaßen im hektischen Kriegsgeschehen Vorteile. Sie sahen sich in der Lage, unmittelbar »vor Ort« spontan Bildeindrücke einzufangen. Von Zeit zu Zeit schickten sie die Arbeiten in die Heimat. Das bot zwei große Vorteile: Einmal konnte man sich dadurch in der Heimat die Kampfhandlungen an der Front einigermaßen vorstellen. Zum anderen waren die Arbeiten dadurch weitgehend vor kriegerischer

1 Pseudonym des Offiziers Arnold Vieth von Golßenau. 2 Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014, 233. 3 Ebd.

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Vernichtung oder Beschädigung an der Front geschützt, gesichert. Hunderte von Grafikern wurden auf diese Weise so etwas wie Kriegsberichterstatter.4 Aber alle anspruchsvollen manuellen Drucktechniken wie Ätzradierung, Lithografie, selbst Holzschnitt waren an vorderster Front wegen ihrer MaterialAnforderungen kaum möglich. Auch Öl- oder Temperamalerei nicht. Arbeiten in diesen Techniken sind in der Regel erst nach Kriegsende entstanden. So auch der weltbekannte Radierzyklus Krieg von Otto Dix. Er entstand 1923/24, also auch runde fünf Jahre nach Kriegsende. Ausnahmen, wenn der Künstler in Heimaturlaub, vom Kriegsdienst befreit oder schwer verwundet war, hat es natürlich gegeben. Max Pechstein zum Beispiel war vom Kriegsdienst befreit, als er die Radierfolge Somme 1916 im Jahr 1918 in Berlin schuf. Als sehr bewegliche, unmittelbar an der vordersten Front mögliche und vielfältig praktizierbare Kunstform möchte ich die illustrierte Künstlerpost bezeichnen. Briefe schreibt jeder. Ganz besonders sogar im Krieg. Hier will man den Angehörigen fast täglich mitteilen, dass man noch lebt. Wenn nun die Karten oder Briefe nicht nur geschrieben, sondern zusätzlich illustriert werden, hat man die ideale Kunstform gerade im Krieg gefunden. Sie ist überall, in der kleinsten Ecke, im Unterstand, selbst im Schützengraben oder im Schützenloch praktikabel. Demzufolge ist sie, wie keine andere Gattung der Kunst, in der Lage, wie ein Arzt den »Puls« der kriegerischen Aktionen zu »fühlen« Das, weil durch die ergänzten zeichnerischen Seh-Erlebnisse des Augenblicks das Mitgeteilte im wahrsten Wortsinn »bildhaft« wirkt. Unsere Briefbeispiele werden es zeigen. Weil ungemein beeindruckend, möchte ich die flammende Rede von Bertolt Brecht auf dem Wiener Völkerkongress für den Frieden 1952 nicht auslassen. Sie ist schon wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gehalten worden. Da waren die Erinnerungen der Menschen noch frisch. Dennoch sagte Brecht schon damals: Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer. Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben […]. Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind […].

Dass er recht hatte, bewiesen alle folgenden Kriege – wo auch immer – auf grausame Weise. Nun auch in der Ukraine, wo z.B. Überschallraketen eingesetzt werden.

4 Siehe Bernd Ernsting. Der Große Krieg im Kleinformat, Graphik- und Medaillenkunst zum Ersten Weltkrieg. Köln 2015. Siehe auch Petra Aescht, Bernd Ernsting. Mich schaudert dieses Krieges. Die graphischen Zyklen zum Ersten Weltkrieg. 2 Bände. Köln 2020.

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Damit wieder zurück zu den Korrespondenzen, die in Wort und Bild sehr eindringlich das oft Unfassbare, Grausame, Brutale der Kriege schildern. Die meisten der Künstler, deren Briefe, Karten und zum Teil auch bildnerische Arbeiten ich über viele Jahre gesammelt habe, sind durch die verheerenden Feuer der Kriege gegangen. An der vordersten Front, in der Etappe, im Hinterland, zwischen den Ruinen haben sie ihre »Notizen« gemacht. Die meisten von ihnen kannte ich persönlich. Mit manchen war/bin ich eng befreundet. Einige von ihnen haben den Ersten Weltkrieg erlebt. Andere den Zweiten. Nicht gerade wenige sogar beide. Natürlich wurden die fürchterlichen Erlebnisse auch in ihren postalischen Niederschriften nachhaltig reflektiert. Das soll jetzt Gegenstand der verbalen und Bild-interpretatorischen Betrachtung sein. Dazu wichtige Hinweise: Die verschiedenen Künstler sind dort in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt, getrennt in den drei Abschnitten Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, andere Kriege. Stammen mehrere Beispiele von einem Künstler, werden sie hintereinander chronologisch geordnet. Wichtige Textpassagen, die sich auf das Kriegsgeschehen beziehen, erscheinen transkribiert und eingerückt. Die bildnerischen Techniken und die Bildtitel werden genannt. Stehen sie in ‹ ›, handelt es sich um Bezeichnungen, die ich nach mündlichen oder anderweitig schriftlich geäußerten Beschreibungen der Künstler gewählt habe. Beim Format der Beispiele wird die Blattgröße in Zentimetern angegeben. Dabei steht Höhe vor Breite. Es folgen Erläuterungen und Interpretationen, die mir für das bessere Verständnis der Dinge angebracht erscheinen. Indem sie die Gesamtzusammenhänge beleuchten, Zeitbezüge aufdecken, gegebenenfalls Hinweise auf die Künstler und ihr angrenzendes Werk geben, bieten sie ergänzende Hintergrundinformationen. In den Texten wird wiederholt mit den bekannten drei Pünktchen […] gearbeitet. Diese ermöglichen das Abgrenzen von zu persönlichen oder für unseren Arbeitsgegenstand nebensächlichen Dingen. Alle Texte bemühen sich um eine behutsame Lenkung der Betrachtung und um eine Stimulierung des Nachdenkens. Das wird dadurch begünstigt, dass der Blick zwischen Bild und Text ohne langwieriges Blättern und suchen, sofort hin- und herwandern kann.

Erster Weltkrieg 28. Juli 1914 – 11. November 1918

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Oskar Bohn (Bad Langensalza/Thüringen 1873 – 1953 Suhl/Thüringen) Er ist als Maler und Grafiker vor allen Dingen ein Gestalter von Landschaften.5 Seit 1914 befindet er sich im Ersten Weltkrieg. Auch am Zweiten Weltkrieg hat er teilgenommen. 1

Oskar Bohn. Unsere Sommerfrische Feldpostkarte an Frau und Sohn, 30.04.1916 Aquarell und Bleistift, 9,2 x 14,4 cm […] Hiermit eine kleine Sonntagsarbeit zu Kurtchens Geburtstag, nachdem wir hier in unserer Sommerfrische einen Feldgottesdienst in der Kirche gehabt haben. Mir geht es recht gut. Behüt Euch Gott. Mit herzlichem Gruß und Kuss Dir und dem Jungen, Dein Feldgrauer […]

Diese Karte besitzt keinen Poststempel, ist vermutlich im Umschlag verschickt worden. Der Ort des momentanen militärischen Aufenthaltes bleibt unbekannt. Dass Bohn noch 1916 den Krieg als »Sommerfrische« bezeichnet und mit einer idyllischen Malerei darstellt, lässt auf eine ruhige Stellung in der Etappe schließen. Oder auf einen angenehmen Ort einer Ruhestellung im Hinterland nach strapaziösen Gefechten. Solche harmlos klingenden Bezeichnungen wurden wohl von nahezu allen Soldaten im Fronteinsatz angewendet, um die Angehörigen in der Heimat zu beruhigen. Zu sehen ist die stimmungsvolle Ansicht eines Dorf- oder Stadtrandes. Gut beobachtet, wie sich der Ort rhythmisch in die angrenzende Natur mit flächigen Wiesen, langen Wegen, üppigen Bäumen und Büschen schiebt. Die Häuser erscheinen schön verschachtelt und farbig zusammengefasst. Es ist eine stille, säuberlich ausgebreitete Architektur-Landschaft mit dem Turm der erwähnten Kirche im Hintergrund. Kleinteilig und anmutig ist sie liebevoll mit Wasserfarben gemalt worden. Da der Künstler den farbigen Dreiklang Grün – Rot – Blau aufbaut, erreicht er eine überzeugende Stimmung. Als anerkannter Landschafts-Gestalter trachtet er danach, die »Stimme der Natur«, wie er es ausdrückt, einzufangen. Das ist ihm auch auf dieser kleinen Karte gelungen. Vergleicht man die bildliche Äußerung der Karte mit den verbalen Mitteilungen auf der Rückseite, so kann man eine frappierende Übereinstimmung feststellen. So bedachtsam, wie die Details der Illustration gemalt worden sind, so zeitaufwendig, formschön, wohlgefällig sind auch die Buchstaben geformt und gefügt worden.

5 Siehe W. Knop. Wege in die Landschaft.... Suhl (Eigenverlag) 2005.

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Der Eindruck einer bemerkenswerten Einheit und Übereinstimmung von Bild und Schrift ist auffallend.6

6 Vgl. W. Knop. Oskar Bohn. Suhl, Böblingen 1991, 187ff.; W. Knop. Oskar Bohn – Langensalza-Bilder und anderes. Ausstellungsfaltblatt, Bad Langensalza 1998; W. Knop. Wege in die Landschaft. Der Maler und Grafiker Oskar Bohn. Suhl 2005.

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Alexander Gerbig (Suhl/Thüringen 1878 – 1948 Suhl/Thüringen) Er gilt als versierter Maler und Grafiker. Seine malerische Ausbildung erhielt er an der Kunstakademie in Dresden bei Gotthard Kuehl und Oskar Zwintscher. Zeichnerisch wurde er dort durch Richard Müller ausgebildet und zuvor bei Alfred Diethe.7 Nicht zuletzt ist Gerbig auch durch seine lebenslange Freundschaft mit Max Pechstein bekannt geworden. Lebenslang will bei Künstler-Freundschaften allerhand heißen, was betont werden soll.8 Von 1915 bis zum Ende 1918 war Gerbig an der Westfront im Einsatz, unter anderem an der Somme und bei den Kämpfen um die Lorettohöhen. Er erlebte die Hölle in schlimmsten Gemetzeln, bei Sturmangriffen, Grabenkämpfen, Artilleriebeschuss und Bombardierungen. Stets trug er Skizzenblock und Bleistift bei sich, um unmittelbare Eindrücke rasch festhalten zu können. So konnte er eine erstaunliche Frische des ersten Eindrucks festhalten, was sich sehr deutlich in seinen Feldpostkarten niederschlägt. 2

Alexander Gerbig. Blick von meiner Wohnung Feldpostkarte von der Westfront an die Nichte, 22.11.1915 Bleistift 8,9 x 13,9 cm Mein liebes Trudelein! Für Deine schönen Grüße im Paketchen sende ich Dir diese Karte, links ein zerfallener Backofen. Dies ist der Blick von meiner Wohnung. Herzliche Grüße und ein Kneifküsschen von Deinem Onkel Alex. Viele herzliche Grüße an Euch alle zu Hause.

Die Karte zeigt eine schnelle Bleistiftskizze aus dem Unterstand der vordersten Front. Der Text ist eindeutig auf Schonung der Angehörigen bedacht. Es heißt Blick von meiner Wohnung (statt »aus dem gefährlichen Schützengraben«) und »zerfallener« (statt zerschossener) Backofen. Die kriegsbedingt zerstörten Häuser und zerfetzten Bäume werden gar nicht erwähnt, obwohl sie Gerbig ungemein berührt haben. Auch fehlt jeglicher Hinweis auf die sichtbaren Granattrichter im Boden. Im November 1915 befindet sich der Künstler, wie es in einem Brief an die Eltern heißt, im »Schützengraben zwischen Roye und Noyon«. Von hier dürfte auch diese Karte stammen. Sie gehört zu den ganz wenigen erhalten gebliebenen Exemplaren, die wirklich als offene Karte verschickt wurden. Meist versendete er sie im Briefumschlag oder als Briefbeilagen, um sie vor Beschmutzungen und Beschädigungen zu schützen. 7 Siehe W. Knop. Meine Suche nach dem Maler Gerbig. Suhl 1981; W. Knop. Schaut her – ich bin’s. Suhl (Eigenverlag) 1998; W. Knop. Damals, ein Maler sieht die »gute alte Zeit«. Suhl (Eigenverlag) 2004. 8 Siehe W. Knop. »Mein lieber Alex …«. Die Korrespondenz Max Pechsteins mit dem Maler Alexander Gerbig. Zwickau 2014.

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Zu sehen ist eine Stille, fast »friedliche« Kriegslandschaft. Das ist u.a. darauf zurückzuführen, dass keine Soldaten zu sehen sind, was bei Gerbig höchst selten vorkommt. Die Skizze breitet sich spannungsvoll zwischen zwei Gebäuderuinen und den Schriftzeilen aus. Gefühlvoll aber rasch ist der gegebene Eindruck fixiert worden. Sensibel gezeichnete Konturen, die die Formen schnell umreißen, dominieren. Nur wenige Schwärzen sind zu sehen. Sie übernehmen eine akzentuierende Wirkung. Dazwischen befindet sich eine reiche Skala vibrierender Schraffuren. Sie verleihen dem Ganzen Frische und Leben. Die Schriftzeilen, die die Bildszene nach unten abschließen, bekommen nicht nur eine erklärende, sondern auch eine kompositorisch rahmende Aufgabe. Der Duktus des schnellen Niederschreibens sowohl der Schrift- als auch der Bildlinien ist identisch. Die verbalen wie die bildhaften Mitteilungen sind »in einem Guss« entstanden. Die seismografisch vibrierenden Striche haben mit Nervosität, Hektik, innerer Unruhe zu tun.9 3

Alexander Gerbig. Weihnachten 1915 Feldpostkarte ohne Beschriftung, Beilage zu zwei Briefen von der Front an die Eltern, 29.12.1915 Bleistift 13,9 x 9,1 cm

Dass an einem Tag gleich zwei Briefe an die selben Adressaten gehen, mag allgemein verwundern. Aber für Gerbig war das typisch. Einmal macht es deutlich, wie sehr er daran interessiert ist, mit der Heimat in engster Verbindung zu bleiben. Zum anderen untermauert das seine permanente Vermutung: »Die nächste Kugel ist vielleicht meine!« Die beigefügte illustrierte Karte erfüllt eine Mehrfachfunktion. Mit dem Titel Weihnachten 1915 stellt sie seine originale Weihnachtskarte an die Eltern und Geschwister dar. In Gestalt der gerade platzenden Leuchtrakete auf der Zeichnung, die an die Böller zu Silvester denken lässt, ist sie zugleich seine Neujahrskarte. Sie stellt ferner seinen Einsatz zu Weihnachten dar: den Bereitschaftsdienst mit Wachestehen hinter Erdwällen, Sandsäcken und Drahtverhau. Wachsamkeit ist im vorderen Graben erforderlich, um in Nähe der Gegner Überraschungen zu verhindern. Damit bringt die Karte auch eine bildliche Entschuldigung dafür, dass die Sendung erst am 29. Dezember zur Poststelle gebracht wird. Also doch recht lange nach Weihnachten und schon denkbar knapp vor dem bevorstehenden Jahreswechsel.

9 Vgl. W. Knop. »Erinnerung an einen Vergessenen – Alexander Gerbig«. Bildende Kunst 7 (1978), 317ff., insbesondere 319/320.

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Sehr bedächtig, betont kleinteilig angelegt und liebevoll gezeichnet wirkt die wunderbare Illustration. Eine Vielzahl kürzerer Schraffuren, die in verschiedene Richtungen streben, ist bildprägend. Einerseits tragen die Strichelchen dazu bei, die Einzelformen im Hell-Dunkel und in der Richtungsbetonung voneinander abzuheben, zu trennen. Andererseits sorgen sie für Ton- und Stimmungswerte der beschriebenen regnerisch-trüben Nacht. Da kann man den summierten, über das obere Blatt verteilten Strichteppich der Raketenstrahlung auch als Regenschnüre deuten. Die ausladend platzende Leuchtrakete am Nachthimmel, die das Kriegsgeschehen spärlich erhellt, ist zugleich der traditionelle Weihnachtsstern. Mit konzentriert und sachlich fixierendem Strich erfolgt eine genaue Bestandsaufnahme, ein ausdruckhafter Zustandsbericht vom Gebauten, Aufgeworfenem und Verdrahtetem im und vor dem Schützengraben. Dieser genaue Wiedergaberealismus ermöglicht es dem Künstler, die Lieben zu Hause bestmöglich zu informieren. Die beiden oben genannten Briefe konnte ich einsehen. Der erste befindet sich in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart.10 In dem Brief bittet Gerbig die Eltern wieder um eine Rot- und Weißwurst. Er schwärmt von einem freien Nachmittag, den er zum Zeichnen nutzen konnte. Ich bekam die Erlaubnis vom Komp. Führer, das kleine Städtchen Roye zu besuchen. Ich sah da zum erstenmale wieder Zivilpersonen, Franzosen, denen man ansah, wie sehr sie unter dem Kriege leiden […] Eine alte […] gothische Kirche wollte ich […] besehen. Diese ist aber leider […] fast gänzlich zerstört. Wie mich das ergriff, die schönen alten Glasfenster, unersetzliche Kunstwerke, vollständig zerfetzt in den Rahmen hängen zu sehen […]

Der andere Brief befindet sich in der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden, Abt. Schriftensammlung. Darin erwähnt Gerbig ein Paket mit schmutziger Wäsche. Mahnend schreibt er:

10 Siehe Irina Renz. »Bedeutende Neuerwerbungen – Feldpostbriefe und Holzschnitte von Alexander Gerbig, Künstler und Freund von Max Pechstein«. WLBforum (2017), 2, 44–47 mit 5 Abbildungen.

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Mit der Wäsche müsst ihr […] vorsichtig sein – der Läuse wegen – von denen wir arg geplagt werden […] Wenn mal das Wetter besser würde, haben wir auch im Graben angenehmere Zeit […] Leider setzte […] schon wieder Regen ein […]

Unten, an der Spiegelung in der Grabentiefe schwach erkennbar, die Wasserpfützen des erwähnten Regens.

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Alexander Gerbig. Alarm Feldpostkarte ohne Beschriftung, Beilage zu einem Brief an die Eltern, 22.01.1916 Tusche 9,1 x 13,4 cm



[…] Wir haben wieder angestrengten Dienst, galt es doch vorzubereiten […] eine Parade vor dem Kommandierenden General des Garde Korps […] Folgender Dienst […] von 9 Uhr […] bis 2 Uhr Felddienst mit Hinlegen in den Morast […] Nachmittags in tadellos geputzten Anzug zum Appell, abends […] Drahtziehen (Stacheldrahtverhau) […] im Schützengraben, gegen 2 Stunden zu laufen […] 200 m lang und 8 m tief Pfähle einrammen und mit Draht verbinden und es war kalt […] Gegen 3 Uhr morgens kamen wir sehr ermüdet im Quartier an. Morgens ½ 7 Uhr wieder geweckt. 8,30 Uhr […] Felddienst bis 2 Uhr, über und über beschmutzt. Um 5 Uhr nachm. mussten wir wieder blitzblank zum Appell […] Heute […] alle Sachen in Ordnung bringen, Gewehrappell und dergleichen mehr, so dass man wieder kaum zur Besinnung kam. Sende Euch […] Kriegszeitungen […] [In diesen finden sich oft Abbildungen von Gerbigs Kriegszeichnungen. Wiederholt wird er als Preisträger künstlerischer Wettbewerbe der Soldaten genannt. W. K.] Eben erhielt ich auch den Brief von Max [Pechstein, W. K.]. […] Die schöne Suhler Wurst ist immer ein besonderes Festessen für mich […] schickt mir doch […] Normalhemden […] und ein Paar Strümpfe.

Dieser Brief besitzt in seiner informativen Ausführlichkeit (4 Seiten) eine Art Schlüsselfunktion. Einmal nennt er die vielen Vorgänge und Tätigkeiten an der Front (Alarm, Fußmarsch, Drahtziehen, Kleidersäubern). Zum anderen schützt er die illustrierten Karten auf dem Transport, die davon zeichnerisch berichten. Es handelt sich um eine packende Zeichnung. Sie erfasst mit nervösem Strich die dramatisch-turbulente Szene des wild bewegten Reagierens nach dem Alarm, der im Brief mehrmals anklingt. Hastig verlassen die Soldaten die DoppelstockBetten. Springend, sitzend, laufend greifen sie nach ihren Schuhen, Mützen, Koppeln, Gewehren. Im Laufschritt will man den engen Raum verlassen. In eiliger Bewegung schiebt, rempelt drückt man sich. Die kleine Tür wird zum Nadelöhr. Vor ihr kommt es zum Stau, der sich aber schnell auflösen muss. Wieder sind es meist kurze Schraffuren und wenige, teils unterbrochene Konturen, durch die das dynamische Bildgeschehen geformt wird. In ihrer Summierung erzeugen die Linien kleine dunkle Flächen, welche die Gegenstände und Gestalten körperlich formen, sie hell und plastisch hervortreten lassen. Genau so schnell, wie der dargestellte Handlungsablauf, ist auch das vielfach Erlebte zeichnerisch niedergeschrieben. Gut beobachtet und kompositorisch in Szene gesetzt die geball-

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te Dynamik aufgepeitschter menschlicher Körper. Die typischen Haltungen und Bewegungen sind trotz der Eile sicher erfasst. 5

Alexander Gerbig. Marsch zum Einsatz Feldpostkarte ohne Beschriftung Tusche 8,9 x 13,7 cm

Der in mehreren Briefen eindringlich beschriebene Marsch über weite Strecken zum Einsatzort, wird in der Illustration der Feldpostkarte bestens erfasst. Eine Vielzahl von kleinen Rundungen umreißt die behelmten Köpfe der Soldaten. Wenige, leicht schräggestellte Kurzlinien geben die im anstrengenden Marsch leicht vorgebeugten Gestalten schwerpunktmäßig an. Ebenfalls schräg gestellte kurze Linien verdeutlichen die geschulterten Gewehre, die man mit sich führt. Alles ist in die schwungvollen Kurven des Weges eingefügt. Die bogigen Begrenzungen der Wegböschungen unterstützen die schön gesehenen Schwünge. So ergibt sich ein langer Zug der marschierenden Soldaten. Die leichten Bodenerhebungen und die vorhandenen Büsche werden zur Tarnung vor dem Feind genutzt. Überzeugend, wie sich die gewaltige Formation des Zuges in die Tiefe hinein streckt durch perspektivisches Kleinerwerden.

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Alexander Gerbig. Beim Säubern der Kleidung Skizzenblatt ohne Beschriftung, beigelegt einem Brief an die Eltern, 22.01.1916 (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart) Bleistift 11,8 x 7,9 cm



Die schnell hingeworfenen Andeutungen eines Soldaten sind einzigartig. Beim genauen Hinsehen ist ein sitzender, leicht vorgebeugter Soldat zu erkennen, der sich sehr konzentriert um seine Kleidung bemüht. Offenbar klopft oder bürstet er das nicht erkennbare Utensil aus. Vielleicht näht er einen Knopf an oder stopft ein Loch zu. Zu diesen »Putz- und Flick«-Arbeiten zwingt ihn der im Brief vom 22. Januar 1916 mehrfach geschilderte Befehl, zu einer bestimmten Zeit damit zum Appell fertig zu sein. Solche rasch erfassten, nur das Wichtigste an Proportionen, Haltungen, Gesten angebenden Bleistiftskizzen entstehen bei Gerbig in der Regel direkt vor dem Geschehen. Also unmittelbar »vor Ort« an der Front. Im Gegensatz dazu sind die differenzierter durchgearbeiteten Tuschezeichnungen in der Ruhestellung entstanden. Dort ist nicht nur mehr Ruhe vorhanden, sondern auch mehr Platz, die für diese Technik von Vorteil sind. So sind nach dieser kleinen Bleistiftzeichnung von Abb. 6 mehrere Versionen der Verwertung entstanden. Eine davon ist beispielsweise abgebildet in einer der im Brief erwähnten Kriegszeitungen.11 Dort beschriftet »Originalzeichnung für die Armee-Zeitung ›Waesche am Bach‹, gez. von Grenadier Gerbig«.

11 Armee-Zeitung (St. Quentin), 252 (26.08.1916), 4.

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Alexander Gerbig. Ein Stückchen Krieg Feldpostkarte an die Nichte in Suhl, 23.07.1916 Tusche 13,4 x 9,1 cm […] Umstehend ein Stückchen Krieg. Heute vor einem Jahre wurde ich Soldat. Wer hätte geglaubt damals, dass ich nach einem Jahre noch in Frankreich weilen sollte. Beiliegende Zeitung bringt wieder eine Zeichnung von mir. Gebe diese bitte Großpapa zum Aufbewahren […]. Dir und allen zu Hause herzliche Grüße […]

Sichere Konturen umreißen beeindruckend klar, trotz innerer Fassungslosigkeit, ein endloses Trümmerfeld. Mit betont sicher gesetzten Strichen hat der Künstler offenbar in aller Ruhe eine typische Kriegslandschaft um sich herum erfasst. Ein zerschossenes und ausgebranntes Haus, von dem man nur noch die spärlichen Reste des Daches sieht, grenzt die Bildsicht nach hinten ab. Davor Berge von zerwühltem Erdreich und Schutt. Vereinzelte abgebrochene Holzbalken und Bretter sowie Eisenträger und Stangen ragen aus dem Durcheinander der Trümmer. Radteile, Steine, Sand und Erde liegen wild durcheinander. Indem einige Bildteile und der untere Abschluss der Zeichnung mit mehr Schwärze bedacht werden, ist ein rhythmisch bewegtes, in sich geschlossenes Ganzes entstanden. Reich strukturiert und übersichtlich gegliedert gibt sich die gelungene Komposition.12

12 Siehe W. Knop. »Ausdruckskraft, Formwille und Schwung der Bewegung. Der Thüringer Maler und Grafiker Alexander Gerbig«. Expressionismus in Thüringen. Erfurt/Jena 1999, 94–99; W. Knop. »Klopfzeichen aus nahen Fernen. Expressionistisch illustrierte Postkarten und Briefe«, 114–120. Dort auf S. 117 Ein Stückchen Krieg abgebildet. Ebenfalls dort reproduziert und kurz beschrieben die Feldpostkarte Marschformation, die hier als Abb. 8 folgt.

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Alexander Gerbig. Marschformation Feldpostkarte ohne Beschriftung, beigelegt einem Brief an die Eltern in Suhl, 14.09.1916 (Sächsische Landesbibliothek Dresden) Tusche 9,0 x 13,7 cm



[…] Wir sind jetzt Gott sei Dank aus der Hölle [die Somme-Schlacht, W. K.] heraus und jetzt täglich unterwegs. Nach den großen Strapazen in den Gefechten sind unsere Marschleistungen sehr anstrengend. Todmüde fallen wir auf unsere harten Lager und doch sind wir froh, ein paar Tage keinen Kanonendonner zu hören […] Ach, manchen Braven haben wir draußen lassen müssen. Und doch sind die Gefallenen noch am Besten dran. Der ganze Jammer des Krieges zeigt sich in den oft entsetzlichen trostlosen Leiden der Schwerverwundeten […] Ja, es möchte das grausame Blutvergießen ein Ende nehmen und bald. Die Menschheit hat sich genug zerfleischt […]

Die paar Tage Ruhe, von denen die Rede ist, hat Gerbig veranlasst, wieder zur Tusche zu greifen. Eine kompakte Ansammlung bewaffneter Soldaten zu Fuß, zu Pferde und auf Fahrzeugen bringt er zu Papier. Im Vergleich zu Abb. 5, wo eine ähnliche Marschformation in die Länge gezogen ist, wurde hier ein schmalerer Bildausschnitt gewählt. Mit kurzen hektischen Strichbündeln fängt er Turbulenz, Rhythmus und Bewegung wunderbar ablesbar ein. Beinahe tachistisch wird das fahrige Auf und Ab, das vorwärts und zur Seite drängt, nachvollziehbar sichtbar gemacht. Und das, obwohl er »nur« andeutet und zeichnerisch summiert. Lediglich die hintere Reihe der Reiter und Fahrer ist deutlicher sichtbar. Alles andere sind nervöse Striche, die sich aber, einzigartig gut gesetzt, gekonnt zur erlebbaren Formation fügen. Die Illustration besteht aus nervös vibrierenden Konturen und Schraffuren. Mit seismografischer Empfindlichkeit sind sie auch Ausdruck des Vorwärtsschleppens der geschwächten, müden Gestalten. In der augenblicklichen Ruhestellung zeichnet Gerbig seine Erinnerungen an die unlängst durchlittenen heftigen Kämpfe an der Somme. Dazu gehören mehrere Karten, die nachfolgend beschrieben werden.

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Alexander Gerbig. Volltreffer Feldpostkarte ohne Beschriftung, beigelegt zwei Briefen an die Eltern in Suhl, 02. + 03.09.1916 (Sächsische Landesbibliothek Dresden) Tusche 8,9 x 13,7 cm



02.09.1916: Fünf schwere Tage habe ich hinter mir. Habe während dieser Tage heiße Gefechte miterlebt, in welchen ich Gott sei Dank ganz unversehrt blieb. Ich habe da den Krieg in seiner grässlichsten Form kennen gelernt und unbeschreibliche seelische Momente durchkostet. Mancher der lieben Kameraden ist geblieben oder liegt verwundet im Krankenhause. Ich kann Euch sagen, die Hölle war los. An den brenzlichsten Punkten der wütenden Sommeschlacht wurden wir eingesetzt […] Unser Komp. Führer schickte mich nach der Schlacht zurück, damit ich meine Eindrücke, welche natürlich ganz gewaltig sind, für die Mappe festhalte […]13 Gestern begruben wir einen netten Menschen, […] welcher in demselben Feuer stand, in welchem ich auch war, als unser Zugführer. Wir gingen in starkem Maschinengewehr- und Infanteriefeuer […] vor, dazu das ständige Krepieren der Granaten und Schrapnells. Aber macht Euch jetzt keine Sorge um mich, alles ist jetzt überwunden und keine Gefahr mehr […]

03.09.16: […] Draußen wogt der Kampf in seiner wüsten Form weiter […]

Die Zeichnung zeigt das unheilvolle Ergebnis dieses Wütens. Volltreffer nennt sie der Künstler. Ein zerschossenes Pferdegespann liegt im Zentrum der Karte. Drumherum sind tote Pferde und Soldaten wie auch die zersplitterten Teile des Fahrzeugs verstreut. Mensch, Tier und Material wurden mit einem Schlag hinweggerafft. Durch den Luftdruck der Detonation liegen sie im Umkreis durcheinander gewürfelt übereinander. Mit sparsamen Andeutungen sind die zerfetzten Reste des Wagens und der Toten umrissen. Auf konkrete Einzelformen wurde dabei weitgehend verzichtend. Nur hier und da kann man den Körper eines Pferdes oder eines Soldaten in Teilen aus der Schwärze herausgeschält erkennen. Beinahe

13 Eine Kriegsmappe ist geplant, zu der Gerbig die Zeichnungen liefern soll. Im reproduzierten Zustand will man sie zugunsten der hinterbliebenen Angehörigen der gefallenen Soldaten und Offiziere verkaufen. Dazu später mehr.

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monoton werden Himmel, Berge, Boden gestrichelt. Geringe Unterschiede in der Helligkeit heben die Bildteile voneinander ab. So schafft Gerbig nicht nur den Eindruck eines einzigen Durcheinanders, in welchem alles miteinander vermengt ist. Er suggeriert auch eine lastende Ödnis, eine tote Landschaft mit nichts Lebendigem darin. Das wird auch dadurch unterstützt, dass das stark gestrichelte Umfeld dicht an das dramatische Geschehen im Mittelteil heranrückt, dieses gleichsam einfasst. In den Briefen werden mit Anteil nehmenden Worten die vielen Gefallenen bedauert und betrauert. Das veranlasst mich zu der Vermutung, die Darstellungen und zum Teil auch die betonten Schwärzen der Zeichnungen könnten ein Zeichen seines Mitgefühls, seiner Mittrauer sein. Ein zeichnerischer Trauerflor des Künstlers quasi. Diese Vermutung wird gestützt durch die beiden folgenden Belege: 10

Alexander Gerbig. Erstürmung der Berghöhe Feldpostkarte ohne Beschriftung Tusche 9,2 x 13,5 cm

Hier wird insbesondere die tote Ödnis betont. Aber auch die Hast der laufenden Soldaten, die unter Beschuss versuchen, die Höhe zu erreichen. Das gelingt natürlich nicht allen. Einzigartig reduziert, ist alles gestrichelt dargestellt.

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Alexander Gerbig. Ausbesserung der Kampfschäden Feldpostkarte ohne Beschriftung Tusche 8,9 x 13,7 cm

Auf beiden Karten, die ohne Beschriftung und Datierung vorliegen, werden Kriegshandlungen zeichnerisch geschildert. Die Akteure sind hier wie dort durch sparsame Kurzstriche akzentuiert. Einmal die weit ausgeschwärmten, teils geduckt und teils aufrecht laufenden oder gefallenen Soldaten beim eiligen Erstürmen des Berges. Das andere Mal die mehr statisch agierenden Gestalten beim Materialtransport und beim Einsatz am und im Graben. Die Umgebungen der Aktionen bleiben in beiden Fällen relativ unbehandelt und hell. Der Künstler handelt das Geschehen nicht nur sehend und reagierend ab. Auch wissend und empfindend. Viele Male war er selbst an solchen Aktionen beteiligt. Sie sind schon fast zur Selbstverständlichkeit geworden, zu einer Alltäglichkeit. Da ist weniger Mitgefühl gefragt, mehr der Tatsachenbericht.

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Alexander Gerbig. Sturmangriff Feldpostkarte ohne Beschriftung Bleistift 8,9 x 14 cm

Eine ganz hervorragende Zeichnung. In der mehrfach erwähnten Armee-Zeitung, diesmal Nr. 239, St. Quentin, 27.07.1916, S. 7, wird von Grenadier Gerbig eine spannungsvolle, gut komponierte Tuschzeichnung abgebildet. Ihr Titel: Patrouille übersteigt Drahtverhau. Man sieht eine Dreiergruppe von Soldaten, die im Laufschritt das Wirrwarr an Pfählen und Stacheldraht zu überwinden trachten. Im Prinzip finden wir diese Soldatengruppe in Abb. 12 wieder. Aber die Zeichnung ist merklich verändert, bereichert, verbessert worden. Die Soldaten, nun vier an der Zahl, führen jetzt auch Gasmasken mit sich, sind in den Bewegungen, Proportionen, Haltungen, Körperteilen ausgeprägter gesehen. Aus der kleinen »Patrouille« von einst ist nun ein mächtigerer »Sturmangriff« bei den SommeKämpfen geworden.14 Bei diesem »Sturmangriff« handelt es sich um einen kühnen zeichnerischen Wurf. Er besteht aus beeindruckend klaren und sicheren Konturen wie aus differenzierenden Schraffuren, die Grautöne schaffen. Man sieht das rhythmisch bewegte Vorpreschen der Soldaten, sieht sie beim Unterkriechen, Überspringen, Durchlaufen des sperrigen Drahtverhaus. Ein treffend komponierter Rhythmus der Bewegungen mehrerer Leute ist da meisterhaft eingefangen. Überzeugend, wie das bestehende Durcheinander der vielen Pfähle, Drähte, Unebenheiten und wie der bewachsene Boden gesehen und dargestellt werden. Alles trägt zur Realistik der Operation bei und unterstreicht deren Schwierigkeiten. Da hört man förmlich, wie die Kleidung reißt und wie der betreffende Soldat leise flucht. Schön, wie die Linien die Körper der Stürmenden formen, die Behälter der Gasmasken davon abheben und alles plastisch heraus schälen. Überzeugend auch, wie der vordere Akteur kraftvoll zum Sprung ansetzt und das Gewehr im Schwung nach oben reißt. Aber auch die anderen sind blendend in ihrer vorwärts drängenden Haltung gekennzeichnet. Es ist eine an Strukturen und Tonwerten reichhaltig angelegte Zeichnung. Man kann auf ihr regelrecht mit den Augen »spazieren« gehen. Dazu als Abrundung noch einmal eine Zeile aus dem genannten Brief: Wir gingen im Maschinengewehr- und Infanteriefeuer vor, dazu das ständige Krepieren der Granaten und Schrapnells […]

14 Siehe die zwei oben genannten Briefe vom 2. und 3. September 1916.

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Alexander Gerbig. Messstation Feldpostkarte ohne Beschriftung und Datum, vermutlich einem Brief an die Eltern beigelegt, 04.01.1917 (Sächsische Landesbibliothek Dresden) Bleistift 9,1 x 14,2 cm […] Das neue Jahr hat nicht besonders gut für mich angefangen. Es kam […] der Befehl, die Station über die Somme zu verlegen, da man annimmt, dass das Wasser Einfluss hätte auf unsere Beobachtungen […] Nun bin ich wieder Höhlenbewohner […] Ihr glaubt nicht, welch Zerstörungswerk hier vollbracht wurde[…], all die schönen Ortschaften vollständig verwüstet, diese können niemals wieder bewohnbar gemacht werden, die Bäume ihrer Äste beraubt und der Boden von den Granaten durchwühlt. Zwischen all dieser Wüstenei fließt ruhig und unbekümmert die Somme, als ob ihr der böse Krieg gar nichts anginge […]

Der Künstler ist inzwischen zu den Fliegern abkommandiert. Er war einige Zeit zur Ausbildung in Berlin. Danach kommt er wieder an die Front, wo er in Messstationen eingesetzt ist. Neben den vielen Toten sind es insbesondere die wüst zerfetzten Bäume die es dem Natur liebenden Maler besonders angetan haben. Es sind nervöse, teils langgezogene Strichgarben, mit denen er die »Höhlenbewohner« in der Messstation einfängt. Man sieht sie bei ihrer Tätigkeit an den technischen Geräten. Der linke Soldat scheint zu funken oder ein Gerät einzustellen. In Blickrichtung des Betrachters ist ein größeres Gerät zu sehen. Ihm scheinen Zeichen oder Geräusche zu entweichen, die der Künstler als Wellenlinien gekennzeichnet hat. Sie werden aufmerksam verfolgt. Der mittlere Kamerad, der von hinten gesehen wird, ist leicht nach vorn geneigt. Er arbeitet mit den nicht sichtbaren Händen. Vielleicht macht er Notizen des Gehörten, das zu entschlüsseln ist. Beim rechts sitzenden Soldaten ist es ähnlich. Er wird zwar von der Seite gesehen, aber seine Hände sind durch den mittleren Körper verdeckt. Nach seiner Mütze zu urteilen, ist er ein Offizier, der wohl die Tätigkeiten beobachtet. Offensichtlich werden hier Messdaten erfasst und weitergegeben, die dem Einsatz von Flugzeugen und Ballons dienen.

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Alexander Gerbig. ‹Kriegslandschaft› Feldpostkarte ohne Beschriftung und Datum Bleistift 14,3 x 9,3 cm

Diese schlichte, aber sehr ansprechende Zeichnung lässt sich keinem erhaltenen Brief zuordnen. Da auch keine Beschriftung vorliegt, ist eine genaue Einordnung oder Datierung nicht möglich. In allen Phasen des Krieges, die Gerbig mitgemacht hat, kann sie entstanden sein. Aber vermutlich ist zwischenzeitlich der Befehl zur baldigen Aufgabe der Stellung gekommen. Dafür spricht der verwendete Bleistift zum Zeichnen. Er kommt immer zum Einsatz, wenn wenig Zeit zur Verfügung steht. Hier dürfte es sich um einen ganz schnellen, letzten Blick auf die Kriegslandschaft handeln, die man so oder ganz ähnlich fast drei Jahre um sich hatte. Mit innerer Anteilnahme wird die kurze Entfernung zu den Häuser-Ruinen im Hintergrund ausgelotet. Leicht dunkel gehalten werden die Ruinen, um einen schwachen Kontrast zu dem helleren Baum ganz vorn und dessen Umfeld aufzubauen. Der Baum scheint im Vergleich zur desolaten Umgebung noch recht gut davon gekommen zu sein. Vielleicht war das die Anregung zu dieser Zeichnung: Ein Baum, der nicht total ruiniert, sondern nur geringfügig beschädigt ist. Eine seltene Ausnahme! Das mag dem Künstler unter Umständen eine gern gezeichnete »Beruhigungspille« am Ende aller Zerstörung gewesen sein. Liebevoll schreibt er das Gesehene nieder. Aber viel Zeit hat er ganz offensichtlich nicht gehabt. Ob da schon der Abmarsch befohlen wird?

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Alexander Gerbig. Der Augenblick Feldpostkarte ohne Beschriftung, Beilage eines Briefes aus Polch an die Eltern in Suhl, 18.11.1918 (Sächsische Landesbibliothek Dresden) Bleistift 9,1 x 14,6 cm […] Wir fuhren per Auto von Frankreich ab und erreichten als die ersten mobilen Formationen Belgien, wo wir wider Erwarten bei der Zivil-Bevölkerung eine sehr herzliche Aufnahme fanden. An der deutschen Grenze haben die Orte alle reichen Flaggenschmuck angelegt, die Leute traktierten uns mit Kaffee, Bouillon und Äpfel […] Heute Nacht zum erstenmale in einem richtiggehenden Bett geschlafen. Wenn wir auch nicht als Sieger heimkehren, so […] ist es uns doch gelungen, die Kriegsfurie von unserem Vaterlande fernzuhalten […] Wir (werden) von Koblenz aus per Bahn nach Altenburg […] befördert, so dass es […] noch 8 Tage dauern kann, bis ich nach Hause komme. Man kann es noch gar nicht fassen, dass es möglich sein kann, wieder glücklich heimzukehren zu edler Friedensarbeit. Mit einem Male ist der Augenblick gekommen, den wir so lange ersehnt haben. Wer hätte das gedacht […]

Hier fühlt sich jemand ganz offensichtlich wie neu geboren. Irgendwo unterwegs, vielleicht in Polch, wo der himmelhoch jauchzende Brief geschrieben wird, oder schon vorher aus dem Zug heraus, ist die sehr einfühlsame Zeichnung der Feldpostkarte entstanden. Ganz einfach gehalten ist sie sowohl in den Mitteln als auch in der Form. Schwungvoll tanzende kurze Linien und Parallelschraffuren schaffen differenzierte, zaghafte Schwärzen als feine Bildakzente. Beinahe genüsslich und freudig bewegt wird ein friedliches Bild entwickelt. Seelenruhig grasende Pferde auf grüner und sonniger Wiese sind die Akteure. Keine grausam verstümmelten Pferde, sondern wirklich lebende. Sie grasen unter dichten, unbeschädigten Bäumen. Unfassbar! Das erscheint so unwirklich wie ein Märchen. Nach drei Jahren Krieg mit dröhnendem Trommelfeuer, zerschossenen Bäumen und toten Kreaturen nun ein Anblick ungewohnter friedlicher Stille als Kontrast. Gerbig scheint es regelrecht zu genießen, diese schier unmögliche Blätterpracht ins Bild zu setzen. Die ganze obere Hälfte der Zeichnung ist diesem ungewohnten und sehnlichst gewünschtem Laubwerk der Bäume gewidmet. Wie einen natürlichen Schutzschild hat er es als endloses Meer üppiger Blätter über der friedlichen Szene ausgebreitet. Mit sichtlicher Freude und Erleichterung werden auch unzerstörte Häuser wiedergegeben, die die große Weidefläche eingrenzen. Echte Stille ist nun tatsächlich angesagt nach dem wuchtigen Dröhnen und Wummern der Vergangenheit.

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Die Kriegsmappe, von der in den Texten mehrfach die Rede war, weil Gerbig dazu die Zeichnungen anfertigen sollte, ist von ihm abgeschlossen worden. Er bringt die Arbeiten von der Front nach Dresden, wo sein Kunsthändler sich darum kümmern soll. Zuletzt sind es 107 Blätter geworden, 100 Frontmotive und 7 Porträts von befehlenden Offizieren. Doch die Mappe kommt am Ende nicht zustande. Der Ausgang des Krieges lässt wohl eine Fertigstellung nicht geraten erscheinen. Der Künstler bedauerte das. Bis zu seinem Tode 1948 hält er alle Blätter gewissenhaft beisammen. Danach werden sie in alle Winde zerstreut. Ich habe sie wieder zusammengetragen und 2006 dem Waffenmuseum in Suhl übereignet. Dazu hatte ich eine Expertise geschrieben. Die Zeichnungen der Mappe weisen viele Ähnlichkeiten mit unseren Feldpostkarten auf. Natürlich sind sie größer angelegt, mit mehr Zeitaufwand durchgestaltet worden und mitunter auch motivisch leicht ausgeweitet. Aber es handelt sich im Prinzip um dieselben Themen, dieselben Motive , dieselben bildnerischen Techniken. Vom selben Künstler sind sie im selben Bereich (Westfront) erarbeitet worden. Und zwar fast zeitgleich mit den Karten. Deshalb scheint es angebracht, einige Ausschnitte aus dieser Expertise zitierend anzufügen. Dem besseren Verständnis und dem tieferen Durchdenken der Grafiken wie der Situationen sollte das dienlich sein: Alexander Gerbig […] zählt zu den markantesten Künstlern des Südthüringer Raumes […] Sein Bekanntheitsgrad […] ist verstärkt auf sein brillantes zeichnerisches Vermögen […]. zurückzuführen […] Stets – auch im Krieg – trug er Skizzenblock und Bleistift bei sich, um unmittelbare Eindrücke rasch […] festhalten zu können. So schuf er sich ein fundamentales »Erinnerungsarchiv«, in dem die Frische der ersten Eindrücke in Rhythmus, Schwung und spontaner Niederschrift erhalten geblieben ist […]. Die vorliegende Serie zum 1. Weltkrieg enthält sowohl flotte zeichnerische Skizzen des ersten Eindrucks von der vordersten Front als auch in der Etappe weiter getriebene, mehr durchgestaltete Bildfindungen […] Beeindruckend, wie es Gerbig verstand, mit differenzierten Liniengefügen die gesehenen Geschehnisse zu erfassen, die Formen zu strukturieren und in ihren typischen Bewegungen zu fixieren. Und das in äußerst sicherer Strichführung. Für ihn war die schnelle Skizze eine erste Notiz. In ihr ist – deutlich ablesbar – alle Spontaneität und Erlebnisfülle erhalten geblieben. Die direkte, unmittelbar zugreifende Wiedergabe des Gesehenen und Erlebten offenbart nicht nur sensible grafische Reize. Durch das oft kleinteilig differenzierte Stricheln und überreizte Bündeln von Linien erreicht er ein feinnerviges Vibrieren von durchdringender Unruhe. In manchen Blättern

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offenbaren die Figuren ein Beben, Zittern, Zucken in den Konturen und Binnenzeichnungen. Wohl ein Fingerzeig auf die tief greifenden psychischen Konflikte, die jeder Soldat vor und nach jeder Kampfhandlung mit sich ausmachen muss? Spannung und Ungewissheit, niederdrückende Schwermut, echte menschliche Seelenzustände und Ängste lassen sich da ahnen. Man glaubt nicht nur die Donnerschläge der Geschosse und Bomben, sondern auch das Pochen der menschlichen Herzen zu hören. Mit seismografischer Empfindsamkeit wird die sprühende Atmosphäre erfasst, werden erschütternde apokalyptische Szenerien eingefangen. Das Bildgeschehen – extrem verknappt – wird mit rasenden Strichen schwingend und bewegt vor Augen geführt. Mit solchen authentischen Psychogrammen des Durchlebten und Durchlittenen hat Gerbig, wie ein Arzt, den Soldaten und sich selbst »den Puls gefühlt«. Mit geschärftem Blick »seziert« er die beklemmenden Teufelskreise des Krieges. Manches erinnert an Kubins »Alpträume«. Doch bei Gerbig sind es keine Träume, sondern brutale, selbst erlebte Realitäten. Die zupackende Deutlichkeit und unverfälschte Unmittelbarkeit der Blätter kann wohl ihresgleichen suchen […]. Beeindruckend die souverän auf ein Mindestmaß verknappten Lösungen […] Dass nicht die Größe entscheidend ist für Aussage und Wirkung, sondern das gekonnte Erfassen und Wiedergeben des Wesentlichen, wird gezeigt […] Die einzelnen Blätter […] sind echte, wahre, kriegsgeschichtliche Kunst von schlagender Ausprägung und Kraft. Mit gemischten Gefühlen scheint Gerbig die zerwühlte Natur mit tiefen Gräben und hoch aufgeworfenen Wällen, mit Schützenlöchern, Bomben- und Granattrichtern zu erfassen […]. Wie die Gerippe toter Riesentiere ragen die Reste von Ruinen, die Gestänge vernichteter Fahrzeuge, die Balken verkohlter Dachstühle mahnend in die Luft. Aber insbesondere die Kadaver getöteter Tiere und Menschen sowie die durch Einschüsse und Explosionen zerfetzten Bäume sind für den Natur liebenden Künstler schreckliche Symbole für die furchtbare Zerstörungskraft des Krieges […]. Eine wahrhaft düstere Welt!

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Karl-Georg Hirsch (Breslau 1938 – lebt in Leipzig) Hirsch ist im Februar 1945 siebenjährig mit seiner Mutter aus Breslau geflüchtet. Das schildern seine Fluchterinnerungen in Briefform.15 In den Büchern Künstlerpost und Adé 20. Jahrhundert ist Hirsch vertreten.16 Er zählt zu den international bekannten deutschen Grafikern, beschäftigt sich gern mit Stoffen zwischen Literatur und Buch. 16

Karl-Georg Hirsch. ‹Einschläge› Brief an W. Knop, 19.04.2002 Holzschnitt und Faserschreiber 19,9 x 29,8 cm […] da haben Sie ja 2 prächtige Briefe, die ich bei Faber+Faber17 vermisse! Der Holzschnitt-Brief ist mir […] lieber, näher als der Brief mit den Holzstichen. KNESEBECK soll beide Briefe veröffentlichen […]18

Wenn auch der schwer lesbare Brieftext für unseren Arbeitsgegenstand nichts Wesentliches bringt, ausgenommen die besondere Wertschätzung der HolzschnittBriefe, so stellt er doch eine angenehme handschriftliche Rahmung der Bildfindung dar. Diese spiegelt eindeutig und detailreich die gefürchteten Stellungskämpfe im Ersten Weltkrieg. Auf der Basis des Erstlingswerkes von B. Traven19 ist er geschaffen worden. Es dominieren die hoch aufbrechenden Detonationen gewaltiger Granaten. Mitten in die mühselig ausgeschachteten, befestigten und verzweigten Schützengräben schlagen sie ein. Erdreich, Balken und Menschen oder Teile von ihnen nehmen sie wie Spielbälle mit gen Himmel. Sich duckende Soldaten mit weit aufgerissenen Augen sieht man zwischen den Explosionen. Im spannungsvollen Schwarz-Weiß des grafischen Elementarkontrastes gibt der Künstler mit vielen kleinen Andeutungen ein treffliches Bild des grausamen Krieges. Hier ragen die Pfähle der Drahtverhaue senkrecht in die Luft. Dort sind es die Versteifungen der Unterstands-Befestigungen. Man ahnt im Dunst der Geschosse die ausgehobenen Schützengräben, die längs und quer verlaufen. Tief eingeschnitten in die Erde sind sie, mit Sandsäcken, Brettern, Flechtwerk als Befestigung. Neben der hellen Detonation vorn auch die weiß leuchtenden Buckel 15 Siehe W. Knop. Aufbrüche ins Ungewisse. Berlin 2021, 46–57, 126, 134. 16 Künstlerpost: 24–27, 38/39, 46/47, 64/65, 122/123, 146-149, 160/161, 186/187. Adé 20. Jahrhundert: 140/141, 152/153, 161, 163, 187.) 17 Karl-Georg Hirsch. Künstlerbriefe aus vier Jahrzehnten. Leipzig 2001. 18 Diese Entscheidung bezieht sich auf eine Auswahl, die für Illustrierte Grüße aus drei Jahrhunderten bei KNESEBECK in München 2003 notwendig war. Dort insbesondere auf S. 154 bezogen. Weitere Beispiele aus meiner Briefsammlung dort S. 144/145, 152–157.) 19 Pseudonym Hermann Albert Otto Max Feige.

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und Böschungen des Aushubs rechts. Der mächtige Sturm der Geschosse wie die Druckwellen der Explosionen sind auch an der starken Bewegung der Büsche und Baumreste im Hintergrund ablesbar.

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Armin Münch (Rabenau 1930 – 2013 Rostock) Münch ist ein bekannter deutscher Grafiker, der an allen Facetten der Kriegsgeschichte interessiert ist. Besonders zum Zweiten Weltkrieg bringt er zahlreiche Beiträge. Aber auch zum Ersten Weltkrieg äußert er sich. In den Büchern Künstlerpost und Adé 20. Jahrhundert ist er vertreten. 20 17

Armin Münch. Zitadelle Dinant Brief an W. Knop, 13.12.1992 Tusche 29,5 x 20,9 cm […] Die »Zitadelle Dinant« soll eine Novelle oder Erzählung oder Schilderung werden; ich schreibe seit 1987 daran. 1987 besichtigte ich die Zitadelle […] an der Maas. 64 deutsche und 53 belgische Soldaten brachten sich hier in einem Gewölbe gegenseitig um im August 1914 in sieben Stunden […]. Die Steine des Gewölbes erlernten die Sprache des Gemetzels. Bajonett-Kratzer erscheinen wie schmale Lippen und Gewehreinschüsse lugen wie Augen schwarz und tief. Blut und Todesschweiß kleben im Zitadellengewölbe. Die Steine reden. Hexenkeller […]

Münch schildert eindringlich mit Fantasie, Poesie und grafischer Kraft seine Eindrücke in diesem finsteren Ort des Kriegsgeschehens von 1914. Da tauchen die Geister der Gemeuchelten auf, werden zu Gespenstern, zu Hexen. Natürlich fehlen auch die fetten Ratten nicht, die nach der Tat ein reiches Mahl vorfanden. So wunderbar vereinfacht, kraftvoll und überzeugend, wie Münch das Geschehen verbal geschildert hat, so zeichnet er auch das aus vielen wuchtigen Quadern bestehende Gemäuer. Variantenreich abgewandelt »mauert« er sie geduldig und gestalterisch gekonnt übereinander. Dazwischen erscheinen die Geister. Ein herrlicher, tiefsinniger, zum Nachdenken zwingender Brief, der seinesgleichen suchen kann.

20 Künstlerpost: 32/33, 156–159, 162/163, 166–169, 174/175, 180/181, 196/197; Adé 20. Jahrhundert: 80, 82, 83, 91, 94, 97, 105, 119, 123, 129, 159, 162, 170, 178, 183, 188/189.

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Hermann Max Pechstein (Zwickau 1881 – 1955 Berlin) Pechstein ist schon sehr früh im In- und Ausland als Künstler bekannt geworden. Studienjahre in Dresden (mit Gerbig zusammen) liegen hinter ihm. Seitdem sind beide eng befreundet. Pechstein wird Mitglied der expressionistischen Künstlergemeinschaft »Brücke«, die auch Gerbig tangiert. Trotz Pechsteins Umsiedlung nach Berlin bleiben die Freunde eng verbunden. Sie besuchen sich regelmäßig, unternehmen gemeinsame Mal-Exkursionen und bleiben bis zum Tod Gerbigs 1948 auch brieflich in Verbindung. 18

Hermann Max Pechstein. Bild des Friedens Brief an Grenadier Gerbig, Westfront (Verbleib unbekannt), 22.03.1916 Tusche Maße unbekannt […] so will ich Dir […] hiermit ein Bild des Friedens senden, welches Dich vielleicht etwas erfreut …, über mich selbst kann (ich) Dir nichts Neues mitteilen, außer […] dass der größte Teil […] Donnerstag an die Front kommt, wir Älteren aber in die Ersatz-Kompanien […] Wann nun endlich für mich der Tag kommt, weiß ich nicht! […] recht sehr würde (ich) mich freuen, von Dir ein Lebenszeichen zu erhalten, denn man wartet sehnsüchtig darauf, seine schlimmsten Befürchtungen verneint zu bekommen […]

Als dieser beeindruckende Brief entstand, durchläuft Pechstein seine militärische Ausbildung in Berlin. Mehrere seiner Freunde und auch der Bruder fallen im Krieg. Deshalb zeichnet er in banger Ahnung als »Bild des Friedens« den geliebten Sohn. Friedlich schlafend wird er in dieser temperamentvollen Briefzeichnung zum Symbol der Friedenssehnsucht. Liebevoll werden die einzelnen Teile der Gesichtspartie gezeichnet. Sicher umreißende Konturen sowie rasant gesetzte Schraffuren führen zur schön gesehenen Binnengliederung mit Haaransatz, Stirn, geschlossenen Augen, Nase und Mund. Auf diese Weise wird Plastizität und eine wirkungsvolle Kontrastierung mit dem weißen Bettbezug erreicht. Beim Anblick der sensiblen Illustration denkt man an Picasso. Seine weiße Taube wird zum Friedenssymbol in der ganzen Welt. Oder an Käthe Kollwitz mit ihrem Wahlspruch: »Ich will wirken in dieser Zeit«. Sie hat Kinderdarstellungen mit gezielter Pointierung gegen Krieg und soziale Not eingesetzt. Da ihr Sohn im Ersten Weltkrieg fällt, engagiert sie sich leidenschaftlich gegen den Krieg. Es entstehen die weltbekannten Lithos Nie wieder Krieg und Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden. Für den Soldatenfriedhof Roggevelde in Belgien, auf dem auch ihr Sohn begraben liegt, schafft sie das monumentale Denkmal von Mutter und

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Vater. In Granit gehauen, trauern beide mit gesenktem Kopf kniend um die vielen gefallenen Toten. 19

Hermann Max Pechstein. ‹Pferdegespann› Brief von der Westfront an Grenadier Gerbig, Westfront (Verbleib unbekannt), 22.03.1916 Tusche Maße unbekannt […] seit einigen Tagen sitze ich nun auch hier und male, allerdings ist es mehr eine Ausübung des Handwerks, denn vor allem sind die Wünsche maßgebend, und eine jede gewünschte Änderung kommt einem Befehle gleich […] Habe unsern Reg.[iments] Kom.[mandeur] gemalt […] Hatte außerverschämtes Glück, denn gerade in diesen Tagen haben die […] Engländer wieder Minen rübergelassen in unsere Stellung, Granatengarben benannt […]. In der einen Nacht hatte unsre Kom.[panie] 9 Tote und 18 Schwerverw. [undete]. Die Unterstände sind die reinen Zigarrenkisten, dagegen hinten, in der Reservestell.[ung] Beton, tadellos, zu gleicher Zeit erhielten wir hinten auch Granaten, rissen ausverschämte Löcher, doch kann man da (aus)rücken, dagegen vorn, hols der Teufel! Kurz es ist dicke Luft hier, glaube die Engländer planen etwas. Der Erfolg der Russen hat ihnen wohl Mut gemacht, oder wollen sie Truppentransporte verhindern? […] Deine Hoffnung betreffs des baldigen Endes [des Krieges] kann ich doch nicht recht teilen, so erfreulich […] der Ausgang der Seeschlacht für uns [auch] war […] Ja, hätten wir nur erst Verdun, dann ging das Abbröckeln los […]

Im sehr ansprechend gestalteten Brief wechseln verbale und zeichnerische Schilderungen von Situationen spannungsvoll ab. In der Zweiteilung zwischen Bild und Schrift dominiert der Bildteil durch Größe, Gewicht und Ausstrahlung. Wie Gerbig, bevorzugt auch Pechstein Feder und Tusche zum Zeichnen und Schreiben. Aber er wählt verstärkt den Brief für Mitteilungen, während es bei Gerbig die Karte war. Für diese Illustration hat er offenbar Zeit zur Verfügung. Wahrscheinlich befindet er sich in der Etappe, wohin er zum Malen des erwähnten Vorgesetzten abkommandiert wurde. In den Pausen sieht er sich den Ort an, von dem er ein Teilstück souverän einfängt. Sicher gesetzte Konturen umreißen ein Gehöft im Hintergrund, die Bäume rechts, die linksseitige Begrenzung der Straße sowie das Pferdegespann mit Wagen, Reiter, Kutscher. Durch Summierung der Striche entstehen kontrastreiche Dunkelheiten bis hin zu tiefen Schwärzen. Sie sammeln sich in den Häusern, unterhalb der Bäume, im Buschwerk. Kurvige Linien geben Wolken, Blätter und Böschungen an. Vereinzelte Schraffuren gliedern manche Bildteile und geben ihre

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Ausdehnungs-Richtungen an. Sie verdeutlichen aber auch das Gegenständliche, die Ziegel auf dem Dach, die Bretter des Vorbaus, das Gestrüpp an der Seite. Durch die Verjüngung der Straßenflucht, die alle Bildelemente aufgreifen, wird räumliche Tiefe erzielt. Unter der schmissigen Zeichnung sind die Schriftzeilen eingefügt. Sie greifen, im selben Duktus erstellt, die strukturierten Gegebenheiten der Skizze sensibel auf und lassen sie behutsam ausklingen. 20

Hermann Max Pechstein. Avesnes-les Aubert Feldpostkarte von der Westfront an Gerbig, Westfront (Verbleib unbekannt), 14.08.1916 Tusche Maße unbekannt […] Sehr würde (ich) mich freuen, etwas von Dir zu hören. Stecken jetzt mitten drin und sende ich Dir meine besten Grüße und Wünsche. Durch den Ort vorn sind wir marschiert. Ansonsten wohl soweit […] Soldat M. Pechstein, Stab d. 24. Inf.-Div.

Nur ein kurzer, aber wichtiger Zwischenbescheid. Er zeigt an, man lebt noch, hat die schweren Kämpfe an der Somme bisher überstanden, von denen mit den Worten »Stecken jetzt mitten drin« die Rede ist. Das wiederholte Vor und Zurück an der Front bringt häufige Verlegungen und Umstellungen mit sich. Auch deshalb die kurze Information mit der neuen Anschrift. Also mitten aus den schweren Kämpfen an der Somme diese illustrierte Karte. Kurz und bündig erscheinen die rasch geschriebenen wie auch gezeichneten »Notizen«. Kraftstrotzend gibt sich die wuchtig wirkende Illustration. Dem hohen Anteil an Schwarz steht auch entsprechend viel Weiß zur Seite. Beide sind spannungsvoll verteilt. Ein interessantes, stark vereinfachtes Liniengefüge wird gleichsam »im Vorbeimarschieren« erstellt. Kräftige Konturen markieren den Straßenverlauf und die Umrisse der verschachtelten Architekturen. Vehement gesetzte Schraffuren fallen ergänzend ein. Sie geben Richtungen an, ziehen einige Bildteile flächig zusammen, schaffen Dunkelheiten, klären Raumecken. Sehr sparsam eingefügte Punktmuster kennzeichnen Dachziegel, Straßenpflaster, in der Luft fliegende Geschosse. Großzügige Linienbögen im oberen Teil kann man als Wolken oder Rauchschwaden deuten. Denn wo Geschosse fliegen, gibt es auch Brände. Und wo es brennt, da qualmt es auch. Alles atmet die Befindlichkeit des eiligen, unruhigen, auf dem Marsch befindlichen Maler-Soldaten. Immer ist er dem Kommando unterworfen, das auf Eile drängt. Die befohlene »Zigarettenpause« nutzt er zum schnellen Festhalten spontaner Eindrücke.

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Otto Schön (Suhl/Thüringen 1893 – 1971 Göppingen) Der Künstler hat an beiden Weltkriegen als Soldat und ab 1917 als Offizier teilgenommen. Insbesondere als Zeichner konnte er sich einen Namen machen. Zeichnerisch gestaltet er auch seine Beiträge zum Thema Krieg. 21

Otto Schön. Ruhepause vor Verdun Briefbeilage, 1916 Kreide, bezeichnet und signiert 17,9 x 26,1 cm

In einem langen Brief vom Sommer 1951 an eine Sammlerin berichtet er rückblickend über sich. Ich entnehme daraus die Passagen, die sich auf seine Teilnahme sowohl am Ersten wie auch am Zeiten Weltkrieg beziehen: […] Während meiner Rekrutenzeit […] wurde in jeder freien Minute […] gezeichnet, nun eben Soldaten, und im August 1915 kam ich zum 3. Bayerischen Infanterie Regiment, das irgendwo in Galizien war, ins Feld […] Der Marsch durch Galizien, immer dem Regiment nach, das sich gerade auf dem Vormarsch befand […]. Ein Himmel stürzte ein. Man trottete rein mechanisch hinter seinen Vordermann her, immer in Staub- und Sandwolken […]. Ich war in einer anderen Welt, eigentlich am Weltende […]. Ich […] zeichnete […], wurde 1917 Offizier, wurde dreimal verwundet, wechselte von der Infanterie zu den Fliegern, wo ich einmal abgeschossen wurde […]. 1916 machte ich meine 1. Ausstellung mit Kriegszeichnungen vor Verdun […]. 1934 erhielt ich […] den Albrecht-Dürer-Preis […]. 1936 ging ich wieder zur Luftwaffe, wollte 10 Jahre dabei bleiben, um schließlich eine kleine Pension zu erhalten […]. Von 1936–40 war ich in Göppingen auf dem Fliegerhorst, anschließend in Wiesbaden und Schweinfurt […], kam am 5.5.1945 in amerikanische Gefangenschaft, […] am 1.8.1945 entlassen […]

Seine Einsätze bei den Kämpfen von Verdun werden nicht erwähnt, wohl aber seine »Kriegszeichnungen vor Verdun«, zu denen nicht nur Abb. 21, sondern auch Abb.  22 gehören. Aber sehr interessant, was er über seinen Einsatz in Galizien schreibt: »immer in Staub- und Sandwolken«. Diese haben seinen Zeichenstil maßgeblich beeinflusst, verändert, vertieft. Abb. 21 – ein echtes Meisterwerk. Souverän in der Linie. Selbst dort, wo sich fast jeder Grafiker vorsichtig artikuliert, bei den Händen, da strahlt Schön äußerste Sicherheit aus. Egal, ob die Hand schlaff herab hängt, eine Zigarette hält, etwas greift, den Kopf stützt – die Hände mit ihren fünf Fingern sind fein erfasst. Auch die menschliche Anatomie, gut geschult, wird sicher beherrscht. Die vielen ver-

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schiedenen Verkürzungen der Linien, die beim Sitzen, Zurücklehnen, seitlichen Lagern der Soldaten entstehen, sind ohne Schwierigkeiten gemeistert. Ebenso die unterschiedlichen Ansichten der Köpfe mit ihren Mützen darauf. Immer erscheinen sie äußerst variabel und überzeugend gezeichnet. Und was zur umreißenden Linie gesagt wurde, gilt auch für die ansprechende Binnengliederung der verschiedenen Körper. Da ist die sparsame Kontur, die hier und da zur Betonung der Armbeuge, der Schulterbiegung, der Jacken- oder Hosenfalten sowie der Stiefelform eingesetzt ist. Alles sehr gelungen. Das gilt auch für die vorsichtigen Tonwerte, die er wohl in Anlehnung an die erwähnten Staubwolken behutsam aufbringt. Nicht in einer monotonen Fläche sind sie zu sehen. Muskelwülste, Faltenwürfe, Unebenheiten zwischen Licht und Schatten werden in ihrer Plastizität und Körperlichkeit behutsam damit ausgeformt. 22

Otto Schön. Lagebesprechung Briefbeilage, 1916 Bleistift, signiert 11,6 x 16,1 cm

Die militärische Lage, die hier von zwei Offizieren in einem kahlen Raum besprochen wird, scheint heikel zu sein. Eine Karte zwischen sich auswertend, wird intensiv um eine Lösung gerungen. Offensichtlich kann man sich nicht einigen, ist unterschiedlicher Meinung. Der hintere Offizier ist stark nach vorn über die Karte gebeugt, um mit den Tatbeständen derselben überzeugen zu können. Er kriecht argumentierend förmlich in sein Gegenüber hinein. Doch dieser sitzt gerade auf seinem Stuhl, gibt sich fast unberührt von dem Gehörten. Den rechten Arm hat er lässig auf die Stuhllehne gelegt. Er wirkt überzeugt von seiner eigenen Meinung. Die Lösung bleibt offen. Schön hat in der Zeichnung eine einfache Bildsicht mit einer schlichten Figuration gewählt. Nur das Wichtigste von Tisch, Stühlen und zwei Personen wird als Bildfigur zunächst linear erfasst. Die beiden Offiziere werden dann durch aufgebrachte graue bis schwarze Schraffuren voneinander abgehoben. Während die Konturen und Schraffuren die hintere Person heller erscheinen lassen, ist die Rückenfigur durch Schwärze deutlich akzentuiert. Unter dem Tisch klingen die Strichlagen als sparsame Schatten gleichsam verbindend aus.

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Nachsatz Täglich erreichen uns aus der Ukraine schreckliche Bilder eines brutalen Angriffskrieges. Russische Aggressionstruppen bombardieren dort massiv und gehen rücksichtslos mit Panzern, Raketen und Geschützen gegen die Bevölkerung vor. Daher bin ich bei fast jedem Kriegs-Beispiel von damals geneigt gewesen, Querverbindungen zum aktuellen Geschehen in der Ukraine aufzuzeigen. Gern hätte ich es getan, weil sich die unsinnigen grausamen Szenen wiederholen. Letztendlich habe ich doch Abstand genommen, um nicht das Mörderische des Ersten Weltkriegs dadurch zu verharmlosen, zu verwässern. Aber ein Wort des Mitgefühls, der Anteilnahme, der Bewunderung der tapfer sich verteidigenden Ukrainer sei am Ende des Abschnittes doch angefügt. Um Erinnerungen und Gefühle der tatkräftigen Unterstützung wach zu halten, scheint dieser Nachsatz nicht nur angebracht, sondern auch notwendig.

Zweiter Weltkrieg 1. September 1939 – 2. September 1945

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Oskar Bohn (Bad Langensalza/Thüringen 1873 – 1953 Suhl/Thüringen) Bohn wurde zum Ersten Weltkrieg schon vorgestellt. Dort wurde auch auf seine Teilnahme im Zweiten Weltkrieg hingewiesen. 23

Oskar Bohn. Kriegsnöte Briefgedicht zur Hochzeit des Sohnes Kurt am 07.10.1939 Linolschnitt und Wachsradierung 29,5 x 23,0 cm Auch gute Streiche hat Spatz zu verzeichnen, die bring ich hier In Kriegesnöten war der Mutter öfters er Kavalier Wenn diese Kuchen backte, saß das Bübchen an einer Eck Die Klümpchen, die dabei herunter fielen, die schnappt es weg Künstlerisch Gestalten war der Zweck Sogar sein Stübchen räumt das Bübchen, ja, das Mädchen durft’ nicht ran Die Mutter zu entlasten, weil der Vater Landwehrmann.

Dieses Briefgedicht ist eines von vielen anderen. Sie alle werden zur Vermählung des Sohnes mit der Tochter der bekannten Waffenfirma »Walther« aus Zella-Mehlis (Thüringen) geschrieben und illustriert. Nach dem »Polenfeldzug« 1939, mit dem der Zweite Weltkrieg beginnt, werden darin bereits »Kriegsnöte« angesprochen. Fauchend scheint da ein wilder Panther als Silhouette weniger auf die (noch) friedliche Szene in Deutschland als vielmehr auf das nun unterworfene Polen zu springen. In Gedichtform wird der Sohn rückblickend als Kind besungen. Er hat schon frühzeitig gelernt, die Mutter zu unterstützen, weil der Vater Soldat ist (siehe Abb. 1). Die behutsam geformten Rundungen der Buchstaben mit ihren »Körpern« korrespondieren mit der eingefügten Zeichnung und führen zu einem dekorativen Schmuck-Blatt.

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Oskar Bohn. Modell. Wehmütige Erinnerung an eine vermisste Frucht Mai/Juni 1948 Tusche über Bleistift, koloriert, signiert 25,5 x 19,5 cm Ich ging im Walde so für mich hin und nichts zu suchen war mein Sinn, da sah ich im Schatten ein Blümlein stehn und bückte mich, es nah’ zu sehn. Ich hob es aus dem Gras heraus und trug es als Modell nachhaus. Hier duftet’s und gießt Wohlgeruch auf Farbe, Pinsel, Bild und Buch.

Die zeitliche Einordnung dieses undatierten Blattes fällt nicht schwer. Wir wissen, dass sich Bohn ab Mai 1948 in Bad Hersfeld aufhält. Dort werden, wie auch hier, mehrzeilige Texte in eigenhändige Linierungen geschrieben. Wenige Jahre vor seinem Tod benötigt er diese Hilfen. Das »Modell«, das er als »Blümlein« in Anlehnung an Goethes »Heideröslein« in Versen besingt, ist die Schale einer gefundenen Apfelsine. Die begehrte Frucht ist durch den Krieg und dessen Folgen insbesondere in Ostdeutschland rar geworden. Als seltene Köstlichkeit, wozu auch der durchdringende Geruch gehört, wird sie mitgenommen nach Haus als stimulierendes »Modell«. Der Künstler formt eine eigenartige Figuration aus Schrift und Bild. Erstere ist durch einen beachtlichen Aufwand an Genauigkeit, Konzentration, Disziplin erstellt. In der farbigen Illustration hingegen wird schöpferisch frei über die festlegenden Bleistiftlinien hinweg gearbeitet. Improvisation und Spontanität kommen ansprechend zur Geltung.

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Oskar Bohn. ‹Zerschossener Panzer› Erinnerungsblatt an die letzten Kriegstage, 1948 Filzstift aquarelliert, bezeichnet, signiert, datiert 13,2 x 20,7 cm

In mehrfacher Hinsicht ein echtes Kriegsblatt. Schon der Malgrund zeigt das. Es ist ein Pappteller, wie sie noch lange nach dem Krieg mit einfachen Esswaren an Buden und in manchen Gaststätten verwendet wurden. Bohn hat solche in seiner Tiefdruckpresse glatt gewalzt und wiederholt zum Zeichnen, Malen, Drucken verwendet. Auch das künstlerische Motiv gibt einen Eindruck in die Kriegshandlungen konkret um Bad Hersfeld. Zu sehen ist ein zerschossener amerikanischer Panzer. Dass es heiß zugegangen ist damals, kann man deutlich erkennen. Die linke Seite des Fahrzeugs ist schwer getroffen worden. Das Räderwerk und die Ketten wurden weggerissen. Die noch lebenden Insassen haben das Gefährt wohl schnell verlassen. Die Luke stand am 10. Mai 1948, als Bohn hier weilte, immer noch offen. Ob sich eine Schießerei oder gar ein Nahkampf oder beides anschlossen, bleibt offen. Es ist nichts darüber vermerkt. Dass dem Künstler diese Kriegsruine sehr nahe gegangen sein muss, ist ebenfalls ablesbar. Er war in beiden Kriegen, hat mit Sicherheit eigene Erlebnisse eingebracht. Die ausdrucksstarke Bildfindung fußt weitgehend auf einer sehr schönen Zeichnung mit blauem Filzstift. Darüber wurden mit viel Gefühl die lockeren Aquarellfarben gelegt. Sie zeigen eine »beschränkte Palette«, die fast nur aus zwei verschiedenen Grünblaus und Brauns besteht. Auch das ein Hinweis auf die Nachkriegszeit, wo Farben knapp waren. Aber alle Töne hat Bohn sehr locker und variantenreich abgewandelt. Besonders einfühlsam ist das in der dominierenden Bildfigur des Panzers zu sehen. Schön zerfließende Nuancierungen wurden dort entwickelt.

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Erich Gerlach (Dresden 1909 – 2000 Dresden) Gerlach erlebte beide Weltkriege und beschäftigte sich intensiv damit. Den Künstler lernte ich erst Mitte der 1980er Jahre kennen. Deshalb sind seine Kriegsbriefe entsprechend später datiert. In den Kriegserinnerungen ist er vertreten.21 Auch in den Büchern Künstlerpost und Adé 20. Jahrhundert bringt er manche gediegene Bildfindung und viele kluge Gedanken.22 26

Erich Gerlach. Schwarz-Weiß-Rot in den Tod Brief an W. Knop, 04.07.1994 Kreide, Wasserfarbe, Faserschreiber 20,9 x 29,6 cm Schwarz-Weiß-Rot – in den Tod! […] Das ist die Lehre des Krieges […]. Vielleicht wird es […] wie es im Song der Seeräuberjeny von Brecht heißt: »Und man wird fragen, wer da sterben muss, und dann werden sie mich sagen hören – alle!« Vielleicht nehmen sich [die Verursacher des Krieges, W.K.] eines Tages das Leben, wie Hitler im Bunker, um dem Entsetzen der verschuldeten Zusammenbrüche zu entgehen? Sollen die Menschen […] eine Art »Nürnberger Prozess« machen? Aber nicht hängen, sondern unter entsetzlichen Qualen verrecken lassen. Dabei wäre diese Strafe nichts dagegen, was sie der Mutter Erde angetan haben […] Aber ist dies christlich? Wo es doch heißt »Liebet eure Feinde – segnet die euch fluchen«. Aber was soll das Rufen in der Wüste? […]

Ein sehr detailreiches Schreiben mit vielen Gedanken, Vermutungen, Wünschen. Deutlich erkennbar das Entsetzen über den durchlittenen Krieg und die Wut auf diejenigen, die ihn angezettelt haben. Mit allen denkbaren »entsetzlichen Qualen« möchte er sie »verrecken lassen«. Aber er hebt hervor: »Dabei wäre diese Strafe nichts dagegen, was sie der Mutter Erde angetan haben« und den Menschen. Den christlichen Gedanken von der Nächstenliebe fügt er als »Bremse« hintenan und fühlt sich einsam als »Rufer in der Wüste«. Der Brief besitzt zum Thema »Krieg« eine kraftvolle Illustration und eine ebenso kraftvolle Bildunterschrift. In der Illustration dominiert ein rabenschwarzer Himmel, der den Kriegsqualm spiegelt. Ein riesiger Schwarm entsetzter Menschen versucht, dem Kriegsgeschehen zu entfliehen. Als winzig kleine Strich- oder Ameisenmenschen zeigen sie deutlich, wie wenig sie sich dagegen wehren können. Die 21 Siehe W. Knop. Kriegserinnerungen von 23 deutschen Künstlern. Unveröffentlichtes Manuskript, Suhl 2007, 15/16. 22 Siehe Künstlerpost: 44/45, 54/55, 82/83, 86/87, 116/117, 195; Adé 20. Jahrhundert: 117, 138/139, 144, 175.

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Wehrlosigkeit der Zivilbevölkerung also. Er entwirft einen endlosen Teufelskreis: Vor dem Feuer flüchtet man, um eilig in die farbig akzentuierten Flammen an anderer Stelle zu fallen. Im Krieg brennt es eben überall. 27

Erich Gerlach. Tief erschüttert Brief an W. Knop, 23.02.1995 Kugelschreiber 20,9 x 29,5 cm […] Ich […] erlebte eine Anzahl Angriffe in Berlin, bin durch brennende Straßen geflüchtet, saß im Bunker beim Lehrter Bahnhof, das Krachen der Bomben, Ausgehen des Lichtes, Schreien und Weinen sowie Beten bildeten eine erschreckende Einheit... mein Atelier zerstört […], sämtliche Arbeiten verbrannten […]. Selbstverständlich schuf ich nach (19)45 eine Anzahl Blätter, allerdings stellte ich vorwiegend die menschlichen Probleme dar, war kein Trümmermaler […]. Die Museen […] Berlin, Frankfurt/Oder, Leipzig, Chemnitz […], Dresden besitzen Arbeiten von mir. Da einige Arbeiten von sowjetischen Offizieren aus Ausstellungen von mir entfernt wurden, verbrannte ich einen großen Teil […]. Weil ich schon viele Angriffe vor Dresden erlebte, blieb ich verhältnismäßig ruhig trotz Feuersturm und krachenden Bomben. Was ich allerdings hinterher sah, hat mich tief erschüttert […]. Auch heute bleibt mir unverständlich, dass der Angriff vorwiegend den Kulturteil der Stadt zerstörte […] Kasernen, Industriegebiet und die Bahnstrecke nach dem Osten blieben unzerstört […] Ich suchte […] meinen Tischler, am zerstörten Haus die zwei Inschriften: »Mutter wo bist Du?« und »In diesem Haus alles tot« […]

Zu den eindringlich geschilderten apokalyptischen Szenen passt das Selbstbild, das die Titelseite des Briefes schmückt, ganz ausgezeichnet. Es macht deutlich, dass es dem gealterten Künstler schwer fällt, die belastenden Erinnerungen in Bahnen zu lenken. Das schön gezeichnete Selbstbildnis durchkreuzt er mit wilden Strichen, um seine tiefe Erschütterung über viele Dinge auszudrücken. Zugleich wird erkennbar, wie sehr ihn alles belastet und durcheinander bringt.

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Erich Gerlach. Skizze Kollektivschuld? Brief an W. Knop, 27.04.1995 Bleistift, Tusche, Faserschreiber, signiert, datiert, bezeichnet 32,6 x 20,8 cm […] Dank für Ihren Brief, ich entnehme diesem, dass Sie eine Ausstellung gegen Krieg planen […]. Kürzlich kam mir beiliegende Skizze in die Hände zu dem Vorwurf »Kollektivschuld?« […] Ich habe erkannt, dass alle Stellungnahmen nutzlos sind, eine Erkenntnis, unter welcher G. Grosz später sehr gelitten hat, ich selbstverständlich auch […]23

Die Erkenntnis des gealterten Künstlers, alle Stellungnahmen gegen Kriege seien nutzlos, möchte ich nicht teilen. Im Gegenteil! Da ist die Aufforderung Brechts: »Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wird!« eher meine Devise. In diesem Sinne sind auch diese Anti-Kriegs-Briefe zusammengetragen und interpretiert worden. Dem stehen auch die meisten anderen Stellungnahmen der hier ausgebreiteten Künstler entgegen. Auf der Rückseite dieses Briefes befindet sich, signiert und auf 1988 datiert, eine düstere Kriegs-Szene. Auf den Betrachter eilt ein endloser Zug schreiender und gestikulierender Menschen in panischer Angst zu. In der Spitzengruppe eine Mutter mit drei kleinen Kindern, die sich ängstlich an sie klammern. Im Hintergrund sind zerbombte Häuser zu sehen. Daneben wächst eine riesige, mit viel Schwarz durchwirkte, gespenstische Gestalt hoch zum Himmel empor. Es ist der Tod. Sein großer, runder, weißer Schädel zeigt, wie auf einer grundierten Leinwand, ein schwarzes Hakenkreuz. Das Gerippe der monströsen Figur verliert sich mittels energischer Schraffuren und Strichbündel in der Schwärze des Untergrundes. Mit seinen gierigen Knochenarmen greift, grabscht der Tod mit gefletschten Zähnen halb lustvoll, halb wütend nach den flüchtenden Massen. Der obere Raum des Blattes ist durch Schraffuren und Kringellinien ausgefüllt, die den dunklen Qualm der kriegerischen Massenbrände suggerieren. Ein tolles Blatt zum Thema Zweiter Weltkrieg. Schön, dass es sich in Gestalt dieses Briefes erhalten hat. Es handelt sich natürlich um eine zeichnerische Skizze für den Maler. Er verbindet die jetzt sichtbaren Tonwerte mit Farben. Um das Finden des Bildes, das nach dieser Skizze entstanden ist, zu erleichtern, hat er handschriftlich ergänzt: »Skizze Kollektivschuld?«. Und unter den Briefzeilen steht der Hinweis »Skizze zu Kollektivschuld, 1988, VWZ. S 76, Hz 80-89«.

23 Die in diesem Text von mir ausgelassene Passage beruht auf einer Verwechslung des Künstlers. Sie bezieht sich auf eine andere Skizze, die mit Datum 28. September 1995 (Abb. 30) noch kommt.

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Am unteren Blattrand ist eine kleine, quer laufende Tuschezeichnung sichtbar. Sie zeigt zum offensichtlichen Thema »Flucht« eine Frau, die einen Handwagen mit Gepäck zieht, während zwei Kinder beim Schieben helfen. 29

Erich Gerlach. Fliehende Mutter Brief an W. Knop, 05.09.1995 Bleistift und Kugelschreiber 29,5 x 20,8 cm Wo finden wir Frieden? O Mensch du Ungeheuer! […] [19]91 malte ich zu Beginn des Balkankrieges eine fliehende Mutter (mit kleinem Kind) in wüster schwarzer Landschaft. Leider hatte ich Recht, das Fliehen und Vergewaltigtwerden nimmt kein Ende und selbst, wenn Sie noch so qualitätsvolle Ausstellungsgestaltungen vollbringen und wir Maler uns anstrengen, die Kriegsfolgen anzuprangern, es nützt nichts. Wie konnte ein zweiter Weltkrieg kommen nach so aussagekräftigen Antikriegskunstwerken wie von Dix – Schlichter […] Auch aus dem Morden des II. Weltkrieges lernte nicht die Welt. Oder doch? Noch grausamere Vernichtungswaffen herzustellen […]. Daraus entnehme ich zum Schluss, dass man für Frieden kämpfen muss […]

Der gereimte Schlusssatz scheint die breit dargelegte Meinung des gealterten und zunehmend pessimistisch gewordenen Künstlers auf den Kopf zu stellen. Ihn danach befragt, antwortete er mir: »Ja, es nützt nichts. Aber man darf nichts unversucht lassen!« Das bestätigt auch die Briefzeichnung mit der kraftvollen Unterschrift »O Mensch du Ungeheuer!«. Dargestellt ist eine junge Mutter. Liebevoll hält sie ihr kleines, angstvoll weinendes Kind im Arm. Behutsam stützt sie den kleinen Kopf, damit er beim schnellen Laufen fixiert ist. Anatomisches Gespür des Künstlers lassen die Zeichenlinien erkennen, die Mutter und Kind Form geben. Besonders gilt das für die Konturen der Hände und Füße. Ohne Gepäck und Schuhe hastet die Flüchtende atemlos über die Schuttberge. Ein wenig Ruhe möchte sie irgendwo finden. Die sich vehement kreuzenden Strichgarben um sie herum, lassen wilde Schießereien ahnen. Damit auch höchste Gefahr. Die seitlich auf die Figur aufgebrachten Schatten erwirken zusammen mit dem Gegenpol, dem Licht, erstrebte Plastizität.

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Erich Gerlach. ‹Die Geschichte hinter mir› Brief an W. Knop, 28.09.1995 Farbstifte und Kugelschreiber 20,8 x 29,4 cm Es empfiehlt sich weiterhin, die Stiefel anzubehalten […]. Rückblicke allein bringen nicht viel, wenn keine Lehren daraus gezogen werden; meine Generation hat ja von einem Dreckhaufen in den anderen latschen müssen und ist bedrückt weiter in neue, vielleicht noch schlimmere (getreten) […]

Das Mitgeteilte wird im übertragenen Sinne farbig illustriert. Rechts sieht man den Künstler. Die Hände in den Taschen, verlässt er rückblickend resigniert und fassungslos die Szene. Kraftvoll durchgezeichnet ist er. Seine Stiefel versinken im Schutt. Hinter sich sieht er nur dicken Qualm, Dreck, Trümmer, Tote. Zwei lodernde Brände, der Erste und der Zweite Weltkrieg, sind deutlich erkennbar. Sie stellen die Ursache dar für diese stickige Luft, die zerstörten Bauten, die getöteten Menschen. Mit fahrigen schwarzen, roten, blauen und braunen Kreiden sowie Kugelschreiber ist die Fläche gleichsam im zornigen Duktus »vernebelt« worden. Mit etwas Fantasie kann man zwischen den Feuern noch weitere Schwelbrände anderer Kriege ausmachen. Zur Orientierung sind unter der Skizze Zeitangaben vermerkt. Sie fordern zum Nachdenken auf, das hoffentlich auch befolgt wird.

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Erich Gerlach. Tage und Nächte sind angefüllt von blöden Träumen Brief an W. Knop, 27.05.1996 Farbstifte und Kugelschreiber 29,6 x 20,9 cm […] ein Morgen gibt es für uns (Alten) nicht mehr […] und rückblickend hüllt sich das Meiste ins Dunkle […]. Lebensmüde quält man sich über die Tage und die Nächte sind angefüllt von blöden Träumen […]

Als innerlich zermürbter, von den Kriegen gezeichneter alter Mann, sieht Gerlach auf eine dunkle Trümmerlandschaft zurück. Diese Alpträume, die ihn quälen, haben nahezu alle Kämpfer aus den Kriegen mitgebracht. Die kräftige Zeichnung erinnert an Abb. 30, ist aber etwas mehr ausgearbeitet. Außerdem gerät der Kopf des Künstlers mehr in den Blick des Betrachters. Sachlich durchgezeichnet, macht er wieder einen sehr kritischen, resignierten, unzufriedenen Eindruck. In seinem Rücken herrscht sowohl dunkle Nacht als auch dunkler Tag. Sonne und Mond drängen sich sparsam hinter schweren Wolken hervor. Grelle Blitze zucken und beleuchten die Ruinen, die wie bleiche Knochen wirken. Ein Abschied von den lastenden Kriegen, die den Künstler geprägt haben.

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Lutz Gode (Beuthen/Oberschlesien 1940 – lebt in Erfurt) Lutz Gode ist in den Büchern Künstlerpost und Adé 20. Jahrhundert vertreten.24 Als Kind hat er den Krieg auf der Flucht aus der Heimat gegen Ende des Zweiten Weltkrieges sowie danach erlebt.25 In einem Luftschutzkeller, während draußen die Bomben krachen, werden Tote und Verwundete vorbeigetragen. Völlig erstarrt stellt er fest, dass er die Personen namentlich kennt. Ein fundamentales Schlüsselerlebnis. Erst ab 1989 beginnt er, die traumatischen Erlebnisse, die er bislang verdrängt hat, aufzuarbeiten. Auch die Kriege in anderen Ländern werden nun kritisch einbezogen. Diese Bilderbriefe sind sehr großformatig, mit vielen engen Schriftzeilen versehen und energiegeladen bemalt. 32

Lutz Gode. Krieg Brief an W. Knop, 19.03.2003 Tusche und Wasserfarben, Monogramm 43,7 x 82,9 cm […] diesmal parallelisiert ein egoistischer Krieg deinen Geburtstag.26 Wir alle haben gehofft es sei Schluss damit. Wie uneinsichtig ist doch dieser Kampf? Wo bleibt die Weisheit, das positive Erbe unserer Vorfahren […] für unsere Kinder und deren Zukunft? […] Möge der idiotische Krieg möglichst kurz mit wenigen Opfern ausgehen! […]27

Die Illustration knüpft an das oben geschilderte Bombenerlebnis im Luftschutzkeller an. Wie durch den Luftdruck der Explosionen durcheinandergewirbelt, sind die Menschen auf dem riesigen Blatt verstreut. Sie wurden erstaunlich groß angelegt und recht detailliert durchgezeichnet. Links oben ein liegender Mann, dessen Unterkörper sehr muskulös und männlich erscheint. Im knochigen Oberteil entpuppt er sich jedoch als Tod, als Herrscher des Krieges. Im Uhrzeigersinn folgt ein einzelner abgetrennter Kopf. Dann ist ein Mann zu sehen, der zwischen Mauerspalten eingeklemmt zappelt. Die rechte untere Ecke füllt eine verkrüppelt anmutende Gestalt, die mit sichtlicher Mühe ins Bild humpelt. Davor eine angstvoll fliehende Frau mit erhobenen Armen. Die Figuren sind alle nackt, was vom Künstler als »alle sind im Krieg gleich« begründet wird. Es verdeutlicht aber auch die Überraschung, die der Krieg immer wieder mit sich bringt. Da werden Menschen gezwungen, sofort zu reagieren. Die 24 Künstlerpost: 16–19, 22/23, 30/31, 60–63, 74/75, 108/109, 211; Adé 20. Jahrhundert: 148/149. 25 Siehe W. Knop. Aufbrüche ins Ungewisse. Berlin 2021, 16–33, 126, 132. 26 Es könnte der Irak- oder Golfkrieg gemeint sein. 27 Das möchte man auch immer wieder leidenschaftlich dem barbarischen Putin-Krieg zur Zeit in der Ukraine wünschen und den tapferen Verteidigern Kraft, Mut, Ausdauer!

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Farbflecke zwischen den Figuren lassen sich als Stein- und Putzbrocken, Teppichund Mauerreste, Schmutz, Blut, Angstschweiß deuten. Der massive Schriftblock ganz links wirkt wie eine feste Wand, die den Ausgang versperrt. 33

Lutz Gode. Weltherrscher Tod Brief an W. Knop, 29.03.2003 Tusche, Kreide, Bleistift, Wasserfarben und Farbfoto, signiert, datiert, Monogramm 43,7 x 91,5 cm Mein erstes Bild in diesem Jahr widme ich mit meinem ganzen Zorn dem unnatürlichen Tod […] Was (durch) Waffen aller Art oder auf den Autostraßen getötet wird, ist auf menschliche Motivationen zurückzuführen. Es ist […] eine Kette von willkürlichen Bluttaten, die ein vorzeit iges Ende von L eb e n bedeutet […] Gevatter Tod hat es einfach: Ihm läuft sein manipuliertes Medium Mensch mit leichtfertiger Freiwilligkeit in die offene Klinge […]. [Hervorhebung durch den Künstler]

In diesem großen Brief berichtet Gode verbal von einem ebenfalls großen Tafelbild, das er gerade beendet hat. Er nennt es Der Weltherrscher. Gemeint ist der Tod, der im Krieg hemmungslos wütet und »Totentänze« verursacht. Das Gesagte wird mit großen, raumgreifenden Formen illustriert. Diese variieren in manchen Teilen die Figuren des Gemäldes, das als Farbfoto eingefügt wurde. Schwarz, Rot und Grau dominieren in der Farbe des Briefes. Im Zentrum steht, die ganze gewaltige Mitte einnehmend und beherrschend, besagter »Gevatter Tod«. Mit kühnem Schwung mäht er die Menschen nieder wie Gras. Dort, wo er schon gewütet hat, findet man nur noch verstümmelte Körperteile und Blut. Rechts kommen ihm die Opfer als todeswillige Kreaturen gebückt dienerisch entgegen. Oben ein großer gelber Fleck mit zahlreichen Augen. Vielleicht ein Fingerzeig auf die vielen Menschen, die vom mörderischen Getriebe des Krieges wissen und dennoch nichts (oder nicht viel) dagegen tun. Aber vielleicht sind ja auch Augen dabei, die alle Kriegsverbrechen detailliert registrieren. Fürwahr ein kraftvoller, aufrüttelnder Brief mit gewaltiger Aussage!

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Lutz Gode. Golem – ‹Kriegsschlächter› Brief an W. Knop, 22.03.2012 Tusche, Bleistift, Wasserfarben, Faserschreiber, signiert, datiert, Monogramm 41,8 x 29,5 cm […] Im Grundgesetz der BRD steht in Artikel 1 »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Diese großartige Idee schließt geistige Würde in sich ein. Jedoch, wie steht es damit? […] So, wie sich allerdings die Finanzmärkte verselbständigen, […] in undurchschaubare Regionen abdriften, wächst ein ideeller Babelturm. Die Politik mit ihren herkömmlichen Spielregeln sieht ohnmächtig zu, wie sich im Schoße der Welt eine Golemsituation nährt, die bald nicht mehr kontrollierbar bzw. beherrschbar scheint. Eine bedrückende Kraft […]. Während sich Grün, Rot, Gelb, Schwarz, Pink und Grau um Spitzenplätze in oberen Regionen streiten, fließen Braun und Pappnasen ohne Gewissen breit, und das bis ins kleinste Dorf des Landes […]

Vom Brieftext weitgehend abgehoben, greift Gode die letzten Bildversionen zum erlebten Zweiten Weltkrieg nochmals auf. Wieder erscheint dominant eine gefährlich wirkende Figur. Drohend und zu allem bereit, hält sie das Messer bereit. Ich sehe darin den gefürchteten Gewaltmenschen, den Raufbold in Golemformat, den der Künstler immer wieder ablehnend beschreibt in Wort und Bild. Auch hier wird er eindeutig als unsympathische, unerwünschte, abschreckende Kreatur dargestellt. Hässlich und unansehnlich – der personifizierte Schlächter des Krieges. Durchdringend stechende Augen, geschwollene Schlägernase, zornig gefletschte Zähne – so das Gesicht. Der muskelbepackte Körper des Raufboldes erscheint schmutzig, durchlöchert, blutend. Das überdimensionierte Geschlecht lässt Vergewaltigungen ahnen. Während die eine Hand das Messer gezückt hält, scheint die andere, riesengroß ausgeprägt, zum Würgen und Werfen wie gemacht. Die kraftvollen Beine und Füße, richtige Stampfer, treten alles nieder, was sich ihnen entgegenstellt, machen es platt. Unter diesen klobigen Füßen ein undefinierbarer Berg von Farben, Flecken, Linien in Rot und Schwarz. Das sind wohl die angehäuften Überbleibsel des Krieges: Steine, Schutt, Drahtgeflechte, Kadaver ...

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Lutz Gode. Krieg Brief an W. Knop, 17.02.2013 Tusche, Bleistift, Wasserfarben, Faserschreiber, signiert, datiert, Monogramm 29,5 x 41,6 cm

Der ironische Brieftext, so interessant er auch ist, soll hier nicht transkribiert werden. Denn er steht in keinerlei Zusammenhang mit der Illustration. Er endet mit Grimms Märchendeutung: »Das Gute besiegt das Böse.« Das definiert den krassen Gegensatz zur Illustration, die das genaue Gegenteil des Guten kommuniziert. Denn im Krieg dominiert und siegt immer das Böse. Leider! Und die Kleinen leiden am meisten. Doch lassen wir Godes Bildsprache wirken: In diesem Brief geht er bildlich noch einen Schritt weiter als bisher. Nun erscheint der personifizierte Krieg als blutbesudelte, zähnefletschende, abscheuliche Fratze mit weit aufgerissenem Rachen. Er agiert nicht mehr außerhalb der Hinterlassenschaften der Zerstörung, sondern nun mittendrin. Mit wild um sich greifenden, gierigen Grabschhänden rührt er im ekligen »Eiter« der Kriegskloake. Er watet, robbt, kriecht durch diesen abstoßenden wabernden Sumpf. Das ist ein gallertartiger, kotiger Matsch zerfetzter, zerquetschter, verschütteter Menschen- und Tierteile. Man ahnt üble Gerüche, die hier in Gestalt von unansehnlichen Lavuren gen Himmel steigen. Denn der Krieg stinkt. Abschreckend ergänzt wird die durch und durch makabre Szene durch die Reste von Kinderspielsachen, die im Morast verteilt stecken. Auch Leichen fledderndes Getier aller Art taucht auf, das natürlich nicht ausbleibt bei solchen Gelegenheiten. Eben Krieg! Ganz eindeutig sind Godes Bildfindungen gegen den Krieg einzigartig, kühn, ausdrucksstark. Manchen mag das unansehnlich, hässlich, ekelhaft erscheinen. Aber es sind Kriegsbilder. Sie mögen anders sein, als die von Otto Dix. Aber in der Gesinnung sind sie deckungsgleich: In der Absicht nämlich, den fürchterlichen Krieg mit allen Mitteln abzulehnen, zu verunglimpfen, ihm das denkbar schlechteste Image zu verleihen. Da denke ich nochmals an Remarque, der fassungslos festgestellt hat: Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist […], wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, dass diese Ströme von Blut vergossen wurden, dass diese Kerker der Qualen zu Hunderttausenden existieren […]28

28 Remarque, Im Westen nichts Neues, 233.

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Oder denke ich nochmals an Brecht. Schon 1952, da die Erinnerungen an den letzten Krieg noch »frisch« waren, stellte er fest: Das Gedächtnis der Menschen für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer […]. Lasst uns deshalb das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! Lasst uns die Warnungen erneuern […]!

Das ist auch die Quintessenz der Gode-Briefe. Man muss sie auf sich wirken lassen und durchdenken. Abscheulich schön, wie er die abstoßenden Farben eklig wirkend so zusammenmanscht, dass es am Ende schon wieder ästhetisch wird. Ein echtes Meisterstück, welches den abstoßenden Krieg bestens »porträtiert«.

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Gottfried Haupt (Freiberg/Sachsen 1931 – 2012 Leipzig) Er ist ein Maler und Grafiker, der sich insbesondere mit der deutschen Geschichte und Landschaft beschäftigt. Dazu gehört auch der Krieg. Er hat die verheerenden Bombenangriffe auf Dresden 1945 aus der Entfernung erlebt und die Folgen aus der Nähe gesehen. In den Kriegserinnerungen berichtet er ausführlich in Wort und Bild darüber.29 36

Gottfried Haupt. Ruinenstadt Brief an W. Knop, 10.07.2002 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,9 x 21,2 cm […] Es ist die Nacht des 13. Februar 1945 und es ist Fliegeralarm in Freiberg […]. Die Schwärze der Nacht wird blutrot erhellt in Richtung Dresden (30 km). Wir ahnen Schlimmes und erschaudern. Mein Vater fuhr täglich […] nach Dresden zur Arbeit. So […] auch am nächsten Morgen. Weit vor dem Dresdner Hauptbahnhof hält der Zug auf freier Strecke […]. Das Feuerinferno der Nacht […] hatte die Stadt in Schutt und Asche verwandelt. Eine Geisterstadt […]. Nach dem Krieg ging ich in eine Fachschule in Dresden. Auf Trampelpfade durch die Ruinenfelder führte der Weg zur Schule. Die […] Zeichnungen »Ruinenstadt« und »Zerstörte Elbbrücke« sind auf dem Schulweg 1949 entstanden.

29 Siehe Knop, Kriegserinnerungen von 23 deutschen Künstlern, 20/21.

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Gottfried Haupt. Zerstörte Elbbrücke Brief an W. Knop, 10.07.2002 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,9 x 21,2 cm

Beide Illustrationen erfassen den Tatbestand der unermesslichen Zerstörung durch genaue zeichnerische Darstellungen sehr anschaulich. Einmal ist der Blick zum Altmarkt zu sehen. Eine gigantische Trümmerwüste, bestehend aus Schutt und kahlen Ruinen-Wänden, breitet sich da unter dem beschädigten Rathausturm aus. Der Anblick macht beklommen, was durch den dunkel gestrichelten Himmel verstärkt wird. Die eingesetzten Schraffuren, die die Plastizität der Bauten untermalen, verdeutlichen auch den trostlosen, öden, niederschmetternden Eindruck der nun gewordenen »Geisterstadt«. Im anderen Beispiel hat man die kläglichen Überreste einer der alten Elbbrücken vor sich. Oben die Rudimente des geschwungenen Brückenbogens. Er ist durch die Bomben radikal verstümmelt, während der zweite Bogen völlig fehlt. Unten, in der Elbe, sind die großen und kleinen Brocken des Zerstörungswerkes rhythmisch verteilt. Grafisch schön gesehen die Kontraste zwischen den hellen und den dunkel gestrichelten Partien in der Wasserrinne. Wie verdrehte Anker staken die verbogenen Eisenträger daraus nach oben. Im Hintergrund die aufgereihten Ruinen einer Straße unter grauem Himmel. Fürwahr – das entsetzliche Bild einer toten Stadt.

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Gottfried Haupt. Dresden, 13. Februar 1945 Brief an W. Knop, 04.02.2003 Gouache 1947, Buchdruck montiert, Monogramm 30,9 x 20,9 cm […] Ich ging 1947 drei Jahre in eine Fachschule in Dresden-Neustadt […]. Eines Tages bekam unsere Klasse die Aufgabe gestellt, ein Plakat »Nie wieder Krieg« zu entwerfen. Das beiliegende Kindergesicht […] war mein Beitrag […]. Unser Lehrer veranlasste, dass mein Farbentwurf gerahmt im Treppenhaus der Schule hing. Welch eine wunderbare Zeit war das, als wir Jugendlichen […] den wiedergewonnenen Frieden genießen konnten. Glücklich bei dem Gedanken, dass nun keine Kriege mehr kommen werden! Viele Jahre sind inzwischen vergangen und wieviel Kriege sind seitdem wieder geführt worden auf der Erde […]

Eine beeindruckende Arbeit eines 17/18 Jahre alten Jugendlichen. Schon allein die Motivwahl ist hervorragend. Von den Kindern, die am meisten im Krieg leiden, ist eines zur Hauptperson erkoren worden. Das schmerzverzerrte Gesicht eines schreienden Kindes ist wunderbar erfasst und durchmodelliert worden. Die kühnen Pinselhiebe mit roter Farbe, die über die Stadtsilhouette und das Gesicht »lodern«, fallen besonders auf und kommen hervorragend zur Geltung. Sie verdeutlichen sehr eindrucksvoll den verheerenden Feuersturm, der bei der Bombardierung geherrscht hat.Viele der Menschen, die aus den brennenden Häusern fliehen mussten, sind durch ihn erfasst worden. Sie wurden mitgerissen und sind im flüssig gewordenen Teer der Straßen elendig zu Tode gekommen. Das wird von allen Überlebenden dieses Bombenangriffs immer wieder nahegehend geschildert.

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Gottfried Haupt. Gefahren in der Nachkriegszeit (1) Brief an W. Knop, 22.10.2003 Tusche, signiert, Monogramm 29,6 x 20,8 cm Das Ende des Zweiten Weltkriegs […] war auch das Ende meiner Kindheit. Mit vierzehn Jahren war ich für kleine Abenteuer aber noch sehr empfänglich […]. Vieles war herrenlos geworden, was zu Plünderungen führte. Wir […] fanden diese Tage sehr aufregend. Die leerstehenden Kasernen hatten es uns angetan […]. Keine Ahnung, dass wir uns in Gefahr begeben würden, stöberten wir in einem Raum von Munitionsresten herum. Wir […] packten uns die Taschen voll mit […] Würfeln […], Blechbüchsen […], Metallstäbchen […]. Die alte Stadtmauer mit […] einer Ecknische [war günstig], um unsere Knallwürfel auszuprobieren. Der Größte von uns […] zündete so ein Metallstäbchen mit der Streichholzkuppe an. Plötzlich gab es einen lauten Knall und Funken flogen nach allen Seiten. Wir spürten es an unseren nackten Beinen. Der Junge starrte auf seine blutende Hand. Ein russischer Soldat kam […] zu uns gerannt und wir liefen davon. Unser Verletzter wurde […] zu einem Arzt gebracht. Als er nach Wochen wieder in die Schule kam, sahen wir, dass die Fingerkuppen der rechten Hand fehlten. Wir waren sehr betroffen […]. Er musste nun wieder neu lernen, mit dieser Hand zu schreiben.

In Fortsetzung des Briefes schildert Haupt einen ganz ähnlichen Versuch, den er selbst unternommen hat. Er hätte auch zu einem ähnlichen oder noch schlimmeren Ergebnis führen können. Aber zum Glück kam ein Mann dazwischen, der das verhinderte. Damals empört über diesen Mann, wird er nach Jahren als Schutzengel angesehen. Auch das ist der Krieg!

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Gottfried Haupt. Gefahren in der Nachkriegszeit (2) Brief an W. Knop, 22.10.2003 Tusche, signiert, Monogramm 29,6 x 20,8 cm

Beide Szenen hat der Künstler zeichnerisch beeindruckend ins Bild gesetzt. Zunächst überzeugt der erschrockene Blick des einen Jungen mit einen erstaunten Ausruf auf den Lippen. Fassungslos starrt er auf das explodierende Munitionsteil und auf seine blutende Hand. Zeichnerisch brillant ist die Situation erfasst worden. Besonders gelungen das erstaunte Gesicht, die in alle Himmelsrichtungen zerstiebenden Funken und die gespreizten Finger der Hände. Eine schöne Arbeit, die aus der Linie zupackend entwickelt wurde. Das gilt auch für die zweite Illustration. Hier ist die Arbeit, das Bemühen des Jungen, eine solche geheimnisvolle Schachtel aufzustemmen, das Thema. Alles atmet Anstrengung: die leichte Linksneigung des Körpers, der konzentrierte Blick, die Bewegung der Arme, die Haltung der beiden Hände. Alles ist souverän durch Umrisslinien gepackt und wird durch sparsame Schraffuren wirkungsvoll unterstützt. Zwei schöne, ausdrucksstarke Grafiken, die gefährliche Randerscheinungen des Krieges wirkungsvoll beschreiben.

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Horst Jockusch (Dresden 1925 – 2014 Dresden) Jockusch ist ein anerkannter Grafiker. Er hat den Zweiten Weltkrieg bis zum Ende mitgemacht, worüber er in seinen Kriegserinnerungen ausführlich berichtet.30 Als er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wird, findet er Dresden zerstört vor.31 Insbesondere der desolate Zustand der Frauenkirche, in deren Umfeld er seine Kindheit verbrachte, ging ihm nahe. In seinen Korrespondenzen reagiert er manches von dieser Kriegslast ab. Auch in dem Buch Adé 20. Jahrhundert ist er vertreten.32 41

Horst Jockusch. Trümmerstadt Dresden (1) Brief an die Schwester, 02.08.1952 Kugelschreiber 29,6 x 20,9 cm (2 Seiten) […] Gestern habe ich mich wieder einmal auf den Weg durch die Stadt gemacht. Unsere alte Münzgasse, vorbei an der Ruine unseres Hauses, bin ich hochgelaufen, vorbei an der Frauenkirche bis zum Altmarkt. Das ist schon sehr niederschmetternd. Der Anblick der riesigen Trümmerberge lässt das Herz erstarren […]. Wann werden wir jemals wieder in der Stadt leben können? […] Und dennoch […], die Straßenbahn fuhr wieder durch die Wilsdruffer Straße, im Zwinger wurde gearbeitet, das Schauspielhaus war schon wieder eröffnet, auf dem Altmarkt wurden Baugruben ausgehoben und überall begegneten einem die fleißigen Trümmerfrauen, die Ziegel um Ziegel der Wiederverwendung für den Aufbau nutzbar machten […], mühsam mit einem Hammer in der Hand, Stück für Stück, mit Hunger im Bauch, aber im Kopf die Hoffnung, neuem Leben zum Durchbruch zu verhelfen […]. Mir kam dabei der Gedanke, diesen beginnenden Aufbau in meine künstlerische Arbeit einzubeziehen […].

Jockusch setzt den Gedanken um: Er schafft den legendären Holzschnittzyklus Dresden lebt, den ich sehr schätze.

30 Siehe Knop, Kriegserinnerungen von 23 deutschen Künstlern, 25–34. 31 Siehe H. Jockusch. Münzgasse 9, ein Kinderleben im alten Dresden. Dresden 2001, mit zahlreichen Illustrationen und einem Nachwort von W. Knop. 32 Adé 20. Jahrhundert, 174.

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Horst Jockusch. Trümmerstadt Dresden (2) Brief an an die Schwester, 02.08.1952 Kugelschreiber 29,6 x 20,9 cm (2 Seiten)

Die Briefzeilen sind durch drei Skizzen bereichert. Es sind kleine, handgroße Skizzen: Trümmerstadt mit Blick zum Altmarkt, die Straßenbahn inmitten einengender Häuserruinen und Trümmer-Schutt. Dann die Trümmerfrauen, die Steine säubern und diese zu hohen Stapeln türmen. Die Skizzen geben sich als kleine, sehr lebendige, anschauliche Eindrücke in »sprechenden« Liniengebilden.

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Horst Jockusch. Ruine der Frauenkirche Brief an W. Knop, 25.07.1995 Tusche 29,6 x 40,7 cm (2 Seiten) Im Umfeld der Frauenkirche Dresden habe ich meine Kindheit verbracht. Sie hat also eine besondere Bedeutung für mich. Im Jahre 1950 bin ich auf den Trümmerberg gestiegen und habe […] Skizzen gemacht. Selbst die Reste […] sind von einer faszinierenden Schönheit […].33 Inzwischen sind nun […] diese Trümmer […] verschwunden und wir tragen die Hoffnung in uns, die alte Frauenkirche in neuem Glanz zu erleben […].

Zum Brieftext hat der Künstler mehrere zupackend gezeichnete Skizzen mit Tusche gefertigt. Großzügig angelegt und mit der Feder gezeichnet, geben sie Innen- und Außenansichten der Kirchenruine wieder. Außerdem zeigen sie, wie souverän Jockusch mit der Tusche umzugehen versteht. Die breiten, mit dem Pinsel eingefügten Konturen, tragen anschaulich dazu bei, die Bildbezüge zu klären.

33 Das kann ich bestätigen: Immer, wenn ich in Dresden war, habe ich die Kirchenruine aufgesucht, weil selbst diese zusammengefallenen Trümmerberge sehr beeindruckend waren.

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Horst Jockusch. Reise nach Italien Brief an W. Knop, 17.01.2001 Faserschreiber 20,9 x 29,6 cm […] für mich war es ein besonders großes Erlebnis. In Monte Cassino habe ich die wiederaufgebaute Abtei in voller Pracht erlebt. 1944 habe ich da unterhalb der Abtei in Stellung gelegen. Bei dem ungeheuren Bombenangriff auf diesen Berg wurde das Kloster total zerstört, und ich zählte zu den wenigen Überlebenden. Über 20 000 Gräber sind auf dem deutschen Soldatenfriedhof […]. Ich habe eben Glück gehabt, großes Glück […]

In diesem Brief berichtet Jockisch mit zwei eingeflochtenen Skizzen von einer Reise nach Italien, wo er die alten Kampfgebiete des Zweiten Weltkrieges aufsucht. Die beiden Brief-Skizzen breiten italienische Landschafts- und Stadteindrücke schön empfunden aus. Sie sind klar gegliedert, haben aber mit dem damaligen Kriegsgeschehen nichts zu tun.

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Horst Jockusch. ‹Gedanken zum Krieg› Brief an W. Knop, 28.03.2003 Faserschreiber 20,9 x 29,6 cm Einige Leute […] sagen, wenn man Hitler rechtzeitig in den Arm gefallen wäre, hätte er nicht Tod und Zerstörung über ganz Europa bringen können […]. Gut wäre gewesen, jene im Hintergrund […] beizeiten zu zügeln, die Hitler in den Sattel gehoben haben […]. Um so etwas [Krieg] zu verhindern, ist eine wirksame Demokratie unerlässlich. Sie wird aber nur wirksam sein, wenn sie von jedem Einzelnen als Verpflichtung […] aufgefasst wird […].

Der zu einem Triptychon montierte dreiseitige Brief zeigt in der Mitte einen kraftvollen Holzschnitt des Künstlers aus dem Jahre 1956. Zu sehen ist oben ein Bombergeschwader, das seine Last gerade abwirft. Die Spitzen der Bomben zielen punktgenau in die Menschen, die unten panisch auseinander stürzen bzw. gelähmt verharren. Auffallend die großen, breiten Schwarzflächen, die die Aussagekraft bedingen, tragen.

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Joachim Kratsch (Zwickau 1937 – lebt in Leipzig) Als bekannter Maler und Grafiker ist er in den Büchern Künstlerpost und Adé 20. Jahrhundert vertreten.34 Er hat 2004 ein Buch geschrieben, in dem er über seine Kindheitserlebnisse im Krieg berichtet.35 Außerdem ist er in den Kriegserinnerungen vertreten.36 Weil er sich dort verbal ausführlich ausdrückt, fallen seine Kriegsbriefe relativ knapp an Worten aus. Mehr Augenmerk widmet er den Illustrationen, die er z.T. mehrfach variiert. 46

Joachim Kratsch. Onkel Wolf Briefkarte an W. Knop, 12.11.2002 Faserschreiber 20,9 x 10,6 cm […] Hier oben habe ich Onkel Wolf, den Heimkehrer gezeichnet […]. Die Zeichnung ist aber wahrscheinlich nicht endgültig […].

Dennoch ist sie ganz ausgezeichnet gelungen. Sie besteht aus klaren Linien, die souverän die Situation erfassen. Der Onkel, gerade aus dem Krieg, der Gefangenschaft heimgekommen, ist noch nicht ganz da. Die schlimmen Geschehnisse der Vergangenheit wirken nach. Das braucht Zeit. Nachdenklich, den Kopf in die Hände gestützt, sitzt er unschlüssig am Herd und sinniert. Eine vollendete, durch und durch überzeugende Darstellung. In dem genannten Buch Zum Paradies finden sich zwei Illustrationen, in denen die Bildszene abgewandelt erscheint. Als Radierungen stehen sie ganzseitig auf den Seiten 70 und 94. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Künstler mit seinem zeichnerischen Wurf einverstanden ist, ihn als gültig ansieht.

34 Künstlerpost, 76/77, 92/93, 151, 213 und Vorsatzpapier; Adé 20. Jahrhundert, 166, 180. 35 J. Kratsch. Zum Paradies zweimal links, dann geradeaus. Dößel 2004, mit zahlreichen Illustrationen des Künstlers. 36 Siehe Knop, Kriegserinnerungen von 23 deutschen Künstlern, 47/48.

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Joachim Kratsch. Ins Holz Briefkarte an W. Knop, 29.08.2007 Faserschreiber 20,9 x 12,1 cm […] Wann [bis wann] brauchen Sie [die] Texte für das Kriegs-NachkriegsVorhaben? […] Die Zeichnung ist eine Vorarbeit zum Buch Zum Paradies […]

Während der »Heimkehrer Onkel« in Abb. 46 noch unschlüssig neben dem kalten Herd sitzt und zu überlegen scheint, was er tun kann, ist es ihm nun offensichtlich eingefallen. Jetzt sieht man ihn, zusammen mit dem Knaben Kratsch, auf dem Weg ins Holz. Im mitgeführten Handwagen liegt die Säge, die uns das verrät. Äußerst tatendurstig hat sich der Onkel vor den Wagen gespannt, während der Junge schiebend nachhilft. Als Radierung im besagten Buch findet sich die dort veränderte Szene auf der Seite 73. Verändert worden ist sie eigentlich nicht. Nur verkleinert, um die Bäume noch zeigen zu können, die im Vorbeifahren Begehrlichkeiten geweckt haben. Wieder eine sehr überzeugende Arbeit, welche die Nachkriegszeit spiegelt.

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Joachim Kratsch. Beim Ziegelputzen Briefkarte an W. Knop, 16.01.2008 Faserschreiber 16,9 x 24,5 cm Die Illustration im gestrigen Brief möchte ich nicht verwenden. Heute habe ich etliche Stunden gezeichnet und nun schicke ich dieses Exemplar, was ich dem von gestern unbedingt (vorziehe) […]. Jetzt eben habe ich noch den Knaben mit der Gasmaske gezeichnet […].

In den oben erwähnten Kriegserinnerungen schildert Kratsch, dass er mit der Großmutter zwischen den Ruinen gewohnt hat. Dort beginnt die alte Frau mit dem Putzen der Trümmer-Steine, die sie sauber stapelt. Einmal, um zu zeigen, dass hier noch Leute leben. Zum anderen, um Boden für einen kleinen Garten zu gewinnen. Darin will sie Essbares ziehen. Die aus großen Formen bestehende, wunderbar gebaute Zeichnung hat der Künstler mehrfach variiert, bevor er zu dieser Lösung fand. Das klingt im Kartentext an. Nun sind die Linien, die die Umrisse der Körper angeben, zu seiner Zufriedenheit ausgefallen. Das kann man nachempfinden. Doch dies ist interessant: Die Großmutter, der die Arbeit im Alter schwer fällt, putzt in allen Bildvarianten ausdauernd die Ziegel. Aber der junge, kräftige Knabe steht regungslos daneben. Seine Hände bleiben in den Hosentaschen. In den Kriegserinnerungen,37 erklärt er: Lange konnte ich meine Hände nicht in den Hosentaschen versteckt halten. Auch ich musste […] Ziegel klopfen, schaben und stapeln. Dabei träumte ich den warmen Juni herbei, (wo) die Hände nicht zu Eis erstarren […].

Dazu zeichnet er sich mit Gasmaske, worauf im Kartentext hingewiesen wird. Siehe Abb. 49.

37 Knop, Kriegserinnerungen von 23 deutschen Künstlern, 48.

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Joachim Kratsch. Kratsch mit Gasmaske Briefkarte an W. Knop, 16.01.2008 Faserschreiber 17,3 x 10,9 cm Das könnte (sollte) eine 2. Illustration sein, wenn es geht […]

In den mehrfach erwähnten Kriegserinnerungen schildert der Künstler, er habe sich beim ersten Aufsetzen der Maske eine Schramme im Gesicht zugezogen, seine »erste Kriegsverletzung«, wie er betont. Im Buch Zum Paradies… ist eine weitere, sehr überzeugende Version auf S. 18 abgebildet. Da sieht man eine ganze Gruppe von Kindern mit den aufgesetzten Gasmasken auf einer Bank im Keller sitzen. Ihre Schulranzen haben sie unterdessen an der Seite abgestellt.

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Joachim Kratsch. Die Zudelsuppe Brief an W. Knop, 07.02.2008 Faserschreiber 29,5 x 20,9 cm

Das ist ein Brief, der die Hungerjahre des Zweiten Weltkrieges in Wort und Bild beschreibt. Da der Text sehr lang ist, hier meine Kurzfassung: Die Großmutter hat durch Tausch und gute Worte drei kleine Kartoffeln besorgt, die sie in einem winzigen Beet zwischen den Ruinen pflanzen will. Doch die kostbaren Knollen kommen nicht in die Erde. Der beißende Hunger verhindert das. Er lässt sie, mit viel Wasser gestreckt, zu einer »Zudelsuppe« kochen. Die sehr schöne Illustration zeigt die andächtig im Topf rührende Großmutter. Ihr erhobener Zeigefinger lässt vermuten, das sie den hungrigen Knaben zur Geduld ermahnen muss. Der steht erwartungsfroh daneben, den köstlichen Duft schon konsumierend. Man spürt förmlich, wie ihm »der Zahn tropft«. Ja, das waren die legendären Hungerjahre der Kriegs- und Nachkriegszeit. Der Künstler setzt die Schrift sensibel als Gestaltungsmittel ein. Er zieht sie rahmend um die Zeichnung herum. Dadurch gewinnt diese an Größe, Ansehen, Gewicht (inhaltlich wie formal). Weil die Zeilen unten waagerecht geführt sind, entsteht der Eindruck eines Sockels, auf dem dieser wertvolle »Pokal« sicher zum Stehen kommt. Eine schöne Idee! Und ausgesprochen schön ist auch die Zeichnung. Ohne jegliche Korrektur sind die Linien sauber und äußerst klar durchgezogen.

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Joachim Kratsch. Der Bomberpilot Brief an W. Knop, 18.02.2008 Faserschreiber 29,5 x 20,9 cm Das ist der stolze Bomberpilot, der die BOMBE auf Hiroshima ausgeklinkt hat. Noch im Alter hält er seine Tat für moralisch und sehr richtig. Ich kenne überhaupt kaum Bomberpiloten, die nicht ihre -Arbeit- für wichtig und gut und moralisch hochwertig ansehen, ganz gleich, von wo nach wo sie ihre Bomben fliegen. Es ist schon eigenartig, welcher Gattung wir angehören.

Hier hat Kratsch ein kleines Porträt gezeichnet. Fein strukturiert und sensibel liniert, werden die Formen und Falten eines alten Gesichtes mit Brille durchaus sympathisch gezeigt. Doch der alte Mann steht isoliert auf großer, freier Fläche. Einsam und verlassen wirkt er, wie am Pranger stehend. Das ist durchaus beabsichtigt.

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Armin Münch (Rabenau 1930 – 2013 Rostock) Er hat die verheerende Bombardierung Dresdens im Februar 1945 als junger Mensch erlebt und durch Glück überlebt. Als »Pimpf« zum Kriegsdienst eingesetzt, war er am 12.02.1945 unter dem Hauptbahnhof, um die auf ein Weiterkommen wartenden Menschen mit Getränken zu versorgen. Kaum abgelöst und zur Unterkunft auf die Räcknitzhöhe marschiert, sieht er schon die Stadt brennen und hört das gespenstische Knistern im Tal. Tausende kommen allein unter dem Bahnhof um. Beinahe wäre er dabei gewesen. Das brennt sich derart tief ein, dass er nicht nur alljährlich zum 12./13.02. der Ereignisse zeichnerisch gedenkt, sondern sich auch zunehmend mit dem Thema Krieg in Deutschland und anderswo beschäftigt. Später nennt er sich sogar mitunter: »Der alte Mann und der Krieg«, als Anlehnung an den Kurzroman Der alte Mann und das Meer von Hemingway, den er mehrfach illustrierte. Als ich 2006/07 Kriegserinnerungen anregte, war er einer der ersten, der sich mit Wort und Bild beteiligte.38 Auch eine lange Reihe illustrierter Briefe gibt über seine Kriegsreflexionen Auskunft. 52

Armin Münch. Dresden 13.2.1945 – Der Posaunenengel Brief an W. Knop, 12.01.1991 Kugelschreiber, signiert, datiert, bezeichnet 29,6 x 20,9 cm Dresden 13.2.1945 Der Posaunenengel auf der Brühlschen Terrasse (Kunstakademie). Der Goldene Engel […] Wir haben jetzt Sorgen und Probleme mit meiner Mutter. Drum die Kürze dieses Briefes […]

Es ist ein eiliger aber ungemein beeindruckender Kurzbrief. Der Grund dafür wird angegeben. Obwohl dieser Grund sehr ernst ist, muss doch wenigstens das ursächliche Dresdener Ereignis zeichnerisch angerissen werden. Eine radikal vereinfachte, nur aus kraftvollen Konturen und wenigen Schraffuren bestehende Skizze erfasst wichtige Bildgegenstände. Dominierend der so genannte »Posaunenengel«. Vergoldet steht er stolz auf der Kuppel der Kunstakademie. Diese wird später Münchs langjährige Wirkungsstätte. Nun aber steht sie unter Fliegerangriff. Ein Bomber, den man in der Bildmitte erkennen kann, scheint den Engel gerammt zu haben. Schräg ragt er jetzt ins Blatt. Entgegengesetzt ausgerichtet ist die Posaune. Man glaubt, da wird noch ein lauter Warnton ausgestoßen. Denn eine riesige Bombe fällt auf die Katholische Hofkirche, einem weiteren Wahrzeichen der Stadt hinter den breiten Treppenstufen der Brühlschen Terrasse. Rechts eine der alten Elbbrücken 38 Vgl. Knop, Kriegserinnerungen deutscher Künstler, unveröffentlichtes Manuskript, Suhl um 2007, 56–60.

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mit dem Reiterstandbild August des Starken. Ein wundervoller, ausdrucksstarker Brief voller Detail- und Informationsreichtum. Als Illustration hat der Künstler eine Zeichnung übernommen, die er als knapp 15jähriger Jugendlicher damals in sein Tagebuch gezeichnet hat. Das gilt auch für die folgende Abb. 53. 53

Armin Münch. Ich in Rauchmaske Brief an W. Knop, 01.02.1991 Kugelschreiber, signiert, datiert, bezeichnet 29,6 x 20,9 cm Ich in Rauchmaske auf der Räcknitzhöhe Dresden-Süd in der Nacht vom 13. zum 14.2.1945. Es war gerade Faschingsabend/nacht und morgens dann Aschermittwoch-Asche […]. Ich habe als knapp 15jähriger den Bombenangriff auf Dresden erlebt […]. Nun wollen wir hoffen, dass der Krieg schnell zu Ende geht […]39

Wieder ein hervorragender Brief, voller Ausdruck und Detailtreue. Mit kraftvollen Linien wird die Situation geschildert, da Münch nach dem Kriegseinsatz in der Stadt gerade den Standort auf der Räcknitzhöhe erreicht hat. Fassungslos sieht er auf die brennende Stadt hinunter. Sichtlich erstarrt ist er. Vor den lodernden Flammen, die eine erstaunliche Hitze und einen reichen Funkenflug entwickeln, schreckt er zurück. Hervorragend sind die Flammen gezeichnet, auch Bauten der Stadt mit dem »Posaunenengel« ganz rechts.

39 Gemeint ist der 2. Golfkrieg vom 2. August – 28. Februar 1991, Irak erobert Kuwait.

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Armin Münch. Bombennacht-Irre Brief an W. Knop, 06.06.1993 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,5 x 20,9 cm […] Auf ihren Haustrümmern stehend Bombennacht-Irre singt: »In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine«. […] Als Kind durch den Krieg. Als Jugendlicher und Alter durch den Kalten Krieg. Und wie nennen die Menschen unsre heutige Zeit? […]

In den wiederkehrenden Februar-Erinnerungen der schrecklichen Bombennacht ist diesmal eine nackte Frau zu sehen. Es ist eine »Bombennacht-Irre«, wie sie der Künstler nennt. Sie muss es tatsächlich gegeben haben. Viele Überlebende dieser Bombennacht sprechen von ihr. Hier steht sie stocksteif erstarrt auf den noch brennenden Trümmern ihres Hauses. Ein wuchtiges Türgesimse, ein abgestürztes Fenster, verbogene Eisenträger und einen Schornstein in Schräglage kann man zwischen Mauerbrocken in dem Trümmerberg erkennen. Unter Abb. 61 wird uns diese Bombennacht-Irre noch einmal begegnen.

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Armin Münch. Narr trägt brennende Hexe Brief an W. Knop, 01.02.1994 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,5 x 20,9 cm […] Der Bombenorkan wehte am 13.2.1945 Notenblätter der Dresdener Oper bis in die Lausitz. Joseph Fröhlich, der Dresdener Hofnarr trägt brennende Hexe (Ballerina) […]

Wohin der Hofnarr Fröhlich die brennende Ballerina trägt, veranschaulicht die Illustration. Man sieht den verkleideten Mann mit der ebenfalls verkleideten Hexe auf der Elbbrücke stehen. Es wurde gerade Fasching gefeiert, als die Bomben unverhofft fielen. Deshalb brennt die weibliche Last lichterloh. Die Flammen will man hier, wie es auch viele andere brennende Personen tun, mit Elbwasser löschen. Gern setzt Münch die Schrift seiner Briefe zusätzlich als Gestaltungsmittel ein. So auch hier. Er hat die Zeilen so schließen lassen, dass man den Eindruck hat, der Träger tauche mit der geschulterten Gestalt unter den Wasserspiegel des Flusses. Eine zündende Idee, ausdrucksstark in Szene gesetzt. Die Figuren wurden mit großen rundbogigen Linien souverän entwickelt.

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Armin Münch. Dresden, Hauptbahnhof, Kriegsdiensteinsatz Brief an W. Knop, 12.02.1997 (nach Tagebuchnotiz vom 12.02.1945) Tusche, Kreide signiert, datiert, bezeichnet 29,6 x 20,7 cm […] 12.2.1945, nachts. Tief unter der […] Gleisanlage ein […] Tunnel. Tausende Flüchtlinge warten im unterirdischen Gang auf den Weitertransport. Das schmutzige Lampenlicht klebt wie Schleim im Riesendarm. Ich schleppe Kaffeekübel, stolper über ausgestreckte Füße und Koffer. Mütter umarmen ihre Kinder. Greise schlafen, schnarchen oder murmeln, Fiebernde starren. Schwangere sitzen wie dicke Denkmäler zwischen den Liegenden […]. Hände mit Näpfen ragen mir entgegen, verteile Kaffee, Tee, Wasser. Steige über Menschenknäuel […]. Die Schwangeren lehnen an der Tunnelwand. Das graue Licht flackert […]

Ein einprägsamer, unter die Haut gehender Erinnerungstext des 15jährigen Münch. Unmittelbar vor dem verheerenden Luftangriff der Alliierten hat er unter dem Bahnhof seinen Einsatz. Vielen dieser Menschen reicht er, ohne es zu wissen, den letzten Trunk. Mehrere Tausend zivile Opfer fordert das Bombardement. Kühn stenografiert Münch zeichnerisch die erlebte Situation. Gedrängt auf dem Boden liegen und hocken sowie an der Wand lehnen die vielen Wartenden. Dazwischen er selbst, wie er Getränke schleppt und keuchend über ihre ausgestreckten Beine und letzten Habseligkeiten stolpert. Mit furios gesetzten Tusche- und Kreidelinien fängt nun der altersmäßig gereifte Künstler die gespannte Situation ein. Vehemente Schraffuren schaffen Dunkelheiten, Kontraste, Plastizität, Räumlichkeit. Auch die Schriftzeilen sind wieder gestalterisch einbezogen worden. Durch ihre rundbogige Fügung tragen sie entscheidend dazu bei, den »Riesendarm« des Tunnels zu formen und optisch in die Länge zu ziehen.

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Armin Münch. 18. Dezember 1938 Brief an W. Knop, 04.12.1998 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,6 x 20,8 cm […] Am 18. Dezember 1938 […] trat die Menschheit in das Atomzeitalter […]. Mit dieser Formel hat alles angefangen: Atommeiler, Atombomben, Nuklearwettrüstung, Kernkraftwerke, Nuklearmedizin […] Kernfusion! Hauptsache, die Menschheit wird nicht verrückt. Wohl und Wahnsinn kleben aneinander. In Haigerloch sah ich 1995 Hahns Modell dieser Entdeckung: die ganze neue Welt auf einem Tischchen […]

Hier wird verbal und zeichnerisch auf die Geburtsstunde des Atomzeitalters 1938 und auf die dominierenden Gefahren verwiesen. Auslöser der Betrachtung ist 1995 ein Besuch des Künstlers im Atomkeller-Museums in Haigerloch, BadenWürttemberg. Es befindet sich im Felsenkeller unter der Schlosskirche. Münch ist beeindruckt, fasziniert. Energiegeladen, mit konzentriertem Blick und fest verschlossenem Mund zeichnet er den Wissenschaftler Otto Hahn, wie er sich engagiert über seinen Arbeitstisch beugt. Wenige Linien formen den Charakterkopf mit spärlichen Haaren, eingegrabenen Sorgenfalten, tief liegenden Augen unter gespreizten Augenbrauen. So drückt er trefflich die skeptische Haltung aus, die Hahn später zur Kernenergie und den Gefahren der Atomkraft einnimmt. Gewiss hat er schon damals, zusammen mit anderen Atomwissenschaftlern, rücksichtslose Kriegstreiber wie Hitler, Putin und andere vorausgeahnt.

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Armin Münch. Menschen herauszerren Brief an W. Knop, 13.02.2002 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,6 x 20,9 cm […] 13. Februar 1945 […] Fliegeralarm. Aus den Betten! […] Abmarsch […] nach Dresden – Löscheinsatz – […] Südhöhe […] Flammen und Rauch aus dem Elbkessel. Gasmasken aufsetzen. Wieder Sirenengeheul […]. Hinunter in den Keller. Brummen, Brausen, Wummern, Wimmern, Kellerwand bröckelt, Zittern. Raus! Menschen herauszerren, Körper, Leiber, Seelen, Klumpen […]

Eine hochdramatische Situationsschilderung. Sowohl verbal, unterstrichen durch Münchs eigentümliche Kommandosprache. Ganz besonders dramatisch aber durch seine zupackende, toll zusammengefasste Zeichnung. Leiber, die unter eingestürzten Wänden, Schutt und Schmutz heraus gebuddelt werden, sehen nicht mehr appetitlich aus. Sie sind zerdrückt, verrenkt, verzerrt, verstümmelt und sehr oft schon tot. Auch junge Mädchen unter ihnen. Mit weit aufgerissenen Augen und Mund wirken sie abschreckend. Mitunter brennen ihre Kleider und Haare noch. Der Geruch ist abstoßend. Alles das belastet die jungen Helfer, macht sie schwermütig. Münch hatte den Vorteil, diese »schwarzen« psychologischen Lasten wenigstens etwas abbauen zu können. Er führte Tagebuch über das Gesehene, Erlebte und illustrierte die Eintragungen. Das hat geholfen. Nach den Tagebuch-Illustrationen ist auch die Briefzeichnung entstanden. Brillant mutet sie an. Ungehemmt fließen die Linien ohne jegliche Unterbrechung. Spielerisch leicht sieht das aus. Da gibt es nichts, das man verbessern könnte oder wollte. Man ist geneigt, von einer schönen Zeichnung zu sprechen. Dennoch kristallisiert sich letztendlich ein niederdrückender Anblick aus. Zu sehen ist eine aus dem Schutt geborgene Leiche. Eine junge Gestalt, die das Leben noch vor sich hatte. Nun liegt sie lang ausgestreckt, erstarrt und regungslos am Boden. Das soll man verkraften können?

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Armin Münch. Menschklumpen Brief an W. Knop, 11.07.2004 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,6 x 20,9 cm […] neue Blätter geschaffen zum »Totentanz« Megatod und »Dresden 13.2.1945« […] Zur Einweihung der Frauenkirche wird die Welt auf Dresden schauen: Nie wieder Kriege!!! […] damals Dresden in Asche […]

Gleichsam immer, nur durch andere Vorhaben kurzzeitig unterbrochen, kreisen die Gedanken des Künstlers um das Feuerinferno 1945 in Dresden. So auch hier. Jetzt eine Rückerinnerung an seine eigenen Kriegsdienst-Einsätze dort, wo sie aus den brennenden Häusern Menschen bergen mussten. Oft waren diese schon tot (siehe Abb. 58). Und sehr oft sprach Münch von »Menschklumpen«, die durch gewaltige Lasten der darauf gestürzten Trümmer zusammengepresst, verunstaltet, deformiert waren. Hier zeichnet er mit viel Schwarz einen solchen »Menschklumpen«, wie er ihn nennt. Von allem Brennbaren schlagen daraus Flammen. Sie sind weiß akzentuiert im schwarzen Umfeld. In der großen Rundform ein Totenkopf. Er stiert auf den Betrachter. Mit tiefen Augenhöhlen und gefletschten Zähnen scheint er ihn hypnotisierend vorzuwerfen: Hättet ihr doch etwas gegen Kriege unternommen, dann würde ich noch leben. Nun aber bin ich tot und brenne. Mit letzter Kraft, meine Hände unten auf dem Boden stützend, stemme ich mich ein letztes Mal auf und mahne euch erneut. Wie oft noch? Da muss ich im Augenblick an die Ukraine denken, wo Putin seine Soldaten rücksichtslos töten und zerstören lässt. Immer wieder geht es weiter mit brennenden und toten Menschen!

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Armin Münch. 6.8.45 Brief an W. Knop, 06.08.2006 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,6 x 20,9 cm 6.8.45 […] Die Hitze gefällt mir nicht, habe Nase und Ohren zu (Infekt?). Ablenkung mit Arbeit; entwerfe Zyklus: »Das größte Ereignis in der Menschheitsgeschichte« 1945 Bombe Hiroshima […]

Das »Größte« ist hier natürlich gemeint als das Abschreckendste, Verwerflichste, Unmenschlichste, Brutalste, was es je gegeben hat: Der Abwurf einer Atombombe auf eine dicht bewohnte Stadt. Was man danach noch vorfindet, illustriert Münch wieder mit einer brillanten Zeichnung. Ein spannungsvolles Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß baut er stufenweise auf. Wunderbar steigern und ergänzen sich beide Parts. Zum Vorschein kommt das bittere Ende eines solchen BombenEinsatzes: Der Tod. Der Künstler zeigt das Gerippe eines Menschen mit abschreckendem Totenschädel. Tiefe schwarze Augenhöhlen und ein aufgerissener Mund ziehen die Blicke der Betrachter an. Inmitten von Flammen, Gasen, Strahlen und Funken scheint sich der Tote noch zu bewegen. Beeindruckend, wie Münch aus gekonnt verteilten Strichen, Flächen, Strukturen den abschreckenden Aspekt des Sterbens durch Bomben wirkungsvoll herauszufiltern versteht.

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Armin Münch. Irregewordene Brief an W. Knop, 11.02.2007 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,6 x 20,9 cm […] Der 13.2.1945 naht! Der Bomberverband – der Tod fliegt heran […]. Irregewordene steht auf dem Luftschutzraum und singt […]

Das hatten wir ganz ähnlich schon in Abb. 54. Auch hier ist es wieder eine nackte junge Frau. Diesmal steht sie singend auf dem Luftschutzraum (LSR). Doch nun werden die Konturen, die die Figur drastisch zupackend umrissen haben, von kräftigen, breiten Tuscheschwüngen gekreuzt. Sie verlaufen allesamt von links nach rechts und verdeutlichen sehr anschaulich den Feuersturm, der sich beim Brand der zerbombten Häuser entwickelt hat. Erstaunlich, wie diese gewaltigen Windstöße optisch aus den verhaltenen Schriftzeilen links daneben zu kommen scheinen. Erst im weiteren Verlauf werden sie, deutlich ablesbar, zu dem furchtbaren Orkan, der alles mitgerissen hat.

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Armin Münch. Kriegspause Brief an W. Knop, 27.07.2009 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,6 x 20,8 cm […] Nanne und ich […] fühlen uns zuhause am Wohlsten. Arbeite an einem neuen Entwurfs-Manuskript: »Die Offensive« […]‚ ’s kann immer so die letzte Arbeit sein […]

Den Künstler und seine Frau hatte ich zur Ausstellung Illustrierte Künstlerbriefe und -karten nach Arnstadt eingeladen, an der Münch maßgeblich beteiligt war. Dort wurde sie von August bis Oktober 2009 im Schlossmuseum mit viel Erfolg gezeigt. Aber beide, die sonst immer zu den Ausstellungen gekommen waren, bedauern nun, wie aus dem Brieftext hervor geht. Aus Alters- und zunehmend auch aus Gesundheitsgründen bleiben sie lieber zu Hause. Dort wird natürlich wieder an einem Kriegsthema gearbeitet. Doch die kurze Nebenbemerkung: »Es kann immer so die letzte Arbeit sein«, deutet schon Bedenkliches an. Doch in der Briefzeichnung präsentiert sich Münch erneut in großer Form. Mit schwungvollen Linien schafft er einen erstaunlichen Blick in eine »Kriegspause«. Die zur Liebe bereite Kurtisane und der nicht weniger dazu geneigte Krieger treffen sich beim Wein. Sie präsentiert üppige Brüste und ansehnlichen Körperwuchs im splitternackten Zustand. Er ist gestiefelt und trägt einen Helm mit Federschmuck. Der Griff seines Degens verweist schon mal auf das Ziel der Sehnsucht. Mit den Köpfen und Gläsern ist man sich bereits sehr nahe gekommen. Vorteilhaft, wenn es zu einer einvernehmlichen Lösung kommt. Doch oft dominieren im Krieg brutale Vergewaltigungen. Diese wurden insbesondere den sowjetischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg und jetzt wieder den russischen Angreifern in der Ukraine nachgesagt.

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Armin Münch. 2. Weltkrieg 1.9.1939 Brief an W. Knop, 01.09.2009 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,6 x 20,8 cm […] 1.9.1939 Beginn Zweiter Weltkrieg […] Ich spüre noch in meinen alten Knochen Kriegsgreuel – diese oder solche – man muss Krieg als Ganzen verurteilen. Krieg: die Vernunft vergehet […]. Nächstes Jahr zum 80. [Geburtstag] plant Rostock […] Ausstellung: »Die Schöpfung – Schlachten und Lüste – Totentanz«

Ein typischer Münch-Brief. Er reflektiert von Anfang bis Ende den Zweiten Weltkrieg. Bildlich dargestellt, mit wenigen Linien definiert, sind Flüchtlinge: Mutter und Kind. Nichts haben sie bei sich. Und doch ist es viel im Krieg. Sie haben sich noch und sie leben noch! Die Mutter hält ihr kleines Kind ganz fest umschlossen im Arm. Sie ist bemüht, das unschuldige kleine Wesen gegen alles Feindliche zu schützen. Auch gegen den Wind, der augenblicklich scharf zu wehen scheint. Leicht nach vorn gebeugt, stemmt sich die sichtlich kraftloser werdende Mutter dagegen. Nur mit kleinen Trippel-Schritten kommt sie vorwärts. Wie weit mag das Ziel noch entfernt sein? Kennt sie überhaupt ein Ziel, oder muss weiter gesucht werden? Das sind alltägliche Bilder und alltägliche Fragen im Krieg. Heute wieder, da Putin mit seinem brutalen Aggressionskrieg in der Ukraine rund 12 Millionen Menschen auf die Flucht getrieben hat. Hoffentlich hält die derzeitige Unterstützungswelle der Menschen vieler Länder noch lange an.

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Walter Weiße (Freyburg/Unstrut 1923 – 2021 Naumburg/Saale) Er war Soldat im Zweiten Weltkrieg. Darüber berichtet er in den Kriegserinnerungen.40 In den Büchern Künstlerpost sowie Adé 20. Jahrhundert ist er vertreten.41 Auf dem Postwege mitgeteilt, setzen seine Kriegsäußerungen etwas in Erstaunen. Obwohl es sich meistens um aquarellierte Beiträge handelt, die besonders empfindlich sind, werden sie offen verschickt. Als ich ihm berichtete, dass ich für Hamburg eine Briefausstellung vorbereite, die genau am Jahrestag der »Operation Gomorrha« (26.07.2002) eröffnet wird, setzen seine Kriegsbriefe ein. Textlich sind sie knapp, aber illustratorisch sehr vielsagend. 64

Walter Weiße. Aufsteigender Engel aus brennenden Trümmern Übermalte Kunstpostkarte an W. Knop, 07.07.2002 Tusche und Wasserfarbe über Kartendruck, signiert, bezeichnet 15,1 x 10,8 cm […] In meinen Tagebüchern (2000–2002) […] dachte ich zurück an den furchtbaren Krieg 1939–45 […] [siehe auch diese Karte...!] Übermalte Karte […], nun der Titel: »Aufsteigender Engel aus brennenden Trümmern«

Der ursprüngliche Titel der Kartenmalerei lautete »Aufsteigende Engel«. Durch Überarbeiten mit Tusche und Farben wird nun daraus ein Bombergeschwader über brennenden Ruinen. Auch durch die Änderung des Titels hat die Karte merklich an Ausdruckskraft gewonnen. Verglichen mit dem augenblicklichen Putinkrieg in der Ukraine sind Bildaussage und Titel nun auch zeitgemäßer geworden. Denn genau so, wie es die Übermalung zeigt, sehen jetzt die rücksichtslos bombardierten Städte dort aus. Da wünscht man ganz dringend »aufsteigende Engel«, die Hilfe bringen.

40 Siehe Knop, Kriegserinnerungen von 23 deutschen Künstlern, 72–74. 41 Künstlerpost, 78, 170/171; Adé 20. Jahrhundert, 169, 177, 182, 199.

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Walter Weiße. Nie Krieg! Bemalter Briefumschlag an W. Knop, 08.07.2002 Frottage, Wasserfarbe, Faserschreiber, Bleistift signiert, datiert, bezeichnet 21,8 x 11,0 cm Nie Krieg! Feuer – Häuser und Menschen – überall […] Soeben kam Einladungskarte Hamburg. Sehr schön. Danke W.W.

Ein Briefumschlag, der einen Tag später gestempelt wird, hat Abb. 64 geschützt auf dem Transport. Aber nicht nur das. Auf seiner Außenseite findet sich zudem eine farbige Kriegsdarstellung. Das ist eine aquarellierte Frottage mit der Bezeichnung: »Feuer – Häuser und Menschen – überall«. Zwischen lodernden Flammen, die ein Haus erfasst haben, sind Menschen zu sehen, die dieses verlassen. Auf dem Briefumschlag auch diese handschriftliche Notiz: »Soeben kam Einladungskarte Hamburg […]« Diese verweist auf eine Ausstellung, in der Weiße vertreten ist. Sie lautet: Adé 20. Jahrhundert, illustrierte Künstlerschriften beleuchten Licht- und Schattenseiten. Laufzeit 26. Juli bis 7. September 2002. Da sie zum Jahrestag der »Operation Gomorrha«, dem Beginn der Bombardierung Hamburgs im Zweiten Weltkrieg (24.07.1943) eröffnet wird, schmücken illustrierte Kriegsbeispiele Karte und Briefumschlag.

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Walter Weiße. Ich mit Löffel Bezeichneter Briefumschlag an W. Knop, 20.02.2007 Tusche, Faserschreiber signiert, datiert, bezeichnet 21,9 x 10,9 cm Heimkehr am 19. November 1947 aus sowjetischer Gefangenschaft (ich) Walter Weiße – 45 kg!

Eine beeindruckende Zeichnung mit beeindruckendem, kurzen Text auf einem Briefumschlag. Welch übergroßes Vertrauen in die Post. Denn um diese eindringliche Zeichnung, die wichtige Zeitgeschichte spiegelt, wäre es schade gewesen. Das gilt natürlich für die ganze Reihe der Abb. 65–68, die ungeschützt verschickt wurden. Zum Glück haben sie wohlbehalten den Adressaten erreicht. In diesem Beispiel sieht man den Künstler Weiße hinter Gittern und Stacheldraht in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Nach täglicher schwerer Arbeit ist er gerade auf dem Weg zum »Essenfassen«. Deshalb präsentiert er sichtbar den Löffel. Wenn auch die Rationen knapp und dünn sind, handelt es sich doch um den jeweils schönsten Augenblick des Tages. Geradezu feierlich wird uns dieser Moment der Vorfreude geschildert. Die Pelzmütze bis über die Ohren gezogen, die alte, zerschlissene, schmutzige Soldatenkluft auf dem Leibe, sieht man ihn hinter Gittern und Stacheldraht. 45 kg hat er gewogen, als er 1947 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde.

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Walter Weiße. Zwischen Flammen Bemalter Briefumschlag an W. Knop, 11.04.2007 Frottage, Aquarell, Faserschreiber signiert, datiert, bezeichnet 11,0 x 21,9 cm Zwischen Flammen war 1944

In den oben genannten Kriegserinnerungen schreibt Weiße: Am 4.4.1944 […] habe ich meinen schwersten Luftangriff von mehr als 200 Bombern auf Bukarest erlebt. Grauenhaft – ich sah zerstückelte Soldaten – überlebte durch Zufall.

In Abb. 67 ist er sichtlich erschrocken mit einem zur Maske erstarrten Gesicht zu sehen. Er befindet sich zwischen brennenden Bäumen, sucht krampfhaft nach einem Ausweg. Da kann man sich gut vorstellen, dass sein Entkommen eher Zufall war. Wieder eine sehr eindringliche Kriegsschilderung in kräftigen Farben, mit den Grautönen einer Frottage gepaart.

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Walter Weiße. Rückzug Bemalter Briefumschlag an W. Knop, 01.08.2007 Frottage, Aquarell, Faserschreiber signiert, datiert, bezeichnet 11,0 x 21,8 cm Rückzug 1944 am Schwarzen Meer. – Nie wieder Krieg!

Die aquarellierte Frottage zeigt hintereinander gehende Soldaten unter blutroter Sonne. Sie befinden sich inmitten von Ruinen auf dem Rückzug. Das ist dem kurzen Ergänzungstext zu entnehmen. Überall lauern Gefahren. Da ist Vorsicht geboten. Jeden Augenblick muss man darauf gefasst sein, sich in Deckung zu werfen. Man hält deshalb Abstand, um sich dabei nicht zu behindern. Bei jedem Schritt hat man eine mögliche Deckung ins Auge zu fassen. Da bleibt für das schöne Wetter, welches die brillante Illustration zeigt, kein Blick verfügbar. Nicht nur der Zweite Weltkrieg – auch alle anderen Kriege sind schlimm, fürchterlich und todbringend. Ob das Putin, dieser rücksichtslose, brutale Aggressor nicht weiß? Und mancher Bürger auch nicht. Trotz der vielen Toten in der Ukraine, darunter massenhaft Kinder, Frauen, alte Leute, gibt es noch Menschen, die sich nicht von ihm distanzieren. Unfassbar, aber leider real!

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Andere Kriege

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Manfred Bofinger (Berlin 1941 – 2006 Berlin) Er ist ein vorrangig auf Humor orientierter Karikaturist. Aber zeitweilig hat er auch Kriegsthemen aufgegriffen. In den Büchern Künstlerpost und Adé 20. Jahrhundert ist er vertreten.42 69

Manfred Bofinger. ‹Bomber› Brief an W. Knop, 03.10.2001 Faserschreiber aquarelliert 29,6 x 20,8 cm […] täglich, fast stündlich wartet die Welt auf militärische Aktionen der Amerikaner. Schlimm, was in New York passiert ist, aber Krieg ist keine Lösung! Die sozialen Spannungen in der Welt müssen endlich klug und menschlich gelöst werden. Kein Mensch hier weiß, was Hunger ist und ein riesiger Teil der Menschheit erlebt ihn täglich. Hoffen wir, dass dieses Jahrhundert besser beginnt, als es im Moment aussieht.

Die Befürchtungen des Künstlers im Vorfeld eines Krieges, treffen schon wenige Tage später ein. Am 7. Oktober 2001 beginnt der Krieg in Afghanistan. Die USA und Großbritannien haben sich zur Intervention gegen den internationalen Terrorismus entschlossen. Und zwar auf Grund des tödlichen Terrors durch Al-Qaida am 11. September 2001 in New York, wo es unermesslich viele Tote gegeben hat. Bofinger kreiert eine eindeutig schmerzlosere Bombardierung als allgemein üblich. Sie ist außerdem, worauf es dem Künstler laut Brieftext ankommt, auch nahrhafter. Er zeichnet mit schnellen Linien ein amerikanisches Bombenflugzeug, das Weißbrote statt Bomben abwirft. Mit wenigen Farben aquarelliert, steht die Szene wunderbar zwischen den Briefzeilen. Eine ungemein sympathische Lösung, die sich derzeit für viele Städte in der Ukraine anbieten würde.

42 Künstlerpost, 58, 90, 131, 150, 154, 188; Adé 20. Jahrundert, 172, 173.

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Manfred Bofinger. Der Vogel des Jahres 2003 Neujahrskarte an W. Knop, 20.12.2002 Buchdruck und Kugelschreiber 10,4 x 14,8 cm Der Vogel des Jahres 2003 […] vorgeschlagen von Gabi, Luise & Manfred BOFINGER […]

Der Afghanistan-Krieg hat sich durch den Abwurf von Broten nicht schlichten lassen. Aus Protest erklärt die Familie Bofinger die »Friedenstaube« zum »Vogel des Jahres 2003«. Mit weißem Federkleid und einem Palmenzweig, also durchaus in friedlichen Absichten, macht sich der Vogel auf den Weg ins Kriegsgebiet. Wäre das nicht begrüßenswert, wenn Putin Tauben, statt Bomben, in der Ukraine abwerfen ließe?

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Manfred Bofinger. ‹Taube mit Maulkorb› Kunstpostkarte an W. Knop, 08.02.2003 Buchdruck und Faserschreiber, signiert 14,8 x 10,4 cm […] Ja, die Kriegsgefahr ängstigt mich oder uns alle ebenfalls sehr, zumal ich ja wie Sie […] noch zur letzten Kriegsgeneration gehöre […]. Tun wir also etwas dagegen! […]

Diesmal ist der Vogel des Friedens nicht nur als arg zerzauste Kreatur dargestellt. Er wurde auch rot durchgestrichen und trägt als Steigerung zusätzlich einen Maulkorb. Ein kluger Hinweis auf Länder und Personen, die mit friedlichem Verhalten auf Kriegsfuß stehen.

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Manfred Bofinger. Zielscheibe Brief an W. Knop, 19.03.2003 Faserschreiber koloriert 29,6 x 20,9 cm […] haben Sie Dank für […] den Versuch, Briefe gegen den Krieg auszustellen,43 was vermutlich den Irrsinn in den nächsten Tagen nicht aufhalten kann. Am schlimmsten ist die Ohnmacht, die man empfindet trotz aller Demonstrationen und dem Aufruf kluger Menschen. Den Frieden zur Zielscheibe zu machen trotz aller Warnungen aus Umsicht, menschliches Leid zu verhindern, ist entsetzlich. Ich denke, es wird ein böses Erwachen geben für diejenigen, die glauben, Krieg […] gegen alle Rechtsnormen, wäre gerechtfertigt […]

Ein immer wieder hochaktueller Brief. Gerade in diesen Tagen kommt er erneut zur Geltung. Man sollte ihn lesen, ansehen, durchdenken. Erneut ist es eine Taube mit grünem Zweig im Schnabel, die dieses einzigartige Schreiben steigert. Schön, wie die schlichte Umriss-Zeichnung sich zwischen den Briefzeilen behauptet und zur bemerkenswerten Wirkung gebracht wurde.

43 Vgl. W. Knop. Künstler gegen Krieg und Gewalt. Ausstellungsfaltblatt, Suhl, Mai 1995; W. Knop. Künstler gegen Krieg und Gewalt. Ausstellungsfaltblatt, Erfurt, August/September 1995. Auf Seite 9 ist ein illustrierter Brief von Bofinger abgebildet.

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Feliks Büttner ( Merseburg 1940 – lebt in Rostock) Büttner ist ein ausgewiesener Maler und Grafiker. Insbesondere als Entwerfer von Plakaten hat er sich einen Namen gemacht. International bekannt geworden ist er nicht zuletzt durch die Bemalung der AIDA-Schiffsflotte. In den Büchern Künstlerpost und Adé 20. Jahrhundert ist er vertreten.44 73

Feliks Büttner. MURUROA Brief an W. Knop, 02.09.1995 Tusche aquarelliert 29,6 x 20,8 cm […] Naturschönheiten, erfunden und entwickelt von schlauen Köpfen MURUROA […]

Es ist ein galliger Humor, den Büttner hier entwickelt. Er verurteilt damit die Atombomben-Testversuche auf dem Mururoa-Atoll. Seit 1966 nutzte Frankreich 30 Jahre lang diese unbewohnte Insel im Südpazifik als Testgelände für Kernwaffen. Das löst internationale Kritik aus. Der Künstler schließt sich verbal und bildlich an. Text und Illustration gleichermaßen mit giftigen Seitenhieben untersetzt. Die »Naturschönheiten«, von denen er spricht, werden durch helle und ansprechende Farben unterstrichen. Der Atompilz, der mit viel Rot aus dem blauen Meer aufsteigt, präsentiert sich in leuchtendem Weiß. Zusätzlich bekommt er einen schönen Schal aus Goldocker umgelegt. Als Krönung erscheint ein leuchtend roter Kranz um den Kopf. Aber das sichtbare Auge weint, während das Gesicht einen zornigverärgerten Ausdruck zeigt. Diesen untermauert das hintere Schiff auf dem Wasser. Es hat die Piraten-Flagge aufgezogen.

44 Künstlerpost, 66–69, 182/183; Adé 20. Jahrhundert, 154, 181, Umschlag.

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Feliks Büttner. ‹ohne Worte› Kunstpostkarte, unbeschrieben an W. Knop Tusche signiert 13,6 x 8,9 cm

Die Karte mit der intelligenten Bildfindung ist ohne Worte verschickt worden. Denn Erklärungen wären in der Tat überflüssig gewesen. Es handelt sich um ein leicht deutbares Logo gegen alle Kriege der Welt. Ganz gleich, wo, wann, weshalb sie stattfinden und durch wen sie ausgelöst oder geführt werden. Zu sehen ist ein offensichtlich gut gerüsteter Krieger. Er ist schwarz ausgemalt, um die brutale Wirkung zu erhöhen. Eine Rüstung trägt er, einen Helm mit Feder und gespornte Stiefel. Mit gezücktem Schwert ist er zielorientiert auf dem Weg zu seinem Einsatz. Doch da setzt sich ausgerechnet dieser friedlich anmutende weiße Vogel mit Palmzweig im Schnabel auf den scharfen Kampfgegenstand. Und siehe da, der böse aussehende Soldat ist im Handumdrehen entwaffnet. Denn das Schwert wurde zerbrochen. Wie wunderbar wäre es doch, wenn das immer so schnell, so reibungslos ginge, so gänzlich ohne Blutvergießen.

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Joachim Kratsch (Zwickau 1937 – lebt in Leipzig) Er ist schon im Kapitel »Zweiter Weltkrieg« überzeugend in Erscheinung getreten (siehe Abb. 46–51). Aber auch zu anderen Kriegen gibt es verbale und bildliche Äußerungen von ihm. 75

Joachim Kratsch. ‹Feuernder Panzer› Brief an W. Knop, 03.04.2003 Faserschreiber 29,6 x 20,9 cm […] Eigentlich lebe ich immer mit der Gewissheit, dass wir hier auf der Erde schon die Höllenpein durchmachen. Wir brauchen vor der Hölle keine Angst zu haben, wenn nur damit ein aufgeblasener Engel droht. Welcher Schmeißfliegen-Gattung gehören wir an. Allemal tauchen da Exemplare auf – von Amerika bis nach Asien – die den Satan in die Ausbildung nehmen könnten […]

Mit drastischen Worten wendet sich der Künstler nicht nur gegen alle denkbaren Kriege der Welt, sondern auch gegen alle Befürworter von Kriegen. Aber im Besonderen geht es, wie die Fahne auf dem bemannten Panzer und das Datum des Briefes vermuten lassen, um den Irak-Krieg oder auch Golfkrieg genannt. Von Amerika und Großbritannien geführt, geht es wieder einmal ums begehrte Öl. Diese Begründung hält Kratsch für einen »aufgeblasenen Engel«. Die schnell hingeworfene Zeichnung ist schön in den bewegten Brieftext eingebettet. Sie präsentiert einen feuernden Panzer mit aufgesessenen und folgenden Soldaten. Alle sind bewaffnet. Hemmungslos geht es über liegende oder schon tote Kämpfer des Gegners hinweg. Einer der Soldaten auf dem Panzer hält den genannten »aufgeblasenen Engel« in die Höhe. Soll das den Überfall legitimieren, ihn als harmlos kennzeichnen?

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Uwe-Jens Lehmann (Leipzig 1956 – lebt in Würzburg) Er ist Maler und Grafiker und in den Büchern Künstlerpost und Adé 20. Jahrhundert vertreten.45 Zum Thema »Krieg« hat er mehrfach Stellung bezogen: 76

Uwe-Jens Lehmann. Blinde Krieger Brief an W. Knop, 27.02.2003 Tusche, Faserschreiber, Wasserfarben 29,6 x 20,9 cm »Blinde Krieger«, wohin man schaut. Es ist erschreckend, wie ein größenwahnsinniger Ordnungshüter versucht, über die Welt zu bestimmen und alle und alles in »Gut« und »Böse« einteilt […]. Wie so was ausgehen kann, haben wir schon einmal zur Genüge erlebt. Hoffentlich verschlafen die Künstler nicht die Gelegenheit, Flagge zu zeigen! […]

Er selbst »zeigt Flagge« am Rande vom Krieg im Irak oder in Afghanistan mit einer haarigen Illustration. Zwei finstere Gestalten fallen da wütend oder befohlen übereinander her. Stichwaffen haben sie in den Händen und diese offensichtlich schon eingesetzt. Denn zwischen ihnen fließt und spritzt das Blut. Ein scheußliches Motiv. Dennoch wirkt es ästhetisch ansprechend, wie die farbige Gestaltung dem Text des Briefes vorangestellt ist. Sie ähnelt einer großen Initiale.

45 Künstlerpost, 178/179; Adé 20. Jahrhundert, 184/185, 200.

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Uwe-Jens Lehmann. Überfall Brief an W. Knop, 16.03.2003 Tusche, Faserschreiber, Wasserfarben 20,9 x 29,5 cm […] Mit der Hoffnung auf friedlichere Zeiten, verbleibe ich für heute […]. Inzwischen ist Kr i e g ! Was für ein Wahnsinn! [Vom Künstler hervorgehoben.]

Noch immer geht es um den Krieg im Irak oder in Afghanistan. Deshalb wird eine ähnliche Bildfindung wie Abb. 76 hier kurze Zeit später abgewandelt. Jetzt sticht der eine Krieger den anderen, der unbewaffnet ist, feige von hinten nieder. Mit beiden Händen führt er kraftvoll den Speer. Sein Gegenüber sieht man taumeln, fallen. Da ist die beschworene »Hoffnung auf friedlichere Zeiten« völlig vergeblich gewesen. Nun wird die Bildfindung direkt in den Brieftext eingebunden, was sich gestalterisch sehr gut macht.

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Uwe-Jens Lehmann. Kain und Abel Brief an W. Knop, 13.09.2004 Tusche und Faserschreiber 29,6 x 20,9 cm […] Meinen Glückwunsch zum neuen Buch […]. Schön ist es, wie Sie trotz aller Hindernisse […] am Thema geblieben sind !! […] Für alle anderen Projekte viel Erfolg und Durchhaltevermögen […]

Solche Aufmunterungen sind moralische Unterstützungen, welche die Arbeit beflügeln. Ohne verbalen Hinweis zeichnet Lehmann in diesem Brief als Schwarzfiguren die alte, legendäre Auseinandersetzung zwischen »Kain und Abel«. Mit breiten Pinselhieben in Tusche hat er die Figuren fleckhaft angelegt. So stehen sich beide kämpferisch gegenüber. Der eine mit hängenden Armen scheint von Muskeln bepackt. Dennoch suggeriert er Passivität, indem er die Fäuste unten lässt. Der andere sieht körperlich schwächer aus. Aber er hält, zum Kampf bereit, die Fäuste in Boxstellung zum Angriff erhoben. Wie die Sache ausgeht ist hinlänglich bekannt ... Auch hier sind die Figuren gefällig in den Brieftext integriert. Interessant mutet es an, dass die dunklen Gestalten zwischen ebenfalls dunkel gehaltenen Schriftzeilen agieren, was eine angenehme Spannung erzeugt.

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Günter Lerch (Danzig 1937 – 2014 Berlin) Er gilt als ein anerkannter und zudem sehr geistvoller Grafiker. In den Büchern Künstlerpost und Adé 20. Jahrhundert ist er vertreten.46 1944 flüchtet er mit seiner Mutter und seinem Bruder aus Danzig. Unterwegs erlebt er den Krieg in seinen schlimmsten Formen. Daraus erwächst seine Anti-Haltung, die er bis zum Tod beibehält.47 Sensibel reagiert er auf gravierende Ereignisse, nicht nur in Deutschland. So wird auch immer wieder der Krieg im Ausland in Wort und Bild behandelt. Gern wendet er Wortverdrehungen an und ist auch in der Lage, zwischen den Zeilen Wichtiges zu vermelden. 79

Günter Lerch. Sadam Hasse ihn, der Barbar von Bagdad Briefkarte an W. Knop, 01.09.1990 Tusche 10,4 x 14,7 cm […] Dank für […] Drucksachen aus Heidelberg. Freut mich sehr, der Erfolg und die Resonanz […]. Das gibt wieder Auftrieb […]. Der Dieb von Bagdad treibt ein gefährliches Golfspiel […]. Ich freue mich schon auf Dein Informationsmaterial aus Heidelberg. (Eine Buchform […] wäre natürlich Spitze.) Ich drücke Dir alle meine 3 Daumen […]

Der Anfang des Kartentextes verweist auf die Ausstellung Künstlerbriefe zur Zeit, die mit viel Erfolg in Heidelberg gezeigt wird. In der sehr kleinteilig und filigran gehaltenen Zeichnung der Karte variiert der Künstler die im Vorfeld des 2. Golfkrieges entstandene Feststellung: »Der Dieb von Bagdad treibt ein gefährliches Golfspiel.« Am 2. August 1990 hat Irak mit rund 100 000 Mann Kuwait angegriffen und große strategische Gebiete erobert. Darunter auch den Palast des Emirs, der auf der Filmklappe zu sehen ist. Aus Saddam Hussein macht Lerch »Saddam Hasse ihn«, um seine Antipathie zu zeigen. Aus dem Barbier von Bagdad (Komische Oper von Peter Cornelius) erwächst bei ihm der »Barbar von Bagdad«. Dieser bedient mit großer Hand eine undefinierbare Viel-Funktionen-Gerätschaft. Einmal ist sie Nussknacker, kann aber auch Golfbälle oder das Rückgrat von Widerspenstigen knacken. Das ist zu sehen. Mit einem Dolch ausgestattet, handelt es sich zudem um ein variables Mordinstrument. Das Zangengebilde besitzt etwas von einem Fleischerbeil und einem Rasiermesser. Außerdem wirkt es wie eine umfunktionierte Filmklappe, die zugleich Fernseher ist.

46 Künstlerpost: 28/29, 34/35, 42, 50–52, 72/73, 84, 102/103, 110, 113, 114, 124, 126, 130, 140, 199; Adé 20. Jahrhundert: 150, 151, 156, 160. 47 Siehe W. Knop. Aufbrüche ins Ungewisse…. Berlin 2021, 58–77, 126, 135.

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In der Illustration geht es natürlich ums »Oil«, wie auf dem Fass vermerkt ist. Mit großer Hand sichert sich der Diktator einerseits das Öl. Andererseits handhabt er damit sein Folter- und Tötungs-Instrument. Einprägsam, erzählerisch, voller Fantasie hat Lerch die Bildfläche ausgespannt. Dabei wird der Bildteil kompositorisch geschlossen durch die Grauwerte, die die Schriftzeilen ergeben. Die verdrehten Schriftblöcke greifen die Figur der Zange auf und werden so zu Bildelementen. Eine erstaunlich reichhaltige Schrift-Bild-Fügung auf kleinem Format, über die man nur staunen kann. 80

Günter Lerch. Golfer des Jahres Briefkarte an W. Knop, 18.01.1991 Tusche und Deckweiß 10,4 x 14,7 cm […] Diese Karte hier ohne Kommentar. Kiefer-Operation […] noch im Januar. Dann sehen wir weiter […]

Seit ich Günter Lerch kenne, hat er unter Kiefer-Beschwerden zu leiden. Eine Operation folgt der anderen. Zeitweilig nennt er sich deshalb auch »Kiefer-Lerch«. Kurz vor der nächsten Operation hat er gewiss anderes im Kopf als das Schreiben von Karten. Dennoch will er noch rasch ein Zeitbekenntnis abgeben zum Kriegsgeschehen am Golf, das ihn bewegt. Wütend zeichnet, kritzelt, kleckst er schwarze Rauchschwaden, die himmelwärts ziehen. Brennende Ölquellen, Häuser, Fahrzeuge usw. mögen die Ursache sein. Über erstarrten Leichen und krepierenden Granaten entwickelt Lerch visionär das Porträt Saddam Husseins. Es erscheint als bemützter Totenkopf mit hohlen Augen und gefletschten Zähnen. Ironisch als »Golfer des Jahres« bezeichnet, wird ihm gedanklich eine eng vergitterte Gefängniszelle »reserviert«. Um die persönliche Antipathie noch zu steigern, lässt Lerch dem blutrünstig geifernden Monarchen zusätzlich den Speichel aus den Zähnen laufen. Geist, Fantasie und Kriegs-Gegnerschaft steigern sich auf anschauliche Weise. Die Karte wirkt bestechend in ihrer ästhetischen Organisation. Zart empfundene und kraftvoll vorgetragene Linien sowie kleine schwarze Fleck-Akzente formen das zeichnerische Grundgerüst. Gespritzte und gewischte Halbtöne fallen empfindsam ein. Auch die Schrift wird sensibel dem Bildhaften zugeordnet. Sie erscheint als Pendant zu den Rauchschwaden und übernimmt eine kompositorisch schließende Funktion. Da grauer Karton als Zeichengrund verwendet wird, kann der Künstler einige Bildteile durch Deckweiß akzentuieren. Das sind die Leiche eines Kindes im Vordergrund, Teile einer Gasmaske und die fletschenden Zähne des Totenkopfes. In der Tat: eine starke Aussage, die mich immer wieder an den noch schlimmeren Aggressor Putin denken lässt.

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Günter Lerch. Baltikum Briefkarte an W. Knop, 22.02.1991 Tusche 10,4 x 14,7 cm […] wie soll das bloß weitergehen auf Mütterchen Erde – geplagt.

Jetzt zeigt sich der Künstler bewegt vom Krieg im Baltikum. Er zeichnet einen bärtigen Krieger vom Typ Stalin. Seine Mütze ist ein Panzer mit langem Feuerrohr. Der Schnurrbart zeigt einen toten Menschen, aus dem Blut tropft. Das eine Auge ist schwarz und leer. Das steht für Erbarmungslosigkeit und Brutalität. Die Brauen des anderen Auges werden von Grabkreuzen gesäumt. Daneben ist ein Kopf zu sehen mit einem Kopftuch. Dessen weinende Augen deuten eine »15« an. Der Mund ist zugeklebt, geknebelt oder von einer Granate zerrissen. (Im Krieg ist alles möglich!) Darunter befindet sich ein Sowjetstern, aus dem das Wort »Baltikum« wächst, das am Ende ebenfalls ein Grabkreuz aufweist. Aus den unteren Zipfeln des Kopftuches formt sich ein Spieß. Er hat etwas durchbohrt. Wohl die Unabhängigkeits-Erklärung oder die »Stimmen« derer, die sich in einem Volksentscheid mit großer Mehrheit für eine Unabhängigkeit von der Sowjetunion ausgesprochen haben. Darunter steht CCCR in Form von Sicheln und einem Hammer.48 Lerch ist erneut ein skripturales Meisterwerk gelungen, angefüllt mit vielen Informationen, die Denksteinen der Erinnerung entsprechen. All das verweist auf den »Blutsonntag von Wilna« am 13. oder 15. Januar 1991 (siehe oben). Sowjetische Truppen überfallen Litauen brutal und versuchen mit Waffengewalt die Bestrebungen nach Unabhängigkeit niederzuschlagen. Friedliche Demonstranten stellen sich dem entgegen. Aber 14 Tote, an die 1000 Verletzte, unermessliche Zerstörungen und bleibendes Misstrauen gegenüber Russland sind die Folge. Es handelt sich um ein blutiges Ereignis auf dem langen Weg der drei baltischen Staaten in die Freiheit und Unabhängigkeit. Es ist eigenartig: Die Bilder und die Fakten gleichen sich. Da ich dies niederschreibe, muss ich den 36. Kriegstag von Putins Truppen in der Ukraine ­registrieren. In Russland ist wieder von einer »Spezialoperation« die Rede, nicht von Krieg. Wieder ist der Widerstand, diesmal der Ukrainer, unerwartet hoch, weil berechtigt. Sie wollen lieber die Freiheit, statt die Knute Russlands. Deshalb widersetzen sie sich und erdulden endlose Bombardierungen, Raketenbeschuss, Mord und Vergewaltigungen. Und wieder – das bleibt zu hoffen – wird die beabsichtigte Annexion misslingen.

48 Abwandlung des sowjetischen Symbols »Hammer und Sichel«, das immer mit friedlicher Arbeit in Landwirtschaft und Industrie verbunden wurde.

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Günter Lerch. Terror inkognito Briefkarte an W. Knop, 08.11.2001 Tusche aquarelliert 15,3 x 22,4 cm Terror inkognito […]. Düstere Omen jagen um den Erdball […]. Vor einem geschlossenen Kiosk hängt ein Schild: »Komme gleich wieder, BIN LADEN!«

Ein hintersinnig- humorvoll ins Schwarze treffender Text als Bildunterschrift einer differenziert durchgestalteten, aquarellierten Zeichnung. Man sieht ein bedrohliches Rieseninsekt, das mit schwirrenden Flügeln und großen Augen beobachtend die Erde überfliegt. Dort zeigen sich hintereinander und teils versteckt drei bärtige Porträts. Eins deutlich erkennbar mit Turban, steht im Vordergrund wie eine Säule oder Statue. Dicht daneben ein zweiter Kopf, der sich vorsichtig spionierend ins Bild schiebt. Der Turban des einen bzw. die arabische Ghutra des anderen sind weiß gehöht. Vom dritten Kopf dahinter sind nur Teile des Gesichtes erkennbar, weil alles andere in der Dunkelheit der Umgebung verschwindet. Alle drei befinden sich zwischen explodierenden Granaten und peitschenden Geschossen, scheinen das gewohnt zu sein. Denn es handelt sich um Männer der Terroristen al-Qaida. Links der große Krater einer gewaltigen Explosion. Losgerissene Betonteile, Steine, Sand stieben sichtbar auseinander. Schraffuren, kleinformige zeichnerische Strukturen und Farbflecke machen das deutlich. Inmitten dieser Rundform kommt eine schwarze Figur mit Gesichtsmaske und ausgebreiteten Armen zum Vorschein. Die rechte Rundform besteht ebenfalls aus vielen kleinen gestrichelten Strukturen. Wie eine riesige Kanonenkugel mutet diese Rundform an. In schnellen Drehbewegungen scheint sie nach vorn zu preschen. Sie hat ihr Ziel noch nicht erreicht, ist weiter unterwegs. Wo und wann sie einschlägt, bleibt ungewiss. Das Porträt in der Mitte mit dem weißen Turban ist Osama bin Laden, der als radikaler islamischer Terroristenführer viele Jahre weltweit gesucht wurde. Als Gründer und Anführer des gefürchteten Netzwerkes al-Qaida, das im Untergrund operierte, plante er u. a. die Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center New York mit tausenden Toten. Deshalb der Bildtitel dieser brillant zupackenden Illustration »Terror inkognito«.

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Günter Lerch. ‹Bombardierung der Erde› Briefkarte an W. Knop, 09.11.2001 Tusche aquarelliert 22,4 x 15,4 cm […] Du kannst mir ja kurz mitteilen, ob »Terror inkognito« Deine Zustimmung findet. […]

Schon einen Tag nach Terror inkognito folgt diese wunderbar gestaltete Karte. Geschmückt ist sie mit einer wunderbar gezeichneten und bemalten Illustration. Sehr ansprechend, wie der Düsenbomber in Ocker farbig hervor gehoben wird, was in der Erde farbig etwas zurückhaltender wiederkehrt. Aus der deutlich ablesbaren Einfachheit erwächst nicht nur die Überzeugungskraft dieser hervorragenden Illustration. Aber auch eine immer währende Aktualität bis heute atmet diese einzigartige farbige Grafik. Sie veranschaulicht deutlich die brutale, hemmungslose Bombardierung der Erde. Damals auf die Täter von al-Qaida gemünzt, die weltweit todbringend operierten. Der aktuelle Bezug von heute zielt auf den ebenfalls hemmungslosen Russen Putin. Mit einer riesigen Übermacht hat er, trotz anders lautender Versprechen vorher, im Februar 2022 die Ukraine überfallen (Ukrainekrieg). Da sich die Soldaten und die Bevölkerung tapfer dem Kampf stellten, drohte der Aggressor schon am 3. Kriegstag mit dem Einsatz der Atomwaffen. Das kann bei diesem unberechenbaren Aggressor jederzeit erfolgen. Dann haben wir einen Atomkrieg in Europa, der seitdem befürchtet wird.

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Günter Lerch. ‹Kriegstoter› Briefkarte an W. Knop, 04.12.2001 Tusche 18,4 x 10,1 cm […] Freut mich, dass meine Machwerke Deine Zustimmung finden. Bei »Terror inkognito« ist [die] linke runde Augenform dieses bedrohlichen Insekts die auseinanderfliegende Erde ein riesiges Facettenauge, das die unzähligen Möglichkeiten der Terrors ausdrückt […]

Die in die Zeilen sensibel eingebettete kleine Zeichnung zeigt einen zersplitterten Kriegsschädel, wie es sie in allen Kriegen gibt. Während der Hinterkopf und die Augen von einer Granate weggerissen scheinen, ist der untere Teil des Gesichtes noch gut erhalten. Nase, Mund und Kinnpartie treten schön gezeichnet in Erscheinung. Aus der Hohlform des Kopfes wachsen inzwischen Ranken. Die Rudimente des Schädels liegen auf einer russischen Kalaschnikow, der damals gepriesenen Schnellfeuer-Maschinenpistole. Heute setzt Putin in der Ukraine hemmungslos Überschall-Raketen ein, die kaum abzufangen sind. Sie reißen dort, wo sie einschlagen, gewaltige Löcher. Dennoch kommen die Russen nur langsam vorwärts. Schließlich ziehen sie im westlichen Teil der Ukraine ihre Truppen zurück, hinterlassen aber neben Schutt und Verwüstung auch erschossene Zivilisten in großer Zahl.

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Paul Michaelis (Weimar 1914 – 2005 Weimar) Michaelis ist ein ausgewiesener Maler und Grafiker. Er war langjähriger Dozent und Rektor der Hochschule für bildende Künste in Dresden. Mit den Jahren hat er sich zunehmend der Karikatur zugewandt. Im Buch Adé 20. Jahrhundert ist er vertreten.49 85

Paul Michaelis. Gegen Gewalt Briefkarte an W. Knop, 01.06.1995 Kugelschreiber, Monogramm 14,6 x 20,7 cm […] Gegen Gewalt und für Toleranz bin ich von Klein an erzogen worden […]

Gleich in zwei kleinen Zeichnungen widmet sich der Künstler ablehnend dem Thema »Gewalt«. Einmal ist ein Erwachsener zu sehen, vielleicht ein Lehrer, der ein Kind schlägt. Er hat es über das Knie gelegt und drischt wütend auf den nackten Hintern los. Daneben ist eine wüste Schlägerei auf der Straße zu sehen. Eine ganze Schar kräftiger Gestalten scheint da schreiend, schimpfend, prügelnd aneinander geraten zu sein. Sich laut anfeuernd, fliegen Knüppel und Fäuste gegen Köpfe und Bäuche. Der Mann, der da mit seiner Losung »Für Toleranz – Gegen Gewalt« auf seiner Fahne einschreiten oder trennen will, steht auf verlorenem Posten. Die Straßenschlacht geht unvermindert weiter. Sichtbar werden nicht nur die Knüppel geschwungen. Es landen, deutlich erkennbar, auch Zähne, Brillen, sogar ein Ohr und anderes auf dem Boden.

49 Adé 20. Jahrhundert: 92, 147, 179.

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Armin Münch (Rabenau 1930 – 2013 Rostock) Er ist uns aus den Abschnitten Erster Weltkrieg sowie Zweiter Weltkrieg schon bestens bekannt. Stets hat er faszinierende Briefe und Karten mit starken Illustrationen beigesteuert. Das wird sich, weil er ein begnadeter Grafiker mit Interesse für Kriegsgeschichte ist, in diesem Abschnitt fortsetzen. 86

Armin Münch. Marschall Blücher Brief an W. Knop, 21.05.1991 Kugelschreiber signiert, datiert 29,6 x 20,9 cm Leberecht von Blücher in Rostock geboren, Marschall »Vorwärts«, [Schlacht] Waterloo […]

Nur wenig geht der Brieftext auf Blücher ein. Er bezieht sich vielmehr auf eine geplante Münch-Publikation. Deshalb sollen Stellungnahmen des Künstlers zu Blücher und zum Krieg eingeschoben werden, die er zu anderen Zeiten gegeben hat: Am 3. Februar 1992 erklärt er seine Affinität zu Blücher und Waterloo sowie zum Krieg allgemein: […] weil ich doch das Schlachtfeld Waterloo sah und dort skizzierte […]. Vorgestern hörte ich im Fernsehen, dass Geheimdienstler aller Welt warnen vor dem nuklearen Weltpulverfass und sah […] wieder mal Schützengräben, eines meiner Themen – dachte an das Schützenloch im Mai 1945 vor unserem Haus. Die Menschheit hört wohl nicht mit Kriegen auf.

Die Zeichnung ist wieder ein kühner Wurf. Scharfe Konturen, die in großen und kleinen Bögen sowie in spitzen Keilformen förmlich in das Papier eingeritzt sind, prägen das kompakte Bild. Blücher und sein Pferd werden drastisch zupackend erfasst. Der Marschall ist durch seine hochrangigen Schulterstücke und Verdienstkreuze gekennzeichnet. Den Säbel, der das Zeichen zum »Vorwärts« gibt, streckt er siegesgewiss nach oben. Tief beugt er sich über den Kopf des Pferdes nach vorn, um dem Feind wenig Angriffsfläche zu bieten. Mit seinen Beinen hält er den Körper des Tieres fest umschlossen. Verwegen reitet er, für die Eigenen ein anspornendes Vorbild, für die Anderen eine abschreckende »Dampfwalze«, geradewegs in die Front der Gegner. Die Anstrengung der schnellen Attacke zeigt sich im Pferdekopf an den akzentuierten Augen und den gefletschten Zähnen. Wieder ein mustergültiger Brief, in dem auch die Texte gekonnt eingeordnet sind. Durch sie gewinnt der Pferdekörper an Form.

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Der Dargestellte, ab 1814 Fürst Blücher von Wahlstatt, war preußischer Generalfeldmarschall. Durch seinen legendären Sieg über Napoleon in der Schlacht von Waterloo 1815 berühmt geworden, gehört er zu den populärsten Helden der Befreiungskriege in Europa. 87

Armin Münch. Feuerfuchtelfolterknecht Brief an W. Knop, 23.02.1993 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,4 x 20,9 cm […] Heute – Fastnacht – die Welt voll […] Krakeel und Kriege. Zur Zeit »laufen« 34 Kriege auf Erden! […]

Ein kurzer Brieftext. Darin ist der Bildtitel fast das Längste. Er ist typisch für Münch, der gern lange Wortgebilde zusammenfügt. Dazu bestens passend, eine souverän »verkürzte« Illustration. Wenn der bekannte Maler Max Liebermann sagte: »Kunst ist Weglassen!«, so wird das hier auf anschauliche Weise praktiziert. Nur das Wesentlichste ist sichtbar. Aus einer durchgehenden, kräftigen, großzügigen Linie entwickelt Münch eine üble Kraft- und Drohgestalt. Ihr Kopf ist behelmt oder verhüllt. Eine brennende Fackel trägt sie in derb zupackender Faust. Alles ist wunderbar deutlich vereinfacht. Ein Fuß steckt im klobigen Nagelstiefel (Soldat). Der andere ist barfuß (Zivilist). Leicht gebückt scheint sich die Gestalt irgendwo anzuschleichen zu einer »Großtat«. Die übergroßen freien Räume vor und über der finsteren Figur verweisen auf das weite Feld noch möglicher Einsätze überall. Ein in der Tat radikal vereinfachtes, aber deshalb umso wirksameres Sinnzeichen oder Symbol gegen alle Kriege und jede Form von Gewalt. Also auch zurückliegend gegen die Hexenverbrennungen im Mittelalter, die Judenverfolgungen im Dritten Reich und den Ausländerhass von heute. Allesamt wurden vom Künstler in vielen Briefen als Krieg eingestuft.50 Seit Februar 2022 hängt dieser ausdrucksstarke Brief, der wie ein gewaltiges Plakat wirkt, eingerahmt an meiner Zimmerwand. Für mich offenbart dieser üble Krieger den Geist und die Fantasie von Putin, der die Ukraine niederbrennen will. Gewiss, er selbst macht sich die Hände nicht schmutzig. Er setzt sich auch keiner Gefahr aus. Dafür hat er »seine Soldaten«. Aber er zündelt in Gedanken. Er braut das Gift zusammen, das er beharrlich ausstreuen lässt, um Menschen gegeneinander aufzuhetzen.

50 Vgl. W. Knop. Künstler gegen Krieg und Gewalt. Ausstellungsfaltblatt, Suhl 1995, insbesondere S. 3 und 4.

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Armin Münch. Das Große Verbrennen Brief an W. Knop, 23.03.1994 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,5 x 21 cm […] Ja, der Erste und der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg gingen vorbei, aber die Welt (ist noch immer) nicht friedlich. Die Kunst als Hoffnungsgebet? […]

In langer brennender Bahn, die das Briefblatt diagonal durchschneidet, zeichnet Münch wieder mit kraftvollen Linien die Spur jedes Krieges. Also das, was Bomben, Granaten und Mordbrennerei am Ende hinterlassen. Gesäumt von himmelhoch lodernden Flammen sieht man am Anfang diejenigen, die unter dem Krieg am meisten leiden: die Frauen mit ihren kleinen Kindern. Schön, wie die Figuren zeichnerisch zusammenfasst werden. Aus ihrer Reihe, die froh ist, froh sein muss, überhaupt überlebt zu haben, reckt sich ein kräftiger Arm. Er ergreift, nachdem das Schwert zerbrochen ist, mit klobiger Hand eine Sichel. Ein Zeichen, dass nun wieder mit dem Anbau von Nahrung begonnen werden muss. Es folgt der Kopf eines behelmten toten Soldaten, der im wahrsten Sinne des Wortes »ins Gras gebissen« hat. Dann sieht man hohe Vertreter der Kirche und den König. Sie halten die Insignien ihrer Macht und Stellung sichtbar in Händen oder tragen sie auf den Köpfen. Schließlich erscheinen Faust und Mephisto. Münch, der sich intensiv mit Goethes Faust beschäftigt hat, zeichnet meistens beide Köpfe in einem zusammengefasst. Damit drückt er aus, dass das Gute wie das Böse dem Menschen gleichermaßen innewohnen. Das ist insbesondere in Kriegszeiten zu spüren.51 Zuletzt wird nochmals – als Mahnung oder Warnung zu verstehen – ein aufgepflanzter Totenkopf gezeigt. In der Tat: Das Große Verbrennen in ausgewählten Beispielen hervorragend abschreckend aufgereiht.

51 Hier soll eingeflochten werden, dass Münch beide Teile des Faust mehrfach illustriert hat. Diese Bildfindungen dringen natürlich in Abwandlungen auch in seine Briefe ein.

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Armin Münch. Feldmarschall Banér Brief zu Ostern an W. Knop, 16.04.2000 Tusche, signiert, datiert, 29,6 x 20,8 cm […] Ostern 1639 wurde Rabenau niedergebrannt […]

Rabenau bei Dresden ist die Geburtsstadt von Armin Münch. Deshalb hat er sich im besonderen Maße auch um deren Kriegsgeschichte gekümmert und diese in langer Gedichtform festgehalten. Sie vereinnahmt fast den gesamten Brieftext und basiert auf dem Prinzip »Reim dich oder ich schlag dich!« Deshalb bringe ich lieber meine Kurzform ohne Verse: Im Dreißigjährigen Krieg52 befindet sich der schwedische Feldmarschall Banér mit seinem Heerhaufen in der Nähe von Rabenau bei Dresden. Als einer seiner Offiziere erschossen wird, lässt er den Ort abbrennen. Banér begibt sich mit seiner derzeit Auserkorenen auf eine Anhöhe, von der man sich das stattliche »Osterfeuer« ansehen will. Das hat Münch in der BriefIllustration mit fließenden Linien in grafischer Vereinfachung trefflich erfasst. Großzügig, souverän, schmissig, majestätisch, schön – all das trifft auf diese gelungene Zeichnung zu. Der Feldmarschall ist mit Stulpenstiefeln, Umhang, Federhut und Degen ausgestattet. Die Begleiterin zeigt sich mit langem Bein und üppigen Brüsten im »Adamskostüm«. Nach allem, was man sehen kann, steht es ihr bestens.

52 Dreißigjähriger Krieg 1618–1648, Konflikt um Hegemonie im Heiligen Römischen Reich und in Europa. Zuerst Religionskrieg, am Ende Territorialkrieg. Millionen Menschen starben auf deutschem Boden.

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Armin Münch. Furie Krieg Brief an W. Knop, 31.01.2003 Tusche, signiert, datiert 29,6 x 20,9 cm […] Mein Traum […] mehr die wache Phantasie: Panzerkoloss mit »Furie Krieg« im Kanonenrohr steckend […] in jeder Munde plärrt das Wort Krieg […]. Ich recherchierte […] unter 15.–25. Mai […] 1943 Konferenz von Washington: Festlegung die Atomwaffenentwicklung […] So wird in 500 Jahren die Menschheit sagen (wenn die Menschheit dann noch existiert!!): im 20. Jahrhundert trat die Menschheit in das ATOMZEITALTER. Zu Beginn des ATOMzeitalters entstand die ATOMBOMBE […] Ich vermute, am Datum X fällt in einem Krieg oder Konflikt die Atombombe […]

Ein schwer »verdaulicher« Text. Zunächst zu der Feststellung: »in jeder Munde plärrt das Wort Krieg!« Sie bezieht sich auf den drohenden Irak-Krieg der Amerikaner, der kurze Zeit später tatsächlich beginnt. Dann zu dem Traum, dass ein Panzer und die »Furie Krieg« im Kanonenrohr stecken. Es bleibt offen, ob sie das Rohr verstopft haben. Das wäre die positive Deutung. Es ist aber auch denkbar, dass man die Kanone mit ihnen wie eine Patrone »gefüttert« hat und zum Abschuss bereit ist. Das wäre die negative Auslegung. Diese ist durch Putins Krieg gegen die Ukraine im Augenblick bittere Realität geworden. Mit der Drohung dieses Aggressors, die Atomwaffen in Bereitschaft zu haben, stehen wir unmittelbar vor dem Zutreffen von Münchs Befürchtung mit der Atombombe zum »Datum X«. Diese Version behandelt auch die Illustration, die die Kriegsfurie mit gewaltiger Brandfackel zeigt. Ausschau haltend nach einer geeigneten Stelle des Einsatzes, fliegt sie durch die Luft. Weil Münch von einem bevorstehenden Atomkrieg irgendwann überzeugt ist, lässt er die Kriegsfurie nicht allein fliegen. Zur Verstärkung/ Unterstützung hat er ihr eine finstere Gestalt beigegeben, aus der sichtbar schon die Flammen schlagen. Es ist kein Geringerer als der Teufel persönlich. Tatendurstig nehmen beide eng vereint Kurs auf … Wer weiß?

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Armin Münch. Römisches Heerlager Brief an W. Knop, 13.06.2004 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,6 x 20,9 cm […] Fahren am 19.6.2004 nach Gartow bei Dannenberg zur Ausstellungsbeteiligung »Totentanz« […] Varus.

Insbesondere die letzten beiden Worte bringen sowohl den Schlüssel zur Erklärung des Textes wie der Illustration. Münch hat sich intensiv mit der Varusschlacht beschäftigt und darüber einen Radierzyklus geschaffen. Davon haben die genannten Aussteller erfahren und ihn zur Ausstellungsbeteiligung eingeladen. Das wiederum hat den Künstler veranlasst, der inzwischen unter dem Titel Totentanz verschiedene Kriegsblätter neu bearbeitet, das auch zur Varusschlacht zu tun. Die Briefzeichnung ist ein Entwurf zu diesen Blättern. Wir sehen besagten Varus, der als Anführer von drei als unschlagbar geltenden römischen Legionen in Germanien weilt. Hier ist er gerade, gut genährt und siegessicher, in seinem Heerlager beim Wein. Sein Schwert, seine nackte Mätresse und ein Mitstreiter neben sich. Mit schwungvollen Linien, die die Körperformen einkreisen, hat Münch die Szene eingefangen. In der folgenden Schlacht kommt für den Sieg gewohnten Varus das böse Erwachen. Er wird vom germanischen Heer durch eine Falschinformation von Arminius, eines Cheruskers, vernichtend geschlagen. Das geschieht in der 2. Hälfte des Jahres 9 nach Christus in nur drei Tagen und ist als legendäre militärische Tragödie in die Geschichte eingegangen. Ein solches Ende wünsche ich, das sei mir erlaubt, auch Putin 2022 in der Ukraine.

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Armin Münch. Marie Curie rührt im Kessel erzgebirgische Pechblende Brief an W. Knop, 03.04.2005 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,6 x 20,9 cm […] Marie Curie rührt im Kessel erzgebirgische Pechblende.

Mit ähnlich raumgreifenden und kräftigen Linien wie Abb. 91 hat Münch die Szene der arbeitenden Curie ins Bild gesetzt. Als ehrgeizige Frau, Physikerin und Chemikerin polnischer Herkunft, ist sie weltbekannt geworden. Sie untersuchte die von Becquerel beobachtete Strahlung der Uranverbindungen. Dafür prägte sie den Begriff »radioaktiv«. Sie entdeckte die chemischen Elemente Radium und Polonium und erhielt Nobelpreise sowohl für Physik als auch für Chemie. Aus Pechblende, auch Uranit genannt, lässt sich Uran gewinnen. Das ist zusammen mit Plutonium zum Bau von Atombomben notwendig. Münch, der sich intensiv mit Atomwaffen beschäftigt, weil er deren Einsatz befürchtet, weiß das natürlich. In dieser Bildfindung verharmlost er die Gefährlichkeit sowohl der Mittel, wie des Umgangs mit ihnen. Er zeigt die Arbeitsgänge bewusst primitiver, als sie in Wirklichkeit sind. Sichtbar wird eine emsig beschäftigte, sympathische Frau, die ungeschützt in einem riesigen Kessel über offenem Feuer rührt. Sie trägt klobige Stiefel und hantiert wie in einer uralten Küche. Weil ich den Grund für diese Bildfindung ahne, bin ich ins Erzgebirge gefahren. Münch spricht ja von »erzgebirgischer Pechblende«. In Schwarzenberg habe ich ein Bergwerk aufgesucht, wo jahrelang Uranpechblende für die Sowjetunion abgebaut wurde. Die Bergleute waren damals ungeschützt, habe ich erfahren. Sie wussten mitunter gar nichts von der Gefährlichkeit des Erzes. Zum Teil frühstückten sie, auf Gefäßen mit diesem Material sitzend. Erst als die Männer in großer Zahl erkrankten und schließlich starben, wurde man stutzig. Daran musste ich denken, als am 02.04.2022 die Medien melden, russische Soldaten, die Tschernobyl (Ukraine) erobern sollten, seien plötzlich, wahrscheinlich verstrahlt, von dort abgezogen worden. Man hatte sie offensichtlich vorher nicht aufgeklärt. Wie sich doch die Bilder gleichen!

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Armin Münch. Im Bett überrascht Brief an W. Knop, 18.03.2007 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,6 x 20,9 cm Vorgestern sah ich in arte den Film: »Es lebe die Bombe«. Ich wurde sehr erschüttert, handelte dies doch von der Sahara Testbombe am 1. Mai 1962 und da wurde Anja geboren und ich schrieb unter eine Babyzeichnung: erblickt das Licht der Welt und das Licht der Atombombe […]

Dass der besagte Film von arte ausgestrahlt wurde, wundert nicht, denn es handelte sich um die Sahara Atom-Testbombe der Franzosen. Die Geburt seiner Tochter Anja an diesem Tag veranlasst Münch, an ihre Erzeugung (»Grundsteinlegung«) zu denken. Er zeichnet mit derben Konturen ein Liebespaar im Bett. Nach dem Bombenwurf sieht man nur noch die Gerippe der beiden. Schön, wie der Künstler die einzelnen Knochen von zwei eben noch lebenden Menschen zu einer ausdrucksstarken Bildform ordnet. Man sieht, dass sie sich noch umarmen. Wahrscheinlich haben sie sich im Moment des Abwurfs gerade Zärtlichkeiten zugeflüstert. Das Flugzeug, das die Bombe abgeworfen hat, sieht man noch aus dem Briefblatt entschwinden.

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Armin Münch. Der erste Krieg der Menschheit Brief an W. Knop, 11.08.2009 Tusche, signiert, datiert, bezeichnet 29,7 x 20,9 cm […] Der erste Krieg der Menschheit. Dank für […] Ausstellungs […]informationen. Nanne und ich sind hocherfreut […] und danken Dir herztlichst! Während Du die Ausstellung eröffnetest, lag ich auf der Operationspritsche unterm Messer […]

Die legendäre tätliche Auseinandersetzung zwischen Kain und Abel wird von Münch als »erster Krieg der Menschheit« bezeichnet. Er setzt den Vorgang in eine kühne, sehr ausdrucksstark abstrahierte Bildlösung um. Sehr gut kommen die unterschiedlichen Gesinnungen und Haltungen der beiden Kontrahenten zur Geltung. Rechts der Angreifer, der zum Tod bringenden Schlag bereit ist. Sein Körper erscheint spannungsvoll gebogen. Auch die Beine sprechen in ihrer angedeuteten Schrittstellung vom Angriff. In den Händen führt er wütend den spitzen Stein, den der Künstler dunkel akzentuiert. Links der total Überraschte. Nach dem ersten Stoß taumelt er schon fassungslos nach hinten zurück. Die Arme wehrlos ausgebreitet, um Gnade bittend, geht ein Scharfer Knick durch Ober- und Unterkörper. Doch der andere folgt aggressiv zum tödlichen Stoß nach. Seine Beinbewegung verdeutlicht das. Münch hat die dramatische Szene bestens erfasst und ins Bild gesetzt. Von allen bildnerischen Lösungen zum selben Thema, sagt mir diese am meisten zu. Der Künstler schreibt im Weiterdenken des Vorfalls schon wenige Tage später, am 20.08.2009 ergänzend: Vom spitzen Stein zur spitzen Rakete, von der Burg zur »Fliegenden Festung«, vom Gehirn zur Geheimwaffe.

Wie wahr! Und wieder muss man an Putins tödliche Aggressionen in der Ukraine denken, wo gerade die fürchterlichen Missetaten seiner Soldaten in dem Ort Butscha durch die Medien gehen. Später wird man in anderen Orten noch Schlimmeres finden.

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Wolfram Schubert (Körbitz/Brandenburg 1926 – lebt in Gardelegen bei Magdeburg) Er ist ein bekannter Maler und Grafiker. 1944 wird er zum Kriegsdienst eingezogen, kommt am Ende in sowjetische Gefangenschaft. Aus der wird er 1949 entlassen. Natürlich äußert er sich auch per Brief zum Krieg. Aber über die Gefangenschaft verliert er lange Zeit kein Wort. 95

Wolfram Schubert. Sterbender Krieger Brief an W. Knop, 11.03.2003 Kugelschreiber und Filzstifte 29,7 x 20,8 cm […] Ihre Idee mit der Anti-Kriegsbrief-Ausstellung finde ich gut und kann mir vorstellen, dass sie einen ähnlichen Erfolg haben könnte wie die […] noch laufende.53 Ich habe auch versucht, mich […] dazu zu äußern. Der Farblinol­schnitt ist in der letzten Woche entstanden. Ein ziemlich großes Blatt […], doch in diesem Zusammenhang durchaus angebracht. Der Protest kann nicht groß genug sein. Als ich aus der Gefangenschaft nach Hause kam, war eines der ersten Bilder, die mich anrührten, der Christus mit dem zerbrochenen Gewehr von Pankok. Dieser Holzschnitt ist bis heute die stärkste und eindringlichste Aussage und Ausdruck der Gefühle meiner Generation. Mein Blatt ist eigentlich eine Adaption zu Schlüters Sterbende Krieger […]. Ihr Brief gab den letzten Anstoß […].

Gemeint sind die Skulpturen als Schlusssteine im Innenhof des ehemaligen Zeughauses in Berlin von Andreas Schlüter (1660–1714). Schubert hat ein Beispiel von 1696 daraus als Anregung für den erwähnten großen Farb-Linolschnitt genommen.54 Die Briefillustration gibt in Linie und Farbe diese Bildfassung wieder. Mir persönlich gefällt die zeichnerische Version besser, weil darin der Duktus des Machens deutlich wird, der sich auch vorteilhaft mit dem Geschriebenen verbindet. Außerdem kommt die lodernde Flammenbewegung gut zur Geltung.

53 Über illustrierte Künstlerbriefe und Karten, die als Wanderausstellung durch mehrere Städte geht. 54 Das Blatt ist farbig abgebildet in: W. Schubert. Malerei, Grafik, Zeichnung. Friedland 2006, 41. Unsere Abb. 95 stellt eine zeichnerische Fassung dazu dar.

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Kriege – ein Wort zum Schluss Die Abfassung dieser Schrift stand bedrückend unter den Eindrücken des unfassbaren Aggressionskrieges Russlands gegen die Ukraine (seit 24.02.2022). Nach dem Muster der Krim-Annexion von 2014 dachte wohl ein skrupelloser Putin, das souveräne Land in wenigen Tagen unterwerfen zu können. Mit dem massiven Widerstand und dem einmütigen Zusammenstehen des Westens hat er anscheinend nicht gerechnet. Unvorstellbar sein Macht- und Land-Hunger sowie seine nationalistische Gesinnung, die ehemalige Sowjetunion in ihrer territorialen Ausdehnung wieder herstellen zu wollen. Waren es einst Hitler und Stalin, die die Völker in Angst und Schrecken versetzten, so ist es jetzt Putin. Sein rücksichtsloser Feldzug gegen die Zivilbevölkerung mit Panzern, Bombern und Überschallraketen, mit Plünderungen, Folter und Vergewaltigungen zeigen es. Massaker, Exekutionen und barbarische Gräueltaten sind Kriegsverbrechen. Wieder sprechen die Waffen, nicht die Menschen. Waffen statt Worte also. Und immer wieder ist es der einfache Mensch, der das sinnlose Zerfleischen, Zerstören, Vernichten körperlich ausbaden muss. Das sind in erster Linie die Zivilpersonen, aber auch die Soldaten selbst. Doch hier muss eingefügt werden, dass alle Kriege brutal, aggressiv, verbrecherisch sind. Die der Vergangenheit genau so wie jetzt der aktuelle Krieg. Letzterer besitzt deshalb unsere besondere Aufmerksamkeit, weil die Informationen täglich »frisch« über die Medien zu uns gelangen. Da wird die überaus berechtigte Empörung immer wieder neu genährt. Zum Glück auch unsere Bereitschaft zum Spenden und zum Unterstützen. Das war bei den Kriegen der Vergangenheit nicht so. Einmal, weil der Informationsfluss nicht so florieren konnte. Es gab im besten Fall das Radio und eventuell die Zeitung. Selten auch mal die Wochenschau. Zum anderen, weil es die Wucht der farbigen Bilderflut damals nicht gegeben hat. Die Menschheit hätte genug damit zu tun und könnte/müsste viel Geld dafür ausgeben, die ohnehin stark gebeutelte Erde bezüglich Umwelt und Klima zu sanieren. Stattdessen opfern unvernünftige Personen lieber Zeit, Geld und Menschenleben für Kriegsgerät und blutige Kämpfe. Kann man das verstehen? 17 namhafte, mitdenkende, gestandene Künstler haben sich in den vorliegenden Korrespondenzen zu zahlreichen Kriegen geäußert. Frei nach dem Wahlspruch von Käthe Kollwitz: »Ich will wirken in dieser Zeit!« und ihrem Aufruf »Es ist genug gestorben!« taten sie das. Oder auf Grund der Maxime von Otto Dix: »Eine Gabe ist eine Aufgabe!« Alle diese Künstler sind vom Krieg gezeichnet, geprägt, belehrt worden. Sie mussten am Ersten Weltkrieg teilnehmen oder am Zweiten. Manche waren auch in beiden. Sie durchlebten und überlebten an der Front, in der Etappe, in den Ruinen die sinnlosen Kämpfe irgendwie und irgendwo. Nicht wenige von ihnen haben auch andere Kriege gesehen, erlebt, verurteilt.

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Dieses Verurteilen vollzog sich in unseren Exponaten auf zweierlei Weise. Einmal verbal, mit Hilfe der Wortsprache, indem man sich schriftlich artikulierte. Schließlich handelte es sich um Briefe und Karten. Zum anderen wurde bildkünstlerisch argumentiert, indem das Geschriebene zusätzlich illustriert wurde. Damit kam die Bildsprache hinzu, das eigentliche Metier der bildenden Künstler. Indem man sich doppelt ausdrücken konnte, erhöhte, verdoppelte, vervielfachte sich die Wirksamkeit der Äußerungen. Durch das gestalterische Zusammenführen von Schrift und Bild war es möglich, besonders intensiv und nachdrücklich zu sprechen. In allen hier vorgetragenen 95 Beispielen ist es den Künstlern beeindruckend gelungen, die Potenzen der Wort- und Bildsprache miteinander eng zu verbinden. Natürlich jeder auf seine persönliche Weise. Dadurch wurden Gefühl und Verstand, Ästhetik und Information, Anliegen und Wirkung einprägsam zusammengeführt, ja kurzgeschlossen. Illustrierte Briefe und Karten sind eine spezifische Form künstlerischer Gestaltung. Diese ist dem Gemälde, der Handzeichnung, Druckgrafik, Collage, Plakat, Buchgestaltung gleichwertig. Man kann sie als gediegene Kleinkunst bezeichnen, die eigenen Gesetzen unterliegt. Eine vollgültige Briefkunst ist uns in allen Beispielen überzeugend und faszinierend begegnet. Im unmittelbaren schöpferischen Tun war höchste Qualität mit den wesentlichen Kennzeichen der Vereinfachung, Verdichtung und Vernetzung entstanden. Alles natürlich bezogen auf das jeweilige Kriegsgeschehen im Ersten Weltkrieg, im Zweiten Weltkrieg und in diversen anderen Kriegen. Damit sind die Beispiele nicht nur Kunstwerke, sondern ferner historische Dokumente und weiter auch noch Mahnmale der Erinnerung, Belege gegen das Vergessen, einer schlimmen »Krankheit« der Menschheit. Die hier vereinten 95 Bild- und Textbeispiele von verschiedenen Künstlern, die sich zu verschiedenen Kriegen ausgedrückt haben, bilden in der Tat ein massives Fundament, eine feste Bastion der Vernunft gegen alle Kriege der Erde. Natürlich werden sich rücksichtslose Diktatoren wie Hitler, Stalin, Putin und Konsorten kaum davon abschrecken lassen. Aber die schon angeschwollene Front der Kriegsgegner werden diese Briefe mit Sicherheit stärken. Stärken in dem Bewusstsein, weiter in der Front der Kriegsgegner mobil zu machen. Stärken aber auch in der Erkenntnis, nicht allein zu sein, denn die vereinten Beispiele dieser Schrift bestätigen es erneut. Die eingangs erwähnten und in den Texten zitierten Literaten haben mit ihren Werken und durch ihr Tun das »Feld« positiv beackert. Die Briefe sind dazu gekommen. Auch Putin hat – natürlich ungewollt – diesen Gegenstrom forciert. Irgendwann wird und muss sich die Vernunft, die Verurteilung aller Kriege der Welt, durchsetzen. Die Putins oder wie sie heißen mögen, kommen und gehen …! Unsere Korrespondenzen spiegeln ganz unmittelbar und lebendig die fürchterlichen Schrecken, die Brutalitäten und die Menschenfeindlichkeit aller Kriege. Sie

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sind in ihrer Wirksamkeit, Ausstrahlung, Überzeugungskraft gegen alle Aggressoren der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gerichtet. Deshalb werden sie dazu beitragen, diese wichtigen Geschehnisse der Kriegsgeschichte zu konservieren und vor dem Vergessen zu bewahren. Deshalb werde ich sie dem Erich Maria Remarque-Friedenszentrum in Osnabrück für Bearbeitung, Auswertung, Ausstellungen als Schenkung übergeben. Ich meine, das ist ein geeigneter Ort dafür. Was hier gesammelt vorliegt, ist eine Art Chronik von Kriegen. Das Geschehen kommt darin besonders eindringlich zum Tragen, weil es künstlerisch gehöht wurde. Die Wort- und Bildbeispiele artikulieren auf der einen Seite Betroffenheit, Fassungslosigkeit, Widerwillen, auf der anderen Seite aber auch immer wieder Hoffnungen. Und das ist gut so. Denn wir wollen zuversichtlich, ohne Angst nach vorn, in ein Morgen schauen können!

Rezension Review

Uwe Wittstock. Februar 1933. Der Winter der Literatur. München: C. H. Beck, 2021, 288 pp., Ill., 24,00 € [978-3-406-77693-99]. Anders als in den so genannten Jahresbüchern, darin den Ereignissen eines Kalenderjahres eine derartige Bedeutung, ja Signalwirkung beigemessen wird, dass sie auf eine ganze Epoche ausstrahlen, ja sogar als deren bündige Zusammenfassung erscheinen dürfen, evoziert dieses Tagesbuch die kurze Zeitspanne vom 28. Januar bis zum 15. März 1933, mithin das Ende der ersten deutschen Republik und die Errichtung des NS-Staates. 35 von Uwe Wittstock aus dieser Übergangszeit ausgewählte Tage evozieren nun die ereignisgeschichtlichen Vorgänge samt dem historisch-politischen Hintergrund, wobei sich fortwährend der (dann literaturund, mehr noch, sozialgeschichtlich gewordene) Fokus auf die zeitgenössische Literatur und insbesondere auf die Autoren richtet. Die Weimarer Republik erweist sich nämlich nach der kulturellen Stagnation des Kaiserreichs als außerordentlich bedeutende Epoche der deutschen Literatur, deren Autoren von Rang, nahezu sämtlich Demokraten, sich tagespolitisch engagieren, in das Zeitgeschehen intervenieren und hohe öffentliche Wertschätzung erfahren. Komplettierend offerieren am Ende jedes Tagesberichts Kurzmeldungen aus Zeitungen scheinbar banale Alltagsgeschichte, beispielsweise: »In Berlin-Kreuzberg, rund fünfhundert Meter von der Praxis Gottfried Benns entfernt, kommt es zu einer schweren Schießerei. Ein vierundzwanzigjähriger nationalsozialistischer Student trägt tödliche Verletzungen davon.« (200) Der vorliegende »Tatsachenbericht« (8) samt »ein paar Interpretationsfreiheiten« (8), so die Charakteristik des Verf., setzt am 28. Januar 1933 mit der letzten Ballnacht der Republik ein, die nach Art eines Kaleidoskops Carl Zuckmayer, Klaus Mann, Josef von Sternberg, Kadidja Wedekind und Erich Maria Remarque auf dem Presseball in den Zoo-Sälen zeigt (vgl. 11–30); bezeichnend für die völlige Verken-

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nung des Nationalsozialismus auch unter den Intellektuellen ist, dass das Gerücht, Hitler werde Reichskanzler, die Stimmung nicht ernsthaft zu stören vermag. Mit dem bekannten luziden Diktum Joseph Roths, »Die Hölle regiert« überschrieben, finden sich dann am 30. Januar, dem Tag der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler (vgl. 35–40), einige Reaktionen von Schriftstellern auf die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten: die unterschiedlich motivierten Abreisen von Roth (vgl. 30f.) und Klaus Mann (vgl. 35); das Treffen des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller, bei dem die Ansicht vertreten wird, der »Hitler-Spuk« (48; vgl. 47f.) werde rasch vergehen; Harry Graf Kesslers Ratlosigkeit angesichts der marschierenden SA-Kolonnen (vgl. 49); ein Gespräch zwischen Hermann Kesten und Erich Kästner über die Emigration (vgl. 50f.); schließlich der von Goebbels inszenierte Fackelzug der SA zu Ehren Hitlers, den Carl von Ossietzky miterlebt (vgl. 46ff.). Der Überfall eines SA-Sturms auf einen kommunistischen Berliner Kiez, bei dem Rudi Carius, kommunistischer Funktionär und Ex-Geliebter Nelly Krögers, fliehen kann, belegt exemplarisch die Brutalität der neuen Machthaber (vgl. 51f.). Bezeichnend für die – vergeblichen – Versuche der Schriftsteller, wie auch immer gearteten Widerstand selbst zu leisten bzw. zu organisieren, ist das ergebnislos verlaufende informelle Treffen am 12. Februar, zu dem Bernhard von Brentano politisch links stehende Kollegen einlädt (vgl. 95–100); als Brecht »eine Schutzstaffel für bedrohte Schriftsteller« (97) vorschlägt, stellt Heinrich Mann luzid die Frage, ob diese Leibwachen sie dann schützen oder verraten würden (vgl. 97). Von besonderer Bedeutsamkeit erscheinen die Vorgänge in der traditionsreichen, seit 1696 existierenden Preußischen Akademie der Künste, denn hier prallen in der Sektion für Dichtung, gegründet 1926, die gleichen politischen Positionen aufeinander wie auf den Berliner Straßen. Vorsitzender ist der engagierte Republikaner Heinrich Mann, während als Präsident der Akademie in der Nachfolge Max Liebermanns seit 1931 der Antisemit Max von Schillings agiert. Zeichneten sich bereits in der Endphase der Weimarer Republik unter den Mitgliedern zwei Konzepte von der Rolle und dem Selbstverständnis des zeitgenössischen Schriftstellers ab – die Opposition engagierte Literatur vs. formaler wie inhaltlicher Anti-Modernismus (vgl. 83f.) –, entbrennt nun zwischen den Lagern ein Kampf um die politische Ausrichtung der Sektion: »Der Riss, der die Bevölkerung spaltete, polarisiert auch die Schriftsteller.« (84) Die übereilte Auflösung der Sektion für Dichtkunst vollzieht von Schillings auf Betreiben des kommissarischen preußischen Innenministers Bernhard Rust. Anlass sind die Unterschriften von Heinrich Mann und Käthe Kollwitz unter einem Aufruf zur Einheitsfront der Linksparteien; beide erklären am 15. Februar ihren Austritt (vgl. 113–123). Bei der spärlich besuchten letzten Sitzung der Sektion vor der »Säuberung« der Akademie im nationalsozialistischen Sinne am 20. Februar stehen sich Alfred Döblin und Gottfried Benn als Kontrahenten gegenüber, mithin die Positionen von engagierter

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Literatur und einem ästhetizistisch verbrämten Nihilismus. (Ob Benn, wie der Verf. meint, »eine verschwindend kleine Leserschaft« (152) erreicht, sei übrigens dahingestellt, eher spricht er unpolitische Leser an, zu der übrigens auch Klaus Mann zu diesem Zeitpunkt noch zählt; im Mai 1933 wird er sich in zwei Briefen an Benn mit dessen Irrationalismus auseinandersetzen.) Die Auseinandersetzung unter dem hilflos agierenden Akademiesekretär Alfred Loerke (vgl. 120f.) läuft darauf hinaus, dass Döblin eine politisch unabhängige Akademie anstrebt, was von Schillings zu verhindern versucht, wohingegen Benn argumentiert, Heinrich Mann habe eine legale Regierung angegriffen, die sich nun folgerichtig wehre (vgl. 157). Das phrasenhaft gehaltene Kommuniqué, zu dem man sich schließlich durchringt, verweist, Gemeinplatz, darauf, »[…] daß der Reichtum der deutschen Kultur zu allen Zeiten aus der Mannigfaltigkeit der Weltanschauungen erwachsen ist.« (159) Wie ungleich effizienter die Nazis vorgehen, zeigt die darauf folgende Meldung, dass Hermann Göring für den anstehenden Wahlkampf drei Millionen Reichsmark von der deutschen Wirtschaft eingeworben habe (vgl. 159). Der 15. März, letzter aufgeführter Tag und »Der Anblick dieser Hölle« betitelt, schildert erst eine Razzia in der Wilmersdorfer Künstlerkolonie am Laubenheimer Platz, bei der die Wohnungen u. a. von Ernst Bloch und seiner Lebensgefährtin Carola Piotrkowska und von Manès Sperber durchsucht werden (vgl. 257–261); dann beschreibt der Verf. das Wüten der SA in sogenannten »wilden Gefängnissen« (vgl. 261–264). Wie ein filmischer Nachspann erzählt das Schlusskapitel »33 Lebensabrisse«, wie es den Autoren und einigen wenigen Autorinnen weiter erging (vgl. 265–272). Das vorzüglich geschriebene und streckenweise äußerst spannend zu lesende Buch lässt sich, erste Lesestrategie, insgesamt als Lehrstück über die Zerstörung einer – ungeliebten – Demokratie auffassen, das »nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs« (272) währte. Die zweite Lesestrategie könnte darin bestehen, der mittelbaren Einladung zu weiterer Lektüre nachzukommen, den zahlreichen Hinweisen auf die Schriftsteller und Schriftstellerinnen nachzugehen, sich mit ihrer Biographie zu beschäftigen und natürlich ihre Werke zu lesen. An die Literatur der Weimarer Jahre schließt sich unmittelbar die keineswegs minder bedeutende Literatur des Exils an, die zu großen Teilen eine Literatur im Widerstand ist. Thomas Amos, Frankfurt/Main

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Erik Beck, Reinhard Fromme, Christopher Horstmann, Kirsten John-Stucke, Jörg Piron (eds.). Germanenmythos und Kriegspropaganda. Der Illustrator Wilhelm Petersen 1900 – 1987. Büren: Kreismuseum Wewelsburg, 2021 (Historische Schriftenreihe des Kreismuseums Wewelsburg 12), 196 pp., 10,00 € [978-3-00-069616-9]. Based on local history, since 1982 the Kreismuseum Wewelsburg has been actively working to develop and communicate forms of remembrance of the victims of National Socialist violence. In this accompanying volume to the special exhibition on the illustrator Wilhelm Petersen from 20 June to 26 September 2021, not only are the exhibits presented with detailed commentaries, but a collection of scholarly articles has also been added, dealing with the life and work of the illustrator and painter which has so far been only inadequately processed. The extensive collection of pieces donated from his decedent’s estate range from the period of World War I to his last works and are presented in chronological order. The scholarly contributions that follow deal with his career from marketer of war propaganda and National Socialist ideas, to his time as an SS war correspondent and illustrator, to his denazification in 1947 and his life and the reception of his works until his death. The volume is supplemented by a bibliography. Das Kreismuseum Wewelsburg arbeitet seit 1982 aufgrund der lokalen Geschichte aktiv an der Entwicklung und Vermittlung von Formen der Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Gewalt. In dem Begleitband zur Sonderausstellung vom 20. Juni bis zum 26. September 2021 zum Illustrator Wilhelm Petersen werden nicht nur die Ausstellungsstücke mit ausführlichen Kommentaren vorgestellt, sondern es wurde auch eine Sammlung wissenschaftlicher Beiträge hinzugefügt, die sich mit dem bislang noch sehr unzureichend aufgearbeiteten Leben und Werk des Illustrators und Malers auseinandersetzen. Die aus dem Nachlass geschenkten umfangreichen Ausstellungsstücke reichen vom Ersten Weltkrieg bis zu seinen letzten Werken und werden chronologisch vorgestellt. Die darauffolgenden wissenschaftlichen Beiträge befassen sich mit seinem Werdegang vom Vermarkter kriegspropagandistischen und nationalsozialistischen Gedankenguts über seine Karriere als SS-Kriegsberichterstatter und -zeichner bis hin zu seiner Entnazifizierung 1947 und

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seinem Leben sowie der Rezeption seiner Werke bis zu seinem Tod. Der Band wird durch ein Literaturverzeichnis ergänzt. Sabina Becker, Fabian Bauer (eds.). Weimar im Exil. Die Kultur der Republik am Pazifik. München: edition text + kritik, 2021, 302 pp., 39,00 € [978-3-96707-558-8]. This collection, edited by Sabina Becker and Fabian Bauer, brings together a variety of essays on Weimar writers in American exile. It addresses the aesthetic continuities of the culture of the Weimar Republic after emigration into exile in the 1920s and 1930s. Rather than thematically turning to Nazi or »alienated« Germany, many of the exiled intellectuals preferred to focus on the starting point of their exile, the culture of the Weimar Republic, and sought to establish continuity in writing, theatre, and film in the United States. The volume is divided into three parts, the first and longest of which deals with the literary exile of several German writers. The second part, on the other hand, deals with exiles in the film industry, and the third with philosophers. The volume also includes an index of persons. In dem von Sabina Becker und Fabian Bauer herausgegebenen Sammelband ist eine Vielzahl an Aufsätzen zu Weimarer Kulturschaffenden im amerikanischen Exil zusammengetragen worden. Es wird sich mit den ästhetischen Kontinuitäten der Kultur der Weimarer Republik nach der Emigration ins Exil in den 1920er und 1930er Jahren auseinandergesetzt. Anstatt sich thematisch dem nationalsozialistischen oder ›entfremdeten‹ Deutschland zuzuwenden, widmeten sich viele der exilierten Intellektuellen lieber dem Ausgangspunkt ihres Exils, der Weimarer Kultur, und führten diese im Schreiben, im Theater und im Film in den USA fort. Der Band ist in drei Teile aufgeteilt, wobei sich der erste und längste Teil mit dem literarischen Exil mehrerer deutscher SchriftstellerInnen befasst. Der zweite Teil beschäftigt sich dagegen mit Exilierten in der Filmindustrie und der dritte mit PhilosophInnen. Der Band enthält ein Personenregister. Marijan Bobinac, Wolfgang Müller-Funk, Andrea Seidler, Jelena Spreicer, Aleš Urválek (eds.). Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Kollabierende Imperien, Staatenbildung und politische Gewalt. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2021 (Kultur – Herrschaft – Differenz 28), 340 pp., 78,00 € [978-3-7720-8740-0]. The contributions available in this collection deal with the period after the end of the First World War, which was by no means peaceful or pacified, until the outbreak of the Second World War. Revolutions, civil wars, violent conflicts – a wave of politically and ideologically induced violence characterise the years between the Great Wars, influenced by the end of former continental empires, the founding of problematic nation-states, and the emergence of radical movements. The first section of the volume focuses on theoretical and historical discourses such as the »birth of legal positivism« or the fall of the Habsburg monarchy. The second section looks at »Joseph Roth’s perspectives on the Polish-Soviet War« or journals such as »Kulturbund« and »Europäische Revue« from a journalistic perspective. The contributions in the third section examine fictional discourses, for example, in the early works of Ivo Andrić

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or in works by Leo Perutz, Bruno Brehm, and Miroslav Krleža. The contributions are provided by researchers from different countries, different disciplines, and with different methodological perspectives, thus creating a differentiated approach to the topic. Die in diesem Sammelband vorhandenen Beiträge befassen sich mit der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs keineswegs friedlichen oder befriedeten Zeit bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Revolutionen, Bürgerkriege, gewaltsame Konflikte, eine Welle politisch und ideologisch bedingter Gewalt prägen die Jahre zwischen den großen Kriegen, bedingt durch das Ende früherer Kontinentalimperien, Gründung problematischer Nationalstaaten und das Entstehen radikaler Bewegungen. Die erste Sektion des Bandes konzentriert sich auf theoretische und historische Diskurse wie beispielsweise der »Geburt des Rechtspositivismus« oder dem Untergang der Habsburgermonarchie. In der zweiten Sektion werden aus publizistischem Blickwinkel u.a. »Joseph Roths Perspektiven auf den Polnisch-Sowjetischen Krieg« oder Zeitschriften wie »Kulturbund« und »Europäische Revue« betrachtet. Die Beiträge der dritten Sektion untersuchen fiktionale Diskurse z.B. im Frühwerk von Ivo Andrić oder in Werken von Leo Perutz, Bruno Brehm und Miroslav Krlež. Die Beiträge stammen von ForscherInnen aus verschiedenen Ländern, unterschiedlichen Fachdisziplinen und differenten methodologischen Perspektiven und schaffen so einen differenzierten Zugang zur Thematik. Martin J. Bucher. Führer, wir stehen zu dir. Die Reichsdeutsche Jugend in der Schweiz, 1931 – 1945. Zürich: Chronos, 2021, 392 pp., 58,00 € [978-3-0340-1637-7]. While there is already a significant body of research on the activities and organisations of the NSDAP outside of Germany during World War II, Martin J. Fischer has made it his task in this book to review and shed more light on the rather unknown offshoot of the Hitler Youth in Switzerland, the so-called Reichsdeutsche Jugend (RDJ). In the first part, he examines its development from the early 1930s until its banning in 1945 and the subsequent denazification and expulsion of former members in Switzerland, as well as the local and formal organisation of the RDJ and its members. In the second part, the author closely investigates the work of the RDJ, addressing internal aspects such as the training and activities of the youth and taking a closer look at the cooperation with other organisations within Switzerland and Germany. At the end of the book, an additional list of sources and literature can be found. Während es zu den Aktivitäten und Organisationen der NSDAP im Ausland während des Zweiten Weltkriegs bereits viele Forschungsarbeiten gibt, hat es sich Martin J. Fischer in seinem Buch zur Aufgabe gemacht, den eher unbekannten Ableger der Hitler-Jugend in der Schweiz, die sogenannte Reichsdeutsche Jugend (RDJ), aufzuarbeiten und genauer zu beleuchten. In einem ersten Teil untersucht er zum einen ihre Entwicklung zu Beginn der 1930er bis zu ihrem Verbot 1945 und der darauffolgenden Säuberung der Schweiz von ehemaligen Mitgliedern und zum anderen die lokale und formelle Organisation der RDJ und ihrer Mitglieder. Im zweiten Teil geht der Autor auf die Arbeit der RDJ ein, wobei

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einerseits auf die internen Aspekte wie die Schulung und Aktivitäten der Jugend eingegangen und andererseits die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen innerhalb der Schweiz und Deutschland näher betrachtet wird. Am Schluss findet sich ein Quellen- und Literaturverzeichnis. CineGraph – Hamburgisches Centrum für Filmforschung e.V. (ed.). Kino, Krieg und Tulpen. Deutsch-Niederländische Filmbeziehungen. XVII. Internationales Festival des deutschen Film-Erbes. München: edition text + kritik, 2021, 152 pp., Ill., 25,00 € [9783-96707-486-4]. A cornerstone of CineGraph’s work is international networking in the production and reception of film. In this volume, the focus is on German-Dutch film historical connections, looking not only at films, directors and actors, but also at the roles of other professional groups such as producers and cinematographers. Topics such as »The Image of the Netherlands in German Cinema« or »Dutch Stars in German Cinema« are included as well as »Images of Occupation – War and Resistance in Dutch Feature Films« or »Dutch Filmmakers in Young German Cinema«. Richly illustrated, the volume is supplemented by a small encyclopaedia on persons mentioned. Ein Grundpfeiler der Arbeit von CineGraph ist die internationale Vernetzung bei Produktion und Rezeption des Films. In diesem Band geht es dabei um die deutsch-niederländischen filmhistorischen Verbindungen, wobei neben Filmen, Regisseuren und Schauspielern auch die Rollen anderer Berufsgruppen wie Produzenten und Kameraleuten betrachtet werden. Themen wie »Das Bild der Niederlande im deutschen Kino« oder »Niederländische Stars im deutschen Kino« finden ebenso Eingang wie »Bilder der Besatzung – Krieg und Widerstand im niederländischen Spielfilm« oder »Niederländische Filmschaffende im jungen deutschen Film«. Reich bebildert wird der Band durch ein kleines Lexikon zu den erwähnten Personen ergänzt. Michael Fischer. Rauchen in der Pulverfabrik. Friedrich Dürrenmatts politisches Denken im Kalten Krieg. Zürich: Chronos Verlag, 2021, 280 pp., 48,00 € [978-3-0340-1638-4]. The Cold War was not only a power-political confrontation between two superpowers, but also a time that shaped entire generations of people economically, ideologically, and through a fear of an apocalyptic nuclear war. In this context, Michael Fischer’s book deals with the Swiss writer Friedrich Dürrenmatt, who was often perceived as an apolitical author, but whose creative period coincides almost exactly with the Cold War period and whose work helped shape the political discourse of his time. Among other things, Fischer pursues the research question of how Dürrenmatt plays with the political situation of his time in his works and how his position develops in the course of the conflict. In this context, he examines Dürrenmatt’s search for a »third way« away from the binary ideologies of the two sides of the Cold War. Dürrenmatt did not subscribe to any of the political directions and ideologies of either side of the conflict, but rather interwove criticism against both in his works, playfully reflecting on

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them and imagining new or alternative systems – all of which is, however, mostly underpinned by the existential fears of nuclear war during the time. Fischer’s book proceeds chronologically, examining selected works in the context of their creation over the nearly forty years of Dürrenmatt’s creative life, beginning with the post-war period and the beginning of the Cold War, which coincides with Dürrenmatt’s earliest writing. Subsequently, in the second part, he deals with the late 1960s to early 70s, in the third part with the new »hot« phase of the war in the late 70s and early 80s, and ends in the fourth part with the end of the Cold War and Dürrenmatt’s death. The book is completed by acknowledgements, a timeline, illustrations and abbreviations, and sources and literature. Der Kalte Krieg war nicht nur eine machtpolitische Auseinandersetzung zwischen zwei Supermächten, sondern auch eine Zeit, die ganze Generationen von Menschen wirtschaftlich, ideologisch und durch eine Angst vor einem apokalyptischen Atomkrieg prägte. Michael Fischers Buch beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit dem Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, welcher oft als unpolitischer Autor aufgefasst wurde, dessen Schaffenszeit allerdings fast genau mit der Zeit des Kalten Krieges übereinstimmt und dessen Arbeit den politischen Diskurs seiner Zeit mit prägte. Fischer geht unter anderem der Forschungsfrage nach, wie Dürrenmatt in seinen Werken mit der politischen Situation seiner Zeit spielt und wie sich seine Position im Laufe des Konfliktes entwickelt und untersucht in diesem Zuge Dürrenmatts Suche nach einem »dritten Weg« abseits der binären Ideologien der zwei Seiten des Kalten Krieges. Dürrenmatt verschrieb sich keiner der politischen Richtungen und Ideologien der Seiten des Konfliktes, sondern verarbeitete seine Kritik an beiden in seinen Werken, spielte mit ihnen und imaginierte neue oder alternative Systeme, was jedoch meist von den existentiellen Ängsten seiner Zeit vor einem Atomkrieg unterlegt ist. Fischer geht in seinem Buch chronologisch vor und untersucht ausgewählte Werke im Kontext ihrer Entstehung über die knapp 40 Jahre von Dürrenmatts Schaffenszeit, beginnend mit der Nachkriegszeit und dem Beginn des Kalten Krieges, der mit Dürrenmatts schriftstellerischen Anfängen einhergeht. Darauffolgend geht er im zweiten Teil auf die späten 1960er bis frühen 70er ein, im dritten Teil auf die neue »heiße« Phase des Krieges Ende der 1970er und Anfang der 80er und endet schließlich im vierten Teil mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Tod Dürrenmatts. Das Buch wird ergänzt durch eine Danksagung, eine Chronik, Abbildungen und Abkürzungen, sowie Quellen und Literatur. Joachim J. Halbekann, Martin Beutelspacher (eds.). 52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg. Historisch-kulturelles Langzeitprojekt von Kulturamt, Stadtarchiv und Stadtmuseum der Stadt Esslingen am Neckar, August 2014 bis November 2018. Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2018, 408 pp., 25,00 € [978-3-7995-1298-5]. Mirroring the real duration of the war of four and a half years, the history of the city of Esslingen and its people during the First World War was worked out in this multi-year project – one result being that with the end of the war, a definite conclusion and clean slate is impossible. Even today, there are gaps in knowledge despite the connections presented in the volume,

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although many questions are answered for the first time. In addition to scientific research on the significance of the First World War for the city of Esslingen, the project also focused on the culture of remembrance anchored among its citizens, with the aim of achieving the broadest possible diversity of topics. For example, memorial sheets, gifts of love, postcards, toys, flags, medals, illustrations, diaries, newspapers, porcelain, court martial records, and photographs are shown. The presentation and description of authentic objects in the richly illustrated volume is supplemented by scholarly essays, e.g. on Esslingen’s labour force, Jewish participants in the Great War, war children’s books, and field post letters. The aftermath of the First World War for the city is also reported on. Analog zur realen Kriegsdauer von viereinhalb Jahren wurde in dem Langzeitprojekt die Geschichte der Stadt Esslingen und ihrer Menschen während des Ersten Weltkriegs herausgearbeitet, u.a. mit dem Ergebnis, dass mit Ende des Krieges keineswegs auch ein Schlussstrich gezogen werden kann. Auch heute noch gibt es trotz der in dem Band dargestellten Zusammenhänge Wissenslücken, wenngleich auch viele Fragen erstmals beantwortet werden. Im Fokus des Projektes stand neben der wissenschaftlichen Erforschung der Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die Stadt Esslingen u.a. auch die in der Bürgerschaft verankerte Erinnerungskultur, wobei eine möglichst breite Streuung der Themen angestrebt wurde. So werden z.B. Gedenkblätter, Liebesgaben, Postkarten, Spielzeug, Fahnen, Orden, Illustrationen, Tagebücher, Zeitungen, Porzellan, Kriegsgerichtsakten oder Fotografien gezeigt. Die Darstellung und Beschreibung authentischer Objekte in dem reich bebilderten Band wird durch wissenschaftliche Aufsätze z.B. zur Esslinger Arbeitschaft, jüdischen Weltkriegsteilnehmern, Kriegskinderbüchern oder zu Feldpost-Briefen ergänzt. Auch über die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges für die Stadt wird berichtet. Per Allan Olsson. Kriegsgefangene und ihre Engel. Schwedische Helfer im Ersten Weltkrieg. München: AVM, 2021 (Beiträge zur Rotkreuzgeschichte 4), 308 pp., 30,00 € [978-395477-129-5]. In the fourth volume of »Contributions to Red Cross History«, the author Per Allan Olsson deals with the humanitarian operations of the Swedish Red Cross during the First World War, which have been mostly unknown until today. The author used letters, diaries, and reports of Red Cross delegates to create this book on the 77 Swedish volunteers sent out to help prisoners of war in Russia during the First World War. The focus is primarily on two delegates, Anna Linder and Sven Hedblom, and their experiences from their arrival in Russia in 1915 until their return home in 1920. The book concludes with a postscript, sources and literature, a glossary, and an index of persons. In dem vierten Band der Beiträge zur Rotkreuzgeschichte befasst sich der Autor Per Allan Olsson mit den bis heute eher unbekannten humanitären Einsätzen des Schwedischen Roten Kreuzes während des Ersten Weltkriegs. Der Autor nutzte Briefe, Tagebücher und Berichte der Rotkreuzdelegierten, um sein Buch über die 77 schwedischen HelferInnen der Kriegsgefangenen in Russland während des Ersten Weltkriegs anzufertigen. Der Fokus liegt

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vor allem auf zwei Delegierten, Anna Linder und Sven Hedblom, und ihren Erlebnissen von ihrer Ankunft in Russland 1915 bis zur Heimreise 1920. Das Buch schließt mit einer Nachschrift, den Quellen und der Literatur, dem Glossar und einem Personenregister. Alexander Prenninger. Das letzte Lager. Evakuierungstransporte und Todesmärsche in der Endphase des KZ-Komplexes Mauthausen. Wien: new academic press, 2022 (MauthausenStudien. Schriftenreihe der KZ-Gedenkstätte Mauthausen 16), 412 pp., Ill., 29,90 € [9783-7003-2219-1. Due to its geographical location and its importance for the armaments industry, the Mauthausen concentration camp complex became one of the most important destinations of evacuation transports in the final phase of the Nazi camp system (1944-45) and was the last complex to be liberated by the Allies. The author examines for the first time that »evacuation« and »evacuation transports« could take very different forms. They developed into »death marches« only under certain circumstances. The basis of his research includes interviews with survivors recorded in 19 states in the early 2000s, which are often the only sources on individual transports. Prenninger investigates, among other things, why Mauthausen in particular became the destination of the evacuations and thus arrives at an examination of the interrelationships and connections within the National Socialist camp system. The individual transports between March 1944 and April 1945 are described in detail, as well as the evacuation of the subcamps of the Mauthausen concentration camp, of prisons and other camps, and finally the evacuation to freedom by the Red Cross transports. Bibliographies, lists of sources, and an index of persons complete the volume. Der KZ-Komplex Mauthausen wurde aufgrund seiner geografischen Lage und seiner Bedeutung für die Rüstungsindustrie in der Schlussphase des NS-Lagersystems (1944-45) zu einem der wichtigsten Ziele von Evakuierungstransporten und als letzter Komplex von den Alliierten befreit. Der Autor untersucht erstmalig, dass »Räumungs-« und »Evakuierungstransporte« sehr unterschiedliche Formen annehmen konnten. Sie entwickelten sich nur unter bestimmten Umständen zu »Todesmärschen«. Grundlage seiner Forschung sind u.a. die in den frühen 2000er-Jahren in 19 Staaten aufgenommenen Interviews mit Überlebenden, die oft die einzigen Quellen zu einzelnen Transporten darstellen. Prenninger geht u.a. der Fage nach, warum gerade Mauthausen zum Ziel der Evakuierungen wurde, und kommt dadurch zu einer Untersuchung der Zusammenhänge und Verbindungen innerhalb des nationalsozialistischen Lagersystems. Dezidiert werden die einzelnen Transporte zwischen März 1944 und April 1945 beschrieben, ebenso die Räumung der Außenlager des KZ Mauthausen, von Gefängnissen und anderen Lagern sowie abschließend die Evakuierung in die Freiheit durch die Rot-Kreuz-Transporte. Bibliografien, Quellenverzeichnisse sowie ein Personenregister vervollständigen den Band.

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Manfred Rasch. Das Ruhrgebiet im Ersten Weltkrieg. Technik und Wirtschaft. Münster: Aschendorf, 2022, 549 pp., Ill., 39,90 € [978-3-402-13334-7]. Based on the fundamental question of how and what the First World War changed in the Ruhr region, the author examines in 24 chapters the technological and economic-historical changes in this region. Technical developments, effects on the Rhenish-Westphalian coal and steel industry, horizontal or vertical concentration processes, and the significance of wartime strategy for armaments production – Rasch thus examines an essential aspect of the so-called home front that has received little attention to date. The author presents a differentiated picture of the technical and economic changes in the Ruhr area, addressing, for example, the »extraction of liquid fuels and lubricants«, munitions and gun production, railroad materials, energy supply through coal, electricity, and gas, food supply through factory kitchens, and allotment gardens. The subject of »replacement workers« such as women, youths, prisoners of war, and others is also considered, as are the demobilisation and economic reorientation after the war. The volume is richly illustrated and supplemented by a list of sources and literature as well as an index of names. Basierend auf der grundsätzlichen Frage, wie und was der Erste Weltkrieg im Ruhrgebiet veränderte, untersucht der Autor in 24 Kapiteln die technik- und wirtschaftsgeschichtlichen Veränderungen dieser Region. Technische Entwicklungen, Auswirkungen auf die rheinischwestfälische Montanindustrie, horizontale oder vertikale Konzentrationsprozesse und die Bedeutung der Kriegsstrategie für die Rüstungsproduktion – Rasch untersucht somit einen wesentlichen und bisher wenig beachteten Aspekt der sogenannten Heimatfront. Der Autor präsentiert ein differenziertes Bild der technischen und wirtschaftlichen Veränderungen im Ruhrgebiet von z.B. der »Gewinnung flüssiger Treib- und Schmierstoffe« über die Munitonserzeugung und Geschützproduktion, Eisenbahnmaterial, Energieversorgung durch Kohle, Strom und Gas bis hin zur Lebensmittelversorgung durch Werksküchen und Schrebergärten. Aber auch das Thema der »Ersatzarbeitskräfte« wie Frauen, Jugendliche, Kriegsgefangene etc. wird ebenso berücksichtigt wie die Demobilmachung und wirtschaftliche Neuausrichtung nach dem Krieg. Der Band ist reich illustriert und um ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Namensregister ergänzt. Richard Rohrmoser. »Sicherheitspolitik von unten«. Ziviler Ungehorsam gegen Nuklearrüstung in Mutlangen, 1983 – 1987. Frankfurt/Main: Campus Verlag, 2021 (Frieden und Konflikt. Beiträge zur Historischen Friedens- und Konfliktforschung 26), 460 pp., 45,00 € [978-3-593-513461-1]. In his book in the series »Frieden und Konflikt. Beiträge zur Historischen Friedens- und Konfliktforschung« [Engl.: »Peace and Conflict. Contributions to Historical Peace and Conflict Research«], historian Richard Rohrmoser deals with civil disobedience and the peace movement in Mutlangen in the years 1983 to 1987. In a detailed study of the years of protests by peace activists against the stationing of Pershing II missiles in Mutlangen, the author addresses the research question why Mutlangen, of all places, developed into the symbolic location of

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the peace movement and provides an overall view of the development from the international situation before the stationing, to the protests, to the aftermath and consequences after 1987. Rohrmoser begins with an introduction examining the protests in the context of other demonstrations and examples of civil disobedience beginning in the 1960s and outlining the previous state of research. Over five chapters, he then focuses on the concrete events in Mutlangen, beginning with an overview of Mutlangen’s relationship with the U.S. military until 1981 before the deployment of the Pershing II missiles. The second and third chapters showcase the beginnings and development of the peace movement and the various peace initiatives. Then, in the fourth chapter, the protests up to the disarmament and the development of the peace movement after disarmament are discussed. In the last chapter Rohrmoser deals with the legal consequences for the peace activists and subsequently answers his research question in a conclusion. The book ends with an appendix including brief portraits, sources, literature, online resources, and acknowledgements. In seinem in der Reihe Frieden und Konflikt. Beiträge zur Historischen Friedens- und Konfliktforschung erschienenen Buch befasst sich der Historiker Richard Rohrmoser mit dem zivilen Ungehorsam und der Friedensbewegung in Mutlangen in den Jahren 1983 bis 1987. In einer ausführlichen Studie der jahrelangen Protestaktionen der FriedensaktivistInnen gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen in Mutlangen beschäftigt sich der Autor mit der Forschungsfrage, warum sich ausgerechnet Mutlangen zum Symbolort der Friedensbewegung entwickelte, und gibt einen Gesamtblick auf die Entwicklung von der internationalen Lage vor der Stationierung, über die Protestaktionen, bis hin zu den Folgen und Konsequenzen nach 1987. Rohrmoser beginnt in einer Einleitung mit einer Verortung der Proteste im Kontext anderer Demonstrationen und Beispiele zivilen Ungehorsams ab den 1960er Jahren und einer Darstellung des vorherigen Forschungsstandes. Danach beschäftigt er sich in fünf Kapiteln mit den Ereignissen in Mutlangen, beginnend mit einem Überblick über die Beziehung Mutlangens und dem US-Militär bis 1983 vor der Stationierung der Pershing-II-Raketen. Im zweiten und dritten Kapitel werden die Anfänge und die Entwicklung der Friedensbewegung und die verschiedenen Friedensinitiativen vorgestellt. Danach wird im vierten Kapitel auf die Protestaktionen bis zur Abrüstung und die Entwicklung der Friedensbewegung nach der Abrüstung eingegangen. Im letzten Kapitel befasst sich Rohrmoser mit den juristischen Konsequenzen für die FriedensaktivistInnen und beantwortet letztendlich in einem Fazit seine Forschungsfrage. Das Buch schließt mit einem Anhang, der Kurzporträts, Quellen, Literatur, Onlineressourcen und eine Danksagung beinhaltet. Marija Wakounig, Václav Horčička, Jan Županič (eds.). Habsburgischer Adel. Zwischen Nation – Nationalismus – Nationalsozialismus (1870 – 1938/1945). Wien, Hamburg: new academic press, 2021, 283 pp., 29,80 € [978-3-7003-2210-8]. This collection, with contributions from researchers from several European countries and edited by Marija Wakounig, Václav Horčička and Jan Županič, follows up on recent research on the relationship between the Habsburg nobility and the ideas of nation, National Socialism

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and Fascism, and was inspired by two international conferences held in 2014 and 2016. The book focuses primarily on the seemingly contradictory sentiments of National Socialism and the originally tradition-conscious nobility, as well as on the development of the nobility in the years from 1870 to 1938/1945. Thematically, the book is divided into four sections that provide insights into different aspects of this development. It begins with the legal contextualisation of the nobility, dealing with property, legitimism and noble titles. The second section deals with four different individuals of the Habsburg nobility and their stance between property and nation. Subsequently, the third section looks at familial positions of various noble houses in the context of loss of property, land reforms, and political alignment. The fourth section looks at the broader context of aristocracy and wider European nobility. The monograph concludes with a bibliography, a list of persons, and an index of authors. Der Sammelband mit Beiträgen von ForscherInnen aus mehreren europäischen Ländern und herausgegeben von Marija Wakounig, Václav Horčička und Jan Županič, schließt sich neueren, von zwei internationalen Konferenzen von 2014 und 2016 inspirierten Grundlagenforschungen zu der Beziehung zwischen dem habsburgischen Adel und Nation, Nationalsozialismus und Faschismus an. Das Buch befasst sich vor allem mit der scheinbar widersprüchlichen Gesinnung des Nationalsozialismus und des ursprünglich traditionsbewussten Adels und der Entwicklung des Adels in den Jahren 1870 – 1938/1945. Thematisch ist das Buch in vier Abschnitte aufgeteilt, die Einblicke in verschiedene Aspekte dieser Entwicklung geben. Begonnen wird mit der rechtlichen Verortung des Adels, bei der sich mit Vermögen, Legitimismus und Adelstiteln auseinandergesetzt wird. Der zweite Teil beschäftigt sich mit vier verschiedenen Einzelpersonen des habsburgischen Adels und ihrer Verortung zwischen Besitz und Nation. Im Anschluss dazu befasst sich der dritte Abschnitt mit familialen Verortungen verschiedener Adelshäuser im Zusammenhang mit Besitzzerfall, Bodenreformen und politischer Anpassung. Im vierten Teil wird ein Blick auf weitergreifende Zusammenhänge mit Aristokratie und mit weiterem europäischem Adel geworfen. Der Band schließt mit einer Bibliografie, einem Personenverzeichnis und einem AutorInnenverzeichnis. Charlotte Weber. Gegen den Strom der Finsternis. Als Betreuerin in Schweizer Flüchtlingsheimen 1942 – 1945. Zürich: Chronos Verlag, 1994 (3. Auflage 2020), 285 pp., 38,00 € [978-3-905311-31-0]. In her book, the Swiss refugee aid worker Charlotte Weber describes her experiences of working in various Swiss refugee homes in the years 1942 to 1945. Her work was characterised above all by her concern for the personal welfare of the refugees, her respectful treatment of them, and her self-administration of the homes, which often contrasted with the official administration. The primary school teacher and journalist uses letters, pictures, and diary entries to describe her work and daily life in various refugee camps: how she took over the management of the internment home for women and children on Bienenberg in 1942, how she was transferred to Schloss Hilfikon, a vocational school camp for refugee girls, in 1944, and went to the

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»Felsenegg« children’s home on Zugerberg for children and adolescents from the Buchenwald concentration camp in 1945. The book ends with a short afterword by Weber. In ihrem Buch schildert die Schweizer Flüchtlingshelferin Charlotte Weber ihre Erfahrungen mit der Arbeit in verschiedenen Schweizer Heimen in den Jahren 1942 – 1945. Ihre Arbeit zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie sich um das persönliche Wohl der Flüchtlinge sorgte, einen respektvollen Umgang mit ihnen pflegte und eine Selbstverwaltung der Heime führte, die oft im Kontrast zur amtlichen Verwaltung stand. Die Primarlehrerin und Journalistin beschreibt mit Hilfe von Briefen, Bildern und Tagebucheinträgen ihre Arbeit und ihr Alltagsleben in verschiedenen Flüchtlingslagern: wie sie 1942 die Leitung des Interniertenheims für Frauen und Kinder auf Bienenberg übernahm, 1944 nach Schloss Hilfikon, ein Berufsschullager für Flüchtlingsmädchen, versetzt wurde und 1945 in das Kinderheim »Felsenegg« auf dem Zugerberg für Kinder und Jugendliche aus dem Konzentrationslager Buchenwald ging. Das Buch endet mit einem kurzen Nachwort Webers. Uwe Wittstock. Februar 33. Der Winter der Literatur. München: C. H. Beck, 2021, 287 pp., 24,00 € [978-406-77693-9]. In his book, Uwe Wittstock describes the flight of famous writers such as Thomas Mann, Else Lasker-Schüler, Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Ricarda Huch, George Grosz, Heinrich Mann, Mascha Kaléko and many others from Germany after the National Socialists seized power. Among other things, he illustrates a question that they had to face immediately: whether they should leave their country at all, since it was not clear, for example, whether they would be able to make a living from their literature in exile. It was also questionable how much time they would have left to sort everything out before they were arrested or attacked for their works. The author describes the events chronologically, day by day, and also illustrates at the end how things went on for the writers in exile. A bibliography and an index of persons are appended. Uwe Wittstock beschreibt in seinem Buch die Flucht berühmter Schriftsteller wie Thomas Mann, Else Lasker-Schüler, Bertolt Brecht, Alfred Döbling, Ricarda Huch, Georg Grosz, Heinrich Mann, Mascha Kaléko und vieler weiterer aus Deutschland nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Dabei geht er u.a. der Frage nach, ob sie überhaupt ihr Land verlassen sollen, da z.B. nicht klar war, ob sie im Exil überhaupt von ihrer Literatur leben könnten. Fraglich war auch, wie viel Zeit ihnen noch bleiben würde, um alles zu regeln, bevor sie wegen ihrer Werke verhaftet oder angegriffen würden. Der Autor beschreibt die Geschehnisse tageschronologisch und zeigt am Schluss auch auf, wie es mit den Schriftstellern im Exil weiterging. Angefügt sind ein Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister.

Autoren dieser Ausgabe Contributors to this Edition

Dr. Thomas Amos; Dozent für Literatuwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt/Main (Deutschland); er promovierte im Fach Romanistik über Beziehungen zwischen Phantastik, Architektur und Manierismus; derzeit Habilitationsprojekt zum Ballett­libretto / lecturer in literary studies at the Goethe University in Frankfurt/Main (Germany) and recei‑ ved his doctorate in Romance studies on the relationship between fantasy, architecture and mannerism; currently his habilitation project on the ballet libretto. Wolfgang Knop, Dr. paed., war als Kunsterzieher und Kunsthistoriker tätig. Wichtige Publikationen / has worked as an art educator and art historian. Important publications: Meine Suche nach dem Maler Gerbig (1981); Wegzeichen – Zeitzeugen. Illustrierte Künst‑ lerpost zur Wende und Einheit (1993); Thüringer Sagen mit Künstlerillustrationen (2 Bde., 1997 und 1999); »Schaut her – ich bin’s!«. Der Maler und Grafiker Alexander Gerbig (1998); Adé, 20. Jahrhundert. Ein Rückblick mit illustrierten Handschriften (2000); Pinseltupfer. Geschichten und Gedichte zu Bildern (2001); Farbtupfer. Ein Maler sieht die »gute alte Zeit« (2003); 150 schönste Künstlerbriefe und ‑karten (2004); Mensch – Tier – Natur. Landwirt‑ schaft als Motiv in der Kunst des 20. Jahrhunderts (2020); als Herausgeber/editor: Aufbrüche ins Ungewisse. Künstler erinnern sich mit Wort und Bild an Flucht und Vertreibung (2021) Zahlreiche Fachbeiträge in Zeitschriften / numerous professional articles in journals.