Ideokratien im Vergleich: Legitimation - Kooptation - Repression 9783666369629, 9783525369623, 9783647369624

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Ideokratien im Vergleich: Legitimation - Kooptation - Repression
 9783666369629, 9783525369623, 9783647369624

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann Band 51

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Ideokratien im Vergleich Legitimation – Kooptation – Repression Herausgegeben von Uwe Backes und Steffen Kailitz

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Mit 5 Grafiken, 6 Diagrammen und 3 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36962-3 ISBN 978-3-647-36962-4 (E-Book) Umschlagabbildung: Nordkoreanische Militärparade anlässlich des 60. Jahrestags des Waffenstillstands, 27. Juli 2013, Copyright: Ed Jones / AFP / Getty Images © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Einleitung Uwe Backes / Steffen Kailitz

I. Begriffsgeschichte und Konzeptualisierung

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„Ideokratie“ – eine begriffsgeschichtliche Skizze Uwe Backes

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Ideokratie oder die Geburt der Gewalt aus enttrivialisierter Moral Hermann Lübbe

47

Ideologische Selbstbindung in Weltanschauungsdiktaturen Lothar Fritze

59

Legitimation, Kooptation und Repression in Ideokratien aus einer Rational Choice-Perspektive Peter Bernholz

79

Ideokratien als Subtyp autokratischer Regime ? Johannes Gerschewski

95

II. Fallstudien

113

Legitimation und Repression im sowjetischen Staat (1917–1991) Leonid Luks

115

Legitimation, Cooptation and Repression in Fascist Italy Lorenzo Santoro

145

Legitimation, Kooptation und Repression im NS-Regime Wolfgang Bialas

161

Legitimation, Kooptation und Repression in der DDR Udo Grashoff

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Inhalt

Legitimation, Kooptation und Repression in der Volksrepublik China Christian Göbel

207

Ideocratic Legitimation in North Korea Jiwon Yoon

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Politische Herrschaft im revolutionären Kuba zwischen Legitimation, Kooptation und Repression Peter Thiery

249

III. Vergleiche

277

The Legitimizing Role of Palingenetic Myth in Ideocracies Roger Griffin

279

Legitimation durch Performanz ? Zur Output-Legitimität in Autokratien Manfred G. Schmidt

297

Charakteristika der staatlichen Einbindung von Eliten und Bevölkerung in Ideokratien Steffen Kailitz

313

Nationalsozialistische und kommunistische Gewalt im Vergleich – Ein Beitrag zur Repression und Unterdrückung in Ideokratien Jerzy Maćków

339

Ergebnisse Uwe Backes / Steffen Kailitz

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Abkürzungsverzeichnis

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Autorenverzeichnis

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Einleitung Uwe Backes / Steffen Kailitz Ideokratien übten prägende Kraft auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus. Im frühen 20. Jahrhundert etablierten sich die ideokratischen Legitimationsmodelle von Faschismus und Nationalsozialismus wie des Kommunismus als starke Herausforderer der liberalen Demokratie. Nachdem im Zweiten Weltkrieg die Demokratien in einem Zweckbündnis gemeinsam mit der kommunistischen Sowjetunion das NS - Regime und seine Verbündeten niedergerungen hatten, standen sie im „Kalten Krieg“ den sowjetkommunistischen Regimen gegenüber. Im frühen 21. Jahrhundert hingegen hat sich ein weltweiter Bedeutungsverlust der Ideokratien fortgesetzt, der spätestens mit dem Untergang der Sowjetunion und ihrer Satelliten deutlich geworden war. Die vergleichende Politikwissenschaft widmet dieser Autokratieform kaum mehr Aufmerksamkeit. Es herrschen inzwischen Typologien vor, die der Herrschaftslegitimation wenig Bedeutung beimessen und stattdessen vorrangig auf Herrschaftszugang und - träger abheben.1 So werden die politischen Regime, die in diesem Band als Ideokratien kategorisiert werden, in den derzeit vorherrschenden Klassifikationen anderen, ausgesprochen breiten Regimegattungen zugeordnet : Cheibub / Gandhi / Vreeland ordnen sie fast durchweg zur Kategorie der ( nicht - demokratischen ) zivilen Regime, Geddes / Frantz / Wright fassen sie etwas genauer unter die Gattung der Parteiregime und Hadenius / Teorell / Wahmann bestimmen sie noch etwas näher als Einparteiregime. Diese Erfassung der Vielfalt autokratischer Herrschaft über Herrschaftsträger und - zugang ist fruchtbar. Durch die neoinstitutionalistische Wende der Autokratieforschung und die daraus resultierende Konzentration auf Herrschaftsinstitutionen2 traten wichtige Aspekte in den Vordergrund, wie sie vielen Auto1

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Vgl. José Antonio Cheibub / Jennifer Gandhi / James Vreeland, Democracy and Dictatorship Revisited. In : Public Choice, 143 (2010) 1–2, S. 67–101; Barbara Geddes, What Do We Know about Democratization after Twenty Years ? In : Annual Review of Political Science, 2 (1999), S. 115–144; Barbara Geddes / Joseph Wright / Erica Frantz, New Data on Autocratic Regimes. In : Perspectives on Politics, 12 (2014) 1 ( i. E.); Axel Hadenius/ Jan Teorell, Pathways from Authoritarianism. In : Journal of Democracy, 18 (2007) 1, S. 143–156; Michael Wahman / Jan Teorell / Axel Hadenius, Authoritarian Regime Types Revisited. Updated Data in Comparative Perspective. In : Contemporary Politics, 19 (2013) 1, S. 19–34. Vgl. dazu Thomas Pepinsky, The Institutional Turn in Comparative Authoritarianism. In : British Journal of Political Science, 1 (2013), S. 1–23; Andreas Schedler, The New

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Uwe Backes / Steffen Kailitz

kratien unabhängig von ihren Legitimitätsquellen und Legitimierungsformen gemeinsam sind : So ist es höchst bedeutsam, wenn die herrschaftsstrukturellen Gewichtsverlagerungen zugunsten des Militärs in Nordkorea untersucht und die Konsequenzen für das Machtgefüge an der Staatsspitze durchdacht werden.3 Im Falle der Volksrepublik China, die sich weit von den totalitären Hochphasen der Mao- Ära entfernt hat, liegt der Schwerpunkt der Forschung auf herrschaftsstrukturellen Veränderungen wie der Verrechtlichung des Herrschaftshandelns und der Zunahme des Wettbewerbsgrades auf lokaler und regionaler Ebene, die eine starke Annäherung an das von Juan J. Linz maßgeblich beschriebene Modell des autoritären Regimes belegen.4 Bei allen Verdiensten der neoinstitutionalistischen Perspektive für die neuere Autokratieforschung greifen Klassifikationsversuche über Herrschaftsträger und - zugang durch ihre Ausklammerung der Legitimationsdimension bei der Einordnung politischer Regime aber in mancher Hinsicht zu kurz.5 Politische Regime wie die Volksrepublik China sind nicht angemessen zu verstehen, ohne die ideologische Legitimationsgrundlage und deren Wandel im Zeitablauf in den Blick zu nehmen.6 Langsam wendet sich daher die Autokratieforschung wieder der Legitimationsdimension zu.7 Es wird zunehmend anerkannt, dass auch

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Institutionalism in the Study of Authoritarian Regimes. In : Totalitarismus und Demokratie, 6 (2009), S. 327–344. Vgl. nur Rüdiger Frank, Norkorea. Zwischen Stagnation und Veränderungsdruck. In : Claudia Derichs / Thomas Heberer ( Hg.), Einführung in die politischen Systeme Ostasiens, 3. Auflage Opladen 2008, S. 351–415, hier 402 f.; Johannes Gerschewski / Patrick Köllner, Nordkorea und kein Ende ? Zum Wandel innenpolitischer Legitimation und externer Stützung der DVRK. In : Hanns W. Maull ( Hg.), Ostasien in der Globalisierung, Baden - Baden 2009, S. 169–190, hier 175–178. Vgl. nur Larry Diamond / Ramon H. Myers ( Hg.), Elections and Democracy in Greater China, Oxford 2001; Sebastian Heilmann, Das politische System der Volksrepublik China, 2. Auflage Wiesbaden 2004, S. 64. Vgl. dagegen die beiden folgenden neueren – inhaltlich etwas unterschiedlich ausgerichteten – Klassifikationsversuche politischer Regime, die Regime vorrangig anhand ihres Legitimationsmusters unterscheiden : Uwe Backes, Vier Grundtypen der Autokratie und ihre Legitimierungsstrategien. In : Steffen Kailitz / Patrick Köllner ( Hg.), Autokratien im Vergleich. Sonderheft der Politische Vierteljahresschrift, 47/2012, Baden - Baden 2013, S. 157–175; Steffen Kailitz, Classifying Political Regimes Revisited. Legitimation and Durability. In : Democratization, 20 (2013) 1, S. 38–59. Vgl. neben dem Beitrag von Goebel in diesem Band u. a.: Anne - Marie Brady, Marketing Dictatorship. Propaganda and Thought Work in Contemporary China, Lanham 2009; Bruce Gilley / Heike Holbig, In Search of Legitimacy in Post - revolutionary China. Bringing Ideology and Governance Back In, Hamburg 2010; Sujian Guo, Post - Mao China. From Totalitarianism to Authoritarianism ?, Westport 2000; Thomas Heberer / Gunter Schubert ( Hg.), Regime Legitimacy in Contemporary China. Institutional Change and Stability, London 2000; Heike Holbig, Ideological Reform and Political Legitimacy. Challenges in the Post - Jiang Era. In : Thomas Heberer / Gunter Schubert (Hg.), Regime Legitimacy in Contemporary China. Institutional Change and Stability, London 2008, S. 13–34. Vgl. neben den oben genannten Beiträgen von Backes und Kailitz u. a. : Peter Burnell, Autocratic Opening to Democracy. Why Legitimacy Matters. In : Third World Quarterly, 27 (2006) 4, S. 545–56; Heike Holbig, Ideology after the End of Ideology. China and

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Einleitung

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Autokratien Dauerhaftigkeit nicht nur über erfolgreiche Performanz, Kooptation und Repression erreichen können, sondern systemische Legitimität zu erzeugen vermögen. Dies gilt etwa für die Monarchien am Persischen Golf – mehr noch aber für Ideokratien, wie sie in diesem Band im Zentrum stehen.8 Die Funktionslogik von Ideokratien ist ohne angemessene Berücksichtigung des komplexen Zusammenspiels von Legitimierung und Legitimitätserzeugung nicht zu verstehen. Das Ideokratiekonzept wird erheblich weiter gefasst als das des „Totalitarismus“. Das definierende Element der Ideokratie ist die utopische Herrschaftslegitimation. Dieses Element wird nicht wie beim Konzept des Totalitarismus mit anders gelagerten definitorischen Elementen der Herrschaftsstruktur ( wie etwa dem Grad der „Durchherrschung“ oder dem Ausmaß des Terrors ) verknüpft. Jedoch muss die ideokratische Herrschaftslegitimation mit dem ernsthaften Versuch einhergehen, sie auch umzusetzen. Die Herrscher müssen sich zumindest vage an der Ideologie orientieren. Dies begründet einen ideologischen Dauerkampf zwischen Pragmatikern und Dogmatikern und daraus folgenden ideologische Kehrtwenden wie in der Volksrepublik China oder der Sowjetunion ( z. B. die pragmatische Wende der „Neuen Ökonomischen Politik“ unter Lenin ). Gerade die Bedeutung des fortwährenden Kampfes um die Deutungshoheit über die Auslegung der ideologischen Herrschaftsgrundlage unterstreicht die herausragende Rolle der Ideologie in Ideokratien. Damit ein Regime als ideokratisch klassifiziert werden kann, muss es aber keineswegs das ideokratische Projekt umfassend in die Tat umsetzen und seine Utopie verwirklichen. Auch bedarf es nicht unbedingt spezifischer Herrschaftsinstrumente. Konkret gesprochen : Ideokratische Herrschaft bedarf weder notwendig der Existenz von Konzentrationslagern noch einer Zentralverwaltungswirtschaft.9 Mit dem Ideokratiekonzept wird mithin anders als beim Totali-

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the Quest for Autocratic Legitimation. In : Democratization, 20 (2013) 1, S. 61–8; Marianne Kneuer, Die Suche nach Legitimität. Außenpolitik als Legitimationsstrategie autoritärer Regime. In : Kailitz / Köllner ( Hg.), Autokratien im Vergleich, S. 205–236; Oliver Schlumberger, Opening Old Bottles in Search of New Wine. On Nondemocratic Legitimacy in the Middle East. In : Middle East Critique, 19 (2010) 3, S. 233–250; Stephen McCarthy, Legitimacy under Military Rule. Burma. In : Politics & Policy, 38 (2010) 3, S. 545–569; Gert Pickel, Unausweichlichkeit der Demokratisierung oder „democratic bias“ ? ( Kulturelle ) Faktoren der Stabilität und Instabilität politischer Regime. In : Totalitarismus und Demokratie, 8 (2009), S. 293–322. Für Monarchien vgl. etwa Schlumberger, Opening Old Bottles; für Ideokratien vgl. etwa Roger D. Griffin, The Palingenetic Political Community. Rethinking the Legitimation of Totalitarian Regimes in Inter - war Europe. In : Totalitarian Movements and Political Religions, 3 (2002) 3, S. 24–43; Thomas H. Rigby / Ferenc Fehér ( Hg.), Political Legitimation in Communist States, New York 1982. Konzentrationslager sind Voraussetzungen totalitärer Herrschaft nach Hannah Arendt, die Zentralverwaltungswirtschaft ist ein Merkmal im Totalitarismussyndrom Carl J. Friedrichs und Zbigniew Brzezinskis. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 10. Auflage München 2005, S. 907–943; Carl J. Friedrich / Zbigniew K. Brzezinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy, 2. Auflage Cambridge 1965, S. 205–275.

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Uwe Backes / Steffen Kailitz

tarismuskonzept das Untersuchungsfeld für Regime geöffnet, die ihren umfassenden, ideologiegetriebenen Herrschaftsanspruch – aus welchen Gründen auch immer – nur in Ansätzen oder in gesellschaftlichen Teilbereichen umzusetzen vermögen. Ideokratien sind im Kern Einparteiregime, allenfalls lassen sie ( hochgradig angepasste ) Blockparteien mit leichten Variationen der Kernideologie zu.10 Sie setzen dabei die Existenz einer ideologiebasierten Partei voraus, die zur sozialen Transformation, Kontrolle, Überwachung und effektiven Feindbekämpfung dient, aber auch eine – ideologisierte – Mitwirkung der Bürger am politischen Regime ermöglicht. Ein Grundproblem der vorherrschenden Variante des Totalitarimuskonzepts wurzelt in einer Vermengung der Legitimations - , „Durchherrschungs“ - und Repressionsperspektive. Nach der Herrschaftslegitimation lassen sich streng ideologiegeleitete Autokratien abgrenzen, mit den Kategorien der Herrschaftsintensität und Repression – salopp gesprochen – die „autokratischsten“ Autokratien. Die Mengen der aus diesen Perspektiven erfassten Regime sind aber nicht deckungsgleich. Für das Jahr 2008 haben Jørgen Møller und Sven - Erik Skaaning11 mittels der von Juan Linz und Alfred Stepan12 entwickelten empirischen Operationalisierung des Totalitarismusbegriffs auf der Grundlage der Daten von „Freedom House“ – also unter Ausklammerung des ideologischen Legitimationsaspekts – folgende Regime als totalitär „gemessen“ : Burma, Kuba, Libyen, Nordkorea, Somalia, Sudan, Turkmenistan und Usbekistan. Zumindest Burma, Somalia, Sudan, Turkmenistan und Usbekistan erfüllen aber nicht das Kriterium einer utopischen Herrschaftsideologie. In einer Menge der ideologiebasierten Regime aus der Legitimationsperspektive wären wiederum China, Iran, Laos und Vietnam enthalten. Lediglich Kuba und Nordkorea wären somit 2008 in einer Schnittmenge beider Perspektiven enthalten gewesen. Selbst bei diesen beiden Fällen ist aber umstritten, ob sie wirklich alle Kriterien des Totalitarismusbegriffs erfüllen. Während das NS - Regime und der italienische Faschismus zu kurzlebig waren, damit sich der ideologische Glaube der Propagandisten in den Ebenen des Alltags abschliff, vermochten die kommunistischen Ideale im Laufe der Jahrzehnte bei der eher bürokratisch geprägten Nachfolgegeneration von Lenin und Stalin keinen Enthusiasmus mehr zu entfachen. Juan J. Linz und Alfred Stepan haben diesen Wandel für derart gewichtig gehalten, dass sie in solchen Fällen sogar einen Regimewechsel vom totalitären zum posttotalitären Regime ausmachten. Die Kriterien waren dabei allerdings schwammig. Als „posttotali10 Vgl. Samuel P. Huntington, Social and Institutional Dynamics of One - Party Systems. In: Samuel P. Huntington / Clement Henry Moore ( Hg.), Authoritarian Politics in Modern Society. The Dynamics of Established One - Party Systems, New York 1970, S. 3–47. 11 Vgl. Jørgen Møller / Sven - Erik Skaaning, Mapping Contemporary Forms of Autocracy. In : Totalitarismus und Demokratie, 9 (2009), S. 253–270. 12 Vgl. Juan J. Linz / Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post - communist Europe, Baltimore 1996, S. 40.

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Einleitung

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täre“ Regime bezeichneten sie solche, in denen der ideokratische Impuls erlahmt war, ein bürokratisch - technokratischer Führungsstil an Bedeutung gewonnen, die Mobilisierung an Dynamik verloren hatte, politische Apathie geduldet oder gar gefördert wurde und sich Freiräume für eine wirtschaftliche, kulturelle und soziale Repluralisierung auftaten. Trotz der Berechtigung dieser Überlegungen ist es ein Grundproblem des Totalitarismusbegriffs in der konzeptionell am besten ausgearbeiteten Variante von Juan Linz, dass totalitäre von posttotalitären Regimen unzureichend konzeptionell abgegrenzt sind. An die Stelle von „keinem bedeutenden wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Pluralismus“ im Totalitarismus trete – so Linz zusammen mit Alfred Stepan – „fast kein Pluralismus“ im Posttotalitarismus. Hinsichtlich der Begrenzung der Herrschaft gebe es eine Abkehr von der Willkür, und eine „Kontrolle der Führungsspitze“ erfolge „über Parteistrukturen und Parteiverfahren und ‚innere Demokratie‘ der Herrschaftspartei“.13 Damit beschreiben die Autoren aber lediglich die Abkehr von den Merkmalen einer personalistisch geprägten ideokratischen Herrschaft unter Stalin hin zu einer stärker regelbasierten ideokratischen Herrschaft in der poststalinistischen Sowjetunion. Eine Betonung der Repressionsperspektive führt also dazu, dass posttotalitäre Regime als grundlegend verschieden von totalitären Regimen eingestuft werden, obgleich sich an der offiziellen ideologischen Herrschaftslegitimation gar nichts Grundlegendes ändert. Die von den Herausgebern vorgeschlagene Alternative ermöglicht eine Unterscheidung zwischen prätotalitären, totalitären und posttotalitären Ideokratien, ohne dass die Regime aus der gemeinsamen Oberkategorie herausfallen. Der hier genutzte Ideokratiebegriff nimmt konsequent den Grad der „Durchherrschung“14 und die Art der Unterdrückung / Repression aus der Definition der Regimegruppe heraus und konzentriert sich unter dem Etikett „Ideokratien“ auf die ideologische Legitimationsperspektive. In Ideokratien rechtfertigen die Machthaber ihre Herrschaft mit Berufung auf ein Exklusivität beanspruchendes Deutungssystem, das auf eine umfassende Umgestaltung der gesamten Gesellschaft zielt.15 Ideokratien unterscheiden sich mit Blick auf den angestrebten Grad der „Durchherrschung“ grundlegend dadurch von allen anderen politischen Regimetypen, dass die Herrschenden eben nicht nur beanspruchen, das 13 Ebd., S. 41 f. 14 Vgl. Jürgen Kocka, Durchherrschte Gesellschaft. In : Hartmut Kaelble / ders./ Hartmut Zwahr ( Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547–553. 15 Vgl. Uwe Backes, Was heißt Totalitarismus ? Zur Herrschaftscharakteristik eines extremen Autokratie - Typs. In : Katarzyna Stoklosa / Andrea Strübind / Gerhard Besier ( Hg.), Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA, Göttingen 2007, S. 609–625; David Beetham, The Legitimation of Power, Basingstoke 1991, S. 181; Peter Bernholz, Ideocracy and Totalitarianism. A Formal Analysis Incorporating Ideology. In : Public Choice, 108 (2001), S. 33–75; Lothar Fritze, Verführung und Anpassung. Zur Logik der Weltanschauungsdiktatur, Berlin 2004; Steffen Kailitz, Varianten der Autokratie im 20. und 21. Jahrhundert. In : Totalitarismus und Demokratie, 6 (2009), S. 209–251; Jaroslaw Piekalkiewicz / Alfred Wayne Penn, Politics of Ideocracy, Albany 1995.

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Uwe Backes / Steffen Kailitz

Recht zur Herrschaft zu besitzen, sondern weit darüber hinaus auf der Grundlage der Herrschaftsideologie alle Aspekte der Gesellschaft zu kontrollieren und ( radikal ) umformen zu dürfen.16 Ob dieses beanspruchte Recht durchgesetzt wird oder nicht, ist zunächst zweitrangig. Bei einem – ausgesprochen unwahrscheinlichen – Erreichen der ideologischen Verheißung wäre im Kern auf der Grundlage einer Gesellschaft, die vollständig aus Gläubigen besteht, auch gar keine Kontrolle oder Umgestaltung mehr nötig.17 Ideokratisch wäre die Gesellschaft aber weiterhin. Die ideologisch - utopische Herrschaftslegitimation macht den Kern des Besonderen der kommunistischen Regime einerseits, des nationalsozialistischen und faschistischen Regimes andererseits aus. Die utopische Ideologie ist mithin das charakteristische Primärmerkmal dieser Autokratieform.18 Ein abnehmender Legitimitätsglaube unter den Herrschenden und Beherrschten ist aber keine plausible Begründung, ein Regime nicht (mehr ) als Ideokratie einzustufen. So käme niemand auf die Idee, eine Monarchie wie z. B. Monaco nicht mehr Monarchie zu nennen, nur weil die meisten Untertanen und auch viele im Kreis um den Herrscher aufgehört haben zu glauben, dass der Monarch tatsächlich von der Natur oder Gott als einzig möglicher Regierender berufen sei.19 Als Subtypen der Ideokratie empfiehlt es sich, zwischen stark regelbasierten Ideokratien wie etwa der DDR und personalistischen Ideokratien wie der nationalsozialistischen Diktatur und dem italienischen Faschismus zu unterscheiden.20 Die Beiträge des Bandes gehen auf die internationale Konferenz „Ideokratien im Vergleich. Wechselverhältnis von Legitimation, Kooptation und Repression 16 Vgl. Arendt, Elemente; Peter Bernholz, Notwendige Bedingungen für Totalitarismus. Höchste Werte, Macht und persönliche Interessen. In : Gerard Radnitzky / Hardy Bouillon ( Hg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, Berlin 1991, S. 241–284; Bernholz, Ideocracy and Totalitarianism; Carl J. Friedrich / Zbigniew Brzezinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy, New York 1956; Juan Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes. In : Fred I. Greenstein / Nelson W. Polsby ( Hg.), Handbook of Political Science, Reading 1975, S. 175–412; Leonard Schapiro, Totalitarianism, New York 1972; Ronald Wintrobe, The Political Economy of Dictatorship, Cambridge 2000; ders., The Tinpot and the Totalitarian. An Economic Theory of Dictatorship. In : American Political Science Review, 84 (1990), S. 849–872. 17 Analog auch Roger Griffin in diesem Band. 18 Vgl. u. a. Martin Drath, Totalitarismus in der Volksdemokratie. In : Ernst Richert ( Hg.), Macht ohne Mandat, Köln 1958, S. 4–34; Werner J. Patzelt, Wirklichkeitskonstruktion im Totalitarismus. Eine ethnomethodologische Weiterführung der Totalitarismuskonzeption von Martin Drath. In : Achim Siegel ( Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998, S. 235–271. Dies bedeutet zugleich, dass aufgrund der fundamentalen Unterschiede der Herrschaftsideologien systematisch zwischen Nationalsozialismus und Faschismus einerseits, den kommunistischen Regimen andererseits unterschieden werden muss. 19 Faktisch sinkt der Glaube an die Herrschaftslegitimation in allen Regimeformen unter den Beherrschten gewöhnlich im Zeitverlauf – wenn auch keineswegs linear. So etwa auch Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, London 1991, S. 48. Obgleich eine große Zahl von Büchern über die Legitimationskrise liberaler Demokratien geschrieben wurde, ist der Prozess in dieser Regimeform wohl am schwächsten ausgeprägt. 20 Vgl. Kailitz, Varianten.

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Einleitung

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in Ideokratien“ zurück, die das Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung im September 2011 in Dresden organisierte. Das Tagungsthema war von der aktuellen politikwissenschaftlichen Diskussion um die Dauerhaftigkeit autokratischer Regime inspiriert.21 In der älteren Debatte um autokratische Regime ging es sehr stark um die Unterdrückung von Opposition. In der neueren Debatte steht weder die Rechtfertigung von Herrschaft, auf die der Ideokratiebegriff fokussiert, noch die Unterdrückung von Opposition im Vordergrund. Vielmehr findet vor allem ein dritter Faktor Berücksichtigung, die in der angelsächsischen Literatur meist als „Cooptation“ bezeichnete Einbindung von Eliten und Bevölkerung in das Regime.22 Alle politischen Regimetypen zeichnen sich durch ein spezifisches Verhältnis von Repression, Kooptation und Legitimation aus. Die Thematik der Konferenz verdankte dem Austausch mit den Berliner Kollegen vom Wissenschaftszentrum Berlin um Wolfgang Merkel viel. Das DFG - Projekt „Critical Junctures and the Survival of Dictatorships. Explaining the Stability of Autocratic Regimes“ geht den Zusammenhängen von Legitimation, Kooptation und Repression systematisch nach und erforscht die Auswirkungen auf die Regimestabilität.23 Auch die Leitbegriffe dieses Bandes sind „Legitimation“, „Kooptation“ und „Repression“. Die Ebene der Legitimation beinhaltet all jene Maßnahmen eines ideokratischen Regimes, die darauf zielen, freiwillige Gefolgschaft oder zumindest Fügsamkeit mithilfe politischer Verheißungen, Versprechungen und konkreter Maßnahmen zu erzeugen. In den Diskussionen der Teilnehmer der Tagung „Ideokratien im Vergleich“ blieb indes ungeklärt, ob Leistungen vor allem im Zuge der Wirtschafts - und Sozialpolitik ( Performanz ) als eine eigenständige Strategie zur Sicherung von Herrschaft aufzufassen sind, ob sie unter Legitimation ( im Sinne der Generierung von Output - Legitimität ) gefasst werden können oder ob sie eher zum Bereich der Kooptation gehören. 21 Aktuelle Forschungsüberblicke bieten : David Art, What Do We Know About Authoritarianism after Ten Years ? In : Comparative Politics, 44 (2012) 3, S. 351–373; Steffen Kailitz / Patrick Köllner, Zur Autokratieforschung der Gegenwart. Klassifikatorische Vorschläge, theoretische Ansätze und analytische Dimensionen. In : Kailitz / Köllner (Hg.), Autokratien im Vergleich, S. 9–34; Patrick Köllner / Steffen Kailitz, Comparing Autocracies. Theoretical Issues and Empirical Analyses. In : Democratization, 20 (2013) 1, S. 1–12; Pepinsky, The Institutional Turn. 22 Vgl. u. a. André Bank, Rents, Cooptation, and Economized Discourse. Three Dimensions of Political Rule in Jordan, Morocco and Syria. In : Journal of Mediterranean Studies, 14 (2004) 1/2, S. 155–180; Jennifer Gandhi / Adam Przeworski, Cooperation, Cooptation, and Rebellion under Dictatorships. In : Economics and Politics, 18 (2006), S. 1–26; Geddes, What Do We Know about Democratization after Twenty Years ?, S. 115–144. 23 Vgl. Johannes Gerschewski / Wolfgang Merkel / Alexander Schmotz / Christoph Stefes / Dag Tanneberg, Warum überleben Diktaturen ?. In : Kailitz / Köllner (Hg.), Autokratien im Vergleich, S. 106–131; Johannes Gerschewski, The Three Pillars of Stability. Legitimation, Repression, and Co - optation in Autocratic Regimes. In : Democratization, 20 (2013) 1, S. 13–38 und der Beitrag von Gerschewski in diesem Band.

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Uwe Backes / Steffen Kailitz

Kooptation erfasst all jene Bemühungen eines politischen Regimes, mit denen Gefolgschaft und Fügsamkeit „erkauft“ werden sollen. Dazu zählt das Eröffnen von Karrierechancen ebenso wie die Gewährung sonstiger materieller und immaterieller Vorteile. In diesem Zusammenhang spielt das Einbinden bestimmter Bevölkerungsgruppen und Elitensegmente eine zentrale Rolle. Salopp gesprochen handelt es sich bei der Integration von Bevölkerung und Eliten (Kooptation ) um das sprichwörtliche „Zuckerbrot“, das all jenen gereicht wird, die dem offiziellen Weg folgen oder ihn zumindest nicht zu blockieren suchen. Die dazu gehörige „Peitsche“ betrifft das Instrumentarium politischer Repression, also all jene Maßnahmen, die der Erzwingung von Gefolgschaft und Fügsamkeit dienen. Die Skala reicht von Massenterror und harten Eingriffen wie Lagerhaft und Folter bis zu den weichen Mitteln sozialer Kontrolle und Disziplinierung wie dem Verschließen von Berufswegen und der präventiven Überwachung. Im Unterschied zum theoretischen Modell der Berliner Kollegen wird in dem hier vorgestellten Modell nicht von drei gleichgewichtigen Herrschaftssäulen – Legitimation, Kooptation und Repression – ausgegangen. Es beruht vielmehr auf der Annahme, dass Legitimation, Kooptation und Repression Instrumente im Werkzeugkasten der Autokraten sind. Diese Instrumente werden gewöhnlich in einer bestimmten Reihenfolge und mit unterschiedlicher Reichweite eingesetzt. Jedes Regime möchte demnach am liebsten, dass alle Bürger durch jede wirtschaftliche Schwächeperiode hindurch an die normative Überlegenheit des politischen Regimes gegenüber allen denkbaren Alternativen glauben. Kooptation und auch Performanz sind Mittel zweiter Wahl, um ergänzend zur Legitimation bei jenen die Unterstützung oder zumindest Tolerierung des Regimes zu sichern, die nicht ohnehin aufgrund ihres Legitimitätsglaubens durch jeden Sturm hindurch bereit sind, das Regime zu unterstützen und illoyale Verhaltensweisen zu vermeiden. Repression ist nach dieser Logik das letzte Mittel, wenn der Bürger weder an die Herrschaftslegitimation glaubt, noch sich auf den Tausch materieller und immaterieller Ressourcenversorgung zureichend einlässt. Die angedrohte Repression im Falle des Ausscherens ist dabei in der Regel durchaus weit über den Kreis der tatsächlich Oppositionellen hinaus von Bedeutung.24 Sie betrifft auch potentielle Abweichler, doch ist der Kreis der von Repression Betroffenen gewöhnlich weit kleiner als der Kreis derer, auf die Kooptation und Performanz zielen. Der „Große Terror“25 in der Sowjetunion unter Stalin ist eben gerade kein typischer Fall autokratischer Herrschaftspraxis, sondern sticht durch das entgrenzte Ausmaß der Unterdrückung hervor.26 Mit Blick auf Ideokratien fällt allerdings ins Auge, dass der in der gegenwärtigen Regimeforschung vorherrschende Begriff der staatlichen Repression nicht

24 Zitate : Arendt, Elemente, S. 708. 25 Vgl. Robert Conquest, The Great Terror. Stalin’s Purge of the Thirties, New York 1968; ders., The Great Terror. A Reassessment, Oxford 1990. 26 Vgl. die Beiträge von Luks und Maćków in diesem Band.

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Einleitung

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alle Formen der Unterdrückung umfasst. Systematische Gewaltanwendung wird in Ideokratien nämlich auch gegen Individuen angewendet, die kein illoyales Verhalten zeigen, aber einer aus der Perspektive der Systemideologie „schädlichen“ sozialen Gruppe angehören. So hatte der Genozid an den Juden keine herrschaftsstabilisierende Funktion, sondern war das äußerste Mittel im ideologisch definierten „Rassenkampf“. Zusammenfassend gesagt zielt Legitimation also auf die Erzeugung bedingungsloser – oder in David Eastons Worten „diffuser“ – Unterstützung des Regimes, Kooptation und Performanz dagegen dienen der Erzeugung bedingter – oder in David Eastons Worten „spezifischer“ – Unterstützung.27 Repression kann weder spezifische noch diffuse Unterstützung erzeugen, sondern bezweckt die Unterdrückung von Opposition. Besonders die Ebene der Einbindung der politisch Indifferenten und Ambivalenten in Ideokratien wurde lange Zeit vernachlässigt. Mit guten Gründen lässt sich argumentieren, dass der Begriff „Kooptation“ in der deutschen Sprache nicht besonders gut geeignet ist, um das Gemeinte zu bezeichnen. Im engeren Sinn bedeutet Kooptation im Deutschen nämlich nur die Zuwahl in eine Organisation durch deren Mitglieder.28 Im Anschluss an die englischsprachige internationale Forschung gebrauchen deutsche Sozialwissenschaftler in jüngster Zeit dennoch zunehmend einen Kooptationsbegriff mit sehr viel breiterem Begriffsinhalt.29 Dabei übertrugen die Autoren schlicht die Bedeutung des englischen „cooptation“, konkret den Aspekt der Einbindung von Individuen oder Gruppen in eine bestehende Organisation, auf das aus dem Lateinischen stammende deutsche Lehnwort „Kooptation“. Letztlich ist es ein Streit um des Kaisers Bart, ob wir das Gemeinte in der deutschen Sprache künftig als Kooptation bezeichnen oder ob wir besser von Einbindung oder Integration sprechen. Der Begriff ist nur die Hülle für das Gemeinte; entscheidend bleibt, ob das Bezeichnete in Autokratien ein wichtiges Phänomen ist. Während es bei der Tagung einen deutlichen Dissens in der Benennungsfrage gab, gingen die Meinungen bei der Frage der Bedeutung des Bezeichneten kaum auseinander. Im Zuge der Vorbereitung der Konferenz erhielten die Teilnehmer folgende Hypothesen über mögliche Zusammenhänge zwischen Legitimation, Kooptation und Repression mit der Bitte um eingehende Erörterung : 27 Vgl. David Easton, A Re - Assessment of the Concept of Political Support. In : British Journal of Political Science, 5 (1975) 4, S. 435–457; ders., Theoretical Approaches to Political Support. In : Canadian Journal of Political Science, 9 (1976) 3, S. 431–448. 28 In diesem Sinne nutzte etwa Karl Loewenstein den Kooptationsbegriff als Analyserahmen. Vgl. Karl Loewenstein, Kooptation und Zuwahl. Über die autonome Bildung privilegierter Gruppen, Frankfurt a. M. 1973. 29 Vgl. statt vieler André Bank, Die Renaissance des Autoritarismus. Erkenntnisse und Grenzen neuerer Beiträge der Comparative Politics und Nahostforschung. In : Hamburg Review of Social Sciences, 4 (2009), S. 10–41, hier 14; Martin Brusis, Staat und Wirtschaftsakteure in postsowjetischen elektoralen Autokratien. In : Kailitz / Köllner, Autokratien im Vergleich; Christoph H. Stefes, Autoritäre Parteien und Kooptation im Kaukasus und auf dem Balkan. In : Berliner Debatte Initial, 21 (2010) 3, S. 100–112.

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Uwe Backes / Steffen Kailitz

1. So lange Bürger und Eliten in Ideokratien an die ideologischen Verheißungen glauben, sind sie bereit, Entbehrungen hinzunehmen. Die Erzeugung von ideologiebasierter normativer Legitimität verhindert oder verzögert zumindest „Performanzdilemmata“ ( Samuel P. Huntington ).30 2. Eine Nichterfüllung großer ideologischer Verheißungen ( Parusieverzögerung) und ein daraus resultierendes Sinken des Glaubens an die ideokratischen Verheißungen in Bevölkerung und Elite erfordern verstärkte Kooptations - und Performanzbemühungen, um die Ideokratie zu stabilisieren. 3. Wenn die Ideokratie Schwierigkeiten hat, in ausreichendem Maße über ideologiebasierte Legitimation Legitimitätsglauben zu schaffen, und es ihr nicht gelingt, über Kooptation zumindest Loyalität zu erzeugen, dann kann sie nur noch zur harten Repression greifen, um die Ideokratie zu stabilisieren. So lange eine Ideokratie konsequent Opposition unterdrückt, kann sie aber selbst ohne Legitimität und verbreitete Loyalität überleben.31 4. Der Rückgang harter, offener Repression muss umgekehrt mit verstärkten Bemühungen zur Kooptation von strategisch wichtigen, ambivalenten oder ( potentiell ) oppositionellen Akteuren einhergehen, um die Ideokratie zu stabilisieren. 5. Schwindender Glaube an die Ideologie lässt sich ( weitgehend ) durch Loyalität auf der Basis von Kooptation und Output - Legitimität ausgleichen. Diese Hypothesen bilden über die Ideokratieproblematik hinaus inhaltliche Klammern, welche die Beiträge des Bandes zusammenhalten. Darüber hinaus vereinen sie historische, philosophische und politikwissenschaftliche Perspektiven, um die Wechselbeziehungen von Legitimation, Kooptation und Repression in Ideokratien auszuloten. Der erste Teil des Bandes umfasst Beiträge zur Begriffsgeschichte und zur Konzeptionalisierung des Ideokratiebegriffs. Im zweiten Teil finden sich Fallstudien zum Dritten Reich, zur Sowjetunion, zur DDR, zu Nordkorea, zur Volksrepublik China und zu Kuba, die jeweils auf Legitimation, Kooptation und Repression sowie deren Wechselverhältnis eingehen. Die Beiträge des dritten Teils untersuchen diese Aspekte systematisch in fallübergreifender vergleichender Perspektive. Dank gilt allen Autoren und Mitarbeitern des Hannah - Arendt - Instituts nebst einer stattlichen Zahl studentischer Hilfskräfte und Praktikanten ( namentlich erwähnt seien nur Christin Diana Becker, Till Gierlich und Theresia Mocker ), ohne deren tätige Unterstützung dieser Band nicht zustande gekommen wäre.

30 So die Hypothese von Huntington, Third Wave, S. 48. 31 Vgl. Ted Robert Gurr, Why Men Rebel, Princeton 1970, S. 233.

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I. Begriffsgeschichte und Konzeptualisierung

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„Ideokratie“ – eine begriffsgeschichtliche Skizze Uwe Backes

I.

Einleitung

Wer sich um eine wort - und begriffsgeschichtliche Erhellung der im Umfeld geistes - und humanwissenschaftlicher Debatten über „Totalitarismus“ und „politische Religionen“ häufig anzutreffenden „Ideokratie“ - Vokabel bemüht, wird rasch feststellen, wie viele Autoren auf sie ohne nähere Kenntnisse ihrer Herkunft und mannigfaltigen Verwendungsweisen zurückgreifen. Eine detaillierte Abhandlung dazu fehlt bislang, und auch die besten Kompositionen des aktuellen Wissensstandes1 zeigen bei näherer Prüfung große Lücken, sind ungenau und enthalten Annahmen und Feststellungen, die sich als fehlerhaft erweisen. Jaroslaw Piekalkiewicz und Alfred Wayne Penn, die mit ihrer Monographie aus dem Jahr 1995 erheblich zur Verbreitung des Ideokratiebegriffs in der angelsächsischen Welt beitrugen, haben sich mit der Wort - und Begriffsgeschichte des von ihnen favorisierten Terminus offenkundig wenig beschäftigt. Sie hielten den konservativen russischen Philosophen und Kommunismuskritiker Nikolaj Berdjaev für den Urheber des Begriffs,2 bezogen sich auf die englische Ausgabe seines Werkes „Die russische Idee“ aus dem Jahr 1947, erwähnten aber – dazu im Widerspruch – zugleich die englischen Sozialisten und Sozialwissenschaftler Beatrice und Sidney Webb, die in ihrem Buch über den Sowjetkommunismus Mitte der 1930er Jahre den Begriff „ideocracy“3 als eine Staatsformenbezeich1

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Vgl. zuletzt Manuel Becker, Die Ideokratie als Herrschaftsform – Potentiale eines vergessenen Begriffs in der aktuellen Autokratieforschung. In : Zeitschrift für Politik, 58 (2011), S. 148–169. Der Verfasser nimmt sich von dieser Kritik selbst nicht aus. Siehe nur die knappen Angaben in : Uwe Backes, Was heißt Totalitarismus ? Zur Herrschaftscharakteristik eines extremen Autokratie - Typs. In : Katarzyna Stokłosa / Andrea Strübind ( Hg.), Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA. Festschrift für Gerhard Besier zum 60. Geburtstag, Göttingen 2007, S. 609–625. Vgl. Jaroslaw Piekalkiewicz / Alfred Wayne Penn, Politics of Ideocracy, Albany 1995, S. 20. Die konzeptionelle Grundlage für den Band hatte Jaroslaw Piekalkiewicz viele Jahre zuvor in einem Beitrag zur Entwicklung des politischen Systems der Volksrepublik Polen gelegt : ders., Polish Politics since the 1960’s. In : George W. Simmonds ( Hg.), Nationalism in the USSR and Eastern Europe in the Era of Breshnev and Kosygin, Detroit 1977, S. 364–373. Sidney Webb / Beatrice Webb, Soviet Communism : A New Civilisation ?, Band I, London 1935, S. 450.

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nung neben anderen ins Spiel brachten, ohne ihn jedoch auf die – von ihnen mit einiger Sympathie beschriebene – Herrschaft der Bolschewiki anzuwenden. Zudem verwiesen Piekalkiewicz und Penn auf Waldemar Gurians bekannten Vortrag über „Totalitarianism as Political Religion“ aus dem Jahr 1953. In der Tat war der Begriff in der Kommunismusliteratur der Zwischenkriegszeit verbreitet. Aber seine Ursprünge führen viel weiter zurück : in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, eine Epoche, die von den tektonischen Verschiebungen der politischen Morphologie Europas infolge der Französischen Revolution geprägt war und in welcher der revolutionäre Sozialismus als intellektuelle Strömung internationale Bedeutung zu erlangen begann. Die begriffliche „Vorgeschichte“ der „Ideokratie“ im 19. Jahrhundert, die im ersten Abschnitt dieses Beitrags nachgezeichnet wird, ist für das Verständnis des Totalitarismus im 20. Jahrhundert von einiger Bedeutung, beinhaltet sie doch die Auseinandersetzung mit „totalitären“ Ideologien und Bewegungen avant la lettre. Ohne Wissen um die eminente Rolle, die von ihnen ausgehende Regimebildungen im 20. Jahrhundert spielen sollten, stellten die Autoren historische Bezüge her, unternahmen Vergleiche mit mehr oder weniger kurzlebigen Herrschaftsformen der Vergangenheit und erkundeten geistige Dispositionen, die ihre Machtübernahme begünstigten. Die bei den Klassikern der Totalitarismusforschung vorherrschende Überzeugung von der Neuartigkeit der totalitären Regime wird auf diese Weise stark relativiert.4 Im 20. Jahrhundert reißt die Rezeption der ( überwiegend ) konservativen / liberalen Staatslehre eine Zeit lang ab. Wie im zweiten Abschnitt gezeigt wird, war die Ideokratiediskussion von den frühen 1920er Jahren an stark vom programmatischen Ideokratiebegriff einer russischen Exilströmung, der Eurasier, geprägt, der anscheinend unabhängig von der Begriffsbildung der deutschen Staatslehrtradition entstand. Allerdings ist der „eurasische“ Terminus schon bald zu einer analytischen Kategorie „umgeschmiedet“ worden und hat so Eingang vor allem in die internationale Kommunismus - und Totalitarismusforschung gefunden. Der dritte Abschnitt zeichnet die Verflechtungen von Ideokratie - , Totalitarismus - und Politischer - Religionen - Debatte für ihre Frühphase nach. Der sich verbreitende Rezeptionsfluss seit Mitte der 1950er Jahre wird nur mit wenigen Strichen skizziert. Eine detaillierte Auseinandersetzung hätte den Rahmen des Beitrags gesprengt. Seine Befunde werden abschließend im vierten Abschnitt zusammengetragen. Dies geschieht auch in der Hoffnung, dass sie zur Schärfung der analytischen Potenzen des Ideokratiebegriffs beizutragen vermögen.

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Vgl. Uwe Backes, Totalitarismus.Ein Phänomen des 20. Jahrhunderts ? In : Eckhard Jesse ( Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2. Auflage Baden - Baden 1999, S. 341–353.

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„Ideokratie“ – eine begriffsgeschichtliche Skizze

II.

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Begriffsprägung und - verbreitung in der konservativen und liberalen Staatslehre des 19. Jahrhunderts

Das Wort „Ideokratie“ ist nicht als Selbstbezeichnung einer Bewegung oder eines Regimes entstanden, sondern als normativ aufgeladene analytische Kategorie im Rahmen der Staatsformenlehre, die nicht zuletzt aufgrund einer oft turbulenten Verfassungsentwicklung im 19. Jahrhundert en vogue war. Der Begriff transportierte die konservative und liberale Skepsis gegenüber großangelegten Staatsentwürfen und gleichsam auf dem Reißbrett entworfenen „Ideologien“, deren Realitätsferne als Bedrohung für das historisch Gewachsene und Bewährte wahrgenommen wurde.5 Mit ihren abstrakten Prinzipien schienen sie sich über wesentliche „Naturtatsachen“ hinwegzusetzen, Luftschlösser zu entwerfen und die Menschen nicht zu den verheißenen Höhen zu führen, sondern im Gegenteil : in tiefstes Unglück zu stürzen. Es war ein konservativer Historiker, Heinrich Leo, der die Bezeichnung „Ideokratie“ 1833 für solche Staaten einführte, in denen ein „Fanatismus“6 herrsche. Leo gehörte zu jenen Intellektuellen seiner Generation, die den Weg von der äußersten Linken zur Rechten gingen. Der Student hatte als Mitglied der „Unbedingten“ am radikal - aktivistischen Flügel der Burschenschaft begonnen und sich nach zeitweiliger Annäherung an Hegel ( dessen Fürsprache er seinen Lehrstuhl in Halle verdankte ) auch unter dem Einfluss Ernst Ludwig von Gerlachs zum strenggläubigen Pietisten und Konservativen gewandelt,7 der den „künstlichen“ Theorien der Aufklärung die allein „naturgemäßen und gottgefälligen“ Formen der christlich - abendländischen Tradition entgegensetzte. Die Staatslehre Leos lehnte sich kritisch an die Werke des Berner Patriziers Carl Ludwig von Haller an, dessen „Restauration der Staatswissenschaft“ aus der „Opposition gegen die von Frankreich ausgehenden ideokratischen Lehren“8 erwachsen war und der Epoche ihren Namen geben sollte. Leo schätzte besonders Hallers frühes „Handbuch der allgemeinen Staatenkunde“ und übte Kritik an der später erschienenen „Restauration“ mit ihren verschwörungstheoretischen Verstiegenheiten, die er auf die klerikalen Kampfschriften des konserva5 6 7

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Vgl. Ulrich Dierse, Ideologie. In : Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch - sozialen Sprache in Deutschland, Band 3, Stuttgart 1982, S. 131–169, hier 143. Vgl. Heinrich Leo, Studien und Skizzen zu einer Naturlehre des Staates, Halle 1833, S. 172. Vgl. Carolyn Rebecca Henderson, Heinrich Leo. A Study in German Conservatism, Ph.D., The University of Wisconsin - Madison, 1977, S. 73–106; Paul Krägelin, Heinrich Leo. Teil I : Sein Leben und die Entwickelung seiner religiösen, politischen und historischen Anschauungen bis zur Höhe seines Mannesalters (1799–1844), Leipzig 1908, S. 68–122; Hans - Christoph Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen, Erster Teilband, Göttingen 1994, S. 138 f.; Christoph Freiherr von Maltzahn, Heinrich Leo (1799–1878). Ein politisches Gelehrtenleben zwischen romantischem Konservatismus und Realpolitik, Göttingen 1979, S. 65–68. Leo, Studien und Skizzen, S. 45.

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tiven Jesuiten ( Abbé ) Augustin Barruel über den Jakobinismus und den radikalegalitären Illuminatenorden ( des Kirchenrechtlers Adam Weishaupt in Ingolstadt ) zurückführte. Zudem lehnte er Hallers implizite Gleichsetzung von historisch gewachsenem Sein und politischem Sollen entschieden ab.9 Dennoch griff sein Ideokratiekonzept wesentliche Elemente von Hallers „Priesterstaaten“ auf, wie sie im „Handbuch“ entworfen und in der „Restauration“ breiter beschrieben worden waren.10 Haller hatte kategorisch zwischen „Monarchien“ und „Republiken“ unterschieden und die Monarchien wiederum – nach den Prinzipien / Kräften, die der „Oberherrschaft“ zugrunde lägen – in „patriarchalische“ („Ueberlegenheit an Eigenthum oder äußern Glüksgütern“), „militärische“ ( Überlegenheit an „Tapferkeit oder Geschiklichkeit“) und „geistliche“ ( Überlegenheit an „Geist oder Wissenschaft“11) eingeteilt. Die „geistlichen Herrschaften“ oder „Priesterstaaten“ beruhten auf „überlegener Weisheit, auf höherer Geisteskraft“ und entsprächen einem „Bedürfnis der meisten Menschen, wenigstens in den wichtigsten Dingen unterrichtet“ und „geleitet“12 zu werden. Von Dauer seien allerdings nur jene Formen geistlicher Herrschaft, die auf einem „wahren“ Glauben und dem „Gehorsam gegen Gott“ beruhten, also eine „Theokratie“13 begründeten. Davon unterscheiden müsse man die – meist kurzlebige – „Herrschaft des Irrtums“ in der Gestalt religiöser oder antireligiöser Irrlehren, wie sie diverse „Sekten“ verföchten. Gelangten sie – wie während der Französischen Revolution – an die Macht, entstehe eine „Satanokratie, eine Herrschaft des Teufels, ein Reich der Hölle“.14 Der Schwerpunkt seiner Darstellung liegt auf den „rechtmäßigen“ geistlichen Herrschaften, den mosaischen wie den aus ihr hervorgehenden christlich - katholischen Staatsbildungen mit ihren diversen „weltlichen“ Verbindungen. Sie ist aber von kritisch - polemischer Abgrenzung gegenüber religiösen Irrwegen (sowohl dem „Mahometanismus“ als auch der protestantischen Kirche ) wie noch „verwerflicheren“ antireligiösen „Orden“ und „Sekten“ durchzogen. Alle geistlichen Herrschaften haben etwas gemeinsam : Ihre Existenz hängt davon ab, wie erfolgreich die „Einheit der Lehre“ erhalten und das Auftreten von „Sek-

9 Vgl. ebd., S. 46 f. 10 Vgl. Carl Ludwig von Haller, Handbuch der allgemeinen Staatenkunde, Winterthur 1808, S. 159–202 („Von den unabhängigen geistlichen Herren oder den Priesterstaaten [ Theokratien ]“). Siehe zur Bedeutung von Hallers Staatslehre nur : Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Band : Staatslehre und Verwaltungswissenschaft, 1800–1914, München 1992, S. 144 f. 11 Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissenschaft oder Theorie des natürlich- geselligen Zustands, der Chimäre des künstlich - bürgerlichen entgegengesetzt, Band 4 : Makrobiotik der Patrimonialstaaten. 3. Hauptstück : Von den unabhängigen geistlichen Herren oder den Priesterstaaten, Neudruck der 2. Auflage Winterthur 1822, Aalen 1964, S. 2. 12 Ebd., S. 3. 13 Ebd., S. 16. 14 Ebd., S. 18.

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„Ideokratie“ – eine begriffsgeschichtliche Skizze

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ten und Glaubensspaltungen“15 verhindert wird. Daher sei es unerlässlich, „1) Der Entstehung einer neuen Lehre möglichst zuvorzukommen. 2) Wenn sie entstanden ist, ihre Verbreitung zu erschweren. 3) Sie zu bestreiten und 4) ihre Befestigung und Fortpflanzung durch eine äußere Gesellschaft zu hindern.“16 Dabei sei größte Entschlossenheit vonnöten, denn die „Sekten“ selbst ( besonders die „französischen Philosophen“ und „deutschen Illuminaten“) ihrerseits unternähmen alles in ihrer Macht Stehende, um : „alle Schriften ihrer Gegner zu unterdrücken, mittelst ihres Einflußes auf mitverschworne Buchhandlungen oder auf die Regierungen selbst, nirgends ankünden, nirgends zu Verkauf anbieten, und durch die unter ihrer Gewalt stehenden Recensirungs Institute planmäßig verschreyen zu lassen. Sobald auch diese Herren irgendwo zur höchsten Gewalt gelanget waren, so sind sie, der gepriesenen und zum Fundamentalgesetz erhobenen Preßfreyheit ungeachtet, gegen alle Schriftsteller, die ihrer Sekte entgegen arbeiteten, mit Deportationen, Einkerkerungen und Hinrichtungen zu Werk gegangen, ja sie haben sogar die unschuldigen Druckerpressen und die todten Schriftzeichen vernichten lassen.“17

Diese Art von „Fanatismus“ und Bilderstürmerei bildet auch den semantischen Kern jener Art von Staaten, die Leo mit dem „schiefen Namen Ideokratie“18 bezeichnet hat – „schief“, weil die Bedeutung der ersten Silbe nicht der griechischen, sondern der französischen Sprache entnommen sei. „Ideokratien“ sind „geistliche“ Staaten ( im Sinne Hallers ), die sich über alles historisch Gewachsene und „natürlich“ Gegebene vollkommen hinwegsetzen und eine Idee zur Grundlage der Herrschaft machen, die „nicht unmittelbar mit einem von der Natur gegebenen Bedürfnis zusammenhängt“, aber mit solcher Rigorosität für richtig und unbedingt beachtenswert gehalten wird, „dass sie andere, die sich gegen diese Ansicht gleichgültig verhalten oder gar ihrer Geltendmachung Hindernisse entgegensetzen, für des Lebens gar nicht würdig“ erachten, „ihre Ausrottung oder Unterdrückung für ein löbliches Werk halten“. Das „Characteristische des Fanatismus“ besteht eben darin, dass „das ganze Leben, alle seine Forderungen, Bedürfnisse und Einrichtungen durch denselben Einer dominirenden Ansicht zum Opfer gebracht wird. Einseitigkeit, Consequenz in der Ableitung der Folgerungen aus dem Hauptsatz und Härte, Rücksichtslosigkeit bei der Durchführung dieser Consequenzen im Leben, dies sind allezeit die Attribute eines fanatischen Zustandes.“19 Die Ideokratie ist nirgends „naturwüchsig“20 ( eine Wortschöpfung Leos21), zählt mithin nicht zu den „organischen“, sondern – wie die Priesterherrschaft 15 Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissenschaft, Band 5 : Makrobiotik der geistlichen Herrschaften oder Priesterstaaten, Neudruck der 2. Auflage Winterthur 1834, Aalen 1964, S. 32. 16 Ebd., S. 58. 17 Ebd., S. 75. 18 Leo, Studien und Skizzen, S. 12. 19 Ebd., S. 171. 20 Ebd., S. 1. 21 Vgl. Hans - Joachim Schoeps, Das andere Preußen. Konservative Gestalten und Probleme im Zeitalter Friedrich Wilhelms IV., 3. Auflage Berlin ( West ) 1964, S. 180.

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– zu den „mechanischen“ Staatsbildungen. Sie entstehen in der Regel aus einer Zwangslage, in der die Menschen nicht anders zu handeln können glauben, als „Regeln für gesellschaftliche Verhältnisse ohne Rücksicht auf Hergebrachtes aufzustellen, und diese mit äußeren Mitteln zu den allein geltenden, zum Staate, zu machen.“22 Die Ideokratie ist nirgends, wo sie auftritt, von sehr langer Dauer – sofern sie sich nicht vor ihrem Untergang wandelt, ihr Hang zum Fanatismus und zum „Hinarbeiten in der Verfassung auf eine abstracte Spitze“23 nicht gebrochen wird und „die natürlichen Bedürfnisse, Rücksichten und Elemente des Lebens“24 wieder Oberhand gewinnen. Ein frühes Beispiel dafür sieht Leo in der Transformation des altisraelitischen Königtums in eine Priesterherrschaft, die sich von älteren Formen der Theokratie – wie in Altägypten und dem nubischen Reich Meroe – durch den abstrakten Charakter ihrer Gottesidee und der daraus abgeleiteten radikalen Konsequenzen ( etwa bei der Neuverteilung von Grund und Boden ) unterscheidet : „Als im jüdischen Reiche die Macht der grossen Grundbesitzer und Hofleute alles in Verwirrung gesetzt hatte, wurde von der Priesterschaft des Tempels zu Jerusalem aus vorhandenen Elementen der mosaischen Gesetzgebung eine Ideokratie ausgebildet und nach dem Exil weiter ausgebaut, welche als Grundlage im Gegensatz eben der Macht jener reichen Grundherren und des Hofes den Gedanken enthielt, dass Gott, also dessen Repräsentant, der Tempel, Herr des Volkes und alles Landes sei. Die Benutzung der Person und des Grundes und Bodens ward zu einem Niessbrauch limitirt; Ruhezeiten und der Zehnte wurden als Urkunden dieser Tempellehnbarkeit eingeführt, so wie aus diesem Grunde und zugleich, um die Anhäufung des Grundes und Bodens in wenigen Händen zu verhindern, die Rückfall - oder Jobeljahre.“25

Den historischen Vorgang der Transformation des jüdischen Königtums zu einer spezifischen Form der Priesterherrschaft in den Jahren vor dem ( babylonischen) Exil und danach hat Leo in seinen „Vorlesungen über die Geschichte des jüdischen Staates“ (1828) detailliert beschrieben, aber noch nicht als „Ideokratie“, sondern als Folge einer künstlich geschaffenen „Hierarchie“ gedeutet.26 Aber auch hier bildet bereits die historisch wurzellose Abstraktheit des ( theologischen) Staatsgedankens das zentrale Kriterium, das zum einen die Abgrenzung gegenüber „naturwüchsigen“ Formen der Priesterherrschaft und zum anderen die Analogie zu neueren Formen abstrakt - rationalistischer Staatsauffassung begründet. Während der Tugendherrschaft Robespierres führt die aus einem abstrakten Staatsgedanken abgeleitete „fanatische Consequenz“27 auf die Guillotine, bei den Hohepriestern der Israeliten wurde „die Entheiligung des Sabbaths und das Essen des Opferfettes mit dem Tode“28 bestraft. Auch zeigte 22 23 24 25 26

Leo, Studien und Skizzen, S. 3. Ebd., S. 176. Ebd., S. 172. Ebd., S. 13. Vgl. Heinrich Leo, Vorlesungen über die Geschichte des Jüdischen Staates, gehalten an der Universität zu Berlin, Berlin 1828, S. 57–60, 86 f. 27 Ebd., S. 57. 28 Ebd., S. 58.

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bereits die israelitische Ideokratie die in den neuzeitlichen Fällen zu beobachtende Tendenz zur Radikalisierung, wobei die „Schärfe“ und „Einseitigkeit der Ansicht“ weiter zunimmt und schließlich „auf einen Punct“ treibt, „wo sie in ihr Gegentheil umschlägt“. Dies kann für die „jüdische Verfassung nach der ersten Unterdrückung durch die Römer“ gezeigt werden, wo „der dominirende politische Gedanke der politischen Einheit des von Gott auserwählten Volkes“ dazu führt, „dass immer wenigere sich als die ächten Repräsentanten dieses Einen Volkes ansehen konnten, dass ein Theil desselben nach dem andern als unrein und unwürdig ausgestossen oder gleichgültig abgetrennt wurde, bis zuletzt der kleine fanatisch übrig bleibende Rest in Jerusalem und Masada von den Römern im eigentlichsten Sinne ausgerottet wurde, oder sich selbst ausrottete.“29 Die unterscheidenden Merkmale der Ideokratie werden noch deutlicher, wenn man das weitere historische Material betrachtet, auch wenn Leo diese Fälle weit weniger ausführlich beschreibt als die Entstehung der altisraelitischen Priesterherrschaft. Im Altertum trägt der Staat Lykurgs in Sparta ideokratische Züge. Der große Gesetzgeber zieht aus der von Horaz beschriebenen Dürftigkeit der Einrichtungen des Stadtstaates eine radikale Konsequenz : „Von allen Seiten von Feinden umgeben, in sich durch rohe Kraft zerrissen, kann den Spartiaten Rettung nur dadurch kommen, dass die rohe Kraft erzogen und in geistige Fesseln gelegt, und dass dem Einzelnen die Pflicht, für alle zu leben und zu sterben, zu der heiligsten und unverbrüchlichsten gemacht wird. Nur durch die entschiedenste Energie konnte der kleine Dorerhaufe in Sparta sich als Herr behaupten“.30 Dazu gehört auch, dass die Gemeinschaft den Einzelnen umfassend in Anspruch nimmt, ja nicht einmal vor seiner Intimsphäre Halt macht. So ist Sparta ein Beispiel für streng reglementierte Eheschließungen nach politischer Zweckmäßigkeit, die „fast kein Hauswesen“ begründen und wo „die Frau bei ihren Eltern blieb und heimlich besucht werden musste.“31 Die Beispiele des Altertums können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ideokratie erst in der Neuzeit häufiger in Erscheinung tritt. Seit „dem Staate Savanarola’s [ !] und seit dem der münsterischen Schwärmer in der Reformationszeit“ habe es „fast unzählige“32 Beispiele gegeben. Leo nennt von diesen aber nur die Quäker beiläufig, weil sie sich wie die „St. Simonisten“ jeder Heeresbildung verweigerten und daher im Konfliktfall dem Untergang geweiht seien, sofern sie nicht „von einem kriegerischen Volke geschützt“33 würden. Ausführlicher behandelt Leo nur den Staat Robespierres, der auf die „Spitze“ trieb, was in der Revolution von Anbeginn vorgebildet war. Mit der „Annahme gewisser unveräußerlicher Rechte des Menschen“ war die Feststellung der „Unheilbarkeit“ des Bestehenden eng verbunden. Daher entbrannte ein „fanatischer 29 30 31 32 33

Ebd., S. 173. Leo, Studien und Skizzen, S. 14. Ebd., S. 73. Ebd., S. 14. Ebd., S. 150.

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Kampf“,34 der auch durch das partielle Einlenken des Königs nicht mehr in friedliche Bahnen überführt werden konnte, denn die propagierten Ideen wurden inzwischen „von dem eifrigsten Theile der revolutionären Partei“ in einer noch „abstracteren Weise“35 vorgetragen, so dass der Weg über Kompromisse und graduelle Verbesserungen versperrt war : „Die neue, abstractere Ansicht schuf sich ein Organ an dem Jacobinerbund, und entwickelte nun einen solchen Einfluss, dass das Königtum und Alles, was irgend als Modification der Gleichheit erscheinen konnte, vor ihr zu Boden sanken. Die Vertheidiger des vorher herrschenden, noch nicht so abstracten Zustandes, wurden eben so, wie die Vertheidiger des ganz alten Zustandes, mit Feuer und Schwert verfolgt.“36 Eine Grundidee der Jakobinerherrschaft bestand in der Forderung nach „Aufopferung aller Einzelrücksichten“, und die Fähigkeit zu dieser Aufopferung wurde „die Tugend“37 genannt. Das „Sichfügen in den alten Zustand heißt dann Sünde, Feigheit, Servilismus, und die ihm Anhängenden gelten nicht mehr als würdig, vom Erdboden getragen zu werden; das Sich auflehnen [ !] gegen den alten Zustand wird religiöse und Ehrenpflicht.“38 Auch wenn der „Kriegszustand“ aufhört, behält der Staat das Recht, „zur Insurrection aufzubieten jeden, den die Idee zu ihrer weiteren Vertheidigung bedarf, und dieses darf sich gar nicht gegen dies Aufgebot wehren, weil sich bei einer Ideokratie alles auf die schroffste Spitze stellt, und ein Mensch entweder den Bedürfnissen der siegenden oder siegenwollenden Idee leben muss oder nicht mehr würdig ist, Bürger, ja, unter Umständen nicht einmal Mensch zu sein.“39 Nachdem am Ende des Radikalisierungsprozesses Robespierre als das einzige Organ des einheitlichen Mehrheitswillens erschienen und „alle freie Discussion“ verstummt war, sahen sich diejenigen in ihrer nackten Existenz gefährdet, die „an Energie Robespierre am nächsten kamen“, aber „nun fürchteten, nicht mehr als Vertueux zu gelten“. Dies hatte den Sturz des „Unbestechlichen“ und sein Ende auf der Guillotine zur Folge : „So hatte die erste dialectische Reihe der französischen Staatsformen in der Revolution gerade zu dem Entgegengesetzten von dem geführt, was man gewollt hatte, statt der Herrschaft menschlich wohlwollender, Freiheit gewährender Theorie hatte man Tyrannei der physischen Kraft gewonnen gehabt.“40 Seither waren fast vierzig Jahre vergangen, aber die Ideokratie schien in Frankreich bereits wieder einen neuen Anlauf zu nehmen. Ihre Grundidee sei die „ungehemmte Entwickelung“, eine „Religion du progrès“, die eine ähnliche Abfolge sich überschlagender Stadien zur Folge haben würde, sofern es ihr gelänge, „je irgend wo zu unabhängiger Existenz zu gedeihen“. Gemeint war der 34 35 36 37 38 39 40

Ebd., S. 173. Ebd., S. 174. Ebd., S. 174 f. Ebd., S. 14. Ebd., S. 150. Ebd., S. 151. Ebd., S. 176.

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„nouveau Christianisme des Hrn. von St. Simon“,41 wie er im „Organisateur“ vom 14. März 1830 propagiert worden sei. Doch schon wegen dessen pazifistischer Orientierung maß Leo dieser Form des christlich inspirierten utopischen Sozialismus nur geringe Entfaltungschancen bei.42 Leos neuer Staatsformbegriff fand schon im 19. Jahrhundert in der deutschen politischen, philosophischen, theologischen und staatsrechtlichen Literatur weite Verbreitung. Der Leipziger Philosoph und Liberale Wilhelm Traugott Krug nahm den Eintrag „Ideokratie oder Ideokratismus“ bereits ein Jahr nach dem Erscheinen von Leos Werk in das Supplement der 2. Auflage seines weitverbreiteten „Allgemeinen Handwörterbuchs der philosophischen Wissenschaften“ auf.43 Und in einem weiteren Supplement aus dem Jahr 1838 wurde die „Ideokratie“ ( abgeleitet allerdings anders als bei Leo vom griechischem ιδεα, Vernunftbegriff ) von der „Idiokratie“ als der Selbstregierung des Volks ( von ιδιος, eigen ) unterschieden.44 Frühe Kritiker des Konzepts übten teils Kritik an der Bezeichnung, teils an den mit ihr verknüpften Inhalten. Der Leipziger Philosophiedozent und Hegelianer Gotthard Oswald Marbach, von 1845 bis 1848 sächsischer Zensor für politische und belletristische Literatur,45 umriss in Abgrenzung zur Ideokratie den von ihm propagierten Staat der „wahren Intelligenz“, deren Aufgabe darin bestehe, „die Bedürfnisse nach ihren unmittelbaren Aeußerungen zu beobachten und zu befriedigen.“46 Dagegen knüpfte der Freiburger Staatsrechtler Franz Josef Buß, später ultramontan - großdeutsches Mitglied der Paulskirche, an den Begriff in seiner Charakteristik der Jakobinerherrschaft inhaltlich an, zog aber die Bezeichnung „abstrakter“ oder „logischer“ Staat vor, weil dieser ein „bloß regulatives Prinzip“ als „Obersatz“ aufstelle und dann „mit syllogistischer Folgerichtigkeit“ weiterschließe, „ohne den Erweis, dass der Obersatz eine ideenhafte Wahrheit ist.“47 Für den Schulpädagogen Karl 41 Ebd., S. 15. 42 Vgl. ebd., S. 150. 43 Wilhelm Traugott Krug, Ideokratie oder Ideokratismus. In : ders., Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte, des fünften oder Supplement - Bandes zweite Abtheilung, 2. Auflage Leipzig 1834, S. 75. 44 Wilhelm Traugott Krug, Ideokratie oder Ideokratismus. In : ders., Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte, fünfter Band als Supplement zur 2., vermehrten und verbesserten Auflage, Erste Abtheilung. A bis L, Leipzig 1838, S. 551. Siehe für weitere lexikographische Einträge vor allem auch: Scheidler, Ideologie. In : Johann Samuel Ersch / Johann Gottfried Gruber (Hg.), Allgemeine Enzyclopädie der Wissenschaften und Künste, 2. Sektion, Band 15, Leipzig 1838, S. 127 f., hier 128 („Auch uns Teutschen hat sich etwas Ähnliches gezeigt, indem Prof. Leo in seiner Physiologie des Staats gegen alle Anwendung der Ideenlehre auf das Staatsleben auf das Entschiedenste streitet, und in der Ideokratie, wie er es nennt, die Wurzel alles Verderbens unserer Staaten sucht und findet“). 45 Vgl. Franz Brümmer, Marbach, Gotthard Oswald. In : Allgemeine Deutsche Biographie, 52 (1906), S. 187–189. 46 Gotthard Oswald Marbach, Universitäten und Hochschulen im auf Intelligenz sich gründenden Staate. Eine wissenschaftliche Abhandlung, Leipzig 1834, S. 8. 47 Franz Josef Buss, Geschichte der Staatswissenschaft, Band 1 von „Geschichte und System der Staatswissenschaft in drei Theilen“ ( von Franz Josef Buss und Georg Philipp

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Mager eignete sich der Ideokratiebegriff hingegen gut, um die Besonderheit des „Fanatismus in Frankreich“ zu erfassen, nämlich die „Herrschaft des reflektirenden, äußerlichen, abstrakten Verstandes, der das ganze achtzehnte Jahrhundert charakterisiert“.48 In diesem Punkt stimmte der konservative Mitgründer der „Historisch - politischen Blätter für das katholische Deutschland“, Carl Ernst Jarcke, mit Mager überein. Doch gab er gegen Leo zu bedenken, dass die Herrschaft einer „falschen Religion“ und eines „Unglaubens“ im Rahmen einer „Naturlehre“ des Staates nicht „in einer Physiologie, sondern in der Pathologie des Staats ihren Platz“49 habe. Außerdem fand er es problematisch, dass der Begriff so weit entfernte Phänomene wie das altisraelitische Priestertum und die Terrorherrschaft Robespierres zusammenzwinge.50 In diesem Punkt traf er sich mit dem in Berlin lehrenden Hegelianer Eduard Gans, der eine idealistische Fundamentalkritik an Leos Naturlehre übte.51 Wie die Beispiele zeigen, fand der Ideokratiebegriff schon vor 1848 in Deutschland weite Verbreitung. Dazu trug auch Friedrich Rohmers viel rezipierte Parteiendoktrin bei, die den Terminus im Rahmen der Staatsformenlehre als Ergänzung der verbreiteten Typologie des Aristoteles positiv aufgriff.52 Weitaus folgenreicher waren jedoch die zahlreichen gelehrten Abhandlungen, Handbücher und Kompendien des deutsch - schweizerischen Staatsrechtlers und Politikers Johann Caspar Bluntschli, die vielfach zu Standardwerken wurden und teilweise internationale Geltung erlangten. Bereits in seinen von der Politikauffassung der Gebrüder Rohmer in Zürich beeinflussten „Psychologischen Studien über Staat und Kirche“ (1844) nahm er Leos Ideokratiebegriff auf, ordnete ihn jedoch in eine andere typologische Systematik ein, die bei der „Natur des Herrschenden“ aus der Perspektive der Herrschaftsunterworfenen ansetzte und die bekannte aristotelische Systematik auf diese Weise erweiterte ( beziehungsweise auf eine neue Grundlage stellte ). Die „Theokratie“ war nämlich weder Monarchie noch Aristokratie oder Demokratie, sondern gehörte „einem andern Grundtypus der Staatsformen an“, der Ideokratie. Sie war

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Hepp ), Freiburg 1839, S. 409. Zur Biographie vgl. http ://biosop.zhsf.uni - koeln.de / ParlamentarierPortal / fnv_db / fnv_db.php; 13. 5. 2013. Karl Mager, Versuch einer Geschichte und Charakteristik der französischen Nationalliteratur, nebst zahlreichen Schriftproben, Band 2, Berlin 1837, S. 79. Siehe mit ähnlichem Tenor : Georg Ludwig Wilhelm Funke, Geschichtliche Entwickelung der geistigen Richtungen in Staat, Kirche, Kunst und Wissenschaft seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, Osnabrück 1835, S. 222 f. Carl Ernst Jarcke, Ueber die Entstehung des Staats durch die Natur. In : ders., Vermischte Schriften, 3. Band, München 1839, S. 32–64, hier 55. Siehe ähnlich auch : Ohne Verfasserangabe, Ueber die Entstehung des Staats durch die Natur. In : Außerordentliche Beilage zum Berliner politischen Wochenblatt, Nr. 31 vom 30. 7.1836, S. 182–187. Carl Ernst Jarcke, Die Naturlehre des Staates. In : ebd., S. 20–31, hier 30. Eduard Gans, Besprechung der Studien und Skizzen zu einer Naturlehre des Staates (1833). In : ders., Schriften juristischen, historischen, staatswissenschaftlichen und ästhetischen Inhalts, 2. Band, Berlin 1834, S. 203–223, hier 210. Vgl. Friedrich Rohmer, Die vier Parteien, Zürich 1844, S. 237 f.

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dadurch gekennzeichnet, „daß nicht Menschen als menschliche Herrscher, sondern daß ein geistiges, oder als geistig gedachtes Wesen, das nicht bloßer Mensch ist, daß Gott oder eine göttliche Idee, daß ein Dämon oder ein dämonisches Idol als der wahre, wirkliche Herrscher gedacht wird.“53 Bluntschli hat diese Gedanken in seiner „Allgemeinen Staatslehre“ (1851) weiter ausgeführt. Das aristotelische Sechserschema erweiterte er um zwei Typen : die „Ideokratie“ für jene Staaten, in denen ein Gott oder eine Idee verehrt wird und die Herrschenden „zur Wohlfahrt der Regierten dienen“, und die „Idolokratie“54 als deren Entartungsform. Anders als Leo, an den er sich ansonsten weithin anlehnte, lokalisierte er die Ideokratie historisch vor allem im Altertum ( vorwiegend Theokratien ), während die „moderne Zeit endlich [...] eine offenbare Abneigung gegen die ideokratische Staatsform“55 zeige. In seiner Darstellung blieb Bluntschli insofern inkonsequent, als er die Entartungsform der „Idolokratie“ im Laufe seiner Darstellung gleichsam „vergaß“ und stattdessen auf die Mängel der Ideokratie einging, die hauptsächlich infolge der Dehumanisierung des Staates und der damit verbundenen Aushöhlung individueller und politischer Freiheiten entstünden. Für die Gegenwart sah er diese Gefahr ( neben Entartungen monarchischer, despotischer und auch gesetzesstaatlicher Gewalt ) wie Leo mit dem Beispiel der Jakobinerherrschaft verknüpft, wo „der abstracten Vorstellung der Gleichheit, welche als oberstes Staatsprincip verehrt wurde, eine Menge vorzüglicher Menschen wie einem erzürnten Götzen hingeopfert wurden. Wer durch Gesinnung, oder Geburt, oder Vermögen sich über das Niveau der Mittelmäßigkeit emporhob, der wurde wie ein Majestätsverbrecher gegen die Herrschaft der Gleichheit verurtheilt und hingerichtet.“56 Die „Allgemeine Staatslehre“ erlebte zahlreiche Auflagen und fand internationale Anerkennung. Darüber hinaus trug Bluntschli ( neben Karl Brater ) mit einem entsprechenden Eintrag im „Deutschen Staats - Wörterbuch“, dem Nachfolger des Rotteck / Welcker’schen „Staats - Lexikons“,57 zur Verbreitung des Ideokratiebegriffs wesentlich bei.58 Er fand auf diese Weise auch Eingang in die 53 Johann Caspar Bluntschli, Psychologische Studien über Staat und Kirche, Zürich 1844, S. 238. 54 Johann Caspar Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, geschichtlich begründet, München 1851, S. 240. 55 Ebd., S. 260. 56 Ebd., S. 263. 57 Vgl. Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 145. 58 Vgl. Johann Caspar Bluntschli, Ideokratie und Theokratie. In : ders./ Karl Brater ( Hg.), Deutsches Staats - Wörterbuch, 5. Band, Stuttgart 1860, S. 279–290. Siehe zur Rezeption in der zweiten Jahrhunderthälfte nur : Friedrich Harms, Abhandlungen zur systematischen Philosophie, Berlin 1868, S. 42; Eugen H. Th. Huhn, Politik. Grundzüge der praktischen Staatskunst, Leipzig 1865, S. 163 f.; Johann Peter Lange, Christliche Dogmatik, 3. Teil : Angewandte Dogmatik oder Polemik und Irenik, Heidelberg 1862, S. 37; Friedrich Adolf Schilling, Lehrbuch des Naturrechts oder der philosophischen Rechtswissenschaft, Zweite Abtheilung, Leipzig 1863, S. 26; Franz Vorländer, Die Staatsformen in ihrem Verhältniss zur Entwicklung der Gesellschaft. In : Zeitschrift für die

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angelsächsische Welt, wo die deutsche Staatslehre vor allem in den USA lebhaft rezipiert wurde. So hat der in Los Angeles praktizierende Rechtsanwalt und Rechtsgelehrte George H. Smith in einem Beitrag für die „Proceedings“ der American Philosophical Society über Bluntschlis Beitrag zur Weiterführung der aristotelischen Staatsformentypologie berichtet : „a fourth form of the State should be added, the normal form of which he calls ‚ideocracy‘, and the perverted form, ‚idolocracy‘; and which is defined by him as the State ‚in which the supreme power has been attributed either to God, or some other [...] superhuman being, or an Idea.“59

III.

Bolschewismuskritik und Staatslehre der Eurasier

Im 20. Jahrhundert fand der Begriff zunächst vor allem in einem politisch - bekennerhaften und - kämpferischen Umfeld Verbreitung. Im russischen Exil formierten sich wenige Jahre nach dem bolschewistischen Umsturz die Zirkel der „Eurasier“, die mit dem Begriff der Ideokratie eine ganz eigene politische Zukunftsvision verbanden. Im Unterschied zu anderen Strömungen der Emigration strebten sie weder nach einer konstitutionellen Demokratisierung Russlands nach westlichem Vorbild noch nach der Wiederherstellung der Monarchie absolutistischer oder „dualistischer“ Prägung. Ihrem deterministischen Geschichtsverständnis zufolge musste die Revolution nach einer Abfolge von Phasen in eine politische Verfassung neuer Qualität münden, die Russland zu seinen von der Revolution gekappten Ursprüngen zurückführen würde. Die „früheste Version der Lehre von der Ideokratie“ stammt von dem Geographen Pëtr N. Savickij, der die russischen Emigranten 1923 dazu aufrief, eine „Staatsbürgerschaft der Idee“ anzunehmen und sich mit ganzer Kraft der „idejapravitel’nica“ ( der herrschenden Idee ) zu widmen.60 Zu einem Konzept ausgearbeitet wurde der Ideologiebegriff von dem als Urheber der eurasischen Strömung geltenden Fürsten Nikolaj Sergeevič Trubeckoj, dessen in Sofia 1920 erschienene Schrift „Europa und die Menschheit“ den Anstoß für die Gründung eurasischer Exilzirkel in den wichtigsten Emigrationszentren wie Sofia, Prag, Berlin, Paris, London, Brüssel gab.61 gesammte Staatswissenschaft, 14 (1858) 2, S. 293–347, hier 309 f. Keinen Herkunftsnachweis erbringt : Constantin Frantz, Die Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaft, Leipzig 1870, S. 197. 59 George H. Smith, The Theory of the State. In : Proceedings of the American Philosophical Society, 34 (1895) 148, S. 182–334, hier 316. Siehe zur Person : John G. Tomlinson, Intellectual Adventures. In : USC Law. The University of Southern California, Spring 2000, Los Angeles 2000, S. 4–9, hier 5. 60 Zitiert nach Stefan Wiederkehr, Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, Köln 2007, S. 136. 61 Vgl. Otto Böss, Die Lehre der Eurasier. Ein Beitrag zur russischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 1961, S. 7–17; Leonid Luks, Anmerkungen zum „revolutionär - traditionalistischen“ Kulturmodell der Eurasier und Neoeurasier. In : ders., Zeit-

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Der Sprachwissenschaftler Trubeckoj entwickelte die eurasische Doktrin während seiner Wiener Lehrjahre als Professor für slawische Philologie und beschrieb eingehend den ideokratischen Staat der Zukunft. Am Beginn seiner Ausführungen stand eine eigene Staatsformenlehre nach der Art der „Selektion“ politischer Führungsgruppen. In der „europäischen Zivilisation“ seien bislang lediglich „zwei Typen von Selektionsmerkmalen der führenden Schicht“62 vorgekommen : der „aristokratische“ und der „demokratische“ Typus. In der Aristokratie erfolge die Auswahl der führenden Schicht nach „genealogischen“ Kriterien, in der Demokratie richte sie sich nach der Fähigkeit zur erfolgreichen „Bearbeitung der öffentlichen Meinung“. Hier komme es darauf an, den „Wählern gewisse Ansichten“ aufzudrängen, „die sie dann als ihre eigenen betrachten und mit deren Verteidigung sie die Volksvertreter betrauen“.63 Das demokratische Selektionsprinzip mit der ihm gemäßen Staatsform der Republik habe fast überall in Europa das aristokratische ( mit den ihm entsprechenden monarchischen Formen ) verdrängt, zeige aber selbst unübersehbare „Kennzeichen des Verfalls und Absterbens“. Unterdessen bilde sich ein „neues Selektionsmerkmal der führenden Schicht“ ( und „mit ihm ein neuer Typus des Staates, der Wirtschaft, der Kultur, des sozialen und privaten Lebens“64) heraus. Die entstehende „neue Art der Selektion“, die dazu berufen sei, „an die Stelle“ von Aristokratie und Demokratie zu treten, könne „als Ideokratie bezeichnet werden“. Diese neue Staats - und Gesellschaftsform zeichne sich dadurch aus, dass die „Mitglieder der führenden Schicht durch eine gemeinsame Weltanschauung, eine gemeinsame Gesinnung miteinander verbunden“65 seien. Trubeckojs Überzeugung, der Ideokratie gehöre die Zukunft, stützt sich auf die „ganze Entwicklung des politischen Lebens“ der Nachkriegszeit, insbesondere die „Revolutionen“66 in Russland und Italien ( später auch Deutschland ).67 In den Regimebildungen der Bolschewiki und Faschisten ( später der Nationalsozialisten ) träten die ideokratischen Züge deutlich hervor. Diese Regime seien von einer „regierenden Idee“ bestimmt und von einer „einzigen Partei“ beherrscht, die als Trägerin der Idee zu einer „staatlichen Einrichtung wird“. Ohne

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historische Streitfragen. Essays und Repliken, Münster 2012, S. 51–80. Zur russischen Emigration siehe : Karl Schlögel ( Hg.), Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941, München 1994. Nikolaj S. Trubetzkoy, Die Ideokratie als Gesellschaftsordnung der nächsten Zukunft nach der Lehre der Eurasier (1927/1934). In : ders., Russland – Europa – Eurasien. Ausgewählte Schriften zur Kulturwissenschaft. Hg. von Fedor B. Poljakov, Wien 2005, S. 275–284, hier 276. Der Beitrag erschien erstmals auf Russisch in Heft VIII /1927 der Zeitschrift „Jevrazijskaja Chronika“ ( S. 3–9). Eine sparsam aktualisierte und ergänzte Fassung erschien in : Orient und Occident. Staat – Gesellschaft – Kirche, (1934) 17 (Dezember ), S. 6–13. Vgl. den Kommentar von Fedor B. Poljakov in : Trubetzkoy, Russland, S. 312. Ebd., S. 277. Ebd., S. 279. Ebd., S. 280. Ebd. Vgl. ebd. ( Zusatz aus dem Jahr 1934 in eckigen Klammern ).

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sie könne „der Staatsapparat nicht mehr funktionieren“.68 Allerdings bleiben beide Regime von einer „echten Ideokratie“ noch weit entfernt. In Italien wird die Ideokratie durch „den Personenkult des Führers und den nackten Organisationstrieb verschleiert“. Auch bleibe die „Grundidee des Faschismus inhaltsarm“,69 wenn man sie ohne ihre negierenden Elemente ( wie Antiparlamentarismus und Antikommunismus ) betrachte. Die führende Schicht der Bolschewiki verfüge im Gegensatz dazu über eine „gemeinsame Weltanschauung“,70 aber sie leugne die ideokratische Natur des Regimes aus marxistisch dogmatischen Gründen und tue so, als regiere das Proletariat. Trotz dieser Unzulänglichkeiten komme Bolschewismus und Faschismus jedoch das Verdienst zu, den Weg zu einer echten Ideokratie gebahnt zu haben. Deren Theorie lasse sich allerdings nicht aus der Verfasstheit dieser Regime induktiv gewinnen, sondern nur aus allgemeinen Grundbegriffen deduzieren. Die „Hauptzüge“ des ideokratischen Staates der Zukunft seien sein „staatlicher Maximalismus“ ( also das „aktive Eingreifen des Staates in das Wirtschaftsleben und in die Kulturentwicklung“) und seine „außerordentlich starke Staatsgewalt“, die eine enge Verbindung mit der Bevölkerung vor allem durch gewählte „Organisationen, Körperschaften und Berufsvertretungen“71 herstellt. Diese gingen allerdings nicht aus Wahlen mit konkurrierenden Parteien hervor, da die Ideokratie mit dem Grundsatz der Parteienvielfalt unvereinbar sei. Die Trägerin der Ideokratie sei „die einzige Partei“, die zugleich als „Organisation der Staatsideologie“ wie als „Körperschaft der führenden Schicht“72 fungiere. Die Macht im ideokratischen Staat liegt beim „Führer der ‚einzigen Partei‘“, der nicht aus allgemeinen Volkswahlen hervorgeht, sondern seine Stellung ausschließlich dem „Ansehen“ verdankt, das er „bei den Mitgliedern der ‚einzigen Partei‘ genießt“, und den „persönlichen Beziehungen, die zwischen ihm und anderen prominenten Parteigenossen bestehen“.73 Der ideokratische Staat befinde sich in Italien und Russland noch in seinen Anfängen. „Vor den Russen steht die Aufgabe, die Pseudoideokratie des Kommunismus durch eine echte Ideokratie zu ersetzen.“74 Der Beitrag Trubeckojs begründete „die eurasische Lehre über die Ideokratie“.75 Der programmatische Ideokratiebegriff fand in den Theoriezirkeln der Eurasier internationale Verbreitung. So propagierte der Eurasier Pëtr Nikolaevič Malevsky - Malevitč in seinem Buch „The New Party in Russia“ eine „Ideokratie“ der Sowjets statt des bolschewistischen Materialismus.76 Auch nach der Spal-

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Ebd. Ebd., S. 281. Ebd. Ebd., S. 282. Ebd., S. 282 f. Ebd., S. 283. Ebd., S. 284. So Fedor B. Poljakov ( Trubetzkoj, Russland, S. 312) mit Berufung auf Pëtr Savickij. Vgl. Pyotr Nikolaevich Malevsky - Malevitch, A New Party in Russia, London 1928 und die Rezension von M. Philips Price. In : Journal of the Royal Institute of International

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tung der – politisch weit gefächerten – Eurasierbewegung Ende der 1920er Jahre wurden Kontroversen um die „perfekte Ideokratie“77 fortgeführt, doch blieben sie meist auf die Exilzirkel und ihr russischsprachiges Umfeld beschränkt. Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr seit Mitte der 1920er Jahre vermehrt von dieser neuen Strömung.78 Heinrich Block machte 1926 auf drei russischsprachige Sammelbände der Eurasier aufmerksam, die in deutsch - bulgarischer Koproduktion in den Jahren 1921 bis 1923 erschienen waren. Fürst Trubeckoj galt als Vordenker der Bewegung.79 Der exilierte russische Soziologe Nikolaj S. Timašev stellte die Lehre der Eurasier 1928 in der Zeitschrift für Politik vor und ging auf das Ideokratiekonzept Trubeckojs kritisch ein.80 Dessen Ausführungen ( und die anderer Eurasier ) zur Rekrutierung und Zusammensetzung der Führungsschicht einer Ideokratie erschienen ihm zu vage und ungenau. Klar sei aber, dass nur Personen in Frage kämen, die „Träger einer bestimmten Weltanschauung, im gegebenen Falle der eurasischen, sind“. Um diese auszuwählen, komme in einer Ideokratie weder „die freie Willensbestätigung des einzelnen“ noch eine Wahl in Frage, da „in beiden Fällen sich Leute einschleichen könnten, die die Weltanschauung der Eurasier nicht teilen.“ Mithin sei der Ideokratie „nur die Kooptierung adäquat, bei welcher alte, bewährte Mitglieder der Organisation souverän entscheiden, wer als neues Mitglied aufzunehmen ist.“81 Diese Form der Selektion sei sowohl im bolschewistischen Russland als auch im faschistischen Italien entscheidend. Darüber hinaus bedürfe es einer Form der „Organisation der herrschenden Schicht“, die deren „Führer“ mit der „höchsten Gewalt“ ausstatte. Diese beruhe nicht „auf Wahlen oder Vererbung“, sondern „auf seiner tatsächlichen Autorität und auf seinen Beziehungen zu den Führern zweiten Ranges“. Gelte er nur als „primus inter pares“, so sei ein Führerrat angemessen. Wenn aber „einer der Führer bedeutend“ hervorrage, „so ist er tatsächlich Staatsoberhaupt“.82 Er beruft sich auf den Volkswillen, aber anders als „in der demokratischen Lehre“ bedarf „die Einheit der Ideologie der herrschenden Gruppe mit dem Volkswillen [...] keines Beweises und gestattet keine Prüfung. Die innere Einheit darf selbst dann nicht angezweifelt werden,

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Affairs, 7 (1928) 5, S. 358. Siehe auch Gerald Stanton Smith, D. S. Mirsky. A RussianEnglish Life, 1880–1939, Oxford 2000, S. 173. Konstantin A. Čcheidzes verband mit diesem Begriff eine Art diesseitiger christlicher Eschatologie. Siehe dazu und zu den damit verbundenen Kontroversen : A. G. Gacheva, Unknown Pages from Late 1920s and 1930s Eurasianism. K. A. Chkheidze and His Conception of „Perfect Ideocracy“. In : Russian Studies in Philosophy, 47 (2008) 1, S. 9–39; Wiederkehr, Die eurasische Bewegung, S. 58–67, 134–140. Vgl. Artasches Abeghian, Eurasien und die Eurasier. In : Deutsche Rundschau, 209 (1926), S. 86–90. Vgl. Heinrich Block, Eurasien. In : Zeitschrift für Geopolitik, 3 (1926) 1, S. 8–16. Vgl. Nicolaus S. Timaschew, Die politische Lehre der Eurasier. In : Zeitschrift für Politik, 18 (1928), S. 598–612, hier 601. Siehe zur Person : Roman Goul, N. S. Timasheff, 1886–1970. In : Russian Review, 29 (1970) 3, S. 363–365. Timaschew, Die politische Lehre, S. 602. Ebd.

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wenn die Mehrheit der frei befragten Bürger einer anderen Meinung ist, als die herrschende Schicht.“83 Denn nur diese Schicht vertrete die Nation. Michael Gorlin hob in einem Beitrag für die Zeitschrift „Osteuropa“ hervor, die Eurasier hätten das Prinzip „der Parteidiktatur der ‚einen und einheitlichen‘ Partei“ von den Kommunisten übernommen. Der von ihnen propagierte Weltanschauungsstaat führe „notwendig zum staatlichen Maximalismus“.84 Dessen Wirkung auf das Wirtschaftsleben beschrieb ein anderer Exilrusse, der Wirtschaftshistoriker Boris Išboldin. Den ideokratischen Wirtschaftssystemen des Bolschwismus und seiner „Gegenspieler“, der Eurasier ebenso wie der „antimarxistischen Ideokratie“ des Faschismus und des Nationalsozialismus, sei gemeinsam, dass sie auf einer „sozialökonomischen Totalidee“ aufbauten, „die man um jeden Preis in Bausch und Bogen annimmt und durchführt. Als solche Ideen gelten zur Zeit z. B. : Sowjetrußlands ‚bolschewistischer‘ Drang nach proletarischer Weltrevolution, Italiens ‚faschistischer‘ Glaube an den Mythos der Nation, Deutschlands ‚nationalsozialistisches‘ Streben nach der Heraufführung einer neuen Sozial - und Raumordnung, Rußlands ‚eurasischer Glaube an die geopolitisch bedingte Weltmacht Eurasiens.“85 Sie alle sind durch eine gemeinsame „Mentalität“ geprägt, die durch unbedingten Machtwillen und das Streben gekennzeichnet sei, „sich die Menschen als Wirtschaftsobjekte dienstbar zu machen oder Raum zu gewinnen.“86 Allerdings sei dieses Streben in Italien und Russland unterschiedlich weit gediehen : Bei der Wirtschaftsordnung Italiens handele es sich um einen „revolutionär gebrochenen Kapitalismus am Vorabend seiner endgültigen Umwandlung in eine antibolschewistische Form des Ideokratismus, während in Rußland der ‚ideokratische‘ Bolschewismus seine volle Blüte erreicht hat.“87 In einem Themenheft „Die Eurasische Frage“ der von Fritz Lieb herausgegebenen Zeitschrift „Orient und Occident“ erschien Ende 1934 die erste deutsche Übersetzung des Ideokratieaufsatzes Trubeckojs – mit Beiträgen anderer Eurasier wie Alexejev und Savickij. Dass nicht etwa Nikolaj Berdjaev den Begriff in die Debatte eingeführt hatte, erfuhr der Leser aus dessen scharfer „Kritik des Eurasiertums“. „Die gefährliche Seite der eurasischen Ideologie“ sei „ihr utopischer Staatsabsolutismus“. Sie beruhe auf einem „falschen Monismus, wie er dem ganzen modernen Faschismus eigen“ sei. Neben dem „Antipersonalismus“ nahm Berdjaev die Verwischung des „Dualismus“ von „Kirche Gottes“ und „Kirche Caesars“ aufs Korn. Sie sei auch in der Geschichte des Christentums 83 Ebd., S. 603. 84 Michael Gorlin, Die philosophisch - politischen Strömungen in der russischen Emigration. In : Osteuropa, 8 (1932/33), S. 279–294, hier 285. 85 Boris Ischboldin, Der Bolschewismus als ideokratisches Wirtschaftssystem und seine ideokratischen Gegenspieler. In : Die Tat, 23 (1931/32) 11, S. 907–921, hier 913 f. Siehe auch ders., Die russische Handelspolitik der Gegenwart. Ein kritischer Beitrag zum bolschewistischen Wirtschaftssystem, Jena 1930; ders., Das neue Sibirien als panasiatisches Problem. In : Weltwirtschaftliches Archiv, 40 (1934), S. 353 f. 86 Ischboldin, Der Bolschewismus, S. 914. 87 Ebd., S. 921.

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immer wieder aufgetreten. Insofern reiche das Spektrum der die christliche Welt bedrohenden „Versuchungen“ „von der papistischen und caesaristischen Theokratie bis zur eurasischen Ideokratie sowie bis zum Kommunismus auf der anderen Seite. Der Staat umfasst darnach alle Sphären des Lebens, und der vollkommene Staat muss daher nicht nur das politische und wirtschaftliche, sondern auch das geistige und intellektuelle Leben restlos ergreifen und organisieren. Das aber läuft auf einen prinzipiellen Monismus hinaus, der den Staat als die irdische Verkörperung der Gerechtigkeit ansieht. Die Eurasier nennen das Ideokratie. Es ist genau dasselbe, was man heute den totalen Staat nennt. Im italienischen Faschismus, im deutschen Nationalsozialismus sowie im russischen Kommunismus umfasst der Staat in totaler Weise die ganze Fülle des Lebens. Ich nenne das die Diktatur der Weltanschauung. Solch eine Weltanschauung ist auch die Ideokratie. Nach dieser hat der Staat seine eigene Weltanschauung und seine Ideologie, die die absolute Wahrheit für sich in Anspruch nehmen.“88

IV.

„Ideokratie“ in der publizistischen und wissenschaftlich akademischen Totalitarismusdebatte

Berdjaev gehört wie Išboldin und Timašev zu jenen exilrussischen Autoren, die in ihren Betrachtungen und Analysen implizit die analytischen Potenzen des programmatischen Ideokratiebegriffs der Eurasier erschlossen und eine interpretatorische Brücke zum Totalitarismuskonzept schlugen. Während Berdjaev aber nur gelegentlich auf den Ideokratiebegriff rekurrierte89 und Timašev in seinen totalitarismuskritischen Arbeiten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur noch beiläufig auf ihn verwies,90 stellte Išboldin in einem Beitrag für die „Russian Review“ explizit eine enge Verbindung zwischen Ideokratie - und Totalitarismuskonzept her. Selbst wenn zuträfe, was Waldemar Gurian in seinem Buch über den „Bolschewismus als Weltgefahr“ angedeutet habe : dass nämlich der Sowjetkommunismus mehr und mehr auf „nationale“ Legitimationselemente rekurriere, so sei es doch unwahrscheinlich, dass der sowjetische Staat seinen „totalitären Charakter“ einbüße : „The principal features of the Soviet totalitarian state, such as the one party system, which represents a distinctive ‚ideocracy‘ since its power rests on adhering to the unique ‚total idea‘ working as an active ‚social myth‘, the strenuous efforts to correct and modify every sphere of live according to that ruling idea, the development of a radical 88 Nicolai Berdjajew, Zur Kritik des Eurasiertums. In : Orient und Occident. Staat, Gesellschaft, Kirche, (1934) 17 ( Dezember ), S. 34–38, hier 36. 89 So taucht der Begriff in Bedjaevs Schrift „Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus“ aus dem Jahr 1937 auf, wo von der „umgekehrten Theokratie“ ( S. 150), der Verschmelzung von Staat und Kirche und der echten „Ideokratie“ die Rede ist, „welche die Leugnung der Gewissensfreiheit und die religiöse Verfolgung voraussetzt“ ( S. 174); ders., Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus, Luzern 1937. 90 Vgl. etwa N. S. Timasheff, Totalitarismus, Despotie, Diktatur (1954). In : Bruno Seidel / Siegfried Jenkner ( Hg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968, S. 168– 178, hier 168.

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economic collectivism, the use of methods of terrorism and of skillful mass propaganda – do not permit us to expect that the present growth of the nationalistic spirit in Russia would lead to an even partial liberalization of the régime.“91

Der in der Auseinandersetzung mit den Eurasiern gewonnene analytische Ideokratiebegriff floss auf diese Weise in die Totalitarismusdebatte ein. Spuren der „eurasischen“ Terminologie finden sich auch innerhalb der mit dem Totalitarismuskonzept vielfältig verflochtenen, vorwiegend von Theologen und kirchennahen Autoren geführten, Diskussionen um die „säkularen“ oder „politischen Religionen“. Bezeichnenderweise griff ein Vertreter der russisch - orthodoxen Exilkirche auf einer Tagung des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum 1934 in seinen Thesen zum Verhältnis von Kirche und Staat auf den Ideokratiebegriff zurück. Die Ideokratie als „die Diktatur einer vom Staat zur Pflicht gemachten Weltanschauung ( der totale Staat )“92 bedeute entweder „Abtrünnigkeit ( Rückfall ins Heidentum ) oder Irrlehre, mitunter beides.“ Daher sei „Ideokratie als Pseudokirche“ mit der „wahren Kirche unvereinbar“.93 Mit großer Wahrscheinlichkeit hat auch der protestantische Theologe Paul Schütz den in seiner frühen, erst vor wenigen Jahren bekannt gewordenen Studie „Die politische Religion“ verwendeten Ideokratiebegriff „eurasischen“ Diskussionszusammenhängen entnommen. Schütz war in den Jahren 1929 bis 1934 mit Nikolaj Berdjaev Herausgeber der Zeitschrift „Orient und Occident“, in deren Dezemberheft 1934 der aktualisierte Ideokratie - Beitrag Trubeckojs erschien. Er deutete die Ideokratie zutiefst kulturpessimistisch als Produkt eines durch Säkularisierung und Massengesellschaft verursachten Entartungsprozesses : „Der Ideokratie der politischen Religion verfallen, sind wir dabei, die Ideen von 1789 – um nur ein Beispiel zu nennen – zur Theologie zu erheben : Im Ersten Artikel setzen wir uns Gott gleich, indem wir uns als Ursprung und Schöpfer preisen. Im Zweiten Artikel tilgen wir den Gottes - Sohn im Wahne vermessener Gottesbruderschaft. Im Dritten Artikel aber halten wir uns die Freiheit zu, selber Heiliger Geist zu sein und die verheißene Gemeinschaft des Gottesreiches auf Erden zu bringen. Nichts anderes als der Menschenbrei des kollek91 Boris Ischboldin, The Eurasian Movement. In : Russian Review, 5 (1946) 2, S. 64–73, hier 64 f. 92 J. Fedotoff, Die Kirche und der Staat. Kirche und Welt. Studien und Dokumente, 3. Band : Die Kirche und das Staatsproblem in der Gegenwart. Hg. von der Forschungsabteilung des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum, Genf 1934, S. 35–44, hier 39. 93 Ebd., S. 40. Siehe zu diesem Beitrag auch : Heinz Hürten, Waldemar Gurian. Ein Zeuge der Krise unserer Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Mainz 1972, S. 158; Markus Huttner, Totalitarismus und säkulare Religionen. Die Anfänge der Totalitarismusdiskussion in England. In : Günther Heydemann / Eckhard Jesse ( Hg.), Diktaturvergleich als Herausforderung. Theorie und Praxis, Berlin 1998, S. 41–73, hier 64; ders., Totalitarismus und säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs - und Theoriebildung in Großbritannien, Bonn 1999, S. 282. Zum historischen Hintergrund : Armin Boyens, Die ökumenische Bewegung und die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts. In : Martin Greschat / Jochen - Christoph Kaiser ( Hg.), Christentum und Demokratie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 19–44.

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tiven Zeitalters ist es, der sich hinter dieser pfäffischen Philosophie des Massenmenschen verbirgt.“94 In seinem mehrere Jahrzehnte später erschienenen Messianismus - Traktat hat Schütz sich auf Išboldins Charakteristik des ideokratischen Wirtschaftssystems („Die Ideokratie als mammonistischer Messias“) berufen.95 Eine Verbindung von Christentum, Sozialstaat und liberaler Demokratie stellte der seit 1926 in Dresden Soziologie lehrende Exilrusse Fedor Stepun, ein ehemaliger Mitarbeiter in der Regierung Kerenskijs, den ideokratischen Lehren unterschiedlicher Observanz gegenüber. Bereits in seiner ersten Vorlesung im Sommersemester 1926 („Soziologische Grundprobleme der Revolution“) bekannte sich Stepun als „überzeugter und wohl auch konsequenter Demokrat“, der „vollkommen jede Ideokratie kommunistischer, faschistischer, rassistischer und eurasischer Ordnung“96 ablehne. In seiner deutschsprachigen Schrift „Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution“ (1934) beschrieb er den Bolschewismus als ein an den Propheten Marx, Engels und Lenin ausgerichtetes „ideokratisch - hierarchisch - bürokratisches System“,97 das die Hierarchie der orthodoxen Kirche mit ihren Riten nachahme. Zwei Jahre später – und nach mancherlei ( vergeblichen ) Versuchen, sich mit den neuen nationalsozialistischen Machthabern irgendwie zu arrangieren98 – konfrontierte er ( kurz vor seiner Entlassung als „politisch unzuverlässiger“ Hochschullehrer in Dresden ) in der Pariser Exilzeitschrift „Novyj Grad“ den „liberalen Staat“ mit seinen autoritären wie „ideokratischen“ Gegenspielern : 94 Paul Schütz, Die politische Religion. Eine Untersuchung über den Ursprung des Verfalls in der Geschichte (1935). Hg. von Rainer Hering, Hamburg 2009, S. 67. Siehe zu Person und Werk die Einleitung von Rainer Hering, S. 9–48. 95 Paul Schütz, Das Mysterium der Geschichte. Von der Anwesenheit des Heilenden in der Zeit, Hamburg 1963, S. 235, Išboldin - Verweis S. 234. 96 Christian Hufen, Fedor Stepun. Ein politischer Intellektueller aus Russland in Europa. Die Jahre 1884 bis 1945, Berlin 2001, S. 231. Die Vorlesungsniederschrift erschien allerdings zunächst nur in russischer Sprache. Vgl. ebd., S. 220. 97 Fedor Stepun, Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution, Bern 1934, S. 59. Siehe hierzu auch : Klaus - Georg Riegel, Der revolutionäre Orden der russischen Intelligenz aus der Sicht Fedor Stepuns. In : Karl - Siegbert Rehberg ( Hg.), Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Oktober 1996 in Dresden, Band II : Sektionen, Arbeitsgruppen, Foren, Fedor - Stepun - Tagung, Opladen 1997, S. 871–875, hier 872. 98 Vgl. Alf Christophersen, Paul Tillich im Dialog mit dem Kultur - und Religionsphilosophen Fedor Stepun. Eine Korrespondenz im Zeichen von Bolschewismus und Nationalsozialismus. In : Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte / Journal for the History of Modern Theology, 18 (2011), S. 102–172, hier 115–118; Karl - Siegbert Rehberg, „Seelentum und Technik“ in zerrissener Zeit. Der Exilrusse Fedor Stepun als Schriftsteller, „Theologe“ und früher Fachvertreter der Soziologie in Dresden. In : Johannes Rohbeck / Hans - Ulrich Wöhler ( Hg.), Auf dem Weg zur Universität. Kulturwissenschaften in Dresden 1871–1945, Dresden 2001, S. 330–356, hier 335–339; Hubert Treiber, Fedor Steppuhn in Heidelberg (1903–1955). Über Freundschafts - und Spätbürgertreffen in einer deutschen Kleinstadt. In : ders./ Karol Sauerland ( Hg.), Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit“ eines „Weltdorfes“ : 1850–1950, Opladen 1995, S. 70–118, hier 97 f.

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„Während der liberale Staat bestrebt ist, die einander widerstrebenden Meinungen, Absichten und Interessen der Bürger auszugleichen und zu versöhnen, tendiert die dagegen ankämpfende neue Form demokratisch - ideokratischer Diktatur gerade zum Gegenteil : zur Vernichtung aller Unterschiede durch die Gleichsetzung von allem und jedem. Wenn in der autoritären Hierarchie die Wahrheit in der Einheit, im liberalen Parlamentarismus im Gleichgewicht und in der antiliberalen sozialistischen Demokratie in der Gleichheit besteht, dann ist das im System der ideokratischen Diktatur die Identität, die Identität von Führer, Partei und geführten Massen.“99

Jahre später hat Stepun diese Gegensätze in Beziehung zu unterschiedlichen Wahrheitsbegriffen gesetzt und das „relationistische“ Wahrheitsverständnis des Liberalismus mit den „absolutistischen“ Wahrheiten der „ideokratischen“100 Bewegungen konfrontiert. Die deutsche Rezeption der Schriften Stepuns wurde dadurch erschwert, dass sie meist in russischer Sprache und oft erst Jahre später auf Deutsch erschienen. Wie die inzwischen veröffentlichten Briefe zeigen, die Stepun mit seinem Dresdner Kollegen und Freund Paul Tillich während der 1930er und 1940er Jahre wechselte, bildete die „Ideokratie“ eine Schlüsselkategorie seines politisch - philosophischen Denkens.101 Möglicherweise stand der 1933 in die US- amerikanische Emigration getriebene religiöse Sozialist und NS - Gegner Tillich unter dem Einfluss Stepuns, als er während einer kurzen Deutschlandreise im Mai / Juni 1951102 in seinen Vorlesungen an der Berliner Hochschule für Politik auf den Ideokratiebegriff rekurrierte : „Unter gewissen Bedingungen entsteht oft ein Fanatismus, der götzendienerisch etwas Endliches absolut setzt; diese Möglichkeit ist immer gegeben, weil die Menschen um der Sicherung ihrer Existenz willen nichts mehr lieben, als sich einem Endlichen ganz hingeben zu können, und wenn sie es tun, dann entwickelt sich aus dieser vollkommenen Hingabe eine Fülle kämpferischer Kräfte – der Willen zum Märtyrertum, die Bereitschaft zur völligen Unterordnung, vor allem aber das, was man Ideokratie nennen kann : die Herrschaft einer Idee, die göttliche Kraft bekommen hat, die einen Gott ersetzt und daher nicht mehr angezweifelt werden darf und daher Unbedingtheit fordert.“103

Interessanterweise fehlt der Ideokratiebegriff in den Kontroversen, die Stepun in den frühen 1930er Jahren mit Waldemar Gurian um die Deutung des Bolsche99 Fedor Stepun, Rußland. Eine Erwartung (1936). In : ders., Russische Demokratie als Projekt. Schriften im Exil 1924–1936. Hg. von Christian Hufen, Berlin 2004, S. 232– 267, hier 239. Erstveröffentlichung : ders., Čaemaja Rossija. In : Novyj Grad, (1936) 11, S. 11–40. 100 Fedor Stepun, Der Bolschewismus und die christliche Existenz, München 1959, S. 19 („Der Kampf der liberalen und der totalitären Demokratie um den Begriff der Wahrheit“). 101 Siehe nur die aus dem Ausland versandten ( ohne Rücksicht auf mögliche Überwacher der politischen Polizei ) verfassten Briefe an Tillich vom August 1934 ( aus Schweden ) und vom März 1935 ( aus Luzern ), abgedruckt bei : Christophersen, Paul Tillich, S. 125– 134 und 134–142, hier 126, 137, 139 f. 102 Vgl. Wilhelm und Marion Pauck, Paul Tillich, sein Leben und Denken, Band I : Leben, Stuttgart 1978, S. 247. 103 Paul Tillich, Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker. In : ders., Gesammelte Werke, Band VI : Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichts-

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wismus geführt hat.104 Auch in Gurians Bolschwismus - Büchern aus den Jahren 1931 und 1935 kommt er nicht vor.105 Dass der 1902 in St. Petersburg als Spross einer jüdisch - armenischen Familie geborene, 1911 mit den Eltern nach Deutschland gekommene und zum Katholizismus konvertierte Russlandkenner Gurian die Arbeiten Stepuns ebenso kannte wie die der Eurasier, darf zumindest für die Zeit ab 1932 vermutet werden, da sich die heftig Streitenden im Januar zu einem klärenden Gespräch getroffen hatten.106 In dem für die Totalitarismusdiskussion höchst bedeutsamen Vortrag, den Gurian im März 1952 auf der von Carl J. Friedrich organisierten Konferenz der American Academy of Arts and Sciences hielt, berief er sich nicht auf das Ideokratiekonzept seines sowjetologischen Konkurrenten Stepun, sondern auf den Ideokratiebegriff der „Russian Eurasian school“,107 um ihn zugleich in einer Weise zu gebrauchen, die der Begriffsverwendung Stepuns nahe stand. Im Unterschied zu seinen früheren Beiträgen108 wurde hier der Bogen vom Konzept der „politischen Religionen“ zu dem der „Ideokratie“ geschlagen : „The ideocratic and pseudo - religious character of totalitarianism must obviously result in conflict with traditional religious groups.“109 Dies war eine Konsequenz der „formal structure of the totalitarian ideocracy“, zu deren Elementen Gurian den Glauben an Gesetze „of

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philosophie, Stuttgart 1963, S. 157–210, hier 208 ( Vier Vorträge, gehalten an der Deutschen Hochschule für Politik, Berlin, im Sommer 1951). Der Ideokratiebegriff fehlt in den früheren Schriften zum „totalitären Staat“ und Kommunismus. Vgl. ders., Der totalitäre Staat und die Forderungen der Kirche (1934); Die Kirche und der Kommunismus (1937). In : ders., Gesammelte Werke, Band X : Die religiöse Deutung der Gegenwart. Schriften zur Zeitkritik, Stuttgart 1968, S. 121–145, 146–158. In den späteren Werken taucht der Begriff hingegen mehrfach auf. Vgl. ders., Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen (1964). In : ders., Gesammelte Werke, Band V : Die Frage nach dem Unbedingten, Stuttgart 1964, S. 51–98, hier 54 : „Der quasi - religiöse Charakter jeder Herrschaft einer Ideologie – oder ‚Ideokratie‘, wie man sie auch nennen könnte – führt unvermeidlich zu diesen Folgen“ –„die Lüge und der Massenmord“ wurden „gerechtfertigt und organisiert, in Italien und Deutschland ebenso wie in Rußland“. Vgl. Fedor Stepun, Christlich - faschistischer Probolschewismus ? Zu Waldemar Gurians: „Der Bolschwismus“. In : Religiöse Besinnung, 4 (1931/32) 2, S. 88–93; Waldemar Gurian, Erwiderung. In : Religiöse Besinnung, 4 (1931/32) 2, S. 93–96; Fedor Stepun, Schlusswort zu „Christlich - faschistischer Probolschewismus ?“. In : Religiöse Besinnung, 4 (1931/32) 3, S. 148–152. Vgl. Waldemar Gurian, Der Bolschewismus. Einführung in Geschichte und Lehre, Freiburg i. Brsg. 1931; ders., Bolschewismus als Weltgefahr, Luzern 1935. Vgl. Hürten, Waldemar Gurian. Ein Zeuge, S. 4. Zur Kontroverse dort auch S. 67. Siehe zur Totalitarismuskonzeption Gurians auch : Heinz Hürten, Waldemar Gurian und die Entfaltung des Totalitarismusbegriffs. In : Hans Maier ( Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen, Band 1, Paderborn 1996, S. 59–73. Waldemar Gurian, Totalitarianism as Political Religion. In : Carl J. Friedrich ( Hg.), Proceedings of the Conference held at the Academy of Arts and Sciences, March 1953, Cambridge, MA 1954, S. 119–129, hier 123. Siehe nur Waldemar Gurian, The Totalitarian State. In : Proceedings of the American Catholic Philosophical Society, 15 (1939), S. 50–66; ders., Trends in Modern Politics. In : Review of Politics, 2 (1940), S. 318–336; ders., Totalitarian Religions. In : Review of Politics, 14 (1952) 1, S. 3–14. Gurian, Totalitarianism as Political Religion, S. 123 f.

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necessary social development“,110 das Streben nach „the world’s salvation“, die Nichtrespektierung der Privatsphäre und die Forderung nach aktiver Unterstützung, den Kampf gegen „even potential enemies“111 rechnete : „The ideocracy is the ideology for the continuation of the present rule by a group which has established a system of absolute domination by terror, organization, manipulation, and propaganda.“112 In der Diskussion nach Gurians Vortrag war es Hannah Arendt, die sich der Argumentation des langjährigen Freundes und Diskussionspartners113 in weiten Teilen anschloss, ohne sich dessen Terminologie zu eigen zu machen. Denn ihr schien der Terminus „Logokratie“ angemessener, da die aus dem 19. Jahrhundert bekannten Ideologien durch ihren totalitären Gebrauch eine spezifische Zurichtung erhalten hätten. Hannah Arendt entwickelte einen Gedanken, der in ihrem wenige Monate nach der Konferenz erschienenen Aufsatz „Ideology and Terror“ breiter ausgeführt wurde :114 Eine absolut gesetzte Idee werde zur Prämisse, von der in einem logischen Prozess auf starre Weise Schlussfolgerungen gezogen würden, ohne die der Idee zugrunde liegende Realität ausreichend zu beachten. Dieser logische Prozesse passe sehr gut zu dem pseudowissenschaftlichen Glauben an Gesetze der Geschichte oder der Natur : „For these reasons, I think that if we have to rename totalitarianism, the word ‚logocracy‘ would be better than ‚ideocracy‘.“115 Statt „Logokratie“ verankerte sich jedoch „Ideokratie“ im Totalitarismusdiskurs, ohne sich indes zu einer Schlüsselkategorie bei der Analyse totalitärer Herrschaft zu entwickeln. Auch in den folgenden Jahrzehnten gelangte er weit häufiger in wissenschaftlichen Studien zum Bolschewismus / Kommunismus als zum Faschismus / Nationalsozialismus zur Anwendung. Ernst Fraenkel hatte diesem Muster vorwegnehmend auf besondere Art entsprochen, als er in seinem wegweisenden Beitrag „‚Rule of Law‘ in einer sich wandelnden Welt“ (1943/44) zwei Typen des „totalitären Staates“ unterschied. Nur den ersten Typ bezeichnete er als „Ideokratie“ und rekurrierte dabei anders als die meisten seiner (rechtshistorisch weit weniger gebildeten ) Zeitgenossen auf die Staatsformenlehre des 19. Jahrhunderts, namentlich auf Bluntschlis Typologie. Der Sowjetkommunismus stand hier Pate : „Ein Staat ist eine Ideokratie, wenn er sich durch das Bemühen legitimiert, außerhalb seiner eigenen Sphäre ein Ideal zu verwirklichen.“ Die Ideokratie gerate in Widerspruch zu Demokratie wie Rechtsstaatlichkeit, weil sie zum einen die „wahre Lehre“ nicht zur Disposition 110 111 112 113

Ebd., S. 125. Ebd., S. 126. Ebd., S. 129. Vgl. nur Arendts freundschaftliches Gurian - Porträt in : dies., Menschen in finsteren Zeiten. Hg. von Ursula Ludz, 2. Auflage München 1989, S. 310–323. Es handelt sich um die überarbeitete Fassung des Nekrologs aus : The Review of Politics, 17 (1955) 1, S. 33–42. 114 Vgl. Hannah Arendt, Ideology and Terror. A Novel Form of Government. In : The Review of Politics, 15 (1953), S. 303–327. 115 Hannah Arendt, Diskussionsbeitrag. In : Friedrich ( Hg.), Proceedings, S. 134.

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von Mehrheitsentscheidungen stelle. Zum anderen sehe sie davon ab, das staatliche Handeln strikt an Recht und Gesetz zu binden, da dies „zu Resultaten führen könnte, die nicht der geheiligten Idee entsprechen, deren Schutz dem ideokratischen Staat anvertraut ist.“116 Beim zweiten Typus des totalitären Staates hingegen stehen Nationalsozialismus und Faschismus Pate : dem „Solipsismus“. Fraenkel hielt die ideologische Herrschaftslegitimation dieser Regime für eine Fassade, denn die Herrscher des solipsistischen Staates glaubten „weder an Gott noch an eine Idee; sie glauben ausschließlich an sich selbst. Ihre Religion ist der Zynismus.“ Der Staat sei hier Selbstzweck, das Recht eine Frage politischer Zweckmäßigkeit. Der Rechtsstaat werde deshalb verworfen, weil er „als eine Herrschaft absoluter Prinzipien betrachtet werden kann“.117 So stark Fraenkels Arbeiten über den Nationalsozialismus ( insbesondere der „Doppelstaat“) die NS - Forschung inspiriert haben, so wenig hat seine Deutung des Nationalsozialismus als „Solipsismus“ Schule gemacht. Dagegen ist die Zahl der Autoren zahlreich, die den Bolschewismus aus „ideokratischer“ Perspektive analysiert haben und damit zugleich eine Vergleichsperspektive zum Faschismus/ Nationalsozialismus eröffneten. Dies gilt etwa für den liberalen französischen Soziologen Raymond Aron, der Nationalsozialismus und Bolschewismus als Formen einer „religion séculière“ deutete und dabei den macht - instrumentellen Charakter der „Ideokratie“ hervorhob, die „sich auf eine Ideologie“ beruft „und behauptet, ihr zu entsprechen“.118 Diese Interpretation steht – anders als Tzvetan Todorov meint – keineswegs in notwendigem Gegensatz zu derjenigen von Cornelius Castoriadis, für den die Ideologie im „real existierenden Sozialismus“ zu einer Fassade herabgesunken sei, sich die „idéocratie“ folglich in eine Art „stratocratie“119 verwandelt habe, in eine Macht, der Macht willen. Doch ist das Ideokratiekonzept anscheinend vor allem von solchen Autoren aufgegriffen worden ( wie etwa dem Aron - Schüler Alain Besançon120), die der Ideologie im Sowjetkommunismus eine wichtige herrschaftslegitimierende und das Selbstverständnis zumindest von Teilen der politischen Elite prägende Bedeutung beimaßen.121 Freilich hängt die Einordnung des Regimes entscheidend davon ab, welche Phase seiner Entwicklung beschrieben wird. So betonen – folgt man einem weithin anerkannten Forschungsabriss – vor allem Experten der Sowjetherrschaft ( wie Stéphane Courtois, François Furet, Martin Malia oder 116 Ernst Fraenkel, „Rule of Law“ in einer sich wandelnden Welt (1943/44). In : ders., Gesammelte Schriften. Hg. von Alexander von Brünneck, Hubertus Buchstein und Gerhard Göhler, Baden - Baden 1999, S. 58–73, hier 71. 117 Ebd. 118 Raymond Aron, Demokratie und Totalitarismus, Hamburg 1970, S. 173. Das französische Original : Aron, Démocratie et totalitarisme, Paris 1965, S. 275. Vgl. zu Arons Ansatz vor allem : Jean - Pierre Sironneau, Sécularisation et religions politiques, Den Haag 1980, S. 405. 119 Tzvetan Todorov, Le Siècle des totalitarismes, Paris 2010, S. 576. 120 Vgl. Alain Besançon, Présent soviétique et passé russe, Paris 1980, S. 146. 121 Siehe etwa : Carl A. Linden, The Soviet Party - State. The Politics of Ideocratic Despotism, New York 1983.

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Nicolas Werth, allesamt von Kritikern eines „neuen Antikommunismus“122 heftig befehdet ) in den ersten drei Jahrzehnten ihrer Existenz die Verbindung von „Ideokratie“ und „Partokratie“, während die „institutionell domestizierte Ideokratie“123 der folgenden Jahrzehnte als Modell eine wesentlich bescheidenere Rolle spiele. Dagegen hat Ernest Gellner einen weiten Bogen in die Zukunft geschlagen, indem er den verblichenen Sowjetkommunismus mit der Ideokratie der islamistischen „Umma“ auf eine Vergleichsebene stellte und es ablehnte, zwischen einer „Ideokratie alten oder neuen Stils“124 zu wählen.

V.

Konzeptionelle Folgerungen aus begriffsgeschichtlichen Befunden

Das Wort „Ideokratie“ ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer von der Französischen Revolution und ihren „Nachbeben“ aufgewühlten und tief umgepflügten europäischen politischen Geographie im Rahmen einer Staatsformen - Typologie geprägt und begrifflich eingeführt worden. Sein Schöpfer sah in den so benannten politischen Systemen, Ideen und Bewegungen keine historisch gänzlich neuartigen Phänomene, sondern schlug mit dem Neologismus einen universalhistorischen Bogen von den theokratischen „Priesterstaaten“ der Alten Welt bis in die neueste Zeit. Den „ideokratischen“ Staaten gemeinsam war die Legitimierung der Herrschaft durch eine absolut gesetzte, Exklusivität beanspruchende „Idee“ oder „Ansicht“, die als geistige Grundlage der Staatsgewalt alle gesellschaftlichen Sphären durchdringe, gläubigen Gehorsam verlange und alle Nichtgläubigen zu kollektiven Feinden und potentiell zu vernichtenden Schädlingen erkläre. Abweichend vom Wortschöpfer Heinrich Leo hat der einflussreiche Staatsrechtslehrer Johann Caspar Bluntschli den Begriff in eine konzeptionell veränderte aristotelische Staatsformentypologie eingefügt, welche die quantitative Dimension ( nach der Zahl der Herrschenden ) durch die Frage nach der Herrschaftslegitimität ( aus der Perspektive der Beherrschten ) ersetzt und die primär ideengeleiteten Herrschaftsformen nach ihrer Gemeinwohlorientierung in „Ideokratien“ und „Idolokratien“ unterteilt. In dieser Differenzierung, die sich begriffsgeschichtlich nicht etablieren konnte, kommt die normative Komponente des Ideokratiebegriffs klar zum Ausdruck. Allerdings war Bluntschli hierin inkonsequent. Denn in seiner Allgemei122 Enzo Traverso, Der neue Antikommunismus. Nolte, Furet und Courtois interpretieren die Geschichte des 20. Jahrhunderts. In : Volker Kronenberg ( Hg.), Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik. Der „Historikerstreit“ – 20 Jahre danach, Wiesbaden 2008, siehe hier vor allem zur Deutung des Kommunismus als „Ideokratie“ S. 78 f. 123 So die Zusammenfassung des Forschungsstandes bei : Manfred Hildermeier, Die Sowjetunion 1917–1991, München 2001, S. 160. 124 Vgl. Ernest Gellner, Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen, Stuttgart 1995, S. 224; ders., Islam and Marxism : some comparisons. In : International Affairs, 67 (1991) 1, S. 1–6. Vgl. dazu auch den Beitrag von Jerzy Maćków in diesem Band.

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„Ideokratie“ – eine begriffsgeschichtliche Skizze

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nen Staatslehre ging er auf die „Idolokratie“ nicht näher ein und behandelte stattdessen die ( wenigen ) Vorzüge ( die „erhabene Autorität“ der im „Volksglauben“125 verwurzelten Ideokratien ) neben den ( zahlreichen ) Mängeln – nicht zuletzt der Vernichtung der individuellen Freiheiten. Dennoch hat Bluntschli mit der Thematisierung der Wirkung der Herrschaftslegitimation auf den Grad persönlicher Freiheitsrechte eine normative Komponente eingeführt, die eine Verbindungslinie zum kritisch - analytischen Ideokratiekonzept herstellt, wie es sich in den 1930er Jahren in osmotischem Austausch mit wissenschaftlichen Diskursen um „Totalitarismus“ und „politische Religionen“ unter dem Eindruck „ideokratischer“ oder „totalitärer“ Regimebildungen in Europa auszubreiten begann. Allerdings ist der „Gesprächsfaden“ zur Staatslehre des 19. Jahrhunderts vielfach abgerissen. Ernst Fraenkel hat als einer der wenigen bei seiner Differenzierung zwischen „ideokratischem“ und „solipsistischem“ Totalitarismus auf Bluntschli verwiesen126 – und mit dieser Unterscheidung keine Tradition begründet. Zwischen der konservativen / liberalen Staatslehre des 19. Jahrhunderts und dem analytischen Ideokratiekonzept von Segmenten der frühen Totalitarismusforschung liegen die „Eurasier“, die wesentlich zur Verbreitung des Ideokratiebegriffs beigetragen haben, auch wenn anscheinend keine Verbindung zur Begriffstradition des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Dies ist nicht so erstaunlich, da die russischen Exilanten den Ideokratiebegriff normativ ganz anders als Leo und Bluntschli füllten, propagierten sie mit ihm doch eine Art Philosophenherrschaft, die das von den Bolschewisten und Faschisten entwickelte, jedoch nach ihrer Auffassung nur unzureichend durchdachte und praktizierte Konzept vollenden und zumindest auf einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe alle anderen Staatsformen ( auch die „dekadente“ liberale Parlamentsherrschaft ) ablösen sollte. Das eurasische Ideokratiekonzept verhält sich zum analytischen Ideokratiebegriff wie Mussolinis Totalitarismusbegriff zum analytischen Totalitarismusansatz.127 Von Exilrussen entwickelt, waren es nicht zuletzt auch exilrussische Autoren ( wie Berdjaev, Išboldin, Stepun, Timašev ), die das Ideokratiekonzept der Eurasier kritisierten und die analytischen Potenzen der Programmformel zumindest ansatzweise in ein wissenschaftliches Kategoriensystem überführten. Die Einführung des Ideokratiebegriffs in den Hauptstrom der seinerzeitigen Totalitarismusforschung leistete nicht zufällig der in St. Petersburg geborene Russland - und Bolschewismuskenner Waldemar Gurian.

125 Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, S. 260. 126 Siehe zur staatsrechtlichen Rezeption des Ideokratiebegriffs noch : Gerhart Schramm, Das Problem der Staatsform in der deutschen Staatstheorie des 19. Jahrhunderts. Zugleich ein Beitrag zur Deutung der Staatsphilosophie des deutschen Idealismus, Berlin 1938, S. 263. 127 Die von Mussolini propagierte „feroce volonta totalitaria“ seiner Bewegung bedeutete die Umwertung des kritischen Totalitarismusbegriffs des frühen Antifaschismus zu einer positiven Selbstcharakterisierung. Vgl. Jens Petersen, Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs in Italien. In : Jesse ( Hg.), Totalitarismus, S. 95–117.

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Uwe Backes

Der radikal - freiheitszerstörende Charakter der Ideokratie, wie er von den Vertretern eines analytischen Begriffsverständnisses implizit oder explizit betont wurde, beruht auf einer Reihe von Besonderheiten, welche die entsprechenden Regime von allen anderen Formen der Autokratie unterscheiden : Ideokraten herrschen weder aus reinem Eigeninteresse, noch berufen sie sich in erster Linie auf ererbte Autorität und Tradition. Vielmehr sehen sie sich im Besitz einer unanfechtbaren Lehre, die Antworten auf alle Lebensfragen verspricht, die zuverlässige Deutung und Erklärung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlaubt und einen Schlüssel für die Lösung aller politischen Probleme bereitstellt. Sie dulden neben sich keine anderen Sichtweisen, treten in Konkurrenz sogar zu den Weltreligionen und zeichnen sich durch mangelnden Respekt gegenüber den individuellen Glaubensüberzeugungen des Einzelnen aus. Gleichzeitig sind sie darauf aus, „Ungläubige“ zu bekehren und begeisterte Anhänger für die Realisierung großer Ziele zu mobilisieren. Ideokratische Politikentwürfe enthalten wenig Raum für schrittweise Veränderung, vorsichtiges Vorantasten, Versuch und Irrtum, Kompromissbildung und Konsenssuche. Sie leben vom großen Wurf und von Heilsversprechungen, propagieren die Tabula rasa, wollen die bisherigen Geschichte zugunsten zwischenmenschlicher Beziehungen und Ordnungsformen „neuer Qualität“ hinter sich lassen und ihre Grundideen „mit letzter Konsequenz“ umsetzen. Die ideokratische Elite stützt ihren Herrschaftsanspruch auf den Besitz unanfechtbarer Wahrheiten. Diese begründen auch den Schlüsselmechanismus für Kooptation und soziale Integration. „Fanatische“ Hingabe ist das wichtigste Selektionskriterium für den Aufstieg in Führungspositionen. Wer es an ideologischer Zuverlässigkeit fehlen lässt, ist für wichtige Funktionsbereiche disqualifiziert. Meist bestimmen „alte, bewährte Mitglieder“, wer „als neues Mitglied aufzunehmen ist“.128 Die Elite beruft sich auf den theoretischen Volkswillen, nicht auf den empirischen. Wo Wahlen stattfinden, entscheidet der Enthusiasmus über die Kandidatenzulassung. Soziale Integration erfolgt über die Organisationen glühender Gläubiger und durch die Bewährung in ihnen. Anders als autoritäre Regime sind ideokratische nicht nur bestrebt, Menschen zum Gehorsam und zur Unterlassung illoyaler Handlungen zu veranlassen : Diese werden vielmehr genötigt, als „aktive und enthusiastische Unterstützer“129 zu fungieren. Ideokratien lassen besondere Formen von Gewaltherrschaft und Unterdrückung erkennen. Die Erhabenheit der ideologischen Ziele rechtfertigt jedes Mittel. Wer sich der rechten Sache widersetzt oder ihr im Wege steht, gilt „nicht mehr als würdig, vom Erdboden getragen zu werden“.130 Wer durch „Gesinnung“, „Geburt“ oder „Vermögen“131 herausragt, fällt der Vernichtung anheim. Vor allem die Jakobinerherrschaft enthält das Anschauungsmaterial, das der 128 Timaschew, Die politische Lehre, S. 602. 129 „Men and groups [...] are forced to be active and enthusiastic supporters.“ Gurian, Totalitarianism as Religion, S. 8. 130 Leo, Studien und Skizzen, S. 150. 131 Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, S. 263.

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Beschreibung ideokratischer Gewaltherrschaft von Seiten der konservativen und liberalen Staatslehre des 19. Jahrhunderts zugrunde liegt. Das Ideokratiekonzept des 20. Jahrhunderts fügt dieser Quellenbasis einen erschreckend reichen Belegfundus aus der Herrschaftspraxis totalitärer Regime hinzu. Die Verfolgung „objektiver Feinde“ ist bereits den Ideokratietheoretikern des 19. Jahrhunderts dem Sinn nach bekannt. Denn die Vorläufer der modernen totalitären Bewegungen unterscheiden sich von diesen keineswegs durch ein höheres Maß an Toleranz oder ein weniger hartnäckiges Bestreben, alle abweichenden Denk - und Lebensformen auszumerzen, sondern durch den Nichtbesitz der neuen Techniken der Massenlenkung und - beherrschung, die es überhaupt erst erlauben, den ideokratischen Anspruch über lokale Zentren hinaus großräumig in die Tat umzusetzen : die pseudodemokratischen Plebiszite und Volkswahlen, die akklamierenden Parlamente, die modernen Massenkommunikationsmittel, die nach militärischen Vorbildern organisierten Monopolparteien mit ihnen angeschlossenen Massenorganisationen, die wuchernden Verfolgungsapparate der Geheimpolizeien etc. Robespierre hätte – weit mehr noch als der russische Zar, Ludwig XIV. oder Alexander der Große – „allen Grund, die Geschwindigkeit und Wirksamkeit zu beneiden, mit der Andersdenkende liquidiert, Zweifler durch Säuberungen beseitigt und Verdächtige in Konzentrationslager gesammelt werden.“132 Der ideokratische Antriebsmechanismus jedoch ist in seinen wesentlichen Elementen der gleiche geblieben.

132 Carlton J. H. Hayes, Der Totalitarismus als etwas Neues in der Geschichte der westlichen Kultur (1939). In : Seidel / Jenkner ( Hg.), Wege der Totalitarismusforschung, S. 86–100, hier 98.

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Ideokratie oder die Geburt der Gewalt aus enttrivialisierter Moral Hermann Lübbe

I.

Die einschränkungslose Güte des guten Willens

Zu den tragenden Elementen der bei uns herkunftskulturell dominant christlich geprägten Lebenspraxis gehört die Versicherung, dass wir, über alle Ungewissheiten den Endeffekt unseres Handelns betreffend hinweg, nach der moralischen Qualität unserer Absichten beurteilt sein werden. Handeln wir nach bestem Wissen und Gewissen, so dürfen wir uns bei einem unguten Ausgang der Dinge moralisch schuldfrei sprechen. Auch im Urteil anderer über uns findet das seine Berücksichtigung, in bestimmter Hinsicht sogar juridisch. Und wo wir in großen Ausnahmefällen des Lebens mit unserer subjektiven Gewissheit, das Beste gewollt zu haben, allein verbleiben, verweisen uns die Katechismen aller christlichen Konfessionen auf das Jüngste Gericht mit seiner definitiven Gerechtigkeit : „Ich habe immer daran festgehalten, dass der Gehorsam gegen das Gewissen, auch gegen ein Irrendes, der beste Weg zum Licht ist“ – so zitiert der Holländische Katechismus den Kardinal John Henry Newman. Das schließt ein: Selbst noch Entscheidungen aus Gewissenstäterschaft können sich später als reuebedürftig herausstellen. Das dient dann zugleich der Emendation der geltenden Ordnung des Guten. „Das Gewissen arbeitet ständig an der Erneuerung des Gesetzes“.1 Belege für die traditionale Gemeinverbreitung dieser Gewissheit vom Apostel Paulus bis zu Thomas von Aquin oder Martin Luther erübrigen sich hier. In der Geschichte der Politik ist dann die Lehre von der Rechtfertigungskraft des guten Gewissens wie nie zuvor im jüngst vergangenen Jahrhundert wichtig geworden – im Selbstverständnis der Vollstrecker totalitärer Gewalt wie im Widerstand gegen sie. „Aufstand des Gewissens“2 ist entsprechend der passende Titel eines in Deutschland verbreiteten Buches über militärische Versuche, die Diktatur der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei zu beenden. 1 2

Glaubenverkündigung für Erwachsene. Deutsche Ausgabe des Holländischen Katechismus, Nijmegen 1968, S. 420. Aufstand des Gewissens. Der militärische Widerstand gegen Hitler und das NS - Regime 1933–1945, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Herford o. J.

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Hermann Lübbe

In der Geschichte der deutschen Philosophie hat die Lehre von der verpflichtenden und rechtfertigenden Kraft des guten Willens ihren meistzitierten Auftritt bei Kant : „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“ – so heißt es im Auftakt zum Haupttext der kantischen „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, die in erster Auflage 1785 in Riga erschien.3 Jeder Philosophiestudent dürfte im deutschkulturellen Kontext einmal mit diesem Text bekannt gemacht worden sein, und von der Wucht dieser Worte dürfte er, eingeschüchtert, sich gefragt haben, was man sich denn unter einer Entität vorzustellen habe, die sowohl „in der Welt“ wie „überhaupt auch außer derselben“ moralisch qualifizierbar sein soll. Die Irritation wäre korrekt durch Rekurs auf die schon erwähnte traditionale Selbstverständlichkeit des Bevorstehens eines Jüngsten Gerichts zu beheben, vor dem der gute Wille jene Anerkennung finden wird, die ihm „in der Welt“ versagt blieb. Das ist es, was nach den Maßgaben unserer Schätzung von Gütern und Tugenden, in der Ordnung der Werte also, Kant einzig dem guten Willen „absoluten Wert“ zusprechen ließ – nicht dem Lebensglück somit, vielmehr unserer moralischen „Würdigkeit“, eines solchen Glücks teilhaftig zu werden.4 Damit „demokratisiert“ Kant zugleich den Begriff der Würde, der ja zuvor exklusiv ständisch geprägt war, und das mit kaum vermeidbaren Nachwirkungen bis heute, wo doch sogar bei Festversammlungen in Universitäten „Würdenträgern“ Plätze in der ersten Reihe reserviert sind. Kant also egalisiert die Würde und knüpft sie an die gemeinmenschliche Eigenschaft, einen Willen zu haben und damit dem moralischen Anspruch zu unterliegen, dass es ein guter Wille sei. Erst über diese Egalisierung der Würde konnte dann der Begriff der Würde, der sich zuvor doch auf Geltungsränge und damit auf Unterschiede bezog, zu einem Inaugurationsbegriff im Katalog verfassungsrechtlich gleich verteilter Grundrechte werden.5 Die rechtsverbindlich egalisierte Würde des Menschen, soweit sie, in kantischer Tradition gedacht, in der Gleichheit aller Menschen unter den moralischen Verbindlichkeiten des guten Willens besteht, ist freilich mit der bis in den politischen Lebenszusammenhang hineinreichenden Folge öffentlicher Bewertung höchst unterschiedlicher Grade verbindbar, in welchen im Handeln der Menschen den gemeinverbindlichen Ansprüchen der Moral nachgelebt wird – oder eben auch nicht. Ein Mensch guten Willens zu sein, gewiss – dieser Anspruch kommt jedem zu. Die gegebenenfalls fällige Beantwortung der Frage, ob er denn auch tatsächlich erfüllt sei, verlangt für die Zuerkennung des guten Willens ein Kriterium, an welchem die moralische Qualität des in Anspruch genommenen guten Willens sich messen lässt, und die kantische Moralphilosophie ist in ihrem theoretischen Kern bekanntlich der Erarbeitung dieses Kriteriums gewidmet. Es

3 4 5

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In : ders., Immanuel Kants Werke, Band IV. Hg. von Ernst Cassirer, Berlin 1922, S. 241–324, hier 249. Vgl. ebd., S. 249 f. Gemäß Art. 1 GG.

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besteht in der Universalisierbarkeit der Maximen unseres Handelns, wie Kant sich ausdrückt, in der Gemeinverträglichkeit unserer Absichten also, auf die uns der von Kant sogenannte „kategorische Imperativ“ verpflichtet, der im praktischen Kern der Sache in einem anspruchsvolleren moraltheoretischen Kontext dasselbe sagt, was uns ohnehin schon aus der von Kant sogenannten „populären Sittlichen Weltweisheit“6 vertraut ist, aus der Goldenen Regel zum Beispiel. An Kant habe ich hier erinnert, weil in seiner Moraltheorie besonders deutlich hervortritt, wie eng begrenzt der unentbehrliche Beitrag des Würde begründenden, moralisch reinen Willens für Zwecke der Weltverbesserung zwangsläufig bleiben muss. Im Prinzip der Sache ist das auch der zitierten traditionellen Gewissenslehre bekannt gewesen. Nach bestem Wissen und Gewissen sollen wir handeln. Aber einzig die gute Absicht steht uneingeschränkt zur eigenen Disposition. Gutes, nämlich wohlbegründetes und zugleich erfahrungsgesättigtes Wissen ist hingegen stets nur sehr begrenzt verfügbar. Der gute Wille ist eine notwendige Bedingung guten Lebens. Eine hinreichende Bedingung guten Lebens ist er hingegen nicht, vielmehr stets erst in Verbindung mit dem für unser weltverbesserndes Handeln benötigten Wissen einschlägiger sozialer und naturaler Kausalitäten. In der Zusammenfassung heißt das : „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgendeines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich gut, und für sich selbst betrachtet ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn [...] nur immer zustande gebracht werden könnte“.7

II.

Kognitive Aufklärung akademisch veranstaltet

In einer wissenschaftskulturgeschichtlichen Situation, in der die neuzeitlichen Wissenschaften bereits zum wichtigsten kognitiven Medium fälliger Weltverbesserungen ausgerufen worden waren – durch Francis Bacon zum Beispiel, aus dessen Werk Kant immerhin einen Satz als Motto seiner Kritik der reinen Vernunft voranstellte – musste damit über die Egalisierung der Würde des Menschen kraft seiner universell geltenden moralischen Pflicht hinaus zugleich auch die kognitive Aufklärung programmatisch werden, als Pflicht, sich im Rahmen der eigenen Handlungsmöglichkeiten über die Wissensvoraussetzungen eigener Weltverbesserung kraft guten Willens kundig zu machen. Das heute mit Abstand meist zitierte Diktum Kants ist bekanntlich seine Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung ?“. Aufklärung sei, definiert Kant, „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“,8 wobei diese Unmündigkeit eben nicht moralische Inkompetenz meint, sondern viel-

6 7 8

Kant, Metaphysik, S. 362. Ebd., S. 250. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage : Was ist Aufklärung ? In : ders., Immanuel Kants Werke, Band IV. Hg. von Ernst Cassirer, Berlin 1922, S. 167–176, hier 169.

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mehr das „Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“.9 Überraschend und zugleich überraschend wenig thematisiert ist in dieser kantischen Aufklärungscharakteristik der moralisierende Vorwurf Kants an die Adresse seiner weniger aufgeklärten Zeitgenossenschaft, die fragliche Unmündigkeit sei „selbstverschuldet“. Das ist aufklärungsbedürftig, und eines der schlichten Beispiele damals fortdauernder Emanzipationsbedürftigkeiten lehrt uns, was gemeint war. Als objektiv nicht mehr benötigten Vormund, von dessen Maßgaben wir uns der Bequemlichkeit halber noch nicht befreit hätten, erwähnt Kant den „Seelsorger, der für mich Gewissen hat“.10 In allem, worauf es lebenspraktisch wirklich ankommt, auf die gute Moral nämlich, lehrt doch die Kirche nur, was ich mir als Mensch guten Willens auch selbst sagen könnte. So wird die aufgeklärte Religion als „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ ihrerseits zu einer Parallelveranstaltung säkularer Moralisierung, nämlich durch die Erhebung unserer moralischen Pflichten zu „göttlichen Geboten“.11 Diese Reduktion von Religion auf Moral gilt Kant wie auch anderen Religionsphilosophen des Aufklärungszeitalters als das Medium der Befreiung der Vernunft von den „Ungeheuern“, die die voraufgeklärte Religion der Vernunft aufgedrängt habe – von „Mahomets Paradies“ bis zu „der Theosophen und Mystiker schmelzende Vereinigung mit der Gottheit, so wie jedem sein Sinn steht“.12 Festgehalten sei, dass mit dieser Reduktion der Religion auf die Moral diese Moral auf das Niveau von Geltungsansprüchen hinaufgehoben wird, das der Religion voraufgeklärt kulturell und politisch zukam. Das sollte nach der Aufklärung Folgen haben, auf die im Kontext einiger Erörterungen zum Stichwort „Politische Religionen“ zurückzukommen sein wird. Wie keine andere Moraltheorie bringt die Philosophie Kants Folgendes zur Evidenz : Mit der Egalisierung der Inhaberschaft des Höchstwerts der Würde, die Menschen universell mit ihrer moralischen Selbstverantwortung verliehen ist, intensiviert sich zugleich die Erfahrung der Unzulänglichkeit unseres Wissens, wie es für Zwecke der Weltverbesserung verfügbar sein müsste. „Weltverbesserung“ – so sei hier zusammenfassend das Ensemble aller Zwecke benannt, die uns im Idealfall schließlich in einer Welt leben ließen, die der moralischen Würde des Menschen adäquat ist – kulturell und institutionell und somit gemäß der Wechselseitigkeit unserer moralischen Pflichten auch in der gesetzlichen Ordnung humaner Gemeinschaft gesichert. Das bedeutet : Die Politisierung egalisierter moralischer Selbstbestimmung verlangt Aufklärung, die ihrerseits über den allgemeinen Appell hinaus, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, der Organisation bedarf. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Vgl. dazu Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 3. Auf lage München 2004, Kapitel „Politische Neutralisierung religiöser Wahrheitsansprüche“, S. 75–90, zu Kant S. 87 f. 12 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. In : ders., Immanuel Kants Werke, Band V. Hg. von Ernst Cassirer, Berlin 1914, S. 139.

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Der Vorschlag Kants der Institutionalisierung des Aufklärungsprozesses bleibt bescheiden, ist aber dafür realistisch und zukunftsträchtig, nämlich hochschulreformpolitisch. Gemeint ist der Vorschlag, aus den universitären Wissenschaften, wie sie sich jenseits der Oberen Fakultäten in der jüngeren Tradition der propädeutischen artistischen Disziplinen entfaltet haben, eine von allen staatlichen Vorabverfügungen befreite Philosophische Fakultät unabhängiger Wissensgenerierung zu machen. Die sogenannten Oberen Fakultäten – also Theologie, Rechtswissenschaft und Medizin – unterliegen staatlich verfügter Vorabbindung an Schriften, die in ihrer Geltung nicht zur Disposition der Wissenschaften stehen. Kant meint damit Heilige Schriften, Gesetze oder auch die „Medizinalordnung“ der „Medizinischen Polizei“. In der Philosophischen Fakultät hingegen gelten keine anderen Verbindlichkeiten als die Verbindlichkeit guter Gründe für die kognitiven Ergebnisse unserer Forschung. Und eben das werde dann schließlich kraft evidenter Nützlichkeit des wissenschaftlichen Wissens auch die staatlich sanktionierten kognitiven Prämissen sanieren, die in Katechismen, Verordnungen oder auch in administrativen Maßgaben der Gesundheitsämter fixiert sind – so die kantische Zuversicht. In einem Spätwerk „Der Streit der Fakultäten“13 aus dem Jahr 1798 hat Kant dieses Programm der akademischen Institutionalisierung des Aufklärungsprozesses entworfen. Es steht nichts entgegen, die spätere Universitätsphilosophie Wilhelm von Humboldts14 als eine zugleich hochschulpolitisch konkretisierte Überbietung der kantischen Idee zu lesen, Aufklärung durch ihre Akademisierung wirksam zu machen.15

III.

Ideokratie technokratisch

Die Idee, die Handlungspotenz des guten Willens durch Verwissenschaftlichung der kognitiven Voraussetzungen des Handelns zu verbessern, ist sehr viel älter – in ihrer utopisch - radikalisierten Façon schon dem 17. Jahrhundert zugehörig. Der prominenteste frühneuzeitliche Autor einer solchen Utopie ist Francis Bacon mit seinem Fragment gebliebenen Roman „Nova Atlantis“. Die Radikalität der Idee, für die hohen Zwecke der Weltverbesserung die dafür mehr als alles andere geeigneten, nämlich methodisch disziplinierten Wissenschaften in Anspruch zu nehmen, wird hier in das Literaturbild eines Gemeinwesens eingeführt, in der Menschen guten Willens, die zugleich über Sachverstand und technische Könnerschaft verfügen, eben dieser Qualitäten wegen mit der Macht der praktischen Nutzung des verfügbaren wissenschaftlich - technischen Wissens 13 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten. In : ders., Immanuel Kants Werke, Band VII. Hg. von Ernst Cassirer, Berlin 1922, S. 311–431. 14 Vgl. Hermann Lübbe, Fortschritt durch Wissenschaft. Humboldts Universität. In : ders., Modernisierung und Folgelasten. Trends kultureller und politischer Evolution, Berlin 1997, S. 341–353. 15 Vgl. dazu Günther Bien, Kants Theorie der Universität und ihr geschichtlicher Ort. In: Historische Zeitschrift, 219 (1974) 3, S. 551–577.

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und Könnens ausgestattet sind. Die Frage der Legitimität dieser politischen Ermächtigung zur Nutzung des wissenschaftlich - technischen Wissens und Könnens stellt sich nicht, weil sie kraft der moralischen Trivialität dieses Nutzens eo ipso beantwortet ist – vom medizinischen Sieg über Krankheiten bis zur Steigerung der Produktivität von Ackerbau und Viehzucht mittels systematisch betriebener Züchtung und von der Absenkung der Risiken der Hochseeschifffahrt durch Unterwasserfrachtschiffe bis zur Effizienzsteigerung der Vorratstechnik mittels Kryokonservierung hochverderblicher Lebensmittel. Es ist nicht erkennbar, so scheint es, wer imstande sein sollte, es besser als die Wissenschaftler zu wissen, und damit interessiert zu widersprechen. Der in den Wissensvoraussetzungen seines Handelns methodisch rationalisierte gute Wille ist kraft der trivialen Nützlichkeit seiner Verbesserungen unserer Lebensvoraussetzungen eo ipso ein moralisch zustimmungspflichtiger Wille. Dem entspricht der Respekt, den sich auch Bacon selbst als Märtyrer technisch genutzter empirischer Wissenschaft erworben hat.16 Bacon ist ein Vorläufer jener Ideokratie, deren Repräsentanten zuerst zwischen den beiden Weltkriegen, und zwar in den USA, auch unter dem neuen Namen „Technocrats“ auftraten.17 Die Technokratie - Bewegung ist nicht lediglich eine Intellektuellen - Ideologie geblieben. Ephemer ist die Idee der Technokratie sogar zum Rang reformpolitisch ambitionierter Staatsdoktrinen gelangt, so vor allem im republikanisch gewordenen Brasilien seit Beginn der 1890er Jahre in der Tradition des saint - simonistisch geprägten Positivismus August Comtes.18 Technokratisch geprägt war auch die Vision Atatürks, statt des Schwerts werde jetzt der Pflug in die Hand genommen. Dazu passt der Aufruf „Let our people live in plenty ! Let them be rich !“.19 Reste ideokratischer Ambitionen aus technokratischer Tradition sind sogar noch nach dem Zweiten Weltkrieg nachweisbar, in der französischen verwaltungstechnischen Doktrin der „planification“ zum Beispiel, die in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren auch in Deutschland ihre Anhänger hatte.20

16 Er zog sich bei Experimenten zur erwähnten Kryokonservierung eine Lungenentzündung zu und starb im April 1626 den typischerweise mit dieser Erkrankung zu jener Zeit verbundenen Altmännertod, da Sulfonamide erst dreihundert Jahre später erfunden wurden. Zu Bacon vgl. als jüngere deutsche Gesamtdarstellung Wolfgang Krohn, Francis Bacon, München 1987. 17 Vgl. dazu Gisela Klein, The Technocrats. Rückblick auf die Technokratie - Bewegung in den USA. In : Hans Lenk ( Hg.), Technokratie als Ideologie. Sozialphilosophische Beiträge zu einem politischen Dilemma, Stuttgart 1973, S. 45–57. 18 Vgl. Georg M. Regozini, August Comtes „Religion der Menschheit“ und ihre Ausprägung in Brasilien. Eine Religionsgeschichtliche Untersuchung über Ursprung, Werden und Wesen der Positivistischen Kirche in Brasilien, Frankfurt a. M. 1977. 19 So nach Lord Kinross, Ataturk. A Biography of Mustafa Kemal. Father of Modern Turky, New York 1964, S. 508. 20 Vgl. dazu die Literaturhinweise in Hermann Lübbe, Technokratie. Politische und wirtschaftliche Schicksale einer philosophischen Idee. In : ders., Politik nach der Aufklärung. Philosophische Aufsätze, München 2001, S. 11–37, hier 29–32.

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Man kennt den zivilisationskritischen Topos, der das wissenschaftlich - technisch instrumentierte Handeln zu einem moralisch erblindeten Handeln erklärt. Exemplarisch steht dafür Max Horkheimers ebenso weltfremdes wie berühmtes Buch „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“.21 Der quintessentielle Vorwurf an die Adresse der politischen Subjekte instrumenteller Vernunft lautet : Sie beschäftigten sich „mit der Angemessenheit von Verfahrensweisen an Ziele“,22 legten aber „der Frage wenig Bedeutung bei, ob die Ziele als solche vernünftig sind“.23

IV.

Ideokratie totalitär oder die bruchlose Einheit von Theorie und Praxis

Diese wenigen Bemerkungen zur Geschichte und Vorgeschichte technokratischer Ideologie und Ideokratie sollten den spezifisch technokratischen Moralismus vergegenwärtigen : Just der moraltheoretisch hochgespannte gute Wille leidet an Erfahrungen der Begrenztheit unseres Wissens und Könnens in der Absicht, das Gute schließlich auch Wirklichkeit werden zu lassen. Die Nutzung, der uns über den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt zuwachsenden Handlungsmöglichkeiten, wird moralisch verpflichtend. Die Zwecke, denen das dient, sind dabei, statt wie Horkheimer unterstellte, vergleichgültigt, von der Gesundheit bis zur technischen und organisatorischen Minderung der Risiken unserer Lebensverbringung in ihrer moralisch bezwingenden Trivialität vorausgesetzt. So muss man sogar noch ein Zentralstück der Revolutionstheorie Lenins lesen, seine Lehre von den Voraussetzungen des Absterbens des Staates im Kommunismus. Die Voraussetzung ist die uneingeschränkte Entfesselung aller Produktivkräfte, die das politische Zentralproblem aller vorletzten Gesellschaftsformationen, die Verteilung knapper Güter, durch Verwandlung des Mangels in Fülle löst.24 Gleichwohl ist selbstverständlich der Leninismus keine technokratische Ideologie, weil er in der Gestalt des Historischen und Dialektischen Materialismus eine Supertheorie aus dem 19. Jahrhundert ererbt und fortgebildet hat, die dem politisch egalisierten und universalisierten Anspruch humaner Selbstbestimmung eine kognitive Basis verschafft, die uns über das nützliche Detailwissen der Mediziner oder Metallurgen oder Agronomen hinaus die Gesetzmäßigkeit in der revolutionären Abfolge der Gesellschaftsformationen 21 Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende. Hg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M. 1967. 22 Ebd., S. 15. 23 Ebd. 24 Vgl. Wladimir Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution. In : ders., Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Band II, Stuttgart o. J., S. 151–253, exemplarisch zum Theorem kommunistischer Entpolitisierung des Verteilungsproblems S. 232.

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sichtbar und damit zugleich die Fälligkeiten im Übergang zu ihrer Vollendung politisch verpflichtend gemacht hat. „Supertheorie“ habe ich diese uns historisch vertraute Theorie der Geschichte als eine gesetzmässige Abfolge der im Rückblick wie im Vorblick uns bekannt gewordenen Gesellschaftsformationen nicht wegen ihres hypertrophen Anspruchs genannt, die Geschichte wegen ihrer erkannten Gesetzmässigkeit zugleich auf ihre Vollendung hin prognostizierbar zu machen. „Super“ sei in dieser hypertrophen Theorie vielmehr das einzigartige Zusatztheorem genannt, welches uns zu wissen gibt, dass in der Abfolge der Klassen, die in den Gesellschaftsformationen jeweils die herrschenden Klassen sind, man der letzten Klasse der künftig endgültig Befreiten selber angehören und ihr zugewandt sein muss, um kraft der ideologietheoretisch erkannten Gebundenheit unseres Wissens an unsere Klassenlage der Einsicht in den gesetzmäßigen Ablauf der Klassenkampfgeschichte überhaupt fähig zu sein. Erst „im Sozialismus“,25 so sagt es ein im real existent gewesenen Sozialismus kanonisch gewordenes philosophisches Wörterbuch, sei es den Menschen „objektiv möglich“,26 die Gesetze ihres eigenen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen zuvor „als fremde, sie beherrschende entgegen traten“,27 zu begreifen und dieses Begriffenhaben in revolutionäre Praxis umzusetzen. Aus dieser Supertheorie der Einsicht in die Bedingungen der Möglichkeit dieser Einsicht ergibt sich eine ihrerseits real praktiziert gewesene Konsequenz, nämlich, dass rezente Uneinsichtigkeit dieser Supertheorie gegenüber, Widerspruch gar, statt einen rezenten Schulungsmangel oder auch einen zähen Irrtum, Klassengegnerschaft erkennbar macht. Konsequenterweise charakterisiert der Erfinder dieser Supertheorie, der junge Karl Marx, seine Theorie folgendermaßen : „Sie ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will“.28 Ersichtlich repräsentiert der damit ausgerufene politische Vernichtungswille nicht irgendeinen archaischen Bellizismus, vielmehr einen politisch verpflichtend gewordenen höheren Moralismus. „Höher“ – das heißt hier die totale, existentiell bis in die Politik hinein uneingeschränkte Selbstverpflichtung zum Handeln kraft der Maßgaben einer Theorie des skizzierten höheren theoretischen Ranges : Vollendete Einheit von Theorie und Praxis. Entsprechend ist auch das berühmt - berüchtigte Diktum leninistischer Prägung in der Ausgabe des Tscheka - Organs „Rotes Schwert“ vom 18. August 1919, welches lautet : „Uns ist alles erlaubt“, statt eines Ausdrucks vollendeter moralischer Dekadenz die Konsequenz des hier thematisierten Hypermoralis25 Georg Klaus / Manfred Buhr ( Hg.), Philosophisches Wörterbuch, Band 2, 10. Auflage Leipzig 1974, S. 753. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In : ders./ Friedrich Engels, Werke, Band 1. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1977, S. 378–391, hier 380 ( Hervorhebungen im Original ).

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Ideokratie oder die Geburt der Gewalt

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mus. Die Begründung des fraglichen Satzes bringt das zur Evidenz : „Unsere Humanität ist absolut“. „Wir erheben zum ersten Mal das Schwert [...] im Namen der allgemeinen Freiheit [...] die die Freiheit der endgültig befreiten Menschheit sein wird“.29

V.

Politischer Moralismus

Der höhere Moralismus erscheint als das zentrale Kriterium, das totalitäre Ideokratien von sonstigen Ideokratien unterscheidet – etwa von den Ideokratien des technokratischen Musters. Dafür spricht auch, dass die argumentative Figur moralistischer Selbstermächtigung zu uneingeschränkter totalitärer Gewalt auch im Nationalsozialismus nicht fehlte. Zwischen Nationalsozialismus und Internationalsozialismus des marxistisch - leninistischen Typus liegen Welten. Der theoretische Status der Rassen - Lehre, die zum Kern der nationalsozialistischen Ideologie gehört, zeigt es. Nichtsdestoweniger erhebt auch diese Theorie die Zugehörigkeit zu einer Vorzugsgruppe zur Bedingung der Einsichtsfähigkeit in die eigene gruppenspezifische Vorzugslage. Zur Charakteristik des intellektuellen Status dieser theoretischen Selbstprivilegierung ist die Verwendung des aus dem Jiddischen stammenden Wortes „Stuss“ passend. Und auch in diesem Falle rechtfertig sich die Gewalt, deren Unvermeidlichkeit aus der Theorie abgeleitet wird, moralistisch. Heinrich Himmler beschwor bekanntlich in seiner Ansprache vom 4. Oktober 1943 in Posen an die Adresse der dort versammelten SS - Obergruppenführer, dass in der Exekution des Unvermeidlichen der Anstand bewahrt worden sei.30 Banalerweise besagt diese Ableitung des terrorfähigen politischen Moralismus aus den Privilegierungswirkungen der skizzierten höheren Theorien nicht, dass es sich bei den Exekutoren des Terrors auch ihrem Selbstanspruch nach ausnahmslos um Moralisten handle. Es ist bekannt genug, dass die Vollstrecker des Terrors instrumentell sogar die Hilfe von Kriminellen in Anspruch nahmen. Überdies gibt es Berichte darüber, dass Menschen, für die fachlich die Psychiatrie zuständig ist, besonderen terroristischen Eifer zeigten. Insoweit besagt die Analyse der moralistischen Selbstrechtfertigung totalitärer Gewalt lediglich, dass diese Rechtfertigung zur Verfügung stand, wenn es sich darum handelte, die Unvermeidlichkeit des Terrors öffentlich zu vertreten oder sich als Täter auch vor sich selbst zu salvieren. Signifikant für die moralistische Verfassung totalitärer Systeme ist nicht zuletzt der Schauprozess. Er wird zur Gelegenheit öffentlicher Demonstration der unüberbietbaren Legitimität eines politischen Glaubens, in der die Eigen-

29 Zit. nach : Peter Scheibert, Lenin an der Macht. Das russische Volk in der Revolution 1918 bis 1922, Weinheim 1984, S. 85. 30 Vgl. dazu Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Berlin ( West ) 1987, S. 17.

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schaften, wahr und gut zu sein, bruchlos miteinander verschmolzen sind, so dass der Abweichler zum Verräter des Glaubens wie der mit Glauben stets verknüpfbaren gewissenstäterschaftlichen Moral wird. Die Schauvorführung der Delinquenten bringt das zur Evidenz – auch in diesem Fall mit einer markanten Differenz zwischen nationalsozialistischem und internationalsozialistischem Totalitarismus. Vor dem Volksgerichtshof unter seinem Präsidenten Freisler, den Hitler bekanntlich „unser[ en ] Wyschinski“31 nannte, wurden die Angeklagten vor ihrer physischen Liquidation durch einschlägige Charakteristiken ihrer Person auch noch ihrer moralischer Würde beraubt. Die berühmten Schauprozesse unter Stalin verfuhren um eine entscheidende Nuance moralpolitisch sublimer. Die Angeklagten bekamen ihr Urteil, nachdem sie zuvor selbst ihre Schuld öffentlich einbekannt hatten. Die moralische Integrität des Systems war damit scheinbar bis in die innerste Subjektivität derer, die einmal versagt hatten, wiederhergestellt.32 Das bekräftigt den kommunistischen Universalismus im moralischen Anspruch, alle Menschen seien berufen, sich zu reiner Humangenossenschaft zu erheben. Eben diesen Universalismus kennt der Nationalsozialismus nicht. Was aber dieser Unterschied tatsächlich bedeutet, vergegenwärtigt man sich am besten im Versuch, die Perspektive der Opfer einzunehmen. An dieser Stelle drängt es sich auf, den Ideokratien der totalitären Observanz Religionseigenschaft zuzusprechen, und das nicht zuletzt in Erinnerung an Ketzerprozesse. Eric Voegelins Kennzeichnung der totalitären Systeme als „politische Religionen“ ist insoweit plausibel und die weitverbreitete Akzeptanz dieser Kennzeichnung gleichfalls.33 Dennoch empfiehlt es sich, die Kennzeichnung der totalitären Ideokratien als „Politische Religionen“ zu vermeiden. Sowohl der Nationalsozialismus wie der Sowjetkommunismus haben Kirchen und Religionen verfolgt – der Kommunismus im Anspruch einer neuen und höheren Lebensordnung, die endlich und definitiv Menschen religionsunbedürftig machte, und der Nationalsozialismus im kirchenpolitisch dann auch praktizierten Dauervorbehalt gegen das Christentum in seiner „dekadenten“ Prägung durch den zum Paulus gewordenen Juden Saulus.34 Man trifft die Beziehungen zwischen den Ideokratien totalitärer ideologischer Prägung einerseits und den Religionen andererseits mit der Kennzeichnung der totalitären Systeme als „Anti - Religionen“ besser. 31

Hitler zit. nach Joachim Fest, Hitler. Eine Biographie. Zweiter Band : Der Führer, Frankfurt a. M. 1976, S. 970. 32 Einschlägige Berichte finden sich in Anton Antonow - Owssejenko, Stalin. Portrait einer Tyrannei, München 1983, S. 232 f. 33 Vgl. exemplarisch bei Hans Maier ( Hg.), ‚Totalitarismus‘ und ‚Politische Religionen‘. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996. 34 Vgl. Hermann Lübbe, Politik und Religion nach der Aufklärung. In : ders., Politik nach der Aufklärung. Philosophische Aufsätze, München 2001, S. 39–74, dort zu Hitlers nietzscheanisch geprägter Christentumsphilosophie, die er bis gegen das Ende des „Dritten Reiches“ durchhielt, S. 54 f. Zu Voegelin vgl. ders., Die Religion und die Legitimität der Neuzeit. Modernisierungsphilosophie bei Eric Voegelin, bei Hans Blumenberg und in der Ritterschule. In : ders., Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtssinn, Direkte Demokratie und Moral, München 2004, S. 58–79, hier 77.

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Ideokratie oder die Geburt der Gewalt

VI.

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Moralische Trauer über Untaten aus gutem Willen

Was die totalitären Systeme ihren Gläubigen in letzter Instanz zumuten, lässt sich prototypisch am Exempel der moralischen Verfassung der schon erwähnten Gewissenstäter erkennen. Sie treten auf in der selbstzweifelsfreien Gewissheit, dann und wann auch ohne Auftrag politisch bereits etablierter Führer, also als selbstbeauftragte Exekutoren höherer Notwendigkeiten. Ein solcher Gewissenstäter ist der Theologiestudent Karl Ludwig Sand. Wissend, dass ihn das seinen Kopf kosten würde, tötete er am 23. März 1819 in Mannheim den Dichter August von Kotzebue mit einem Dolchstoß. Warum ? Ein marginales, so möchte man meinen, biographisches Detail, eine frühere Tätigkeit als russischer Konsul in Königsberg, als der er gelegentlich der Regierung des Zaren Berichte über Aktivitäten freiheitsbewegter Studenten in Deutschland zukommen ließ, machte ihn todeswürdig. Kotzebue verriet damit im Dienste des Zaren die Freiheit an die Vormacht der nachnapoleonischen Restauration. Umso unerträglicher war für Sand seine spätere Lustspielautorenpopularität. Kotzebue schien dem Publikum lediglich ein politisch harmloser populärer Bühnenschriftsteller mit Aufführungserfolgen zu sein, die in Weimar zeitweise quantitativ die von Goethe und Schiller zusammengenommen um das Zwanzigfache überboten. Eben das erzwang in der Erwartung einer Erweckung des Publikums die selbstaufopferungsbereite Tötung des nichtswürdigen Subjekts.35 Die Reihe vergleichbarer Gewissenstäterschaften ist sehr lang und scheint sich modernisierungsabhängig noch verlängert zu haben – links wie rechts im breiten Spektrum der Motivation von Taten, die ein unübersehbares Zeichen setzen. Zuletzt finden wir rechts im politisch moderaten Norwegen den spektakulären Fall Breiviks. Aber was heißt in einem solchen Falle noch „rechts“ ? Kommt es hier auf den Umstand an, dass die Opfer der Massenexekution, mit der er ein Zeichen setzen wollte, Teilnehmer eines jungsozialistischen Ferientreffs waren ? Immerhin zählte doch zu den Gewährsklassikern, auf die Breivik sich in seiner Rechtfertigungsschrift berief, neben Kant und John Stuart Mill, auch Winston Churchill als Sieger des Zweiten Weltkriegs und damit als Befreier Norwegens von der Besetzung durch die nationalsozialistische Wehrmacht. Kurz : Die Geschichte der Gewissenstäterschaften ist ein guter Anlass zur Frage, ob wir es beim Phänomen der Gewalt kraft Selbstbestimmung zur Tat gemäß ultimativen Maßgaben reinen Willens nicht mit universell, anthropologisch verbreiteten Möglichkeiten zu tun haben, denen gegenüber die Unterscheidung von rechts und links nichts mehr besagt.

35 „Früher Tod bricht nicht die Siegesbahn, wofern wir nur auf ihr als Helden sterben“ – so der brave Theologiestudent Sand eigenhändig. Vgl. zu Sand : Hermann Lübbe, Idealismus exekutiv. Wieso der Dichter August von Kotzebue sterben musste. In : ders., Philosophie in Geschichten. Über intellektuelle Affirmationen und Negationen in Deutschland, München 2006, S. 44–58.

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Kant übrigens, mit dessen Charakteristik des guten Willens als dem Einzigen, was „in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich“36 sei, „was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden“,37 mit der wir diese kleine Darstellung der Geburt der Gewalt aus enttrivialisierter Moral begonnen hatten – Kant also hat sich auch seinerseits noch mit den im Prinzip unvermeidlichen Folgen des Umstands beschäftigt, dass der gute Wille, als notwendige Bedingung guter Lebensumstände, doch zugleich als hinreichende Bedingung dafür nicht ausreicht. Schlimmes geschieht eben in unserer Welt nicht nur deswegen, weil Menschen, von Interessen verführt, den einfachen Maßgaben ihres Gewissens nicht folgen. Schlimmes geschieht außerdem, indem Menschen besten Willens irrtumsbehaftet Untaten begehen. Just in „Verfolgung“ von „für wichtig und groß gehaltenen Zwecken“ tun sich Menschen „untereinander alle erdenkliche Übel“ an. Die „Traurigkeit“, die uns im Anblick eben dieser Übel ergreife, nennt Kant dann, weil der gute Wille selbst ihre Quelle ist, „erhaben“.38 Der Klang dieser Verwendung des Wortes „erhaben“ berührt uns heute eher befremdlich. Aber „erhaben“ heißen eben in der klassischen Theorie der Erhabenheit Bestände, deren Anblick uns die Moral des Standhaltens abverlangt, um sie auszuhalten und der Versuchung zu widerstehen, die „Menschen zu fliehen“.39 Es empfiehlt sich, auf diesen kantischen Begriff der erhabenen Traurigkeit aufmerksam zu bleiben.

36 Kant, Metaphysik, S. 249. 37 Ebd. 38 Zum vorstehenden : Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. In : ders., Immanuel Kants Werke, Band V. Hg. von Ernst Cassirer, Berlin 1920, S. 233–568, hier 348 f. 39 Ebd.

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Ideologische Selbstbindung in Weltanschauungsdiktaturen Lothar Fritze

I.

Einleitung

Unter „Weltanschauungsdiktaturen“ verstehe ich diktatorische Herrschaftssysteme, deren Führer ihre Macht zum Zwecke der Realisierung bestimmter inhaltlicher Ziele ausüben, die typischerweise in der grundlegenden Umgestaltung der Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens bestehen. Damit verbunden ist die Absicht, die zu konstruierenden Gesellschaften nach festgelegten Prinzipien zu lenken. Die Ziele sowie die Mittel und Methoden ihrer Realisierung sind Bestandteil eines theoretischen Ideensystems oder werden aus diesem abgeleitet, dem sich die Führer verpflichtet fühlen oder auf das sie sich wenigstens berufen. Weltanschauungsdiktaturen können insofern auch als „ideologiegeleitete Diktaturen“ oder „Ideokratien“ bezeichnet werden. Das bolschewistische und das nationalsozialistische Regime betrachte ich – mit einer gewissen, hier nicht relevanten Einschränkung1 – als Prototypen beziehungsweise paradigmatische Fälle von Weltanschauungsdiktaturen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass konkrete Weltanschauungsdiktaturen sämtliche Merkmale dieses Herrschaftstyps aufweisen müssten. Das Merkmalssyndrom eines Herrschaftstyps wird nicht nur auf dem Wege der Abstraktion gewonnen, sondern auch durch eine Analyse der solchen Systemen immanenten Logik konstruiert.

II.

Ideologien als Quellen der Legitimation

Wohl kaum ein Staat hat seine Macht je mit dem bloßen Hinweis zu rechtfertigen gesucht, dass er, weil er die höchste Macht faktisch verkörpere, auch berechtigt sei, Macht auszuüben. In aller Regel versuchen Staaten beziehungsweise Machthaber sich und ihre Herrschaft zu legitimieren, indem sie ihre Macht unter Bezugnahme etwa auf eine Herkunftsbeziehung, eine Funktion beziehungsweise eine Leistung, eine Mission oder eine Idee vom guten Leben als 1

Vgl. Lothar Fritze, Die Weltanschauungsdiktatur. In : Totalitarismus und Demokratie, 5 (2008) 2, S. 205–227, hier 225.

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rechtmäßig ausweisen. Im Falle kommunistischer Systeme, die ihrer Selbstbeschreibung zufolge auf die Verhinderung der Barbarei und den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft gerichtet waren, ist dies evident. Ähnliches lässt sich aber auch von dem anderen paradigmatischen Fall einer Weltanschauungsdiktatur sagen. Auch Hitler beanspruchte für den nationalsozialistischen Staat – und zwar obwohl er in den Beziehungen von Völkern und Staaten das „Recht des Stärkeren“ predigte –, eine weltweit bedeutsame zivilisatorische und kulturgeschichtliche Mission zu erfüllen. Politik sollte in beiden Systemen abgeleitet werden aus Gesetzmäßigkeiten des sozialen Lebens und der geschichtlichen Entwicklung. In Weltanschauungsdiktaturen fungiert als diese rechtfertigende Instanz, als entscheidende Quelle aller Legitimation, die jeweils herrschende, von den maßgebenden Führern offiziell vertretene Systemideologie. Diese Ideologien haben nicht nur Deutungs - , sondern auch Orientierungs und Sinngebungsfunktionen. Sie orientieren über das Bestehen von Notsituationen beziehungsweise die notwendig gewordene Abwehr von Gefahren, über Ziele und Methoden einer Reorganisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens oder die Neugestaltung des Gesellschaftssystems. Eine Hauptfunktion in Weltanschauungsdiktaturen ist aber ihre Legitimierungsfunktion. Herrschaftssysteme verlangen Beachtung der von ihnen gesetzten Regeln sowie Gehorsam für ihre Anweisungen und Befehle. Die jeweiligen Systemideologien liefern Gründe, warum die Herrschaftsunterworfenen diesen Regeln und Anweisungen folgen, warum sie die Herrschenden selbst sowie die Regeln der Kooptation in die Herrscherkaste und überhaupt die Modalitäten der Herrschaftsausübung akzeptieren sollen.

III.

Herrschaft im Interesse der Gemeinschaft ?

Für das Verständnis von Weltanschauungsdiktaturen ist es wesentlich, die vermeintliche Natur der Zielbestimmungen, wie sie sich den Schöpfern und überzeugten Vertretern der jeweiligen Ideologie darstellt, zu begreifen. Nach deren Selbstverständnis handelt es sich bei diesen Zielen keineswegs um Ableitungen aus Theorien oder utopischen Wunschvorstellungen. Die Theoretiker und ideologisch überzeugten Führer treten vielmehr mit dem Anspruch auf, Ziele zu realisieren, die den wohlverstandenen Interessen der Herrschaftsunterworfenen entsprechen, die den Gefühlen von Massen Ausdruck verleihen und mit deren Wünschen und Sehnsüchten in Übereinstimmung stehen. Sie beanspruchen, sowohl reale Probleme zu reflektieren und sie einer Lösung zuzuführen als auch bestehende progressive Entwicklungstrends aufzugreifen und sie in einer Weise zu befördern, die der Verwirklichung der Interessen der Gemeinschaft entspricht.

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Ideologische Selbstbindung in Weltanschauungsdiktaturen

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So bestand für marxistische Theoretiker die selbstgesetzte Aufgabe darin, das in der „Lebenssituation“ des Proletariats „unwiderruflich“2 vorgezeichnete Ziel zu identifizieren und der Arbeiterklasse zu Bewusstsein zu bringen. Wer glaubt, dass es nicht darum geht, was das Proletariat sich als Ziel vorstellt, sondern darum, „was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird“,3 wird auch, wie Marx und Engels, glauben, dass die kommunistische Theorie nicht auf Ideen oder Prinzipien von Weltverbesserern beruht, sondern vielmehr der allgemeine Ausdruck „tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung“4 ist. Und dass auch Theoretiker des Nationalsozialismus nicht grundsätzlich anders dachten, wird deutlich, wenn Gottfried Feder feststellt, dass es der Nationalsozialismus ablehne, „irgendwelche utopischen Forderungen aufzustellen oder Begriffe zu bilden, die nicht historisch aus einer organischen Gestaltung und Betrachtung des Volkstums herauswachsen“.5 In beiden ideologischen Lagern schwangen sich die Theoretiker ihrem Selbstverständnis nach zu Verkündern des angeblich in der Gemeinschaft verankerten allgemeinen, teils unbewussten, Willens auf. Sie glaubten, die objektiven Interessen der herrschaftsunterworfenen Gemeinschaftsmitglieder zu analysieren, und formulierten auf der Grundlage vermeintlich erkannter sozialer Gesetzmäßigkeiten sowie unter Berücksichtigung der konkreten sozialen Gegebenheiten und Machtverhältnisse Zielvorgaben, Pläne und Kampfmethoden für deren Verwirklichung. Indem die Führer von Weltanschauungsdiktaturen den historisch - konkreten Willen der herrschaftsunterworfenen Gemeinschaftsmitglieder zu vollstrecken meinen, neigen sie dazu, sich für welthistorische Persönlichkeiten zu halten, die durch ihr Wirken diejenigen geschichtlichen Trends befördern, die durch das auf Daseinsbewältigung gerichtete Handeln konstituiert werden. Sie betrachten sich als zugehörig zu den Einsichtsvollen, die das Recht auf ihrer Seite haben; sie begreifen sich im Sinne Hegels als „Geschäftsführer des Weltgeistes“, als diejenigen, die die Einsicht haben „von dem, was not tut und was an der Zeit ist“.6

2 3 4 5 6

Friedrich Engels / Karl Marx, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1845). In : Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Band 2. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1962, S. 38. Ebd., S. 38 ( Hervorhebung getilgt ). Karl Marx / Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1848). In : dies., Werke, Band 4. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1964, S. 474 f. Gottfried Feder, Nationalsozialismus und Eigentum. In : ders., Kampf gegen die Hochfinanz, 6. Auflage München 1935, S. 311–320, hier 312 ( Hervorhebung getilgt ). Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In : ders., Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt a. M. 1986, Band 12, S. 46.

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IV.

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Interessenidentität von Herrschern und Beherrschten ?

Indem die ideologiegläubigen Führer von Weltanschauungsdiktaturen die von den Systemideologien vorgegebenen Ziele verwirklichen, agieren sie ihrem Selbstverständnis zufolge im Interesse der Gemeinschaft. Ein ideologisch überzeugter Praktiker kann daher durchaus glauben, mit seinem politischen Handeln keine von den Interessen des Volkes abweichenden Eigeninteressen zu verfolgen. Er begreift sein Wirken vielmehr als Dienst im Interesse der Menschengemeinschaft, der er selbst angehört. Kommunisten, so konnten Marx und Engels behaupten, hätten „keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen“, sondern verträten im Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie stets das „Interesse der Gesamtbewegung“7. Und in einem ähnlichen Sinne glaubte Joseph Goebbels, dass die nationalsozialistische Revolution „von unten hervorgebrochen“ und „deshalb im besten Sinne des Wortes der Vollzug des Volkswillens“8 sei. Der Anspruch, im Interesse der Gemeinschaftsmitglieder zu handeln, bezog sich dabei im Falle kommunistischer Diktaturen auch auf die Vertreter der zu entmachtenden Ausbeuterklassen. Das, was sie aufzuopfern genötigt sind, ist nämlich, so der junge Engels, nicht „ihr wahrhaft menschlicher Lebensgenuss“, sondern nur der durch die „schlechten Zustände erzeugte Schein des Lebensgenusses“, „etwas, was wider die eigne Vernunft und das eigne Herz derer geht, die sich jetzt dieser scheinbaren Vorzüge erfreuen“.9 Insoweit liegt die Auf lösung der antagonistischen Klassengesellschaft im wohlverstandenen Eigeninteresse aller Beteiligten. Nationalsozialisten hingegen unterstellten einen universellen Daseinskampf von Völkern und Rassen. Aus dieser Sicht muss die Menge der Herrschaftsunterworfenen mit der der Gemeinschaftsmitglieder nicht identisch sein. Ein Jude beispielsweise, so die nationalsozialistische Überzeugung, konnte niemals Volksgenosse sein. Er ist und bleibt Gemeinschaftsfremder, demgegenüber sich die Herrschenden nicht zu rechtfertigen haben. Ihrem Selbstverständnis nach verkünden ideologiegläubige Führer von Weltanschauungsdiktaturen gerade kein Dogma. Der subjektive Sinn ihrer Herrschaftsausübung ist die Beförderung einer objektiven Tendenz der Geschichte. Ein solcher Führer ist insofern gerade kein Despot – kein Diktator, der Herrschaft in einem privaten Interesse ausübt. Und auch der Herrschaftsunterworfene, der einem solchen Führer freiwillig folgt, leistet keineswegs einem subjektiven menschlichen Willen Gehorsam. „Der völkische Mensch“, so konnte der Jurist Werner Best für den Nationalsozialismus formulieren, „gehorcht überhaupt keinem Befehl eines Menschenhirnes [...], sondern allein den Gesetzen

7 8 9

Marx / Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, S. 474. Joseph Goebbels, Rede vom 10. Mai 1933 in Berlin. In : Helmut Heiber ( Hg.), Goebbels Reden 1932–1945, Bindlach 1991, S. 108–112, hier 108. Friedrich Engels, Zwei Reden in Elberfeld (1845). In : dies., Werke, Band 2, S. 556 f.

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des Lebens, wie sie ihm durch die befugtesten Deuter der eigenen Art erkennbar gemacht und von ihm mit seinem Verstand [...] anerkannt werden“.10 Insoweit die Systemideologien Handlungsanweisungen zur Gefahrenabwehr oder zur Um - beziehungsweise Neugestaltung der Gesellschaft enthalten, informieren sie nach Auffassung ihrer Schöpfer und Vertreter – ausgehend von einer Analyse der vernünftigen, der objektiven Bedürfnisse der Gemeinschaftsmitglieder – lediglich über objektive Zweck - Mittel - Zusammenhänge. Ideologien enthalten dergestalt Bedürfnisbefriedigungs - beziehungsweise Interessenver wirklichungsanweisungen. Diese Anweisungen in politisches Handeln umzusetzen betrachten die ideologiegläubigen Diktatoren als ihre Aufgabe. Ihnen selbst gelten daher die eigene Machtergreifung und Herrschaftsausübung dann als legitim, wenn sie der Umsetzung der in der Systemideologie formulierten Vorstellungen dienen. Dabei ist der Wille der Führung zunächst nur identisch mit den objektiven Interessen der zu Führenden. „Objektiv“ sollen diejenigen ( subjektiven ) Interessen heißen, die jeder der entsprechenden Gruppe verfolgen würde, wenn er sich in einem Zustand der Aufgeklärtheit, der Informiertheit und Urteilsfähigkeit befände und über seine existenzielle Gesamtsituation unter Berücksichtigung allen relevanten Wissens gebührend nachgedacht hätte. Mit Zustimmung können die diktatorisch Herrschenden nur in dem Maße rechnen, in dem die Diskrepanz zwischen den objektiven und den real artikulierten Interessen abgebaut wird. Deshalb sind Aufklärung oder Erziehung notwendig. Gleichgültig, ob man – wie die kommunistischen Ideologiestaaten – primär auf Aufklärung sowie verstandesmäßige Überzeugung oder – wie der NS - Staat – vor allem auf mentale Stärke und Willensbildung setzt, die Führer von Weltanschauungsdiktaturen stehen letztlich vor der Aufgabe, große Menschenmassen so zu formen, dass sie ihren, von den Führern bereits erkannten, „wahren“ Interessen folgen. Dieses Verständnis ihrer Funktion lässt eine spezifische Selbstwahrnehmung entstehen. Diktatoren dieser Art halten sich gleichsam für Hegel’sche „Seelenführer“, die einen „weitergeschrittene[ n ] Geist“, nämlich die „innerliche Seele aller Individuen“, verkörpern und „ein Richtiges und Notwendiges“11 hervorbringen – das, was alle anderen Menschen wahrhaft wollen.

V.

Anspruch auf rationale Zustimmungsfähigkeit

Weltanschauungsdiktaturen geben aber nicht nur vor, aus ihrer jeweiligen Systemideologie Legitimation zu beziehen, sondern sind bemüht, ihre Herrschaft über den Umweg der Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen zur Systemideologie und zur Herrschaftsausübung zu legitimieren. Insofern wird es als herrschaftstechnisch unzureichend betrachtet, die Systemideologie lediglich 10 Werner Best, Rechtsstaat ? In : Deutsches Recht, 8 (1938) 19/20, S. 413–416, hier 415. 11 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 46 f.

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zu verkünden und ihr entsprechend politisch zu handeln. Ideologiegeleitete Diktaturen legen es vielmehr darauf an, die Systemideologie in den Überzeugungsbestand möglichst jedes Einzelnen einzupflanzen, sodass auch der Herrschaftsunterworfene das politische Handeln der Führer als richtig erkennt und ihm zustimmt. Insoweit diese Indoktrination gelingt, üben die Diktatoren und Ideologen auch geistige Herrschaft aus. In einer säkularen Welt, in der Traditionen und Autoritäten grundsätzlich hinterfragbar geworden sind, kann allgemeine Zustimmung zu bestimmten Denkangeboten vor allem dann erzeugt werden, wenn diese mit dem Nimbus der Wissenschaftlichkeit auftreten. Die Inhalte der Systemideologien haben dann die größte Aussicht, akzeptiert zu werden, wenn sie sich glaubhaft als „wissenschaftliche Erkenntnisse“ oder als „wissenschaftlich begründet“ ausweisen lassen. Der Rückgriff sowohl der bolschewistischen als auch der nationalsozialistischen Weltanschauungsdiktatur auf Resultate der Wissenschaft sowie die Selbststilisierung ihrer Systemideologien als Wissenschaft war deshalb kein Zufall, sondern geradezu zwingend. Die führenden Theoretiker und Praktiker zielen dergestalt darauf ab, die einzelnen Elemente der Ideologie als wahr oder moralisch richtig auszuweisen und jedem Einzelnen plausibel zu machen, dass es rational ist, sie in sein individuelles Überzeugungssystem zu integrieren. Insoweit die Diktatoren selbst von der Systemideologie überzeugt sind, betrachten sie die von ihnen ins Werk gesetzte Indoktrination als eine Form der Aufklärung und Erkenntnisvermittlung, aber nicht als Ausübung geistiger Herrschaft. Diese Selbstwahrnehmung hat Konsequenzen für ihr Verständnis von Demokratie und Diktatur. So gedachte Hitler, die parlamentarische, „jüdische“, Demokratie, die er als eine Form der Herrschaft des Mehrheitswillens und damit der Unterdrückung der Vernunft begriff, durch die „wahrhaftige germanische Demokratie“12 zu ersetzen. Als deren Kennzeichen galt nicht nur das Führerprinzip, das für den Führer die Übernahme der vollen Verantwortung für sein Tun und Lassen sowie sein Eintreten mit „Vermögen und Leben“ für seine Entscheidungen einschloss;13 ihre zentrale Idee sollte sein, „durch Vernunft die Mehrheit überzeugen“.14 Ideologisch überzeugte Führer von Weltanschauungsdiktaturen sind der Auffassung, dass jedes Gesellschaftsmitglied der Systemideologie, ihrem eigenen Herrschaftsanspruch sowie ihrer Herrschaftsausübung vernünftigerweise zustimmen müsste. Allerdings kollidiert dieser Anspruch auf rationale Zustimmungsfähigkeit mit dem Umstand, dass eine faktische Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen an eine Internalisierung der Systemideologie gebunden ist und sich daher erst als Ergebnis eines Erziehungs - und Bildungsprozesses einstellen kann. Solange dieser Prozess der Übernahme der Systemideologie in 12 Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, 504.–508. Auflage München 1940, S. 99. 13 Ebd. 14 Zit. nach Werner Maser, Hitlers Briefe und Notizen. Sein Weltbild in handschriftlichen Dokumenten, Graz 2002, S. 239.

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die Überzeugungsbestände der Herrschaftsunterworfenen nicht weitgehend abgeschlossen ist, wird der Anspruch auf Zustimmung unerfüllt bleiben, ja die Machtausübung der Diktatoren wird als eine illegitime Herrschaft empfunden. Die diktatorischen Führer fühlen sich zwar objektiv legitimiert; eine faktische Legitimation qua Zustimmung wird aber in aller Regel nur eine Möglichkeit der Zukunft sein. Praktisch gesehen bauen damit Weltanschauungsdiktaturen auf eine nachholende Legitimation. In einer solchen Entwicklungsphase aber leiden Weltanschauungsdiktaturen unter Legitimationsdefiziten. Ihre Führer befinden sich in einer Kampfstellung gegen die Gemeinschaft, um deren Zustimmung sie sich bemühen und deren wahre Interessen zu vertreten sie vorgeben.15 Zur Etablierung einer neuen Gesellschaft bedarf es der aktiven Teilnahme der Gemeinschaftsmitglieder, wenigstens aber deren Duldung. Die praktische Umsetzung des Gesellschaftsprojekts wird hingegen auf Widerwillen und Abwehrhaltungen stoßen und damit eine entscheidende Voraussetzung ihres Gelingens untergraben. Diese pragmatische Selbstwidersprüchlichkeit ideologiegeleiteter Diktaturen ist aus prinzipiellen Gründen nicht von Anfang an eliminierbar, sondern bestenfalls in einem Prozess der Überwindung von Schwierigkeiten und Widerständen sowie der allmählichen Generierung von Zustimmung aufhebbar.

VI.

Dogmatisierung und Kritikverbot

Damit die jeweiligen Systemideologien ihre Legitimationsfunktion dauerhaft übernehmen können, liegt es nahe, sie als Dogma zu präsentieren und vor Angriffen oder Infragestellungen zu schützen. Weltanschauungsdiktaturen zielen nicht auf Reformen innerhalb des bestehenden Gesellschaftssystems, sondern auf dessen radikale Transformation ab. Insofern stehen sie vor immensen Herausforderungen und Schwierigkeiten; sie haben mit Rückschlägen und Widerstand zu rechnen. Unter diesen Voraussetzungen werden sie ihrer Mission in der Regel nur dann gerecht werden können, wenn sie die Systemideologie der öffentlichen Diskussion weitgehend zu entziehen vermögen und sie damit faktisch unangreifbar machen. Aufgabe ist es deshalb, jede ins Grundsätzliche gehende Kritik zu unterbinden und Kritiker zu maßregeln. Aus dieser Aufgabe resultieren einschneidende Konsequenzen für die Ausbildung bestimmter Herrschaftstechniken. Ideologiegeleitete Diktaturen neigen zur Errichtung eines Informations - und Meinungsäußerungsmonopols. Zu diesem Zweck unterbinden sie den allgemeinen Zugriff auf bestimmte Informationen oder Wissensbestände und untersagen die Verbreitung abweichender Auffassungen. Kritiker werden stigmatisiert, moralisch herabgesetzt und notfalls als Feinde verfolgt. 15 Vgl. Martin Drath, Totalitarismus in der Volksdemokratie. In : Bruno Seidel / Siegfried Jenkner ( Hg.), Wege der Totalitarismus - Forschung, Darmstadt 1968, S. 310–358, hier 351.

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Herrschaftspraktiken dieser Art können eine ideologieinterne Legitimation erfahren. Dies ist – wie in der bolschewistisch - kommunistischen und der nationalsozialistischen Ideologie – dann der Fall, wenn die betreffende Ideologie Theoreme enthält, die ihren Inhalten eine immanente Wahrheitsgarantie zuschreibt und damit die Unmöglichkeit einer Falsifikation, also ihre eigene Revisionsresistenz begründet.16 Wer von der prinzipiellen Revisionsresistenz eines Denkgebäudes überzeugt ist, hält dieses für bestenfalls präzisierbar. Er wird zwar eine vertiefte Erkenntnis des bereits Erkannten für möglich erachten, nicht aber eine grundlegende Korrektur. Insofern wird er auch eine weitere Überprüfung fundamentaler Elemente seiner gesellschaftstheoretisch und politisch relevanten Überzeugungen nicht als geboten ansehen. Unter den Ideologiegläubigen kann sich daher die Überzeugung durchsetzen, es sei notwendig und gerechtfertigt, relevante Meinungen, die den jeweiligen Systemideologien widersprechen, zu unterdrücken, ihre Verbreitung zu verhindern und ihre Träger zu bekämpfen. Sowohl im bolschewistisch - kommunistischen Lager als auch im Nationalsozialismus folgte man der naheliegenden Rechtfertigungslogik, dass, wenn die Wahrheit bereits gefunden und offenkundig ist, jede abweichende Auffassung nur falsch sein kann und ihre Duldung Verwirrung stiften muss. Ganz in diesem Sinne galt marxistisch - leninistischen Erkenntnistheoretikern die Verbreitung gegnerischer Auffassungen als eine „Verschleierung der wahren Zusammenhänge“, als erkenntnisfeindliche „geistige Manipulation“17. Die Ideologen beider paradigmatischer Weltanschauungsdiktaturen des 20. Jahrhunderts waren daher der Auffassung, dass es kein Recht geben könne, die Unwahrheit, das heißt der eigenen Ideologie widersprechende Auffassungen zu verkünden. Deshalb habe man, so Hitler, „aufgeräumt mit der Vorstellung, als gehörte es zur staatspolitischen Freiheit, dass jeder aussprechen kann, was er Lust hat“,18 und deshalb auch betrachtete er das parlamentarisch - demokratische Systeme, das politischen Gegnern die Freiheit gewähre, sie zu bekämpfen, also „die Demokratie mit den Waffen der Demokratie“19 zu schlagen, für ein Zeichen der Schwäche und der Lebensuntauglichkeit. Aber auch marxistisch- leninistische Ideologen verteidigten ihr Meinungsmonopol mit einem strukturgleichen Argument. Jürgen Kuczynski beispielsweise plädierte nachdrücklich für die Unterdrückung der Meinungsfreiheit im Sozialismus. So wie schließlich auch die Soldaten einer bewaffneten Armee nicht die Freiheit beanspruchen

16 Vgl. Lothar Fritze, Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich, München 2012, S. 232–240. 17 Dieter Wittich / Klaus Gößler / Kurt Wagner, Marxistisch - leninistische Erkenntnistheorie, Berlin ( Ost ) 1978, S. 381 ( Hervorhebung getilgt ). 18 Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. Aufgezeichnet von Heinrich Heim. Hg. und kommentiert von Werner Jochmann, München 2000, Dok. 142, S. 294. 19 Adolf Hitler, Rede auf NSDAP - Versammlung in München, 18. Juli 1930. In : ders., Reden, Schriften, Anordnungen, München 1994, Band III /3, Dok. 76, S. 279.

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Ideologische Selbstbindung in Weltanschauungsdiktaturen

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könnten, in jede beliebige Richtung zu schießen, gebe man „auch niemandem die Freiheit, in der Presse in jeder Richtung zu kämpfen“. „Im Gegenteil, alle, die gegen den Sozialismus, gegen den Fortschritt kämpfen wollen, sind der Waffe der Presse bei uns beraubt“, ließ sich Kuczynski vernehmen – und setzte hinzu : „im Interesse des Fortschritts, im Interesse unseres Volkes“.20

VII. Bindung des Herrscherwillens an die Systemideologie Eine ideologiekonforme Herrschaftsausübung ist Bedingung der Möglichkeit einer dauerhaften Zustimmung seitens der herrschaftsunterworfenen Gemeinschaftsmitglieder. Der Anspruch ideologisch überzeugter Diktatoren, die Herrschaft im Dienste der aus der Ideologie folgenden Zielvorgaben und damit im Interesse der herrschaftsunterworfenen Gemeinschaft auszuüben, kann in der Regel nur dann glaubhaft vertreten und aufrechterhalten werden, wenn zum einen die große Masse der Gemeinschaftsmitglieder die Herrschaftsausübung als ideologiekonform betrachtet. Auch die Führer von Weltanschauungsdiktaturen sind insoweit gebunden. Jede Ideologie formuliert neben den anzustrebenden Zielen auch Wertvorstellungen und moralische Forderungen – und damit zumindest indirekt auch Restriktionen hinsichtlich der erlaubten Mittel und Methoden. Daher gelten auch in Weltanschauungsdiktaturen bestimmte politische Handlungen der Machthaber als durch die Systemideologie verboten. Sie müssen deshalb entweder unterlassen oder kaschiert werden. Dass sich hier ein weites Feld für Interpretationen und Rechtfertigungsargumentationen eröffnet, versteht sich von selbst. Wie weit man bei der interpretatorischen Ausweitung aber auch gehen mag, zu keinem Zeitpunkt können beliebige Zielvorgaben, Maßnahmen oder Herrschaftstechniken als ideologiekonform ausgewiesen werden und in diesem Sinne als erlaubt gelten. Das aber heißt, dass auch die Machthaber in Weltanschauungsdiktaturen in der Wahl ihrer Ziele, Strategien und Herrschaftsmethoden – herrschaftstechnisch betrachtet – nicht völlig frei sind. Das schließt nicht aus, dass Machthaber, die sich selbst von der Systemideologie verabschiedet haben, sehr wohl ideologieungebunden handeln können; allerdings sind sie auch dann mit dem Problem konfrontiert, ihre Herrschaft als ideologiekonform darstellen zu müssen. Sieht man von diesem Sonderfall ab, konnte Ernst Rudolf Huber in Bezug auf ideologisch überzeugte Führer durchaus zu Recht formulieren, dass die Führergewalt „nicht selbstherrlich“ sei und „keine Willkür“ bedeute, sondern „ihre Bindung in sich selbst“21 trage. Die Führergewalt, so formulierte Huber, „geht vom Volke aus, d. h. sie ist dem Führer vom Volke anvertraut, sie ist um des Volkes willen da, sie hat ihre Rechtfertigung aus dem Volk“.22 Auch die maßgeblichen Führer sind 20 Jürgen Kuczynski, Menschenrechte und Klassenrechte, Berlin ( Ost ) 1978, S. 105. 21 Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg o. J., S. 230 ( Hervorhebung getilgt ). 22 Ebd.

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im Interesse der Zustimmung zu ihrer Herrschaft durch die herrschaftsunterworfenen Mitglieder der Gemeinschaft genötigt, ihre Herrschaft als mit den Prinzipien der jeweiligen Systemideologie kompatibel auszuweisen, also zumindest den Schein der Ideologiekonformität ihres Handelns zu erwecken. Daraus resultiert eine Bindung der Machthaber an die Vorgaben der jeweiligen Systemideologie. Die Ideologiekonformität der Herrschaftsausübung erweist sich zum anderen aber nicht nur am ernsthaften Bemühen der Führer, sondern ganz wesentlich am realen Erfolg. Soll der Glaube an die Ideologie nicht untergraben und letztlich zerstört werden, muss im Volk der Eindruck vorherrschen, dass an der Realisierung des die Systemideologie wesentlich ausmachenden Zukunftsprojekts erfolgreich gearbeitet wird. Indem Weltanschauungsdiktaturen Projekte der Gesellschaftsveränderung verkörpern, sind sie zum Erfolg verdammt. Bei allen Schwierigkeiten und Rückschlägen müssen die Führer das Volk glauben lassen, dass Fortschritte erzielt werden. Ihre Legitimation gegenüber denjenigen, die überzeugt werden sollen, steht und fällt mit dem Erfolg. Daraus resultiert auch ihre Neigung, die Legitimität des Regierungshandelns primär am Erfolg, an dem im Nachhinein feststellbaren Ergebnis, zu messen.

VIII. Ideologische Selbstbindung und Selbstermächtigung Auch in Weltanschauungsdiktaturen kann es einzelne Führer geben, die selbst nicht zu den innerlich Überzeugten gehören, gleichwohl aber – etwa aus opportunistischem Eigeninteresse – in äußerer Übereinstimmung mit der Systemideologie handeln. Auch deren Herrschaftsausübung ist insoweit an die Systemideologie gebunden; es ist aber eine Bindung, die ihren Grund in dem äußeren Zweck der Herrschaftssicherung hat und nicht dem Glauben an den materialen Gehalt der Ideologie entspringt. In aller Regel jedoch dürften die führenden Propagandisten und Diktatoren selbst ideologisch überzeugt sein. Nicht selten sind sie selbst Schöpfer oder Mitschöpfer der Systemideologie; häufig sind sie ihre glühendsten und fanatischsten Vertreter. Ein Überzeugter legt es allerdings nicht darauf an, die von der Ideologie vorgegebenen Ziele zu realisieren, weil er die Realisierung dieser Ziele für eine Bedingung der Stabilisierung seiner persönlichen Herrschaft hält, sondern weil er glaubt, dass sie richtig und für die Gemeinschaft bedeutungsvoll sind. Ideologisch überzeugte Führer von Weltanschauungsdiktaturen sind daher auch ideologisch betrachtet nicht frei. Sie sind, was ihre Handlungsmotivation betrifft, an ihre Ideologie gebunden. Gerade weil sie Überzeugte sind, erstreben sie die Ideologierealisierung nicht nur aus Gründen der Legitimierung ihrer Herrschaft, sondern weil sie die Umsetzung der inhaltlichen Vorgaben – und zwar im Interesse der Gemeinschaft – selbst wollen. Diese Beziehung eines

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Ideologische Selbstbindung in Weltanschauungsdiktaturen

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Überzeugten zu seinen Überzeugungsinhalten bezeichne ich als ideologische Selbstbindung. Die Überzeugung von der Richtigkeit und Leistungsfähigkeit der eigenen Ideologie bildet die psychologische Basis der individuellen Selbstermächtigung zum eingreifenden Handeln. Aus der Gewissheit, über ein überlegenes Erkenntnis - und Orientierungsssystem zu verfügen, speist sich der unter Führern von Weltanschauungsdiktaturen verbreitete Glaube, berechtigt zu sein, artikulierte Interessen oder individuelle Rechte von Gemeinschaftsmitgliedern zu verletzen. Dieser Art zu denken hatte Adolf Hitler schon vor seiner „Machtergreifung“ Ausdruck gegeben, als er das „Recht zur entscheidenden Tat“ demjenigen zusprach, „der in seinem tiefsten Inneren in der Überzeugung seines heiligen Rechtes und der Wahrhaftigkeit seines Handelns die Verantwortung zu übernehmen bereit ist vor sich, seinem Gewissen und einer möglicherweise erst in Jahrtausenden gerecht urteilenden Nachwelt“.23 Die Größe eines Mannes sei dabei „um so bedeutender, je größer sein Mut war, im Gegensatz zu einer allgemein herrschenden, aber verderblichen Ansicht seine bessere Einsicht zum allgemeinen Siege zu führen“, und sein Sieg werde „um so größer erscheinen, je gewaltiger die Widerstände waren, die überwunden werden mussten, und je aussichtsloser zunächst der Kampf schien“.24 Vor allem aus dem Grad und der Tiefe des subjektiven Überzeugtseins sowie dem Bewusstsein der eigenen Ehrlichkeit bezieht der sich selbst Ermächtigende das Gefühl der Legitimität.

IX.

Ideologische Selbstfesselung

Insoweit ideologiegeleitete Diktaturen sich auf Dauer nur durch die Realisierung der von ihnen in Aussicht gestellten Leistungen legitimieren können, stehen sie vor einer permanenten Herausforderung. Sie sind darauf angewiesen, bei der Masse der Gemeinschaftsmitglieder den Eindruck und den Glauben zu erzeugen, dass die Ziele ihres Gesellschaftsprojekts allmählich verwirklicht werden. Zur Erzeugung des gewünschten Glaubens stehen Weltanschauungsdiktaturen verschiedene Möglichkeiten offen. Zum einen kann das Informations - und Nachrichtenmonopol genutzt werden zur gezielten Desinformation und Indoktrination. Zum anderen sind die inhaltlichen Bestandteile einer Systemideologie interpretationsbedürftig und auslegungsfähig, sodass etwa selbst Misserfolge optimistisch verfälscht, verharmlost oder wegdiskutiert werden können. Der Grad der Ausgearbeitetheit und der inneren Kohärenz des ideologischen Theo-

23 Adolf Hitler, „General - Mitgliederversammlung und Parteitagung der NSDAP“, 23. Januar 1922. In : Eberhard Jäckel ( Hg.), Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, Stuttgart 1980, Dok. 347, S. 553. 24 Adolf Hitler, Außenpolitische Standortbestimmung nach der Reichstagswahl. In : ders., Reden, Schriften, Anordnungen, München 1994, Band II A, S. 28.

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riegebäudes bestimmt den argumentativen Aufwand, der erforderlich ist, um Fehlentwicklungen oder gar katastrophale Verwerfungen positiv umzudeuten. Die Führer ideologiegeleiteter Diktaturen können aber ebenso ernsthaft bemüht sein, nicht nur den Schein der Ideologiekonformität zu erzeugen, sondern in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Ideologie zu handeln. Überzeugte sind an ihre Glaubensinhalte geistig gebunden. Dies gilt sowohl für die deskriptiven als auch die normativen Bestandteile ihres Glaubens. Ihr Wille zum ideologiekonformen Handeln ist Ausdruck ihrer ideologischen und moralischen Selbstbindung. Ideologisch Überzeugte stehen vor allem dann in der Gefahr, ein unkritisches Verhältnis zu ihren Überzeugungsbeständen zu unterhalten, wenn diese Ideologie Theoreme enthält, die ihre eigene Revisionsresistenz behaupten und sie gegen Kritik immunisieren. Eine geistige und moralische Bindung an eine solche, totalitäre, Ideologie25 kann den Charakter einer „Selbstfesselung“ annehmen. Unter der Voraussetzung, dass eine deutliche Mehrheit der maßgeblichen Führer einer Weltanschauungsdiktatur zumindest von den zentralen Ideologieinhalten selbst überzeugt ist, kann eine solche Selbstfesselung sogar Handlungen verhindern, die im Interesse der Herrschaftsstabilisierung notwendig oder hilfreich wären. Diese Voraussetzung muss freilich in realen Weltanschauungsdiktaturen nicht notwendigerweise gegeben sein. Wenn Manfred G. Schmidt zu Recht darauf hinweist, dass es einer Erklärung bedarf, „warum der Zielkonflikt zwischen Sozialschutz und ökonomischer Effizienz bis zum Ende der DDR nicht korrigiert wurde, obwohl er Fachleuten der Planwirtschaft seit den 1970er Jahren bekannt war“,26 ist zu vermuten, dass ökonomisch gebotene Maßnahmen deshalb nicht ergriffen wurden, weil diese mit einem Ausbau des Leistungsprinzips, einer Reform des Preis - , insbesondere des Mietpreissystems sowie der Hinnahme von Arbeitslosigkeit und größerer sozialer Unterschiede verbunden gewesen wären.27 Eine solche Änderung der Wirtschaftspolitik hätte jedoch zentrale Werte der sozialistischen Ideologie in Frage gestellt. Die zentralen Planwirtschaften des Realsozialismus müssen als Projekte begriffen werden, den ökonomischen Reproduktionsprozess unter ethischen Gesichtspunkten zu steuern. Zwar trat man auch mit dem Anspruch auf, eine höhere ökonomische Effizienz als in den marktwirtschaftlichen Industriegesellschaften zu erreichen, zunächst allerdings folgten die wirtschaftstheoretischen Überlegungen von Marxisten dem moralischen Impuls, die katastrophalen Arbeits - und Lebensbedingungen der Industriearbeiterschaft des 19. Jahrhunderts zu überwinden, für mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung des 25 Zum Begriff der totalitären Ideologie vgl. Fritze, Die Weltanschauungsdiktatur, S. 223– 225. 26 Manfred G. Schmidt, Legitimation durch Performanz ? Zur Output - Legitimität in Autokratien. In : Totalitarismus und Demokratie, 9 (2012) 1, S. 83–100, hier 97. 27 Vgl. Lothar Fritze, Systemimmanenz oder Kontingenz ? Zum Scheitern der realsozialistischen Planwirtschaft. In : ders., Die Gegenwart des Vergangenen. Über das Weiterleben der DDR nach ihrem Ende, Weimar 1997, S. 137–169, hier 155–162.

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gesellschaftlichen Endprodukts zu sorgen, Arbeiter aus knechtender Abhängigkeit zu befreien sowie eine zivilisatorische Neuausrichtung des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses zu bewirken, um die zukünftigen Überlebensbedingungen der Gattung „Mensch“ langfristig zu sichern. Diese ethischen und zivilisationstheoretischen Vorstellungen schlugen sich in einer intendierten Ausrichtung des Realsozialismus auf Gewährleistung einer möglichst hohen sozialen Sicherheit und einer möglichst großen sozialen Gleichheit nieder. Mit der ideologischen Akzeptanz ethischer Zielsetzungen und ihrer propagandistischen Vertretung zu Legitimationszwecken war es aber nunmehr ideologisch inopportun geworden, die Güte wirtschafts - und sozialpolitischer Maßnahmen allein an ökonomischen Rationalitätskriterien zu messen. Jeder Versuch der SED, ökonomische Effizienz auch auf Kosten sozialistischer Wertvorstellungen durchzusetzen, hätte gerade jene Merkmale unter Druck geraten lassen, die sich für die Vorzugswürdigkeit des SED - Sozialismus überhaupt noch anführen ließen. Die SED - Herrschaft war in eine nachgerade ausweglose Situation geraten, denn sie unterlag einer ideologischen Selbstfesselung : Sie konnte – und zwar sowohl objektiv, so ist zu vermuten, als auch nach subjektiver Selbsteinschätzung – die zur Stabilisierung ihrer Herrschaft notwendigen und auch im Rahmen einer Planwirtschaft möglichen Maßnahmen nicht ausschöpfen, weil sie sich dadurch der ernsten Gefahr ausgesetzt hätte, dass ihre Glaubwürdigkeit und Legitimität noch intensiver erschüttert und ihre Herrschaft noch weiter destabilisiert worden wäre. Auch wenn ideologische Selbstfesselungen aufgebrochen und ganz oder partiell überwunden werden können und auch wenn sich die damit verbundenen Gefahren nicht zwangsläufig realisieren müssen – wie vielleicht das Beispiel Chinas zeigt –, so können sie doch wirksam sein und den Untergang derartiger Systeme beschleunigen. Zwar lassen sich kontraproduktive Selbstfesselungen vermeiden, indem man veraltete oder hinderliche Dogmen neu interpretiert. Doch zum einen ist der in der jeweiligen Kampfsituation gegebene Interpretationsrahmen nie unendlich weit. Zum anderen setzen Anpassungsinterpretationen, die zu vorgegebenen Zwecken eigens erfunden werden, ein flexibles, geradezu instrumentelles Verhältnis zur Systemideologie voraus, das fundamentalistisch eingestellte Ideologen nur selten aufbringen. In ideologischen Selbstfesselungen zu erstarren ist daher für Diktaturen mit einer totalitären Systemideologie eine reale Gefahr.

X.

Selbstbindung wider despotische Herrscherwillkür ?

Eine wirksame ideologische Selbstbindung führt zu spürbaren Beschränkungen hinsichtlich der Mittel und Methoden der Herrschaftsausübung. In diesem Sinne wird die Ideologie zu einem integralen Bestandteil der in Weltanschauungsdiktaturen erzeugten sozialen Wirklichkeit.28 Unter dieser Voraussetzung besteht 28 Vgl. Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen – Nolte, Furet und die anderen, Köln 2009, S. 261.

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keine regellose Willkürherrschaft. Eine potenziell despotische Macht kann begrenzt werden durch die Selbstbindung der Führer. Wird die von den Führern als verbindlich betrachtete Systemideologie öffentlich propagiert, kann selbst eine Weltanschauungsdiktatur in bestimmten Grenzen berechenbar werden. Sowohl im bolschewistischen als auch im nationalsozialistischen System war man einerseits überzeugt, dass allein eine unbeschränkte diktatorische Macht Stabilität und letztlich den Sieg garantieren könne. Andererseits glaubte man, dass ein Missbrauch dieser Macht durch die Selbstbindung der Führerpersönlichkeiten an die Ideale der eigenen Bewegung verhindert werde, weshalb man Wert auf die Auslese der Führungskader legte. So hatte Lenin noch in seinem als „politisches Testament“ geltenden Brief an den Parteitag die „unermessliche Macht“29 des Generalsekretärs keineswegs prinzipiell in Frage gestellt,30 sondern lediglich Bedenken geäußert, ob eine bestimmte Person, Stalin, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch machen werde. Hitler hingegen war befangen in seiner Theorie vom „Persönlichkeitswert“ und der Verantwortlichkeit wahrer „Führernaturen“, die, notfalls auch jenseits des Rechts, dem gesellschaftlich und geschichtlich Gebotenem zum Durchbruch verhelfen. Er war allerdings der Auffassung, dass selbst im Falle einer Aufkündigung der Rechtsbindung die Justiz nicht „zur Hure der Machthaber“31 werden müsse. Denn : „Der Machthaber ist ja selber gebunden. Ein Richterkorps von hohem Verantwortungsbewusstsein und von Verantwortungsfreudigkeit wird nicht Schandtaten decken.“32 Wie die Bolschewiki setzten auch die Nationalsozialisten auf die moralische Selbstbindung des Revolutionärs, auf das revolutionäre „Rechtsbewusstsein“ ihrer Kämpfer. Dementsprechend verschwendete man kaum einen Gedanken an die Domestizierung der Staatsgewalt sowie an die Beschränkung der Machtfülle einzelner Entscheidungsträger.

XI.

Selbstbindung – kein Äquivalent rechtsstaatlicher Institutionen

Die Selbstbindung der Führer an die Systemideologie wurde in beiden prototypischen Weltanschauungsdiktaturen des 20. Jahrhunderts unterstellt und mitunter auch ausdrücklich betont. Sie kann in der Tat in bestimmten Hinsichten als ein Herrschaft beschränkendes Moment wirken. Indem sich nicht nur das Endergebnis eines Entwicklungsprozesses, sondern auch der Weg dorthin an den normativen Maßstäben der Systemideologie messen lässt, kann eine ideologische Selbstbindung – zumindest idealtypischerweise – Auswüchse verhindern, die im Institutionensystem einer ideologiegeleiteten Diktatur jederzeit möglich 29 W. I. Lenin, Brief an den Parteitag (1922). In : ders., Werke, Band 36. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1962, S. 579. 30 Vgl. Wolfgang Ruge, Lenin. Vorgänger Stalins. Eine politische Biografie. Bearbeitet und mit einem Vorwort von Eugen Ruge. Hg. von Eugen Ruge und Wladislaw Hedeler, Berlin 2010, S. 367. 31 Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, Dok. 177, S. 351. 32 Ebd.

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sind. Auch wenn in den beiden paradigmatischen Weltanschauungsdiktaturen des 20. Jahrhunderts nachgerade sämtliche denkbaren Verbrechen Wirklichkeit wurden, ist dies zumindest eine theoretische Möglichkeit. Immerhin wurden die Verbrechen des Kommunismus gerade auch aus marxistischer Sicht zu allen Zeiten kritisiert. Für die kommunistischen Täter wäre es kaum möglich gewesen, etwa die verschiedenen Formen des Massenterrors, wie sie vor allem von Stalin inszeniert wurden, unter Berufung auf die Theorie von Marx und Engels offensiv zu rechtfertigen. Und obwohl es im Vergleich dazu sehr wohl denkbar gewesen wäre, die Notwendigkeit und Legitimität selbst der physischen Vernichtung des europäischen Judentums, einschließlich der offensichtlich unschuldigen Kinder, im Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung theoretisch - kohärent zu begründen, hatte Heinrich Himmler noch im Mai 1940 in einer von Hitler als Richtlinie für die Ostpolitik gebilligten Denkschrift „die bolschewistische Methode der physischen Ausrottung eines Volkes aus innerer Überzeugung als ungermanisch und unmöglich“33 abgelehnt. Festzuhalten bleibt : Auch Systemideologien von Weltanschauungsdiktaturen können interne Maßstäbe der Kritik sowie normative Richtlinien enthalten, die es gestatten, Ziele oder eine Praxis als moralisch inakzeptabel zu identifizieren. Und selbstverständlich können derartige ideologieinterne Bewertungen in Abhängigkeit vom Grad der Internalisierung der betreffenden Ideologie auch verhaltenswirksam werden. Die Orientierung an einer Ideologie kann aber ebenso eine Entgrenzung der Gewaltanwendung befördern. Sowohl das bolschewistische als auch das nationalsozialistische System haben gezeigt, dass geeignete Systemideologien nahezu beliebige Gewaltanwendungen scheinbar rechtfertigen können. Die Selbstbindung der Revolutionäre und Führer an eine Ideologie kann, selbst wenn diese – wie im Falle der marxistischen Ideologie – humanistische Wertvorstellungen beinhaltet, eine exzessive Anwendung politisch motivierter Gewalt nicht in jedem Falle wirksam unterbinden. Ideologien sind nicht nur vage und ausdeutbar, sie sind den sie nutzenden Herrschern – etwa im Unterschied zu Verfassungen innerhalb von Rechtsstaaten – nicht wirklich vorgegeben. Häufig sind die maßgeblichen Führer von Weltanschauungsdiktaturen selbst die Schöpfer der Systemideologien oder können sich zu Mit - Schöpfern der jeweiligen ideologischen Dogmen aufschwingen. Die potenziell herrschaftsbeschränkende Wirkung von Systemideologien wird zudem durch das von den Führern in eigener Machtvollkommenheit ausgeübte Interpretations - und Meinungsäußerungsmonopol konterkariert. Die Herrschenden müssen zwar darauf achten, ihre Herrschaftspraxis als ideologiekonform rechtfertigen zu können, sie selbst sind es aber, die die Ideologiekonformität deuten. Sie besitzen die Deutungshohheit sowohl über die Regeln als auch die Regelanwendungen; sie haben die Macht, Ideologeme zu verwerfen und 33 Heinrich Himmler, Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten. In : Josef Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, Dok. 37, S. 299.

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andere zu etablieren. Auch wenn die ideologische Selbstbindung der in Weltanschauungsdiktaturen Herrschenden nicht nur eine Illusion, sondern Realität ist, sind diese doch – dank ihres Monopols der letzten Entscheidung34 – absolute Herrscher. Die Vorstellungen der Herrschenden, selbst gebunden zu sein, kann die illusionäre Überzeugung fördern, rechtsstaatliche Institutionen und garantierte Bürgerrechte ließen sich durch Moral und guten Willen dauerhaft ersetzen. Zum einen aber gibt es für die Dauerhaftigkeit des guten Willens keine Gewähr; zum anderen ist die Umsetzung eines guten Willens in moralisch akzeptables Handeln mit kognitiven Schwierigkeiten verbunden.35 Erst die Bindung staatlichen Handelns an das Recht und insbesondere der Schutz jedes Einzelnen durch individuelle Grundrechte schaffen wirksame institutionelle Schranken zur Begrenzung von Herrscherwillkür. Eine ideologische Selbstbindung der diktatorischen Führer, die Berufung auf ihr Wohlwollen und ihre Einsichtsfähigkeit, stellt jedenfalls allein kein funktionales Äquivalent herrschaftsbeschränkender rechtsstaatlicher Institutionen dar. Die Selbstbindung an eine Ideologie kann sich als unwirksam erweisen. Weltanschauungsdiktaturen können nicht nur in eine selbstzerstörerische ideologische Selbstfesselung geraten, sondern auch zu Despotien entarten.

XII. Das liberale staatstheoretische Paradigma Letztlich hat eine ideologische Selbstbindung am ehesten den Charakter einer Selbstverpflichtung. Diese Selbstverpflichtung entspringt zwar dem subjektiven Überzeugtsein der Herrschenden und ist insoweit nicht - freiwillig, als man seine Überzeugungen nicht freiwillig wählen kann – sie ist aber nicht wirklich bindend. Überzeugungen schlagen sich nicht zwingend in ihnen entsprechenden Handlungen nieder, und sie können sich zudem wandeln. Vor allem aber haben die Herrschaftsunterworfenen keine institutionelle Handhabe gegen eine Aufkündigung der herrschaftlichen Selbstverpflichtung vorzugehen. Es gibt keine Instanz, welche die Regierenden zwingen könnte, auch nur Rechenschaft über ihr Tun und Lassen abzulegen. Eine Herrschaftsordnung, deren Zähmung sich ausschließlich einer ideologischen Selbstbindung der Herrschenden verdankt, steht gleichsam permanent auf der Kippe zur Willkürherrschaft. Solange das Recht nicht selbst zur zentralen Autorität einer institutionell geteilten Staatsgewalt geworden ist, ist jede Selbstzähmung des Staates prekär, die lediglich einen fortgesetzt guten Willen zu ihrer Basis hat. Die Idee, die Machtausübung an Gesetze zu binden, die die Exekutive nicht selbst erlassen hat, ist der Kerngedanke des liberalen staatstheo34 Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 7. Auflage Berlin 1996, S. 19. 35 Vgl. dazu Hermann Lübbe, Ideokratie oder die Geburt der Gewalt aus enttrivialisierter Moral. In : Totalitarismus und Demokratie, 9 (2012) 1, S. 25–37, hier 27.

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retischen Paradigmas. Durch die Aufteilung der Staatsgewalt auf verschiedene Institutionen und ein ausbalanciertes Arrangement der Teilsysteme soll die Abhängigkeit einer akzeptablen Herrschaftsausübung vom moralischen Wollen und der kognitiven Befähigung der Herrschenden weitgehend gelöst und ein Umkippen in die Willkürherrschaft vermieden werden. Die Separierung der Gewalten und ihre wechselseitige Kontrolle und Hemmung ist ein Sicherungsanker gegen Herrscherwillkür. Um diese möglichst zu vermeiden, bedarf es dadurch nicht mehr – jedenfalls nicht in demselben Maße wie im Falle einer ausschließlich ideologischen Selbstbindung – des guten Willens und eines bestimmten Glaubens der Herrschenden. Durch die Bindung an ein Recht, das die Exekutive nicht selbst setzen kann, hat diese ihre Souveränität verloren. Weltanschauungsdiktaturen beseitigen diejenigen Institutionen, die moralisch problematische Formen der Machtausübung begrenzen und kontrollieren. Mangels effektiver Kontrollorgane ist der Machtmissbrauch systemimmanent angelegt. Ideologiegeleitete Diktaturen sind gerade nicht in der Lage, die Balance zu halten zwischen Anstrengungen zur Umsetzung gesellschaftlicher Ziele ( wie auch immer diese zu bewerten sein mögen ) und der Sicherung der Rechte der Individuen. Die in Weltanschauungsdiktaturen häufig anzutreffende ideologische Selbstbindung der Führer ist auf die Realisierung der von der Ideologie vorgegebenen Ziele gerichtet, nicht aber auf den Schutz individueller Rechte. Dabei mag es durchaus sein, dass auch Weltanschauungsdiktaturen individuelle Rechte, Grund - und Menschenrechte, anerkennen – wie dies etwa in der Verfassung der DDR der Fall war. Im Zweifelsfall jedoch räumen diese Systeme den Zielen der gesellschaftlichen Umgestaltung den Vorrang ein. Auch aus diesem Grund neigen Weltanschauungsdiktaturen zur Konstruktion von Ausnahme - oder Notsituationen, in denen die aus der Ideologie resultierenden Handlungsbeschränkungen zeitweise aufgehoben sind. Und auch deshalb tendieren solche Systeme zur Perpetuierung des Ausnahmezustands. Weltanschauungsdiktaturen lehnen es auch ab, die Voraussetzungen des Eintritts in den Ausnahmezustand, die Befristung seiner Geltung sowie die zulässigen Formen des ausnahmerechtlichen Handelns zu definieren; ja sie neigen dazu, mit dem Hinweis auf die Unvorhersehbarkeit der drohenden Gefahren die Grenze zwischen einen staatlichen Normalzustand und dem Ausnahmezustand zu verwischen und letztlich aufzuheben. So war für Lenin die Diktatur des revolutionären Volkes „eine durch nichts beschränkte, durch keine Gesetze und absolut keine Regeln eingeengte, sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht“.36 Und so hielt auch Best eine „gesetzliche Normierung der von einer politischen Polizei anzuwendenden Mittel“ für „so wenig möglich, wie es unmöglich ist, jede Art von Angriffen der Staatsfeinde und jede sonst dem Staate drohende Gefahr für alle Zukunft vorauszusehen und zu beschreiben“. Dass „diese an sich unumschränkten Befugnisse nicht missbraucht“ würden, sei 36 W. I. Lenin, Der Sieg der Kadetten und die Aufgaben der Arbeiterpartei (1905). In : ders., Werke, Band 10. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1958, S. 244 ( Hervorhebung von mir ).

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„durch geeignete Auswahl der Personen [...], durch scharfe Disziplin und Selbstkontrolle innerhalb des Korps und vor allem durch seine enge unmittelbare Bindung an die Staatsführung sicherzustellen“.37 In beiden Diktaturen betrachtete man es als eine nicht hinnehmbare Schwächung, den Ausnahmezustand in einen Verfassungsstaat konstitutionell zu inkorporieren und sich damit – über eine ideologische Bindung hinaus – rechtlich zu binden.

XIII. Ideologische Selbstbindung der Beherrschten Eine ideologische Selbstbindung der Führer wird typischerweise zugleich von großen Teilen des Volkes angenommen. Wer dies unterstellt, muss nicht selbst ein Überzeugter sein; er nimmt allerdings an, dass sich die entscheidenden Führer an die Prinzipien der von ihnen vertretenen Ideologie gebunden fühlen. Er erwartet beispielsweise, dass die propagierten Wertvorstellungen eine handlungsorientierende Wirkung entfalten und etwa die Wahl der Mittel und Methoden zur Durchsetzung der gesellschaftlichen Vorstellungen beschränken. Er betrachtet es als selbstverständlich, dass sich die Führer im Zuge ihrer Herrschaftsausübung einer effizienten Selbstkontrolle unterwerfen. In beiden prototypischen Weltanschauungsdiktaturen konnten sich viele nicht vorstellen, dass bestimmte Dinge mit Wissen und Duldung oder gar unter ausdrücklichem Befehl der Führer stattfanden. Der verbreitete Stoßseufzer „Wenn dies Hitler / Stalin wüsste ...“ bezeugt dieses Denken. Je erfolgreicher Weltanschauungsdiktaturen bei der ideologischen Indoktrination verfahren, umso intensiver ist der Glaube der Bevölkerung an die Richtigkeit der propagierten Ideen und umso größer ist deren Vertrauen in die politische Tätigkeit der Führer. Vertrauen in die Führung erzeugt aber auch eine Erwartungshaltung. Das Volk erwartet, dass die Zielvorgaben ernsthaft verfolgt werden. Diese Erwartung kann aus Gründen der inneren Stabilität des Herrschaftssystems nicht beliebig enttäuscht werden. Gleichzeitig jedoch kann sich die Realisierung der gesamtgesellschaftlichen Umbaupläne als derart schwierig erweisen und zu ständig neuen Verzögerungen führen, dass es für die Ideologen und Agitatoren des Systems immer aussichtsloser wird, den Glauben der Bevölkerung an die Durchführbarkeit des Gesellschaftsprojekts weiter aufrechtzuerhalten. Man kann diesen Zusammenhang durchaus als eine Paradoxie der Herrschaftsausübung beschreiben. Weltanschauungsdiktaturen legitimieren sich qua Zustimmung der herrschaftsunterworfenen Gemeinschaftsmitglieder und kommen daher nicht umhin, die Systemideologie in die Hirne der Menschen zu pflanzen. Im Unterschied zu Skeptikern und Ideologiegegnern glauben ideologisch überzeugte Gemeinschaftsmitglieder an die Versprechungen der Ideologen 37 Werner Best, Die Geheime Staatspolizei. In : Deutsches Recht, 6 (1936) 7/8, S. 125– 128, hier 126.

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Ideologische Selbstbindung in Weltanschauungsdiktaturen

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und Führer und sind im Falle ihrer Nichteinlösung entsprechend enttäuscht. Eine effektive Indoktrination erhöht damit den Erfolgsdruck innerhalb ideologiegeleiteter Diktaturen. Für diese kommt es aber darauf an, ein Scheitern niemals als Falsifikation der Systemideologie gelten zu lassen. Zu diesem Zweck muss die Ideologie Anpassungsinterpretationen unterworfen werden, sodass die von der Systemideologie überzeugten Herrschaftsunterworfenen auch weiterhin das erforderliche Maß an Enttäuschungsresistenz aufzubringen in der Lage sind. Gleichwohl können Weltanschauungsdiktaturen auch dann über lange Zeit stabil bleiben, wenn sie ihre Ziele verfehlen und die Realisierung ihres Gesellschaftsprojekts sich immer wieder verzögert. Der Grund für diese zeitweilige Stabilität ist weder nur in den Repressionsdrohungen gegen widerständiges Verhalten noch allein in der Inaussichtstellung und tatsächlichen Verteilung von Belohnungen zu suchen. Weltanschauungsdiktaturen verfügen nicht nur über repressive und kompensatorische, sondern auch über konditionierte Macht. Über „konditionierte Macht“38 verfügt, wer den Willen der Herrschaftsunterworfenen derart zu beeinflussen versteht, dass sich diese dem beeinflussenden Willen in dem Bewusstsein, es sei ihr eigener, freiwillig unterstellen. Eine erfolgreiche Konditionierung im Sinne der Systemideologie bewirkt, dass Gefolgschaft nicht geleistet wird, weil man Strafen vermeiden oder Belohnungen erlangen möchte. Vielmehr hat der ideologisch Überzeugte seine Bedürfnis - und Interessenarchitektur sowie seine Urteils - und Willensbildung entsprechend der vorgegebenen Systemideologie restrukturiert. Eine auf Konditionierung beruhende Zustimmung folgt nicht einer vernünftigen Einsicht, sondern ist Ausdruck einer ideologischen Selbstbindung. Im Sinne der Stabilität des Herrschaftssystems ist eine solche Zustimmung aber ebenso wirksam. Borniert Überzeugte sind häufig außerstande, auch nur anders zu denken. Eine ideologische Selbstbindung untergräbt aber auch den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Überzeugte haben sich eingerichtet in ihrer geistigen Sicherheit und scheuen bereits den ideologischen Konflikt mit sich selbst. Sie verbieten sich jeden substantiellen Zweifel an der eigenen Gruppenideologie. Entsprechend gefestigt ist ihre Enttäuschungsresistenz – die sie ideale Untertanen sein lässt.

XIV. Fazit Die Überzeugung von Revolutionären und Diktatoren, in Gestalt der eigenen Ideologie ein überlegenes Erkenntnis - und Orientierungsinstrument zu besitzen, ist ein konstitutiver Faktor ihrer Selbstermächtigung zum eingreifenden Han38 John Kenneth Galbraith, Anatomie der Macht, München 1989, S. 14 f. Vgl. auch Lothar Fritze, Verführung und Anpassung. Zur Logik der Weltanschauungsdiktatur, Berlin 2004, S. 91 f.

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deln. Der Glaube an die Systemideologie und der hinzutretende Wille, sie praktisch umzusetzen, sind Bedingung einer psychologisch und argumentativ funktionierenden Selbstlegitimierung der Herrschenden. Diese Form der ideologischen Selbstbindung entspringt nicht nur herrschaftstechnischen Zweckmäßigkeitserwägungen; die ideologischen Vorgaben werden nicht deshalb befolgt, weil man sich davon herrschaftsstabilisierende Wirkungen verspricht, sondern weil die überzeugten Ideologen und Führer eine Verpflichtung empfinden, das Gesellschaftsprojekt zu realisieren, das die Systemideologie zu realisieren verspricht und fordert. Das individuelle Überzeugtsein von der Richtigkeit der Systemideologie führt dergestalt zu einer ideologischen Selbstbindung. Eine so verstandene Selbstbindung dient nicht nur dazu, eine Herrschaftsausübung zu praktizieren, die Aussicht hat, die Billigung oder Unterstützung des Volkes zu gewinnen. Sie ist zugleich die Methode, mittels derer die diktatorisch Herrschenden vor sich und anderen die Illusion aufrechterhalten, sie seien zu jener Selbstermächtung zum eingreifenden Handeln tatsächlich legitimiert. Zwar sind ideologisch überzeugte Herrscher in ihrem Tun und Lassen nicht völlig frei, die nahezu totale Ausrichtung der Regierungstätigkeit auf einen inhaltlich bestimmten Erfolg kann aber in Kombination mit der Deutungshoheit der Führer eine ideologisch begründete Beschränkung des Mitteleinsatzes weitgehend aufweichen. Weltanschauungsdiktaturen sind trotz einer ideologischen Selbstbindung der Herrschenden nicht vor einer exzessiven Anwendung politisch motivierter Gewalt gefeit. Eine ideologische Selbstbindung stellt daher keinen äquivalenten Ersatz für rechtsstaatliche und demokratische Institutionen dar.

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Legitimation, Kooptation und Repression in Ideokratien aus einer Rational Choice - Perspektive Peter Bernholz

I.

Einleitung

Wenn Ideokratien aus einer Perspektive der rationalen Wahl oder Entscheidung untersucht werden sollen, so kann dies nur bedeuten, dass die in ihnen handelnden Individuen ihre ideologischen Ziele unter Berücksichtigung der vorgegebenen Rahmenbedingungen rational zu erreichen suchen. Denn die Ideokratien beschreibende Theorie hat selbst notwendigerweise rational zu sein, da sonst aus ihr beliebige Widersprüche abgeleitet werden könnten. Die rationale Verfolgung ihrer Ziele durch die Akteure bedeutet jedoch nicht, dass die in einer Ideokratie verfolgten Ziele selbst in dem Sinne rational sein müssten, dass sie ein realistisches Bild der Wirklichkeit wiedergeben. In diesem Sinne können also von der Wissenschaft als irreal angesehene Ziele durchaus rational verfolgt werden. Doch was ist unter einer Ideokratie und unter den in ihr verfolgten Zielen zu verstehen ? Der Name legt bereits nahe, dass es sich bei Ideokratien ( griechisch κρατειν herrschen ) um politische Regime handelt, in denen die Herrschaft auf Ideologien, Weltanschauungen beruht und durch sie legitimiert wird. Das bedeutet, dass solche Ideologien höchste Werte enthalten, denen notfalls alles einschließlich des eigenen oder fremden Lebens und auch die politischen Entscheidungsverfahren unterzuordnen sind. In der Folge werden wir totalitäre Regime als Unterform von Ideokratien auffassen. Es ist daher naheliegend, bei der Überprüfung der Zweckmäßigkeit unseres Vorgehens zu prüfen, ob die Herrschaft von Ideologien auch für diese totalitären Regime sinnvollerweise angenommen werden kann. Ermutigend ist zunächst : Führende Forscher auf dem Gebiet des Totalitarismus haben drauf hingewiesen, dass die im 20. Jahrhundert beobachteten totalitären Regime alle mit Ideologien verbunden waren, die eine Weltanschauung mit höchsten Werten enthielten, die von ihren Anhängern als absolut wahr betrachtet wurden. Es sei hier nur auf die Arbeiten von Friedrich / Brzezinski, Drath und Schlangen hingewiesen.1 Allerdings gibt es auch andere Definitionen der totalitären Regime, 1

Vgl. Carl J. Friedrich / Zbigniew K. Brzezinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge 1965; Martin Drath, Totalitarismus in der Volksdemokratie. In : Bruno Sei-

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die nicht von der dominierenden Rolle von Ideologien ausgehen. Die wichtigste derselben spricht von einem totalitären Regime, wenn möglichst alles in einem Land von staatlichen Stellen reguliert wird. Klar zum Ausdruck kommt diese Auffassung in der Definition von Mussolini in der „Enciclopedia Italiana“ von 1929: „for the Fascist everything is within the state and there exists nothing human or spiritual [...] outside the state. In this sense Fascism is totalitarian and the Fascist state interprets, develops and multiplies the whole life of the people as a synthesis and unit of each value.“2 Nun ist es zwar zutreffend, dass in vielen ideologisch legitimierten politischen Regimen eine Tendenz zur Regelung aller Lebensbereiche gemäß den entsprechenden höchsten Werten besteht; dies muss aber keineswegs immer und in jeder Beziehung der Fall sein. Und umgekehrt wären nach dieser Definition auch Demokratien, in denen Mehrheiten und Monarchien oder Autokratien, in denen ein Herrscher oder eine Oligarchie ohne eine einheitliche Weltanschauung fast alle Bereiche des Lebens zu regeln suchten, als totalitär zu kennzeichnen. Das würde jedoch den empirischen Erfahrungen mit totalitären Regimen widersprechen. Daher ist diese alternative Definition abzulehnen. Noch wichtiger ist jedoch, dass in allen bekannten totalitären Regimen der Neuzeit Ideologien entscheidend für die Begründung und Legitimierung der Herrschaft waren, wie im folgenden Abschnitt zu belegen sein wird. Letztlich gewinnen Begriffe abstrakter Art wie Totalitarismus und Ideokratie nur Sinn im Rahmen einer Theorie, die möglichst viele Phänomene und ihre Entwicklung erklären kann und deren Schlussfolgerungen auch empirisch falsifiziert werden können. Es ist daher ermutigend, dass die in der Folge vorgeschlagene Theorie totalitärer Regime nicht nur die Zeit ihrer Herrschaft, sondern auch ihre Entwicklung und ihren Niedergang zu beschreiben vermag und sie auch politische Regime früherer historischer Perioden als Ideokratien und totalitäre Regime erklären kann.

II.

Belege für die ideologische Basis totalitärer Bewegungen und Regime

Totalitäre Regime sind historisch immer wieder durch Gruppen von Gläubigen gegründet worden, die einer neuen oder wiederbelebten Ideologie oder Weltanschaung mit höchsten Werten anhingen, die von ihnen für absolut wahr gehalten wurden. Diesen höchsten Werten ist zur Erreichung der darin enthaltenen Ziele alles andere lexikographisch unterzuordnen. Im Extremfall muss sogar das eigene oder das Leben anderer dafür geopfert werden. In der Folge werden fünf Beispiele für solche Ideologien angeführt, eine christliche Ideologie beim Aufruf

2

del / Siegfried Jenkner ( Hg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1974, S. 310–358; Walter Schlangen, Der Totalitarismus - Begriff. Grundzüge seiner Entstehung, Wandlung und Kritik. In : APuZ, 20 (1970) 44, S. 3–46. Benito Mussolini, Fascismo. In : Enciclopedia Italiana. Hg. von der Società Editrice Libraria, Mailand 1929, S. 847 f.

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zu den Kreuzzügen, die kommunistische und die nationalsozialistische Ideologie, der islamische Fundamentalismus und schliesslich die Begründungsideologie für das mongolische Weltreich : 1. Die Ansprache von Papst Urban II. an die Kreuzfahrer beim Konzil von Clermont im Jahre 1095 bringt die Deutung der höchsten christlichen Werte zum Ausdruck : „Let the deeds of your ancestors move you [...] and of your other kings, who have destroyed the kingdoms of the pagans, and have extended in these lands the territory of the holy church. Let the holy sepulchre of the Lord of our Saviour, which is possessed by unclean nations, especially incite you, and the holy places which are now treated with ignominy and irreverently polluted with their filthiness. [...] But if you are hindered by love of children, parents and wives, remember what the Lord says in the Gospel, ‚He that loveth father or mother more than me, is not worthy of me.‘ [...] Enter upon the road to the Holy Sepulchre; wrest land from the wicked race, and subject it to yourselves. [...] undertake this journey for the remission of your sins, with the assurance of the imperishable glory of the kingdom of heaven.“3 2. Die folgenden Zitate von Lenin, Marx und Engels sollen die höchsten Werte der kommunistischen Ideologie kenntlich machen. Lenin erklärte : „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt.“4 Weiter äußerte Lenin : „Erst der philosophische Materialismus von Marx hat dem Proletariat den Ausweg aus der geistigen Sklaverei gewiesen, in der alle unterdrückten Klassen bisher ihr Leben fristeten.“5 Engels glaubte mit Marx, dass dieser das Lebensgesetz der Menschheit entdeckt hätte : „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte. [...] Damit nicht genug. Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft.“6 Hinsichtlich der Form der Umsetzung der Ziele der kommunistischen Ideologie erklärte Lenin : „Die weitere Entwicklung, d. h. die Entwicklung zum Kommunismus, geht über die Diktatur des Proletariats und kann auch gar nicht anders gehen, denn

3 4 5 6

Zit. nach Eugen Weber, The Western Tradition. From the Ancient World to Louis XIV, 3. Auflage Lexington 1972, S. 248 f. Lenin, Drei Quellen und Bestandteile des Marxismus (1913). In : ders., Werke, Band 19. Hg. vom Institut für Marxismus - Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost) 1962, S. 3 f. Ebd., S. 8. Friedrich Engels / Karl Marx, Das Begräbnis von Karl Marx (1883). In : dies., Werke, Band 19. Hg. vom Institut für Marxismus - Leninismus beim ZK der SED, Berlin ( Ost) 1972, S. 335 f.

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außer dem Proletariat ist niemand imstande, den Widerstand der kapitalistischen Ausbeuter zu brechen, und auf anderem Wege ist er nicht zu brechen.“7 3. Die höchsten Werte der nationalsozialistischen Ideologie lassen sich am Besten aus den Aussagen von Hitler und Himmler herausfiltern. Adolf Hitler erklärte : „Würde man die Menschheit in drei Arten einteilen : in Kulturbegründer, Kulturträger und Kulturzerstörer, dann käme als Vertreter der ersten wohl nur der Arier in Frage. Von ihm stammen die Fundamente und Mauern aller menschlichen Schöpfungen.“8 Weiterhin äußerte er : „Ohne diese Möglichkeit der Verwendung niederer Menschen hätte der Arier niemals die ersten Schritte zu seiner späteren Kultur zu machen vermocht.“9 Er fuhr fort : „So war für die Bildung höherer Kulturen das Vorhandensein niederer Menschen eine der wesentlichsten Voraussetzungen, indem nur sie den Mangel technischer Hilfsmittel [...] zu ersetzen vermochten.“10 Er argumentierte weiterhin : „Diese Untergliederung darf jedoch, wenn nicht die Einheit der Lehre verloren gehen soll, immer erst dann stattfinden, wenn die Autorität des geistigen Begründers und der von ihm herangebildeten Schule als unbedingt anerkannt gelten darf. [...] So darf bei der Bildung der ersten organisatorischen Keimzellen nie die Sorge aus dem Auge verloren werden, dem ursprünglichen Ausgangsort der Idee die Bedeutung nicht nur zu erhalten, sondern zu einer überragenden zu steigern.“11 Hitler führte weiter aus : „Wer die breite Masse gewinnen will, muss den Schlüssel kennen, der das Tor zu ihrem Herzen öffnet. Er heißt nicht Objektivität, also Schwäche, sondern Wille und Kraft. Die Gewinnung der Seele des Volkes kann nur gelingen, wenn man neben der Führung des positiven Kampfes den Gegner dieses Ziels vernichtet.“12 Heinrich Himmler versuchte die Grundlagen der nationalsozialistischen Moral so zu erläutern : „Ein Grundsatz muss für den SS Mann absolut gelten : ehrlich, anständig, treu haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen. [...] Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10 000 russische Weiber

7 Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgabe des Proletariats in der Revolution (1918). In : ders., Werke, Band 25. Hg. vom Institut für Marxismus - Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost) 1972, S. 475 (Hervorhebungen im Original ). 8 Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1933, S. 318. 9 Ebd., S. 322. 10 Ebd., S. 323. 11 Ebd., S. 381. 12 Ebd., S. 371.

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umkommen, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.“13 4. Der indische Islamist Mawdudi (1903–1979) drückte seine Interpretation der höchsten Werte der islamischen Ideologie wie folgt aus : „Islam [...] wants and requires the entire inhabited world. It does not want this in order that one nation dominates the earth and monopolizes its sources of wealth, after having taken them away from one or more other nations. No, Islam wants and requires the earth in order that the human race altogether can enjoy the concept and practical program of human happiness, by means of which God has honoured Islam and put it above the other religions and laws. In order to realize this lofty desire, Islam wants to employ all forces and means that can be employed for bringing about a universal all - embracing revolution. [...] This far - reaching struggle that continuously exhausts all forces and this employment of all possible means are called jihad.“14 Ferner lassen sich die Grundlagen des islamistischen Wertesystems in folgendem Ausspruch des Führers der schiitischen iranischen Revolution, Ayatollah Khomeini, vom 17. August 1979 ablesen : „Der Fehler, den wir begangen haben war, dass wir nicht revolutionär genug gehandelt haben. Wir haben diesen verdorbenen Schichten zu viel Zeit gegeben. Die revolutionäre Regierung, die revolutionäre Armee, die revolutionären Pasdaran haben alle nicht revolutionär genug gehandelt. Wenn wir von vornherein dieses verdorbene Regime vernichtet, diesen verdorbenen Damm zerstört und revolutionär gehandelt hätten und alle verdorbenen Parteien verboten hätten und sie zur Rechenschaft gezogen hätten und die Galgen auf großen Plätzen errichtet hätten und die Verdorbenen hingerichtet hätten, hätten wir heute weniger Mühe. Ich entschuldige mich bei Gott, ich entschuldige mich bei unserem lieben Volk. Ich entschuldige mich, dass wir solche Fehler begangen haben [...] Es gibt nur eine Partei und das ist die Hisbollah, die Partei der armen Massen. Und ich warne alle verdorbenen Schichten im ganzen Land, dass wenn sie sich nicht richtig verhalten, wir revolutionär handeln werden.“15 5. Ich möchte diese Angaben zu bekannteren Ideologien noch durch die Ideologie des Mongolenreichs ergänzen, deren Beschreibung auf einer genauen Kenntnis der mongolischen Geschichte und ihrer Quellen, besonders ihrer geheimen Geschichte beruht : „Since the crime of turning a deaf ear to the Mongol court’s order of submission was not merely [...] an offensive against the emperor, but an overt offence against Heaven’s Decree, punishment of 13 Heinrich Himmler, Aus einer Rede vor SS Gruppenführern in Posen, 4. 10. 1943. In : Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem internationalen Militärhof, Band XII 14. 11. 1945–1. 10. 1946. Hg. vom Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 1948, S. 110–173, hier 123. 14 Zit. nach Rudolph Peters, Jihad in Classical and Modern Islam. A Reader, Princeton 1996, S. 128. 15 Wahied Wahdat - Hagh, Der iranische Antisemitismus ( http ://www.achgut.com / dadgdx / index.php / dadgd / article / der_iranische_antisemitismus /; 27. 8. 2012).

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the offender, had, of course, to be proportionate. Hence the frightful massacres and destruction, and the complete lack of pity towards the civilian population, which was often annihilated. Here again we find a complete parallel to the practice of the crusading armies.“16 Es ließen sich weitere Belege für die Ideologien anderer Regime anbringen, die nach der folgenden Theorie als totalitär einzuordnen sind, nämlich der Azteken, Inkas, der Anabaptisten in Münster und des Stadtstaats Genf zur Zeit Calvins. Aus Raumgründen muss jedoch darauf verzichtet werden.17 Die geschilderten Ideologien zeigen, dass sich die entsprechenden Weltanschauungen in auf das Diesseits bezogene und in metaphysische einteilen lassen, wobei jedoch auch die höchsten Werte der letzteren ein Bild von der diesseitigen Realität zeichnen und dort ein bestimmtes Verhalten von Gläubigen und ( bisher ) Ungläubigen verlangen. Hier ist es nicht unsere Aufgabe, die letzte Wahrheit der metaphysischen Religionen zu beurteilen. Vielmehr geht es nur um ihre Auswirkungen auf das irdische Geschehen. Wichtig ist ferner, dass alle Ideologien sich ein Bild von der realen Welt machen und dafür absolute Wahrheit beanspruchen. Dabei handelt es sich um ein Bild, das dem kritischen Blick der Wissenschaften nicht standhält. Es ist wohl bekannt, dass diese keine absoluten Wahrheiten verkünden können, obwohl sie danach streben, ein immer besseres Verständnis der Wirklichkeit asymptotisch zu erreichen. Die explosionsartige Entwicklung des Gehirns hat dem Menschen die Fähigkeit verliehen, sich ein Bild von der Welt zu machen und sich künftige Geschehnisse vorzustellen. Auf diese Weise kann er Gefahren ausweichen und sozusagen, um mit Karl Popper zu sprechen, Ideen statt seiner selbst sterben lassen : „Error elimination [ during evolution ] may proceed either by the complete elimination of unsuccessful forms ( the killing of unsuccessful forms by natural selection ) or by the ( tentative ) evolution of controls which modify or suppress unsuccessful organs, or forms of behavior, or hypotheses.“18 Aber diese Fähigkeit erlaubt ihm auch, sich völlig falsche Vorstellungen von der Realität zu machen und diese für absolut wahr zu halten. Genau das ist es, was Ideologien auszeichnet und was in totalitären Regimen zu Repression, Unterdrückung und Folterung bis zu millionenfachen Morden geführt hat. Es handelt sich dabei um eine Krankheit, die einzig dem Menschen unter allen Lebewesen eigen ist.

16 Igorde Rachewiltz, Some Remarks on the Ideological Foundations of Chingis Khan’s Empire. In : Papers on Far Eastern History, 7 (1973), S. 21–36, hier 25. 17 Siehe dazu Peter Bernholz, Ideology, Sects, State and Totalitarianism. A General Theory. In : Hans Maier / Michael Schaefer ( Hg.), Totalitarianism and Political Religions, Band II: Concepts for the Comparison Of Dictatorships, Abingdon 2008, S. 246–272. 18 Karl R. Popper, Of Clouds and Clocks. An Approach to the Problem of Rationality and the Freedom of Man, St. Louis 1966, S. 23.

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III.

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Ideologie, Krisen, staatliche Macht und die Entwicklung totalitärer Regime

In diesem Abschnitt sollen die Voraussetzungen für die Entstehung und die weitere Entwicklung totalitärer Regime gemäß unserer Theorie skizziert werden.19 Am Anfang wird eine Ideologie mit einer Weltanschauung, die höchste Werte enthält, die lexikographisch allem anderen vorgezogen werden, durch einen charismatischen Führer oder kleinen charismatischen Personenkreis geschaffen oder wiederbelebt. Dieser oder diese scharen eine zunächst kleine Gruppe von gläubigen Anhängern ( Apostel, alte Garde ) um sich, die zum Teil ebenfalls über charismatische Eigenschaften verfügen können. Um eine große Zahl von potentiellen Gläubigen zu gewinnen, müssen die Weltanschauung und die darin enthaltenen Ziele viele Menschen ansprechen und anscheinend geeignet sein, von ihnen als existentiell empfundene Probleme zu lösen. Damit ein solches weit verbreitetes Gefühl besteht, ist regelmäßig eine einschneidende Krise, wie ein verlorener Krieg, eine Depression oder die Unterdrückung durch fremde Herrscher erforderlich. Außerdem müssen die der Ideologie entsprechenden Lösungsvorschläge einleuchtend und gegenüber anderen, möglicherweise konkurrierenden Ideologien überlegen erscheinen. Nur dann kann die ideologische Bewegung zu einem Massenerfolg durch die Konvertierung neuer Anhänger werden und die Aussicht auf eine Übernahme der Staatsgewalt bestehen. Ihr Erfolg wird voran getrieben durch die dringenden Wünsche der Gläubigen, die höchsten Werte der Ideologie zu verwirklichen, also Ziele zu erreichen, die wichtiger als alles andere sind und die bedeutende Versprechen für ein besseres Leben in dieser oder der kommenden Welt enthalten. Während des Prozesses der Ausbreitung der Bewegung werden neue Mitglieder in erster Linie durch Bekehrung von bisher Ungläubigen für die Ideologie gewonnen und die Bewegung wird dadurch bei mehr und mehr Menschen legitimiert. Je erfolgreicher eine Bewegung ist, neue Gläubige zu gewinnen, desto mehr nur scheinbar gläubige Mitglieder mögen sich aber auch der Bewegung durch die Aussicht auf spätere wirtschaftliche Vorteile oder Führungspositionen anschließen. Allerdings ist dabei immerhin zu berücksichtigen, dass auch diese Mitglieder freiwillig bereit sein müssen, die Kosten für die Organisation der

19 Siehe Abbildung 1. Für eine ausführliche mathematische Darstellung vgl. Peter Bernholz, Ideocracy and Totalitarianism. A Formal Analysis Incorporating Ideology. In: Public Choice, 108 (2001), S. 33–75. Einerseits bringt die mathematische Formulierung eine gewisse Einschränkung mit sich. Andererseits erlaubt sie aber, die Schlussfolgerungen der Theorie zwingend aus den Annahmen abzuleiten. Diese und die Schlussfolgerungen können dann mit der Realität konfrontiert werden. Auch kann das mathematische Modell je nach den gewählten Werten der Parameter zu unerwarteten Ergebnissen führen. In unserem Fall ergab sich z. B. eine Apartheid - Gesellschaft als Möglichkeit. Außerdem erlaubte es das Modell, die Annahme der lexikographischen Präferenzen durch eine Nutzenfunktion zu ersetzen, gemäß der der repräsentative Gläubige mit verschiedener Intensität an den höchsten Werten zu hängen vermag.

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Bewegung und ihre missionarischen Anstrengungen zu tragen. Dazu werden aber vor allem die zutiefst Gläubigen bereit sein. Mit der Notwendigkeit einer Krise und den Kosten der Bekehrung haben wir bereits wichtige Nebenbedingungen für den Erfolg der neuen Bewegung genannt. Eine weitere Bedingung ist, dass eine Führungspersönlichkeit oder höchstens eine kleine Gruppe über das alleinige Recht zur Interpretation der Glaubenssätze der Ideologie unter sich möglicherweise ändernden Umweltbedingungen verfügen darf. Andernfalls droht im Lauf der Zeit der Zerfall in Sekten, was die angestrebte Übernahme der weltlichen Macht eher unwahrscheinlich machen würde. Außerdem ist offenbar eine straffe Organisation notwendig, um die Anstrengungen zur Eroberung dieser Macht zu ermöglichen. Der Gewinn der säkularen Macht ist immer dann notwendig, wenn die Ideologie die Konversion aller potentiellen Gläubigen und / oder die zwangsweise Kontrolle möglichst vieler Menschen erfordert, deren Arbeit, Güter oder Dienste zur Verwirklichung ihrer Ziele benötigt werden, oder die als unerbittliche oder unbekehrbare Feinde der Bewegung gesehen werden und daher ausgeschaltet werden müssen. Gelingt es bei Erfüllung dieser Bedingungen, die Regierungsmacht in einem Land zu gewinnen und zu behaupten, so wird die säkulare und spirituelle Macht vereinigt, da andernfalls die ideologischen Ziele nicht realisiert werden können. Ist das gelungen, so wird eine Ideokratie errichtet. Dies kann eine reife Ideokratie wie eine Theokratie oder ein totalitäres Regime sein.

IV.

Reife Ideokratien und totalitäre Regime

Schon vor der Machtergreifung durch die ideologische Gruppe oder Bewegung war es für die Führung derselben notwendig, die Bevölkerung, besonders des Landes oder der Länder, in der sie sich ausbreitete gemäß ihrer Einstellung zu ihren höchsten Werten wie folgt einzuteilen : 1. Gläubige. 2. Menschen, die noch nicht glauben, aber konvertierbar sind : a ) solche, die sich bei entsprechender Überzeugungsarbeit oder genügendem Druck bekehren lassen; b ) hartnäckige Gegner, die hartnäckig Widerstand leisten. 3. Nicht - Konvertierbare : Juden können keine Arier, Bourgeois keine Arbeiter und Schwarze keine Weißen werden. Nach der Übernahme der Macht werden die Politik des Staates und die nun mit staatlichen Zwangsmitteln ausgestattete Bewegung die Bevölkerung je nach ihrer Zugehörigkeit zu diesen Gruppen unterschiedlich behandeln. Leute, die konvertierbar sind, wird man insbesondere durch Missionsarbeit zu gewinnen suchen. Das gilt zunächst auch für hartnäckige Gegner, bis man sich von deren Einsichtslosigkeit überzeugt hat. Dabei kann die Konversion durch mehr oder minder sanften Zwang unterstützt werden, z. B. indem man die noch nicht

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Bekehrten wie die Christen und Juden unter muslimischer Herrschaft mit einer höheren Steuer als die Gläubigen belastet. Hilft auch dies nicht, so kann statt dieser Kooptationsversuche Terror und Verfolgung, einschließlich der Bedrohung von Familienmitgliedern angewandt werden, um die prinzipiell bekehrbaren Widerständler doch noch zur Vernunft zu bringen. Anders liegen die Dinge gegenüber Nicht - Konvertierbaren, die ja in keinem Fall bekehrt werden können. Hier muss die Führung prüfen, ob sie die entsprechenden Personen als Arbeitskräfte oder durch Belastung mit hohen Steuern für die von ihr angestrebten Ziele zumindest eine Zeit lang verwenden will, sie zur Auswanderung zwingen oder schließlich als gefährliche Feinde gar eliminieren soll. Es ist nahe liegend, dass die Entscheidungen darüber nicht nur von den Vorstellungen bezüglich dieser Feinde in der ideologischen Zielfunktion, sondern auch von den jeweiligen Nebenbedingungen abhängen, und dass sich diese im Zeitablauf ändern können. Ist der Anteil der Nicht - Konvertierbaren an der Bevölkerung z. B. groß und strebt man eine Ausbreitung der Herrschaft auf andere Länder oder gar die ganze Erde an, so wird man auf die Arbeit derselben kaum verzichten können. In diesem Fall werden sie also ohne alle Rechte als nützliche Arbeitskräfte oder Sklaven kooptiert. Zur Unterscheidung von reifen Ideokratien und totalitären Regimen benötigen wir nach dem Gesagten noch eine weitere Einteilung, die sich auf das Umfang der von der jeweiligen Ideokratie angestrebten Ziele bezieht. Wir unterscheiden dabei folgende Kategorien von Ideologien gemäß ihren substantiellen Inhalten : 1. Universelle Ideologien : Das sind Ideologien, deren substantiellen Ziele die Bekehrung aller Menschen auf der Erde zum richtigen Glauben verlangen. 2. Ideologien mit universellem Herrschaftsanspruch : Die höchsten Werte dieser Ideologien verlangen nicht die Bekehrung aller Menschen, wohl aber die Herrschaft einer elitären Bevölkerungsminderheit über die ganze Erde. Diese Minderheit wird durch die Glaubenssätze der Ideologie definiert. Ein Beispiel wäre die Weltherrschaft der arischen Rasse. 3. Expansionistische Ideologien : Diese Ideologien streben nach einer begrenzten Ausdehnung ihres Territoriums oder der Zahl ihrer Gläubigen oder der Güter, die sie benötigen um ihre höchsten Werte zu erreichen. Ein Nationalismus, der mit allen Mitteln anstrebte, alle Menschen der gleichen Sprache in einem Staat zu vereinigen wäre ein Beispiel dafür. 4. Restriktive Ideologien : Diese Ideologien streben nach keiner weiteren Expansion ihres Territoriums oder haben keine Ziele zur weiteren Konversion von Nicht - Gläubigen. Wir definieren alle Ideokratien, die irgendwo weltliche Macht errungen haben, aber ihre Ziele noch nicht verwirklicht haben, als totalitäre Regime. Denn es sind diese Regime, die gemäß ihrer Ideologie alle spirituellen und säkularen Machtmittel einsetzen müssen, um die absolut wahren höchsten Werte, die lexikographisch allem anderen vorgezogen werden, zu verwirklichen. Dagegen defi-

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Peter Bernholz

nieren wir Ideokratien, die ihre ideologischen Ziele erreicht haben, als Reife Ideokratien. Denn im Gegensatz zu totalitären Regimen brauchen sie keine Gewalt, Unterdrückung, Folter, Vertreibung, Mord und Kriege, um ihre höchsten Ziele gegenüber obstinatem Widerstand, nicht Bekehrbaren und dem Ausland durchzusetzen. Totalitäre Regime wird man insbesondere bei Ideologien der Kategorien eins und zwei, vermutlich auch drei finden, während reife Ideokratien durchweg Ideologien der Kategorie vier anhängen. Allerdings ist zu betonen, dass auch totalitäre Regime nach Erreichung ihrer Ziele zu reifen Ideokratien werden. Ein Beispiel könnte der gegenwärtige Iran mit seiner schiitischen Religion sein. Am Anfang wurden dort nach der Revolution des Ayatollah Khomeini etwa 20–30 000 Gegner umgebracht und andere gefoltert und eingesperrt, während inzwischen solche Eingriffe selten geworden sind, da nunmehr fast alle Einwohner entweder gläubig sind oder es wenigstens vorgeben. Nach dem Gesagten lassen sich also Ideokratien entsprechend Tabelle 1 einteilen. Dabei sind Theokratien eine Form der Reifen Ideokratie, die von einer metaphysischen Ideologie geprägt sind. In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, dass der Begriff Theokratie von Flavius Josephus20 geprägt wurde, der nach dem jüdischen Krieg den Römern, die nur die von den Griechen geprägten politischen Systeme kannten, klar machen wollte, auf welcher Basis die Legalität des jüdischen Staates beruhte. Im Verlauf der Geschichte hat es auch andere Theokratien gegeben : Das puritanische Massachusetts, den Jesuitenstaat in Paraguay und das Tibet des Dalai Lama vor der chinesischen Besetzung.21 Tabelle 1 : Ideokratische Regime Angestrebte Ideokratien

Totalitäre Regime

Reife Ideokratien

Regime in langfristigem Übergang

Sekten, Regime, die Theokratien Fundamentalistische mit lediglich wahren Parteien / Gruppen Gläubigen anstreben Religiöse und NichtRegime, die nach metaphysische ideologiVerwirklichung ihrer sche Terroristen nicht-metaphysischen höchsten Werte streben Neue ideologische Bewegungen

Theokratien nach Flavius Josephus Nicht-metaphysische Reife Ideokratien

Quelle : eigene Darstellung.

20 Vgl. Flavius Josephus, Über die Ursprünglichkeit des Judentums ( Contra Apionem ), Göttingen 2008, S. 165. 21 Vgl. Bernholz, Ideology, Sects, State and Totalitarianism.

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V.

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Stabilität, Entwicklung und Ende totalitärer Regime

Wenden wir uns nun der Frage zu, welche Entwicklungen für totalitäre Regime langfristig nach ihrer Gründung zu erwarten sind. Bei der Untersuchung dieser Frage ist zu beachten, dass jede Ideologie eine mehr oder minder kohärente und vollständige Weltanschauung umfasst, die in Konflikt mit den empirischen Verhältnissen der Welt geraten kann. So sollte es offensichtlich sein, dass universelle Ideologien oder solche mit universellem Herrschaftsanspruch auf nahezu unlösbare Probleme bei der Verwirklichung ihrer Ziele stoßen werden. Nur im Falle, dass sie die säkulare Macht in einer der Großmächte der Erde erringen sollten, würde eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestehen, die Weltherrschaft zu errichten. Aber selbst in diesem Fall ist die Wahrscheinlichkeit, wie die Beispiele des Mongolenreichs, von Nazi - Deutschland und der Sowjetunion lehren, äußerst gering, sich gegen die anderen Großmächte durchzusetzen. Dies gilt auch für totalitäre Regime mit expansionistischer Ideologie, wenn ihre Ziele nicht begrenzt genug sind. Eher unbegrenzte Ziele waren beispielsweise typisch für die Ideologien der Mexica ( Azteken ) und Inkas und schwächten daher ihre Reiche bereits vor der Ankunft der wenigen Spanier so erheblich, dass sie von diesen mit Hilfe von indianischen Verbündeten bzw. wegen innerer Streitigkeiten besiegt werden konnten :22 „The problems that beset the Mexica and Inca in the early sixteenth century were unforeseen long - term consequences of the reforms instituted by the first imperial regimes. [...] As the Aztec and Inca armies found themselves fighting farther and farther from their capitals, logistic difficulties arose. Overextended, vulnerable lines of supply and unfamiliar terrain [...] swelled the costs of long - distance campaigns while decreasing the rewards. In the mountainous Tarascan homeland of western Mexico and the Amazonian jungle east of the Andes, the imperial armies suffered appalling losses and came away with nothing.“23 Was geschieht also mit den totalitären Regimen, deren höchste Werte nicht verwirklicht werden können ? In diesem Falle können vier verschiedene Entwicklungspfade eingeschlagen werden ( Abb. 1). Erstens können die totalitären Regime auf dem Schlachtfeld besiegt werden. Tatsächlich ist eine solche Entwicklung nicht unwahrscheinlich. Denn eine Ideologie führt wegen ihrer Natur leicht bei Führern und Anhängern besonders der ersten Generation zum Glauben, dass übernatürliche Mächte, das Schicksal oder die Mächte der Geschichte an ihrer Seite stehen und den Sieg über alle Feinde garantieren. Die absolute Wahrheit muss sich ja schließlich durchsetzen. Aus diesem Grunde werden die Anführer geneigt sein, große Risiken in ihrer auswärtigen und militärischen Politik einzugehen. Nazi - Deutschland, die Roten

22 Vgl. ebd. 23 Geoffrey W. Conrad / Arthur Andrew Demarest, Religion and Empire. The Dynamics of Aztec and Inca Expansionism, Cambridge 1988, S. 183.

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Ideologische Bewegung mit höchsten Werten

Institutionalisierung der geistigen Führung

Kombination der geistigen und säkularen Führung und Macht

Die säkulare Macht des Staats oder Quasi-Staats

Totalitäre Regime unterliegen: Taiping Revolution, NS- Regime, Kambodscha (Rote Khmer)

Krise

Umdeutung der Werte: China 1979, Gorbatschow in der Sowjetunion

Höchste Werte können nicht verwirklicht werden

Totalitarismus: Mongolen, Inkas, Azteken, Calvins Genf, Anabaptisten in Münster, kommunistische Regime, NS-Regime, totale Demokratie (mit höchsten Werten)

Aufschub der Zielverwirklichung und Vorbereitung positiver Gelegenheit: Stalin, Breschnew, Mao

Höchste Werte können verwirklicht werden

Fast nur Gläubige: keine höchsten Werte, die Expansion erfordern.

Reife ideologische Regime: Fast alle glauben an höchste Werte: Pharaonisches Ägypten, puritanisches Massachusetts, jesuitisches Paraguay

Abb. 1 : Entstehung, Weiterentwicklung und Ende totalitärer Regime

Khmer in Kambodscha24 und die Wiedertäufer in Münster25 bieten Beispiele für ein solches Verhalten und die daraus resultierenden katastrophalen Niederlagen totalitärer Regime. Die zweite Alternative besteht darin, die weitere Verwirklichung der ideologischen Ziele in eine entferntere Zukunft zu verschieben, und sich diplomatisch und militärisch für günstigere Zeiten vorzubereiten. Dieser Weg wird am ehesten von Anführern aus der zweiten und dritten Generation bevorzugt werden, die eine gewisse Distanz zur Ideologie gewonnen haben und daher eine realistischere Einschätzung der Gegebenheiten besitzen. Dabei mag sie nicht nur ihr Wille, an der Macht zu bleiben, sondern auch ihr ideologischer Glaube zu einer solchen Politik veranlassen. Denn nach diesem ist oft zu erwarten, dass die Gegner des wahren Glaubens im Laufe der Zeit in immer größere Schwierigkeiten und Krisen geraten werden. Die Sowjetunion unter Stalin und Breschnew bietet ein Beispiel für eine Umdeutung der Ideologie, die eine solche Verschiebung der Verwirklichung ihrer Ziele in die Zukunft implizierte. Die dritte Alternative, die nur nach langer Zeit oder in einer Krise zur Verfügung steht, ist eine substantielle Neuinterpretation der höchsten Werte der Ideologie. Das kann zum Beispiel geschehen, wenn die Führung erkennt, dass der Staat / die Staaten, den / die sie kontrolliert, zu schwach ist / sind, um jemals eine 24 Vgl. Bernholz, Ideology, Sects, State and Totalitarianism. 25 Vgl. ebd.

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universelle Herrschaft zu erreichen. Oder die Führer einer Großmacht, die zur zweiten oder dritten Generation gehören, stellen fest, dass sie gegenwärtig die entgegenstehenden Mächte weder militärisch noch mit ihrer Ideologie überwinden können, und dass das militärische Machtgleichgewicht sich ungünstig für sie entwickelt wegen eines schwächeren Wachstums ihrer Wirtschaft. So ist letzteres wahrscheinlich, wenn die Werte der Ideologie umfangreiche staatliche Eingriffe in die Wirtschaft verlangen, also z. B. eine Planwirtschaft, eine stark dirigistische Wirtschaft, die Abschaffung des Privateigentums oder Preis - und Gewinnkontrollen, Verbot des Zinses usw. In diesem Fall können sich die Führer entscheiden, Reformen von oben durchzuführen, was jedoch nicht möglich ist ohne eine Neuinterpretation des Inhalts der Ideologie. Beispiele dafür sind die Reformen im kommunistischen China seit 1979 und die von Gorbatschow in der Sowjetunion eingeleiteten. Allerdings ist es wie in letzterem Falle möglich, dass die Reformen unangemessen sind und daher nicht zu dem erwünschten Erfolg führen. Die vierte Alternative bezieht sich auf einen recht langsamen historischen Prozess. Wenn das totalitäre Regime durch ökonomisch erfolgreichere Länder ( Rechtsstaaten mit freien Märkten und starken Eigentumsrechten, nicht zu hohen Abgaben und einigermaßen stabiler Währung ) umgeben ist, und wenn das Regime seine Einwohner nicht gegenüber den Informationen, die von außen kommen, abschirmen kann, so wird eine Erosion der ideologischen Werte stattfinden. Das dürfte besonders wahrscheinlich für totalitäre Regime sein, die bereits die Verwirklichung ihrer ideologischen Ziele in die Zukunft verschoben haben. Eine solche Entwicklung dürfte außerdem die Wahrscheinlichkeit eines Prozesses in Richtung der dritten Alternative erhöhen. Aber was geschieht, wenn die in der Ideologie enthaltenen Ziele schließlich doch verwirklicht werden sollten ? Es dürfte klar sein, dass in diesem Falle sich eine Reife Ideokratie ergeben würde. Denn dann verbleiben ja keine Ziele, die entweder intern oder international erreicht werden müssten. Daher wandelt sich das totalitäre Regime in eine stabile und friedfertige Reife Ideokratie.

VI.

Die Auswirkungen totalitärer Regime

Wie gezeigt wurde, kommen totalitäre Regime nur durch ideologische Innovationen oder Wiederbelebungen zustande, die es Bewegungen von Gläubigen mit charismatischen Führern in Krisen erlauben, immer mehr Anhänger zu gewinnen, die sich von den in der Ideologie enthaltenen neuen Wahrheiten eine Lösung ihrer Probleme versprechen. In diesem Sinne gewinnt die ideologische Bewegung die Macht im Staate vor allem, indem sie viele Menschen für ihren Glauben gewinnen kann. Darauf beruht daher auch die Legitimität nach ihrer Machtergreifung, zumal sie dann noch mehr Gläubige bekehren und Opportunisten gewinnen kann. Das reicht jedoch nicht, um ihre Herrschaft zu sichern und ihre Ziele zu verwirklichen. Denn es verbleiben die Bürger, die sich nicht

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auf diese Weise gewinnen lassen und möglicherweise die prinzipiell nicht - Konvertierbaren. Gegen diese muss also zu Repression, Gewalt, Unterdrückung, Terror, Vertreibung und nötigenfalls Ausrottung gegriffen werden. Und wenn universelle oder auch nur expansionäre Ziele in der Ideologie enthalten sind, so lassen sich Terror nach außen und sogar Kriege häufig nicht vermeiden. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die meisten Todesopfer in der menschlichen Geschichte nicht von individuellem Neid, Gier, Eifersucht und Mordlust, sondern von totalitären Regimen verursacht wurden, wie aus Tabelle 2 zu ersehen ist, die einen Überblick über die totalitären Regime und ihre Opfer bietet. Tabelle 2 : Totalitäre Regime und ihre Opferzahlen Land

Periode

Zahl der Opfer ( in Tausend )

Quelle

Mongolen

13.–15. Jhd.

29 927

David Morgan, The Mongols, Oxford 1986.

Inkas

Bis 16. Jhd.

Azteken

Bis 16. Jhd.

1 000

Vgl. ebd.

Calvins Genf

1542–46

0,058

Eugéne Choisy, L’etat chrêtien calviniste à Genève, Paris 1902; Stefan Zweig, Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt, Frankfurt a. M. 1983; Meyers großes Konversationslexikon, Calvin, Band 2. Hg. vom Bibliographischen Institut, 6. Auf lage Leipzig 1903, S. 108 f.

Anabaptisten in Münster

16. Jhd.

Französische Revolution (Jakobinischer Terror )

1798–96

Taiping Revolution

1851–64

20 000– Vincent Y.C. Sish, The Taiping Ideology. Its 34 000 Sources, Interpretations and Influences. Seattle 1972; Jean Chesneaux, Peasant Revolts in China, 1840–49, New York 1973.

NS - Deutschland

1933–45

20 946

Nicht Conrad / Demarest, Religion and Empire, verfügbar Cambridge 1988.

Nicht Richard van Dühlem, Das Täuferreich zu verfügbar Münster 1534–1535. Berichte und Dokumente, München 1974. 263

Donald Greer, The Incidence of the Terror During the French Revolution. A Statistical Interpretation. Cambridge 1935; Laurent Ladouce, Was France the Fatherland of Genocide?. In: The World and I, (1988), S. 683–690.

Rudolph Joseph Rummel, Democide. Nazi Democide and Mass Murder, New Brunswick 1992.

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Legitimation, Kooptation und Repression in Ideokratien Land

Periode

Zahl der Opfer ( in Tausend )

93

Quelle

Kommunistische Regime Sowjetunion

1917–87

61 911

Rudolph Joseph Rummel, Lethal Politics. Sovjet Genocide and Mass Murder since 1917, New Brunswick 1990.

China

1949–87

35 236

Rudolph Joseph Rummel, China’s Bloody Century. Genocide and Mass Murder since 1900, New Brunswick 1991.

Vietnam

1954–87

1 678

Kambodscha (Roten Khmer )

1975–79

2 035

Rudolph Joseph Rummel, Death by Government, New Brunswick 1996. Ben Kiernan, The Pol Pot Regime. Race, Power and Genocide in Cambodia unter the Khmer Rouge, New Haven 1996.

Nordkorea

1948–87

1 661

Äthiopien

197–91

2 000

Kuba

1959–96

15–17

Osteuropa (gesamt ) Polen

1917–89

1 000

1946–48

400

Rudolph Joseph Rummel, Statistics of Democide. Genocide and Mass Murder Since 1900, Münster 1998. Evil Days. Thirty Years of War and Famine in Ethiopia. Hg. von Human Rights Watch, New York 1991. Stéphane Courtois / Nicolas Werth / JeanLouis Panné / Andrzej Paczkowski / Karel Bartosek / Jean-Louis Margolin, Le livre noir du communisme. Crimes, terreur, repression, Paris 1997, S.729. Vgl. ebd., S. 16. Michael Checinski, Terror and Politics in Communist Poland, The Soviet and East European Research Center, Hebrew University, Jerusalem1983.

Bemerkung : In einigen Fällen weichen die von anderen Autoren angegebenen Zahlen stark ab. Z. B. für die Sowjetunion sogar um einen Faktor von 0.5 ( vgl. Courtois / Werth / Panné / Paczkowski / Bartosek / Margolin, Le livre noir du communisme, S. 16). Alle Schätzungen stimmen aber bezüglich der Größenordnungen überein. Der Großteil der Zahlen wurde vervollständigt und korrigiert mit Hilfe von Gunnar Heinsohn, Lexikon der Völkermorde. Reinbeck bei Hamburg 1998, S. 54 f. Weitere Quellen sind : Gil Elliott, Twentieth Century Book of Death, London, 1972; Michael N. Dobrowski / Isidore Wallimann ( Hg.), Genocide in Our Time. An Annotated Biography with Analytical Introductions, Ann Arbour MI 1992, S. 167; Rummel, Death by Government, S. 12.

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Peter Bernholz

VII. Schlussbetrachtung Wir haben gezeigt, dass die vorgestellte Theorie der Ideokratie und des Totalitarismus in der Lage ist zu erklären, wie und unter welchen Bedingungen totalitäre Regime entstehen. Dabei wurden die treibenden Kräfte beschrieben, die für die Entstehung totalitärer Regime, ihre interne Entwicklung, ihre charakteristischen Züge, aber auch für ihr Vergehen verantwortlich sind. Die Theorie konnte ebenfalls erklären, weshalb und wie sich reife Ideokratien aus ihnen oder statt ihrer entwickeln. Außerdem hat sie uns erlaubt, eine Reihe historischer Fälle zu entdecken, die bisher für die meisten Forscher nicht zu den totalitären Regimen gehörten. Am Ende dieses Beitrags soll abschließend die Frage beantwortet werden, was mit ideologischen Bewegungen geschieht, deren Versuch, die weltliche Macht zu erobern, bisher misslungen ist oder die diese wieder verlieren. Die Antwort fällt im Rahmen unserer Theorie nicht schwer. Wenn solche ideologischen Bewegungen nicht völlig unterdrückt werden, können sie entweder versuchen, doch noch die säkulare Macht zu erringen oder sie wieder zu gewinnen, indem sie zu Terrorismus oder Guerillakrieg greifen. Oder sie passen sich den sie umgebenden Bedingungen an. In diesem Fall werden sie zu entschiedenen Befürwortern von Toleranz gegenüber Ideologien in den jeweiligen Ländern26 und sich so weit wie möglich von den Einflüssen ihrer Umgebung zu isolieren suchen, um die Reinheit ihres Glaubens zu bewahren. Selbst dann mag aber eine Anpassung von solchen Teilen ihrer Ideologie notwendig sein, die stark den Vorstellungen der dominierenden Gesellschaft, in der sie leben, widersprechen. Ein Beispiel dafür würde die Aufgabe der Polygamie durch die Mormonen sein. Terroristische Aktivitäten nach dem Verlust der Macht können verschiedentlich beobachtet werden. So z. B. für die Roten Khmer, aber auch für einen Teil der Wiedertäufer, nachdem ihr Königreich in Münster vernichtet worden war. Andererseits gründete Menno Simons die Sekte Mennoniten und schuf die friedlichen Traditionen dieser Gruppe von Wiedertäufern.27

26 Vgl. Peter Bernholz, Supreme Values, Tolerance and the Constitution of Liberty. In : Gérard Radnitzky / Hardy Bouillon ( Hg.), Values and the Social Order, Avebury 1994. 27 Vgl. James M. Stayer, Anabaptists and the Sword, Lawrence 1976.

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Ideokratien als Subtyp autokratischer Regime ? Johannes Gerschewski

I.

Ideokratien und die Renaissance der Autokratieforschung

In der letzten Dekade ist die Autokratieforschung1 wieder stärker in den Fokus der Vergleichenden Politikwissenschaft gerückt.2 Während dieser Forschungszweig lange im Schatten des „Transitionsparadigmas“3 stand, wird die Bandbreite autokratischer Regime nunmehr intensiver studiert. Der autokratische Subtypus der „Ideokratie“ ist dabei jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten. In der gegenwärtigen, vor allem internationalen Vergleichenden Politikwissenschaft tauchen Ideokratien selten als eigenständiger Subtypus auf. Eine kritische Bestandsaufnahme, wie sie in diesem Sammelband vorgenommen wird, kommt daher sicherlich zur rechten Zeit. Dieser Beitrag ist entlang von drei Kernfragen strukturiert : Was ist eigentlich eine Ideokratie ? Worin besteht ihr analytischer Mehrwert ? Und wo würden sie sich in einer Typologie politischer Regime am besten verorten lassen ? Im Folgenden werde ich daher zunächst kurz auf Ideokratiedefinitionen verweisen. Darauf aufbauend wird untersucht, inwiefern die Ideokratie einen distinkten Regimetyp darstellen kann, inwiefern sie dem bereits etablierten Begriff der totalitären Regime überlegen sind oder ob sie mit ähnlichen konzeptionellen Herausforderungen zu kämpfen haben. Die Verengung, so die These hier, auf die An - bzw. Abwesenheit einer ( monistischen ) Ideologie als fundamentum divisionis autokratischer Regime erscheint wenig analytischen Mehrwert zu besitzen. Es wird argumentiert werden, dass die Einführung des Subtypus der Ideokratie den Versuch darstellt, aus einer Typologie eine Taxonomie zu machen, in 1

2

3

Dieser Beitrag wurde im Rahmen eines am Wissenschaftszentrum Berlin ( WZB ) angesiedelten DFG - Forschungsprojekts zu „Critical Junctures and the Survival of Autocracies“ geschrieben. Ich bedanke mich bei den beiden Herausgebern sowie bei Wolfgang Merkel, Alexander Schmotz, Christoph Stefes und Dag Tanneberg für hilfreiche Hinweise; insbesondere gilt mein Dank Sophie Eisentraut und Judith Wenner. Für einen Überblick über die Forschung vgl. Patrick Köllner, Autoritäre Regime. Ein Überblick über die jüngere Literatur. In : Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 2 (2008) 2, S. 351–366; Steffen Kailitz, Stand und Perspektiven der Autokratieforschung. In : Zeitschrift für Politikwissenschaft, 19 (2009) 3, S. 437–488. Thomas Carothers, The End of the Transition Paradigm. In : Journal of Democracy, 13 (2002) 1, S. 5–21.

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Johannes Gerschewski

der die gesellschaftliche Ideologisierung das erste ( und wichtigste ) Unterscheidungskriterium autokratischer Regime darstellen würde. Die Entscheidung für eine prioritäre Behandlung der Ideologiefrage müsste theoretisch besser unterfüttert werden. Es wird stattdessen vorgeschlagen, den offeneren Legitimationsbegriff zu verwenden und statt des Grades an gesellschaftlicher Ideologisierung nach den unterschiedlichen Legitimationsquellen zu fragen. Ein jüngst entwickelter Erklärungsansatz wird hier skizziert. Es wird argumentiert, dass drei Säulen – Legitimation, Repression und Kooptation – die Stabilität von Autokratien erklären können. Dieser Ansatz soll diachrone Vergleiche innerhalb eines Landes sowie synchrone länderübergreifende Vergleiche erleichtern und somit die in diesem Kontext oft zu beobachtende idiographische Tendenz von Fallstudien überwinden.4

II.

Was ist eine Ideokratie ?

Der Begriff „Ideokratie“ ist in den Politikwissenschaften noch relativ unterbelichtet. Uwe Backes weist darauf hin, dass sich der Begriff der Ideokratie auf den Historiker Heinrich Leo zurückführen lässt, der 1833 von einem „Fanatismus“ sprach, der für solche Regime charakteristisch sei.5 In jüngerer Zeit haben vor allem Jaroslaw Piekalkiewicz und Alfred Penn versucht, sich dem Phänomen systematisch zu nähern. Sie verstehen unter Ideokratien Diktaturen, deren Herrschaftsanspruch auf einer monistischen Ideologie beruht. Im Unterschied zu anderen Diktaturformen würden sie dabei ihre Legitimation ausschließlich von der herrschenden Ideologie ableiten, die einen universalen Rahmen zur Handlungsorientierung der Bürger und zur Organisation des sozialen Lebens darstelle.6 Die Ideologie besitzt so einen exklusiven und alle Lebensbereiche umfassenden Geltungsanspruch. Dieser Anspruch auf Weltdeutungshoheit kann eine alternative Weltanschauung nicht zulassen. Lothar Fritze hat mit den „Weltanschauungsdiktaturen“ ein ähnliches Konzept vorgelegt. Er sieht vier charakteristische Merkmale für diesen Regimetypus : Okkupation der politischen Herrschaft durch eine Person oder Gruppe, Monopolisierung der Willensbildung, Herrschaftsausübung via Integration, Disziplinierung und Mobilisierung sowie die Überformung der politischen Willensbildung und der praktischen Politik 4

5

6

Vgl. Johannes Gerschewski, The Three Pillars of Stability. Legitimation, Repression, and Co - optation in Autocratic Regimes. In : Democratization, 20 (2013) 1, S. 13–38. Zudem: Johannes Gerschewski / Wolfgang Merkel / Alexander Schmotz / Christoph Stefes / Dag Tanneberg, Warum überleben Autokratien ? In : Steffen Kailitz / Patrick Köllner (Hg.), Autokratien im Vergleich, PVS - Sonderheft 47, Baden - Baden 2013, S. 106–131. Vgl. Uwe Backes, Was heißt Totalitarismus ? Zur Herrschaftscharakteristik eines extremen Autokratie - Typs. In : Katarzyna Stoklosa / Andrea Strübind ( Hg.), Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA, Göttingen 2007, S. 609–625, hier 620. Eine umfangreichere Erörterung von Uwe Backes zur Geschichte des Ideokratiebegriffs findet sich in diesem Band. Vgl. Jaroslaw Piekalkiewicz / Alfred W. Penn, Politics of Ideocracy, Albany 1995, S. 25.

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Ideokratien als Subtyp autokratischer Regime ?

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durch eine verbindliche Ideologie beziehungsweise Weltanschauung.7 Während die ersten drei Merkmale eher Autokratien im Allgemeinen beschreiben, kann die Frage der Verbindlichkeit ideologisch vorgegebener Dogmen die differentia specifica gegenüber anderen Autokratietypen darstellen.

III.

Typologisierungsversuche in der Politikwissenschaft und die Verortung der Ideokratie

Zunächst sollen an dieser Stelle der Gebrauch der Begriffe „Typologie“ und „Taxonomie“ geklärt werden. Typologien sind ein klassisches politikwissenschaftliches Instrument zur Komplexitätsreduktion, Ordnung und Einteilung politischer Regime. Dieser Ordnungsfunktion gehen Typologien nach, indem sie mit theoretisch und konzeptionell sinnvollen Kriterien distinkte Typen bilden, die sich aus der Kombination ihrer Variablenwerte ergeben.8 Es wird hier davon ausgegangen, dass eine Typologie erst durch die Kombination mindestens zweier Kriterien entsteht, die überdies gleichzeitig angewandt werden müssen. Die Reihenfolge der Anwendung dieser Kriterien ist also bei Typologien nachrangig. Erfolgt die Kombination von Kriterien jedoch sequentiell und ist daher die Reihenfolge bedeutsam, ist es analytisch fruchtbarer von einer Taxonomie zu sprechen. Basiert die Unterteilung schließlich auf lediglich einem Kriterium ist es besser von einem Klassifikationsschema und nicht von einer Typologie oder einer Taxonomie zu sprechen.9

1.

Totalitäre, ideokratische und autoritäre Subtypen autokratischer Herrschaft

Piekalkiewicz und Penn entwickeln vor diesem Hintergrund eher ein Klassifikationsschema denn eine Typologie politischer Regime. Das einzige Unterscheidungskriterium stellt bei ihnen die Weltanschauung dar. Eine monistische Weltanschauung würde so einer Ideokratie entsprechen und ein eingeschränkter 7 8

9

Vgl. Lothar Fritze, Verführung und Anpassung. Zur Logik der Weltanschauungsdiktatur, Berlin 2004, S. 27. Vgl. Dieter Nohlen, Typen / Typologie. In : Dieter Nohlen / Jürgen Kriz / Rainer - Olaf Schultze ( Hg.), Lexikon der Politik, München 1994, S. 491–496; Joachim Behnke / Nina Baur / Nathalie Behnke, Empirische Methoden der Politikwissenschaft, Paderborn 2006, S. 104; David Collier/ Jody Laporte / Jason Seawright, Typologies. Forming Concepts and Creating Categorical Variables. In : Janet M. Box - Steffensmeier / Henry E.Brady / David Collier (Hg.), The Oxford Handbook of Political Methodology, Oxford 2010, S. 152–173. Vgl. Alberto Marradi, Classification, Typology, Taxonomy. In : Quality and Quantity, 24 (1990) 2, S. 129–157; Vittorio Capecchi, On the Definition of Typology and Classification in Sociology. In : Quality and Quantity, 2 (1968) 1, S. 9–30; Paul F. Lazarsfeld, Classifying and Building Typologies. In : Paul F. Lazarsfeld ( Hg.), On Social Research and its Language, Chicago 1993, S. 158–171.

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Johannes Gerschewski

Pluralismus einem autoritären Regime. Ein offener Pluralismus würde schließlich mit einer Demokratie einhergehen. Monistische Weltanschauung

Eingeschr. pluralist. Weltanschauung

Pluralistische Weltanschauung

Ideokratie

Autoritäres Regime

Demokratie

Abb. 1 : Klassifikationsschema politischer Regime nach Piekalkiewicz und Penn. Quelle : Jaroslaw Piekalkiewicz / Alfred W. Penn: Politics of Ideocracy, Albany 1995, S. 27.

Piekalkiewicz und Penn argumentieren, dass der analytischer Mehrwert darin gesehen werden kann, einen distinkten autokratischen Subtypus herausgearbeitet zu haben. Dieser habe zudem nicht nur das Potential, den in die Krise gekommenen Totalitarismusbegriff konzeptionell abzulösen, sondern auch ihn durch die Unterscheidung in „totalitäre“ und „populistische Ideokratien“10 weiter auszudifferenzieren. Während erstere Variante auf Zwang beruhe, könnten populistische Ideokratien auf „voluntary acceptance from a high level of support for a commonly held monistic ideology“11 fußen und sich vor allem in relativ isolierten Systemen entwickeln. Auch Fritze geht davon aus, dass Weltanschauungsdiktaturen begrifflich die totalitären Diktaturen voll mit einschließen und darüber hinaus gehen. Totalitäre Regime sind also als Untermenge der Ideokratien zu sehen. In der weit rezipierten Typologie nicht - demokratischer Regime von Linz sind totalitäre Regime gekennzeichnet von einem Anti - Pluralismus, einer Ideologie und der Mobilisierung der Massen. Autoritäre Regime werden hingegen als nicht - totalitäre Nicht - Demokratien gesehen, die einen begrenzten Pluralismus aufweisen, überdies statt einer Ideologie über gewisse „Mentalitäten“ verfügen und ihre Bevölkerung nicht mobilisieren müssen.12 In einem späteren Werk mit Stepan fügt Linz eine vierte Dimension hinzu : die begrenzte oder unbegrenzte Herrschaft.13 Im Vergleich zum Klassifikationsschema bei Piekalkiewicz und Penn, das zwei der Linz’schen Merkmale zusammenwirft ( monistische Ideologie und eingeschränkt pluralistische Weltanschauung ), werden hier also mehrere Merkmale gleichzeitig angewandt. Die beiden Typen entstehen dabei induktiv. Die Typologie von Linz wäre konzeptionell offen für den Subtyp einer Ideokratie. Dies würde jedoch eine Gleichsetzung von totalitären und ideokratischen Regimen 10 Vgl. Piekalkiewicz / Penn, Politics of Ideocracy, S. 27. 11 Ebd., S. 29. 12 Vgl. Juan J. Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes. In : Fred Greenstein / Nelson W. Polsby ( Hg.), Handbook on Political Science, Band III, Reading 1974, S. 175–411. 13 Vgl. Juan J. Linz / Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America and Post - communist Europe, Baltimore 1996.

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Tabelle 1 : Typologie autokratischer Regime nach Linz Kriterium Maß an Pluralismus Ideologie Mobilisierung Herrschaft

Totalitäres Regime Anti-Pluralismus Ideologie Massenmobilisierung Unbegrenzte Herrschaft

Autoritäres Regime Begrenzter Pluralismus Mentalitäten Keine Massenmobilisierung Begrenzte Herrschaft

nach sich ziehen und dem Konzept der „populistischen Ideokratie“ keinen Platz einräumen. Die Linz’schen „Mentalitäten“ in autoritären Regimen lassen sich schlichtweg nur schwer vereinbaren mit der dezidiert handlungsleitenden und Exklusivität beanspruchenden Ideologie. Empirische Fälle für „populistischen Ideokratien“, die die Differenz zwischen „herkömmlichen“ totalitären Regimen und totalitären Ideokratien darstellen sollen, werden zudem sehr schwer zu finden sein. Piekalkiewicz und Penn verweisen in ihrem Werk auch auf lediglich zwei empirische Fälle für „populistische Ideokratien“, also Herrschaftsformen, die auf dem freiwilligen Konsens bezüglich einer monistischen Ideologie beruhen : das kalvinistische Genf und den Commonwealth of Massachussets.14 Gemessen an der Fülle an weltweiten und historischen Regimen sind populistische Formen von Ideokratien aus empirischer Sicht damit vernachlässigbar und die Frage stellt sich, welchen klassifikatorischen Mehrwert sie dann bieten. Der Begriff des Totalitarismus wird von Befürwortern des Ideokratiekonzepts weiter dafür kritisiert, er würde impliziere, dass stets ein sehr hoher und konstanter Grad an Repression oder Terror angewandt werde.15 Es sei jedoch anzunehmen, dass beispielsweise nach der Durchsetzung der Exklusivität der Ideologie die Repression abnimmt, so dass der Grad an Terror je nach Phase des totalitären Regimes variieren kann. Konzeptionell wären Ideokratien daher dem Totalitarismusbegriff überlegen, da sie eine solche hohe „Hürde“ nicht fordern und somit ebenfalls mehr empirische Fälle umfassen würden. Mit Sartori gesprochen sei die Extension größer aufgrund der geringeren Intension.16 Die Varianz der Repression ist in den meisten Totalitarismusansätzen in der Tat unterbelichtet geblieben und hat ihnen zu Recht den Vorwurf der Statik eingehandelt. Der berühmte Totalitarismusansatz von Friedrich wurde symptomatisch für viele dafür kritisiert, dass er den wandelnden Bedingungen in der poststalinistischen Sowjetunion nicht mehr gerecht wurde. Friedrich ging zunächst 14 Vgl. Piekalkiewicz / Penn, Politics of Ideocracy, S. 29. 15 Dies lässt sich im sozialphilosophischen Werk Hannah Arendts ebenso wie beim politologisch - strukturellen Ansatz nach Friedrich und Brzezinski zeigen, bei denen Repression konstitutiv für totalitäre Regime ist. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München 2005; Carl J. Friedrich, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957. 16 Vgl. Giovanni Sartori, Guidelines for Concept Analysis. In : ders. ( Hg.), Social Science Concepts. A Systematic Analysis, S. 15–85; Steffen Kailitz, Varianten der Autokratie im 20. und 21. Jahrhundert. In : Totalitarismus und Demokratie, 6 (2009), S. 209–251.

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davon aus, dass der Terror aufgrund des Unfehlbarkeitsdogmas der Ideologie stetig an Intensität zunehmen müsse.17 In der Einleitung der zweiten englischen Ausgabe von 1965 revidierte er dies und sprach von extremen politischem Terror unter Stalin und Hitler. Im „Normalfall“ würde der Terror hingegen viel subtilere Züge annehmen. Dies brachte ihm einerseits die Kritik ein, „wirkungsvoll zur Chaotisierung der heutigen Totalitarismusdiskussion“18 beizutragen, während diese Modifikation von Siegel andererseits als „kognitiv folgerichtige Reaktion“19 verteidigt wurde. Festzuhalten bleibt, dass der Sechs - Punkte Katalog20 zu statisch konzipiert war und gerade in der Frage der Repression keine Varianz erlaubte. Jedoch kann auch hier der Kritik der Wind aus den Segeln genommen werden. Es muss zu Recht kritisiert werden, dass der Grad an Repression als Unterscheidungskriterium keine starke Diskriminierungskraft gegenüber autoritären Regimen entwickelt.21 Ein totalitäres Regime muss nicht zwangsläufig repressiver sein als ein autoritäres. Dies wird jedoch in bestimmten Totalitarismusansätzen durchaus berücksichtigt. Juan Linz hat deshalb auch bewusst darauf verzichtet, Repression oder Terror als eines der drei Klassifizierungsmerkmale für autoritäre und totalitäre Regime zu benutzen : „Terror is neither a necessary nor sufficient characteristic of totalitarian systems“.22 Totalitarismuskonzeptionen verzichten also durchaus auf den Terroraspekt, so dass die Kritik der Befürworter des Ideokratiebegriffs nur partiell zutreffend ist. Zudem muss man kritisch prüfen, ob der autokratische Subtypus „Ideokratie“ nicht alter Wein in neuen Schläuchen ist. Der konzeptionelle Zuschnitt von Ideokratien mit einer monistischen und Exklusivität beanspruchenden Ideologie hat hohe Ähnlichkeit mit dem Konzept totalitärer Regime von Martin Drath, welches dieser in den 1950er Jahren entwickelte. Drath stellte sich die Frage, welches Grundprinzip zentral für alle totalitären Regime sei und kam zu dem Schluss, dass es ein gemeinsames Primär - und mehrere davon deduzierte Sekundärphänomene gebe. Das Primärphänomen ist für ihn die Durchsetzung eines

17 Vgl. Friedrich, Totalitäre Diktatur. 18 Lothar Fritze, Unschärfen des Totalitarismusbegriffs. Methodologische Bemerkungen zu Carl Joachim Friedrichs Begriff der totalitären Ideologie. In : Eckhard Jesse ( Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1999, S. 305–319, hier 317. 19 Achim Siegel, Der Funktionalismus als sozialphilosophische Konstante der Totalitarismuskonzepte von Carl Joachim Friedrich. Methodologische Anmerkungen zur Entwicklung von Friedrichs Totalitarismuskonzept in den sechziger Jahren. In : Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1999, S. 320–338, hier 333. 20 Die sechs Punkte von Friedrich und Brzezinski umfassen dabei ( a ) eine alle Lebensbereiche umfassende Ideologie, ( b ) eine hierarchisch organisierte Massenpartei, ( c ) ein Terrorsystem, ( d ) ein Monopol über die Massenkommunikationsmittel, ( e ) ein Waffenmonopol und ( f ) eine staatlich gelenkte Wirtschaft. 21 Vgl. Backes, Was heißt Totalitarismus ?, S. 622 f. 22 Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes, S. 195.

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neuen „Wertungssystems, das bis in die ‚Metaphysik‘ hinein fundiert wird“.23 Auch Lieber schließt sich diesem Gedanken an, indem er argumentiert, dass der Ideologie ein zentraler Platz zukomme, da sie den verschiedenen Merkmalen „ihren funktional - strukturellen Stellenwert im Gesamtzusammenhang“24 zuweise. Die Ideologie stellt so den Orientierungs - und Deutungsrahmen dar, dessen praktische Umsetzung durch die „Sekundärphänomene“ geleistet werden muss. Diese Sekundärphänomene sind daher als technische Mittel der Wertedurchsetzung, das heißt des Primärphänomens, zu sehen.25 Wie diese Sekundärphänomene ausgestaltet sind, ist dabei zunächst nachrangig. Auch Drath selbst geht nicht weiter darauf ein. Anschlussmöglichkeiten für die Konzeption totalitärer Regime gäbe es beim Sechs - Punkte - Katalog von Friedrich und Brzezinski.26 Der Vorteil besteht darin, den interdependenten Wirkungszusammenhang der sechs Merkmale aufzulockern. Es würde dann nicht mehr die Anwesenheit aller weiteren fünf Merkmale zur Klassifikation notwendig sein. Stattdessen könnte gefragt werden, inwiefern die Sekundärphänomene die Durchsetzung des neuen Wertungssystems herstellen. Die differentia specifica zwischen autoritären und totalitären Regimen wäre daher die Frage nach der Ideologie, die autoritäre Regime konservativ, totalitäre Regime revolutionär lösen.27 Die konzeptionellen Überschneidungen des Ideokratiekonzepts zum Drath’schen Ansatz sind signifikant. Der Begriff der Ideokratie vermag zwar die hitzige Diskussion um den Totalitarismusbegriff, die seit den 1970er Jahren sowohl in der praktischen Politik als auch in der Politikwissenschaft zu verzeichnen war, zu vermeiden. Konzeptionell fußt er jedoch auf den gleichen Ansätzen, wobei er mit der Totalitarismusvariante von Drath nahezu identisch ist. Empirische Überschneidungen sind die Folge. „Populistische Ideokratien“, die die Ideokratiekonzeption in empirischer Hinsicht gegenüber klassischen Totalitarismuskonzeptionen abheben sollten, sind fast nicht existent, so dass der analytische Mehrwert des Ideokratiebegriffs kritisch gesehen werden muss.

2.

Der Versuch einer Taxonomie

Die oben angesprochene Typenbildung bei Linz ist ebenfalls in die Kritik geraten. So hat Wolfgang Merkel vor allem die unsystematische Weise kritisiert, mit 23 Martin Drath, Totalitarismus in der Volksdemokratie. In : Bruno Seidel / Siegfried Jenkner ( Hg.), Wege der Totalitarismus - Forschung, Darmstadt 1968, S. 310–358, hier 340. 24 Hans - Joachim Lieber, Ideologie. Eine historisch - systematische Einführung, Paderborn 1985, S. 109. 25 Vgl. Werner J. Patzelt, Wirklichkeitskonstruktion im Totalitarismus. Eine ethnomethodologische Weiterführung der Totalitarismuskonzeption von Martin Drath. In : Achim Siegel ( Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998, S. 235–272. 26 Vgl. Friedrich, Totalitäre Diktatur. 27 Vgl. Drath, Totalitarismus in der Volksdemokratie, S. 337.

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Johannes Gerschewski

der die Typologie entwickelt wurde.28 Linz’ typologischer Versuch beruhe zwar auf immensem empirischem Wissen, jedoch sei die Herleitung der drei Kriterien nicht klar nachvollziehbar und es entstehe der Subtyp des autoritären Regimes eher als Desideratum : Autoritäre Regime seien gleichzusetzen mit nicht - totalitären Regimen.29 Linz gebe zudem auch nicht an, auf welcher Basis die Klassifikation seiner Subtypen entstehe. Merkel identifiziert so bei der von Linz entwickelten Binnendifferenzierung der beiden Subtypen autokratischer Herrschaft ( bürokratisch - militärische, korporatistisch - autoritäre, mobilisierend - autoritäre, nachkolonial - autoritäre Regime, rassisch - ethnische „Demokratien“, totalitäre und post - totalitäre Regime ) sechs Unterscheidungskriterien bei sieben Typen. In seiner eigenen Typologie konzentriert sich Merkel ausschließlich auf die Herrschaftsdimension, die er in sechs Kriterien unterteilt : die Legitimation der Herrschaft, der Zugang zu Herrschaft, das Monopol der Herrschaft, die Herrschaftsstruktur, der Herrschaftsanspruch und die Frage der Ausübung der Herrschaft. Dies ist theoretisch überzeugender, hat aber den Nachteil, dass bei lediglich zwei Ausprägungen der einzelnen Kriterien schon 26 logisch mögliche Kombinationen entstehen würden.30 Merkel ist sich dessen bewusst und liefert mit der Idee eines Primärkriteriums, ähnlich wie oben bereits Martin Drath, einen möglichen Ausweg.31 Er selbst schlägt, auch in dieselbe Richtung denkend, die Legitimationsdimension – unterteilt in Weltanschauung und Mentalität – als ein solches Primärkriterium vor. Dieser Vorschlag käme auch einer typologischen Verortung der Ideokratie als einen Subtypus autokratischer Herrschaft generell entgegen. Einer „Weltanschauungsdiktatur“ würde eine „Mentalitätsdiktatur“ gegenüberstehen. Anzumerken bleibe lediglich, dass wir damit jedoch, streng gesehen, den Bereich der Typologie verlassen und stattdessen eine Taxonomie konstruieren, bei der im ersten Schritt die Legitimationsform als Unterscheidungskriterium und erst in den folgenden Schritten die anderen Kriterien entweder gleichzeitig oder sequentiell angewandt werden. Die Abbildungen 2a und 2b zeigen beispielhaft zunächst eine sequentielle und dann eine gleichzeitige Einteilung. Eine Grundfrage müsste jedoch noch beantworten werden. Wie können wir theoretisch sinnvoll argumentiert, dass die Frage der Ideologie oder der Legitimationsform als fundamentum divisionis die Gruppe der autokratischen Regime an erster Stelle teilen sollte ? Wie später expliziert wird, befürworte ich durchaus ein Primärkriterium der Legitimation, jedoch darf dieses nicht bei der Linz’-

28 Vgl. Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2. Auflage Wiesbaden 2010, S. 41 f. 29 Vgl. Backes, Was heißt Totalitarismus ?, S. 614 f. 30 Vgl. Johannes Gerschewski, Zur Persistenz von Autokratien. Ein Literaturüberblick. In: Berliner Debatte Initial, 21 (2010) 3, S. 42–53, hier 43. 31 Auf der Basis dieses Kriteriums unterscheidet er beispielsweise neun mögliche autoritäre Systeme : kommunistische, faschistische, militärische, korporatistische, rassistische, modernisierende, theokratische, dynastische und sultanistische autoritäre Regime.

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schen Unterteilung zwischen Ideologie und Mentalitäten stehenbleiben, sondern muss sich für andere Legitimationsformen öffnen.32

Autokratie

Legitimation der Herrschaft

Herrschaftsweise

Herrschaftsmonopol

Weltanschauungsautokratie

repressiv

begrenzt repressiv

Führer / Partei

Mentalitäts autokratie

begrenzt repressiv

repressiv

Oligarchie

Führer / Partei

Oligarchie

Abb. 2a : Taxonomie politischer Regime mit Primärkriterium Legitimation

Autokratie

Legitimation der Herrschaft

Weltanschauungsautokratie

Mentalitäts autokratie

Herrschaftsweise

repressiv begrenzt

repressiv

Herrschaftsmonopol

Führer / Partei

Oligarchie

Herrschaftsstruktur

monistisch

semi-pluralistisch

Abb. 2b : Taxonomie politischer Regime mit Primärkriterium Legitimation und anschließender induktiver Typologisierung

32 Vgl. Steffen Kailitz, Classifying Political Regimes Revisited. Legitimation and Durability. In : Democratization, 20 (2013) 1, S. 39–60.

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104 3.

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Die gegenwärtige angelsächsische Forschung

Richtet man den Blick auf die internationale, vor allem angelsächsische Politikwissenschaft, so fällt auf, dass die Frage der Herrschaftslegitimation generell stark vernachlässigt wird. Diese Forschungslücke ist bemerkenswert. So unterscheidet beispielsweise Geddes in ihrer einflussreichen Unterteilung autokratischer Regime entlang der Dimension der Herrschaftsstruktur.33 Ihre Dreiteilung in Ein - Partei - Regime, Militärregime und personalistisches Regime wird in der Vergleichenden Autokratieforschung zumeist übernommen. Während für den Klassifikationsversuch von Barbara Geddes dessen Schlankheit spricht, ist kritisch zu hinterfragen, ob die Reduktion auf ein Merkmal der empirischen Vielfalt autokratischer Regime gerecht wird. Überdies kritisieren Hadenius und Teorell, dass eigentlich alle autokratischen Regime einen gewissen Grad an Personalisierung aufweisen würden und dies somit kein distinkter Subtypus wäre.34 Stattdessen schlagen sie vor, entlang des Unterscheidungskriteriums des Modus der Herrschaftssicherung zu differenzieren. Es würden daraus Monarchien mit Erbfolge, Militärregime und elektorale Regime resultieren, wobei letztere in Kein - , Ein - und begrenzte Mehr - Parteien - Regime weiter klassifiziert werden könnten. Hier hat sich Kritik geregt, dass der Lokus der Macht mit dem Modus der Machtübertragung verwechselt wird.35 Ein weiterer einflussreicher Klassifikationsversuch ist der ACLP - Datensatz36 um Adam Przeworski, der jüngst von Cheibub, Gandhi und Vreeland erweitert wurde.37 Dieser versucht zunächst die Trennlinie zwischen Demokratien und Diktaturen zu identifizieren. Später wird vor dem Hintergrund der jeweiligen Führungsperson noch zwischen Monarchien, zivilen oder militärischen Diktaturen unterschieden. Die Frage des Grades an Ideologisierung ist hierbei jedoch unbedeutend. Gleiches gilt auch für den institutionenlastigen und ebenfalls weit rezipierten Datensatz des Polity IV - Projekts. Festzuhalten bleibt, dass Ideologien – vor allem im Gegensatz zum klassischen Ansatz von Linz – bei der Typologisierung autokratischer Regime in der angelsächsischen Politikwissenschaft nur noch eine untergeordnete Rolle zu spielen scheinen.

33 Vgl. Barbara Geddes, What Do We Know About Democratization After Twenty Years? In : Annual Review of Political Science, 2 (1999), S. 115–144. 34 Vgl. Axel Hadenius / Jan Teorell, Pathways from Authoritarianism. In : Journal of Democracy, 18 (2007) 1, S. 143–157, hier 146. 35 Vgl. Köllner, Autoritäre Regime. Ein Überblick über die jüngere Literatur, S. 356. 36 Vgl. Michael Alvarez / Jose A. Cheibub / Adam Przeworski / Fernando Limongi, Classifying Political Regimes. In : Studies in Comparative International Development, 31 (1996) 2, S. 3–36. 37 Vgl. José A. Cheibub / Jennifer Gandhi / James Vreeland, Democracy and Dictatorship Revisited. In : Public Choice, 143 (2010) 1/2, S. 67–101.

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4.

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Konzeptionelle Herausforderungen

Dieses Nicht - Einbeziehen der Ideologie als Unterscheidungskriterium in der (angelsächsischen ) Forschung lässt sich generell, neben der jeweiligen spezifischen Herangehensweisen, die entweder stark die Institutionen oder die Herrschaftsträger beziehungsweise - modi in den Vordergrund rücken, durch drei große und noch nicht gemeisterte Herausforderungen erklären.

4.1

Daten : Verfügbarkeit, Operationalisierung, Messbarkeit

Der erste Punkt ist der schlichteste und forschungspragmatischste. Es gibt derzeit noch keinen Versuch, den Grad der Ideologisierung des Regimes oder der Gesellschaft systematisch über längere Zeit und länderübergreifend zu erfassen. So sinnvoll ein theoretischer Einbezug der Ideologie zur Binnendifferenzierung von Autokratien erscheinen mag, empirische Anwendungen scheiterten bislang an der Operationalisierung und Messbarkeit des Konzepts „Ideologie“. Kailitz leistet jüngst Pionierarbeit, indem er systematisch politische Regime anhand des Primärmerkmals der Legitimation ( und damit nicht nur anhand der Dichotomie Ideologie vs. Mentalität ) zu klassifizieren versucht.38

4.2

Diskriminierende Kraft von Ideologie

Wie stark ist die diskriminierende Kraft des Kriteriums „Ideologie“ ? Generell gilt, dass Typen nach innen homogen und nach außen heterogen sein sollen. Die angewandten Kriterien sollen also eine hohe Trennschärfe aufweisen. Verfolgt man die von Merkel angedachte Idee eines Primärmerkmals, in diesem Falle die Ideologie oder Weltanschauung, wäre das Resultat eine Taxonomie, bei der in einem ersten Schritt unterschieden würde zwischen Ideokratien und Nicht - Ideokratien. Wann jedoch kann eine Ideologie als monistisch und alle Lebensbereiche umfassend angesehen werden, so dass sie als sinnvolle differentia specifica angesehen werden kann ? Wann wird, mit Linz gesprochen, aus einer Ideologie eine Mentalität – und wie definiert man eine solche Mentalität?

5.

Relevanzproblem : Idiographie und Ideokratie

Selbst wenn wir annehmen, es würde gelingen, eine sinnvolle Operationalisierung entlang des Grades der Ideologisierung des Regimes und der Bevölkerung herzustellen, und wenn wir zudem annehmen, dass diese Daten dann systematisch erhoben werden, würde sich schließlich noch die Frage der empirischen 38 Vgl. Kailitz, Classifying Political Regimes Revisited.

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Relevanz stellen. Typologien sollen den Zweck erfüllen, empirisch vorhandene Vielfalt in ihrer Komplexität zu reduzieren und so einer Ordnungsfunktion nachzukommen. Empirische Gegenstücke zu Ideokratien sind jedoch rar. Für die von Piekalkiewicz und Penn eingeführte „populistische Ideokratie“ verweisen sie auf lediglich zwei Fälle. Studien zu Ideokratien sind daher zumeist idiographische Fallstudien und nur in seltenen Fällen vergleichend angelegt. Im Kern wurde dies bereits den unterschiedlichen Totalitarismusansätzen vorgeworfen.39 Auch wenn Sartori darauf hingewiesen hat, dass die Aufgabe des Konzepts verfrüht war,40 ist jedoch mit der Ausnahme Nordkoreas, das auch eher als post totalitär denn als totalitär gesehen werden kann, weltweit kein totalitäres Regime existent.41 Derzeit sind fast alle Autokratien nicht - totalitär und auch nicht - ideokratisch im Sinne Piekalkiewicz’ und Penns. Die derzeitige empirische Ungleichverteilung von Ideokratien und Nicht - Ideokratien wäre eklatant. Dies schließt natürlich nicht aus, dass es historische und historisch bedeutsame Fälle gibt, deren Untersuchung wichtige Einsichten in die innere Verfasstheit autokratischer Regime geliefert hat. In der gegenwärtigen internationalen Forschung, die stark von neo - institutionalistischen Ansätzen und spieltheoretischen Modellierungen geprägt ist, werden diese gewonnenen Einsichten jedoch eher als „stepping stone“ für divergierende Klassifikationen politischer Regime gewertet. Die Diskussion um Ideokratie und Weltanschauungsdiktaturen zeigt jedoch deutlich, dass es in den gängigen Typologisierungsversuchen eine Blindstelle gibt. Auch wenn Ideokratien in einer Typologie politischer Regime aufgrund forschungspragmatischer, theoretischer und empirischer Herausforderungen nur schwer ein eigenständiger Platz als Subtypus eingeräumt werden kann, scheint die weiter gefasste Frage nach der Legitimationsgrundlage von Regimen gerechtfertigt zu sein. Diese müsste jedoch anstatt des Grades an einer monistischen und die Lebensbereiche durchdringenden Ideologie auch andere Legitimationsformen berücksichtigen und miteinbeziehen. Insbesondere sei hier an die Legitimation qua Performanz oder Output gedacht, die sich in den Entwicklungsdiktaturen zeigt und die auf einer anderen Funktionslogik als Ideokratien beruhen. Ein alternativer Typologisierungsversuch wird im Folgenden expliziert.

39 Vgl. Eckhard Jesse ( Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1999. 40 Vgl. Giovanni Sartori, Totalitarianism, Model Mania and Learning from Error. In : Journal of Theoretical Politics, 5 (1993) 5, S. 5–22. 41 Vgl. Johannes Gerschewski / Patrick Köllner, Nordkorea und kein Ende ? Zum Wandel innenpolitischer Legitimation und externer Stützung der DVRK. In : Hanns W. Maull / Martin Wagener ( Hg.), Ostasien in der Globalisierung, Baden - Baden 2009, S. 169–191.

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IV.

107

Die drei Säulen stabiler autokratischer Herrschaft

Wie oben angesprochen deutet die Diskussion um Ideokratien oder Weltanschauungsdiktaturen auf eine gegenwärtige Forschungslücke hin : die Legitimation in Autokratien. Diese Lücke wird in dem hier entwickelten Erklärungsansatz aufgenommen. Neben der Legitimation stehen noch zwei andere Säulen autokratischer Regime im Vordergrund : die Repression und die Kooptation.42 Das Explanandum ist hierbei die Stabilität des Regimes. Explanans sind die drei Säulen autokratischer Stabilität : Legitimation, Repression und Kooptation. Die Konzentration auf die drei Säulen soll Vergleiche, die diachron innerhalb eines Landes und / oder synchron länderübergreifend angestellt werden, erleichtern und weist eine hohe Sensibilität für Veränderungen auf. Der Anspruch ist zudem, dass diese drei Säulen für alle autokratischen Subtypen fruchtbar gemacht werden können – Ideokratien miteingeschlossen. Die Herleitung der drei Säulen findet über eine Literaturschau statt. Wie an anderer Stelle ausführlicher gezeigt, lässt sich die vergleichende Autokratieforschung in drei Wellen unterteilen. Während bis in die 1970er Jahre das Totalitarismusparadigma vorherrschte, dessen Erklärungsansätze sich vor allem in Fallstudien zum deutschen Nationalsozialismus, italienischen Faschismus, zum sowjetischen und in Teilen auch chinesischen Kommunismus geschärft haben, wurde dies von der Autoritarismusforschung, vorrangig durch ( vergleichende ) Studien zu Ländern in Lateinamerika und dem subsaharischen Afrika, abgelöst. Während die erste Welle sich vorrangig auf die Ideologie und die Repression konzentriert hatte, wurden in der zweiten Welle sozioökonomische Faktoren und informale Politikpraxis stärker betont. In den letzten zehn Jahren hat sich die Autokratieforschung für weltweite Vergleiche geöffnet und verfolgt zumeist spieltheoretische und neo - institutionalistische Ansätze. In beiden wird auf die Anbindung strategisch wichtiger Eliten hingewiesen.43 Vor diesem Hintergrund werden Legitimation, Repression und Kooptation als die drei zentralen Stabilitätssäulen identifiziert. Im Folgenden werden diese konzeptionalisiert und auf den Subtypus der Ideokratie angewandt.

1.

Legitimation

Das Legitimationskonzept kann für Autokratien nur in seiner empirischen Variante fruchtbar gemacht werden. Es muss daher von normativen Wertungen befreit und mit Max Weber als ein „Legitimitätsglaube“44 an die Geltung der politischen Ordnung gesehen werden. Es wird davon ausgegangen, dass jedes politische Regime ein bestimmtes Maß an Legitimitätsglaube in der Bevölkerung 42 Vgl. Gerschewski, The Three Pillars of Stability. 43 Vgl. ebd. 44 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 1. Halbband, Tübingen 1956 [1921], S. 122.

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stiften, das heißt Legitimation betreiben muss, um sich langfristig zu stabilisieren. Legitimation wird hier verstanden als der Prozess zur Generierung von Gefolgschaft, die auf unterschiedlichem Legitimitätsglauben fußen kann. Jedoch wird hier nicht die weit verbreitete Unterscheidung der Herrschaftslegitimation durch Ideologien oder Mentalitäten verfolgt. Diese zielt letztendlich lediglich auf den Grad der Ideologisierung der Gesellschaft und Elite ab, wobei Mentalitäten eine „weichere Variante“ der Ideologie darstellen – sowohl in Bezug auf den Herrschaftsanspruch als auch auf die innere Kohärenz. Es wird argumentiert, dass die Konzeptualisierung der Legitimation nicht auf der Basis des Grades der Ideologisierung stattfinden, sondern sich stattdessen eher an den unterschiedlichen Legitimationsgründen orientieren sollte. In Modifikation zur Linz’schen Einteilung wird hier vorgeschlagen, zumindest zwischen zwei Legitimationsstiftern zu unterscheiden : der Weltanschauung oder politischen Ideologie und dem Output oder der Performanz von autokratischen Regimen.45 Eine solche Rekonzeptualisierung würde die Trennlinie des Ideologisierungsgrades zwischen autoritären und totalitären Regimen nicht mehr aufrechterhalten, sondern sich für Alternativen öffnen. Ein autoritäres Regime kann so beispielsweise ebenfalls auf einer politischen Ideologie fußen. David Eastons klassische Unterscheidung in „diffuse“ und „spezifische“ Systemunterstützung bietet sich für ein solches Anliegen an.46 Diffuse Systemunterstützung basiert dabei auf dem was das Regime generell ist und repräsentiert.47 Es ist die ideelle Basis des Regimes. Sie ist zunächst unabhängig vom kurzfristigen Output und umfasst die generelle und langfristige Haltung der Herrschaftsunterworfenen gegenüber dem Regime. In Ideokratien wird diese diffuse Unterstützung über politische Ideologien erzeugt. Diese Engführung ist jedoch unnötig. Andere Legitimationsquellen wie nationalistische oder religiöse Geltungsansprüche, gemeinsame historische Schlüsselerlebnisse, tradierte Werte und Normen, oder auch das persönliche Charisma einer Führungsfigur sind ebenfalls denkbar. Die diffuse Legitimationsdimension kann so meines Erachtens adäquater die innere Varianz und Vielschichtigkeit autokratischer Regime erfassen als das enge Ideokratie - Konzept. Neben der diffusen Unterstützung ist die spezifische Systemunterstützung in die Erklärung der Stabilität autokratischer Regime einzubeziehen. Diese Art der Unterstützung ist kurzfristigerer Natur und an die Performanz und den Output des politischen Regimes gebunden. Sie bezieht sich vorrangig auf sozioökonomische Errungenschaften und Ordnungsleistungen wie das Herstellen innerer Sicherheit.

45 Vgl. Fritz W. Scharpf, Governing in Europe. Effective and Democratic ?, Oxford 1999. 46 Vgl. David Easton, A Systems Analysis of Political Life, Chicago 1979 [1965]. 47 Vgl. ebd., S. 444.

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2.

109

Repression

Auch wenn wie oben angedeutet, der Grad an Repression kein gutes Kriterium zur Binnendiffernezierung autokratischer Regime darstellen mag, ist Repression sicherlich eine der wichtigen Stabilisierungsfaktoren autokratischer Regime. Repression umfasst dabei nicht nur die Ausübung, sondern auch die Androhung von Sanktionsmaßnahmen für aus Regimesicht deviantes Verhalten.48 Repressionsmaßnahmen lassen sich dabei grob klassifizieren als „harte“ und „weiche“ Formen oder als „high - intensity“ and „low - intensity coercion“.49 Steven Levitsky und Lucan Way schlagen vor, entlang der Form und dem Ziel der Repression zu klassifizieren. Harte Repression würde sich dann gegen bekannte Individuen oder gegen größere Gruppen und oppostitionelle Organisationen richten. Konkrete Maßnahmen wären dabei die gewaltsame Unterdrückung von Massenprotesten, gewaltsame Maßnahmen gegen Oppositionsparteien oder die Entführung, Verschleppung oder Ermordung oppositioneller Politiker. Weichere Formen der Repression wären subtiler und würden sich gegen weniger sichtbarere Gruppen richten. Konkrete Maßnahmen wären Einschnitte in die Bürgerrechte wie das Beschneiden von Versammlungs - und Vereinigungsfreiheit, Pressezensur, das Zurückhalten von Berufs - und Bildungschancen oder auch Formen der persönlichen Einschüchterung. Auch wenn die Trennlinie in der Empirie nicht so scharf sein wird wie von Levitsky und Way postuliert, ist eine Unterscheidung in die unterschiedlichen Instrumente der Repressionsausübung und - androhung analytisch fruchtbar. Sie zeigt die Palette an Möglichkeiten an und es ist anzunehmen, dass sich nicht alle Autokratien aller Instrumente bedienen.

3.

Kooptation

Kooptation beschreibt die Anbindung von strategisch wichtigen, militärischen und / oder wirtschaftlichen Eliten an das herrschende Regime. Es wurde lange argumentiert – vor allem in den Rational Choice - Ansätzen – dass die einzige Möglichkeit der Anbindung dieser strategischen Gruppen via der Distribution von Renten und materieller Anreize funktioniere.50 In den letzten Jahren hat sich jedoch ein weiterer Forschungszweig entwickelt, der institutionellen Arenen wie der Partei oder dem Parlament einen großen Stellenwert einräumt. Diese Institutionen werden nicht nur zur Schau gestellt, sondern erfüllen eine stabilisierende 48 Vgl. Christian Davenport, State Repression and Political Order. In : Annual Review of Political Science, 10 (2007), S. 2. 49 Vgl. Steven Levitsky / Lucan A. Way, Linkage versus Leverage. Rethinking the International Dimension of Regime Change. In : Comparative Politics, 38 (2006) 4, S. 379– 400; dies., Competitive Authoritarianism. Hybrid Regimes in the Post - Cold War Era, Cambridge 2010. 50 Vgl. Daron Acemoglu / James A. Robinson, Economic Origins of Dictatorship and Democracy, Cambridge 2006; Ronald Wintrobe, The Political Economy of Dictatorship, New York 1998.

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Johannes Gerschewski

Funktion, indem sie Kanäle bereitstellen, mit denen die Eliten an das herrschende Regime angebunden werden können.51 Eine solche Anbindung kann jedoch auch mittels informaler Institutionen stattfinden. Es wäre dabei vor allem an klientelistische Netzwerke in neo - patrimonialen Herrschaftsstrukturen zu denken. Abbildung 3 zeigt eine graphische Zusammenfassung der drei Stabilitätssäulen. Zur Erklärung sei darauf hingewiesen, dass die Stabilität autokratischer Regime mit Legitimation, Repression und Kooptation erklärt wird, die wiederum in ihre beiden Dimensionen ( diffuse und spezifische Legitimation, harte und weiche Repression, formale und informale Kooptation ) aufgespalten werden. Ganz links findet sich dann die noch stärker zu entwickelnde Indikatorenebene. Proxy-Indikatoren für die Existenz und das Ausmaß der gesellschaftlichen Ideologisierung

Ideelle, diffuse Systemunterstützung

Sozioökonomische Indikatoren, Indikatoren für Sicherheit und Wohlfahrt

Performanzorientierte, spezifische Systemunterstützung

Indikatoren für Repression von Massendemonstrationen, Anzahl politischer Häftlinge, und Ermordungen.

Harte Repression

Legitimation

Repression Indikatoren für die Einschränkungen von Bürgerfreiheiten (Presse, Versammlung etc.)

Weiche Repression

Indikatoren für Stärke und die Nutzung von Parteien, Wahlen und Parlamenten als Kooptationsarena

Formale Institutionen

Stabilität autokratischer Regime

Kooptation Indikatoren für klientelistische Netzwerke und neo-patrimoniale Strukturen

Informale Institutionen

Abb. 3 : Die drei Säulen der Stabilität autokratischer Herrschaft 51

Vgl. Jennifer Gandhi / Adam Przeworski, Authoritarian Institutions and the Survival of Autocrats. In : Comparative Political Studies, 40 (2007) 11, S. 1279–1301; Beatriz Magaloni, Voting for Autocracy. Hegemonic Party Survival and its Demise in Mexico, Cambridge 2006.

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Ideokratien als Subtyp autokratischer Regime ?

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Wie oben angesprochen verfolgt diese erklärende Typologie den Anspruch, alle autokratischen Subtypen zu umfassen. Für Ideokratien, die im Fokus dieses Beitrags liegen, würde sich eine Konfiguration anbieten, die über einen hohen Grad an diffuser Unterstützung verfügt, die das Fehlen spezifischer, performanzorientierter Unterstützung zumindest temporär kompensiert. Auch dürften Ideokratien charakteristischer Weise sowohl auf harte als auch weichere Repressionsinstrumente zurückgreifen. Für Ideokratien wäre zudem theoretisch zu erwarten, dass sie in hohem Maße formale Institutionen wie die Partei oder das Parlament nutzen, um strategisch wichtige Eliten an das Regime zu binden.

V.

Konklusion

Sind Ideokratien ein distinkter Subtypus autokratischer Herrschaft ? In deskriptiver Hinsicht stellen Ideokratien zweifellos ein hochinteressantes sozialwissenschaftliches Phänomen dar. Das Zeitalter der Ideologien hat einige der historisch bedeutsamsten Ideokratien gesehen und eine Fülle idiographischer Fallstudien nach sich gezogen. Bei einer Typologisierung aller politischen Regime treten jedoch Probleme in der Verortung der Ideokratien auf. Sowohl in konzeptioneller als auch in empirischer Hinsicht sind sie den totalitären Regimen ähnlich. Die größte konzeptionelle Überschneidung lässt sich dabei zum Ansatz von Martin Drath und der Entwicklung eines Primärphänomens sehen. Empirische Gegenstücke zu Ideokratien, die nicht - totalitär, sondern populistischer Natur sind, sind nur schwer auszumachen. Typologisch bedeutet daher die Einführung der Ideokratien weitestgehend die Ersetzung des Totalitarismus – ohne dabei größeren analytischen Nutzen zu stiften. Diese Ersetzung mag jedoch dennoch wünschenswert sein, wenn man die großen Debatten um die Totalitarismuskonzeption vermeiden möchte. Taxonomisch müsste die prioritäre Behandlung der Unterscheidung in Ideologie / Weltanschauung und Mentalität theoretisch stärker unterfüttert werden. Warum eignet sich diese Unterscheidung als Primärmerkmal ? Dieser Frage müsste in der zukünftigen Forschung eingehender nachgegangen werden, gerade weil eine Einführung der Ideokratie doch zu einer starken asymmetrischen empirischen Verteilung zu Ungunsten der Ideokratien ausfallen wird ? Es wird hier argumentiert, dass es sinnvoller sein kann, die alte Linz’sche Unterteilung in Ideologie und Mentalität, die mit der Unterscheidung in totalitäre und autoritäre Regime einhergeht, zu überwinden. Anstelle eines Grades an Ideologisierung sollten die unterschiedlichen Legitimationsgründe in den Fokus gerückt werden. Ich habe eine grobe Unterteilung in diffuse, ideelle und spezifische, performanzorientierte Legitimation vorgeschlagen. Darauf aufbauend wurde ein Erklärungsansatz zur Stabilität autokratischer Herrschaft vorgestellt. Ein solcher Ansatz vermag – so die Hoffnung – diachrone und synchrone Vergleiche zu erleichtern.

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II. Fallstudien

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Legitimation und Repression im sowjetischen Staat (1917–1991) Leonid Luks

I.

Das Scheitern der „ersten“ russischen Demokratie

Die fehlende demokratische Legitimierung stellte von Anfang an die Achillesferse des bolschewistischen Regimes dar. Obwohl die bolschewistische Partei im Revolutionsjahr 1917 über eine beträchtliche Popularität im Lande verfügte, konnte sie niemals die Mehrheit der Bevölkerung für sich gewinnen. Lenin hielt dies auch nicht für erforderlich. Als seine Widersacher innerhalb der Partei im Herbst 1917 einen sofortigen bolschewistischen Staatsstreich in Petrograd mit dem Argument ablehnten, die Bolschewiki verfügten noch nicht über die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung, verwarf Lenin diese These als pedantisch. Man dürfe nicht mit der Revolution warten, bis sich genau 51 Prozent der Bevölkerung für sie ausgesprochen hätten. Solche Abstimmungen hätten in einer revolutionären Situation keinen Wert. Der Sieg in der Revolution gehöre nicht denjenigen Parteien, die über eine parlamentarische Mehrheit verfügten, sondern denjenigen, die die größere Entschlossenheit an den Tag legten und die in den wichtigsten Zentren des Landes sich auf starke Machtpositionen stützten.1 Anders als seine Kritiker innerhalb der Partei erkannte Lenin die innere Schwäche der nach dem Sturz des Zaren errichteten „ersten“ russischen Demokratie, die er in seinen „April - Thesen“ von 1917 als „das freiheitlichste [ System] der Welt“2 bezeichnete. Dieser freiheitlichste Staat der Welt stellte aber keine „wehrhafte Demokratie“ dar. Ähnlich wie 15 Jahre später die „erste“ deutsche Demokratie ließ sich auch die im Februar 1917 errichtete russische Demokratie nicht zuletzt deshalb zerstören, weil sie ihren radikalen Gegnern eine beinahe uneingeschränkte Handlungsfreiheit gewährte.3 Die Haltung der Verfechter der 1

2 3

Vgl. Lenin, Marxismus und Aufstand. Brief an das Zentralkomitee der SDAPR (1917). In : ders., Werke, Band 26. Hg. vom Institut für Marxismus - Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1961, S. 4–10; ders., Brief an die Genossen (1917). In : ebd., S. 182–203. Lenin, Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution (1917). In: ders., Werke, Band 24. Hg. vom Institut für Marxismus - Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1959, S. 3–8, hier 4. Zur Erosion der „ersten“ russischen Demokratie am Vorabend des bolschewistischen Staatsstreiches siehe u. a. Lenin, Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen. Brief an

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Leonid Luks

„ersten“ russischen Demokratie ähnelte durchaus derjenigen der Weimarer Demokraten, deren Verhalten Josef Schwalber, Mitglied des Parlamentarischen Rates, im September 1948 folgendermaßen beschrieb : „[ Sie hatten ] den Feinden des Staates die gleichen Rechte, wenn nicht mehr Rechte, [ eingeräumt ] als den Freunden der Verfassung. [ Die Weimarer Verfassung ] war so freiheitlich, dass sie den Gegnern der Freiheit und Demokratie die Plattform bot, um auf legalem Wege beide zu vernichten“.4 Den gleichen Vorwurf kann man auch gegenüber den Verteidigern der „ersten“ russischen Demokratie erheben. Die Tatsache, dass die Bolschewiki am 26. Oktober 1917 mit spielender Leichtigkeit die Provisorische Regierung stürzen konnten, verlieh ihrer Herrschaft indes keine Legitimität. Besonders drastisch offenbarte sich dieser Sachverhalt einige Wochen nach dem bolschewistischen Staatsstreich, als die demokratischen Einrichtungen Russlands auf die politische Bühne des Landes zurückkehrten, und zwar in Gestalt der im November 1917 gewählten russischen Konstituante. II.

Die Zerschlagung der Verfassunggebenden Versammlung – das letzte Gefecht des russischen Parlamentarismus

Die in Russland so lang ersehnten Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung fanden Ende November 1917, also einige Wochen nach dem bolschewistischen Staatsstreich statt. Sie galten in den Augen der Beobachter, trotz aller Störmanöver der Bolschewiki, als relativ authentisch und endeten mit einem überragenden Erfolg der Sozialrevolutionären Partei. Dies war nicht verwunderlich, denn in einem Agrarland musste die Partei, die sich mit einem besonderen Engagement für die Belange der Bauern einsetzte, zwangsläufig die größten Stimmengewinne erzielen. Die Sozialrevolutionäre und die ihnen nahestehenden Gruppierungen gewannen mehr als 50 Prozent der Mandate. Etwa 24 Prozent der Sitze gewannen die Bolschewiki. Dies reichte also nicht aus, um der bolschewistischen Herrschaft eine parlamentarische Weihe zu verleihen.5

4 5

das Zentralkomitee, an das Petrograder und Moskauer Komitee der SDAPR (1917). In: ders., Werke, Band 26, S. 1–3; ders., Die Krise ist herangereift (1917). In : ebd., S. 59– 68; ders., Brief an das ZK, das Moskauer Komitee, das Petrograder Komitee und an die bolschewistischen Mitglieder der Sowjets von Petrograd und Moskau (1917). In : ebd., S. 125 f. Siehe dazu auch Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Berlin ( West) 1960, S. 624–721; Nikolaj Suchanov, Zapiski o russkoj revoljucii, Moskau 1991, Band 1–3, hier 3; Marc Ferro, A Social History of the Russian Revolution, London 1985, S. 224–267; Sheila Fitzpatrick, The Russian Revolution 1917–1932, Oxford 1986, S. 54–60; Robert Service, The Bolshevik Party in Revolution, London 1979, S. 37–62; ders., Lenin. Eine Biographie, München 2000, S. 404–406; Helmut Altrichter, Russland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn 1997, S. 215–230; Manfred Hellmann ( Hg.), Die russische Revolution, München 1964, S. 305–307. Zit. nach Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 2. Band : Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2002, S. 132 f. Vgl. Richard Pipes, Die Russische Revolution, Band 2, Berlin 1992, S. 344–349; Sergej Kulešov / Efim Pivovar / Oleg Volobuev, Naše otečestvo, Moskau 1991, Band 2, S. 99 f.;

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Legitimation und Repression im sowjetischen Staat

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Die konstituierende Sitzung der Verfassunggebenden Versammlung wurde am 18. Januar 1918 eröffnet. Von 707 namentlich bekannten Abgeordneten der Konstituante waren bei ihrer ersten Sitzung im Taurischen Palais in Petrograd mehr als 400 anwesend. Eine genaue Zahl der Delegierten lässt sich schwer ermitteln. Eines steht aber fest. Dominiert wurde die Konstituante durch die Gegner der Bolschewiki, in erster Linie durch die Partei der Sozialrevolutionäre, deren Fraktion über etwa 240 Delegierte verfügte. Alle Versuche der Bolschewiki, den Verlauf der Debatten zu bestimmen, scheiterten. Die von ihnen gestellte Forderung an die Verfassunggebende Versammlung, sie solle alle Dekrete der Sowjetmacht nachträglich sanktionieren und sich anschließend auflösen, lehnte die Mehrheit der Delegierten strikt ab.6 Der von den Bolschewiki errichtete Sowjetstaat, der die sogenannten „ausbeuterischen“ Klassen entrechtete, widersprach den Vorstellungen der Mehrheit der Konstituante. Die Verfassunggebende Versammlung sprach sich für einen parlamentarisch - demokratischen Staat für alle Bürger Russlands aus. Sie plädierte zwar für das größtmögliche Entgegenkommen gegenüber den Unterschichten – radikale Bodenreform, Friedensappell (allerdings keine separaten Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten ), erhebliche Verbesserung der Lebensbedingungen der Industriearbeiter. Sie lehnte aber einen von den Bolschewiki proklamierten Rachefeldzug gegen die entmachteten Oberschichten ab. So stellte die Konstituante mit ihren programmatischen Vorstellungen einen Fremdkörper in dem von den Bolschewiki errichteten System dar. Dies ungeachtet der Tatsache, dass dieser Fremdkörper den Willen der Bevölkerungsmehrheit repräsentierte. Aber über das Schicksal des Landes entschieden seit der weitgehenden Auflösung der staatlichen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen Russlands nicht die amorphen und unorganisierten Mehrheiten, sondern die halbwegs organisierten Minderheiten, und dies waren in erster Linie die Bolschewiki. Als die Delegierten der Konstituante nach der Unterbrechung ihrer ersten Sitzung ihre Beratungen am nächsten Tag – dem 19. Januar 1918 – fortsetzen wollten, war das Taurische Palais, von Wachen umstellt und für die Abgeordneten der damals einzigen vom Volk legitimierten Einrichtung unzugänglich.7 Am

6 7

Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, München 1998, S. 130; Oliver H. Radkey, The Election to the Russian Constituent Assembly in 1917, Cambridge, 1950, S. 16 f.; Gernot Erler / Hellmut Groß / Heiko Haumann / Gottfried Schramm / Thomas Steffens, Zwei Umbrüche im Ersten Weltkrieg. Vom zaristischen zum bolschewistischen Russland. In : Manfred Hellmann / Gottfried Schramm / Klaus Zernack ( Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Band 3, Stuttgart 1983, S. 588; Viktor Černov, Pered burej. Vospominanija, New York 1953, S. 356–366; Mark Višnjak, Dan’ prošlomu, New York 1954, S. 353–381. Vgl. Pipes, Die Russische Revolution, Band 2, S. 360–366; Kulešov / Pivovar / Volobuev, Naše otečestvo, Band 2, S. 108 f.; John L. H. Keep, The Russian Revolution. A Study in Mass Mobilisation, London 1976, S. 330–333. Vgl. Keep, The Russian Revolution, S. 333; Der amerikanische Sowjetologe Bertram Wolfe schrieb in den 1960er Jahren, dass der im Februar / März 1917 gestürzte Zar Nikolaus II. der letzte legitime Herrscher Russlands gewesen sei. Die nach dem Sturz

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gleichen Tag beschloss das von den Bolschewiki dominierte Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets, die Verfassunggebende Versammlung aufzulösen, und zwar mit der folgenden Begründung : „Die russische Revolution hat von ihrem Anbeginn an die Sowjets der Arbeiter - , Soldaten - und Bauerndeputierten hervorgebracht als Massenorganisation aller werktätigen und ausgebeuteten Klassen, als die Organisation, die allein imstande ist, den Kampf dieser Klassen für ihre völlige politische und wirtschaftliche Befreiung zu leiten [...]. Jeder Verzicht auf die uneingeschränkte Macht der Sowjets, auf die vom Volk eroberte Sowjetrepublik zugunsten des bürgerlichen Parlamentarismus und der Konstituierenden Versammlung wäre jetzt ein Schritt rückwärts, würde den Zusammenbruch der ganzen Oktoberrevolution der Arbeiter und Bauern bedeuten“.8

Am 21. Januar 1918 wurde der 3. Allrussische Kongress der Arbeiter - und Soldatendeputierten eröffnet, der sich nun offiziell mit dem Kongress der Bauerndeputierten vereinigte. Dieser Kongress regelte endgültig die Staatsstruktur und die Herrschaftsordnung Russlands. Russland wurde zur Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik erklärt. Der Allrussische Kongress der Arbeiter - , Soldatenund Bauerndeputierten bildete von nun an das einzige oberste Machtorgan im Staate. Der Rat der Volkskommissare, der zunächst einen provisorischen Charakter gehabt hatte ( er sollte lediglich bis zur Einberufung der Konstituante amtieren ), wurde nun zur einzigen legitimen Regierung des Landes erklärt.9 Dies war der endgültige Abschied Russlands von der Demokratie im klassischen Sinne. Die Demokratie für alle wurde nun durch die sogenannte Sowjetdemokratie nur für die werktätigen Schichten abgelöst. Der Klassenkampf stellte jetzt eine Art Raison d’être des neuen Staates dar. Gegenüber den sogenannten „ausbeuterischen“ Klassen hatte dieser Staat nur ein Mittel parat : die bewaffnete Unterdrückung. Mit legalen Mitteln konnten die Gegner der bolschewistischen Klassendiktatur das neue Regime nicht mehr in seine Schranken weisen. Das Schicksal der Konstituante veranschaulichte dies eindeutig. Die Tatsache, dass die Bolschewiki die Verfassunggebende Versammlung mit einer noch größeren Leichtigkeit von der politischen Bühne verjagen konnten, als sie dies kurz zuvor mit der Provisorischen Regierung getan hatten, lieferte den radikalen Gegnern der Bolschewiki ein zusätzliches Argument dafür, dass die Gewalt, die die Bolschewiki als politisches Mittel anwandten, nur mit Gegengewalt bekämpft werden könne. Alle Voraussetzungen für den Ausbruch eines Bürgerkrieges waren nun gegeben.

8 9

des Zaren entstandene Provisorische Regierung habe keinen Anspruch auf die volle Legitimität erhoben, um den Entscheidungen der noch zu wählenden Verfassunggebenden Versammlung nicht vorzugreifen. Durch das gewaltsame Auseinanderjagen der Verfassunggebenden Versammlung mit ihrer nichtbolschewistischen Mehrheit, setzt Wolfe seine Ausführungen fort, hätten die Bolschewiki praktisch auf die Legitimierung ihrer Herrschaft verzichtet ( Bertram Wolfe, An Ideology in Power. Reflections on the Russian Revolution, New York 1969, S. 36–39). Lenin, Entwurf eines Dekrets über die Auflösung der Konstituierenden Versammlung (1918). In : ders., Werke, Band 26, S. 434–436, hier 434 f. Vgl. Pipes, Die Russische Revolution, Band 2, S. 368 f.

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Legitimation und Repression im sowjetischen Staat

III.

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Staatsterror und soziale Isolierung des Regimes

Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung wandte sich während des Bürgerkrieges gegen die Bolschewiki, bekämpfte sie oder verharrte im passiven Widerstand. Angesichts dieses Sachverhalts wirkt das Überleben des Regimes wie ein Wunder. Dies um so mehr, als sich von den Bolschewiki unter anderen auch diejenigen Schichten abwandten, in deren Namen sie regierten. Insbesondere der proletarische Widerstand gegen die bolschewistische Diktatur drohte dem Regime seine eigentliche Legitimationsbasis zu entziehen. Dies spiegelte sich im Frühjahr 1918 bei den Wahlen zu den Stadtsowjets in vielen Regionen Russlands wider. Sie endeten in der Regel mit Niederlagen der Bolschewiki, die von ihren sozialistischen Kontrahenten – Sozialrevolutionäre und Menschewiki – überflügelt wurden.10 Anfang Juli 1918 sollte der 5. Allrussische Kongress der Sowjets – der formell höchsten Instanz im Staate – stattfinden, und hier drohte den Bolschewiki ein ähnliches Debakel wie bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung. Um von ihren politischen Rivalen nicht majorisiert zu werden, verordnete das von den Bolschewiki dominierte Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets am 14. Juni 1918 den Ausschluss der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki aus den Sowjets. Begründet wurde dieser Beschluss durch die angebliche Beteiligung der beiden Parteien „an der Organisation bewaffneter Aufstände gegen Arbeiter und Bauern im Bunde mit offenkundigen Konterrevolutionären“.11 Die Bolschewiki waren also nicht bereit, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren, sogar wenn es sich dabei um „proletarische“ Mehrheiten handelte, in deren Namen sie regierten. Sie fühlten sich nicht den „wankelmütigen“ Mehrheiten, sondern der Geschichte und der „alleingültigen“ marxistischen Interpretation der geschichtlichen Vorgänge verpflichtet, die sie als die zentrale legitimatorische Quelle ihrer Herrschaft betrachteten. Und den Kräften, die ihren geschichtlichen Auftrag zu gefährden drohten, sagten sie einen unversöhnlichen Kampf an. Einen systematischen Charakter nahm der bolschewistische Terror nach dem missglückten Attentat auf Lenin an, das die Sozialrevolutionärin Fanny Kaplan am 30. August 1918 verübte.12 Am gleichen Tag wurde in Petrograd der Leiter der dortigen Sicherheitsorgane, Moisej Urickij, erschossen. Der Attentäter war ebenso wie Fanny Kaplan ein Sozialrevolutionär. Die beiden Attentate wurden von der bolschewistischen Führung zum Anlass genommen, um am 5. September 1918 das Dekret „Über den roten Terror“ zu verabschieden, das in der Geschichte des Sowjetsystems traurige Berühmtheit erlangen sollte. Es enthielt folgende Passagen : „In der gegebenen Situation ist

10 Vgl. ebd., S. 377 f. 11 Zit. nach Helmut Altrichter ( Hg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Band 1 : Staat und Partei, München 1986, S. 69. 12 Vgl. Dimitri Wolkogonow, Lenin. Utopie und Terror, Düsseldorf 1994, S. 240.

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es unbedingt erforderlich, das Hinterland durch Terror zu sichern [...]. Zum Schutz der Sowjetrepublik vor Klassenfeinden werden diese in Konzentrationslagern isoliert. Personen, die an weißgardistischen Organisationen, Verschwörungen und Rebellionen beteiligt sind, werden erschossen“.13 Insbesondere nach diesem Dekret entwickelte sich die für den revolutionären Terror „zuständige“ Allrussische Außerordentliche Kommission ( Čeka ) zu einer Mammutbehörde, die die Verteidigung des Regimes vor „inneren Feinden“ weitgehend monopolisierte. Lenins Definition der Diktatur des „revolutionären Volkes“ als „einer Macht, die durch keinerlei Gesetze beschränkt ist“, erhielt im Falle der Čeka eine besondere Relevanz. Über die Machtfülle der Čeka schrieb einer ihrer führenden Funktionäre, Peters : „In ihrer Tätigkeit ist die Čeka völlig unabhängig; sie führt Ermittlungen durch, nimmt Verhaftungen und Hinrichtungen vor und erstattet darüber anschließend dem Rat der Volkskommissare ( Sovnarkom ) und dem Zentralen Exekutivkomitee ( der Sowjets ) Bericht“.14 Versuche, die Čeka der Kontrolle der sowjetischen Justizbehörden zu unterstellen, wurden vom Vorsitzenden der Terrororgane, Dzierżyński, schroff zurückgewiesen : „Wenn die Čeka unter die Aufsicht des Volkskommissariats für Justiz gestellt wird, bedeutet das für uns nicht nur einen enormen Prestigeverlust, sondern vermindert auch unsere Autorität im Kampf gegen das Verbrechen und bestätigt zudem das ganze weißgardistische Geschwätz über unsere ‚Willkür‘“.15 Es wäre aber auf der anderen Seite völlig verfehlt, die Eigenständigkeit der Čeka überzubewerten, denn letztendlich handelte es sich bei den roten Terrororganen, ähnlich wie bei der Roten Armee oder dem sowjetischen Verwaltungsapparat, lediglich um Instrumente der Parteiführung. Und die Čeka konnte in der Regel mit einer uneingeschränkten Unterstützung der Machhaber rechnen: „Zur Erreichung unserer revolutionärer Ziele und Wünsche ist jedes Mittel recht“, sagte Lenin in diesem Zusammenhang.16 Das bolschewistische Regime befand sich zur Zeit des „roten Terrors“, wie bereits gesagt, in einer weitgehenden sozialen Isolation. Es hatte sich durch seine Vorgehensweise in den Augen der Bevölkerungsmehrheit noch stärker 13 Ebd., S. 251. 14 Zit. nach Pipes, Die Russische Revolution, S. 803. Zum „roten“ Terror siehe auch Sergej Melgunow, Der rote Terror in Russland 1918–1923 ( Nachdruck von 1924), Berlin 2008; George Leggett, The Cheka. Lenin’s Political Police, Oxford 1981; Nicolas Werth, Ein Staat gegen sein Volk. In : Stéphane Courtois / Nicolas Werth / Jean-Louis Panné / Andrzej Paczkowski / Karel Bartosek / Jean-Louis Margolin, Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 1998, S. 67–148; Sergej Pavljučenkov, Voennyj Kommunizm v Rossii : vlast’ i massy, Moskau 1997; ders., Krest’janskij Brest ili predystorija rossijskogo Nėpa, Moskau 1996; Vladimir P. Naumov / Aleksandr Kosakovskij, Kronštadt 1921, Moskau 1997; Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891–1924, Berlin 1998. 15 Zit. nach Wolkogonow, Lenin, S. 260. 16 Vgl. Mel’gunov, Der rote Terror, S. 360; siehe dazu auch Lenin, Rede auf einer Veranstaltung der Mitarbeiter der Gesamtrussischen Außerordentlichen Kommission (Tsche-

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delegitimiert als dies zur Zeit der Zerschlagung der Konstituante der Fall gewesen war. Was ermöglichte dann den Bolschewiki, diese Isolation zu überstehen und den Bürgerkrieg letztendlich als überlegene Sieger zu beenden ? Der Massenterror allein wäre dafür keineswegs ausreichend gewesen. Der Erfolg der Bolschewiki wurde wohl auch durch andere nicht weniger wichtige Faktoren mitbedingt. So z. B. durch ihre Fähigkeit, den doktrinären Rigorismus mit einem erstaunlichen Realitätssinn zu vereinbaren. So stellte die Abschaffung des Privateigentums eine der wichtigsten Säulen des von den Bolschewiki während des Bürgerkrieges errichteten kriegskommunistischen Systems dar. Nur in einem Bereich bremsten die Bolschewiki ihren Drang nach einer totalen Verstaatlichung der Produktionsmittel : im Bereich des bäuerlichen Bodenbesitzes. Im Jahre 1919, als das kriegskommunistische System sich bereits voll etabliert hatte, befanden sich etwa 97 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche in bäuerlicher Hand.17 Dieser Zustand war für viele bolschewistische Puristen unhaltbar. Die Vergesellschaftung des Bodens betrachteten sie als unverzichtbaren Bestandteil des neuen wirtschaftlichen Systems.18 Die maßgeblichen Kräfte innerhalb der sowjetischen Führung, nicht zuletzt Lenin, lehnten aber während des Bürgerkrieges die Forderungen der Linken ab. Sie wollten zwar den Bauern die sogenannten Überschüsse, nicht aber den Boden entreißen. Und damit zeigten sie, dass die bäuerliche Psyche ihnen viel besser vertraut war als ihren linken Kritikern. Denn sie wussten, dass jeder Versuch, die Ergebnisse der Bodenreform vom Oktober 1917 in Frage zu stellen – und dies beabsichtigten die linken Bolschewiki – den ohnehin verzweifelten Widerstand der Bauern gegen die bolschewistische Politik um ein Vielfaches verstärken würde. Deshalb wollte Lenin nicht an diesen so sensiblen Punkt der Agrarpolitik rühren. Ganz anders verhielt es sich mit den entschlossensten und am besten organisierten Gegnern der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg : mit den „weißen“ Gruppierungen. Überall dort, wo die „Weißen“ die Bolschewiki vertrieben und ihr eigenes Regiment errichtet hatten, gerieten sie sofort in eine harte Konfrontation mit der Landbevölkerung, und zwar in erster Linie deshalb, weil sie die bolschewistische Bodenreform nicht anerkannten. Sie versuchten, die früheren Besitzverhältnisse auf dem Lande wiederherzustellen und forderten dadurch die Bauern in einer beispiellosen Weise heraus.19 Sie standen von nun an auf verlorenem Posten. Denn die Abwendung der Bauern von den Bolschewiki bedeutete keineswegs, dass sie sich von den Idealen der Revolution, vom revolutionären Mythos abgewendet hätten. Der Hass gegen das alte Regime und alle seine Erscheinungsformen stellte auch weiterhin die allesbeherrschende Emotion bei den russischen Unterschichten dar. Alle politischen Gruppierunka ) (1918). In : Lenin, Werke, Band 28. Hg. vom Institut für Marxismus - Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1959, S. 164 f. 17 Vgl. Altrichter, Staat, S. 84. 18 Vgl. Pipes, Die Russische Revolution, S. 571–573. 19 Vgl. ebd., S. 68 f.; Manfred Hildermeier, Die Russische Revolution 1905–1921, Frankfurt a. M. 1989, S. 277; Raphael Abramowitsch, Die Sowjetrevolution, Hannover 1963, S. 179–181.

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gen, die im Verdacht standen, die Zustände vor Februar 1917, ja sogar diejenigen vor Oktober 1917 restaurieren zu wollen, hatten keine Chance, den Bürgerkrieg zu gewinnen. Einer der Führer der menschewistischen Partei, Fedor Dan, sagte im Jahre 1920 : Trotz ihrer Unzufriedenheit mit der Sowjetmacht hätten die Bauern um jeden Preis die Wiederherstellung des alten Regimes, das die Weißen verkörperten, verhindern wollen. Dies sei für den Sieg der Bolschewiki ausschlaggebend gewesen.20 Da die Bolschewiki für die russischen Unterschichten ein kleineres Übel im Vergleich zu den „Weißen“ darstellten, konnte die bolschewistische Partei immer neue Mitglieder aus dem bäuerlichen, vor allem aber aus dem proletarischen Milieu rekrutieren. Während des Bürgerkrieges hat sich die Zahl der Parteimitglieder von etwa 200 000 im August 1917 auf mehr als 600 000 im Frühjahr 1920 erhöht.21 Aber auch bestimmte bürgerliche Kreise waren bereit, das neue Regime zu unterstützen, ungeachtet der Tatsache, dass die Zerstörung des bürgerlichen Staates und all seiner Institutionen das erklärte Ziel der Bolschewiki darstellte. Trotz seiner revolutionären Zerstörungswut konnte aber der bolschewistische Staat ohne die Unterstützung der sogenannten „bürgerlichen Spezialisten“ nicht funktionieren – dies vor allem im militärischen, industriellen und administrativen Bereich. Viele dieser Spezialisten wurden von den Bolschewiki zu dieser Zusammenarbeit mit Hilfe des „roten Terrors“ gezwungen, aber nicht wenige taten dies freiwillig. Die Bolschewiki galten damals als „Sieger der Geschichte“ und zahlreiche „bürgerliche Spezialisten“ hielten es für ihre patriotische Pflicht, dem sowjetischen Staat zu dienen, der für sie, trotz seiner sozialistischen Hülle, immer noch ein russischer Staat war. Abgesehen davon waren sie den Bolschewiki dafür dankbar, dass es ihnen gelungen war, das in den Jahren 1917/18 zusammengebrochene Russische Reich territorial weitgehend wiederherzustellen. Dies betraf in erster Linie die 1921 im russischen Exil entstandene Smena - Vech - Bewegung, die auch in Russland selbst über zahlreiche Anhänger verfügte.22 20 Vgl. Kulešov / Pivovar / Volobuev, Naše otečestvo, Band 2, S. 67. Zum russischen Bürgerkrieg siehe u. a. Evan Mawdsley, The Russian Civil War, London 1987; Nikolaus Katzer, Die weiße Bewegung in Russland. Herrschaftsbildung, praktische Politik und politische Programmatik im Bürgerkrieg, Köln 1999; Vladimir Brovkin, Behind the Front Lines of the Civil War. Political Parties and Social Movements in Russia 1918–1922, Princeton 1994; Pavljučenkov, Voennyj kommunizm; Anton Denikin, Očerki russkoj smuty, Bände 3–5, Berlin 1924 ff.; Graždanskaja vojna i voennaja intervencija v SSSR. Ėnciklopedija, Moskau 1983. 21 Vgl. Helmut Altrichter, Kleine Geschichte der Sowjetunion. 1917–1991, München 1993, S. 212. 22 Vgl. dazu u. a. Smena Vech. Sbornik statej, Prag 1921; Nikolaj Ustrjalov, Pod znakom revoljucii, Charbin 1927; Erwin Oberländer, Nationalbolschewistische Tendenzen in der russischen Intelligenz. Die „Smena - Vech“ - Diskussion. In : Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 16 (1968), S. 194–211; Michail Agurskij, Ideologija nacional - bol’ševizma, Paris 1980, S. 64–97; ders., The Third Rome. National Bolshevism in the USSR, Boulder 1987, S. 238–266.

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Die Teilidentität mancher bürgerlicher russischer Kreise mit dem neu entstandenen totalitären Regime weist verblüffende Ähnlichkeiten zur Haltung mancher deutscher Konservativen nach der Errichtung des NS - Regimes auf. Auch die letzteren wollten dem neuen Regime dienen, um es in ihrem Sinne zu beeinflussen. „Der Fachmann darf das Feld nicht räumen“,23 konnte man damals aus dem Munde mancher konservativer Beamten hören. Übersehen wurde sowohl im russischen als auch im deutschen Fall, dass diese „Teilidentität“ ( Manfred Messerschmidt ) die beiden Regime nur zusätzlich festigte und legitimierte. Die erhoffte Eindämmung der Radikalisierungstendenzen der beiden totalitären Regime hingegen wurde durch die Teilidentität ihrer bürgerlichen bzw. konservativen Verbündeten in keiner Weise erreicht.

IV.

„Kriegskommunismus“ versus „Neue Ökonomische Politik“

Das äußerst brutale System des Kriegskommunismus hat den Bolschewiki wahrscheinlich den Sieg im Bürgerkrieg ermöglicht. Aber gerade nach diesem Sieg ergaben sich neue, für den bolschewistischen Machterhalt nicht weniger gefährliche Probleme. Denn die Fortsetzung des bisherigen Kurses entbehrte nun in den Augen der Bevölkerungsmehrheit jeglicher Berechtigung. Die Bauernaufstände, vor allem in den zentralrussischen Gebieten ( Tambov ), nahmen bereits Dimensionen eines neuen Bürgerkrieges an. Die letzte Warnung aber, die die Bolschewiki erhielten, war der am 1. März 1921 ausgebrochene Aufstand der Kronstädter Matrosen. Kronstadt wurde von den Bolschewiki seit 1917 wiederholt als die treueste Bastion der Revolution bezeichnet.24 Vier Jahre lang hatten die Kronstädter Matrosen an allen Fronten des Bürgerkrieges gekämpft. Nun aber, nach dem Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg, erhob sich diese „treueste Bastion der Revolution“ im Namen der Sowjetdemokratie gegen die bolschewistische Diktatur.25 Die Aufständischen entzogen damit dem bolschewistischen Regime die von ihm beanspruchte revolutionäre Legitimität. Der Kronstädter Aufstand wurde zwar von den Bolschewiki mit äußerster Brutalität niedergeschlagen, dennoch trug er eindeutig zur Beendigung der unhaltbar gewordenen Politik des Kriegskommunismus bei. Noch während des Aufstandes – auf dem 10. Kongress der bolschewistischen Partei – verkündete Lenin, die diktatorischen Maßnahmen in der Wirtschaft seien nur während des Bürgerkrieges gerechtfertigt gewesen. Nun aber sei der Bürgerkrieg zu Ende und daher die Fortsetzung dieser Politik nicht mehr vertretbar. Sie werde von 23 Zit. nach Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hughes / Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 30, 38. 24 Siehe dazu u. a. Lenin, Rede zum 3. Jahrestag der Oktoberrevolution (1920). In : ders., Werke, Band 31. Hg. vom Institut für Marxismus - Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1964, S. 391–396, hier 394. 25 Vgl. Abramowitsch, Die Sowjetrevolution, S. 193 f.; Naumov / Kosakovskij, Kronštadt 1921.

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der Mehrheit der russischen Bevölkerung, vor allem von den Bauern, abgelehnt. Deshalb müsse die bolschewistische Regierung auf maximale Zugeständnisse gegenüber den unzufriedenen Massen eingehen, um deren Unterstützung wiederzugewinnen. In der Rede wurden zugleich die Grundsätze der Neuen Ökonomischen Politik ( NÖP ) angekündigt, deren Kern die Befreiung der Bauern vom staatlichen Zwangssystem darstellte.26 Nun beschränkten sich die Verpflichtungen der Bauern gegenüber dem Staat in erster Linie auf die Entrichtung einer „Naturalsteuer“. Ihre Überschüsse durften sie wieder auf dem freien Markt verkaufen. Der neue Kurs kam aber eindeutig zu spät, er vermochte die 1921 begonnene Hungerkatastrophe – die bis dahin größte in der Geschichte Russlands – nicht zu verhindern. Fünf Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer.27 Dessen ungeachtet kam es bereits im Jahre 1922 zu einem recht schnellen Wiederaufbau der russischen Landwirtschaft. Während Russland im Jahre 1920 weniger als die Hälfte der Getreideproduktion der Vorkriegszeit erzielt hatte, erreichte es im Jahre 1925 bereits das Vorkriegsniveau.28 Die Bauernaufstände, die 1921 noch eine allgemeine Erscheinung im Lande dargestellt hatten, klangen im Jahre 1922 praktisch aus. Die Neue Ökonomische Politik hat das bolschewistische Regime für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, vor allem für die Bauern erträglicher gemacht und informell quasi legitimiert. Innerhalb der herrschenden Partei löste indes die NÖP eine beispiellose Identitätskrise aus. Die NÖP wurde gelegentlich mit dem demütigenden Frieden der Bolschewiki von Brest - Litovsk verglichen und als „bäuerliches Brest“ bezeichnet.29 So war die Legitimierung des Regimes durch die Bevölkerungsmehrheit mit dem Entzug dieser Legitimierung durch zahlreiche Mitglieder der Partei verbunden.

26 Vgl. Lenin, Bericht über die politische Tätigkeit des ZK der KPR ( b ) (1921). In: ders., Werke, Band 32. Hg. vom Institut für Marxismus - Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1961, S. 168–191, hier 184–190. Zur Neuen Ökonomischen Politik siehe u. a. Alexander Erlich, Die Industrialisierungsdebatte in der Sowjetunion 1924– 1928, Frankfurt a. M. 1971; Edward Hallett Carr, The Interregnum 1923–1924, London 1960; ders., Foundations of a Planned Economy 1926–1929, volume 1–2, Harmondsworth 1974, 1976; Stephen Cohen, Bukharin and the Bolshevik Revolution. A Political Biography 1988–1938, Oxford 1980; Richard Lorenz, Sozialgeschichte der Sowjetunion 1, 1917–1945, Frankfurt a. M. 1976. 27 Vgl. Werth, Ein Staat gegen sein Volk, S. 140; Markus Wehner, Bauernpolitik im proletarischen Staat. Die Bauernfrage als zentrales Problem der sowjetischen Innenpolitik 1921–1928, Köln 1998, S. 67–77. 28 Vgl. Altrichter, Staat, S. 122; Wehner, Bauernpolitik, S. 35. 29 Vgl. dazu u. a. Pavljučenkov, Krestjanskij Brest.

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V.

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Die Identitätskrise der bolschewistischen Partei und der Stalinkult

Für viele Bolschewiki versinnbildlichte die Neue Ökonomische Politik die Restauration des kapitalistischen Systems. Einer der Führer der Arbeiter Opposition innerhalb der bolschewistischen Partei, Lutovinov, sagte damals : Es habe keinen Sinn, diese Entwicklung zu verharmlosen und das neue System als eine Art Staatskapitalismus zu bezeichnen : „Von wegen Staatskapitalismus ! Das, was bei uns entsteht, ist ganz gewöhnlicher unternehmerischer Kapitalismus, den wir nun eigenhändig geschaffen haben“.30 Die Oktoberrevolution, welche die Bolschewiki als die größte Revolution in der Geschichte der Menschheit bezeichneten, strebte eine weltweite Verwirklichung solcher marxistischer Postulate wie die Bezwingung des „Weltkapitals“, die Abschaffung des Privateigentums und die Aufhebung der Klassengesellschaft an. Nichts dergleichen ist aber den Bolschewiki gelungen – weder im internationalen noch im nationalen Rahmen. Die proletarische Revolution erwies sich nach dem Scheitern des „deutschen Oktobers“ im Jahre 1923 als eine Chimäre, und auch in Russland musste die sogenannte „proletarische Offensive“ nach dem Misserfolg des kriegskommunistischen Experiments im Jahre 1921 vorübergehend gestoppt werden. Die immer größere Kluft zwischen der bolschewistischen Doktrin und der Realität war mit einer zunehmenden Erosion der Partei als Institution verknüpft, in der ein erbitterter Kampf um die Nachfolge Lenins ausbrach.31 Die Erosion von Institutionen führt aber, wie die Erfahrung zeigt, zu einer Aufwertung von Personen, mit denen man dann Heilserwartungen unterschiedlichster Art verknüpft. Dies war die Ausgangssituation für die 1929 begonnene Stalin’sche Doppelrevolution von oben, die die Kollektivierung der Landwirtschaft und Industrialisierung des Landes zum Inhalt hatte. Robert C. Tucker weist darauf hin, dass Stalin, der im Oktober 1917 und während des russischen Bürgerkrieges nur eine zweitrangige Rolle gespielt hatte, nun eine Neuauflage der Oktoberrevolution angestrebt habe, die untrennbar mit seinem Namen verbunden werden sollte.32 Dies ist ihm auch gelungen. Die zweite bolschewistische Revolution, deren Beginn etwa mit dem 50. Geburtstag Stalins (21. Dezember 1929) zusammenfiel,33 veränderte sowohl den Charakter des Landes als auch den der bolschewistischen Partei bis zur Unkenntlichkeit. 30 Zit. nach Kulešov / Pivovar / Volobuev, Naše otečestvo, Band 2, S. 109. 31 Zum innerbolschewistischen Kampf um die Nachfolge Lenins siehe u. a. Robert C. Tucker, Stalin as Revolutionary 1879–1929. A Study in History and Personality, New York 1973; Isaac Deutscher, Trotzki II. Der unbewaffnete Prophet, Stuttgart 1962; Cohen, Bukharin and the Bolshevik Revolution; Robert Daniels, Das Gewissen der Revolution. Kommunistische Opposition in Sowjetrussland, Köln 1963; Erlich, Die Industrialisierungsdebatte in der Sowjetunion. 32 Vgl. Tucker, Stalin as Revolutionary, S. 486–488. 33 Vgl. ebd., S. 462–493.

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Erst Stalin habe eine Situation in Russland geschaffen, aus der eine Rückkehr zu den vorrevolutionären Verhältnissen unmöglich geworden sei, sagt Isaac Deutscher.34 Die durch utopistische Sehnsüchte inspirierte revolutionäre Offensive der Bolschewiki, die im ersten Anlauf – während des Bürgerkrieges – gescheitert war, gelangte nun zum Erfolg. Das Privateigentum – das zentrale Hassobjekt der orthodoxen Marxisten – ist abgeschafft worden. Alle wirtschaftlichen Ressourcen des Landes wurden nun dem Dirigismus der zentralen Planbehörden unterworfen. Ein neues wirtschaftliches Zeitalter schien angebrochen. Die Partei legitimierte nun ihre Herrschaft nicht zuletzt durch ihr ehrgeiziges Modernisierungsprogramm, das nicht nur auf die Stalinisten eine außerordentliche Faszination ausübte. Auch viele russische Emigranten, vor allem aus der jungen Generation fühlten sich von ihm angezogen35 und wollten sich an der Errichtung des „modernen“ Russland beteiligen. Der russische Exilhistoriker Georgij Fedotov warnte die potentiellen Rückkehrer vor den fatalen Folgen ihrer Entscheidung : „Sie sollen daran denken, dass sie sich nicht in ein freies Land, sondern in ein Gefängnis begeben. Keine Loyalitätsbekundungen, keine Obrigkeitstreue werden sie vor Verfolgung, Verbannung und Zwangsarbeit schützen [...]. Die Rückkehrer müssen auch etwas anderes bedenken. Es erwarten sie nicht nur Opfer und Leid, sondern auch unzählige Demütigungen. Sie werden auf ihre eigenen Überzeugungen verzichten müssen, Erklärungen unterschreiben, für die sie sich schämen werden“. Der freiwillige Verzicht auf Freiheit sei durch nichts zu rechtfertigen, setzt Fedotov seiner Ausführungen fort : „Kein Vaterland verdient ein solches Opfer“.36 Ob Fedotovs leidenschaftliches Plädoyer für Freiheit seine Wirkung zeitigte, lässt sich schwer beantworten. Eines steht aber fest : Die Emigranten verfügten noch über die freie Wahl, sie konnten sich selbst entscheiden, ob sie sich ins Reich der totalitären Propaganda begeben sollten oder nicht. Die Sowjetbürger hingegen hatten diese Entscheidungsfreiheit nicht. Sie waren der totalitären Indoktrination schutzlos ausgeliefert. Die 1929 begonnene wohl beispiellose totalitäre Umwälzung von oben ließ sich mit der Partei, die Stalin von seinem Vorgänger erbte, nicht verwirklichen. 34 Vgl. Isaac Deutscher, Russia after Stalin with a Postscript on the Beria Affair, London 1953, S. 97 f. 35 Für einen der führenden Ideologen der 1921 im russischen Exil entstandenen Eurasierbewegung, Pëtr Savickij, bedeutete die sowjetische Planwirtschaft das Ende der Nachahmung des Westens. In Russland sei nun ein grandioses Modell entstanden, das seinerseits in immer stärkerem Ausmaß vom Westen imitiert werde : Pëtr Savickij, Očerednye voprosy ėkonomiki Evrazii. In : Novaja ėpocha. Ideokratija. Politika. Ėkonomika, hg. von Vladimir Pejl’, Narva 1933, S. 10–15; ders., Tridcatye gody. Utverždenie evrazijcev, kniga VII. Izdanie evrazijcev 1931, S. 2. Der Eurasier Pejl’ sprach seinerseits von der Epoche der zentralen Planwirtschaft, die nun entstehe und die Periode des Chaos innerhalb der Wirtschaft ablöse : Vladimir Pejl’, Za ideokratiju i plan. In : Novaja ėpocha, S. 3–5. 36 Georgij Fedotov, O čëm dolžen pomnit’ vozvraščenec. In : ders., Sud’ba i grechi Rossii, Sankt - Peterburg 1991, Band 1–2, hier Band 2, S. 126–128.

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Nur eine gehorchende, nicht eine diskutierende Partei, wie sie es in den 1920er Jahren immer noch gewesen war, konnte den verzweifelten Widerstand von 130 Millionen Bauern, die sich gegen deren Enteignung wehrten, brechen. Der bolschewistische Typ ändere sich, schrieb 1932 Fedotov. Für die Parteiführung sei nun bedingungslose Erfüllung der „Generallinie“ viel wichtiger geworden als freiwillige Anerkennung der bolschewistischen Ideen. Die Parteidisziplin werde höher eingestuft als der revolutionäre Idealismus.37 Und was könnte der von Fedotov angesprochenen Disziplinierung der Partei besser dienen, als die Errichtung eines Führersystems mit einem unfehlbaren Führer an der Spitze ? In der frühsowjetischen Zeit verkündeten viele Bolschewiki wiederholt : „Die Partei hat immer Recht“. So äußerte sich z. B. Trockij auf dem 13. Parteitag im Mai 1924 als er von der überwältigenden Mehrheit der Delegierten für seine angeblichen Irrtümer verurteilt wurde.38 Die Metapher „Die Partei hat immer Recht“ blieb aber unverbindlich und verhinderte in keiner Weise erbitterte Fraktionskämpfe, die die gesamte Entwicklung des Regimes in den 1920er Jahren begleiteten. Nach der Verwandlung der Bolschewiki in eine Führerpartei erhielt der Satz „Die Partei hat immer Recht“ einen völlig neuen, viel bedrohlicheren Charakter. Nun verkörperte Stalin den Willen und die Vernunft der Partei. Und jede Infragestellung seiner Unfehlbarkeit stellte ein kriminelles Delikt dar, das in der frühstalinistischen Zeit mit Repressalien unterschiedlichster Art und ab 1936 in der Regel mit dem Tode bestraft wurde.39 Mit Hilfe des Führerkultes versuchte die alte bolschewistische Garde der Parteidiktatur, die seit dem Ausscheiden Lenins ihre höchste theoretische Instanz verloren hatte und sich in einer permanenten Identitätskrise befand, eine neue Legitimität zu verleihen. Die Entstehung des Stalinkultes vollzog sich in der Zeit, in der die Partei noch kein willfähriges Organ in den Händen Stalins war, sondern einen ausgesprochen oligarchischen Charakter trug. Die Generallinie der Partei bestimmte damals die siegreiche Stalin’sche Fraktion, die keineswegs aus Kreaturen Stalins bestand. Solche bolschewistischen Führer wie Kirov, Ordžonikidze oder Kujbyšev gehörten der alten Garde der Bolschewiki an und verdankten ihren Aufstieg keineswegs Stalin. Sie waren aber der Meinung, dass die neue Phase der Klassenkämpfe neuer Führungsmethoden und neuer Führer bedürfe. Sie benötige keine Volkstribunen und brillante Theoretiker, sondern Männer der Tat. Und

37 Vgl. Georgij Fedotov, Pravda pobeždënnych. In : Sovremennye zapiski, (1932) 52, S. 360–385, hier 381 f. 38 Vgl. Trinadcatyj s - ezd RKP ( b ). Stenografičeskij otčët, Moskau 1963, S. 158. 39 Zum Stalin - Kult siehe u. a. Reinhard Löhmann, Studien zur Sozialgeschichte des Personenkultes in der Sowjetunion (1929–1935), Münster 1990; Juan Kobo ( Hg.), Osmyslit’ kul’t Stalina, Moskau 1989; Grame Gill, The Origins of the Stalinist Political System, Cambridge 1990; Benno Enkner, Politische Herrschaft und Stalinkult 1929– 1939. In : Stefan Plaggenborg ( Hg.), Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 151–182.

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Stalin galt in ihrer Augen als ein solcher. Deshalb unterstützten sie in der Regel vorbehaltlos sein voluntaristisches Industrialisierungs - und Kollektivierungsprogramm. Die Anwendung des Terrors gegen die sich verzweifelt wehrenden Bauern hielten sie für durchaus legitim, denn diese klammerten sich ihrer Ansicht nach an die bereits überlebte „kleinbürgerliche“ Wirtschaftsordnung. Die voluntaristisch - utopistischen Energien des Bolschewismus waren selbstverständlich während der NÖP - Periode nicht erloschen. An diese Energien, die zur Zeit des russischen Bürgerkrieges bzw. des Kriegskommunismus zur vollen Entfaltung gekommen waren, appellierte nun Stalin. Mit der Anlehnung an die Methoden des Kriegskommunismus, die etwa 1930 in der Sowjetunion erfolgte, kann man allerdings die Entstehung des Führersystems nur bedingt erklären. Denn während des russischen Bürgerkrieges, auch zur Zeit der akutesten Krisen, hatte die Partei nicht aufgehört zu diskutieren. Die Bolschewiki, die damals die Gesellschaft einem brutalen Zwangssystem unterworfen hatten, pflegten im Umgang miteinander einen ganz anderen Stil.40 So reicht das Bürgerkriegssyndrom für die Erklärung des Phänomens „Stalinkult“ keineswegs aus. Etwas mehr Licht in die Motive eines Teils der bolschewistischen Elite, die sich an der Mitgestaltung des Führersystems beteiligte, bringt die Aussage Michail Kalinins – nominell des ersten Mannes im Staate –, die von der Witwe Nikolaj Bucharins in ihren Memoiren zitiert wird. Etwa 1930 erklärte Kalinin dem kurz zuvor unterlegenen Bucharin, der für die Fortsetzung der Neuen Ökonomischen Politik plädiert hatte : „Sie, Nikolaj Ivanovič, sind völlig im Recht. Dennoch gibt es nichts Wichtigeres als die Geschlossenheit der Partei. Wir haben bereits die Zeit verpasst. Stalins ist schon zu groß“.41 Man darf nicht vergessen, dass diese Worte sieben Jahre nach dem Ausbruch des zermürbenden Kampfes um die Nachfolge Lenins fielen. Die Partei hatte in dieser Periode eine Zerreißprobe nach der anderen erlebt. Um das Regime nicht weiter zu gefährden, war nun ein Teil der regierenden Elite bereit, ihre eigenen Überzeugungen preiszugeben und sich einem Führer zu unterwerfen. Die Analogie zur Genese des Führersystems in Deutschland bietet sich geradezu an. Auch hier war es nicht nur dem Fanatismus der Führergläubigen, sondern auch dem machiavellistischen Kalkül der alten Eliten entsprungen, die mit seiner Hilfe die bestehenden Herrschaftsverhältnisse stabilisieren wollten. Sie verklärten die alte patriarchalische Ordnung, wussten aber zugleich, dass ihr restauratives Programm im Massenzeitalter, in einer politisierten Gesellschaft keine Verwirklichungschance hatte. Das Führerprinzip schien hier einen idea40 So kritisierte z. B. der Chefredakteur der Regierungszeitung Izvestija, Steklov, Mitte 1919 auf einer Plenarsitzung des ZK mit äußerster Schärfe die bolschewistische Bauernpolitik : „Wir haben den Bauern praktisch nichts gegeben [...]. Überall herrscht Terror – dies ist das einzige, was uns an der Macht hält“. Zit. nach Kulešov / Pivovar / Volobuev, Naše otečestvo, Band 2, S. 65. Den Thesen Steklovs wurde zwar heftig widersprochen, dennoch zeigt diese Kontroverse, dass die bolschewistische Partei in der Zeit Lenins, sogar auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges, noch relativ frei diskutieren konnte. 41 Zit. nach Anna Larina, Nezabyvaemoe, Moskau 1989, S. 350.

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len Ausweg zu bieten. Es band einerseits die politisierten Massen an das Regime und zerstörte andererseits die demokratische, pluralistische Herrschaftsordnung, die für das konservative Establishment Zerrissenheit und Dekadenz verkörperte. Übersehen wurde sowohl in Deutschland als auch in Russland, dass das Führersystem per definitionem eine uneingeschränkte Willkür verkörperte, die sich zwangsläufig auch gegen seine Mitgestalter wenden musste. Der Stalinkult erhielt eine quasi offizielle Weihe auf dem 17. „Parteitag der Sieger“ der Bolschewiki im Januar 1934, der den „Aufbau des Sozialismus in einem Lande“, d. h. die Bezwingung der sowjetischen Bauernschaft feierte. An den Lobpreisungen Stalins beteiligten sich jetzt nicht nur Vertreter der Stalin Fraktion, sondern auch ehemalige Kritiker Stalins aus den Reihen der geschlagenen Opposition. Bucharin, der noch 1929 Stalin als den Totengräber der russischen Revolution bezeichnet hatte, erklärte auf dem 17. Parteitag : „Stalin war vollkommen im Recht, als er die vor allem von mir formulierten Thesen der rechten Abweichler zertrümmerte. Dabei hat er glänzend die Prinzipien der marxistisch - leninistischen Dialektik angewandt“.42 Lev Kamenev fügte hinzu : „Die Epoche, in der wir leben, wird in die Geschichte, und das steht außer Frage, als die Epoche Stalins eingehen. Jeder von uns ist dazu verpflichtet, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften die Unantastbarkeit der Autorität ( Stalins ) zu verteidigen“.43 Diese unterwürfigen Sätze stammten von demselben Politiker, der noch im Dezember 1925 – auf dem 14. Parteitag der Bolschewiki – Folgendes gesagt hatte : „Wir sind dagegen, einen Führerkult zu schaffen [...]. Ich für meine Person glaube, dass unser Generalsekretär ( Stalin ) nicht für die Rolle des Zentrums, um das sich der alte bolschewistische Stab sammelt, geeignet ist“.44 Die Mitglieder der Stalin’schen Fraktion versuchten, die liebedienerischen Erklärungen der ehemaligen Gegner des Generalsekretärs noch zu übertreffen. Kirov bezeichnete Stalin als den größten Strategen im Befreiungskampf der Werktätigen der Sowjetunion und der ganzen Welt. Andere Redner etwa Chruščëv und Ždanov nannten Stalin einen „genialen Führer“. Dem bolschewistischen Chor schlossen sich die nichtrussischen Kommunisten an, die für die Errichtung des Führerkultes innerhalb der kommunistischen Weltbewegung eine ebenso große Verantwortung trugen wie ihre russischen Gesinnungsgenossen. Der Führer der italienischen KP, Togliatti, der den Führer( Duce - )Kult in seinem Heimatland schonungslos verurteilte, richtete im Juli 1935 im Namen der Delegierten des VII. Kongresses der Komintern folgende Begrüßung an Stalin : „Im Namen der Werktätigen aller Länder wenden wir uns an dich, Genosse Stalin, unseren Führer, den treuen Fortsetzer des Werkes von Marx, Engels und Lenin [...]. Dir, Genosse Stalin, fiel die gigantische Aufgabe

42 Zit. nach Dmitrij Volkogonov, Triumf i tragedija. In : Oktjabr’, (1988) 11, S. 127. 43 Ebd. 44 Zit. nach Wolkogonow, Lenin, S. 303.

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zu, Lenin am Steuerruder des Kampfes um die Befreiung der gesamten schaffenden Menschheit zu ersetzen“.45 Nicht alles glänzte jedoch hinter der prächtigen byzantinischen Fassade des Frühstalinismus. Seit dem Beginn der Stalin’schen Revolution von oben brodelte es in der Partei, die nach außen Geschlossenheit demonstrierte. Viele Parteifunktionäre waren von der Unmenschlichkeit, mit der das Regime gegen die wehrlosen Bauern vorging, erschüttert. Viele fühlten sich durch den apodiktischen Führungsstil Stalins herausgefordert und strebten nach der Wiederherstellung der innerparteilichen Demokratie, die ihrer Ansicht nach in den 1920er Jahren in der Partei noch geherrscht hatte.46 Diese Unzufriedenheit offenbarte sich sogar während des 17. Parteitages, des „Parteitages der Sieger“, der äußerlich einen beispiellosen Triumph Stalins darstellte. Bei den geheimen Wahlen zum Zentralkomitee erhielt Stalin unerwarteterweise viel weniger Stimmen als andere populäre Parteiführer, so vor allem Kirov. Anastas Mikojan, der 1934 zur engsten Parteiführung zählte, erinnerte sich, dass von 1 225 stimmberechtigten Kongressteilnehmern beinahe 300 gegen Stalin votierten. Diese Aussage wird vom stellvertretenden Vorsitzenden des Wahlausschusses des 17. Parteitages Verchovych bestätigt. Verchovych meinte allerdings, dass nur etwa 125 Kongressteilnehmer gegen Stalin stimmten.47 So stellte die Partei zu Beginn der 1930er Jahre immer noch kein willenloses Werkzeug in den Händen der Führung dar. Auf dem 17. Kongress gebärdete sich die bolschewistische Partei wie ein allmächtiger Demiurg, der imstande sei, über Nacht einen neuen Menschen zu kreieren. In einer gleichgeschalteten Gesellschaft stellte aber eine derart selbstbewusste Partei einen Fremdkörper dar. Das von ihr zur eigenen Stabilisierung entwickelte Führersystem begann sich gegen sie selbst zu richten. Auf dem 17. Parteitag beklagte sich Stalin über das „falsche Bewusstsein“ mancher Kommunisten. Als Beispiel für den „Wirr warr“ in den Köpfen vieler Bolschewiki nannte Stalin die These vom spontanen 45 Zit. nach Hans - Joachim Lieber / Karl - Heinz Ruffmann ( Hg.), Der Sowjetkommunismus. Dokumente, Köln 1963, Band 1–2, hier Band 1, S. 342–344. 46 Siehe dazu u. a. Boris Starkov, Delo Rjutina. In : Anatolij Afanas’ev ( Hg.), Oni ne molčali, Moskau 1991, S. 145–178; Leonid Petrovskij, Poslednij Rot Front. In : ebd., S. 179– 198; Oleg Chlevnjuk, Politbjuro. Mechanizmy političeskoj vlasti v 1930- e gody, Moskau 1996, S. 17–79; Ljudmila Košeleva u. a. ( Hg.), Pis’ma I. V. Stalina V. M. Molotovu. 1925–1936 gg. Sbornik dokumentov, Moskau 1995, S. 177–237; Protokol’ No 4 zasedanija Komissii Politbjuro CK KPSS po dopolnitel’nomu izučeniju materialov, svjazannych s repressijami, imevšimi mesto v period 30–40- ch i načala 50- ch godov. In : Izvestija CK KPSS 5/1989, S. 67–83, hier 74; O dele tak nazyvaemogo „Sojuza MarksistovLenincev“. In: ebd., 6/1989, S. 103–115; Platforma „Sojuza Marksistov-Lenincev“ („Gruppa Rjutina“). In : ebd., 8/1990, S. 160–183. J. Arch Getty / Oleg V. Naumov, The Road to Terror. Stalin and the Self - Destruction of the Bolsheviks 1932–1939, Yale 1999, S. 54–63. 47 Vgl. Anastas Mikojan, V pervyj raz bez Lenina. In : Ogonëk, (1987) 50, S. 6; Kulešov / Pivovar / Volobuev, Naše otečestvo, Band 2, S. 305; Robert Conquest, Am Anfang starb Genosse Kirow. Säuberungen unter Stalin, Düsseldorf 1970, S. 56; Roy Medwedew, Die Wahrheit ist unsere Stärke. Geschichte und Folgen des Stalinismus, Frankfurt a. M. 1973, S. 170.

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Hineinwachsen der Sowjetunion in eine klassenlose Gesellschaft : „Sie geraten in höchste Verzückung in Erwartung dessen, dass es bald keine Klassen mehr geben werde – also auch keinen Klassenkampf, also auch keine Aufregungen und Sorgen, dass man also die Waffen beiseite legen und sich getrost schlafen legen könne in Erwartung der klassenlosen Gesellschaft.“48 Zunächst war es nicht ganz klar, mit welchen Mitteln Stalin das „falsche Bewusstsein“ vieler Kommunisten bekämpfen wollte. Erst 1936 klärte sich diese Frage allmählich auf – die Überwindung des „falschen Bewusstseins“ wurde im Wesentlichen durch die Beseitigung seiner Träger erzielt. Die Motive Stalins bei seinem 1936 begonnenen Vernichtungsfeldzug gegen die Träger des „falschen Bewusstseins“, d. h. gegen die alten Bolschewiki, wurden im „Brief eines alten Bolschewiken“ erörtert, den 1936 die russische Exilzeitschrift „Der sozialistische Bote“ veröffentlichte. Verfasst war der Brief zwar von dem russischen Sozialdemokraten Nikolaevskij, sein Inhalt basierte aber in erster Linie auf den Gesprächen, die Nikolaevskij 1936 mit Nikolaj Bucharin geführt hatte. Stalin habe erkannt, so der Autor, dass die alten Bolschewiki sich mit seiner Diktatur nicht abfinden würden. Sie seien in der Atmosphäre des Kampfes gewachsen, ihr Verhalten sei kritisch und nonkonformistisch. Diese Eigenschaften halte Stalin aber für destruktiv, daher auch sein kühner Entschluss, die alte Elite zu beseitigen und durch eine neue zu ersetzen.49 Und in der Tat fühlte sich Stalin durch die alte Generation der Bolschewiki, die Kampfgefährten Lenins, außerordentlich herausgefordert. Mitte 1935 wurden die „Gesellschaft der alten Bolschewiki“ und die „Gesellschaft ehemaliger politischer Gefangener und Verbannter“ aufgelöst : „Aus irgendeinem Grund kann Stalin die Veteranen ( Altbolschewiki ) nicht leiden“, sagte in diesem Zusammenhang der Leiter der ukrainischen Sektion der „Gesellschaft der alten Bolschewiki“, Grigorij Petrovskij.50 Äußerst abschätzige Bemerkungen Stalins über die alten Bolschewiki enthält auch der vor kurzem veröffentlichte Briefwechsel Stalins mit seinem engen Gefährten Kaganovič.51 Dabei darf man nicht vergessen, dass es sich bei den alten Bolschewiki um eine Machtelite handelte, die Mitte der 1930er Jahre immer noch alle Schlüsselpositionen im sowjetischen Staats - , Wirtschafts - und Militärapparat kontrollierte. 80 Prozent der Delegierten auf dem 17. Parteitag der Bolschewiki traten der Partei vor der Revolution bzw. während des russischen Bürgerkrieges bei.52 So erschütterte Stalin zur Zeit des großen Terrors das Fundament, auf dem sein eigenes Regime aufgebaut worden war. Tat er dies wegen der Unbotmäßigkeit 48 Stalin, Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag über die Arbeit der KPdSU (B) (1934). In : ders., Werke, Band 13. Hg. vom Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1955, S. 252–336, hier 311. 49 Vgl. Boris J. Nikolaevsky, Power and the Soviet Elite. „The Letter of an Old Bolshevik“ and other Essays. Hg. von Janet D. Zagoria, New York 1965, S. 60 f. 50 Zit. nach Medvedev, Die Wahrheit, S. 175. 51 Vgl. Oleg Chlevnjuk / Lazar Kaganovič ( Hg.), Stalin i Kaganovič. Perepiska 1931–1936 gg., Moskau 2001, S. 558. 52 Vgl. Volkogonov, Triumf i tragedija. In : Oktjabr’, (1988) 12, S. 131.

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der alten Bolschewiki, wie dies der Autor des „Briefes eines alten Bolschewiken“ vermutet ? Wohl kaum. Zaghafte Versuche einiger Gefährten Lenins, Stalins Diktatur in der Partei einzudämmen, wie sie sich während des 17. Parteitages bemerkbar machten, waren von vornherein zum Scheitern verurteilt, und dies nicht zuletzt wegen des Stalinkultes, der nun zum scheinbar unverzichtbaren Bestandteil der Parteiidentität gehörte. Jede Infragestellung der Unfehlbarkeit Stalins galt jetzt als Anschlag auf die Partei und auf das soeben aufgebaute sozialistische System im Lande. Der Stalin - Biograph Anton Antonov- Ovseenko schrieb dazu : „Hat es wirklich keinen einzigen Attentatsversuch auf Stalin gegeben ? Nein, in der Tat. Es gab bei uns keine Verschwörung, weil man mit dem Namen Stalins bereits zu Beginn der dreißiger Jahre alle Siege des sozialistischen Aufbaus verknüpfte. Die physische Beseitigung Stalins stand für die Opposition nicht zur Debatte“.53 Insbesondere nach der partiellen Öffnung der sowjetischen Archive begaben sich die Historiker auf die Suche nach Spuren des innerparteilichen Widerstandes gegen die Urheber des großen Terrors. Spektakuläre Funde erzielten sie dabei aber nicht. Während die russische Bauernschaft sich gegen ihre Enteignung verzweifelt gewehrt hatte, nahm die bolschewistische Machtelite ihre weitgehende physische Liquidierung, bis auf einige Ausnahmen, beinahe widerstandslos hin. Diese unterschiedlichen Haltungen lassen sich nicht zuletzt dadurch erklären, dass die bolschewistische Oligarchie sich mit dem Staat, der gegen sie einen erbarmungslosen Vernichtungsfeldzug führte, viel stärker identifizierte, als dies bei den russischen Bauern der Fall gewesen war. Der polnische Dichter Aleksander Wat – einer der besten Kenner des Stalinismus –, der 1939 in die Fänge der sowjetischen Terrororgane geriet, äußerte sich zum Verhalten der alten Bolschewiki : Keine andere Opfergruppe habe sich in den stalinistischen Gefängnissen so erbärmlich und unterwürfig verhalten wie die der einstigen Helden der Revolution und des Bürgerkrieges. Kaum jemand habe vor den Terrororganen so schnell kapituliert wie sie.54 53 Anton Antonov - Ovseenko, Stalin i ego vremja. In : Voprosy istorii, (1989) 10, S. 84. 54 Vgl. Aleksandr Wat, Pamiętnik mówiony, Warschau 1998, Band 1–2, hier Band 2, S. 149, 164. Zum Stalin’schen „Großen Terror“ siehe u. a. Chlevnjuk, Politbjuro; Oleg Chlevnjuk u. a. ( Hg.), Stalinskoe politbjuro v 30e gody. Sbornik dokumentov, Moskau 1995; Andrej Kvašonkin u.a. ( Hg.), Sovetskoe rukovodstvo. Perepiska 1928–1941, Moskau 1999; Getty / Naumov, The Road to Terror; A. Artizov u. a. (Hg.), Reabilitacija. Kak ėto bylo, Moskau 2000; Wladislaw Hedeler ( Hg.), Stalinscher Terror. Eine Forschungsbilanz, Berlin 2002; Vitalij Rappoport / Jurij Alekseev, Izmena rodine. Očerki po istorii Krasnoj Armii, London 1988; J. Arch Getty / Roberta Manning ( Hg.), Stalinist Terror. New Perspectives, Cambridge 1993; J. Arch Getty, Origins of the Great Purges. The Communist Party Reconsidered, Cambridge 1985; Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2004; Barry McLoughin, Vernichtung des „Fremden“. Der „Große Terror“ in der UdSSR 1937/38. In : Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, (2000/2001), S. 50–88; Abdurachman Avtorchanov, Technologija vlasti, München 1959; Georgi Dimitroff, Tagebücher 1933–1943, hg. von Bernhard H. Bayerlein, Berlin 2000; Aleksandr Vatlin, Tatort Kunzewo. Opfer und Täter des Stalinschen Terrors 1937/38, Berlin 2003; zum stalinistischen Massenterror siehe auch Totalitarismus und Demokratie, 8 (2011) 1.

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Fedotov kommentierte die entwürdigenden Auftritte der ehemaligen Helden der bolschewistischen Revolution während der Moskauer Schauprozesse, so ihre Selbstbezichtigungen und Lobpreisungen Stalins, folgendermaßen : „Ihre Erniedrigung erfüllt mich nicht mit Schadenfreude. Ich bin erniedrigt ebenso wie sie. Denn ihre Schande ist letzten Endes auch die Schande Russlands. Denn seinerzeit bezwangen diese Menschen Russland, sie waren stärker als alle anderen Führer des Landes. Sie hatten sich mit ihrem unbezwingbaren ‚bolschewistischen‘ Willen gebrüstet, und nun platzte ihr angeblicher Wille wie eine Seifenblase“.55 Die Moskauer Schauprozesse, die nach sorgfältig ausgearbeiteten und von Stalin persönlich redigierten Drehbüchern abliefen, sandten an die Weltöffentlichkeit folgende Botschaft : Bei den engsten Gefährten Lenins handelte es sich beinahe ausnahmslos um Verräter, denen sich eine Lichtgestalt entgegenstellte – Stalin. Erst Stalin habe all diese Feinde, die sich unter freundlicher Maske verbargen, entlarvt und entsprechend bestraft. Die zweite Botschaft, die die Prozesse der Öffentlichkeit zu vermitteln suchten, lautete : Sogar die schlimmsten Widersacher des Regimes mussten letztendlich zugeben, dass es sich bei Stalin um den nach Lenin genialsten Staatsmann aller Zeiten handelte. Insofern erwiesen die bereits Ende der 1920er / Anfang der 1930er Jahre entmachteten Gründer des sowjetischen Staates kurz vor ihrem Tod der Stalin’schen Tyrannei den letzten Dienst und trugen zu deren Stabilisierung bei. Der Leninkult spielte im Stalin’schen Führersystem zwar eine bedeutende, aber im Verlaufe der Jahre zusehends geringere Rolle. Zwar bezeichnete Stalin sich selbst wiederholt als bescheidenen Schüler Lenins; zwischen den Zeilen gab er aber immer wieder zu verstehen, dass Lenin in erster Linie ein Visionär, ein Träumer gewesen sei.56 Erst ihm, Stalin, sei es gelungen, Lenins Träume Wirklichkeit werden zu lassen, so Lenins Traum von der Abschaffung des Privateigentums oder der Industrialisierung des Landes. Nach dem gewonnen Krieg über das Dritte Reich sank das Prestige Lenins im sowjetischen Pantheon noch stärker. Offen mokierte sich Stalin über den militärischen Dilettantismus Lenins.57 Stalin hingegen galt nun den sowjetischen Propagandisten als der größte Feldherr aller Zeiten. Aber nicht nur die Leistungen Lenins, sondern auch diejenigen der Klassiker des Marxismus wurden von Stalin wiederholt in Frage gestellt. Das einzige konkrete Beispiel einer proletarischen Diktatur, das Marx und Engels vor Augen gehabt hätten, sei die kurzlebige Pariser Kommune gewesen, sagte Stalin 1938 während eines Treffens mit Parteipropagandisten. Die Bolschewiki hingegen könnten sich nun auf die mehr als zwanzigjährige Erfahrung der siegreichen

55 Georgij Fedotov, Šestnadcat’. In : ders., Zaščita Rossii, Paris 1988, S. 53. 56 Zur Stalin’schen Kritik an Lenin siehe u. a. Dmitrij Volkogonov, Sem’ voždej. Galereja liderov SSSR v 2- ch knigach, Moskau 1995, Band 1, S. 179, 181. 57 Vgl. Aleksandr Pyžikov, Leninizm i stalinizm : ideologičeskie raznočtenija. In : Voprosy filosofii, (2001) 6, S. 42–52, hier 46.

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Revolution stützen. Und diese Erfahrung zeige, dass die These von Marx und Engels über das Absterben des Staates, auch eines proletarischen Staates, weltfremd gewesen sei.58 Im Gespräch mit Milovan Djilas bezichtigte Stalin Marx und Engels einer zu starken Abhängigkeit von der idealistischen deutschen Philosophie.59 Es wäre dessen ungeachtet verfehlt zu meinen, Stalin habe sich von den wichtigsten Grundsätzen des Marxismus - Leninismus bewusst distanziert. Im Gegenteil, er hielt sich für den größten Revolutionär aller Zeiten, dem es gelungen sei, das Vermächtnis seiner Vorgänger in die Wirklichkeit umzusetzen. Marx, Engels und Lenin lassen sich in der Tat als revolutionäre Utopisten bezeichnen, die von der „lichten Zukunft“ nur träumten. Der Stalinismus hingegen hatte in erster Linie einen fiktionalistischen und nicht - utopistischen Charakter. Er ging von der Fiktion aus, dass das Himmelreich auf Erden bereits verwirklicht worden sei, und zwar durch den weisesten Führer aller Zeiten. Der Verherrlichung Stalins und des von ihm erschaffenen „Paradieses auf Erden“ sollte der auf dem I. Kongress der sowjetischen Schriftsteller verkündete „sozialistische Realismus“ dienen – ein strenger Kanon, dem sich alle Kunstbereiche unterwerfen mussten. Jede Abweichung von diesem Kanon wurde drakonisch, nicht selten mit dem Tode bestraft. Zum Wesen des Stalinkultes gehörte allerdings nicht nur die Verklärung der revolutionären, sondern auch der staatlichen Leistungen des Tyrannen. Denn Stalin hielt sich nicht nur für den größten Revolutionär, sondern auch für den größten russischen Herrscher aller Zeiten. Zwar spottete Stalin über den russischen Zaren Iwan den Schrecklichen, dem es nicht gelungen sei, die damalige russische Machtelite, die Bojarenschicht, gänzlich zu liquidieren. Sein religiöser Glaube habe ihm dabei im Wege gestanden; er habe zu viele Skrupel gehabt.60 Bei Peter dem Großen prangerte Stalin dessen grenzenlose Bewunderung für den Westen an.61 Trotz dieser Kritik sah Stalin sich selbst als Vollender des Werks seiner zarischen Vorgänger und war außerordentlich stolz darauf, die verheerenden Niederlagen Russlands im russisch - japanischen Krieg und im Ersten Weltkrieg gerächt zu haben. Wiederholt betonte er, dass sowohl die russischen Zaren als auch Lenin von den Erfolgen, die die Sowjetunion unter seiner, Stalins Führung erzielte, nicht einmal träumen konnten. Schließlich muss man noch auf die Frage eingehen, wie die breiten Bevölkerungsschichten auf die Stilisierung der damaligen Schreckensherrschaft zum Paradies auf Erden reagierten. Die von der offiziellen Propaganda millionenfach wiederholten Lobeshymnen haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Große Teile der von der Außenwelt abgeschotteten, indoktrinierten Bevölkerung begannen allmählich, das von oben ver58 59 60 61

Vgl. Stalin o „Kratkom kurse istorii VKP ( b )“. In : Istoričeskij Archiv, (1994) 5, S. 4–31. Vgl. Pyžikov, Leninizm i stalinizm, S. 46 f. Vgl. Moskovskie novosti vom 7. 8. 1988, S. 8 f. Vgl. ebd.; Konstantin Simonov, Glazami čeloveka moego pokolenija ( Razmyšlenija o I. V. Staline ). In : Znamja, (1988) 3, S. 59 f.

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ordnete Stalin - Bild zu verinnerlichen. Der russische Literaturwissenschaftler Natan Ėjdel’man spricht in diesem Zusammenhang von einer „Stalin - Hypnose“, die die sowjetische Bevölkerung Mitte der 1930er Jahre erfasst und praktisch bis zum Tode des Diktators angedauert habe. Dieser wahnhafte Zustand habe zu einer vollkommen verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit geführt, so Ėjdel’man. Nur deshalb habe ein Despot, der für die Ermordung von Millionen verantwortlich gewesen sei, in den Augen der Bevölkerungsmehrheit als Sinnbild der Vollkommenheit gelten können.62 Diese von Ėjdel’man geschilderte Stalin - Hypnose wird von vielen Autoren auf die vormodernen, rückständigen Strukturen Russlands zurückgeführt. Solche Erklärungen sind allerdings nicht überzeugend, denn zur gleichen Zeit wurde das industriell wohl am stärksten entwickelte Land Europas, das über viel modernere soziale und wirtschaftliche Strukturen als Russland verfügte – Deutschland –, ebenfalls von einem Führer - Wahn erfasst. Es ist zwar richtig, dass das Führersystem in Deutschland eine ganz andere Entstehungsgeschichte hatte als in der Sowjetunion. In Deutschland entstand es infolge einer tiefen Krise des parlamentarischen Systems und einer weitverbreiteten Sehnsucht nach einem charismatischen Helden, einem „Cäsar“, der die Herrschaft der unpersönlichen Institutionen durch die Herrschaft des Willens ersetzen sollte. In der Sowjetunion hingegen war der Führerkult nicht zuletzt die Folge der Krise einer Einparteiendiktatur, die ihr ursprüngliches Versprechen – die sofortige Errichtung eines „sozialistischen Paradieses“ auf Erden, und zwar weltweit ( Weltrevolution ) – nicht einlösen konnte. Auch die wirtschaftlichen und sozialen Funktionen der beiden Führersysteme unterschieden sich grundlegend voneinander. In Deutschland sollte es die angeblich von links gefährdete bestehende wirtschaftliche und soziale Ordnung schützen, in der Sowjetunion hingegen eine „Restauration des Kapitalismus“ verhindern. Diese Liste der Unterschiede ließe sich unendlich fortsetzen. Aber auch die Ähnlichkeiten waren verblüffend. Der Führer - Glaube zeugte sowohl in Deutschland als auch in Russland vom Ausbruch der Irrationalität und der Massenpathologie, und zwar in einem beispiellosen Ausmaß, in einem angeblich aufgeklärten Zeitalter – mit verheerenden Folgen für die Betroffenen.

VI.

Die „spontane“ Entstalinisierung während des Krieges und der „Neue Kurs“ nach dem Tode Stalins

Fedotov führte Anfang der 1930er Jahre den Erfolg der Stalin’schen Revolution von oben darauf zurück, dass Russland nun, nach der Vernichtung der revolutionären Intelligenzija durch die Bolschewiki, keine gesellschaftliche Schicht mehr besitze, die die Freiheit über alles schätze.63 Indes vermochte der stalini62 Vgl. Natan Ėjdel’man, Stalinskij gipnoz. In : Moskovskie novosti vom 24. 7. 1988, S. 2. 63 Vgl. Georgij Fedotov, Problemy buduščej Rossii. In : ders., Sud’ba i grechi Rossii, Band 1, S. 258.

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stische Terror die Sehnsucht nach Freiheit aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein nicht gänzlich zu verbannen. Dies ließ sich vor allem während des deutschsowjetischen Krieges feststellen. Die Zeit der vorübergehenden Schwäche des Regimes nutzte die unterdrückte Gesellschaft dazu aus, um bestimmte Freiheitsräume zu erkämpfen („spontane Entstalinisierung“).64 Die Siegeseuphorie, die nach der Bezwingung des Dritten Reiches ausbrach, trug indes zur Stabilisierung des Regimes bei und erleichterte den Machthabern die erneute Disziplinierung der Gesellschaft.65 Allerdings blieb die Sehnsucht nach einem würdevollen Leben, nach einem „Leben wie im Märchen“, immer noch bestehen. Dieser Sehnsucht kamen die Nachfolger Stalins entgegen, als sie bereits wenige Tage nach dem Tod des Tyrannen mit der Demontage des von ihm errichteten Systems begannen. Obwohl diese Demontage zaghaft und halbherzig war, obwohl sie in einer bürokratischen Manier durchgeführt wurde – in der Form einer paternalistischen Schenkung –, stellte der Tod Stalins eine der größten Zäsuren in der neuesten Geschichte Russlands dar. Diese Zäsur setzte der beinahe 40 - jährigen Gewaltspirale, die die Entwicklung des Landes seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, mit einer kurzen Unterbrechung in den 1920er Jahren, geprägt hatte, ein Ende. Die Machthaber begannen sowohl im Umgang miteinander als auch im Umgang mit der Gesellschaft im Großen und Ganzen bestimmte Spielregeln zu beachten, ihre Vorgehensweise wurde berechenbarer. Nur das regimekritische Verhalten wurde nun bestraft, das regimetreue und - konforme hingegen belohnt. Unter Stalin galten solche Regeln nicht. Ins Räderwerk der stalinistischen Terrormaschinerie gerieten sowohl ausgesprochene Gegner des Regimes als auch überzeugte Stalinisten. Unter den Erben Stalins indes wurde sogar für die Regimekritiker das Risiko im Wesentlichen kalkulierbar. Falls sie sich für einen gewaltfreien Widerstand entschieden, setzten sie zwar ihre politische Karriere und ihre Freiheit aufs Spiel, nur selten aber ihr Leben.66 Durch ihren Verzicht auf den Massenterror und auf den Führerkult, die zu den wichtigsten Machtinstrumenten des stalinistischen Systems zählten, mussten die sowjetischen Machthaber ihre Herrschaft mit anderen Mitteln als bisher sichern

64 Vgl. Michail Gefter, Iz tech i ėtich let, Moskau 1991, S. 418. 65 Siehe dazu u. a. Elena Zubkova, Obščestvo i reformy 1945–1964, Moskau 1993; dies., Poslevoennoe sovetskoe obščestvo. Politika i povsednevnost’, Moskau 2000. 66 Zur sowjetischen Dissidenten - und Bürgerrechtsbewegung siehe u. a. Ljudmila Alekseeva, Istorija inakomyslija v SSSR. Novejšij period, Moskau 2001; Vladimir Bukovskij, I vozvraščaetsja veter ..., New York 1978; Andrej Amalrik, Aufzeichnungen eines Revolutionärs, Berlin ( West ) 1983; Pavel Litvinov ( Hg.), Samosoznanie. Sbornik statej, New York 1976; Valerij Čalidze, Prava čeloveka i Sovetskij Sojuz, New York 1974; Dietrich Beyrau, Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917–1985, Göttingen 1993, S. 171–267; Robert Horvath, The Legacy of Dissent. Dissidents, Democratisation and Radical Nationalism in Russia, London 2005; Leonid Luks, Idee und Identität. Traditionslinien im russischen Dissens. In: Osteuropa, (2010) 11, S. 127–151; A. Korotkov/ S. A. Mel’čin/ A. S. Stepanov ( Hg.), Akte Solschenizyn. Geheime Dokumente des Politbüros der KPdSU und des KGB, Berlin 1994.

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und legitimieren. Zu diesen neuen Mitteln gehörte die stärkere Berücksichtigung der Konsumwünsche der Bevölkerung, als dies unter Stalin der Fall gewesen war. Diesen Wohlstand sollte allerdings die Gesellschaft ausschließlich von oben erhalten. Jegliches Mitspracherecht wurde ihr verwehrt, denn dadurch hätten die Pläne der Regierung beeinträchtigt werden können. Diejenigen, die den gegen den Stalin - Kult gerichteten 20. Parteitag als Signal für die Befreiung der Gesellschaft von der staatlichen Bevormundung verstanden hatten, wurden bald eines Besseren belehrt. Die Kritik, die beim Anhören der Geheimrede Chruščëvs auf verschiedenen Versammlungen geäußert worden war, führte dazu, dass die Parteiführung beschloss, das Verlesen der Rede vorübergehend einzustellen. Nicht zuletzt auf solche Reaktionen ist wahrscheinlich auch die Tatsache zurückzuführen, dass Chruščëv letztendlich nicht den Mut hatte, seine Rede in einem allgemein zugänglichen Presseorgan zu veröffentlichen. So entstand die äußerst paradoxe Situation, dass ein Dokument, das eine der größten Umwälzungen in der Geschichte der Sowjetunion und des gesamten Ostblocks eingeleitet hatte, bis zur Gorbačëv’schen Perestrojka offiziell nicht existierte. Erst im März 1989 wurde die Rede in der Sowjetunion veröffentlicht. Sowjetische Autoren hatten also 33 Jahre lang keine Möglichkeit, sich bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Stalinismus auf dieses so wichtige Zeugnis der Zeitgeschichte zu berufen. Chruščëv selbst begründete diese Geheimnistuerei auf dem 20. Parteitag folgendermaßen : „Wir können die Frage des Personenkultes nicht aus den Reihen der Partei hinaus, vor allem nicht in die Presse dringen lassen [...]. Wir dürfen dem Feind keine Munition liefern; wir dürfen unsere schmutzige Wäsche nicht vor seinen Augen waschen.“67 In Wirklichkeit ging es Chruščëv bei seinen Bedenken gegen die Veröffentlichung der Rede nicht so sehr um die „kapitalistischen“ Rivalen, denen übrigens der Text der Rede bereits im Juni 1956 zur Verfügung stand, als vielmehr um die eigene Bevölkerung. Er misstraute ihrem politischen Urteilsvermögen und zog es vor, sie als unmündig zu behandeln. Die Eigenschaften eines eigenständigen politischen Subjekts durfte lediglich die Staats - und Parteiführung besitzen. Haben die Chruščëv’schen Reformen bzw. die durch den 20. Parteitag eingeleiteten Entwicklungen das sowjetische System qualitativ verändert ? Von vielen Sowjetologen wurde dies zunächst verneint. Sie begründeten ihren Standpunkt damit, dass die Chruščëv - Equipe das uneingeschränkte Macht - , Wirtschafts - und Informationsmonopol der Partei unangetastet gelassen hatte.68 Zbigniew Brzezinski schrieb 1956 : Chruščëv könne es sich erlauben, den Terror abzumildern, weil Stalin alle unabhängigen Gruppierungen bereits liquidiert

67 Chruščëvs historische Rede. In : Ost - Probleme, (1956) 25/26, S. 867–897, hier 897. 68 Vgl. Bertram Wolfe, The Durability of Despotism in the Soviet System. In : ders., Ideology in Power, S. 270–293; Frederic Charles Barghoorn, Changes in Russia : The Need for Perspective. In : Zbigniew Brzezinski ( Hg.), Dilemmas of Change in Soviet Politics, New York 1969, S. 35–44; Leonard Schapiro, Totalitarianism, London 1972.

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habe. Die Bevölkerung sei nun derart gefügig geworden, dass das Aufkommen eines aktiven Widerstandes nicht mehr zu erwarten sei.69 Zu den wenigen Beobachtern, die das Ausmaß der damaligen Veränderungen sofort erkannten, gehörte Isaac Deutscher. Das Vorgehen Chruščëvs sei wesentlich mehr als nur ein taktisches Manöver, schrieb er unmittelbar nach dem 20. Parteitag. Hier sei nicht nur Stalin als Mensch, sondern auch der Stalinismus mit seinen Herrschaftsmethoden angegriffen worden. In der Sowjetunion vollziehe sich nun der Zusammenbruch eines totalitären Systems. Das in der westlichen Politologie vorherrschende Axiom, totalitäre Regime ließen sich nur durch äußere Niederlagen beseitigen, beginne seine Gültigkeit zu verlieren.70 Deutschers Position sollte von Anfang der 1960er Jahre an immer stärkere Zustimmung in der westlichen Sowjetologie erhalten. Immer lauter wurde nun die Forderung nach einer neuen Definition des sowjetischen Systems. Und seit Ende der 1960er Jahre gehörte die Initiative in der wissenschaftlichen Diskussion eindeutig den „Revisionisten“, welche die Ansicht vertraten, die Sowjetunion sei seit dem Tode Stalins in eine posttotalitäre Entwicklungsphase eingetreten. Diese These unterschätzte ihrerseits den immer noch totalitären Charakter des poststalinistischen Regimes. Die wichtigsten Veränderungen des vom „Tauwetter“ von 1956 verwandelten Systems sind auch nach dem Sturz Chruščëvs von 1964 nicht angetastet worden. Die relativ liberalen Arbeitsgesetze vom Frühjahr 1956, die den drakonischen Stalin’schen Arbeitskodex von 1940 aufhoben und den Arbeitnehmern recht große Bewegungsfreiheit garantierten, blieben weiterhin in Kraft. Die Mindest - und Durchschnittslöhne wurden fortwährend angehoben und der Lebensstandard der Bevölkerung stieg in den Jahren 1950 bis 1981 beträchtlich.71 Auch die von Chruščëv eingeführte Neuerung der Getreideeinfuhren sollte sich als fester Bestandteil der sowjetischen Wirtschaftspolitik etablieren. Zwar zeugt diese Maßnahme von der Schwäche der sowjetischen Landwirtschaft, zugleich weist sie aber auch auf einen weicheren Herrschaftskurs der Regierenden hin. 1963 gestand Chruščëv, dass er der Bevölkerung durch die Weizenimporte Hungerkatastrophen ersparen wolle, wie sie sein Vorgänger 69 Vgl. Zbigniew Brzezinski, The Nature of Soviet System. In : ders., Ideology and Power in Soviet Politics, New York 1967, S. 65–94, hier 70; ders., Totalitarismus und Rationalität. In : Bruno Seidel / Siegfried Jenkner ( Hg.), Wege der Totalitarismus - Forschung, Darmstadt 1969, S. 267–288; siehe dazu auch Carl J. Friedrich, The Evolving Theory and Practice of Totalitarian Regimes. In : ders. / Michael Curtis / Benjamin R. Barber, Totalitarianism in Perspective : Three Views, London 1969, S. 123–164. 70 Vgl. Isaac Deutscher, Khrushchev on Stalin. In : ders., Ironies of History. Essays on Contemporary History, London 1967, S. 3–17; ders., The Meaning of De - Stalinization. In : ebd., S. 18–26. 71 Vgl. Gerhard Simon, Chruschtschowismus : Wie wandlungsfähig ist das Sowjetsystem ? In : Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, (1986) 20, S. 17; Marie Elisabeth Ruban / Eduard Gloeckner / Marie Lodahl / Angela Scherzinger mit einem Beitrag von Klaus von Beyme, Wandel der Arbeits - und Lebensbedingungen in der Sowjetunion 1955–1980. Planziele und Ergebnisse im Spiegelbild sozialer Indikatoren, Frankfurt a. M. 1983, S. 203–206.

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immer wieder in Kauf genommen hätte.72 Auch seine Nachfolger wollten der Gesellschaft keine allzu großen Lasten aufbürden. Hierzu bemerkte der Prager Reformpolitiker, Zdenek Mlynař, der zu den besten Kennern der Sowjetunion zählte : „Das sowjetische System legitimiert sich seit [ Chruščëv ] vor der eigenen Bevölkerung dadurch, wie es die Aufgabe erfüllt, die eine industrielle Konsumgesellschaft stellt [...]. Die sowjetische Machtelite, die es zwanzig Jahre lang nicht wagte, Chruščëvs Namen auch nur auszusprechen, musste schließlich [...] ihre Erfolge und Misserfolge an den Kriterien messen, die [ Chruščëv ] [...] aufstellte.“73

VII. Der „Brežnevismus“ und die Erosion des Glaubens an die kommunistische Ideologie Die wichtigsten Unterschiede zwischen der Chruščëv’schen und der Brežnev’schen Periode bestanden eher im Atmosphärischen. Chruščëvs Glaube an kommunistische Ideale, an die Überlegenheit des sozialistischen Systems gegenüber dem Kapitalismus blieb bis zuletzt unerschüttert. Er war davon überzeugt, dass die lichte kommunistische Zukunft bald anbrechen werde. Idealistisch war auch die Generation des 20. bzw. des 22. Parteitages (1956, 1961) – die sogenannten 60er ( der Name bezieht sich auf die 1960er Jahre, in denen sie agierten ) – gesinnt. Sie glaubte an die Reformierbarkeit des „real existierenden Sozialismus“. Bei den Bürokraten, die nach 1964 die Generation der 60er entmachteten, spielte hingegen der Glaube an die kommunistischen Ideale so gut wie keine Rolle mehr. Sie täuschten in der Regel den Glauben an diese Ideale nur vor; die kommunistischen Eiferer wurden von ihnen eher als Störenfriede empfunden. In der Erosion des kommunistischen Glaubens und der kommunistischen Ideologie, die in der Brežnev - Zeit zu beobachten war, sahen viele westliche Beobachter keine Gefahr für die Stabilität des kommunistischen Regimes. Im Gegenteil, einige gingen sogar davon aus, dass der Kommunismus nun infolge der Sachzwänge der Moderne immer technokratischer und pragmatischer werde und damit den modernen westlichen Industriegesellschaften immer ähnlicher. So wurde die sogenannte Konvergenztheorie geboren. Die Verfechter der Konvergenztheorie ließen jedoch außer Acht, dass es sich bei den kommunistischen Regimen um Ideokratien handelte, deren Herzstück das ausgeklügelte ideologische System darstellte, das ununterbrochen an die neuen Erfordernisse der Zeit angepasst werden musste. Deshalb musste jeder neue Parteichef sich nicht nur als Machttechniker, sondern auch als Theoretiker bewähren, als Interpret letzter Instanz der Werke der Klassiker des Marxismus - Leninismus, um 72 Vgl. Robert Conquest, Russland nach Chruschtschow, München 1965, S. 102; siehe dazu auch Chruschtschows Beschreibung der Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1946–47. In : Chruschtschow erinnert sich, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 231–248. 73 Zdenek Mlynař, Chruschtschow und Gorbatschow – Ähnlichkeiten und Unterschiede. In : Osteuropa - Info, (1987) 68, S. 18–28, hier 20 f.

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dadurch die legitimatorische Basis des Systems zu festigen. Auch die BrežnevFührung war nicht untätig im interpretatorischen Bereich und wartete mit der Theorie von der „entwickelten sowjetischen Gesellschaft“ auf. In der Brežnev’schen Verfassung wurde auch die führende Rolle der Partei an einer prominenten Stelle – im Artikel 6 – fest verankert : „Die führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft, der Kern ihres politischen Systems, der staatlichen Organe und gesellschaftlichen Organisationen ist die kommunistische Partei der Sowjetunion.“74 In der Stalin’schen Verfassung von 1936 war von dieser Rolle erst im Artikel 126 die Rede, und zwar im Zusammenhang mit dem Recht der Sowjetbürger, sich zu gesellschaftlichen Organisationen zusammenzuschließen. Am Schluss des Artikels wird vermerkt : „Die aktivsten und zielbewusstesten Bürger aus den Reihen der Arbeiterklasse und anderer Schichten der Werktätigen [...] vereinigen sich in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ( der Bolschewiki ), die [...] den führenden Kern aller Organisationen der Werktätigen [...] darstellt.“75 Ungeachtet der Tatsache, dass die Brežnev - Riege die führende Rolle der KPdSU verfassungsmäßig viel stärker verankerte, als dies früher der Fall gewesen war, war die Stabilität des Brežnev - Regimes nur trügerisch. Wirtschaftlich und technologisch begann das Land erneut den Anschluss an den Westen zu verlieren. Die hyperzentralistischen Strukturen des planwirtschaftlichen Systems verstärkten die bürokratische Verkrustung und die Erstarrung des Regimes, der Innovationsgeist wurde weitgehend erstickt. All diese Phänomene führten zu einer drastischen Verlangsamung des Wirtschaftswachstums. 1966–1970 betrug das durchschnittliche jährliche Wachstums des Nationaleinkommens 7,7 Prozent, 1979–1982 nur 3,1 Prozent.76 Die Grenzen des sogenannten „extensiven Wachstums“ – ohne Steigerung der Produktivität der Arbeit und des Kapitals – wurden nun erreicht. Um im Ost - West - Vergleich konkurrenzfähig zu bleiben, musste die sowjetische Wirtschaft jetzt zum „intensiven Wachstum“ übergehen. Indes war das bestehende System zu einem solchen qualitativen Sprung immer weniger imstande. Es war auch immer weniger in der Lage, die Bevölkerung zu einem verstärkten Einsatz im Namen der kommunistischen Ideale zu mobilisieren, weil in der Periode der sogenannten Stagnation ( so wurde die Brežnev - Zeit später definiert ) so gut wie niemand die kommunistischen Werte ernst nahm – weder die Herrscher noch die Beherrschten.

74

Verfassung ( Grundgesetz ) der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Moskau 1977, S. 4 f. 75 Zit. nach Altrichter ( Hg.), Der Sowjetstaat, S. 288 f. 76 Vgl. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 886; Egor Gajdar, Gibel’ imperii. Uroki dlja sovremennoj Rossii, Moskau 2006, S. 145, 259.

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VIII. Michail Gorbačëv, Boris El’cin und der Abschied von der Klassenkampfideologie Die Erosion des Glaubens an die „lichte kommunistische Zukunft“ höhlte die ideokratische Legitimierung des sowjetischen Regimes weitgehend aus. Es entstand ein äußerst gefährliches legitimatorisches Vakuum im Lande. Nur die Rückkehr der demokratisch legitimierten Institutionen auf die politische Bühne hätte Russland helfen können, die nun ausgebrochene legitimatorische Krise zu überwinden : Institutionen, welche die Bolschewiki im Oktober 1917/ Januar 1918 so leichtfertig auf den „Kehrichthaufen der Geschichte“ ( Trockij ) geworfen hatten. Dass diese Rückkehr Ende der 1980er / Anfang der 1990er Jahre stattfand, und zwar ohne Anwendung uferloser Gewalt, wie dies oft befürchtet worden war, ist zweifellos das gemeinsame Verdienst Michail Gorbačëvs und Boris El’cins.77 Als Gorbačëv sich im Februar / März 1990 dazu durchrang, den 6. Artikel der sowjetischen Verfassung, der der KPdSU die führende Rolle im Lande garantierte, in seiner ursprünglichen Form zu streichen, hat er dem kommunistischen Regime die letzte legitimatorische Grundlage entzogen.78 Auch in den Augen der Bevölkerung war die Partei weitgehend diskreditiert, worauf die damals durchgeführten Umfragen eindeutig hinweisen. Dessen ungeachtet kontrollierte diese delegitimierte und allgemein diskreditierte Partei, genauer gesagt : die herrschende Parteibürokratie, unangefochten alle Machthebel im Staat. Die damals im Entstehen begriffenen demokratisch legitimierten Einrichtungen waren hingegen völlig machtlos. So fühlten sich die Verfechter der demokratischen Erneuerung den kommunistischen Dogmatikern hoffnungslos unterlegen. Seit Oktober 1917 haben sich die russischen Demokraten an ihr Image der ewigen Verlierer gewöhnt. Dies ungeachtet des Vorgangs, der sich am 12. Juni 1991

77 Zur Gorbačëv’schen Perestrojka siehe u. a. Michail Gorbatschow, Erinnerungen, Berlin 1995; ders., Perestroika. Die zweite russische Revolution. Eine neue Politik für Europa und die Welt, München 1987; ders., Gipfelgespräche. Geheime Protokolle aus meiner Amtszeit, Berlin 1993, S. 7–41; Aleksandr Jakovlev, Predislovie. Obval. Posleslovie, Moskau 1992, S. 125–200; ders., Die Abgründe meines Jahrhunderts. Eine Autobiographie, Leipzig 2002, S. 432–605; Boris El’cin, Ispoved’ na zadannuju temu, Vilnius 1990; Ėduard Ševardnadze, Moj vybor. V zaščitu demokratii i svobody, Moskau 1991; Anatolij Černjaev, Šest’ let s Gobačevym, Moskau 1993; V Politbjuro CK KPSS. Po zapisjam Anatolija Černjaeva, Vadima Medvedeva i Georgija Šachnazarova, Moskau 2006; Jurij Afanas’ev ( Hg.), Es gibt keine Alternative zur Perestrojka, Nördlingen 1988; Gerhard Simon / Nadja Simon, Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, München 1993; Moshe Lewin, Gorbatschows Neue Politik, Frankfurt a. M. 1989; Robert V. Daniels, The End of the Communist Revolution, London 1993; Archie Brown, The Gorbachev Factor, Oxford 1996; Helmut Altrichter, Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009. 78 Siehe dazu u. a. V Politbjuro CK KPSS, S. 547 f., 563, 566–568; Černjaev, Šest’ let, S. 327; Gorbatschow, Erinnerungen, S. 462–367; die Reden Gorbačëvs und El’cins auf dem ZK Plenum der KPdSU von Februar 1990. In : Pravda vom 5. 2. 1990, S. 1, 5; Brown, The Gorbachev Factor, S. 289.

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abspielte und der wohl zum entscheidenden Datum der Gorbačëv’schen Perestrojka wurde : An diesem Tag wurde Boris El’cin von etwa 57 Prozent der Wähler zum russischen Staatspräsidenten gewählt.79 So wurde 74 Jahre nach dem Sturz des Zaren eine legitimatorische Kontinuität im Lande wiederhergestellt, trotz der Tatsache, dass die legitimatorischen Quellen der beiden russischen Staatsoberhäupter sich grundlegend voneinander unterschieden. Die Demokraten besaßen nun einen eindeutigen legitimatorischen Vorsprung gegenüber der Parteibürokratie. Denn die KPdSU herrschte nach dem Verzicht Gorbačëvs auf das Wahrheits - und Machtmonopol der Partei lediglich durch die Macht des Faktischen. Zwar gibt es auf der Welt genug Diktaturen, die sich nur auf eine solche Basis stützen, doch handelt es sich bei einem kommunistischen Regime keineswegs um eine gewöhnliche Diktatur, sondern um eine Ideokratie, die auf den weltanschaulichen Absolutheitsanspruch der Herrschenden kaum verzichten kann. Trotz all dieser Entwicklungen hielten die russischen Demokraten den kommunistischen Apparat für fast unbezwingbar. Mit Neid blickten sie auf ihre polnischen Gesinnungsgenossen, denen es gelungen war, eine derart mächtige Organisation wie die Solidarność zu schaffen. Die Erfahrung aller osteuropäischen Länder habe gezeigt, dass nur eine antitotalitäre Massenbewegung imstande sei, den Angriff der Dogmatiker abzuwehren, meinte Ende März 1991 die Politologin Lilija Ševcova. Indessen zeigte gerade die polnische Erfahrung, dass für den entschlossen und brutal agierenden kommunistischen Apparat selbst eine solche Organisation kein Hindernis darstellt. Am 13. Dezember 1981 genügten den polnischen Militärs einige Stunden, um die Solidarność mit ihren zehn Millionen Mitgliedern zu zerschlagen. Auf die „schwankenden Massen“ ( Lenin ) haben die Kommunisten nur selten Rücksicht genommen. Die Zerschlagung der russischen Konstituante mit ihrer nichtbolschewistischen Mehrheit am 19. Januar 1918 lieferte dafür einen deutlichen Beweis. Die Moskauer Putschisten wollten im Grunde am 19. August 1991 den Vorgang vom 19. Januar 1918 wiederholen. Jedoch handelte es sich bei ihnen nicht mehr um die Schüler Lenins oder Stalins, sondern um Zöglinge Brežnevs. Das Ideal, das ihnen vorschwebte, war nicht die Schreckensherrschaft nach leninistischer oder stalinistischer Manier, sondern die Periode der aus ihrer Sicht „goldenen“ 1970er Jahre – in denen sie in Ruhe ihre Privilegien genießen konnten. Der bedenkenlose Umgang mit dem Massenterror gegenüber dem innenpolitischen Gegner, die Inkaufnahme von Millionen von Opfern setzen indes einen unerschütterlichen Glauben voraus – an die Utopie, wie dies bei Lenin, oder an sich selbst, wie dies bei Stalin der Fall gewesen war. Beides hatten die Putschisten vom 19. August 1991 längst verloren. Die Kommunisten wirkten nun 79 Vgl. dazu Boris El’cin, Zapiski prezidenta, Moskau 1994, S. 46–52; Rudolf Pichoja, Sovetskij Sojuz. Istorija vlasti 1945–1991, Moskau 1998, S. 644; V Politbjuro CK KPSS, S. 678, 680; Tymothy J. Colton, Yeltsin. A Life, New York 2008, S. 192 f.

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ähnlich unbeholfen wie einst ihre demokratischen Widersacher, die sie 1917 auf den „Kehrichthaufen der Geschichte“ geschickt hatten. Trockij zitiert in seiner „Geschichte der russischen Revolution“ den französischen Autor Anet, der gesagt hatte, die Provisorische Regierung sei gestürzt worden, „ehe sie noch ‚Uff‘ sagen“80 konnte. Ähnliches konnte man auch über das am 19. August 1991 errichtete „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“ sagen. Dies ungeachtet der Tatsache, dass es unangefochten beinahe alle Machtstrukturen im Staat kontrollierte. Zu seinen Mitgliedern gehörten der Vizepräsident der UdSSR Gennadij Janaev, der Ministerpräsident Valentin Pavlov, der Verteidigungsminister Dmitrij Jazov, der Innenminister Boris Pugo und der KGB - Chef Viktor Krjučkov. Auch das ZK der KPdSU unterstützte vorbehaltlos die Putschisten. Am 19. August schickte das Sekretariat des ZK an alle Parteichefs der Unionsrepubliken und anderer Regionen ein Rundschreiben, in dem diese zur Unterstützung des „Staatskomitees für den Ausnahmezustand“81 aufgefordert wurden. Als Boris El’cin seine Landsleute zur Auflehnung gegen die Putschisten aufrief, tat er dies praktisch mit leeren Händen. Er besaß so gut wie keine Machtmittel und verfügte lediglich über moralische Argumente. In seiner Anordnung Nr. 59 vom 20. August 1991 beschuldigte er die Mitglieder des „Staatskomitees“, ein „verfassungswidriges Komplott“ geschmiedet und damit ein „Verbrechen gegen den Staat“ verübt zu haben.82 Und diese Einschätzung des Staatsstreiches wurde von den Anführern des Putsches im Grunde auch geteilt. Sie fühlten sich nun, anders als ihre Vorgänger von 1917, nicht als „Sieger“, sondern als „Verlierer der Geschichte“. In der Auseinandersetzung zwischen Macht und Moral erwies sich letztere als überlegene Siegerin. Die im Oktober 1917 bezwungenen Demokraten konnten 74 Jahre später einen für sie völlig unerwarteten Triumph feiern. Indes unterschied sich der Sieg vom August 1991 grundlegend von demjenigen im Oktober 1917. Die Bolschewiki waren nicht bereit, auf irgendwelche Kompromisse mit den von ihnen bezwungenen Kontrahenten einzugehen, und errichteten auf den Trümmern der „ersten“ russischen Demokratie das erste totalitäre Regime der Moderne. Die Sieger vom August 1991 verzichteten hingegen auf eine Abrechnung mit den Verlierern nach bolschewistischer Manier. Die Tätigkeit der KPdSU auf russischem Territorium wurde zwar durch das Dekret vom 6. November 1991 verboten,83 dessen ungeachtet erhielten die russischen Kommunisten bald danach eine Möglichkeit, auf die politische Bühne zurückzukehren. Dass die El’cin - Equipe sich durch ihren Sieg nicht berauschen ließ und recht maßvoll 80 Vgl. Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, S. 717. 81 Zit. nach Pichoja, Sovetskij Sojuz, S. 670. 82 Vgl. ebd., S. 668 f. Zum Staatsstreich vom August 1991 siehe auch El’cin, Zapiski, S. 72–133; V Politbjuro CK KPSS, S. 697 ff.; Jakovlev, Predislovie, S. 155–168; ders., Die Abgründe, S. 802; Colton, Yeltsin, S. 198–202; Brown, The Gorbachev Factor, S. 294– 300; Černjaev, Šest’ let, S. 478–488; Gajdar, Gibel’ imperii , S. 376–380. 83 Vgl. Pichoja, Sovetskij Sojuz, S. 688 f.

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agierte, stand in einer engen Verbindung mit der Veränderung der politischen Kultur im Lande infolge der Gorbačëv’schen Revolution von oben, nicht zuletzt mit der Abkehr des letzten Generalsekretärs der KPdSU von der Klassenkampf lehre. Viele Kommunisten reagierten empört auf diese ideologische Wende, die die legitimatorische Basis des Regimes gänzlich aushöhlte. Der Vorsitzende der im Juni 1990 gegründeten russischen KP, Ivan Polozkov, sagte in diesem Zusammenhang : Durch die Vertuschung der Klassenkampfgegensätze sei die Partei ihres wichtigsten methodologischen Instrumentariums beraubt worden. Die breiten Massen der Kommunisten seien dadurch entwaffnet worden. Als aber die Kommunisten im August 1991 eine niederschmetternde Niederlage erlitten hatten, kam ihnen der Verzicht der Sieger auf das Lenin’sche Denken in der Kategorie „wer wen ?“ durchaus zugute. Dies rettete sie vor einer allgemein befürchteten „antikommunistischen Revanche“. So vollzog sich der Ausbruch Russlands aus der politischen Sackgasse, in die es im Oktober 1917 hineingeraten war, nach einem ganz anderen Szenario als der Eintritt in diese verhängnisvolle Phase seiner Geschichte. Diesen recht glimpflichen Übergang von einer „geschlossenen“ in eine mehr oder weniger „offene“ Gesellschaft verdankt das Land in erster Linie den parallelen, unkoordinierten aber zugleich sich gegenseitig ergänzenden Aktivitäten des ersten ( und letzten ) Präsidenten der UdSSR und des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Russlands. Dies ungeachtet der Tatsache, dass beide Reformer sich gegenseitig bezichtigten, unverzeihliche politische Fehler begangen zu haben, womit sich auch viele außenstehende Beobachter durchaus einverstanden erklären. Trotz dieser durchaus berechtigten Kritik muss man immer wieder betonen, dass es den beiden Politikern gelungen war, eine Art „politisches Wunder“ zu vollbringen : die kommunistische Diktatur, die bis dahin in den Augen der überwältigenden Mehrheit auch der scharfsinnigsten Beobachter als unreformierbar und zugleich unbezwingbar galt, friedlich zu demontieren.

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Legitimation, Cooptation and Repression in Fascist Italy Lorenzo Santoro

I.

Introduction

Despite the fact that – echoing Max Weber and his thesis of the monopoly of violence in the modern state – sovereignty and repression are intermingled, it can be argued that Fascism developed an original approach to the question of legitimation in a modern mass society. Whereas liberalism has dealt with this problem of achieving consensus by way of legitimisation principles,1 Fascism has challenged this form of egalitarianism, emphasising a very different élitist and monopolistic approach to national culture. With regard to this argument it is pivotal to investigate the Italian Fascist regime, the original form of Fascism, which in the 1920s and ’30s attracted the attention of European and non - European public opinion as the first alternative to liberal and Bolshevik regimes that was compatible with a free market. This essay addresses the most significant cases of repression / legitimation / cooptation in the Fascist experience in Italy. This can be explained not only by emphasising Benito Mussolini’s peculiarly irrational and opportunistic political culture, but also by focusing on some pivotal structural elements of change in Italian society which found their apex in the post - war contingencies. Research on Fascism has highlighted the role of violence during the period of the seizure of power as being very symbolic, able not only to destroy the organisations of the “enemies of the nation”, but also to represent a sort of alternative socialisation with regard to the bourgeois order, which was able to revive the suffering and tragedies of war in a new context. Repression is also epitomised by the deprivation of personal freedom and the institution of concentration camps; all these modalities of power played a vital role in the Italian case. It is somewhat redundant to add that repression is something more than violence; in fact this concept also involves the economic disadvantage of a particular class, stratum or category, as well as a strategy of cutting off some elements of society from the public sphere. Repression and legitimacy are not mutually exclusive concepts, but different keys to the analysis of a political regime, such as a Fascist one, which are not 1

Cf. Paolo Pombeni’s considerations of liberal theory, idem, La ragione e la passione. Le forme della politica nell’Europa contemporanea, Bologna 2010, p. 23.

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only engaged in building up a new social order, but also allow a for certain level of participation for all social classes in the context of a new, symbolic and ritual dimension of public life. Besides effective cooptation, a larger and pivotal symbolic cooptation was implemented by way of the propagandistic elaboration of a new social and political harmony in renewed Fascist Italy. This study will try to highlight the idea that these strategies can be analysed by their development, by focusing our attention on some classes, on their role within the Fascist system and on their position in society, even though sometimes these phenomena did not present a logical and consequential approach to acculturation and to the political debate. Furthermore, research often concentrates on analysing the content of debate and political discussion, elaborating meticulous pieces of research in cultural studies, but the author is convinced that the modality and forms of debate can be significant by themselves, as divided public spaces in the public sphere. Although – as will be seen – some classes adopted a new position within the Fascist system, their insertion into the public debate may or may not be noteworthy.

II.

Legitimation

One cannot avoid dealing with the ideas driving the leader of the Fascist movement. In fact, Benito Mussolini’s peculiar approach to politics can be characterized by the fact that he was able to combine his fundamental revolutionary and Sorel - like approach with a rejection of historicism propelled by the new “vitalistic” and irrational Italian culture. Although history does not provide any blueprint, strength and force, equilibrium between social classes and political power, Machiavellianism and violence are the roots of the new governing élite. The original path of Mussolini’s socialism, and his interest in Pareto, Bergson and Nietzsche, allowed him to adopt a unique position in Italian socialism, split between reformism, traditional class belonging, and the new suggestions of revolutionary syndicalism. This peculiar approach to revolution and politics convinced him to take part in the First World War, in opposition to the widespread neutralism of Italian socialists.2 In fact, from the invasion of Libya in 1911 to the First World War and the occupation of Fiume, a small but significant group of intellectuals tried to mobilise petty bourgeois elements, by articulating the nation in a new way which was intended to reject the limitations of the liberal state and was sensitive to the necessity to re - articulate Italian society.3 During this period, for the first time, Italy experienced considerable industrialisation and a new re - articulation of state bureaucracy, along with the pivotal role played by mass parties in the political agenda. In contrast to the 2 3

Cf. Emilio Gentile, The Origins of Fascist Ideology 1918–1925, New York 2005. Cf. Franco Gaeta, Il nazionalismo italiano, Roma - Bari 1981.

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Catholic background of the popolari and the socialism of the socialist party, Fascism was characterized by significant participation in the world war and efforts to create a new state. These attempts were based mainly on a local and provincial dimension. Despite the fact that as a result of the 1922 March on Rome Mussolini became prime minister, in the first phase his attention focused on moderate parts of the nation : the monarchy, public opinion and industry.4

III.

Repression

Violence was the main weapon used by Fascist élites in order to gain a position in the local political life of the nation. This peculiar form of repression allowed Fascists to gain positions in the communes, then on the electoral lists, often allied with the traditional liberal political élite and in the Italian Parliament. One month after the March on Rome, on 11 November 1922, one of the first Fascist initiatives was the nomination of Emilio De Bono as “intendente generale” (inspector general ) of the police, with the aim of directing police activities against the mass parties.5 The agrarian turn of Fascism in 1921 permitted this movement to focus its attention on the rural part of the nation, which was upset by the strikes promoted by the new mass parties. Its peculiar form of repression allowed it to gain a consensus among the rentiers and provided new funding for the local Fascists. The ability to achieve legitimacy amongst the local ruling class by means of violence and repression toward the newly emerging mass parties was a sophisticated strategy which was spontaneously developed by local Fascists in the provinces. This very tiny élite of war veterans, pro - war socialists and Fiume agitators packed into a very confused movement which, after the march on Rome, tried to secure its place in Rome, which resulted in the conquest of power coinciding with the certainty and opportunity produced by a state bureaucracy in this mass of jobless political activists. Often the local Fascists were able to manipulate prefects and liberal MPs in the provinces, and in the 1921 general elections Fascism gained 39 seats, thanks to its alliance with liberals, radicals and democrats in the so - called “Lista Nazionale” against the mass parties. This manoeuvre illustrates the complexity of the repression / legitimisation strategy applied by the Fascists; despite their use of violence against workers and socialist, popular and communist politicians and affiliates, they disguised such political weapons, paying particular attention to the bourgeoisie, thanks to good relations with prefects and police, and also thanks to Mussolini’s efforts from Rome to establish Fascism as a political movement close to the interests of industrialists and the monarchy.

4 5

Cf. Adrian Lyttelton, The Seizure of Power. Fascism in Italy 1919–1929, London 1973. Cf. Mimmo Franzinelli, I tentacoli dell’Ovra, Torino 1999, pp. 4–5.

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Mussolini’s charisma was based on the spontaneous admiration for the young leader with a unique history in the environment of socialism and nationalism. Thus in 1925 it began to be carefully reworked in order to express new ideas of imperialism, racial superiority – thanks to roman symbolism – and the approach to produce a call toward the whole Italian nation intended to bridge the boundaries between fascist elites, moderate public opinion and the majority of rural workers. In 1926 the publication of two biographies of Mussolini confirmed the urgencies to rewrite the whole brief period of government in the efforts to dissimulate his confusion and weakness in the post - Matteotti homicide in 1924 and the disappointment produced among the fascist masses in the first two years of moderate and opportunistic manoeuvering. Whilst in 1923 some fascists were against the Mussolinismo, in 1925 only PNF secretary Farinacci tried to contain the imposition of a myth, which also he had helped to build up.6 At any rate, with the reworking of the “il Duce” myth in 1925–26 the regime was able to capitalise on the monopolisation of public spaces and took this opportunity by way of a series of special laws intended to modify the penal law system of the monarchy. On this occasion, by the law named Provvedimenti per la difesa dello stato, the death penalty was introduced into the Italian system, in an effort to protect Mussolini from the numerous attacks he suffered during those years. However, at the same time extreme measures were introduced against political freedom and debate as well as against the rights of association and meeting. The idea of repression behind such laws was very significant. In fact, Article 1 of Law 2008/1926 was targeted at an “abstract danger” : whether the behaviour sanctioned involved the death, harm or loss of liberty of the king, queen, hereditary Prince or head of government, one simple fact was necessary – any behaviour which endangered one of the principal institutional figures made the death penalty possible.7 The law was also intended to make other laws effective ( on 26 November 1925 and 24 December 1925), with the effect that anyone who joined a political association was confined to jail for between three and ten years. With the introduction of a special tribunal, the Tribunale speciale per la difesa dello Stato, Fascism decided to militarise political crimes. In fact this tribunal was composed of the president of the Regio Esercito or other military forces and five judges from the Fascist militia ( Milizia volontaria per la Sicurezza Nazionale ) and one from the military justice. This reform also had some odd consequences, since military law was only effective in case of war.

6

7

Cf. Lorenzo Santoro, Roberto Farinacci e il Partito nazionale Fascista 1923–1926, Soveria Mannelli 2008, pp. 292–304. The biographies were : Giorgio Spini, Benito Mussolini. La sua vita fino ad oggi dalla strada al potere, Bologna 1926 and Margherita Sarfatti, Dux, Milano 1926. Cf. Giovanni Tessitore, Fascismo e pena di morte Consenso e informazione, Milano 1999, p. 212.

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These laws, approved as temporary, were never cancelled but signalled the strength of the lawyer and minister Alfredo Rocco, whose ideas informed the whole regime until the approval of the new penal code in 1930. The emphasis put on the technocratic aspect of law and a judicial theory which focused on the workings of the judicial machine did not prevent Rocco from insisting in 1925 on speaking about society as a “biological concept”, which in his view was at the heart of the organisation of every society and permitted the denial of any illuminist or humanist idea of society.8 This aspect is also significant for this investigation, since when a new judicial doctrine such as Rocco’s reaches such a pivotal position in a modern state it necessitates a significant change of magistrates and university professors, allowing a new generation of lawyers and scholars to gain a position in the system. In addition, in this case the repression was carefully exerted toward anti - Fascists such as Antonio Gramsci, Amadeo Bordiga, and others, who were put to jail in order to defend the state from the supposed threats to Mussolini’s life. A number of anti - Fascists were relegated to the poor and mostly unelectrified islands of Favignana, Lampedusa, Lipari, Pantelleria, Ponza, Tremiti, Ustica and Ventotene, and also to Pisticci and other localities on the mainland.9 The approach that Fascism implemented toward university professors was very different. In fact, in 1931 the regime obliged all professors to take an oath. Only 12 out of the 1200 professors refused to obey this obligation. To this group must be added the small number of scholars – Gaetano Salvemini, Francesco Saverio Nitti, Antonio Labriola, Errico Presutti and Silvio Trentin – who were purged in accordance with the law of 24 December 1925, which provided for the firing of state employees who were not in line with the political direction of the government. A well - known Jewish professor of Philosophy of Law, Giorgio del Vecchio, manifested his total enthusiasm for Fascism from the Instituto di Filosofia del Diritto at the University of Roma, La Sapienza, which he directed. Despite the fact that Del Vecchio had been Fascist long before the march on Rome, was the rector of that university and also edited the journal “Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto”, the 1938 racial laws put him in an unpleasant situation, until it was granted to him to convert to Catholicism in order to survive the war.10 In this context, research has permitted the identification of the nature of Fascist governance : not only its monistic political propaganda, but also its real economic choices and the novelties it introduced. In addition to the cruel and violent first phase of repression, Fascism promoted a form of government which was intended to bring a reduction in the 8 Cf. Ilaria Pavan, “Fascismo, antisemitismo e razzismo. Un dibattito aperto”. In : Daniele Menozzi / Andrea Mariuzzo ( ed.), A settant’anni dale leggi razziali Profili culturali, giuridici e istituzionali dell’antisemitismo, Roma 2010, pp. 42–44. 9 Cf. Celso Ghini / Adriano Dal Pont, Gli antifascisti al confino, Roma 1971. 10 Cf. Vittorio Frosini, Del Vecchio Giorgio. In : Dizionario biografico degli Italiani, vol. 38, Roma 1990, p. 391.

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wages of both peasant and industrial workers. Mussolini had enjoyed the funding of the great industrialists since the First World War, when they funded his pro - war socialist movement in opposition to the pacifist approach of the socialist party and the Catholic masses.11

IV.

Cooptation

At any rate, it would be impossible to understand the role played by repression without taking into account the relative function played by cooptation. The skills of fascists when it came to managing modern mass party organizations did not come as a surprise. Some Fascists, such as Roberto Farinacci, Michele Bianchi and others, had developed their first political commitment in the socialist field and had not forgotten how to set up a political organisation based on syndicates. They were adept at founding newspapers as a consistent part of the strategy toward the moderate public opinion in the provinces. In fact, Fascists built economic and political organisations but were also able through the press to characterise their approach to politics as being national, in an effort to put an end to the societal divisions created by the war. These features do not explain by themselves the peculiarly Fascist modality of power. The particular relations between the centre and the periphery, that is between Mussolini and his men in the provinces, caused a unique interconnection between ideology and organisation. During the first years of its history, Fascism experienced an impressive ideological maturation, with the rejection of republicanism ( in order to enable an agreement with the monarchy before the march on Rome ) and the introduction of imperialism and the “il Duce” myth in 1925–26. However, this was achieved whilst the centre - periphery relationships were producing an impressive series of reforms in order to divide and select the different forces within Fascism : the introduction of militia, efforts to separate the careers of MPs from those of local leaders ( ras ), the introduction of Fascist prefects, the elevation of the prefects’ positions in the provinces, and the introduction of the podestà ( non - elected mayors ) in the cities. All these reforms were intended to divide and select the same Fascist elements, testing their ability to work within the state bureaucracy, and it must be emphasised that this constant balancing of power in the Fascist system may be viewed as a form of repression / cooptation / legitimation in itself. Some Fascists did not find a place on the political agenda of the regime. For example, in 1923 the former nationalist Misuri, despite his strength in his province, refused to reach an agreement with the party, and similarly the local chief of Naples, Aurelio Padovani. Cesare Rossi, head of the press office of the 11

Cf. Renzo De Felice, Mussolini il rivoluzionario (1883–1920), Torino 1965, p. 278; Piero Melograni, Gli industriali e Mussolini Rapporti tra Confindustria e fascismo dal 1919 al 1929, Milano 1972.

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Presidency, was made to leave his position because of his participation in the murder of the socialist MP Giacomo Matteotti in 1924. Roberto Farinacci’s friend and collaborator, Giorgio Masi, also lost any confidence in Fascism and sought contacts with anti - Fascist elements in order to maintain his enthusiasm for politics. This subject would deserve its own research; some examples are given here in order to help defining Fascism as a complex phenomenon which requires peculiar approaches and methods of investigation. Whereas anti - liberal, avant garde futurists complained about state bureaucracy as being far from their conception of politics, Fascists imagined the state as a powerful weapon with which to build up the new nation, and promoted their political engagement in order to work within the state to erode the powers of the traditional bureaucratic élites. In Fascist eyes, the organisation was never a neutral or rationally - based institution. In fact, even in the judicial area, during Fascism the idea was widespread amongst magistrates of the Fascist state as being “judicial”, not a “state of law”, putting the emphasis on the role of the magistrate as an autonomous agent in a way which was very different from the Italian legal tradition. Fascism rejected the division of power and the centrality of Parliament that was typical of the “state of law”.12 Fascism produced a new series of values which emphasised the priority of politics over economy and law – a new political community imbued with religious rhetoric over the traditional apparatus of belonging – and this promoted a new form of legitimation based on an original and impressive cultural production, the phenomenon of mobility within the Italian state. For example, both the Parliament and the Senate were subject to deep reforms during the Fascist era.13 As a result of the rhetoric of corporativism, in 1939 the parliament was renamed the “Camera dei fasci e delle corporazioni”, offering new opportunities for Fascists from the provinces, technocrats and Fascist trade unionists to be involved in the state machine. Positions traditionally occupied by liberal notables in the parliament, farm owners, rentiers and lawyers were monopolised by men who were able to articulate a different agenda in their claims to power. In addition the Senate, traditionally reserved for monarchical nominations, suffered a violation of its prerogative and was gradually infiltrated by Fascists ( with a peculiar group named UNFS ) until, by the 1938 reform

12 Cf. Sergio Panunzio, La giurisdizione nello stato fascista, “Politica Sociale”, 1939; also in Motivi e metodi della codificazione fascista, pp. 52–66 quoted in Orazio Abbamonte, La politica invisibile Corte di cassazione e magistratura durante il Fascismo, Milano 2003. 13 Cf. Nicola Antonetti, La riforma del Senato e il problema della rappresentanza degli interessi nel primo dopoguerra. In : Bollettino dell’archivio per la storia del movimento sociale cattolico in Italia, 24 (1989) 1/2; Francesco Perfetti, La Camera dei fasci e delle corporazioni, Bonacci Editore, Roma 1991; Emilio Gentile, Fascismo e antifascismo. I partiti italiani tra le due guerre, Firenze 2000, pp. 231–236.

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of the regulations, it lost all autonomy and participation in the legislative function.14 Emphasising the “class” nature of Fascism can at the same time be misleading; in fact, it would be impossible to understand the peculiarity of this form of government without taking into account the new functions of the state. Naturally this evolution was stronger in the Italian case, where a weak state tradition was also characterised by the unfavourable state of the economy with respect to other great nation states such as England, France and Germany. At any rate, the strength of Fascism was that it capitalised on the technocratic tendencies of Italian intellectuals in fields such as economy, law and sociology. Intellectuals such as Rocco, Pelizzi and Panunzio, and in some ways Gentile and others, proposed new sectional cultures focused on the state as being autonomous and on rational elements in the organization of collective life. Amongst others, the judicial theory of Alfredo Rocco developed a narrative which linked the weakening of liberalism, i. e. the division of power and the noninterventionist thesis of economics, with a more efficient legal system. The rhetoric in this case did not openly connect state reform with fascistisation, but directed attention to a new form of the judicial sciences in the workings of the modern state, which needed to develop a more concrete and rational sovereignty. This way the educated élites of magistrates, scholars and lawyers were able to adopt new positions in the state, emphasising the fast and growing cooptation of these intellectual strata in the new Fascist regime. This process of reform and re - organisation of the state is a pivotal element of an appropriate judgement on Fascism and cannot be labelled as a form of propaganda. The state was at the same time an incoherent, mythical element in the political agenda : the centre of repression but also a powerful agent of cooptation for a wide range of social classes. After the First World War, thanks to American funding, the whole European economy was connected as never before with the American economy. This new international agenda produced important effects in a nation like Italy, where the involvement of American investment in industry reached new peaks while the country was obliged to pay back its war loans to the USA. With the 1929 crisis, the Fascist state was called to reaffirm its engagement with industry, building the “Istituto per la Ricostruzione Industriale” as a form of state control over particular industries, due also to American disinterest regarding indirect and bank funding of Italian industries.15 14

Cf. Il totalitarismo alla conquista della Camera Alta. Inventari e documenti dell’Unione Nazionale Fascista del Senato e delle Carte Suardo, Storia e documenti, Con un saggio di Emilio Gentile, Soveria Mannelli 2002. 15 Cf. Gualberto Gualerni, Industria e fascismo. Per una interpretazione dello sviluppo economico italiano tra le due guerre. Vita e Pensiero, Milano 1976; Gian Giacomo Migone, Gli Stati Uniti e il fascismo. Alle origini dell’egemonia americana in Italia, Milano 1980; Gianni Toniolo, L’economia dell’ltalia fascista, Bari 1980; Francesca Bova, American Direct Investment in the Italian Manufacturing Sector in 1900–1940. In:

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The necessity to rework and enlarge the state bureaucracy required particular attention to be paid to international finance and the new forms of investments promoted by Anglo - Saxon capitalism during that period. The 1939 agreement between Mussolini and Hitler and Italy’s “late” entry into the war in 1940 is a confirmation of the difficult path Fascist Italy was trying to take in modernising a country which was still far below the standards set by the “first class” European nations which could boast a significant and effective colonial tradition. The model of repression / cooptation that Fascism produced must be seen in the context of this fundamental background to the Fascist experience. Furthermore, with regard to the workers it is possible to characterise the elements of a sophisticated model in setting up new forms of sovereignty intended to establish a new form of politicisation and socialisation. For example, in the seizure of power phase in 1924–25, the Fascist party worked toward putting into practice a very different strategy toward the cooperative system :16 the social mobility of small elements of the working class who were able to find a place in the Fascist organisation pioneered by the party. Efforts were devoted to this strategy during the seizure of power phase, but this changed with the stabilisation of the regime. Fascism can also be distinguished by its ability to promote Fascist syndicates in the industrial environment. Although wages suffered during those years, the workers were sometimes able to secure pension schemes and forms of social protection through a kind of collective negotiation.17 For example, in the Turin industries the workers’ pride in producing for the renewed Fascist nation was able to satisfy the workers’ mentality in some instances, but this was not accompanied by any possibility of mobilising their social position within the system.18 The strategy towards peasants and farmers was very different. The foundation of new cities such as Littoria enabled the implementation of a very small but extremely significant social mobility for a few thousand small farmers who distinguished themselves in their enthusiasm for the regime.19 The regime adopted a very different strategy towards youths and intellectuals. Thanks to Fascism, new universities and schools were established, intended to offer spaces of acculturation and social mobility to particular social strata. Business and Economic History, 24 (1995) 1, pp. 218–230. See also Anthony James Gregor, Italian Fascism and Developmental Dictatorship, Princeton 1979; A. Bernardi, Una dittatura moderna. Il fascismo come problema storico, Milano 2001. Also useful is Jon S. Cohen, Was Italian fascism a developmental dictatorship ? Some evidence to the contrary. In : The Economic History Review, 41 (1988) 1, pp. 95–113. 16 Cf. Maurizio Degl’Innocenti, La società unificata : associazione, sindacato, partito sotto il fascismo, Manduria 1995. 17 Cf. Gloria Chianese ( ed.), Fascismo e lavoro a Napoli. Sindacato corporativo e antifascismo popolare (1930–1943), Roma 2006. 18 Cf. Stefano Musso, La gestione della forza lavoro sotto il fascismo Razionalizzazione e contrattazione collettiva nell’industria metallurgica torinese (1910–1940), Milano 1987. 19 Cf. Giuseppe Pagano, Architettura e città durante il fascismo, Milano 2008.

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The typical restlessness of the younger generation was exploited during the seizure of power phase, but the focus Fascism placed on education and youth was intended to offer a new significant space to a youth that was cultivated within the party system. In the context of the quasi - gerontocracy of Italian society, Fascism claimed its youth and the strategy towards his members realised some significant opportunities in the state and party bureaucracy. At the time of the march on Rome, Mussolini was 39 years old and could claim to have been the youngest prime minister in Italian history. At any rate, the cultivation of youth was made easier by the fact that the youth were obliged to grow up in an environment that had been monopolised by Fascism since the 1920s, in schools, in education and in the public discourse, with the significant exception of the Catholic associations which generally avoided any specifically political behaviour. Fascism was also directly engaged in establishing new educational facilities such as the Scienze Politiche in Rome and, the Scuola di Mistica Fascista. These centres of cooptation confirmed Fascism’s interest in youth, and this was also confirmed by the rites of the Littoriali, the role played by Gruppi Universitari Fascisti ( GUF ), the Milizia Universitaria, the new Political Science faculty in Perugia, a network of associations, and journals which provided students and young scholars with an opportunity to find a position in the Fascist system and in Italian society. In this context, the role of the Fascist party was significant, especially that of Augusto Turati, secretary from 1926–1930. From 1935 especially, GUF members were directly appointed by the Party and by syndicates to significant job positions.20 In order to understand the strategy of Fascism towards Italian society, it is also useful to examine the particular contribution that women made to Fascism. The participation of women at the beginning of Fascism cannot be underestimated; although there were some cases of squad women ( squadriste ), a large number of patriotic ladies engaged in charities also joined Fascism from the beginning. In April 1924 the chief of female Fascism, Majer Rizzoli, asked Mussolini for full autonomy of the female fasci, permission to organise a congress and the concession of the vote to women in municipal elections. Despite this, in August 1924 these requests were rejected ( partly because of the abolition of such elections ), and it was decided that the action of female groups in the fields of propaganda and social and national assistance should be strengthened.21 At any rate, the engagement of the regime in female acculturation cannot be ignored, and Fascism provided some opportunities for women to achieve new positions in society. For example, the welfare policy of the Fascist party was able

20 Cf. Luca La Rovere, Storia dei GUF Organizzazione. Politica e miti della gioventù universitaria fascista 1919–1943, Torino 2003. 21 Cf. Helga Dittrich - Johansen, Le “militi dell’idea”. Storia delle organizzazioni femminili del Partito Nazionale Fascista, Firenze 2002, p. 85.

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to redirect normal charity towards a new objective. In fact, the “volontarie militi dell’assistenza” or “fascist visitors” were women who had the task of working at the boundaries of male power within society. Their task was to identify families who needed more help from the state in order to improve the “sanity of the race”. Some pregnant women and women in childbirth who were in a state of poverty were checked by Fascist women and doctors and were able to benefit from financial help from the state. This way also the women in the lowest positions in the fascist female hierarchy were able to develop a particular power and were also able to decide whether to allow children to go to the summer colonies as a Christmas gift of the regime ( the peculiar rite of the “Befana fascista” ), as well as handing out vouchers and grants.22 Also in this context Fascism tried to rearrange and redefine old mentalities. The dimension of the Fascist politicisation of everyday life confirms the fact that the regime aimed to establish new forms of legitimation across all sectors of society, by means of the cooptation of very particular and specifically selected social elements of society.

V.

Interaction of Legitimacy, Cooptation and Repression

The efforts made by Fascism in its package of reforms and modifications to Italian society cannot be underestimated; at any rate, Mussolini and many Fascists were convinced that it was impossible to achieve the results they sought without insisting in the generative force of Fascism and the new nation they had in mind : war. For these reasons the Ethiopian invasion in 1935 was seen by Fascists as a vital opportunity to build the new Italy they dreamed of. Once again the war efforts produced some interesting cooptation effects among the few thousand small farmers who migrated to Ethiopia after the conquest. Of more importance were the economic returns to large industries which, if anything, made their links with the regime even closer. Such a success against the resistance of great nations such as France, England and the USA convinced the Fascist élite of the necessity to manipulate the national culture in a more consistent way, in order to achieve a new form of cooptation and legitimation within Italian society. These were the reasons behind the racial laws of 1938, besides the “spiritual racism” of Giuseppe Bottai. According to the Fascist leader Roberto Farinacci, anti - Semitism in Italy was until then monopolised by Catholicism in a sort of negative attitude towards the very small Italian Jewish community. Indeed, Fascists insisted in addressing such elements. The racial laws, the repression of the Italian Jews and the deprivation of their civil rights made it possible to give back to Italians a number of posi-

22 Cf. Dittrich - Johansen, Le “militi dell’idea”. Storia delle organizzazioni femminili del Partito Nazionale Fascista, pp. 150–151.

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tions in the Italian state, in the bureaucracy and in the universities.23 For example, the August 1938 request of the minister of education for a list of Jews employed or studying at Bologna University received a very rapid reply. Within a few months, not only were Jewish professors banned from teaching, but their publications were removed from libraries and it was forbidden for Jewish teachers to enter workshops and reading rooms.24 Such a zero - cost strategy was effective in building the consensus which the regime acquired up to the entry into the war in 1940 and offers an opportunity to develop a more accurate understanding of the repression / cooptation / legitimation strategy of the Italian Fascist regime. In the regime, Fascism elaborated a series of institutions carefully oriented towards the repression of every form of dissent. In 1930 the “Organizzazione per la Vigilanza e la Repressione dell’Antifascismo” ( OVRA ) was founded, which was autonomous from the Fascist Party. The espionage operations of OVRA produced remarkable results, but according to the memories of Chief of Police Senise, especially concerning corruption, Mussolini’s reaction was very peculiar : in fact he usually passed the information gathered directly to the hands of the defendants, with the result that their activities were hidden and ever harder to find out.25 The approach of spying on and manipulating hundreds of daily rumours about possible dangers to Mussolini’s role within the regime became obsessive and psychotic. At any rate, this plethora of rumours, confessions and manipulations is useful to scholars, since it confirms the power and autonomy maintained in the system by a number of Fascist leaders at a provincial and also at a central level. Although Mussolini benefitted from the presence of different centres of power ( party, parliaments, ministers, army ), the success of the Ethiopian conquest and the consensus amongst industrialists appear to have led him to abandon any concern for the power of Fascist legitimation. The fall of Mussolini in the Gran Consiglio meeting of 25 July 1943 and the subsequent Nazi invasion of Italy have provoked very different explanations amongst scholars. At any rate, the radical change of mind of some important Fascists, such as Dino Grandi who collaborated in the fall of Mussolini, can also be viewed as a final confirmation of the fact that the Fascist élite itself cultivated energies and commitment which exceeded Mussolini’s. In other words, one can also emphasise the fact that the rationale of the regime was imbued with war and that the radical change of the Second World War represented a disillusion with the progress of Fascist Italy, which partly

23 Cf. Roberto Finzi, Le leggi razziali e l’università italiana Padova, CLEUP, 1995; Enzo Collotti, Il fascismo e gli ebrei. Le leggi razziali in Italia, Roma - Bari 2008. 24 Cf. Daniela Gagliani, Antisemiti militanti, antisemiti funzionari, profittatori in A settant’anni dalle leggi razziali Profili culturali. Giuridici e istituzionali dell’antisemitismo cit., pp. 233–234. 25 Cf. Carmine Senise, Quando ero capo della polizia, quoted in Mimmo Franzinelli, I tentacoli dell’Ovra, p. 364.

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eroded the legitimation built over 21 years of propaganda and the manipulation of Italian society. The original form of modernisation proposed by Italian fascism intended to use repression and cooptation in very different directions in the political agenda of the regime. The Fascist intention to remodel the whole Italian nation was limited by the fact that in Italy the majority of the population was employed in nonindustrial sectors and that the efforts to develop a new nation did not require propaganda and acculturation in a situation of rapid and violent modernisation. In fact, the scarce use of the alternatives of repression and cooptation by the regime indicates that an effective legitimation, as in the Italian Fascist case, can also be reached by isolating politically active social elements in society and promoting the cooptation and socialisation of others who did not belong to the previous political system. Fascism promoted significant cooptation within Italian society. Along with the concentration of industrial capitalism boosted by the regime and the power of the industry, Italy remained a country still dominated by the agrarian masses, and the efforts of the regime against urbanisation confirm the need to emphasise these elements. Key elements in the workings of state bureaucracy, such as petty bourgeoisie elements, intellectuals and bureaucrats, found their way into the regime; significant and concentrated minorities of small farmers lived some kind of mobility; youths and women experimented with new possibilities in the party, in education and in cultural life. In addition, factory workers and peasants, despite the loss of wages, dealt with a regime which offered them a sort of benign repression, by assuring them of some form of passive participation in the political societies and associations promoted by Fascist syndicates other that their symbolic participation in the new national order.

VI.

Conclusion

The original ideocratic regime of Italian Fascism developed a complex strategy in order to legitimate its power over the nation and the state. This strategy proposed the alternatives of repression in particular social strata and political forces and the cooptation of the social and functional élite indispensable to the workings of a modern state. The manipulation of Italian society and the elitist approach to the nation confirms the double - meaning of Fascism as an elitist form of government which at the same time was able to promote itself as a national and mass experience open to all social strata. Despite the fact that repression and cooptation were used in different ways, this strategy must be recognised as being pivotal in order to achieve a new strong and remarkable legitimation of Fascism. The agent of legitimation and cooptation was often the Fascist party, the institution which can claim both an operative role and an ideological supremacy over Fascism. Apart from this fundamental aspect, one cannot ignore the fact that the Fascist system

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of government allowed for the manipulation of a developing mass society by a cultivated élite of Fascists who maintained a huge ideological cohesion and who cleverly manipulated repression, cooptation and legitimation in order to gain such significant results. At the height of the Fascist trajectory, Mussolini was convinced that the strategies of manipulating Italian culture and society produced a very radical change of the Italian mentality. In Mussolini’s words, Fascism succeeded in redrawing the character of Italians;26 his original approach to mass politics and state reorganisation allowed, in his view, for the state education of the national culture in twentieth century Italy. As has been seen, the strategies of repression, cooptation and legitimation achieved the imposition of the Fascist political regime, despite the fact that the majority of its workers suffered a significant reduction in their wages. The process of Fascist modernisation caused a progressive industrialisation of Italy but left many problems unsolved by imposing a fragile equilibrium between a complex and conflicting state divided by cabals and diffuse corruption and the turmoil of a lively mass society. In Mussolini’s view, the reorganisation of politics beyond the representation of interests was a success. In fact, from his militancy in socialism he was convinced of the superiority of political force over the mere syndicalism promoted by an important part of his party. Mussolini’s ideas have found some confirmation in this investigation. The strategies illustrated above confirm the intention to recalibrate Fascist political organisations ( party, syndicates and Parliament ) in order to go beyond the representation of interests, but insisting on a strategy of repression, cooptation and legitimation in order to divide society allowed groups of mostly petty bourgeois to gain new positions in the state and party organisation. Such elitarian division of modern mass society also implies functional cultural production which is never neutral in the arena of mass culture, and one cannot avoid highlighting the role promoted by law and the Fascist reform of civil and penal codes in an effort to articulate an alternative vision to the destiny and ideology of the modern bureaucratic state. The Fascist Party developed a series of institutions devoted to the organisation of schools, parliament and public services which provided significant energy in the fascistisation of the state.27 Elitism and double - meaning are pivotal modalities in approaching Fascism. Its aim of rearticulating modern society in order to establish a new ruling class based on an anti - bourgeois mentality signified a large effort to infiltrate traditional culture, such as ruralism, Catholicism, machismo, female identity and positions in a changing society. It is not difficult to be impressed, as some schol26 Cf. Mussolini, Speech 28th March 1926. 27 Cf. Mariuccia Salvati, Il Regime e gli impiegati La nazionalizzazione piccolo - borghese nel ventennio fascista, Roma - Bari 1992; Lavinia Arcesi, I diritti della scuola (1928–1929). Il partito educatore e la scuola nel progetto totalitario fascista, Roma 2009.

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ars have been, by the persistence of traditional elements in the life of the majority of Italians during Fascism, but more significant are the efforts to understand their re - articulation and the politicisation of the rural and Catholic traditions in the provinces, or the municipal medieval rites such as the symbolism of the Palio di Siena, confirming the need for a better understanding of the process produced by Fascism and the peculiar political acculturation it accomplished. Dealing with the rationale of Fascism does not mean overestimating its status. On the contrary, this method of analysis may be useful for judging on the limits and contradictions of the ideocratic Fascist regime. In fact, as has been seen, the historical background against which Fascism prospered was characterised by a phase of radical re - articulation of the economic relations between the states, as well as the form of political representation on the eve of the mass media era which radically changed the operability and boundaries of political synthesis. At any rate, the fall of Fascism can be comprehended through the role of the representation of interest and the weakness of the party, as well as the industrial worker strikes of 1943, which are signs which confirm the fragile equilibrium built up by a regime which did not articulate, as the Nazi regime did, a diffusion of wealth in times of war.28 It may be useful to add that, for reasons the author has tried to illustrate, these phenomena may seem to be very close to the current circumstances : to the urgency produced by the turbulence of international capitalism which may be decisive for democratic order.

28 Cf. Götz Aly, Hitler’s Beneficiaries. Plunder, Racial War, and the Nazi Welfare State, New York 2007.

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Legitimation, Kooptation und Repression im NS - Regime Wolfgang Bialas

I.

Einleitung : Von der Ideologie zur Ideokratie

Der hier verwendete Ideologiebegriff ist u. a. inspiriert von Karl Mannheims Verständnis als utopisch ausgreifendem Denken,1 Helmuth Plessners Herausstellung der lebensweltlichen Funktionalität von Ideologie2 sowie Hannah Arendts Diskussion des Zusammenhangs von Ideologie und Terror, wonach das ideologische Versprechen dadurch eingelöst wird, „dass im Handeln das Mittel den Zweck setzt und erzwingt“.3 Die Wirkung von Ideologie in diesem Sinne beruht auf der kulturellen Konstruktion eines Referenzmediums, dessen unterstellte Existenz es erlaubt, so zu handeln, als ob es tatsächlich existieren würde.4 Diese konstruierte Realität der ideologischen Fiktion entwickelt eine Eigendynamik, deren Wirkungsmächtigkeit die der empirischen Realität übertrifft. Am Ausgangspunkt der Wirkungsgeschichte von Ideologie steht die Entwicklung suggestiver Visionen der endgültigen und radikalen Lösung vermeintlicher oder tatsächlicher Probleme. Diese versprochenen Lösungen sind deshalb so radikal, weil sie ohne Rücksicht auf die Zustimmung Betroffener oder die Berücksichtigung des historisch - kulturellen Kontextes der in den Fokus gerückten Probleme formuliert werden. Über die Wirkungsmächtigkeit der Ideologie entscheidet nicht ihr Realitäts - oder Wahrheitsgehalt, sondern ihre Fähigkeit, Massen zur Verwirklichung der ideologischen Ziele zu mobilisieren. Lenin hatte dagegen in machtbewusster Selbstverständlichkeit für den Marxismus formuliert : „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“5 Der machtpolitische Klartext lautete : Und was wahr ist, bestimmen wir, denn wozu haben wir denn die Macht, wenn nicht, um unsere ideologische Sicht der Dinge als wahr durchzusetzen. 1 2 3 4 5

Vgl. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie (1929), Frankfurt a. M. 1995. Vgl. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1935/1959). In : ders., Gesammelte Schriften, Band VI, Frankfurt a. M. 1982, S. 7–225, hier 135. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 713. Vgl. Hans Vaihinger, Philosophie des Als Ob (1911), Saarbrücken 2007. Lenin, Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (1913). In : ders., Werke, Band 19. Hg. vom Institut für Marxismus - Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1977, S. 3–9, hier 3.

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Gegenläufige Erfahrungen und Abweichungen von der fiktionalen Welt der Ideologie werden entweder als Manifestationen einer irrelevanten Scheinwelt abgetan oder kurzerhand beseitigt. Totalitäre Ideokratien überlassen die Plausibilität und Wirkungsmächtigkeit der von ihnen vertretenen Ideen nicht ihrer ideellen Ausstrahlung. Stimmt die Wirklichkeit nicht mit ihrer ideologischen Darstellung überein, so wird sie durch politische Eingriffe mit ihr in Übereinstimmung gebracht. Die Berufung auf den gesunden Menschenverstand, auf universelle Vernunftprinzipien und moralische Werte oder auch auf den empirischen Augenschein und die Wahrnehmung der fünf Sinne als vermeintliche Widerlegung der ideologischen Deformierung von Wirklichkeit verkannte, dass die dabei als selbstverständlich unterstellte Geltung eben dieser tradierten Normen durch die Ideologie gerade außer Kraft gesetzt war. An ihre Stelle trat der sechste Sinn der Ideologie, der einerseits darauf bestand, dass das Eigentliche und Wesentliche der Ereignisse und Entwicklungen den fünf Sinnen nicht zugänglich sei und eben deshalb den in ihrer Mehrheit ideologisch Ungeschulten, deren Weltbild durch sinnliche Eindrücke geformt werde, erst sinnlich zugänglich gemacht werden müsse. Der Verweis auf die Grenzen sinnlicher Wahrnehmung wurde ergänzt durch die Einsicht, dass ideologische Visionen und Stigmatisierungen durch entsprechende Bilder, Eindrücke und Fakten unterstützt werden müssen, um dadurch ihrerseits sinnlich wahrnehmbar zu werden. Im Propaganda - Film „Der ewige Jude“ heißt es dazu : Durch die Wandlung seines Äußeren passt er sich seinem „Gastvolk“ an, so dass „nur schärfer blickende Menschen seine rassische Herkunft“ erkennen. Instinktlose Völker lassen sich von dieser äußeren Erscheinung täuschen und betrachten die Juden als Ihresgleichen.6 Die nationalsozialistische Weltanschauung sollte gelebt und praktiziert werden. Nicht das Lippenbekenntnis zu abstrakten Glaubenssätzen wurde eingefordert, sondern Unterstützung aus weltanschaulicher Überzeugung. Gehörten sie der nordischen Rasse an, wurde nicht nach Stellung, Rang und Besitz der Deutschen gefragt, sondern nach ihrer Haltung und Leistungsfähigkeit. Diese egalitäre Strategie der Rekrutierung von Anhängern des Nationalsozialismus, ihrer Kooptation in das politische System ohne Rücksicht auf ihre soziale Herkunft war äußerst effektiv. Sie versprach eine ausschließlich an ihrer Einsatzund Opferbereitschaft für die Sache des Nationalsozialismus orientierte Aufstiegsmobilität, die das Versprechen der Arbeiterbewegung, traditionelle Klassenschranken und soziale Gegensätze zu überwinden, einzulösen schien. Die nationalsozialistische Ideologie ging jedoch noch einen Schritt weiter. Gegen die Alternative Nationalismus oder Sozialismus behauptete sie eine symbiotische Verknüpfung beider zum Nationalsozialismus. Damit sollte der zuerst im „Kommunistischen Manifest“ von Marx und Engels formulierte Loyalitätskonflikt der Arbeiter zwischen ihrer sozialen oder Klassenzugehörigkeit und 6

Zum Filmtext vgl. http ://de.metapedia.org / wiki / Quelle / Der_ewige_Jude_( Film )_– _Textbeitrag_des_Erzählers; 5. 2. 2012.

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ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, den beide als unauflösbaren Gegensatz beschrieben hatten, gelöst werden. Im „Manifest“ hatten sie argumentiert, die Arbeiter hätten kein Vaterland. Die Proletarier aller Länder sollten sich zu einer sozialistischen Internationale vereinigen, um der bereits global auf dem Weltmarkt agierenden Bourgeoisie im Klassenkampf strategisch angemessen begegnen zu können.7 Zwar hatte Lenin auf das Scheitern des Versuchs, die siegreiche bolschewistische Revolution als Initialzündung weiterer sozialistischer Revolutionen zur Weltrevolution zu führen, mit der Losung vom notwendigen Sieg und Aufbau des Sozialismus in zunächst einem Land, eben der Sowjetunion, reagiert.8 Am Konzept der Weltrevolution, die durch die sozialistische bzw. kommunistische Internationale unter Führung Sowjetrusslands vorangetrieben werden sollte, hielten die Bolschewiki jedoch fest.9 Die Nationalsozialisten erklärten den Klassenkonflikt durch den erfolgreichen nationalen Einigungsprozess für beendet. Die soziale Differenzierung der Nationen nach der Klassenzugehörigkeit und die Behauptung unversöhnlicher Klassengegensätze zwischen Arbeitern und Unternehmern sei eine jüdisch - marxistische Erfindung, die darauf ziele, den nationalen Zusammenhalt der Völker zu untergraben und durch das Schüren nationaler Zwietracht die jüdische Weltherrschaft über die Völker und Nationen vorzubereiten.

II.

Die ideenpolitische Legitimation des Nationalsozialismus

Die rassenideologische Radikalisierung der durch den deutschen Idealismus behaupteten weltbürgerlichen Mission Deutschlands erklärte die Deutschen zur Avantgarde eines Weltbürgerkrieges der Rassen, den sie als „Rassenkrieger“ bestreiten und für sich entscheiden würden.10 In der heilsgeschichtlichen Perspektive eines „Tausendjährigen Reichs“ wurde die politische „Endlösung“ tatsächlicher oder ideologisch konstruierter Konflikte und Probleme als nationalgeschichtlich plausible Antwort auf deren Tradierung in der deutschen Geschichte suggeriert. Die geschichtsphilosophische Anreicherung der nationalsozialistischen Bewegung mit Bedeutungen, die über die Auseinandersetzung mit politischen Gegnern und den Kampf um die Erringung und den Ausbau der 7 Vgl. Karl Marx / Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1848). In : dies., Werke, Band 4. Hg. vom Institut für Marxismus - Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1971, S. 459–493, hier 493. 8 Vgl. Lenin, Die Vereinigten Staaten von Europa (1915). In : ders., Werke, Band 21. Hg. vom Institut für Marxismus- Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin ( Ost ) 1971, S. 342–346, hier 345. 9 Vgl. Ossip Flechtheim, Bolschewismus 1917–1967. Von der Weltrevolution zum Sowjetimperium, Wien 1967. 10 Vgl. Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt a. M. 1989; sowie Thomas Nipperdey / Anselm Doering Manteuffel / Hans - Ulrich Thamer ( Hg.), Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte. Festschrift zum 70. Geburtstag, Berlin 1997.

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politischen Macht hinauswiesen, wurde zur Legitimation der nationalsozialistischen Revolution als ganzheitlicher Umwälzung der deutschen Gesellschaft und Kultur benutzt. Der radikale Bruch des Nationalsozialismus mit dem bürgerlichen Werte - und Gesellschaftssystem wurde als Bedingung der „Gesundung“ der deutschen Gesellschaft und Abbruch historischer Fehlentwicklungen gerechtfertigt. Die Mobilisierung von Gefolgschaft funktionierte im nationalsozialistischen Führerstaat nicht ausschließlich über die Einlösung politischer Versprechungen. Sie wurde auch durch die Annahme der Möglichkeit aufrechterhalten, die Verheißung einer neuen Gesellschaft könne sich in einer fernen Zukunft erfüllen. Bewusst wurde im Vagen gehalten, wie eine solche Gesellschaft konkret aussehen solle. Ebenso wurden mögliche politische und militärische Niederlagen als temporär in den Horizont der Weltgeschichte und kommender Generationen gerückt. In diesem geschichtsphilosophischen Wahrnehmungsraster konnte Hitler noch angesichts der auch von ihm zum Schluss nicht länger geleugneten militärischen Niederlage Deutschlands eine Erfolgsbilanz des Rassenkrieges ziehen. Diese selektive Wahrnehmung der Politik sieht ebenso selbstverständlich Erfolge als Bestätigung großer Verheißungen, wie sie Niederlagen als irrelevant für ihren Gehalt und ihre perspektivische Erfüllung behauptet. Wie auch immer im Namen höherer Ideen geführte politische und militärische Auseinandersetzungen ausgehen – diese Ideen selbst und die aus ihnen entwickelten Visionen können aus der Sicht ihrer Protagonisten in diesen Auseinandersetzungen keinen Schaden nehmen. So konnte Hitler in seinem politischen Testament feststellen, dass zwar eine Schlacht im Weltbürgerkrieg der Ideen verloren gegangen sei, der Kampf um diese Ideen jedoch weitergehe, um schließlich notwendig mit dem Sieg der deutschen Ideen zu enden – der Erneuerung des Judenhasses, der Wiedergeburt der nationalsozialistischen Bewegung und der Verwirklichung der Volksgemeinschaft.11 Am christlichen Vorbild angelehnte sakrale Sprache und Praktiken spielten in der ideologischen Begründung nationalsozialistischer Politik eine herausragende Rolle. Ihre Besetzung mit eigenen ideologischen Inhalten versuchte das kulturelle Ansehen des Christentums zu nutzen, um mit der Herausbildung einer eigenen politischen Religion zugleich seine kulturelle Bedeutung einzuschränken. Die ideologische Modifizierung religiöser Formate rechnete mit deren Wiedererkennung. Der Nationalsozialismus verstand sich nicht als atheistische Weltanschauung, sondern als politische „Religion der Rasse“.12 Das nationalsozialistische Konzept einer rassenbewussten christlichen Religion setzte die Kirchen unter Druck, sich von einer rassenindifferenten universellen Religion der Nächstenliebe zu verabschieden. Sie wurden aufgefordert, jüdische Mitglieder auszuschließen und auf jüdische Elemente in ihrem Glaubenssystem zu verzichten. Die christliche Religion galt als historisch - anachroni11

Vgl. Werner Maser ( Hg.), Hitlers Briefe und Notizen. Sein Weltbild in handschriftlichen Dokumenten, Graz 2002. 12 Vgl. Ferdinand Rossner, Rasse und Religion, Hannover 1942.

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stisches Relikt eines gegenüber Fragen der Rasse indifferenten bürgerlichen Zeitalters und wurde als Hindernis auf dem Weg zu einer nach dem Prinzip rassischer Höher - und Minderwertigkeit organisierten Gesellschaft bekämpft. Führende Nationalsozialisten wie Himmler, Goebbels und auch Hitler selbst betonten immer wieder, dass sie zwar nicht christlich, wohl aber religiös seien. Auch wenn Hitler die „Konfessionalisierung der Partei“13 durch die einfache Übernahme religiöser Formate ebenso wie seine Verehrung als religiöse Figur ablehnte, wusste er die quasireligiöse Verehrung seiner Person durchaus zu schätzen und behauptete selbst, in Übereinstimmung mit der göttlichen Vorsehung zu handeln.14 Der Glaube an den Führer und seine Unfehlbarkeit waren als Quelle der Legitimation nationalsozialistischer Politik unverzichtbar. Die ideenpolitische Legitimation der nationalsozialistischen Bewegung funktionierte über Rassenideologie, - ethik und - religion, bezog aber auch Denkfiguren des bürgerlich - christlichen Humanismus ein, die nach ihrer ideologischen Umwertung in den Grundbestand nationalsozialistischer Legitimationsideologie aufgenommen wurden. Die nationalsozialistische Bewegung stilisierte sich nicht als antireligiös, sondern als eine politische Bewegung zur Korrektur blasphemischer Eingriffe in das Werk des Schöpfers.15 Sie betonte im Einklang mit den Natur - und Lebensgesetzen die widernatürliche Fürsorge für aus eigener Kraft nicht lebensfähige Menschen zu beenden und „lebensunwertes Leben“ gezielt zu töten, bis dessen selbstverständliche Ausmerze wieder durch die in der bürgerlichen Gesellschaft kulturell blockierte natürliche Auslese der Stärkeren gesichert werde. Die Legitimation von Eugenik, Euthanasie und Rassenmord als gesundheitspolitische Maßnahmen, mit denen die existenzbedrohende Krise des deutschen Volkes, in die es durch Rassenmischung, rassenindifferente christliche Fürsorgeethik und bürgerliche Menschenrechte geraten sei, operierte mit der unterstellten Eigenperspektive der von negativer Eugenik Betroffenen. Diese seien selbst nicht in der Lage, ihren Willen zu artikulieren und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ihnen wurde unterstellt, dass sie sich für die Beendigung ihres „lebensunwerten Lebens“ selbst entscheiden würden, als willkommene Erlösung aus einem menschenunwürdigen Zustand. Die Rechtfertigung des Massenmords an den Juden sprach diesen dagegen das Recht auf eine eigene Perspektive von vornherein ab.16 Die nationalsozialistische Ideologie unterschied zwischen einem nationalen, produktiven und einem internationalen, jüdischen und parasitären Kapitalismus – der neben dem marxistischen Bolschewismus anderen, nicht weniger effektiven strategischen Waffe 13 Adolf Hitler im Mai 1937 paraphrasiert nach Elke Fröhlich ( Hg.), Goebbels Tagebücher, Teil I, Band 4 : März–November 1937, München 2000, S. 135. 14 Vgl. Thomas Schirrmacher, Hitlers Kriegsreligion. Die Verankerung der Weltanschauung Hitlers in seiner religiösen Begrifflichkeit und seinem Gottesbild, 2 Bände, Bonn 2007. 15 Vgl. z. B. Walter Gross, Rasse und Weltanschauung. In : Weltkampf, (1938) 171, S. 97– 108. 16 Vgl. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, München 2008, S. 87–128.

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jüdischer Weltverschwörung. Gerade weil sie in vielfältigen Rollen und äußeren Erscheinungsformen auftreten würden, seien sie so gefährlich. Ob als orthodoxe oder weltliche und assimilierte Juden, als Revolutionäre oder als Börsenspekulanten und „Finanzjuden“ – in keiner dieser Gestalten seien die Juden zu produktiver Kulturleistung in der Lage.17 Der Jude sei kein Mensch, sondern eine „Fäulniserscheinung“, die sich im deutschen Volk als „Spaltpilz“ eingenistet habe.18 Im Nationalsozialismus wurden die Juden Praktiken der Erniedrigung und Entmenschlichung ausgesetzt, damit sie dem ideologischen Zerrbild rassisch minderwertiger Untermenschen entsprachen. Den noch nicht von der antisemitischen Rassenideologie überzeugten Deutschen stellte sie eindringliche Beispiele, Bilder und Erzählungen bereit, die die behauptete rassisch minderwertige Existenz der Juden veranschaulichen sollten.19 Hannah Arendt hat dieses Element totaler Herrschaft prägnant erfasst : „Sind die Bewegungen erst einmal an die Macht gekommen, so beginnen sie, die Wirklichkeit im Sinne ihrer ideologischen Behauptungen zu verändern.“20 Aus einer der sinnlichen Anschauung zunächst widersprechenden ideologischen Fiktion wird eine Realität, die die ideologische Konstruktion rechtfertigt und empirisch bestätigt. Durch die subtile Vereinnahmung christlich - humanistischer Denkfiguren suchte die nationalsozialistische Rassenideologie sich als Einlösung und Vollendung der in diesen Denkfiguren akkumulierten Heils - und Legitimationsversprechen zu profilieren. Den universellen Geltungsanspruch dieser Werte stellte sie als rassenindifferente Verkehrung und Verfälschung ihrer ursprünglichen Bedeutung dar. Auf diese Weise versuchte die nationalsozialistische Ideologie den legitimationspolitischen Balanceakt zwischen Bruch und Kontinuität, Abgrenzung und Fortsetzung, der ihr Zugang zu den in diesen Werten repräsentierten Legitimationen verschaffen sollte. Menschliche Würde und Nächstenliebe, Achtung vor der Schöpfung und Ehrfurcht vor dem Leben, die Übereinstimmung mit den Natur - und Lebensgesetzen und die Anerkennung der kulturellen Eigenheit jeder Rasse, schließlich die Ritterlichkeit ziviler Kriegsführung oder Fairness in der Auseinandersetzung mit politischen Gegnern – all diese Werte reklamierte die nationalsozialistischen Bewegung in legitimatorischer Absicht für sich. Die subtile Übernahme bürgerlich - christlicher Argumentationsfiguren und ihre Verwendung in einem rassenbiologischen Referenzrahmen finden sich in

17

Vgl. Wolfgang Benz ( Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Band 3 : Begriffe, Ideologien, Theorien, Berlin 2010. 18 Vgl. Walter Buch, Des nationalsozialistischen Menschen Ehre und Ehrenschutz, München 1939, S. 15; vgl. auch Eva Horn / Michael Hagemeister ( Hg.), Die Fiktion von der jüdischen Weltverschwörung. Zu Text und Kontext der „Protokolle der Weisen von Zion“, Göttingen 2012. 19 Vgl. Julia Schäfer, Vermessen – gezeichnet – verlacht. Judenbilder in populären Zeitschriften 1918–1933, Frankfurt a. M. 2005. 20 Arendt, Elemente, S. 719.

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zahlreichen Varianten, von denen einige im Folgenden paradigmatisch dargestellt werden sollen : – Die Deutschen sollten auf die Stimme ihres Gewissens hören und ihren moralischen Intuitionen folgen – geleitet von einem Rasseninstinkt sollten sie intuitiv und guten Gewissens im Sinne der nazistischen Rassenideologie urteilen und handeln.21 – Appelliert wurde an eine„Urteilskraft des Blutes“22, die Verantwortung gegenüber Rasse und Volk. – Nicht robotergleiche, gesichts - und charakterlose Massemenschen sollten sie sein, sondern Persönlichkeiten mit einem eigenen individuellen Profil – dem des rassenbewussten Volksgenossen.23 – Die nationalsozialistische Ideologie versprach, menschlicher Würde den ihr angemessenen Geltungsrahmen zu geben. „Artgemäße“ Würde wurde jedoch nur rassenbiologisch leistungsfähigen Menschen zugestanden.24 – Die Deutschen sollten nach dem Prinzip der Nächstenliebe handeln – nachdem sie sich mit Hilfe rassischer Natur - und Lebensgesetze vergewissert hatten, wer als Nächster mitmenschliche Zuwendung verdiene und wem sie aus rassenpolitischen Gründen verweigert werden müsse.25 – Im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Werterevolution, so wurde behauptet, stehe der Mensch, der als Individuum jedoch lediglich „das vorübergehende Gefäß für die zeitweilige Aufbewahrung der Erbmasse“26 sei. – Humanismus und Menschenrechte, Glaubens - und Gewissensfreiheit wurden ausdrücklich anerkannt – solange sie nicht im Widerspruch zu den Rassengesetzen standen und ihre Geltung auf biologisch vollwertige Menschen eingeschränkt war.27 – Auch nach der Freigabe „lebensunwerten Lebens“ zur gezielten Tötung bekannte sich die nationalsozialistische Ideologie zur Heiligkeit und Unantastbarkeit menschlichen Lebens – des nach rassenbiologischen Kriterien für lebenswert befundenen Lebens.28

21 Vgl. Geist, Instinkt, Glaube. In : Das Schwarze Korps, 8 (1942) 45, S. 4. 22 Walter Gross, Die ewige Stimme des Blutes im Strome deutscher Geschichte. Rundfunkrede vom 14. Juli 1933. In : Ziel und Weg, 10 (1933), S. 257–260. 23 Vgl. Das Ende des Lebens. In : Das Schwarze Korps, 9 (1943) 12, S. 4. 24 Vgl. Walther Brunk, Nationalsozialistische Erbpflege. Blutmaterialismus oder göttliches Naturgesetz ? In : Der Schulungsbrief, (1939) 3, S. 356–358; Walter Hebenbrock, Nationalsozialistische Wohlfahrtspflege ist Gesundheitsdienst. In : Der Schulungsbrief, (1938) 12, S. 440–446. 25 Vgl. Walter Gross, Unsere Arbeit gilt der deutschen Familie. In : Nationalsozialistische Monatshefte, (1939) 107, S. 99–106. 26 H. Finck, Volksgesundheit und Liebesleben. In : Ziel und Weg, (1934) 8, S. 287–294, hier 289. 27 Vgl. Kurt Hildebrandt, Norm, Entartung, Verfall. Bezogen auf den Einzelnen, die Rasse, den Staat, Berlin 1934, S. 276. 28 Vgl. Gerhard Wagner, Rasse und Volksgesundheit. In : Ziel und Weg, 4 (1934) 18, S. 675–685, hier 683.

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III.

Politisch Indifferente zwischen freiwilliger Gefolgschaft und Repression

Viele politisch nicht organisierte und der Politik gegenüber grundsätzlich skeptische Deutsche waren zunächst noch unentschieden, wie sie sich politisch verhalten sollten. Ihre Entscheidung, das nationalsozialistische System zu unterstützen und zur Bekräftigung ihrer Loyalität der NSDAP, nationalsozialistischen Berufs - , Interessen - oder Freizeitverbänden beizutreten oder erst einmal abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden, hing davon ab, auf welche Weise ihnen begegnet wurde. Warb das politische System um sie oder begegnete es ihnen mit Misstrauen ? Führte es ihnen mit der Behandlung seiner politischen Gegner vor, was auch ihnen drohte, sollten sie sich der Opposition anschließen oder stellte es ihnen Vorteile in Aussicht für den Fall, dass sie sich dem System gegenüber loyal verhielten ? Faktisch operierte das nationalsozialistische System mit beiden Strategien. Es ging sowohl darum, mögliche Kritik am Nationalsozialismus zu unterbinden und dazu auch den brutalen Umgang mit Gegnern des Regimes zur Einschüchterung der Bevölkerung zu nutzen als auch darum, die Mehrheit der Deutschen für den Nationalsozialismus zu gewinnen. Politisch und moralisch indifferente Menschen verzichten darauf, Handlungen, Ereignisse und Situationen nach eigenen Kriterien moralisch zu beurteilen und entsprechend zu handeln. Stattdessen nehmen sie an, dass Handlungen in Übereinstimmung mit geltendem Recht und Gesetz auch als moralisch legitim oder sogar geboten gelten können.29 Dafür hatte der nationalsozialistische Staat vor allem mit seiner Rassengesetzgebung gesorgt, die deutschen Juden praktisch das Bürgerrecht entzog und ihnen durch eine Vielzahl von Anschlussverordnungen und - gesetzen bedeutete, dass sie in Deutschland nicht länger erwünscht waren, bevor diejenigen, die sich geweigert hatten Deutschland zu verlassen, in die Ghettos und Vernichtungslager deportiert wurden. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ schließlich führte sowohl rassische als auch politische Gründe an, aus denen Beamte zu entlassen waren : Sowohl „Beamte nicht arischer Abstammung“ als auch „Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten“,30 machten nach ihrer Entlassung Platz für rassisch einwandfreie, politisch loyale „Volksgenossen“, die diese karrierepolitische Gelegenheit nutzten. Die politisch indifferente Mehrheit der deutschen Bevölkerung war dem nationalsozialistischen System gegenüber loyal. Diejenigen, die weder zu seinen erklärten Gegnern gehörten noch als politische Aktivisten agierten, waren häu29 Vgl. Norman Geras, The Contract of Mutual Indifference. Political Philosophy after the Holocaust, London 1998. 30 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933. In : Reichsgesetzblatt, (1933) Teil 1, 34, S. 175–177 zit. nach George Leaman, Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS - Engagement der Universitätsphilosophen, Hamburg 1993, S. 101.

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fig nicht nur dem Nationalsozialismus, sondern jeder Politik und Ideologie gegenüber indifferent. Solange sie nicht selbst von Repression betroffen waren, sahen sie im gegen Juden und politische Gegner gerichteten Terror keinen Grund, dem System ihre Loyalität zu verweigern. Gleichgültig gegenüber den ideologischen Begründungen nationalsozialistischer Politik waren den politisch Indifferenten die möglichen Gründe, das politische System aktiv zu unterstützen oder aber es zu bekämpfen, gleichermaßen befremdlich. Politische Aktivisten, die sich rückhaltlos mit einer bestimmten Weltanschauung identifizierten, und die bereit waren, für deren Durchsetzung in der Auseinandersetzung mit ideologischen Gegnern persönliche Risiken einzugehen und wenn nötig auch das eigenen Leben zu riskieren, waren ihnen als unberechenbare Fanatiker suspekt. Spätestens dann, wenn die politische Auseinandersetzung zwischen den gegnerischen Parteien entschieden und die Machtverhältnisse geklärt waren, war es aus ihrer Sicht an der Zeit für die unterlegene Partei, ihre Niederlage zu akzeptieren, den Kampf zu beenden und sich der neuen Ordnung gegenüber loyal zu verhalten. Wegen einer politischen Überzeugung Nachteile auf sich zu nehmen oder gar Verfolgung zu riskieren, erschien ihnen als eine Art persönlicher Defekt. Deshalb neigten sie dazu, Terror und Repression gegen politische Gegner als von diesen selbst verschuldet zu akzeptieren, und das um so mehr, als das ideokratische System in aller Regel nicht die inhaltliche Auseinandersetzung mit seinen Gegnern führte, sondern diese als Unruhestifter und Kriminelle, als asozial und gemeinschaftsfremd diffamierte.31 Durch Repression und Terror, die sich gegen andere richtete, sie selbst aber aussparte, fühlten sie sich in ihrer abwartenden Haltung bestätigt. Sich zu exponieren und eine klare politische Haltung einzunehmen, war ihnen habituell fremd, gehörte es doch gerade zu ihrem Selbstverständnis, kontroverse Themen zu vermeiden. Dass sie selbst unbehelligt blieben, erklärten sie sich mit ihrer eigenen Zurückhaltung gegenüber der Politik, die allem Anschein nach nicht nur toleriert, sondern auch honoriert wurde. Offensichtlich, und das zu Recht, sah das politische System in ihnen keine Bedrohung. Eben deshalb, weil es sie nicht dazu zwang, ihre politische Gesinnung durch Detailkenntnisse nationalsozialistischer Rassentheorie und Weltanschauung nachzuweisen, waren sie bereit, es politisch zu unterstützen. Aus dieser Perspektive ist politische Indifferenz bereits eine Form der Loyalität : Das politische System wird deshalb akzeptiert und unterstützt, weil es politische Indifferenz zulässt. Trotz der aggressiven Rhetorik der nationalsozialistischen Ideologie, die den radikalen Neuanfang und Bruch mit dem alten bürgerlichen Werte - und Gesellschaftssystem herausstellte, konnte die Mehrheit der Deutschen so weiterleben wie zuvor. Ihnen wurde nicht zugemutet, sich selbst in einer Weise zu verändern oder auf neue Aufgaben und Erfahrungen einzulassen, die sie persönlich überfordert und deshalb frustriert hätte. Die ihnen abverlangten äußeren Anpassungsleistungen konnten sie erbringen, ohne 31

Vgl. Heinrich Wilhelm Kranz, Die Gemeinschaftsunfähigen, Gießen 1940.

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zu politischen Aktivisten werden zu müssen. Diejenigen wiederum, die im Nationalsozialismus neue Karrierewege einschlugen, konnten davon ausgehen, dass sie ihre klein - , bildungs - , spießbürgerlich oder wie auch immer strukturierte Mentalität beibehalten konnten. Vor allem aber wurde ihnen auf Grund ihrer Loyalität zum Nationalsozialismus zugestanden, auch weiterhin ihre persönlichen Interessen zu verfolgen. Die Politik der Gleichschaltung ist eindringlich von Wilhelm Stapel beschrieben worden : Der nationalsozialistische Staat greift „ohne Hemmung in alle privaten Verhältnisse ein und nimmt alles Leben in seinen Dienst : Wirtschaft, Beruf, Familie, Vereine. Die Wirtschaft wird staatlich ausgerichtet, die Berufswahl wird staatlich beeinflusst, die Familie wird von Staats wegen der Rassenhygiene unterworfen, und die Vereine werden gleichgeschaltet“.32 Die nationalsozialistische Bewegung begnügte sich nicht mit der Eroberung der politischen Macht, sondern nutzte die bereits vorhandenen Strukturen der Bewegung zum Aufbau eines komplexen Repressions - und Überwachungsapparates, der die Gleichschaltung des öffentlichen Lebens koordinierte. Dabei verstand es das nationalsozialistische System, seine repressive Politik als notwendige Maßnahmen zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung erscheinen zu lassen, die für sich loyal verhaltende Deutsche Vorteile mit sich bringen und selbst ehemalige politische Gegner für den Nationalsozialismus gewinnen würde. So gingen die Gleichschaltung der Gewerkschaften und die Zerschlagung der Arbeiterbewegung und ihrer Parteien einher mit der Erklärung des 1. Mai zum Tag der Arbeit, einem nationalen Feiertag, wodurch eine alte Forderung der Arbeiterbewegung eingelöst wurde. Die ideologische Gleichschaltung der deutschen Arbeiterbewegung und insbesondere der Gewerkschaften zur „Deutschen Arbeitsfront“ erklärte den proletarischen Internationalismus als Vaterlandsverrat der ehemals marxistisch indoktrinierten deutschen Arbeiter für obsolet. Das nationalsozialistische Konzept nationaler Versöhnung nahm ihnen das Stigma, als vaterlandslose Gesellen zum Patriotismus als unbedingter Verpflichtung auf Nation und Vaterland weder willens noch in der Lage zu sein.33 Deutschen Unternehmern blieben tarifliche und andere Auseinandersetzungen mit den Arbeitern erspart. Unabhängige Gewerkschaften gehörten nun der Vergangenheit der Weimarer Republik an. Streiks waren als Angriff auf die Politik nationaler Einheit faktisch ausgeschlossen. Wer nach der politischen Gleichschaltung von Freizeit - und Hobbyverbänden nun Mitglied eines nationalsozialistischen Garten - , Kaninchenzüchter - oder Sportvereins war, konnte weiter seinem Hobby nachgehen, wenn auch nun mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne jüdische Mitglieder und im Rahmen national32 Wilhelm Stapel, Die Kirche Christi und der Staat Hitlers, Hamburg 1933, S. 14. 33 Aus nationalsozialistischer Sicht vgl. Claus Selzner, Die Deutsche Arbeitsfront, Berlin 1935; zum Stand der Forschung vgl. Jan - Frederik Korf, Von der Konsumgenossenschaftsbewegung zum Gemeinschaftswerk der Deutschen Arbeitsfront. Zwischen Gleichschaltung, Widerstand und Anpassung an die Diktatur, Hamburg 2008.

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sozialistischer Vereinspolitik. Nur die wenigsten stießen sich an diesen veränderten politischen Rahmenbedingungen oder nahmen diese Restriktionen zum Anlass, diese Vereine nun ihrerseits zu verlassen, zumal ihre Gleichschaltung durchaus mit einem Aufschwung des Vereinslebens einhergehen konnte.34 Opportunismus und Fanatismus, Gleichgültigkeit den Glaubensinhalten der Ideologie gegenüber und ihre quasireligiöse Übernahme als absolute Wahrheiten standen im Nationalsozialismus nebeneinander. Diese Zulassung eines ganzen Spektrums von Haltungen, Gründen und Äußerungen politischer Loyalität war ein Element seiner politischen Stabilität. Der martialischen Rhetorik, mit der die nationalsozialistische Rassenideologie vorgetragen wurde, stand die Akzeptanz konformistischer Anpassung gegenüber, die auf ideologische Indoktrinierung verzichtete. Menschen, die dem nationalsozialistischen System nicht von vornherein kritisch, skeptisch oder ablehnend gegenüber standen, verhielten sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin genau so, wie es von ihnen erwartet wurde. Moralische Bedenken hatten sie dabei in der Regel nicht. Vielmehr unterstellten sie, dass es weder moralisch noch unmoralisch, sondern einfach vernünftig und eine Frage des gesunden Menschenverstandes sei, sich konform zu verhalten. Wer riskierte schon persönliche Nachteile oder sogar politische Verfolgung, ohne dafür in eigenen politischen Überzeugungen, religiösem Glauben oder moralischen Haltungen liegende Gründe zu haben ? Diejenigen, die in ihrem Lebensalltag ohne solche Gründe auskamen, bewerteten gesellschaftliche Umbrüche vor allem danach, auf welche Weise ihr Alltag von ihnen tangiert wurde. Solange ihnen hier keine radikalen Veränderungen abverlangt wurden, ging die Rhetorik des radikalen Umbruchs an ihnen vorbei. An ihren Lebensgewohnheiten auch in turbulenten Zeiten festhalten zu können, stärkte ihre Bindung an das politische System. Ihre vermeintlich unpolitische Haltung wurde als Loyalität zum nationalsozialistischen System gewertet und durch einen ideologischen Referenzrahmen als politische Haltung im Sinne des Nationalsozialismus legitimiert. An ihnen bewahrheitete sich, dass Indifferenz gegenüber den Ideen und Werten eines ideokratischen Systems und Loyalität gegenüber diesem System sich nicht ausschließen. Gleichgültigkeit gegenüber den ideologischen Begründungen von Politik lässt nicht automatisch auf politische Indifferenz schließen. Ideokratien können auch auf einer stillschweigenden Vereinbarung zwischen den Funktionsträgern des Systems und Teilen der Bevölkerung beruhen, solche Begründungen nicht zu ernst zu nehmen, sondern ein politisches System vor allem nach seinen Auswirkungen für ihr Leben zu beurteilen. Versprochen und auch eingelöst wurden Veränderungen zum Besseren, die auf Kosten derjenigen gingen, die als politische oder rassische Gegner die repressive Härte des Systems zu spüren bekamen. Ehemals von Juden bewohnte Häuser oder besetzte berufliche Positionen konnten nicht vergeben werden, 34 Zur Gleichschaltung vgl. Cornelia Schmitz - Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 2007, S. 277–280.

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bevor diese Juden nicht aus ihnen vertrieben waren. Die nichtjüdischen Deutschen, die bereitwillig in ehemals jüdische Wohnungen zogen oder durch die Vertreibung und Entlassung jüdischer Kollegen frei gewordenen Positionen besetzten, waren sich dieses Zusammenhangs in aller Regel bewusst.35 Nur wenige versäumten es, sich bietende Vorteile wahrzunehmen. Solange sie selbst nicht an der Vertreibung der Juden beteiligt waren, konnten sie mit dem guten Gewissen agieren, eine ohne ihr Zutun entstandene Situation lediglich zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Dabei konnten sie davon ausgehen, dass ihre Weigerung, persönlich Vorteil aus der Misere ihrer jüdischen Nachbarn oder Kollegen oder auch ihnen unbekannter Juden zu ziehen, nichts an deren Situation geändert hätte. Ebenso sicher konnten sie sein, dass sich im Falle ihrer Weigerung sofort Andere, mit weniger moralischen Skrupeln Behaftete finden würden, die sich eine solche willkommene Gelegenheit persönlicher Vorteilsnahme nicht entgehen ließen. Im Selbstverständnis, Entwicklungen nicht selbst initiiert zu haben, die also ohne ihr Zutun Möglichkeiten zur Verbesserung der eigenen Lebenssituation eröffneten, waren sie bereit, solche Gelegenheiten auch zu nutzen. Moralische Bedenken oder ein Unrechtsbewusstsein hatten sie dabei nicht.36 Muss Gefolgschaft erkauft werden, da sie ohne Gegenleistung nicht zustande kommt ? Für politisch indifferente Opportunisten ist das sicher der Fall. Im Zweifelsfall entscheiden sie sich immer für die Variante, die ihnen den größtmöglichen Vorteil und das geringste persönliche Risiko verspricht und die es ihnen zugleich erlaubt, ihr eigenes Leben möglichst unverändert in den gewohnten Bahnen verlaufen lassen. Für diejenigen, die das nationalsozialistische System aus Überzeugung für die Ideen und Werte, die es vertrat, unterstützten, galt das nicht. Die politische Identität von Ideokratien wird durch die von ihnen verkörperten Ideen und Werte definiert. Zumindest in ihrem Selbstverständnis rekrutiert sich Gefolgschaft nicht aus Menschen, die das System nur deshalb unterstützen, weil sie sich davon persönliche Vorteile versprechen. Vielmehr suchen sie Menschen für die eigene politische Ideologie und Bewegung zu gewinnen, die diese aus für sie selbst plausiblen ideellen Gründen unterstützen. Gerade weil politische Gefolgschaft Vorteile verspricht, soll sichergestellt werden, dass sie nicht um dieser Vorteile willen gesucht wird. Gefolgschaft aus innerer Überzeugung im Sinne vorbehaltloser Zustimmung zu einem politischen System lässt sich nicht erzwingen. Sie kann zwar durch die Erwartung materieller und immaterieller Vorteile unterstützt werden, die solche Überzeugungen auf Dauer aber nicht ersetzen können. Die Korruption inhaltlicher Bedenken durch Bestechung oder ihre Unterdrückung durch die Androhung von Sanktionen im Falle ihrer expliziten Äußerung oder Kritik des

35 Vgl. Wolfgang Dreßen ( Hg.), Betrifft : Aktion 3. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung, Berlin 1998. 36 Vgl. Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst“. Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006.

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politischen Systems führt lediglich dazu, dass Dissens zum inneren Vorbehalt neutralisiert wird. In einer ganz anderen historischen Konstellation hatte Kant 1784 in seiner Schrift „Was ist Aufklärung ?“ dafür plädiert, eine solche Haltung innerer Distanz als ungefährlich für ein politisches System zu tolerieren. Kant hatte es als „Pflicht eines Bürgers“ beschrieben, „von Amts“ wegen so zu handeln, wie es dieses Amt vorschreibt. Zugleich sollte Menschen jedoch alle Freiheit der Kritik und der Äußerung „abweichender Urteile und Einsichten“37 gelassen werden, damit sie ihre Dienstpflichten guten Gewissens erfüllen konnten. Kants Quintessenz kann als Paradigma eines systemkonformen Handelns mit innerem Vorbehalt im Rahmen einer definierten Rolle gesehen werden. Knapp und prägnant heißt es bei ihm : „Räsoniert so viel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht.“38 So weit ging die Toleranz der nationalsozialistischen Ideokratie nicht, dass sie die Deutschen zum systemkritischen Räsonieren, etwa zu einer von der nationalsozialistischen Ideologie abweichenden Sicht ihrer Rassen - und Judenpolitik ermutigt hätte. Stattdessen findet sich insbesondere in den Kriegsjahren eine der Kant’schen Differenzierung vergleichbare Unterscheidung zwischen defätistischer Kritik des nationalsozialistischen Systems, die rücksichtslos bekämpft und unterbunden werden müsse, und einer angesichts der Härten des Kriegsalltags verständlichen und auch in ihren emotionalen Übertreibungen verzeihlichen Besorgnis „aufrechter“ Nationalsozialisten, die bei aller Kritik an einzelnen Elementen der Politik nie am Endsieg oder der Sinnhaftigkeit der nationalsozialistischen Weltanschauung und der Berechtigung der Rassenpolitik zweifelten. Der totale Krieg fordere ein Leben in Anspannung und Härte. Er zwinge den Menschen Einschränkungen, Entbehrungen und Opfer auf und habe wenig Freude zu bieten. Einem solchen Leben seien nicht alle gleichermaßen gewachsen. Schließlich bestehe das deutsche Volk nicht nur aus Helden. Auch in ihm gebe es Schwache, Böswillige und Feige, aber auch seelisch, geistig oder körperlich weniger Robuste, die den Anforderungen des Alltags im Kriege nur mühsam standhielten, und die es deshalb zu stützen und vor dem Zusammenbruch zu bewahren gelte. Gerade im Krieg fordere das nationalsozialistische Prinzip „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, die Unterordnung des einzelnen unter die Gemeinschaft, die Einschränkung individueller Freiheiten und den Verzicht auf eigennützige Gewohnheiten.39 Im deutschen Volk noch immer existierende Ressentiments könnten, genährt durch feindliche Propaganda, defätistische Fragen wie die folgenden aufkommen lassen : „Ist nicht der Nationalsozialismus an allem schuld ? Hat es nicht schon lange vor dem Kriege begonnen mit den 37 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage : Was ist Aufklärung ? In : ders., Werkausgabe XI, Frankfurt a. M. 1991, S. 51–61, hier 60. 38 Ebd., S. 61. 39 Vgl. z. B. Emil Abderhalden, Gemeinnutz geht vor Eigennutz. In : Ethik, 12 (1935) September / Oktober, S. 1–12.

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Einschränkungen, mit den Einengungen des persönlichen Lebens ? Mit der Beschneidung der Freiheit ?“40 Eine solche Kritik zersetze die Moral und Wehrkraft des deutschen Volkes. Dieser landesverräterische Defätismus nähre die individualistischen Instinkte der Menschen und untergrabe die Widerstandskraft der Gemeinschaft. Unverbesserliche Pessimisten, Defätisten und diejenigen, die verantwortungslos Gerüchte aller Art verbreiteten, konnten nicht mit Verständnis und Milde rechnen. Zitiert wird aus dem Brief eines Soldaten, dem im Fronturlaub diese unverbesserlichen Zeitgenossen begegnet seien, und der zu Recht darauf bestehe, dass denen gegenüber, die aus „charakterlicher Minderwertigkeit“ noch immer Gegner des nationalsozialistischen Deutschland seien, jede Rücksicht verfehlt sei. Hier gebe es „kein Überzeugen mehr, sondern nur noch ein Unschädlichmachen, und das rücksichtslos, mit unerbittlicher Folgerichtigkeit“.41 Der nicht namentlich genannte Autor begegnet dieser defätistischen Haltung mit der Beschwörung des auch in schwerer Schicksalsstunde unverrückbaren Ziels : der Verteidigung der Festung Deutschland, die allein deutsches Leben möglich halte.42 Während die Kritik am Nationalsozialismus sehr konkret referiert wird, bleibt die Erwiderung vage. Herausgestellt wird zwar das nicht zur Disposition stehende Ziel, das nun jedoch nicht mehr Gewinnung von Lebensraum und Eroberung lautet, sondern ernüchtert durch die Wende des Krieges gegen Deutschland lediglich die immer noch mögliche Abwendung der Kriegsniederlage beschwört. Schon dieses Minimalziel, so legt die Rhetorik des Autors nahe, werde schwer genug zu erreichen sein. Die nationalsozialistische Führung rechnete mit moralischen Bedenken ihrer Anhänger gegenüber dem ihnen abverlangten Handeln. Ohne näher darauf einzugehen, was solche Bedenken hervorrufen könnte, wurden als problematisch oder moralisch bedenklich empfundene Handlungen häufig im Vagen belassen und solche Bedenken als nachvollziehbar akzeptiert. Appelliert wurde stattdessen an Bedenkenträger, Vertrauen in die moralische Urteilskraft der Führung zu haben, auch wenn deren Entscheidungen zunächst nicht nachvollziehbar sein sollten. Zugestanden wird den Zweiflern die Ernsthaftigkeit ihres Bemühens, verstehen zu wollen, welche in der Tat historisch einzigartigen Haltungen und Handlungen ihnen abverlangt würden. „Dann und wann wird jeder Nationalsozialist einmal Gewissensbisse dem gegenüber haben, was ihm die Führung zumutet. Ganz abgesehen davon, dass ein guter Parteigenosse diese Bedenken an zuständiger Stelle zu äußern weiß, müssen wir aber auch wieder das Vertrauen aufbringen, dass das Zugemutete nichts Unwürdiges sein kann.“43 Das eingeforderte unbedingte Vertrauen in die Führung sollte die Urteilsfähigkeit der einfachen Parteimitglieder nicht ersetzen, sondern vorbereiten : „Nicht urteilslos sollen wir durch die Gegenwart

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Das unverrückbare Ziel. In : Das Schwarze Korps, 10 (1944) 39, S. 5. Ebd. Vgl. ebd. Martin Staemmler, Rassenpflege im völkischen Staat, München 1937, S. 40 f.

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wandeln, sondern urteilsklar.“44 Angesichts möglicher Zweifel an der moralischen Berechtigung des von ihnen erwarteten Handelns wird ein Vertrauensvorschuss in die überlegene moralische Urteilskraft der Führung eingefordert, der durch die Ausbildung eigener moralischer Urteilsfähigkeit sich im Nachhinein als gerechtfertigt erweisen werde.

IV.

Kooptation durch Konditionierung : Strategien der Gewinnung politisch indifferenter Deutscher

Politisch indifferente Deutsche wurden nicht dazu gezwungen, sich inhaltlich mit nationalsozialistischer Ideologie und Politik auseinanderzusetzen. Versuche, sie für den Nationalsozialismus zu gewinnen, verwiesen vielmehr auf die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, die sie mit dem Nationalsozialismus assoziieren sollten. Zugleich sollten sie sich auf die Atmosphäre des politischen Umbruchs einlassen und diesen als Gelegenheit sehen, Positionen einzunehmen und Vorteile wahrzunehmen, die sich ihnen als Angehörige der nordischen Rasse eröffneten. Gerade dann, wenn sie persönlich über keine herausragenden Fähigkeiten verfügten, war ihre rassenideologische Aufwertung per Zugehörigkeit für sie attraktiv. Von ihnen wurden dabei keine Leistungen erwartet, die sie persönlich überfordert hätten. Dadurch hatten auch diejenigen eine Chance zu persönlicher Profilierung, die weder zu Handeln aus eigener Initiative fähig noch als Führer tauglich waren. Herausforderungen, denen sie nicht gewachsen waren, blieben ihnen so erspart. Auch durchschnittlich fähige, nur mäßig ambitionierte Menschen wurden so von der nationalsozialistischen Bewegung angesprochen. Ihnen wurde zugestanden, trotz der ideologischen Rhetorik von Opferbereitschaft und Priorität der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen auch weiter vor allem ihre eigenen Interessen und die ihrer Angehörigen zu verfolgen. Verlangt wurde von ihnen lediglich, die nationalsozialistische Weltanschauung anzuerkennen und sich rassenpolitisch korrekt zu verhalten. Im Jargon der Zeit hieß das, „ihr Bestes“ für das Wohl des Volkes „zu geben“, sich „artgemäß zu verhalten“ und die Rassengesetze zu befolgen.45 Zunächst genügte die diffuse Bereitschaft, sich entsprechend ihrer Möglichkeiten als „gute Deutsche“ zu verhalten. Ihrem Bekenntnis sollten jedoch auch Taten folgen. Von ihnen wurde u. a. erwartet : – die Juden als Angehörige einer minderwertigen, zugleich jedoch für die rassische Gesundheit des deutschen Volkes gefährlichen, Rasse zu sehen und entsprechend zu behandeln; – der Charakterisierung von Menschen, die wegen nicht - therapiefähiger Krankheiten und Erbdefekte aus eigener Kraft nicht lebensfähig waren, als 44 Ebd., S. 39. 45 Vgl. Walter Gross, Grundfragen nationalsozialistischer Rassen - und Bevölkerungspolitik. In : Nationalsozialistische Monatshefte, (1941) 137, S. 656 f.

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nicht lebenswertes Leben zuzustimmen und ihre gezielte Tötung als „Erlösungseuthanasie“ zu akzeptieren; – ihre Lebenspartner in „rassenbewusster Gattenwahl“46 zu wählen und für die deutsche Volksgemeinschaft möglichst viele gesunde Kinder zu zeugen und im Sinne des Nationalsozialismus zu erziehen. Durch die Praktizierung von Rassenethik und - religion sollten die Deutschen zum „neue[ n ] Mensch aus deutschem Artgesetz“47 konditioniert werden. Von ihnen wurde gefordert, sich persönlich an der Verwirklichung einer ideologischen Moral durch die Umsetzung der Rassenpolitik zu beteiligen. Ihre Kooptation in das nationalsozialistische Herrschaftssystem wurde durch ihre Rekrutierung als Mittäter bei der Durchführung der Rassenpolitik betrieben, die repressiv durch die Androhung von Nachteilen im Falle ihrer Verweigerung erzwungen werden konnte, strategisch jedoch auf die Habitualisierung konformen Verhaltens durch die Ausbildung eines Rasseninstinkts zielte.48 Die nationalsozialistische Ideologie beschwor Ideale, von denen sie behauptete, dass sie den Einsatz des Lebens lohnten. Appelliert wurde an die Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft der Deutschen. Gefordert wurde ihre bedingungslose Hingabe an Führer und Volk.49 Solche und ähnliche Pathosformeln sollten den Deutschen das Gefühl geben, in einer Zeit zu leben, die ihnen zwar alles abverlangte, wenn sie dem von ihr gesetzten hohen Maßstab genügen wollten, die ihnen aber auch einzigartige Möglichkeiten persönlicher Profilierung und Entwicklung bot. Ob und in welcher lebensgeschichtlichen Dramatik sie in Situationen gerieten, in denen sie sich rassenbewusst verhalten sollten, hing auch von den Umständen und ihrer Entscheidung ab, solche Gelegenheiten persönlicher rassenpolitischer Bewährung zu suchen oder eher zu meiden. Angehörige der nordischen Rasse sollen durch „Einsatz, Kampf und Hingabe der Person“50 beweisen, dass sie auch persönlich auf der Höhe der ihnen durch ihre Rassezugehörigkeit eröffneten Möglichkeiten stehen. Wäre ihr Verhalten bereits durch ihre Zugehörigkeit zur nordischen Rasse bestimmt, könnten sie weder Verantwortung auf sich nehmen noch schuldig werden. Sie könnten sich weder an der ihnen durch ihre Rassenzugehörigkeit auferlegten Verpflichtung bewähren noch an ihr versagen. Eine ausschließlich biologische Lehre vom Menschen ließe keinen Raum für menschliches Handeln in der moralischen Bewährung. Werte, Ideale und Überzeugungen seien Menschen zwar als erbbiologische Dispositionen angeboren, müssten sich jedoch durch bewusste

46 Vgl. Welcher Partner passt zu mir ? In : Das Schwarze Korps, 10 (1944) 23, S. 4. 47 Sophie Rogge - Börner, Der neue Mensch aus deutschem Artgesetz, Berlin 1935. 48 Vgl. z. B. Karl Zimmermann, Biologie und Rasse. In : Weltkampf, (1936) 148, S. 145– 159, hier 148. 49 Vgl. z. B. Erwin Guido Kolbenheyer, Der Einzelne und die Gemeinschaft, München 1939. 50 Kurt Leese, Rasse – Religion – Ethos, Gotha 1934, S. 16.

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Anstrengung zu angemessenem Verhalten erst zu entsprechenden individuellen Haltungen entwickeln, um ihre rassenbiologische Disposition zum neuen Menschen als Träger einer höheren Rassenmoral auch auszubilden. Nur im Zusammenspiel von erbbiologischer Auslese und politischer Bewährung würden rassisch hochwertige, politisch verlässliche „Parteigenossen und politische Leiter“ geformt. „Mit den Feststellungen über die erbbiologische Beschaffenheit einer Person sind noch keine über ihre politische Bewährung getroffen. Es ist durchaus denkbar, dass ein Mensch, der aus einer erbgesunden Sippe stammt, trotzdem nicht politisch einwandfrei ist.“51 Ob sich die rassenbiologische Disposition als persönliche Eignung beweisen oder aber durch individuelles Versagen erledigen würde, musste der Ausgang der Bewährungssituation im rassenpolitischen Kampf entscheiden. Diese im Wissen um die Hochwertigkeit der eigenen Erbanlagen gegründete Haltung, die Herausforderung und Bewährung der eigenen Fähigkeiten selbstbewusst zu suchen, anstatt ihr, traumatisiert durch die Möglichkeit des Scheiterns auszuweichen, wurde als charakterliche Disposition der nordischen Rasse herausgestellt. Der Deutsche hoffe nicht auf Erlösung, sondern nehme sein Schicksal selbst in die Hand. Gegen die christliche Angst, der Mensch sei nicht in der Lage, Versuchungen zu widerstehen, fordere der Deutsche seinen Gott ausdrücklich dazu auf : „‚Und führe uns in Versuchung !‘ – damit wir auch die Möglichkeit zur Bewährung haben.“52 Eben weil er sich in Übereinstimmung mit seinem Schicksal wisse, könne er es selbstbewusst herausfordern in der Gewissheit, sich an dem zu bewähren, was es für ihn an Herausforderungen bereit halte. Er ist sich sicher, jeder Versuchung zu widerstehen, seine rassenbewusste Haltung zugunsten rassenindifferenter vermeintlicher Freiheit aufzugeben. Deshalb sucht er nach Gelegenheiten, seine moralische Stärke und Verlässlichkeit nachzuweisen. Die einfache Übernahme durch die Umstände als vernünftig nahe gelegter Optionen wird hier als verschenkte Gelegenheit rassischer Charakterbildung zurückgewiesen. Gesucht wird nach Möglichkeiten, die Entscheidung für den Nationalsozialismus und seine Rassenpolitik aus opportunistischen Gründen von einer Entscheidung abzugrenzen, die Menschen in einer moralisch problematischen Situation treffen müssen. Erst in einer solchen Situation, in der sich eine weltanschaulich grundsätzliche Haltung im Konflikt auch anders möglicher Entscheidungen bewähren muss, zeige sich, was die Behauptung unbedingter nationalsozialistischer Gefolgschaft wert sei. Wer aus Angst vor Versagen Situationen meide, in denen er der Versuchung ausgesetzt sei, inneren Vorbehalten und Bedenken gegenüber dem ihm abverlangten Handeln im 51

Aus einer Stellungnahme des „Rassenpolitischen Amtes der NSDAP“ zum Problem der erbbiologischen Auslese in ihrem Verhältnis zur Frage der politischen Bewährung vom 19. 5.1942, zit. nach Leon Poliakov / Josef Wulf, Das Dritte Reich und seine Denker, Berlin ( West ) 1959, S. 67. 52 Gerhard Stoedtner, Soldaten des Alltags. Ein Beitrag zur Überwindung des bürgerlichen Menschen, Leipzig 1939, S. 27.

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Sinne nationalsozialistischer Rassepolitik nachzugeben, bleibe ein unsicherer Kandidat. Nur wer solche Gelegenheiten weltanschaulicher und moralischer Bewährung in der Gewissheit suche, sich in ihnen auszuzeichnen und dadurch seine rassenethische Charakterbildung zum biologischen Soldaten im Rassenkrieg gezielt voranzutreiben, empfehle sich damit als Aktivist der nationalsozialistischen Bewegung, der sein Schicksal auf Gedeih und Verderb mit ihr verbinde. Wer nur des eigenen Vorteils wegen ein ideokratisches System unterstützt, ignoriert damit dessen normativen Identitätskern als irrelevant für die eigene Entscheidung. Opportunisten bleiben für Ideokratien unsichere Kandidaten. Gerade dann, wenn das politische Regime in besonderem Maße auf Unterstützung angewiesen ist, also in Zeiten der Krise und Gefährdung seiner Existenz, kann es mit dem politisch indifferenten Teil der Bevölkerung nicht mehr rechnen. In solchen Zeiten werden die opportunistischen Gründe der Unterstützung des politischen Systems hinfällig : Die Vorteile und Belohnungen, die es seinen Anhängern in besseren Zeiten zu bieten hatte, stehen dann nur noch eingeschränkt zur Verfügung. Für Opportunisten ist es jetzt an der Zeit, sich neu zu orientieren. Am Horizont der möglichen Niederlage des politischen Systems drohen schon die Nachteile und Strafen für alle, die von seinen Gegnern – den künftigen Siegern – als dessen Unterstützer und Anhänger wahrgenommen werden. Ein im Niedergang begriffenes, seinem absehbaren Ende entgegen gehendes System droht, mit in den Abgrund zu reißen, wer es dennoch weiter unterstützt. Zu dieser existentiellen Loyalität zum Nationalsozialismus waren nur die wenigsten Deutschen bereit. Das erklärt, weshalb nach seinem Ende die geistige Umorientierung der Deutschen von der nationalsozialistischen zur realsozialistischen Ideokratie, aber auch von der Ideokratie zur Demokratie so reibungslos und unspektakulär verlief. Eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, insbesondere aber mit den symbiotischen Verbindungen von persönlicher Biographie und nationalsozialistischer Politik, blieb den meisten Deutschen erspart. Tatsächlich folgte die Mehrheit der Deutschen dem Nationalsozialismus nicht aus Angst vor Terror und Repressionen, sondern in der Annahme der Rechtmäßigkeit und moralischen Unbedenklichkeit seiner Politik. An einer solchen Diagnose, die entsprechenden Handlungsbedarf signalisiert hätte, waren im Nachkriegsdeutschland des beginnenden Kalten Krieges weder die westlichen Alliierten noch die Sowjetunion bzw. die im Einflussbereich der Besatzungsmächte verbleibenden beiden deutschen Staaten interessiert. Ihnen ging es nach der militärischen Zerschlagung des Nationalsozialismus und der Normalisierung des Lebens, nach politischer Säuberung und Entnazifizierung53 vor allem um die Kooptation verlässlicher deutscher Bündnispartner für den Kalten Krieg. Diese ideologische Kehrtwende stellte zugleich die traditionelle Frontstellung wieder 53 Vgl. Clemens Vollnhals ( Hg.), Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945–1949, München 1996.

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her, in der sich kapitalistische, liberal - demokratische Staaten und die kommunistische Sowjetunion, die sich im Ergebnis des zweiten Weltkrieges zum Ostblock erweitert hatte, unversöhnlich gegenüber standen. Aus Verbündeten im Kampf gegen den Nationalsozialismus wurden wieder weltanschaulich - politische Gegner, während gleichzeitig der ehemalige Gegner als Verbündeter gewonnen werden musste. In den westlichen Besatzungszonen wie in der sowjetischen Besatzungszone kamen jene politischen Kräfte zum Zug, die in Übereinstimmung mit ihrer politischen Ideologie deren Absicht unterstützen, ihr politisches System auf den in ihrem Einflussbereich liegenden Teil Deutschlands zu übertragen. Im Versuch, das Legitimationspotential des demokratischen bzw. antifaschistischen Neubeginns zu nutzen, wurden den entsprechenden Bemühungen des jeweils anderen deutschen Staates, sich im radikalen Bruch mit dem Nationalsozialismus als das neue, demokratische Deutschland zu präsentieren, die Berechtigung abgesprochen. Zugleich warfen sich beide gegenseitig die Repression kritischer politischer Parteien und Gruppierungen vor, jener politischer Gruppen also, die im eigenen politischen System mit Unterstützung der Alliierten an die Macht gekommen waren, im anderen deutschen Staat dagegen, der die entgegen gesetzte Ideologie vertrat, als politisch abweichend oder gegnerisch unterdrückt wurden. Der politisch indifferenten systemkonformen Mehrheit, die das nationalsozialistische System getragen hatte, wurde zugestanden, sich mit eben dieser Haltung auch dem neuen System als loyale Bürger zu empfehlen. Dass sich das politische System geändert hatte, das nun um ihre Loyalität warb, hieß nicht, dass sie sich selbst ändern mussten. Ihnen wurde lediglich abverlangt, diese politischen Veränderungen in ihrer Rhetorik zu berücksichtigen, also Rassismus und Antisemitismus aus ihrem politischen Vokabular zu streichen und sich nicht mehr zustimmend auf den Nationalsozialismus, seine Politik, seine Ideologie und seine Führer zu beziehen.

V.

Politische Indifferenz und Gefolgschaft aus Überzeugung : Zum Zusammenspiel von Kooptation, Legitimation und Repression in der nationalsozialistischen Ideokratie

Die nationalsozialistische Weltanschauung war kein homogenes Gebilde, das von einer ideologischen Zentralinstanz formuliert und dann durch Multiplikatoren der Partei von oben nach unten durchgestellt wurde, um auf diese Weise die politische Gleichschaltung des öffentlichen Lebens zu sichern. Mit der Formel vom „weltanschaulichen Entscheidungskampf“ und einer assoziationsreichen politischen Metaphorik mit bewusst unscharf gehaltenen Konturen sprach die nationalsozialistische Ideologie sehr unterschiedliche Schichten an. Das ermöglichte es diesen, jeweils andere Bausteine der in sich widersprüchlichen und heterogenen Programmatik des Nationalsozialismus als die für sie entschei-

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denden herauszunehmen und zu akzentuieren. Das, was sich als Ganzes einer stimmigen programmatischen Logik nicht fügen wollte, konnte, aufgelöst in seine Bestandteile, nebeneinander bestehen. „Was sich auf der Ebene der Ideologie nicht präzisierte, veranschaulichte und erfüllte sich in der Praxis der Bewegung, die Sinnerfüllung, Zielsicherheit, Geborgenheit und Raum zur Artikulation von Aggressivität bot. Das Endziel der Bewegung blieb vage und gerade deshalb unbezweifelbar.“54 Die nationalsozialistische Bewegung schaffte es, die Pattsituation konkurrierender Parteien im Inneren zu beenden und die nationale Einheit durch politische Gleichschaltung zu institutionalisieren. Sie war überzeugend sowohl gegenüber Geldgebern aus Industrie und Finanzen, denen sie die Pazifizierung der Arbeiter - und Gewerkschaftsbewegung versprach, als auch gegenüber den sozialen Schichten, die ihre Hoffnungen auf einen Ausweg aus der Krise und eine Besserung ihrer sozialen Situation in der Programmatik der nationalsozialistischen Bewegung gespiegelt sahen.55 Das Zusammenspiel von Kritik und Vereinnahmung des bürgerlich - christlichen Humanismus bei der Begründung einer nationalsozialistischen Moral und Ethik kann als exemplarisches Beispiel der Wechselbeziehung von Legitimation, Repression und Kooptation im Nationalsozialismus gesehen werden. Zum einen vollzog der Nationalsozialismus einen radikalen Bruch mit dem bürgerlichen Humanismus egalitärer Bürger - und Menschenrechte und dem christlichen Konzept der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen. Zum anderen suchte er seine Legitimität dadurch nachzuweisen, dass er sich selbst als Glaubensformation eines neuen Humanismus ideologisch zu profilieren versuchte. Als rassischer Humanismus und Religion der Rasse versprach er die Befreiung des Humanismus von ihm wesensfremden Elementen. Dadurch sollten bürgerlich christlich sozialisierte Deutsche gewonnen werden, denen angeboten wurde, ihren rassenindifferenten durch einen rassenbewussten Humanismus zu ersetzen. Dabei funktionierte die Rassenideologie als Zuschreibung der Zugehörigkeit zur hochwertigen nordischen Rasse als Kooptationsangebot, das nichtjüdische Deutsche durch die Akzeptanz der rassenideologischen Differenzierung der Gesellschaft und den persönlichen Nachweis entsprechender Haltungen und Handlungsbereitschaft im Sinne nationalsozialistischer Rassentheorie wahrnehmen konnten. Das in der nationalsozialistischen Gesellschaft vorherrschende Verhaltensmuster war Opportunismus und Indifferenz. Die Mehrheit der Deutschen nahm bereitwillig die Vorteile wahr, die ihnen ihre Loyalität gegenüber dem Nationalsozialismus brachte, ohne deshalb zwingend überzeugte Anhänger der nationalsozialistischen Weltanschauung zu sein. Diese Indifferenz hinderte sie nicht daran, sich ihnen bietende Gelegenheiten zu beruflichem Aufstieg auch dann zu nutzen, wenn diese direkt an Ausgrenzung und Berufsverbot für jüdi54 Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 46. 55 Zum Forschungsstand vgl. Michael Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2007.

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sche Kollegen gebunden waren. Sie gaben ihr Bestes zur Erfüllung der ihnen gestellten Aufgaben, ohne deren Berechtigung infrage zu stellen, aber auch ohne sich inhaltlich mit ihnen zu identifizieren.56 Das nationalsozialistische System war bereit, ein ganzes Spektrum möglicher Gründe, Haltungen und Verhaltensweisen als Zeichen der Loyalität zum Nationalsozialismus zu akzeptieren. An politische Aktivisten und Führer wurden andere Anforderungen gestellt als an durchschnittliche Deutsche ohne besondere politische Interessen und Ambitionen oder weltanschauliche Bildung. Nationalsozialistische Ideologen waren sich der Gefahren ideologischer Indifferenz bewusst. Sie waren jedoch realistisch genug, sie als legitime Variante der Kooptation unpolitischer Deutscher zuzulassen. Zugleich nutzten sie Gewalt und Terror gegen Juden und politische Gegner des Nationalsozialismus auch dazu, Unentschiedene einzuschüchtern. In seiner Haltung zu politischer Indifferenz kombinierte das nationalsozialistische System auf effektive Weise Kooptation, Repression und Legitimation : Zum einen wurden den politisch Indifferenten die Risiken einer politischen Wendung gegen das System vorgeführt, wodurch sie in ihrer abwartenden Haltung bestärkt wurden. Zum anderen wurden sie in einer Weise zur Unterstützung des nationalsozialistischen Systems aufgefordert, die eben jene Gründe berücksichtigte, die sie zu ihrer Haltung politischer Indifferenz geführt hatten. Ihnen wurde zugesichert, dass sich Loyalität gegenüber dem System für sie auszahlen würde. Auf sie wurde die Maxime angewandt „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns.“ Noch bevor sie sich selbst eventuell zu einer Entscheidung für den Nationalsozialismus durchgerungen hatten, wurde ihnen diese Entscheidung abgenommen. Sie wurden bereits als loyale Unterstützer des nationalsozialistischen Systems angesprochen, ohne dass sie sich selbst politisch in Richtung des Nationalsozialismus bewegt hätten. Um sich ihrer politischen Vereinnahmung zu entziehen, hätten sie diese aktiv verweigern müssen. Solange sie passiv und indifferent blieben, gehörten sie dazu. Zugleich konnten sie sicher sein, sich mit ihrer Unterstützung nationalsozialistischer Rassenpolitik im Rahmen geltender Gesetze und rassenethischer Normen zu bewegen.

56 „Das Beunruhigende an der Person Eichmann war doch gerade, dass er wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind.“ Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986, S. 326.

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Legitimation, Kooptation und Repression in der DDR Udo Grashoff

I.

Legitimation der SED - Herrschaft

1.

Normative Herrschaftsrechtfertigung : Kommunismus als Ziel

Grundlegende und für die gesamte Zeit von 1945 bis 1990 gültige Rechtfertigung der Herrschaftsansprüche der SED war die marxistisch - leninistische Ideologie. Die ( vermeintliche ) Gewissheit eines vereinfachten historischen Materialismus, die historischen Entwicklungsgesetze nicht nur zu kennen, sondern diese als deren Subjekte zu beherrschen, findet sich in allen Entwicklungsphasen der SED - Herrschaft. Daher kann man die DDR zu Recht als Ideokratie bezeichnen. Das als Vollstreckung historischer Gesetze deklarierte Ziel der klassenlosen Gesellschaft sollte die in der DDR - Verfassung festgeschriebene führende Rolle der SED legitimieren. Offen bekannte sich die SED allerdings erst auf der 2. Parteikonferenz 1952 zum beschleunigten Aufbau des Sozialismus, nachdem die personellen und administrativen Voraussetzungen für eine massive gesellschaftliche Umwälzung längst geschaffen waren. Die folgende Phase war durch eine enge Verschränkung von normativer Legitimierung und verschärfter Repression gekennzeichnet und mündete in dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Nach dessen Niederschlagung blieb das Ziel der Errichtung einer kommunistischen, harmonisierten Gesellschaft bis zum Ende der DDR grundlegend zur Stiftung von Legitimität – wenngleich es zu Modifizierungen kam. Bereits vor dem Mauerbau lässt sich eine Tendenz der SED - Führung erkennen, technokratisches Fachwissen stärker in politische Entscheidungsprozesse einzubinden, eine Tendenz, die vor allem in den Jahren 1963 bis 1965 offizielle Parteilinie war. Sigrid Meuschel glaubte in der Ergänzung der normativen Legitimierung durch technokratische Ideologie eine neue Legitimationsstrategie zu erkennen. Allerdings fungierten die technokratischen Elemente eher als „verdeckte“ Legitimierung, ein offener Revisionismus konnte sich unmittelbar am „Eisernen Vorhang“ nicht etablieren. Es zog sich auch insgesamt gesehen eine Tendenz der Legitimation durch Reform, eine Rechtfertigung der eigenen Herrschaft als Einheit von Kontinuität und Wandel durch die Geschichte des SED - Staats : Vom „Neuen Kurs“ 1953 über die „Neue Ökonomische Politik“ in den 1960er Jahren bis hin zur Sozialpolitik in den 1970er Jahren und dem „Sozialismus in den Farben der DDR“ Ende der 1980er Jahre.

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In der Ära Honecker (1971–1989) dominierte eine stärker gegenwartsorientierte und weniger auf einen utopischen Kommunismus als auf die reale sozialistische Gesellschaft bezogene sozialpolitische Legitimation, die jedoch „Teile der Utopie – soziale Gerechtigkeit, Homogenität und Sicherheit – in die Gegenwart hinein“1 nahm. Das gesellschaftliche Harmonie - Ideal korrespondierte mit Werten wie Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität.2 Wie stark sich kommunistische Ideen in der DDR verankert hatten, zeigte noch der Herbst 1989, als weite Teile der sich formierenden Opposition, welche die Friedliche Revolution des Herbstes 1989 in Gang setzten, der Idee einer sozialistischen Gesellschaft als Alternative zum westlichen Kapitalismus verhaftet blieben.3 Die normative utopische Rechtfertigung, die Kommunisten das Gefühl gab, für eine gute, wenn nicht die beste Sache der Welt zu arbeiten und zu kämpfen, kann als Grundmerkmal aller kommunistischen Diktaturen gelten, wenngleich nicht nur in der DDR Grund zu der Annahme besteht, dass überzeugte Kommunisten stets in der Minderheit waren. Und so kamen im Zusammenhang mit der konkreten historischen Entwicklung der „Sowjetischen Besatzungszone“ (SBZ) bzw. der DDR spezifische Legitimierungsstrategien hinzu.

2.

Mehrparteiensystem

Bereits wenige Wochen nach Kriegsende wurden in der SBZ mehrere Parteien zugelassen. Im Jahr 1946 fanden Wahlen statt, anschließend kam es zur Bildung von Volksvertretungen auf Landesebene mit bemerkenswerten personellen Anteilen bürgerlicher Politiker. Der Sozialistischen Einheitspartei ( SED ), die aus der im Frühjahr 1946 erfolgten Vereinigung von kommunistischer und sozialdemokratischer Partei hervorgegangen war – der oft gebrauchte Begriff „Zwangsvereinigung“ wird „den historischen Tatsachen nicht völlig gerecht“4 – standen mit der „Christlich Demokratischen Union“ ( CDU ) und der „Liberal Demokratischen Partei Deutschlands“ ( LDPD ) zwei bürgerliche Parteien gegenüber, die bei den relativ freien Wahlen im Oktober 1946 in zwei Landtagen (Sachsen - Anhalt und Brandenburg ) sogar die Mehrzahl der Sitze erringen konnten.5 Die sukzessive Errichtung einer kommunistischen Parteidiktatur begann also mit einer relativ demokratischen Phase. Autoren wie Karl Wilhelm Fricke 1 2 3 4 5

Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR, Frankfurt a. M. 1992, S. 26. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. Christof Geisel, Auf der Suche nach einem dritten Weg. Das politische Selbstverständnis der DDR - Opposition in den 1980er Jahren, Berlin 2005, S. 228–239. Günther Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, München 2003, S. 72. Vgl. Manfred Koch, Landtage. In : Martin Broszat / Hermann Weber ( Hg.), SBZ Handbuch, München 1990, S. 329–348, hier 330.

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erblickten darin lediglich eine taktische Verschleierung der schleichenden Diktaturdurchsetzung durch die Kommunisten. In der Tat besetzte die SED, auch mithilfe des Drucks der Sowjetischen Militäradministration ( SMAD ), entscheidende Schlüsselpositionen und nutzte das bereits zu Beginn der Parteienzulassung von der Besatzungsmacht verordnete Konsensgebot aus, um Politiker aus bürgerlichen Parteien mit Hilfe der SMAD unter Druck zu setzen.6 Diese Interpretation als bloßes Täuschungsmanöver der Kommunisten blieb nicht unumstritten. Wilfried Loth zum Beispiel verwies auf Quellen aus dem unmittelbaren Umfeld Stalins, die eine differenziertere Einschätzung nahelegen. Zwar ist es unstrittig, dass Walter Ulbricht fest entschlossen war, möglichst rasch entscheidende Posten der Staatsgewalt in die Hand zu bekommen. Das von Wolfgang Leonhard überlieferte Diktum „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“ kennzeichnete durchaus die Intention der SED - Spitze. Stalin bremste aber die revolutionäre Ungeduld der deutschen Kommunisten mehrfach und hielt noch Ende 1948 den von der SED - Führung eingeschlagenen Kurs zur Errichtung einer „Volksdemokratie“ für verfrüht.7 So muss man, wenngleich die Chancen einer alternativen Entwicklung gering waren, für die Jahre 1946/47 eine gewisse Offenheit und Ambivalenz einräumen. Im Jahr 1948 kam es jedoch im Kontext des offen ausgebrochenen „Kalten Krieges“ zu einer umfassenden und irreversiblen Aushöhlung des parlamentarischen Systems der SBZ. Es wurden zwei Satellitenparteien – die National Demokratische Partei Deutschlands ( NDPD ) und die Deutsche Bauernpartei (DBD ) – gegründet, die kommunalen Selbstverwaltungen mussten Entscheidungskompetenzen an zentrale Instanzen abgeben.8 Parallel wurden Institutionen der Interessenvertretung im wirtschaftlichen Bereich wie die Betriebsräte und die Industrie - und Handelskammern zu Hilfsorganisationen der SED - Politik umgewandelt.9 Wie sehr sich inszenierte Demokratie und Diktaturdurchsetzung miteinander verzahnten, illustriert die Volkskongress - Bewegung, die als eine Art „gesamtdeutsches Vorparlament“ im Kontrast zum parlamentarischen Rat in den Westzonen entstand, sich aber immer mehr zu einer Protostruktur der DDR Volkskammer entwickelte. Diese konstituierte sich schließlich am 7. Oktober 1949 und verkörperte als nahezu machtloses Akklamationsorgan sichtbar den „Scheinparlamentarismus“10 der DDR. Dieser war mit den sogenannten Volks-

6 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945–1968. Bericht und Dokumentation, Köln 1979, S. 41. 7 Vgl. Wilfried Loth, Walter Ulbricht und die Revolution in Deutschland. In : Detlev Brunner / Mario Niemann ( Hg.), Die DDR. Eine deutsche Geschichte. Wirkung und Wahrnehmung, Paderborn 2011, S. 85–101. 8 Vgl. Thomas Großbölting, SED - Diktatur und Gesellschaft. Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerlichung in Magdeburg und Halle, Halle 2001, S. 62 f. 9 Vgl. ebd., S. 423. 10 Heydemann, Innenpolitik, S. 70.

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wahlen im Jahr 1950, die unter massiven politischen Repressionen stattfanden, endgültig etabliert. Fortan fanden Wahlen, bei denen es nichts zu wählen gab, als bloße Farce statt. Das Mehrparteiensystem war in der DDR kaum mehr als ein Relikt, zumal die SED den westlichen Parlamentarismus als Verschleierung der Herrschaft des Kapitals ablehnte und sich klar zum „demokratischen Zentralismus“ bekannte. Man könnte fragen, wieso die SED das Mehrparteiensystem überhaupt beibehalten hat. Die Antwort lautet : Einerseits machte sie in erkennbarem Bezug zur Bundesrepublik deutlich, dass auch für die DDR Volksherrschaft als Kriterium für legitime Herrschaft galt. Das politische System der DDR deklarierte man dabei als „wahre Demokratie“. Andererseits stellten Wahlen eines der zahlreichen Akklamationsrituale dar – von Massendemonstrationen am 1. Mai über Pioniertreffen, „Turn - und Sportfeste“ bis hin zu SED - Parteitagen –, waren also Teil eines wirklichkeitskonstruktiven Prozesses,11 der eine Einheit von Parteiführung und Volk simulierte. Massenmobilisierung im Zuge von Scheindemokratie kann zumindest teilweise als Vorgang angesehen werden, der – vor allem bei der Jugend – Legitimitätsglauben stiftete bzw. bei dem sich Loyalität zu Legitimitätsglauben wandelte. Die Existenz von Blockparteien erfüllte aber nicht nur eine Transmissionsfunktion, indem der Wille der SED - Führung auf nicht direkt erreichbare Bevölkerungsschichten übertragen werden konnte, sondern auch eine Alibifunktion, weil sie nichtkommunistischen DDR - Bürgern politische Aktivität ermöglichte, ohne dass diese ihre Gesinnung verleugnen mussten.12

3.

Antifaschismus

Antifaschismus – so die Übereinkunft aller politischen Kräfte in der SBZ – sollte die verbindliche moralische Basis eines wieder aufgebauten deutschen Staates sein. Geschichte sollte sich nicht wiederholen, von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen. Das entsprach auch dem im „Potsdamer Abkommen“ festgelegten Willen der Alliierten. Zugleich diente Antifaschismus aber auch der Legitimierung des Zugriffs der „Kommunistischen Partei Deutschlands“ ( KPD ) bzw. der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ ( SED ), die sich in der Nachkriegszeit in einer Minderheitenposition befanden, auf die Schaltstellen der politischen Macht – und das sowohl gegenüber den Resten der alten Eliten als auch gegenüber der politischen Konkurrenz. Zur antifaschistischen Legitimierung wurde dabei auf

11

Vgl. Werner J. Patzelt, Legitimation, Kooptation und Repression in Ideokratien aus der Perspektive des Evolutorischen Institutionalismus. Unveröffentlichtes Manuskript, Dresden 2011. 12 Vgl. Parteien in beiden deutschen Staaten. Hg. von der Friedrich - Ebert - Stiftung, 4. Auf lage Bonn 1983, S. 53 f.

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die eigene Widerstandsgeschichte mit hohen Opferzahlen verwiesen. Die innenwie außenpolitisch wirksame Instrumentalisierungstendenz verstärkte sich Anfang der 1950er Jahre im Funktionswandel des Antifaschismus von der pluralen Erinnerung zur zentralen Legitimationsinstanz der DDR.13 An die Stelle der Selbstorganisation der Betroffenen trat ein vom Staat „verordneter Antifaschismus“ – eine Erinnerungspolitik, die humanistische Werte mit diktatorischem Kontrollanspruch verband. Im Zuge der Selbststilisierung der DDR als „besserer, weil konsequent antifaschistischer Staat“ diente Antifaschismus als Integrationsangebot für die Mehrheit der Bevölkerung, die sich keiner Verbrechen schuldig gemacht, aber trotzdem den Nationalsozialismus unterstützt hatte : „Der Gründungsmythos der DDR machte einen Großteil der Menschen moralpolitisch abhängig, insofern er die Entlastung ihres Gewissens mit der staatlichen Existenz der DDR verband.“14 Das Angebot wurde häufig angenommen und verband sich mit einer „verbreiteten Aufbruchmentalität“.15 Nach außen diente der Antifaschismus dem SED - Staat vor allem in den 1950er und 1960er Jahren als Legitimierungsstrategie gegenüber der Bundesrepublik. Im Antifaschismus vermischte sich nachvollziehbarer Schrecken über das Wiedererstarken der alten Machteliten in der Bundesrepublik mit der von Georgi Dimitroff 1935 formulierten kommunistischen Faschismus - Definition, wonach Faschismus „die offen terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“16 darstellte. Die schrittweise Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln in der SBZ / DDR bedeutete im Kontext der kommunistischen Ideologie die Beseitigung der ökonomischen Wurzeln des Faschismus. Im Kern erschienen damit Antifaschismus und Kommunismus als identisch. In innenpolitischer Hinsicht bot der Faschismusvorwurf eine „Macht - und Herrschaftsressource“17 der SED. Dies kam zum Beispiel in der Diffamierung des Volksaufstands am 17. Juni 1953 als faschistischer Putschversuch zum Ausdruck und erreichte einen makabren Höhepunkt mit der Bezeichnung der Mauer 1961 als „antifaschistischer Schutzwall“. Allerdings lässt sich die Legitimierungsfunktion des Antifaschismus in der DDR nicht auf die Instrumentalisierung durch die SED reduzieren. Zeitweise bestand eine enge Verbindung

13 Vgl. Jürgen Danyel, DDR - Antifaschismus. Rückblick auf zehn Jahre Diskussion, offene Fragen und Forschungsperspektiven. In : Annette Leo / Peter Reif - Spirek ( Hg.), Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR - Antifaschismus, Berlin 2001, S. 7–19, hier 14. 14 Herfried Münkler, Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR. Abgrenzungsinstrument nach Westen und Herrschaftsmittel nach innen. In : Manfred Agethen / Eckhard Jesse / Ehrhart Neubert (Hg.), Der missbrauchte Antifaschismus. DDR - Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg i. Brsg. 2002, S. 79–99, hier 87. 15 Heydemann, Innenpolitik, S. 14. 16 Zitiert nach : Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin ( Ost ) 1973, S. 229. 17 Münkler, Antifaschismus, S. 87.

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mit kulturnationalen Werten des bürgerlichen Humanismus.18 Die identitätsstiftende Wirkung des Antifaschismus rührte auch daher, dass ihn die SED 1. mit nationaler Propaganda zu verbinden suchte und in eine historische Traditionslinie stellte, die von den Bauernkriegen im 16. Jahrhundert über die gescheiterten Revolutionen von 1848 und 1918 bis in die Gegenwart reichte, und 2. dass Antifaschismus mit kulturellen Wertsetzungen verbunden wurde : Weimarer Klassik und Sozialistischer Realismus statt Dekadenz und Formalismus.19 Diese Berufung auf die „guten“ und „gesunden“ nationalen Tendenzen ist ein wichtiger Grund dafür, dass Antifaschismus der „primäre, identitätsstiftende Gründungsmythos“20 der DDR werden konnte und große Teile der Intelligenz und der Künstler an die DDR band, deren literarische und filmische Werke auch in der Bundesrepublik rezipiert wurden, wo sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst eine Praxis des kollektiven Beschweigens der NS - Vergangenheit herausgebildet hatte. Lange Zeit bezogen führende SED - Funktionäre, nicht zuletzt Erich Honecker, eine gewisse Wertschätzung und Legitimation aus ihrer Beteiligung am antifaschistischen Widerstand.21 Ebenso galt das übrigens auch für den Dissidenten Robert Havemann, den man aufgrund seiner antifaschistischen Biographie nicht einzusperren wagte. Bis zum Ende der DDR gehörte Antifaschismus zu den Werten, die Loyalität gegenüber dem Staat begründeten,22 wenngleich „die Bindekraft der propagierten antifaschistischen Wertvorstellungen“23 in den 1980er Jahren deutlich nachließ.

4.

Legitimierung durch Performanz : Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik

Die unter Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 eingeleitete sozialpolitische Wende in der DDR kann als Übergang von normativer zu funktionaler Legitimierung angesehen werden.24 Der durch zahlreiche sozialpoliti18 19 20 21 22

Vgl. Meuschel, Legitimation, S. 25. Vgl. ebd., S. 79 f. Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 168. Vgl. Münkler, Antifaschismus, S. 97. Vgl. Jürgen Danyel, Die unbescholtene Macht. Zum antifaschistischen Selbstverständnis der ostdeutschen Eliten. In : Peter Hübner ( Hg.), Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR, Köln 1999, S. 67–85. 23 Danyel, DDR - Antifaschismus, S. 18. 24 Vgl. Christoph Boyer, Die Sozial - und Konsumpolitik der DDR in den sechziger Jahren in theoretischer Perspektive. In : ders. / Peter Skyba ( Hg.), Repression und Wohlstandsversprechen. Zur Stabilisierung von Parteiherrschaft in der DDR und der ČSSR, Dresden 1999, S. 37–48; vgl. auch Beate Ihme-Tuchel, Die DDR, Darmstadt 2002, S. 71–73.

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sche Maßnahmen gekennzeichnete diktatorische Wohlfahrtsstaat in der Ära Honecker (1971–1989) war zugleich durch den fieberhaften Versuch gekennzeichnet, sich durch ökonomischen Erfolg zu legitimieren. Davon zeugte die tägliche Planerfüllungs - Kampf - Show ab 19 :30 Uhr in der „Aktuellen Kamera“ ebenso wie das sich hartnäckig haltende Gerücht, die DDR gehöre zu den zehn führenden Industrienationen der Welt. Nur so konnte aus Sicht der SED die „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“ erreicht werden. In offiziellen Parteitagstexten wurde darunter die immer bessere Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung aufgrund steigender Wirtschaftsleistung verstanden. In der politischen Praxis aber wurde die Relation umgekehrt, die SED gewährte weitreichende Sozialleistungen in der Hoffnung, dadurch die Leistungsbereitschaft zu stimulieren – mit den bekannten Folgen.25 Auch die auf maximale Medaillen - Ausbeute zielende Förderung des DDR Leistungssports, der Flug von Sigmund Jähn ins All, die Versuche, bei der Produktion von Mikrotechnologie mit dem Weltniveau mitzuhalten und andere Prestigeprojekte können als Ausdruck des Strebens der SED aufgefasst werden, ihre Herrschaft durch Performanz zu legitimieren. Weil die SED - Führung im Zweifelsfall politische Ziele immer vor ökonomische Rücksichten stellte, konnte die SED – das kann als Forschungskonsens gelten – vor allem durch das Garantieren sozialer Sicherheit in der DDR deutlich länger Legitimität stiften als etwa die Kommunisten in Ungarn oder Polen.26 Das zeigte sich selbst noch in temporären Versorgungskrisen in der DDR; die in diesen Situationen in Eingaben geäußerte Kritik kann als Beleg für den intakten impliziten „Gesellschaftsvertrag“27 – soziale Sicherheit und Wohlstand gegen politische Loyalität und funktionsgerechte Mitwirkung – gewertet werden: Das murrende Volk mahnte die SED, ihre Wohlstandsversprechen zu erfüllen, ohne dass damit die Herrschaft der SED an sich in Frage gestellt worden wäre. Bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre jedoch, als sich abzuzeichnen begann, dass die SED den Lebensstandard nicht wie versprochen steigern konnte, deutete sich auch schon die „Janusköpfigkeit der sozialpolitischen Stabilisierungsstrategie“28 an : Seit dem 17. Juni 1953 war der SED klar, dass jeder zusätzliche Leistungszwang die Legitimität gefährdete, „der Verzicht auf ihn tat es über den Verlust wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit aber ebenso“.29 Die 25 Vgl. André Steiner, Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang. Zum wirtschaftlichen Niedergang der DDR. In : Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow ( Hg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 153–192, hier 155 f. 26 Vgl. Meuschel, Legitimation, S. 9. 27 Gerd Meyer, Gesellschaftliche Widersprüche und demokratischer Aufbruch in der DDR. In : Andrea Pabst / Catharina Schultheiß / Peter Bohley ( Hg.), Wir sind das Volk ? Ostdeutsche Bürgerrechtsbewegungen und die Wende, Tübingen 2001, S. 9–30, hier 14. 28 Peter Skyba, „An sich müssten wir Pleite anmelden.“, Konfliktlinien in den Entscheidungen der SED - Spitze zur Sozialpolitik in den siebziger Jahren. In : Horch und Guck, 20 (2011) 73, S. 8–13, hier 13. 29 Steiner, Konsumversprechen, S. 158.

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Unzufriedenheit nahm zu, zehntausende Einwohner der DDR stellten Ausreiseanträge. Etwa die Hälfte der in die Bundesrepublik Übergesiedelten gab bei einer Befragung materielle Unzufriedenheit als einen wesentlichen Grund zur Ausreise an.30 Wie das rasche Ende der DDR im Jahr 1990 zeigte, erwiesen sich die „sozialen Errungenschaften“ als zu schwache herrschaftslegitimierende Stützpfeiler,31 nachdem der wichtigste Repressionsmechanismus – die „Mauer“ – gefallen war.

5.

Weitere Legitimierungsstrategien der SED

Neben den bereits genannten Strategien trug auch mehr oder weniger selbstloser Internationalismus zum Selbstbild als „besserer deutscher Staat“ bei. Moralische Legitimität bezog die DDR insbesondere in der Ära Honecker nicht nur aus internationaler Solidarität gegenüber Angola, Mosambik und Nicaragua. Wohl die größte Wirkung erzielte die Gewährung politischen Asyls für mehrere tausend Emigranten aus Chile, deren Leben während der Pinochet - Diktatur in Gefahr war. Als sehr später Versuch der Herrschaftsrechtfertigung können schließlich die Bestrebungen der DDR aufgefasst werden, in den letzten beiden Jahren ihres Bestehens rechtsstaatliche Elemente einzuführen, wodurch erstmals ein juristisches Vorgehen gegen staatliche Entscheidungen möglich wurde. So wurde eine 2. Kammer als Appellationsinstanz beim Obersten Gericht der DDR eingeführt und ein Gesetz zur Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erlassen, das jedoch erst im Sommer 1989 in Kraft trat. Aber auch diese Versuche blieben halbherzig; das Recht blieb „der Politik der Partei untergeordnet“.32

30 Richard Hilmer, „Übersiedler aus der DDR“ ( Tabellen ). In : Materialien der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED - Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ), Band VII /1, Baden - Baden 1995, S. 430–449, hier 446. 31 Vgl. Hans Günther Hockerts, Soziale Errungenschaften ? Zum sozialpolitischen Legitimitätsanspruch der zweiten deutschen Diktatur. In : Jürgen Kocka / Hans - Jürgen Puhle/ Klaus Tenfelde ( Hg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München 1994, S. 790–804. 32 Johannes Raschka, Justizpolitik im SED - Staat. Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers, Köln 2000, S. 260.

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II.

Repression

1.

Verschränkung der Repressionsmaßnahmen von Besatzungsmacht und SED

Politische Willkür und Terror gingen in der SBZ zunächst von der sowjetischen Besatzungsmacht aus, wobei sich legitime Ahndung von Kriegsverbrechen und Repression zur Herrschaftssicherung überlagerten. Von den alliierten Siegermächten gemeinsam konzipierte Repressionsinstrumente wie die Internierungslager oder bestimmte Gesetze wurden in der SBZ überdehnt bzw. missbraucht. Ziel der Internierung in Speziallagern war einzig die Isolation als politische Prophylaxe. Die hohe Todesrate in den Lagern – knapp ein Drittel der insgesamt ca. 150 000 deutschen Speziallager - Häftlinge überlebte die Haft nicht – war die Folge der schlechten Haftbedingungen. Ein Vernichtungsziel der sowjetischen Besatzer ist nicht nachweisbar.33 Nach mehreren Entlassungswellen bildeten 1950 die Waldheimer Prozesse den Abschluss der Internierung. In Schnellverfahren wurden die letzten ca. 3 400 Lagerinsassen von der DDR - Justiz abgeurteilt. Die Bemühungen um eine möglichst rasche Abwicklung bei gleichzeitiger schematischer Übernahme sowjetischer Vorgaben kennzeichneten die Waldheimer Prozesse als erste große „Bewährungsprobe“ der DDR - Justiz gegenüber der Besatzungsmacht, die noch bis 1955 eigene Militärtribunale gegen Deutsche in der DDR durchführte. Mit den „Sowjetischen Militärtribunalen“ ( SMT ) verfügte die Besatzungsmacht über ein zweites wichtiges Repressionsinstrument. Als „Faustregel“ für das zweigleisige Vorgehen der sowjetischen Besatzungsmacht kann gelten : Der Verhaftungsgrund für eine Internierung im Speziallager bezog sich meist auf die NS - Vergangenheit, während Tribunale gegen deutsche Zivilisten34 größtenteils Delikte in der Gegenwart verfolgten.35 In den Jahren 1945 bis 1955 wurden etwa 35 000 deutsche Zivilisten durch SMT verurteilt. Dass es sich hierbei um „justiziellen Terror zur Herrschaftssicherung“36 handelte, zeigt sich allein darin, dass 72 Prozent der Urteile wegen „konterrevolutionärer Verbrechen“ wie Spionage, Sabotage oder Mitgliedschaft in Untergrundorganisationen erfolgten. Auch in Delikten wie Waffenbesitz, Diebstahl oder illegalem Überschreiten der Demarkationslinie sahen die Besatzer „konterrevolutionäre“ Absichten – somit blieben kaum unpolitische Straftaten übrig. Die verhängten Strafen – oft zehn oder 25 Jahre Haft, aber auch fast 2 000 Todesurteile – resultierten aus der holzschnittartigen Übertragung sowjetischer Normen auf den Besatzungsalltag in Deutschland und verdeutli-

33 Vgl. Bettina Greiner, Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland, Hamburg 2010, S. 13. 34 Die SMT gegen Kriegsgefangene werden hier ausgeklammert. 35 Vgl. Greiner, Verdrängter Terror, S. 131. 36 Fricke, Politik, S. 55.

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chen die Unerbittlichkeit der Verfolgung.37 Neuere Forschungen unterstreichen zugleich, dass SMT erst ab 1948 in verstärktem Maß der Diktaturdurchsetzung dienten, was sich in einer größeren Zahl von Urteilen und härteren Strafen äußerte.38 Von Anfang an wurden die sowjetischen Verfolgungsorgane von deutschen Hilfspolizisten unterstützt. Spätestens bei Gründung der DDR wurde eine formelle Arbeitsteilung festgelegt.39 Noch in der ersten Hälfte der 1950er Jahre lag der Schwerpunkt der politischen Repression bei den Besatzern. Beispielsweise sind für die Jahre 1950 bis 1955 anhand von Gnadengesuchen 1150 Todesurteile von SMT gegen Deutsche nachweisbar; DDR - Gerichte verhängten in dieser Zeit lediglich 160 Todesurteile, von denen ca. 100 vollstreckt wurden.40

2.

Repression in der Konsolidierungsphase der DDR ( bis 1962)

Mit dem offenen Bekenntnis der SED zur Schaffung der Grundlagen des Sozialismus auf der 2. Parteikonferenz im Juli 1952 begann eine knapp einjährige Phase verschärfter Repression. Diese richtete sich zum einen gegen „objektive Feinde“. Es kam in verschiedenen Regionen der DDR zu militanten Enteignungsaktionen gegen den Mittelstand, zudem gab es erste Ansätze zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. An der „grünen Grenze“ zwischen Bundesrepublik und DDR wurden vermeintlich „unsichere“ Bewohner in einer stabsmäßig durchgeführten Aktion zwangsausgesiedelt. Im Zuge eines offenen „Kirchenkampfes“ wurden staatskritische Pfarrer verhaftet und die „Junge Gemeinde“ kriminalisiert. Zum anderen richtete sich die verschärfte Repression auch gegen die „kleinen Leute“ – insbesondere das „Gesetz zum Schutz des Volkseigentums“ sollte bei den Arbeitern ein sozialistisches Eigentümerbewusstsein mit harten Strafen durchsetzen.41 Nachdem die SED die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz auf Druck Moskaus revidiert hatte, kam es zum Volksaufstand am 17. Juni 1953. In der Niederschlagung der Revolte zeigte sich noch einmal die eingeschränkte Souveränität der 37 Vgl. Andreas Hilger / Mike Schmeitzner / Ute Schmidt ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2 : Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003, S. 21–24. 38 Vgl. Klaus - Dieter Müller, Bürokratischer Terror. Justitielle und außerjustitielle Verfolgungsmaßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht 1945–1956. In : Roger Engelmann / Clemens Vollnhals ( Hg.), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 2000, S. 59–92, hier Tabelle S. 87. 39 Vgl. ebd., S. 60. 40 Vgl. Andreas Hilger / Nikita Petrov, „Erledigung der Schmutzarbeit“ ? Die sowjetischen Justiz - und Sicherungsapparate in Deutschland. In : ders. / Schmeitzner / Schmidt ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2, S. 59–152; Falco Werkentin, „Souverän ist, wer über den Tod entscheidet“. Die SED - Führung als Richter und Gnadeninstanz bei Todesurteilen. In : Engelmann / Vollnhals, Justiz, S. 181–204. 41 Vgl. Werkentin, Politische Strafjustiz, S. 51.

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DDR, die an diesem Tag nur durch das Eingreifen sowjetischer Panzer bei gleichzeitiger Passivität der Westmächte gerettet wurde. Die Folgezeit war durch strafpolitisch widersprüchliche Tendenzen gekennzeichnet. Zum einen wurde der am 9. Juni 1953 beschlossene „Neue Kurs“ realisiert, was zur Überprüfung von Urteilen und zur vorzeitigen Entlassung von ca. 24 000 Häftlingen führte. Gleichzeitig wurden 1 240 Teilnehmer der Demonstrationen verurteilt. Das waren zwar lediglich 16 Prozent der im Zusammenhang mit dem Aufstand Verhafteten.42 Nahezu 42 Prozent der Verurteilten kamen mit einer Haftstrafe unter einem Jahr davon. Einige „Rädelsführer“ erhielten jedoch harte Strafen. Nichtsdestotrotz bewertet Werkentin das Ausmaß an Repression, gemessen an der vorherigen Urteilspraxis in politischen Strafverfahren in der DDR, als „ungewöhnlich zurückhaltend“.43 Zugleich reagierte die SED auf den Aufstand mit der Gründung von Betriebskampfgruppen, die als paramilitärische Einheiten einen Vorposten der Diktatur in den Betrieben bildeten; komplementär zur nur exemplarischen Bestrafung von Einzelpersonen erfolgte also ein Ausbau der strukturellen Repression. Zu den Terrorakten der stalinistischen Phase der DDR zählen auch mehrere hundert Entführungen von Menschen aus Westberlin auf das Gebiet der DDR. Zumeist wurde das von bezahlten Kriminellen im Auftrag des „Ministerium für Staatssicherheit“ ( MfS ) durchgeführt. Opfer der Entführungen waren z. B. Mitarbeiter gegnerischer Geheimdienste, Regimekritiker sowie „Verräter“ aus den eigenen Reihen.44 Charakteristisch für die frühen Jahre der DDR ist auch die harte Verfolgung von Wirtschaftsvergehen. Noch Mitte der 1950er Jahre lag die Zahl der wegen „Wirtschaftsverbrechen“ Inhaftierten in der DDR stets über 5 000 – nach Werkentin ist ein erheblicher Teil als politische Häftlinge anzusehen.45 Eine entscheidende Zäsur für die politische Strafjustiz stellte 1956/57 dar. Bis zur Entstalinisierung auf der 3. Parteikonferenz der SED im März 1956 „hatte die Partei jede Straftat, da gegen die sozialistische Ordnung gerichtet, als Ausdruck einer ‚feindlichen‘ Haltung bzw. vom ‚Klassenfeind‘ inspiriert gewertet.“ Nun unterschied das Strafrechtsergänzungsgesetz von 1957 zwischen „Staatsverbrechern“ und anderen Straftätern.46 Eine Phase erneut verschärfter Repression bis hin zum Terror stellte die Zwangskollektivierung im Jahr 1960 dar, als aus ideologischen Motiven binnen weniger Wochen alle noch privat wirtschaftenden Bauern in Landwirtschaftliche 42 Vgl. ebd., S. 158 f. 43 Vgl. ebd., S. 162. 44 Vgl. Susanne Muhle, Mit „Blitz“ und „Donner“ gegen den Klassenfeind. Kriminelle im speziellen Westeinsatz des Ministeriums für Staatssicherheit. In : dies. / Hedwig Richter / Juliane Schütterle (Hg.), Die DDR im Blick. Ein zeithistorisches Lesebuch, Berlin 2008, S. 159–167. 45 Vgl. Falco Werkentin, Das Ausmaß politischer Strafjustiz in der DDR. In : Ulrich Baumann / Helmut Kury ( Hg.), Politisch motivierte Verfolgung : Opfer von SED - Unrecht, Freiburg i. Brsg. 1998, S. 49–74, hier 59–61. 46 Vgl. Raschka, Justizpolitik, S. 36 f.

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Produktionsgenossenschaften gezwungen wurden. Darin lag auch eine der Ursachen für das rasante Anwachsen der Flüchtlingszahlen im gleichen Jahr. Der „Mauerbau“, also die endgültige Schließung der deutsch - deutschen Grenze in Berlin und die nachfolgende Errichtung eines tödlichen Grenzregimes muss als größter repressiver Willkürakt in der Geschichte der DDR bezeichnet werden. Laut Hope M. Harrison erfolgte die Genehmigung des Mauerbaus auf Drängen Walter Ulbrichts, was das vitale Interesse der SED - Führung an der Mauer unterstreicht.47 Weniger die Zahl der Mauertoten – 136 Menschen sind nachweislich an der Berliner Mauer zu Tode gekommen48 – als die permanente Existenz der Mauer, prägte als unausweichliche Rand - und Daseinsbedingung das Leben in der DDR. Unmittelbar nach dem Mauerbau ermunterte „das Politbüro im Schutz einer nunmehr tödlichen Grenze die Genossen in den Staatsorganen und parteiergebenen Massenorganisationen für Monate zu offen terroristischen Praktiken“49 gegen widerspenstige Jugendliche, ehemalige Grenzgänger, echte und vermeintliche Arbeitsbummelanten. Delikte wie Schmähreden gegen das Regime, versuchte Republikflucht oder Empfang von Westradio und - fernsehen wurden hart verfolgt. Falco Werkentin zufolge kamen in dieser kurzen Kampfesphase neue Instrumente sozialistischer Rechtspflege hinzu : das Faustrecht und Arbeitslager nach sowjetischem Vorbild. Zudem kam es nach der endgültigen Schließung der Grenze zu einer zweiten großen Zwangsumsiedlungsaktion im grenznahen Gebiet. Bei der „Aktion Festigung“ mussten mehr als 3 000 Grenzkreisbewohner innerhalb von 48 Stunden ihren Wohnort verlassen.50 Die Phase der verschärften Repression in der DDR endete im Frühjahr 1962.

3.

Funktionswandel von Repression

War Repression in den ersten Jahren der SBZ / DDR vor allem ein Mittel der Machtdurchsetzung gewesen, erschien sie spätestens ab 1963 eher als begrenzende, den Rahmen setzende Bedingung des „normalen“ Lebens. Terror war, wie Ernst Richert im Jahr 1963 feststellte, „nur als ultima ratio in das staatliche Instrumentarium“ der DDR eingebaut : „Die Skala der Funktionen reicht dabei von der am Gemeinwohl orientierten Aufsicht, der tätigen Hilfe mittels ‚operativer Anleitung‘ und ‚unermüdlicher Überzeugungsarbeit‘ seitens der Obrigkeit und der mehr oder weniger pedantischen ‚Kontrolle der Durchführung‘ über die Schaffung einer Atmosphäre der ‚Wachsamkeit‘, der potenziellen Omnipräsenz der sich in Stichproben und statuierten Exempeln zur Geltung bringenden 47 Vgl. Hope M. Harrison, Ulbrichts Mauer, Berlin 2011. 48 Vgl. Hans Hermann Hertle, Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961–1989. Ergebnisse eines Forschungsprojektes. In : Deutschland Archiv, 43 (2010) 4, S. 672–681. 49 Werkentin, Politische Strafjustiz, S. 250 f. 50 Vgl. Inge Bennewitz / Rainer Potratz, Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze. Analysen und Dokumente, Berlin 2002.

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Staatsmacht bis zum direkten Zwang, zur brutalen Gewalt.“51 Die Einsicht, dass die SED ihre Ziele nur mit, nicht gegen die Massen erreichen konnte, bewirkten die Orientierung der staatlichen Institutionen vor allem auf „Einstimmung, Mittun, Ordnung, bereitwillige Unterwerfung“.52 Nachdem die SED bereits 1960 die Rücknahme der Repressionsgewalt zugunsten einer stärkeren erzieherischen Funktion offiziell verkündet hatte, endete der „bekennende Terror“ der DDR - Justiz – „das offene Eingeständnis und die entsprechende Legitimation von Justiz - Terror“53 – im Jahr 1963 endgültig. Fortan zeichnete sich die Urteilspraxis der DDR - Justiz durch einen hohen Anteil von Strafen ohne Haft aus. Dieser lag bei 60 bis 70 Prozent. „Es sollte bei minder schweren Verbrechen um die Erziehung der Täter, insbesondere am Arbeitsplatz, und nicht vorrangig um die Ahndung der Straftat gehen.“54 Etwa zeitgleich mit der Liberalisierung des Strafrechts und den ebenfalls 1963 begonnenen ökonomischen Reformen in der DDR konnten auch zahlreiche Künstler vorübergehend freier wirken. Das 11. Plenum des Zentralkomitees ( ZK ) der SED, das als sogenanntes „Kahlschlagplenum“ in die Geschichte einging, bereitete der liberalen Phase der Kulturpolitik Ende 1965 durch zahlreiche Verbote ein jähes Ende. Gleichzeitig ging politische Repression in den 1960er Jahren sukzessive von der Justiz auf das MfS über, das als „Untersuchungsorgan“ für alle politischen Verfahren zuständig war. Für die 1960er Jahre sind 23 517 Ermittlungsverfahren des MfS nachweisbar, wobei das MfS nicht nur für den Staatsschutz im engeren Sinne, sondern für alle Vorgänge zuständig war, „die in irgendeiner Form die innere Stabilität der SED - Diktatur berührten“55 – bis hin zu Fällen schwerer Kriminalität. Insgesamt lag die Zahl der Ermittlungsverfahren des MfS damit deutlich höher als in den 1970er Jahren.

4.

Übergang zu weicheren Repressionsmitteln in den 1970er Jahren

Mit der Machtübernahme Erich Honeckers füllten sich die Gefängnisse, was jedoch weniger eine Folge verstärkter Repression politischer Delikte als vielmehr das Resultat einer schärferen Verfolgung bestimmter Formen missliebigen Sozialverhaltens („Asozialität“) war. Generell war die Strafrechtspraxis in der Ära Honecker milder als in den Jahrzehnten zuvor, allerdings gab es keineswegs einen kontinuierlichen Abbau von Repression. 51 52 53 54 55

Ernst Richert, Macht ohne Mandat. Der Staatsapparat in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Köln 1963, S. 232. Ebd., S. 234 f. Werkentin, Ausmaß, S. 71. Raschka, Justizpolitik, S. 43. Clemens Vollnhals, „Die Macht ist das Allererste“. Staatssicherheit und Justiz in der Ära Honecker. In : Engelmann / Vollnhals ( Hg.), Justiz, S. 227–271, hier 245.

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Zunächst ließ der Wechsel von Ulbricht auf Honecker insbesondere die Künstler aufhorchen. Der neue Parteiführer verkündete, dass es künftig keine Tabus mehr geben müsse, wenn von sozialistischen Positionen aus gearbeitet würde. Die liberalere Phase der DDR - Kulturpolitik währte von 1972 bis 1976. Das Ende markierte die Ausbürgerung des kritischen Liedermachers Wolf Biermann. Mit der erzwungenen Ausreise von Schriftstellern wie Rainer Kunze, dem harten Urteil ( acht Jahre Haft ) gegen den Dissidenten Rudolf Bahro ( der nach einem Jahr in die Bundesrepublik Deutschland entlassen wurde ) sowie der Verhängung von Hausarrest gegen den Regimekritiker Robert Havemann demonstrierte die SED - Führung ihr Spektrum repressiver Praktiken gegen prominente Kritiker aus den eigenen Reihen. Generell schreckte die SED vor harten Maßnahmen zurück, wenn dies das internationale Prestige der DDR schädigen konnte. Zugleich wurde gegen Menschen, die auf lokaler Ebene gegen die Biermann - Ausbürgerung protestierten, das politische Strafrecht gnadenlos zur Anwendung gebracht.56 Ab Mitte der 1970er Jahre rückte mit den Ausreiseantragstellern eine neue große Gruppe in den Fokus der Staatsorgane. Gegen sie wurde als „Delikt“ das Einfordern der Übersiedlung in ein anderes Land in einigen Strafrechtsparagraphen neu formuliert. Zwischen 1977 und 1988 fanden ca. 20 000 Ermittlungsverfahren gegen Ausreiseantragsteller statt. Mit der Anwendung des er weiterten Strafrechts sollte abschreckende Wirkung erzielt werden. Viele Ausreiseantragsteller nahmen jedoch Haftstrafen in Kauf, da sie auf einen Freikauf durch die Bundesregierung hofften. Als Folge des KSZE - Prozesses kam es im Bereich des Strafvollzugs ab 1977 zu einer Anpassung an internationale Standards. So wurden der verschärfte Vollzug und der strenge Arrest abgeschafft und die Zulässigkeit von „Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs“ stark begrenzt.57 Das wirkte sich auf die Situation der politischen Häftlinge – neben der bereits seit den 1960er Jahren bestehenden Praxis des Freikaufs durch die Bundesrepublik – positiv aus. Die bereits seit Mitte der 1960er Jahre stetig gesunkene Zahl politischer Häftlinge blieb ab Mitte der 1970er Jahre auf relativ konstantem Niveau und sank nicht weiter ab.58 Eine Zäsur hin zu milderer politischer Justiz kann um 1981/82 ausgemacht werden – sie korrespondierte mit dem beginnenden Ablösungsprozess der DDR von der Sowjetunion, der mit in einer Absenkung der sowjetischen Erdöl - Lieferungen begann.59 Im Zuge der dadurch notwendigen stärke56 Vgl. Udo Grashoff, Erhöhter Vorkommnisanfall. Aktionen nach der Biermann Ausbürgerung im Bezirk Halle, Halle 2001. 57 Vgl. Johannes Raschka, Politische Hintergründe des Strafvollzugsgesetzes von 1977. Widersprüche der Rechtspolitik während der Amtszeit Erich Honeckers. In : „Das Land ist still – noch !“ Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971– 1989). Hg. von Leonore Ansorg / Bernd Gehrke / Thomas Klein und Danuta Kneipp, Köln 2009, S. 57–72, hier 64 f. 58 Vgl. Annette Weinke, Strafrechtspolitik und Strafrechtspraxis in der Honecker - Ära. In: ebd., S. 37–55, zit. 45. 59 Vgl. Raschka, Justizpolitik, S. 304 f.

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ren wirtschaftlichen Hinwendung der DDR zur Bundesrepublik kam es zu einer selbst auferlegten „Zügelung des Verfolgungseifers“.60 Man kann jedoch auch in den 1980er Jahren nicht von einem kontinuierlichen Prozess sprechen. Bereits Mitte der 1970er Jahre erfolgte ein Paradigmenwechsel beim Ministerium für Staatssicherheit von „vornehmlich repressiven hin zu präventiven Maßnahmen“.61 Die operative Überwachung wurde enorm ausgeweitet, die Strategie der „Zersetzung“ aufgewertet. Der Strategiewechsel war verbunden mit einem massiven Ausbau des Staatssicherheitsdienstes. Allein die Zahl der offiziellen Mitarbeiter stieg von 1971 bis 1989 von 45 000 auf 91 000.62 Zugleich griff die Staatsmacht stärker auf Sanktionen unterhalb des Strafrechts zurück. So ermöglichte die 1984 erfolgte Neufassung der Verordnung zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten das Vorgehen gegen öffentliche Unterschriftensammlungen.63 Beim Umsteuern des MfS auf verdeckte Formen der Repression ist zudem immer zu berücksichtigen, dass diese vor dem Hintergrund einer strafrechtlichen „Drohkulisse“ erfolgten. Somit war es gerade diese Komplementarität, „die den spezifischen Charakter staatlicher Verfolgung im Spätsozialismus ausmachte“.64 Hinsichtlich des Forschungsstands zu Repression in der DDR fällt auf, dass die Forschung vor allem MfS und politische Justiz in den Mittelpunkt gerückt hat. Demgegenüber sind andere Aspekte von Repression in der DDR zu betonen : So existierte in der SED - Diktatur eine analytisch oft nur schwer nachweisbare Zone staatlichen Zwanges, in der legale Maßnahmen und politische Unterdrückung scheinbar nahtlos ineinander übergingen, etwa bei der Psychiatrieeinweisung verhaltensauffälliger Personen vor wichtigen Staatsfeierlichkeiten,65 bei der Zwangsadoption oder der Anwendung des Asozialitäts - Paragraphen. Auch die biographische Sozialdisziplinierung, die in Kindergarten und Pionierorganisation begann und über die „Freie Deutsche Jugend“ ( FDJ ), Wehrdienst, allgegenwärtige Akklamationsrituale bis hin zur Zuteilung bzw. Nichtzuteilung von Privilegien führte, ist zu berücksichtigen. Oder der hierarchische, quasi militärische Aufbau nahezu aller Institutionen in der DDR, der Repression im Alltag begünstigte. Ob Zensur künstlerischer Werke, Karriereverhinderung, Reiseverbot – ein breiter Begriff von Repression müsste letztlich auch die „struk60 Vollnhals, Macht, S. 268. 61 Vgl. Hubertus Knabe, Die feinen Waffen der SED. Nicht strafrechtliche Formen politischer Viktimisierung in der DDR. In : Baumann / Kury ( Hg.), Politisch motivierte Verfolgung, S. 303–329. 62 Vgl. Jens Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Berlin 1995, S. 98–101. 63 Vgl. Thomas Klein, Gegenöffentlichkeit. Oppositionelle Wirkungsformen und staatliche Abwehrstrategien in der DDR. In : „Das Land ist still – noch!“. Hg. von Ansorg / Gehrke / Klein / Kneipp, S. 227–248, hier 240–243. 64 Weinke, Strafrechtspolitik und Strafrechtspraxis, S. 43. 65 Vgl. Sonja Süß, Politisch missbraucht ? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1999.

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turelle Repression“ und das Repressionspotenzial einer Gesellschaft umfassen, „die einer scheinbar harmlosen Maßnahme wie einer Verkehrskontrolle oder einer Aussprache beim Vorgesetzten erst ihre tatsächliche, einschüchternde Wirkung verlieh“.66

III.

Kooptation

Während staatliche Repression in der SBZ / DDR sehr gut erforscht ist, spielte das Phänomen der Kooptation – der Einbeziehung von Machtfernen bzw. politisch Indifferenten in politische Entscheidungsgremien – in der bisherigen Erforschung der DDR - Geschichte kaum eine Rolle. Das ist nicht unbedingt ein Desiderat der Forschung, da Kooptation – als riskantester der drei behandelten Aspekte ideokratischer Herrschaft – in der DDR über die ganze Zeit ihres Bestehens hinweg marginal blieb bzw. nur in streng kontrollierter Form erfolgte. Theoretisch kann Kooptation Machtferner zugleich einen inhaltlichen Transfer in das Machtzentrum bedeuten, wie er etwa im Begriff des „konsultativen Autoritarismus“67 zum Ausdruck kommt. Wegen dieses Inputs fremder Ideen kann die Einbindung von „Gegen - Eliten“ Veränderungen bewirken, die von der Spitze der Hierarchie ausgehen. In der DDR allerdings war Kooptation vor allem ein Kennzeichen der Herrschaftsintentionen des Staates, ein Prozess der Integration, der aus Machtfernen und Indifferenten zunehmend in die Herrschaftsverfahren Involvierte machte.68 Den allgemein üblichen Weg in die „sozialistischen Dienstklassen“ der DDR verdeutlicht eine Studie von Heike Solga, die auf Interviews basiert. Bereits bei dem massiven sozialen Aufstieg von Söhnen unterprivilegierter Schichten in den Anfangsjahren der SBZ / DDR hat parteitreues Verhalten eine entscheidende Rolle gespielt : „In der Aufbau - und Stabilisierungsphase ( bis Mitte / Ende der siebziger Jahre ) konnten die Arbeitersöhne über öffentlich bekundetes systemloyales Verhalten ( d. h. Parteimitgliedschaft oder Ausübung einer politischen Funktion ) Bildungsnachteile beim Zugang zu privilegierten Positionen mit Dienstklassen - Herkunft kompensieren.“69 Oberstes Kriterium war in diesem Prozess offenbar nicht die soziale Herkunft. Auch Söhne selbständiger Eltern hatten gute Zugangschancen zu den Dienstklassen, wenn sie systemloyales Verhalten zeigten. Die dadurch entstandene neue sozialistische Elite zeichnete sich somit durch „Homogenität, Verhaltenskonsistenz und Systemkonformi66 Knabe, Die feinen Waffen der SED, S. 308 f. 67 Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel, Köln 1970, S. 324. 68 Das gilt m. E. auch, wenn man einen erweiterten Kooptationsbegriff zugrunde legt. Gelingt das durch staatliche Zuteilungen erkaufte Mitwirken weiter Teile der Bevölkerung, dann mündet die Idee der „Massenkooptation“ in ein Verschwinden der Differenz, und endet in Konformität. 69 Heike Solga, Klassenlagen und soziale Ungleichheit in der DDR. In : APuZ, 46 (1996) B 46, S. 18–27, hier 25.

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tät“70 aus. In späteren Jahren rekrutierte sie Nachwuchskader zunehmend aus sich selbst. Damit konnte Kooptation kaum Heterogenität erzeugen bzw. Veränderungen auslösen. Dieses allgemeine Bild muss etwas relativiert werden hinsichtlich der Anfangsjahre, als sich kommunistische Funktionäre in einer Minderheitenposition befanden.

1.

Kooptation bürgerlicher Eliten in der Nachkriegszeit

Die lokalen „Zusammenbruchsgesellschaften“ des Jahres 1945 waren in der SBZ stark von bürgerlichen und sozialdemokratischen Eliten geprägt. In den Jahren 1946 bis 1948 konnten bürgerliche Politiker in erheblichem Maße an der Macht partizipieren und vor allem im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung ihre in der Weimarer Republik erworbenen Erfahrungen und Kompetenzen zur Geltung bringen.71 Auch gab es Ansätze zur Wiederherstellung des Rechtsstaats.72 Basis der Zusammenarbeit der politischen Akteure bildete der „antifaschistisch - demokratische Grundkonsens“. Diese Kooperation erwies sich jedoch bald als Auslaufmodell. Bürgerliche Politiker wurden, sofern sie sich nicht der Politik der SED unterwarfen, aus ihren Positionen gedrängt, hunderte von ihnen aus politischen Gründen inhaftiert, einige bezahlten mutiges Widerstehen mit dem Leben. Verhaftungswellen und Schauprozesse trieben viele Mitglieder bürgerlicher Parteien zur Flucht in die Bundesrepublik. Nach vergeblichem Widerstand und massiven Austritten – die CDU beispielsweise verlor zwischen 1950 und 1956 die Hälfte der Mitglieder73 – wurden CDU und LDPD gemeinsam mit der „Demokratischen Bauernpartei Deutschlands“ ( DBD ) und der „National - Demokratischen Partei Deutschlands“ (NDPD) zu sogenannten Blockflöten im Einheitskonzert der „Nationalen Front“. Deren festgelegte Proportionen sorgten dafür, dass die SED immer die Mehrheit hatte. Im Staatsapparat bekleideten Funktionäre der Blockparteien hohe ( zumeist Stellvertreter - )Posten, stellten auch einige Minister der Regierung und trugen so zum Funktionieren der Diktatur bei. Praktische Folgen hatte Kooptation dieser Art kaum, da es sich zwar nominell um Nichtkommunisten handelte, praktisch jedoch um Politiker, die den Führungsanspruch der SED unumwunden anerkannten und deren Politik mittrugen. Auch Tendenzen der „sukzessiven Entpolitisierung und subkutanen Verweigerung an der Basis“74 von CDU und LDPD schlugen sich nicht in einer wirksamen Modifizierung der SED - Politik nieder. 70 71 72 73 74

Großbölting, SED - Diktatur und Gesellschaft, S. 430. Vgl. ebd., S. 62 f. Vgl. ebd., S. 417. Vgl. Michael Richter, Die Ost - CDU 1948–1952. Zwischen Widerstand und Gleichschaltung, Düsseldorf 1991, S. 392. Heydemann, Innenpolitik, S. 76.

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Bereits Ende der 1940er Jahre verloren die ehemaligen Sozialdemokraten in der SED immer mehr an Einfluss. Hatte nach der Vereinigung von KPD und SPD zunächst ein Paritätsprinzip für die Besetzung von Führungspositionen innerhalb der Partei gegolten, so lief dieses Prinzip Ende der 1940er Jahre aus.75 Mit der Umwandlung der SED in eine leninistische Partei neuen Typus, die sich als Avantgarde der Arbeitsklasse betrachtete, setzten ab 1948 mehrere Säuberungswellen ein. Die politische Entmündigung der nichtkommunistischen Parteien sowie die parallel erfolgte Entmachtung ehemaliger Sozialdemokraten korrespondierte mit dem Umgang mit den Resten privatwirtschaftlichen Unternehmertums in der DDR. Nachdem Großgrundbesitz und Großbetriebe enteignet und verstaatlicht wurden, existierten teilweise noch längere Zeit kleinere Privatbetriebe in der DDR, deren Umwandlung zurückgestellt, aber spätestens im Jahr 1972 vollzogen wurde. Das zwischenzeitlich von der SED verbal eingeräumte Bündnis mit Kleinunternehmern, so das Urteil von Thomas Großbölting, „blieb immer Propaganda und wurde von der praktisch exerzierten Wirtschaftspolitik konterkariert“.76 In den 1950er Jahren bestand eine begrenzte Kooptation alter Eliten an den Universitäten, wo „bürgerliche“ Wissenschaftler noch gebraucht wurden, um Lehre und Forschung zu organisieren, sowie in der Industrie, wo die technische Intelligenz bedeutende Schlüsselstellungen einnahm, was sich im Einzelfall zum Beispiel darin äußerte, dass die bürgerlichen Führungskräfte chemischer Großbetriebe über eine bedeutendere Machtstellung verfügten als die SED Parteileitung im Betrieb.77 Um einen Sonderfall von Kooptation handelt es sich auch bei der Einbeziehung ehemaliger Wehrmachtsangehöriger in den Aufbau der „Nationalen Volksarmee“ ( NVA ), die 1956 gegründet wurde. Nicht nur zahlreiche niedere Dienstgrade, sondern auch Offiziere und selbst Generäle wirkten an entscheidenden Stellen mit. Das geschah aus pragmatischen Gründen, die Betreffenden wurden als „Nur - Fachleute“ eingesetzt und vom MfS als „Sicherheitsrisiko“ angesehen. In Auswertung des Ungarnaufstandes wurde bereits 1957 das Gros der ehemaligen Wehrmachtsoffiziere wieder aus der NVA entfernt.78 Generell kann man die partielle Kooptation bürgerlicher Eliten in Machtstrukturen der SBZ / DDR im ersten Jahrzehnt als Notlösung und Auslaufmodell 75 Vgl. Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945– 1955, Göttingen 1982, S. 262. 76 Großbölting, SED - Diktatur, S. 421. 77 Vgl. Georg Wagner - Kyora, Vom „nationalen“ zum „sozialistischen“ Selbst. Zur Erfahrungsgeschichte deutscher Chemiker und Ingenieure im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2009, S. 529–539. Wagner - Kyora spricht für die von ihm untersuchten Führungskräfte in Buna und Leuna für den Zeitraum 1953–65 von einem Übergang „vom autonomen Akademikerkorporatismus zur halbautonomen Synergie mit Doppelhierarchie“. Die Macht wurde zunehmend mit SED - Kreisleitung, Freiem Deutschen Gewerkschaftsbund ( FDGB ) und MfS geteilt. 78 Vgl. Daniel Niemetz, Das feldgraue Erbe. Die Wehrmachtseinflüsse im Militär der SBZ/ DDR, Berlin 2006, S. 289–291.

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bezeichnen. Im Verlauf der 1950er Jahre vollzog sich in der DDR ein Prozess der Entbürgerlichung, der beispielsweise im Bereich des Bildungsbürgertums dazu führte, dass „die Aktualisierung und Tradierung des konstitutiven Bildungswissens streng auf die private Sphäre beschränkt“79 blieb. Sicher kann man im Einzelfall fragen, ob es sich lediglich um die „Fortexistenz bildungsbürgerlich geprägter Nischen in der als sozialistisch definierten DDR - Gesellschaft“80 handelte, oder ob diese Bereiche nicht doch stärker im SED - Staat integriert ( oder : „dialektisch aufgehoben“) waren, wie es etwa das Beispiel der Einbindung der kirchlich geprägten Thomas - Schule und des Thomanerchors als „vorbildlicher Repräsentant“ der DDR nahelegt. Aber eine Kooptation Machtferner in wirklich entscheidende Führungspositionen des SED - Staats fand nicht statt. Nicht einmal revisionistische Kräfte aus den eigenen Reihen konnten Einfluss erlangen. In dieser Hinsicht waren die 1950er Jahre in der DDR eine Zeit der „ungenutzten Chance“.81 Weder nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 noch nach dem XX. Parteitag der „Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ ( KPdSU ) 1956 konnten sich Reformkräfte im Führungskreis der SED durchsetzen.

2.

Parteielite im Wandel ?

Ende der 1960er Jahre postulierte Peter Christian Ludz einen Wandel in der Herrschaftsausübung der SED. Den „Vertretern der strategischen Cliquen“, so Ludz, sei eine neue Generation von „institutionalisierter Gegenelite, Parteifachleuten und revisionistischen Ideologen“ gegenübergetreten und habe strukturelle Veränderungen in Gang gesetzt.82 Ludz bezog sich auf Reformen im Zuge des „Neuen Ökonomischen Systems“ ( NÖS ). Auf dem VI. Parteitag hatte die SED Anfang 1963 die programmatische Einbeziehung von Fachleuten in die Politikplanung beschlossen. Zwar handelte es sich bei den von Ludz genannten Exponenten der „Gegenelite“ um SED - Funktionäre. Nichtsdestotrotz stellten diese durch eine technokratisch - rationale Sichtweise zumindest partiell die bisherige utopische Legitimation der Parteiherrschaft in Frage. Zudem fiel diese Tendenz verstärkter Kooptation mit dem endgültigen Ende harter Repression zusammen.83 79 Großbölting, SED - Diktatur, S. 424. 80 Christoph Klessmann, Die Beharrungskraft traditioneller Milieus in der DDR. In : Was ist Gesellschaftsgeschichte ? Positionen, Themen, Analysen. Hg. von Manfred Hettling / Claudia Huerkamp / Paul Nolte und Hans Walter Schmuhl, München 1991, S. 146–154, hier 152. 81 Meuschel, Legitimation, S. 152. 82 Darunter fasste Ludz beispielsweise eine „Verlagerung der leitenden Prinzipien vom Politischen zum Gesellschafts - und Wirtschaftspolitischen hin“, verbunden mit einer partiellen Dezentralisierung sowie einer Tendenz zur Verfachlichung. Vgl. Ludz, Parteielite, S. 324 f. 83 Etwa zeitgleich zur Einführung des NÖS endete endgültig der „bekennende“ juristische Terror gegen Staatsfeinde. Vgl. Werkentin, Das Ausmaß politischer Strafjustiz, S. 71.

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Indes – die ökonomischen Reformen waren nur begrenzter und experimenteller Natur sowie von temporärer Dauer. Bereits 1968 wurde die Rücknahme der Reform des wirtschaftlichen Lenkungs - und Leitungsmechanismus eingeleitet.84 Insgesamt gilt trotz der partiellen Liberalisierung auch für die 1960er Jahre, dass „die grundsätzlichen Aufgaben und die wesentlichen Verteilungsproportionen“85 letztlich durch das SED - Politbüro bestimmt wurden. Abgesehen von Erich Apel, dem Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission,86 fand eine Kooptation von technokratischen Spezialisten in die Führungszirkel der SED selbst in der Reformphase nicht statt. Die „Gegenelite“ blieb eine temporäre Erscheinung. Dies wird noch einmal unterstrichen, wenn man die Rolle der Abteilungsleiter im Zentralkomitee der SED betrachtet, deren Wirken zentrale Bedeutung für die Entscheidungen des Politbüros hatten, da die Abteilungen des ZK die Beschlüsse erarbeiteten, die vom Politbüro bestätigt wurden. Ihre zentrale Stellung machte sie zu den Hauptakteuren der Neuen Ökonomischen Politik; mit der Machtübernahme Honeckers erfolgte jedoch die „politische Entmachtung der institutionalisierten Gegenelite“ : Die Fachleute zogen sich in ihre Zuständigkeitsbereiche zurück, „was einer Selbstauflösung dieser Teilelite als politisch relevanter Führungsgruppe“87 gleichkam.

3.

Kooptation als verpasste Chance der SED im Herbst 1989 ?

Man kann die Grundidee des von DDR - Bürgerrechtlern am 10. September 1989 verfassten Aufrufs „Aufbruch 89 – Neues Forum“ als Initiative zur Kooptation lesen. Das Neue Forum wollte „eine politische Plattform für die ganze DDR [ sein ], die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen.“88 Die SED 84 Vgl. André Steiner, Weder Plan noch Markt : Bilanz der DDR - Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. In : Boyer / Skyba ( Hg.), Repression und Wohlstandsversprechen, S. 29– 36, hier 34. 85 Steiner, Weder Plan, S. 30. 86 Erich Apels Selbsttötung kann als symptomatisch für das Scheitern des NÖS angesehen werden. Apel war als Technokrat zum Kandidaten des Politbüros der SED aufgestiegen und federführend bei den ökonomischen Reformen. Er erschoss sich am Tag der Unterzeichung eines Handelsvertrages mit der Sowjetunion, in dem gegen Apels Willen für die DDR ungünstigere Bedingungen festgelegt worden waren. Vgl. Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker, Berlin 1997, S. 117; Udo Grashoff, „In einem Anfall von Depression ...“ Selbsttötungen in der DDR, Berlin 2006, S. 114. 87 Rainer Weinert, Die Wirtschaftsführer der SED. Die Abteilungsleiter im ZK im Spannungsfeld von politischer Loyalität und ökonomischer Rationalität. In : Stefan Hornbostel ( Hg.), Sozialistische Eliten. Horizontale und vertikale Differenzierungsmuster in der DDR, Opladen 1999, S. 59–84, hier 67 f., 82. 88 Abgedruckt in Gerda Haufe / Karl Bruckmeier ( Hg.), Die Bürgerbewegung in der DDR und in den ostdeutschen Bundesländern, Opladen 1993, S. 277 f.

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Legitimation, Kooptation und Repression in der DDR

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beantwortete den Aufruf mit Verhaftungen und Einschüchterung. Nachdem sich mit der Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig die Friedliche Revolution Bahn gebrochen hatte, sah sich Erich Honecker zum Rücktritt veranlasst. Aber selbst in dieser Phase erwies sich die SED unwillig zur Kooptation machtferner Politiker. Nicht der vermeintliche „Hoffnungsträger“ Hans Modrow, sondern Egon Krenz übernahm alle drei Ämter von Honecker und machte deutlich, dass die von ihm proklamierte „Wende“ die führende Rolle der SED nicht antasten würde. Erst in den letzten Tagen vor dem Mauerfall ist es vereinzelt auf lokaler Ebene zu Kooptationen gekommen. Auch die Runden Tische können als Ansatz zur Kooptation angesehen werden, aber auch dieser scheiterte. Erst im Januar 1990 erkannte die Regierung Modrow die Runden Tische an, und das Einbeziehen von Oppositionspolitikern als Minister ohne Geschäftsbereich Ende Januar 1990 blieb eine kosmetische Maßnahme im Verfallsprozess der Diktatur.

IV.

Fazit

Kommunismus war im Jahr 1945 nichts Neues, sondern eine bereits in der Weimarer Republik marginalisierte Bewegung, deren Anhänger oft ein niedriges Sozialprestige hatten. Erst der militärische Sieg der Sowjetunion verschaffte dem Kommunismus wieder Respekt, bedeutete aber zugleich, dass die deutschen Kommunisten stets als „kleine Brüder“ Moskaus galten. In diesem Spannungsfeld waren die verschiedenen Legitimierungsstrategien der SED Mittel der Diktaturdurchsetzung in der SBZ / DDR und besaßen gleichzeitig eine integrative Funktion. Diese basierte auf Mechanismen wie : – Gewissensentlastung von ehemals nationalsozialistisch Gesinnten bei gleichzeitiger Bindung an die „antifaschistische“ DDR, – nationaler Identitätsstiftung ( in Abgrenzung zur Bundesrepublik ), – Ermöglichung politischer Tätigkeit von Nichtkommunisten in Blockparteien, – Befriedigung der Konsum - Bedürfnisse der Bevölkerung. Zugleich waren alle Legitimierungsstrategien Teil der asymmetrischen Beziehungsgeschichte der beiden deutschen Staaten. Sie zielten – von Antifaschismus über Scheinpluralismus, Wirtschaftsreformen bis hin zu den sozialpolitischen Maßnahmen und den zaghaften Ansätzen von Rechtsstaatlichkeit – stets auch auf die Bundesrepublik. Dies unterstreicht den Rechtfertigungsdruck, unter dem sich die SED permanent befand. Eine außerordentlich schwierige Frage ist die des Ausmaßes von tatsächlichem Legitimitätsglauben, der durch die jeweiligen Strategien der SED gestiftet werden konnte. Näherungswerte hat eine Langzeitstudie des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen und Infratest Kommunikationsforschung mittels eines komplexen Forschungsdesigns ermittelt. In den 1970er Jahren befürworteten demnach 25 Prozent der DDR - Bevölkerung das politische Sys-

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Udo Grashoff

tem, 25 Prozent beurteilten es negativ. Etwa die Hälfte der DDR - Bevölkerung stufte die Studie als indifferent bzw. angepasst ein. In den 1980er Jahren ( bis 1988) lag der Anteil der Systemanhänger gemäß der Studie bei 20 Prozent, der Anteil der Systemgegner bei ca. 30 Prozent.89 Die Schätzzahlen legen nahe, dass die Legitimierungsstrategien der SED nur begrenzte Tiefenwirkungen entfalten konnten. Selbst in den vermeintlich „goldenen“ 1970er Jahren lag der ermittelte Anteil der überzeugten Anhänger des Sozialismus stets unter 30 Prozent der DDR - Bevölkerung. Damit ist anzunehmen, dass die kommunistische Utopie in der ganzen Zeit des Bestehens der DDR nur bei einer Minderheit Legitimitätsglauben stiften konnte. Zusätzlich bezog die SED, insbesondere in der Ära Ulbricht, Legitimität aus der Selbstbeschreibung als antifaschistischer Staat. Die in der SBZ zunächst etablierten Elemente einer parlamentarischen Demokratie hingegen wurden nach kurzer Zeit ausgehöhlt und mündeten in die durch ein Mehrparteiensystem verschleierte Herrschaft eines engen kommunistischen Führungszirkels. In der Regierungszeit Honeckers schließlich vermochte die ( letztlich die ökonomische Leistung des Systems untergrabende ) Strategie der Gewährung sozialer Sicherheit länger als in anderen sozialistischen Staaten Legitimität zu stiften. Aber stets war Repression, ab 1961 zusätzlich in Form der erzwungenen Immobilisierung durch den Mauerbau, eine notwendige Existenzbedingung der DDR. Die Geschichte der Unterdrückung von Staatsfeinden basierte zum Teil darauf, dass die SED - Diktatur durch die Stigmatisierung von Privatunternehmern zu objektiven Feinden, durch die Missachtung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, durch die Verweigerung des Wunsches, das Land zu verlassen etc. erst jene politischen Delikte erzeugte, die dann verfolgt wurden. Überblickt man die Entwicklung von Repression in der DDR, kann man von einer stufenweisen Milderung sprechen, wobei diese diskontinuierlich verlief. Während es beispielsweise in den Jahren 1956, 1963 und 1971 zu entscheidenden Lockerungen kam, sind in den Jahren 1960, 1965 und 1976ff. erneute Verschärfungen der Repression zu konstatieren. Jede Liberalisierung brachte zugleich irreversible Veränderungen mit sich. So spielte offener Justiz - Terror ab 1963 keine Rolle mehr. Die bereits in den 1960er Jahren nur noch selten angewendete Todesstrafe wurde in der Amtszeit Honeckers lediglich beibehalten zur Abschreckung von „Verrätern“ des MfS. Sie wurde letztmalig 1981 praktiziert und 1987 formell abgeschafft.90

89 Vgl. Anne Köhler, Marschierte der DDR - Bürger mit ? Systemidentifikation der DDR Bevölkerung vor und nach der Wende. In : Uta Gerhardt / Ekkehard Mochmann ( Hg.), Gesellschaftlicher Umbruch 1945–1990. Re - Demokratisierung und Lebensverhältnisse, München 1992, S. 59–79. 90 Vgl. Falco Werkentin, Die politische Instrumentalisierung der Todesstrafe in der SBZ / DDR. Darstellung der justiziellen Praxis in der SBZ / DDR und Bilanz der Rehabilitierung von Verurteilten und deren Angehörigen nach 1990. In : Materialien der Enquete - Kommission „Überwindung der Folgen der SED - Diktatur“. Hg. vom Deutschen Bundestag, Baden - Baden 1999, S. 101–192.

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Legitimation, Kooptation und Repression in der DDR

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Die Gesamtzahl politisch Verfolgter in der SBZ / DDR lag bei einer Bevölkerungszahl von ca. 17 Millionen zwischen 180 000 und 250 000. In den ersten beiden Jahrzehnten der Diktatur waren mehr Menschen betroffen; demgegenüber wird die Zahl der durch politische Strafjustiz Verurteilten in der HoneckerÄra (1971–1989) auf maximal 62 000 geschätzt.91 Hier muss zumindest teilweise auch eine Entwicklung des jeweiligen Gegenübers berücksichtigt werden: Einem auf die Beseitigung der SED - Herrschaft zielenden Widerstand in den 1950er Jahren wurde mit härteren Mitteln begegnet als der Ausreisebewegung oder einer auf Reformen des Sozialismus abzielenden Opposition in den 1980er Jahren. Neben Legitimation und Repression zielte auch Kooptation auf den Erhalt der Herrschaft der SED - Führungsschicht. Generell unterlag die Rekrutierung der sozialistischen Dienstklassen in der DDR stets dem Kriterium der Loyalität (signalisiert durch SED - Mitgliedschaft ). Die vorübergehende stärkere Einbeziehung von Technokraten in ökonomische Entscheidungsprozesse der DDR ab 1963 blieb Episode und hatte keine nachhaltige Wirkung. Lediglich in der SBZ und frühen DDR diente Kooptation nichtkommunistischer Politiker als Mittel zum Herrschaftsaufbau durch die SED und lebte als Farce im Scheinparlamentarismus der DDR fort, wobei die Fortexistenz von Blockparteien auf lokaler Ebene zur Legitimation der SED - Herrschaft durch politische Betätigung von Nichtkommunisten beitrug. Die Einbindung „bürgerlicher“ Eliten war eine Notlösung und wurde in den 1950er Jahren zum Auslaufmodell, verstärkte Repression führte zur Verdrängung nichtkommunistischer Rest - Eliten.

91 Vgl. Raschka, Justizpolitik, S. 308.

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Legitimation, Kooptation und Repression in der Volksrepublik China Christian Göbel

I.

Einleitung

Die Volksrepublik China fordert wie kein anderer Staat zentrale Paradigmen der politischen Ökonomie autokratischer Regime heraus. Weder stellte das als zentral angesehene Problem der Garantie von Eigentumsrechten1 ein großes Hindernis in der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes dar, noch scheint sich die Regierung selbst nach 30 Jahren kontinuierlichen Wirtschaftswachstums in einem „Performanzdilemma“2 zu befinden. Dies ist umso erstaunlicher, als viele Politikwissenschaftler noch Anfang des neuen Jahrtausends den baldigen Zusammenbruch des Regimes prognostizierten. China schien den Weg vieler Autokratien zu gehen, die die „Dritte Welle“ der Demokratisierung nicht überlebten : Mit dem Tod Mao Zedongs im Jahre 1976 wich das totalitäre Regime einem harten Autoritarismus, der im Stile des „developmental statism“3 graduelle wirtschaftliche Liberalisierung mit der restriktiven Begrenzung politischer Partizipation verband. Die Studentenproteste Ende der 1980er Jahre und die zeitgleiche Einführung von Dorfwahlen nährten Hoffnungen auf eine „bottom - up“ Demokratisierung,4 während die in Quantität und Gewaltsamkeit zunehmenden Demonstrationen der Landbevölkerung Anfang der 1990er Jahre weithin als die ersten Signale eines baldigen Kollapses des Einparteienregimes betrachtet wurden.5 Auch das „Aussterben“6 der leninistischen Regime des Ostblocks überstand das Regime unbeschadet. Wie lässt sich diese scheinbare Konsolidierung des chinesischen Einparteienregimes erklären ? Der vorliegende Beitrag untersucht die autoritäre Konsoli-

1 2 3 4 5 6

Vgl. Mancur Olson, Dictatorship, Democracy, and Development. In : American Political Science Review, 87 (1993), S. 567–576. Vgl. Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman 1991, S. 50. Siehe Meredith Woo - Cumings ( Hg.), The Developmental State, Ithaca 1999. Vgl. Gunter Schubert, Village Elections in the PRC. A Trojan Horse of Democracy ? In: Duisburg Working Papers on East Asian Studies, 19 (2002). Vgl. Gordon G. Chang, The Coming Collapse of China, New York 2001. Kenneth Jowitt, New World Disorder. The Leninist Extinction, Berkeley 1992.

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dierung der Volksrepublik China im Hinblick auf das sich verändernde Wechselverhältnis von Legitimation, Kooptierung und Repression. Die Analyse konzentriert sich vornehmlich auf die Jahre nach 1992, da ab diesem Zeitpunkt der Großteil der Kapazitäten geschaffen wurden, die für die heutige Stabilität des chinesischen Einparteienregimes verantwortlich sind. Dennoch sollen diese Entwicklung in ihrem historischen Kontext analysiert werden, da sich hieraus sowohl die Ursachen als auch die Tragweite der chinesischen Reformen ableiten lassen. Wie die Analyse zeigen wird, stellte sich dieser Übergang im chinesischen Fall als ein Rückzug des Zentralstaats aus vielen gesellschaftlichen Bereichen dar, der das Regime vor genau die Herausforderungen stellte, denen durch die Reformen ab 1992 begegnet wurde. So war das totalitäre Mao - Regime durch ein äußerst hohes Maß an Repression und ideologischer Indoktrinierung, aber einen niedrigen Kooptations - und Performanzgrad geprägt. Nach dem Tod Maos nahmen der Repressions- und der Indoktrinierungsgrad ab, der Performanz- und Kooptationsgrad aber nicht signifikant zu. So entstand ein Machtvakuum, in dem sich gesellschaftlicher Widerstand gegen die zunehmende Korruption, anwachsende Ungleichheit und hohe Inflation bildete. Dieser Widerstand fand in den Demonstrationen von 1989 seinen Ausdruck, die von Studenten initiiert wurden, sich aber schnell auf andere Bevölkerungsschichten ausweiteten. Durch gezielte Reformen verbesserte das Regime in den folgenden Jahren die Performanz, kooptierte wichtige gesellschaftliche Gruppen und behielt den Einsatz von Repression für den Notfall vor. Dieser Aufsatz argumentiert, dass diese Maßnahmen die Stabilität des Regimes bedeutend erhöht haben. Eine weitere wichtige Erkenntnis betrifft die Dimension der Repression : Obwohl das Regime seinen Machterhaltung nicht auf Repression gründet, wurde der Repressionsapparat dennoch kontinuierlich ausgebaut und das Repressionsinstrumentarium verfeinert.

II.

Legitimation, Kooptation und Repression unter Mao Zedong

1.

Phase des Aufbaus des kommunistischen Staats

Nach Ausrufung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 setzte die Kommunistische Partei Chinas ( KPCh ) unter der Führung von Mao Zedong den Staatsaufbau fort, den sie in den kommunistischen Besatzungsgebieten („Sowjets“ ) und mit Unterstützung der Sowjetunion bereits in den 1930er Jahren begonnen hatte.7 Ein Kennzeichen dieser Phase war die Gleichzeitigkeit von Industrialisierung und Aufbau eines leninistischen Regierungsapparates, in dem Partei und Regierung ineinander verwoben waren. Finanziert durch Steuerein7

Vgl. United States War Department / Lyman P. Van Slyke, The Chinese Communist Movement. A Report of the United States War Department, July 1945, Stanford 1968.

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nahmen, Schatzbriefe und Spenden stiegen die Regierungsausgaben von rund sieben Millionen im Jahre 1950 auf 29 Millionen Yuan nur sieben Jahre später an. Wie die Verteilung der Haushaltsposten zeigt, war das Hauptziel der Politik in diesen Jahren der wirtschaftliche Aufbau des von Krieg und Bürgerkrieg geschwächten Landes. Während 1950 60 Prozent des Haushalts in Verteidigung und Verwaltung und nur 36 Prozent in wirtschaftlichen Aufbau und sozialpolitische Maßnahmen flossen, kehrten sich diese Verhältnisse schon 1952 um.8 Absolute Militärausgaben blieben zwischen 1951 und 1960 konstant, Verwaltungsausgaben stiegen nur langsam an.9 Saich urteilt über diese Anfangsphase folgendermaßen : „[ T ]he achievements by the mid - 1950s were impressive. The country, with the exception of Taiwan, was unified, the rural revolution completed, inflation tamed, and solid economic growth achieved.“10 Die zunehmende wirtschaftliche Performanz der jungen Volksrepublik schien zunächst auch von politischer Liberalisierung begleitet zu werden. In den Jahren 1956 und 1957 rief Mao Zedong in einer Rede vor Bevölkerung und Parteimitgliedern dazu auf, Kritik am bisherigen Kurs zu üben und Verbesserungsvorschläge zu machen. Nach anfänglichem Zögern übten zunächst Intellektuelle und später breite Bevölkerungsgruppen heftige Kritik an Missständen wie Korruption und Vorteilsnahme durch Parteikader, den undemokratischen Charakter des Regimes sowie Fehler in der Agrarpolitik.11 Der Vorsitzende der KPCh, Mao Zedong, der sich zunächst wie Premier Zhou Enlai und Generalsekretär Deng Xiaoping für eine begrenzte Liberalisierung des Systems ausgesprochen hatte, unterstützte daraufhin die Liberalisierungsgegner, die vom Kommandanten der Volksbefreiungsarmee Zhu De sowie General Peng Dehuai angeführt wurden.12 Ab 1958 trat das Regime in eine totalitäre Phase ein, die von massiver Indoktrinierung, verringerter Performanz, massiver Repression sowie einem niedrigen Maß an Kooptation gekennzeichnet war.

2.

Sinisierung des Marxismus

Während der totalitären Phase der Volksrepublik griffen Indoktrinierung und Repression ineinander. Die KPCh gründete ihre Legitimation auf ein ideologisches Konstrukt, das durch stetige Anpassung („Sinisierung“ ) in eine Extremform des Marxismus mutierte. Die Vordenker Maos bedienten sich hierbei des dialektischen Materialismus. Vereinfacht gesagt argumentierten sie, dass der Marxismus eine essentielle Wahrheit sei, die in ihrer Reinheit nicht erfasst werden kann. Alle vorhandenen Schriften seien nur lokale Adaptionen. So seien Leninismus und Stalinismus russischer, die Schriften Maos hingegen chinesi8 9 10 11 12

Vgl. Jonathan D. Spence, The Search for Modern China, New York 1990, S. 545. Ebd. Tony Saich, Governance and Politics of China, Basingstoke 2004, S. 25. Vgl. Roderick MacFarquhar, The Origins of the Cultural Revolution, New York 1974. Vgl. Spence, Search, S. 567–572.

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scher Marxismus. Selbst die Werke Marx verkörperten nicht seine Reinform. Sie seien eben deutscher Marxismus.13 Dieser Trick ermöglichte es Mao, in der chinesischen Revolution nicht die Arbeiter, sondern die Bauern in den Vordergrund zu stellen, und bildete die Basis für einen ausgeprägten Nationalismus, der das Regime bis heute prägt. Der Guerillakrieg verhalf der KPCh zur Macht und gab dem Maoismus eine stark militaristische Prägung. Diese Anwendung des dialektischen Materialismus ermöglichte es Mao, seine Politik sowohl a posteriori durch „Anpassung“ des Marxismus an die chinesischen Revolutionserfahrungen als auch a priori durch Reden und Programme im marxistischen Diktum zu rechtfertigen. Mao instrumentalisierte die Ideologie, um die Gesellschaft im Dienste des Fortschritts Chinas zu militarisieren. Zitate wie die Analogie des Chinesen als „leeres Blatt Papier“,14 das es nach Belieben zu beschreiben gelte, sowie die Feststellung, dass Macht aus den Gewehrläufen komme,15 verdeutlichen das gut. Was die Rassenideologie für die Nationalsozialisten war, war die Kraft der Masse für Mao. Politische Indifferenz akzeptierte das kommunistische Regime nicht. Der Wille des Individuums wurde durch ständige „struggle sessions“ gebrochen, in denen die Individuen Kritik und Selbstkritik übten. Der Einzelne wurde dem Kollektiv verpflichtet. Ein Zitat Maos verdeutlicht diese Strategie : „Wir werden jeden, der einen Fehler gemacht hat, willkommen heißen und ihn von seiner Krankheit heilen, damit er ein guter Genosse wird, wenn er seine Krankheit nicht verbirgt, um der Behandlung zu entgehen, wenn er nicht so lange auf seinem Fehler beharrt, bis er nicht mehr zu kurieren ist, sondern ehrlich und aufrichtig den Wunsch zeigt, sich dem Arzt anzuvertrauen und sich zu bessern.“16

3.

Herrschaft durch Terror

Dieser „Heilungsprozess“ war tendenziell mit physischen und psychischen Schmerzen verbunden. Repression spielte während der Herrschaft Mao Zedongs eine große Rolle für den Machterhalt der KPCh. Das begann mit den Bodenreformen, in denen „Großgrundbesitzer“ enteignet und ihr Land unter den Bauern verteilt wurde. Die Enteignungen verliefen häufig gewaltsam, und

13 Siehe hierzu Stuart R. Schram, The Thought of Mao Tse - Tung, Cambridge 1989; Mao Zedong, Über die Praxis. Über den Zusammenhang von Erkenntnis und Praxis, von Wissen und Handeln. In : ders. ( Hg.), Ausgewählte Werke, Band I, Peking 1967, S. 347– 364. 14 Mao Zedong zitiert nach Schram, Thought, S. 190. 15 Vgl. Mao Zedong, Probleme des Krieges und der Strategie. In : ders., Ausgewählte Werke, Band II, Peking 1968, S. 255–274. 16 Vgl. Mao Zedong, Den Arbeitsstil der Partei verbessern. In : ders., Ausgewählte Werke, Band III, Peking 1969, S. 35–54.

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viele Grundbesitzer verloren ihr Leben.17 Im Zuge der auf die „Hundert Blumen- Bewegung“ folgenden „Kampagne gegen Rechts“ (1958) wurden mehr als 300 000 Intellektuelle bestraft,18 und die „Große - Sprung - Hungersnot“ 1959–1961 kostete zwischen 17 und 46 Millionen Menschen das Leben.19 Wie Felix Wemheuer jedoch zeigt, handelte es sich hierbei nicht nur um Hungertote: Viele Menschen wurden auf ihrer Flucht in Städte oder nahrungsmittelreichere Dörfer auf Anweisung lokaler Parteisekretäre getötet.20 Vor allem in der Parteiführung nahm Mao Zedongs Legitimität in Folge dieses Desasters Schaden. Als Reaktion auf die Hungersnot leiteten gemäßigtere Kräfte in der KPCh wiederum eine Phase wirtschaftlicher und politischer Liberalisierung ein, die allerdings im Jahre 1966 mit dem Beginn der „Kulturrevolution“ beendet wurde. Politisch stellte die Kulturrevolution einen Putsch Mao Zedongs und seiner Anhänger gegen die reformorientierte Fraktion um Liu Shaoqi dar, der in bürgerkriegsähnliche Zustände ausgeweitet wurde. Mao propagierte den Klassenkampf als Motor der chinesischen Entwicklung. Die ihm ergebenen „Roten Garden“ terrorisierten die Bevölkerung und bekämpften sich schlussendlich gegenseitig. „Kritik und Selbstkritik“ und öffentliche Folterung dienten als Mittel der Gleichschaltung der Bevölkerung und der Bekämpfung der Opposition. Die bestehenden politischen und rechtlichen Strukturen wurden außer Kraft gesetzt und politische Eliten verfolgt. Das Regime stützte sich vor allem auf ad hoc eingerichtete Revolutionsräte und die weiterhin funktionierende Armee.21

4.

Zellularisierung der Gesellschaft

Die Institutionalisierung eines permanenten Klassenkampfes entsprang der Vorstellung Mao Zedongs, es gebe in einer sozialistischen Gesellschaft immer noch Klassen. Ohne den Klassenkampf, so Mao, könnten revisionistische Elemente schnell den Kapitalismus wiederherstellen. Der Klassenkampf hingegen bewahre die Vorherrschaft des Proletariats. Auf diese Weise gelang es Mao, der Ruhepunkt einer Entwicklung zu werden, die sich durch wechselnde Koalitionen und, mit der Ausnahme der Armee, personelle Inkonsistenz auszeichnete.

17 18 19 20 21

Vgl. William Hinton, Fanshen. A Documentary of Revolution in a Chinese Village, New York 2008. Vgl. Spence, Search, S. 572. Vgl. Frank Dikötter, Mao’s Great Famine. The History of China’s Most Devastating Catastrophe, 1958–1962, New York 2010. Vgl. Felix Wemheuer, Steinnudeln. Ländliche Erinnerungen und staatliche Vergangenheitsbewältigung der „Großen Sprung“ - Hungersnot in der chinesischen Provinz Henan, Frankfurt a. M. 2007. Vgl. Roderick MacFarquhar / Michael Schoenhals, Mao’s Last Revolution, Cambridge 2006; Roderick MacFarquhar, Origins; ders., The Great Leap Forward, 1958–1960, New York 1983; ders., The Coming of the Cataclysm, 1961–1966, Oxford 1997.

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Mao herrschte also nicht durch Kooptation, sondern durch das gegenseitige Ausspielen bestehender sowie neu geschaffener gesellschaftlicher Gruppen.

5.

Performanz

Mit der Ausnahme der frühen 1950er Jahre und der Zeit zwischen Ende des Großen Sprungs und Kulturrevolution dürfte die Performanzlegitimität des Regimes vor allem auf dem Land niedrig gewesen sein. Der Versuch der Regierung, ab 1958 rapides Wirtschaftswachstum durch die Verstaatlichung von Privateigentum, die Errichtung von Volkskommunen sowie die Eliminierung privater Märkte zu schaffen, scheiterte und mündete in die erwähnte Hungersnot. In den Städten hingegen starben wenige Menschen an Hunger. Es gab formal keine Arbeitslosigkeit, und alle Städter waren in betriebseigene Sozialsysteme integriert. Auf der anderen Seite litten vor allem die Stadtbewohner unter dem Terror der Kulturrevolution, und die Bildungsinstitutionen wurden de facto außer Kraft gesetzt. Im Nachhinein ist es schwierig, das gesellschaftliche Klima dieser Zeit zu bewerten. Zeitzeugenberichte legen nahe, dass die Haltung der Bevölkerung zum Regime sowohl auf dem Land als auch in der Stadt vor allem durch die erwähnte Mischung aus Indoktrinierung und Repression geformt wurde. Das Überleben des Regimes dürfte eher dem Terror als der Performanz geschuldet sein.

III.

Rückzug des Staates

1.

Unkontrolliertes Wachstum und steigende Ungleichheit

Ab Anfang der 1970er Jahre, vor allem aber nach dem Tod Maos 1976, begann eine Verschiebung der Parameter. Seit der Zerschlagung der „Roten Garden“ durch die Armee und der gleichzeitigen Annäherung Chinas an die Vereinigten Staaten zog sich der Staat zunehmend aus der Regulierung gesellschaftlichen Lebens zurück. Gleichzeitig bildete sich ein Machtvakuum, in dem Repression und Indoktrination im Vergleich zur Mao - Ära stark verminderte Anwendung fanden. Das Leben der Bevölkerung wurde vor allem durch die Zwänge eines entfesselten Kapitalismus strukturiert. Die in diesem Band behandelte Frage der Parameter des Regimeerhalts von Ideokratien beruht implizit auf einer zentralstaatlichen Regimekonzeption oder zumindest auf einer Konzeption, in der Zentral - und Lokalregierung gemeinsame Strategien verfolgen. Die Erfahrungen Chinas in der nun besprochenen Phase sind so schwer zu erfassen. Zwar gab es keine schwerwiegenden Konflikte zwischen den Regierungsebenen, doch die Entwicklungen zu dieser Zeit wurden dezentral bestimmt. Das weit verbreitete Bild von Legitimität durch Performanz in dieser Zeit eines sprunghaft ansteigenden Wirtschaftswachstums

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Abb. 1 : Anteil von verschiedenen Eigentumsformen an der Industrieproduktion (1978–1994, in % ). Quelle : National Bureau of Statistics, Zhongguo Tongji Nianjian 1983–2010 ( China Statistical Yearbook ), Beijing 1983–2010.

muss also hinterfragt werden.22 Tatsächlich wuchs die Wirtschaft in dieser Zeit dezentral und unkontrolliert. Zwei Indizien belegen diese Sichtweise : das Verhältnis von ( zentralen ) Staatsunternehmen und ( lokalen ) Kollektivunternehmen sowie das Verhältnis von Wachstum und Inflation. Wie Abbildung 1 zeigt, nahm der Anteil der chinesischen Staatsunternehmen am Bruttosozialprodukt ab Mitte der 1980er Jahre ab, während der Anteil ländlicher und privater kollektiver Unternehmen beinahe im selben Maße zunahm. Die Anzahl der formal sich im Besitz der Dorf - und Gemeinderegierung befindlichen Kollektivunternehmen vervielfachte sich von weniger als drei Millionen im Jahre 1983 auf beinahe 25 Millionen nur 10 Jahre später. Im selben Zeitraum stieg die Anzahl der Beschäftigten von rund 30 Millionen auf beinahe 150 Millionen – die Kollektivunternehmen absorbierten somit rund ein Drittel der ländlichen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter. Diese Entwicklung wurde dezentral angestoßen und von der Zentralregierung geduldet, aber keineswegs koordiniert oder gar kontrolliert. Dies wird ersichtlich in der Betrachtung des zweiten Indizes ( Abbildung 2).

22 Vgl. zur Frage der Output - Legitimität von Autokratien den Beitrag von Manfred G. Schmidt in diesem Band.

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Abb. 2 : Wachtums - und Inflationsraten, 1980–2010. Quelle : World Bank, World Development Indicators and Global Development Finance (2011).

Das Wachstum der chinesischen Wirtschaft verlief zwischen 1980 und 1993 nicht nur äußerst ungleichmäßig, sondern ging zudem mit ebenso ungleichmäßigen Inflationsraten einher. Wachstum und Inflation verliefen zeitverzögert : Die Überhitzung der chinesischen Wirtschaft durch unkontrollierte Güterproduktion in Chinas Dörfern und Gemeinden führte zur Angebotsinflation, woraufhin die chinesische Zentralbank durch Verringerung der Geld - und Kreditmenge das Investitionsvolumen senkte. Die Inflation konnte so zwar unter Kontrolle gebracht werden, jedoch nur zum Preis einer kontraktierenden Wirtschaft. Die von der Lokalebene ausgehende und von der Zentrale geduldete, aber kaum regulierte wirtschaftliche Liberalisierung erhöhte die für eine relevante gesellschaftliche Minderheit ( Kader und Unternehmer ) wichtige Performanzlegitimität der Regierung, begünstigte aber gleichzeitig Korruption, Faktionalismus und steigende Ungleichheit.23 Der Gini - Koeffizient, ein Maß für Einkommensungleichheit, stieg rasant von 0,3 im Jahre 1978 auf 0,42 im Jahre 1994.24 Innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten verschob sich die Einkommensverteilung vom Niveau der Niederlande auf das von Kenia. Der Rückzug des Staates kann schließlich auch an der sinkenden Staatsquote gemessen werden : 1978 betrug sie noch 40 Prozent, bis 1994 fiel sie auf weniger als 15 Pro-

23 Vgl. Joseph Fewsmith, China Since Tiananmen. The Politics of Transition, Cambridge 2001. 24 Vgl. Jiandong Chen / Dai Dai / Qiaobin Feng / Wenxuan Hou / Ming Pu, The Trend of the Gini Coefficient of China, BWPI Working Paper, 109 (2010), S. 20.

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zent.25 Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Performanz der Regierung entlud sich in Studentenprotesten in vielen Städten Chinas, die sich auf andere Bevölkerungsschichten ausweiteten und 1989 durch die Regierung gewaltsam niedergeschlagen wurden.26

2.

Bildung klientelistischer Netzwerke

Im Hinblick auf Kooptierung ergibt sich ein ähnliches Bild. Während Macht und Richtungskämpfe in Folge des Todes Mao Zedongs und Zhou Enlais im Jahre 1976 die politische Agenda der Zentralregierung bestimmten, traten die Lokalregierungen bereits in eine Phase der „Ökonomisierung der Politik“27 ein: Mit der Übernahme der ehemaligen Brigade - und Kommunenunternehmen durch die Dorf - und Gemeinderegierung verschwammen die Unterschiede zwischen Politikern und Unternehmern. Zudem begünstigte die Freisetzung von günstigen Krediten durch die Zentral - und Provinzregierungen die Formierung von klientelistischen Verteilungskoalitionen, die Politiker und Unternehmer der Zentral - und Lokalebenen umfasste, aber den überwiegenden Teil der Bevölkerung ausschlossen, wie der rasch ansteigende Gini - Koeffizient verdeutlicht.

3.

Ideologisches Vakuum und selektive Repression

Die Phase von 1976 bis 1989 war auch hinsichtlich der Anwendung von Gewalt und der Bereitstellung verpflichtender Deutungsmuster von einem Rückzug des Staates geprägt. Der Wirtschaftspolitiker Chen Yun, der Deng Xiaoping in der Anfangsphase der Wirtschaftsliberalisierung unterstütze, prägte die bekannte Metapher von der „Überquerung des Flusses durch Ertasten der Steine“. Die Reformen selbst wurden ex post facto ideologisch legitimiert – die Parteitheoretiker verorteten China im „Primärstadium des Sozialismus.“ Da China die im historischen Materialismus vorgesehene Stufe der Demokratie quasi übersprungen hatte, musste das normalerweise im Kapitalismus erreichte Entwicklungsniveau im Sozialismus erreicht werden. Ebenso wurde die Anwendung repressiver Mittel stark reduziert. Beispielsweise ging die Regierung gegen die seit 1987 von Intellektuellen öffentlich geäußerten Demokratieförderungen genauso wenig vor wie gegen die in der Provinz Anhui schwelenden Studentenproteste. Dies änderte sich erst, als sich eine breite gesellschaftliche Koalition aus Studenten, Intellektuellen, Arbeitern und anderen gesellschaftlichen Gruppen 25 Eigene Berechnung nach National Bureau of Statistics, Zhongguo Tongji Nianjian 2010 ( China Statistical Yearbook 2010), Beijing 2010. 26 Vgl. Fewsmith, China. 27 Thomas Heberer, Das politische System der VR China im Prozess des Wandels. In : ders./ Claudia Derichs ( Hg.), Einführung in die politischen Systeme Ostasiens, Wiesbaden 2008, S. 41–45.

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auf dem Platz des Himmlischen Friedens versammelte und Reformen einforderte. Zu diesem Zeitpunkt ähnelte China den Modernisierungsdiktaturen in Lateinamerika, in denen eine erstarkende Gesellschaft die Legitimität eines schwachen Zentralstaats in Frage stellte.28 Die chinesische Führung reagierte darauf zunächst mit Repression.29

IV.

Konsolidierung

1.

Sozialsysteme und ökonomische Transformation

Nach der erfolgreichen Niederschlagung der Proteste setzte eine Phase allmählicher Konsolidierung ein, die keiner der von Huntington klassifizierten Reaktionen auf gesellschaftlichen Widerstand entspricht. Die Konsolidierung fand ihren Ausdruck in einer Erhöhung der Regimeperformanz, vermehrter Kooptation, selektiver Repression bei gleichzeitiger Steigerung der Repressionskapazitäten und verstärkter ideologischer Durchdringung. Als Reaktion auf die Unruhen 1989 bemühte sich die Regierung systematisch um die Verbesserung staatlicher Performanz. Die Ergebnisse dieser Bemühungen lassen sich zunächst wiederum aus den Daten zu Wachstum und Staatsquote ermessen. Korrelierten ungleichmäßiges Wachstum und sprunghafte Inflation zwischen 1980 und 1994 noch miteinander, so waren die Wachstumsraten ab 1995 nicht mehr so heftigen Schwankungen wie zuvor unterworfen. Die Inflationsrate wurde zwischen 1994 und 1997 von beinahe 25 Prozent auf ca. zwei Prozent reduziert, im Zuge der Asienkrise rutschte China gar in die Deflation. Seither überstieg die Inflationsrate nur 2008 und 2011 fünf Prozent. Ebenso wurde die Staatsquote von weniger als 15 Prozent 1997 auf über 20 Prozent 2010 gesteigert und der Anteil der Zentralregierung an den Steuereinnahmen stieg von ca. 13 Prozent auf über 50 Prozent.30 Dies signalisiert eine proaktivere und zunehmend durch die Zentralregierung gesteuerte Geld - und Fiskalpolitik. Drei weitere Indikatoren belegen eine stark erhöhte Performanz der Zentralregierung. Erstens wurde die Abgabenlast der Bauern ab 1999 stark reduziert,31 und die Bereitstellung von Sozialleistungen wie Arbeitslosenversicherung, Rente, Krankenversicherung und Sozialhilfe wurde von der Stadt - auf die Landbevöl-

28 Vgl. Huntington, Third Wave, S. 55. 29 Dies ist eine der fünf von Huntington formulierten Handlungsoptionen : 1) Verdrängung, 2) Repression, 3) außenpolitische Aggressivität, 4) Pseudodemokratisierung, 5) Demokratisierung. Vgl. ebd., S. 55–58. 30 Eigene Berechnungen nach China Statistical Yearbook, 2010. 31 Vgl. Christian Göbel, The Politics of Rural Reform in China. State Policy and Village Predicament in the Early 2000s, Abingdon 2010.

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Abb. 3 : Mitglieder in den Sozialversicherungen, 1989–2009 ( in 10 000). Quelle : National Bureau of Statistics, Zhongguo Tongji Nianjian 2010 ( China Statistical Yearbook ), Beijing 2010.

kerung ausgedehnt.32 Die verbesserte Absicherung der Bevölkerung gegen Lebensrisiken lässt sich aus Abbildung 3 ermessen. Seit Anfang des Jahrtausends wurden die Deckungsraten der chinesischen Sozialversicherungen stark erhöht. So reagierte die chinesische Regierung auf die Tatsache, dass Krankheit die Hauptursache von Armut in China war ( und noch immer ist ), indem sie die Krankenversicherung auf die bisher unversicherte Landbevölkerung ausdehnte. Rund ein Drittel aller Chinesen sind inzwischen krankenversichert. Bis 2020 sollen alle Chinesen in das Krankenversicherungssystem integriert werden. Auch die Renten - , Arbeitslosen - und Arbeitsunfallversicherungen werden allmählich ausgedehnt. Das 2011 verabschiedete Sozialversicherungsgesetz schreibt zudem die Integration von Wanderarbeitern in die Sozialsysteme vor. Auch die Sozialhilfe wurde von den Städten in den ländlichen Raum übertragen : Während 2005 etwa 20 Millionen Landbewohner nur temporäre Hilfe erhielten, wurde 2009 an 50 Millionen Landbewohner die besser geregelte Sozialhilfe ausgezahlt.33 Die Leistungen der Sozialsysteme sind deutlich weniger umfangreich als in Deutschland und leiden zudem noch unter Implementierungsproblemen. Dennoch ist eine starke Verbesserung der sozialen Absicherung der chinesischen Bevölkerung festzustellen. 32 Vgl. Chak Kwan Chan / King Lun Ngok / David Phillips, Social Policy in China. Development and Well - being, Bristol 2008. 33 Vgl. China Statistical Yearbook, 2010.

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Ein zweiter Indikator ist die graduelle Entwicklung Chinas zur „Wissensökonomie.“ Da China seinen komparativen Kostenvorteil in der Produktion einfacher Güter verliert und die Bevölkerung stark unter den ökologischen Konsequenzen dieses Produktionsmodells leidet, zielt die Wirtschaftspolitik der Regierung seit Anfang der 2000er Jahre auf die Erhöhung eigener Innovationskapazitäten und auf gesteigerte Wertschöpfung abzielende Produktionsprozesse. Ausdruck finden diese Bemühungen in den Ausgaben für Forschung und Entwicklung, die von ca. 0,6 Prozent des BSP 1997 auf 1,7 Prozent im Jahre 2009 angestiegen sind.34 Ein dritter Indikator ist die Reaktion der Regierung auf die Weltfinanzkrise, die auf Grund des Abzugs ausländischen Kapitals und sinkender Exportnachfrage zunächst zu Massenentlassungen führte. Durch die gleichzeitige Erhöhung der Geldmenge und die Verabschiedung eines „Stimuluspaketes“ in Höhe von rund 400 Milliarden Euro konnten die zu erwartenden negativen Folgen bisher abgefedert und der Binnenmarkt gestärkt werden.35 Auch wenn zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Aufsatzes ( Januar 2012) noch nicht abgeschätzt werden kann, wie nachhaltig diese Investitionen waren und ob China seine „harte Landung“ nur vertagt hat, kann jedoch festgestellt werden, dass sich die chinesische Regierungen den Herausforderungen der Finanzkrise gestellt und diese zunächst überwunden hat.

2.

Von der Arbeiter - zur Massenpartei

Definiert man Kooptierung in einer Autokratie nicht nur als Integration einer Person oder Personengruppe in eine klientelistische Verteilungskoalition, sondern bezieht auch Elemente von Koproduktion mit ein, so lassen sich auch in diesem Punkt große Unterschiede zu den beiden bisher besprochenen Phasen feststellen. Koproduktion bedeutet hierbei, dass Bürger an der Erbringung beispielsweise von staatlichen Dienstleistungen direkt beteiligt werden. Paternalismus wird so durch Partizipation ersetzt, der Staat hierdurch entlastet. Ein solches „empowerment“ kann Legitimität erzeugen, gerade weil der Staat nicht alle sozialen Angelegenheiten hierarchisch regelt. Seit Mitte der 1980er Jahre, aber verstärkt seit Ende der 1990er Jahre zielt die Regierung darauf, lokale Gemeinschaften, die dem Modernisierungsprozess zum Opfer gefallen sind, zu reaktivieren oder gänzlich neu zu schaffen. In den Dörfern wurde die alltägliche Verwaltung an semi - demokratisch gewählte Dorfkomitees delegiert, die allerdings keine Gesetzgebungskompetenzen erhielten. Die Ausprägung der Wahlen und ihr Wettbewerbsgrad unterliegen großer Varianz. Sehr viele lokale Berichte legen die Schlussfolgerung nahe, dass die 34 Vgl. China Science and Technology Indicators Research Association, Science and Technology Statistics of China (1998–2010), Beijing 2011. 35 Vgl. Ligang Liu, Impact of the Global Financial Crisis on China. Empirical Evidence and Policy Implications. In : China & World Economy, 17 (2009) 6, S. 1–23.

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Abb. 4 : Registrierte „zivilgesellschaftliche“ Organisationen, 2001–2008. Quelle: National Bureau of Statistics, Zhongguo Tongji Nianjian 2010 ( China Statistical Yearbook ), Beijing 2010.

übergeordneten Ebenen sowohl auf die Kandidatenselektion als auch auf das Wahlergebnis Einfluss nehmen und bei Misstrauensvoten intervenieren. Nichtsdestoweniger wurde ihre Implementierung beständig ausgeweitet. Dadurch wurden die Wahlen, wie O’Brien und Li zeigen, ein wichtiges Instrument ländlicher Interessengruppen, um ihre Rechte gegenüber korrupten oder unfähigen Kadern einzufordern.36 Auf diese Weise werden Chinas Bauern teilweise in das Regime integriert und als Kontrollinstanz gegen lokale Korruption instrumentalisiert.37 In den städtischen Nachbarschaftsvierteln wurden ebenfalls Maßnahmen ergriffen, die die lokale Bevölkerung zur Selbstverwaltung anregen und den Staat entlasten helfen sollen. So wurden Aufgaben wie die Bearbeitung von Sozialhilfeanträgen, die Auszahlung von Sozialhilfe, das Angebot von Freizeitaktivitäten für ältere Mitbürger sowie die Integration von Arbeitslosen auf die Nachbarschaftsebene übertragen. Wie diese Beispiele zeigen, zielen diese Reformen auf die Verwaltung und Kontrolle prekärer Bevölkerungsschichten. Der Ober - und Mittelschicht zugehörige Stadtbewohner wissen wenig über die Nachbarschaftskomitees, da sie selten mit ihnen in Kontakt kommen. Ihre Interessen werden von autonomeren und mächtigeren Organisationen repräsentiert, wie beispielsweise Hauseigentümerkomitees oder funktionale Verbände.38 36 Vgl. Kevin J. O’Brien / Lianjiang Li, Rightful Resistance in Rural China, Cambridge 2006. 37 Vgl. Richard Baum / Alexei Shevchenko, The „State of the State“. In : Merle Goldman / Roderick MacFarquhar ( Hg.), The Paradox of China’s Post - Mao Reforms, Cambridge 1999, S. 333–360. 38 Vgl. Thomas Heberer / Christian Göbel, The Politics of Community Building in Urban China, Abingdon 2011, Kapitel 7.

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Die Instrumentalisierung gesellschaftlicher Kräfte für staatliche Zwecke ist auch im Nichtregierungssektor zu beobachten. Die Anzahl registrierter sozialer und Non - Profit - Organisationen wurde zwischen 2001 und 2008 verdoppelt, wie Abbildung 4 verdeutlicht. Gegenwärtig existieren beinahe 400 000 registrierte soziale und Non - ProfitOrganisationen. Relevant in Abbildung 4 ist nicht nur der Anstieg „zivilgesellschaftlicher“ Organisationen, sondern auch dessen Gleichmäßigkeit. Diese Gleichmäßigkeit liegt in der Kontrolle begründet, die das Ministerium für Zivilverwaltung durch sehr umfangreiche Registrierungsvorschriften über Zusammensetzung und Wachstum des Dritten Sektors ausübt. Die Mehrheit dieser Organisationen ist in unpolitischen Feldern wie soziale Wohlfahrt und Umweltschutz tätig. Regierungen auf allen administrativen Ebenen unterstützen solche Organisationen und inkorporieren sie gegebenenfalls sogar in das Geflecht an Massenorganisationen, die an die KPCh angebunden sind.39 Organisationen mit politischen Zielen hingegen haben es schwer sich als staatlich anerkannte Organisation zu registrieren und sind oft staatlicher Repression ausgesetzt. Auch durch Rechtsinstitutionen wird die Bevölkerung in das Regime integriert. So stieg beispielsweise die Anzahl verwaltungsgerichtlicher Klagen im Konsolidierungszeitraum stark an. Betrug die Anzahl solcher Klagen 1989 weniger als 10 000, so klagten 2008 bereits über 100 000 Menschen gegen Verwaltungsentscheidungen.40 Diese Zunahme verdeutlicht, dass eine steigende Anzahl von Menschen bereit ist, Konflikte mit dem Staat in durch denselben Staat bereitgestellten Institutionen auszutragen. Dies setzt ein gewisses – und nicht immer gerechtfertigtes – Vertrauen in diese Institutionen und damit in den Staat selbst voraus. Ähnlich kann auch das zunehmende Vordringen des Staatsapparats in Wirtschaft und Gesellschaft als Kooptierung interpretiert werden. Durch die Verregelung des Wirtschaftslebens und die Bereitstellung von Sozialleistungen gerieten ökonomische Akteure wie Privatpersonen zunehmend in die Abhängigkeit des sich allmählich reformierenden Staats - und Verwaltungsapparats. Ein „klassisches“ Beispiel für die zunehmende Kooptierung relevanter gesellschaftlicher Gruppen stellt sicherlich das Verhältnis des Regimes zum Privatunternehmertum dar. Während dieses unter Mao noch verboten war, erkannte die Partei 2003 Privatunternehmer offiziell als „Produktivkraft“ an. Nicht nur weitete sie ihren Repräsentationsanspruch hiermit nun auch auf die vorher bekämpfte Bourgeoisie aus, sondern ermöglichte es Unternehmern zudem, in die Partei einzutreten.41 Die ohnehin schon existierende enge Verbindung zwischen Politik und Kapital wurde hiermit ideologisch zementiert. Insgesamt 39 Vgl. Thomas Heberer, China. Creating Civil Society Structures Top - down ? In : Bruno Jobert / Beate Kohler - Koch ( Hg.), Changing Images of Civil Society. From Protest to Governance, Abingdon 2008, S. 87–104. 40 Vgl. China Statistical Yearbook 2010. 41 Vgl. John W. Lewis / Xue Litai, Social Change and Political Reform in China. Meeting the Challenge of Success. In : The China Quarterly, 43 (2003) 176, S. 926–942.

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belegt die sich ändernde Mitgliederstruktur der KPCh hin zu zunehmend jüngeren, besser ausgebildeten und nun auch besser verdienenden Mitgliedern die Strategie der Partei, vermehrt gesellschaftliche Eliten zu kooptieren und somit nicht nur ihre Regierungsfähigkeit zu steigern, sondern auch besagte Personen auf die Linie der Partei zu verpflichten.

3.

Selektive Repression

In der Analyse der Rolle von Repression für die Regimeerhaltung muss eine wichtige Unterscheidung zwischen tatsächlicher Repression und dem Aufbau von Repressionskapazitäten getroffen werden. Während erstere nach 1989 nicht signifikant zunahm und vor allem selektiv ausgeübt wurde, der Erhalt des chinesischen Einparteisystems also nicht auf die Ausübung von Repression zurückgeführt werden kann, nahmen die Repressionskapazitäten der Regierung jedoch stetig zu. Die Tatsache, dass die chinesische Regierung in der Erhaltung des Regimes vor allem auf Kooptation und Legitimation setzt, bedeutet natürlich nicht, dass Repression keine Rolle mehr spielt. So zeigen die effektive Niederschlagung von Massenprotesten in Tibet ( so zuletzt 2008), Xinjiang (2009) und der Inneren Mongolei (2011) sowie die Verhaftung von Anwälten, kritischen Intellektuellen und Künstlern im Vorfeld wichtiger politischer Ereignisse wie der Olympischen Spiele 2008 oder dem Führungswechsel 2012, dass die chinesische Regierung den selektiven Einsatz von Repression immer noch als probates Mittel der Wahrung innenpolitischer Stabilität sieht. Obgleich die Stabilität des Regimes nicht auf Repression beruht, erhöht und verfeinert das Regime seine Repressionskapazitäten stetig. Die Zunahme von Repressionskapazitäten drückt sich in vier Entwicklungen aus : Die erste Entwicklung ist der stetige Anstieg der Regierungsausgaben für öffentliche Sicherheit. Wandten chinesische Lokalregierungen 1988 nur etwas mehr als zwei Prozent ihres Haushalts für öffentliche Sicherheit auf, lag dieser Prozentsatz im Jahr 2009 schon bei 6,4 Prozent. Es ist jedoch wichtig festzustellen, dass die Ausgaben der einzelnen Provinzen stark von diesem Durchschnitt abweichen. So wendete Gansu 2009 4,62 Prozent seines Haushalts für öffentliche Sicherheit auf, während Guangdong sich in diesem Jahr bereits der Marke von zehn Prozent näherte.42 Die zweite Entwicklung ist die Dezentralisierung der Sicherheitsorgane. Ein wenig beachtetes Dokument des Zentralkomitees der KPCh im Jahre 2003 verfügte unter anderem, dass Qualität und Quantität der untersten Sicherheitsorgane, der Polizeiunterstationen ( paichusuo ), auf der Dorf - und Nachbarschaftsebene zu erhöhen seien. Quantitativ drückt sich das in einem Anstieg der Anzahl von Polizeisubstationen von 37 978 (1990) auf 52 000 (2004) und von 42 Eigene Berechnungen nach China Statistical Yearbook, 2010.

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Bereitschaftspolizisten ( wujing ) von 680 000 (1978) auf 1,43 Millionen (2004) aus. Somit wird ein Teil der steigenden Sicherheitsausgaben in Personal - , Bau und Renovierungskosten investiert.43 Ein weiterer Teil der Ausgaben, und das ist die Grundlage für den dritten und vierten Trend, fließt in die Modernisierung des öffentlichen Sicherheitsapparats. Die dritte Entwicklung ist die Zentralisierung von sicherheitsrelevanten Informationen. Sie ergänzt quasi die Dezentralisierung der Sicherheitsorgane. Genaue Zahlen liegen nicht vor. Regierungsdokumente und Berichte legen jedoch nahe, dass die Zentralregierung in die Errichtung von Datenbanken investiert, die durch lokale Sicherheitsbehörden „gefüttert“ werden und deren Zugang flexibel und je nach Notwendigkeit geregelt werden kann. Die Verbesserung des „Management der Gesellschaft“ ( shehuiguanli ) ist ein Element im 12. Fünfjahresplan und sieht unter anderem Investitionen in statistische Analyseverfahren vor, mit deren Hilfe Risiken identifiziert und „Katastrophen“ ( hierunter fallen auch Massenproteste ) verhindert werden sollen.44 In einer Rede zur Zukunft des Managements der Gesellschaft wies Präsident Hu Jintao darauf hin, dass die Regierung eine Datenbank erstellt, die persönliche Daten eines jeden chinesischen Bürgers enthalten wird.45 Auf Basis solcher Datenbanken und verbesserter Kommunikation zwischen Sicherheitsorganen soll die Fähigkeit zu „rapid response“ ( yingji ) systematisch verbessert werden. Die vierte Entwicklung ist die Fütterung dieser Datenbanken mit Hilfe von technologiebasierten Überwachungsinstrumenten. In einem Bericht zum „Golden Shield“ der chinesischen Regierung, der „adoption of advanced information and communication technology to strengthen central police control, responsiveness, and crime combating capacity“46, zeigte Greg Walton, dass die chinesische Regierung moderne Telekommunikationstechnologien nicht nur zur Kontrolle und Zensur des Internets einzusetzen gedenkt. Vielmehr, so Walton, erschaffe die Regierung ein veritables Panoptikum : „Beijing’s Golden Shield surveillance network is intended to be able to ‚see,‘ to ‚hear,‘ and to ‚think.‘“47 Ähnlich wie Filtertechnologien zur Überwachung des Internets ermöglicht „speech signal processing“ die automatische Überwachung von Telefongesprächen. Bestimmte Worte und Phrasen können so individuellen Nutzern zugeordnet werden. Öffentliche Sicherheitskameras dienen nicht nur der Verkehrsüber 43 Vgl. Zhongguo Faxuehui, Zhongguo falü nianjian ( Jahrbuch der Gesetze von China ), Beijing 1980–2005. 44 Vgl. State Council of the People’s Republic of China, Guojia zhongchangqi kexue he jishu fazhan guihua gangyao (2006–2020) ( Planungsleitlinien für Chinas mittel - und langfristige Technologieentwicklung (2006–2020); National Development and Reform Commission, Zhonghua renmin gongheguo guomin jingji he shehui fazhan di shierge wu nian guihua gangyao (2011–2015) (12. Fünfjahresleitlinien für die ökonomische und soziale Entwicklung der Volksrepublik China (2011–2015), Beijing 2010. 45 Vgl. Hu Jintao. In : Renmin Ribao, 20. Februar 2011, S. 1. 46 Greg Walton, China’s Golden Shield. Corporations and the Development of Surveillance Technology in the People’s Republic of China, Montreal 2001, S. 6. 47 Ebd., S. 15.

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wachung, der Verhinderung von Verbrechen und der frühzeitigen Warnung vor Demonstrationen, sondern können auch zur Gesichtserkennung genutzt werden. Ein dichtes Netz an Kameras könnte es den Sicherheitsbehörden beispielsweise ermöglichen die Bewegungen von Dissidenten nachzuverfolgen. Die Infrastruktur hierfür ist vorhanden, denn China verfügt über das weltweit größte Netz an öffentlichen Sicherheitskameras. Ein weiteres Beispiel für den präventiven Einsatz von Sicherheitstechnologien bietet die Forschung der in Shenzhen ansässigen Firma China Information Technologies. Auf ihrer englischsprachigen Webseite stellt das im Nasdaq gelistete Unternehmen einen Personalausweis für Migranten vor, den sie gerade entwickelt.48 Dieser Ausweis soll nicht nur eine große Bandbreite persönlicher Informationen enthalten, sondern zudem mit einem fernabfragbaren RFID - Chip ausgestattet sein. Unter Zuhilfenahme von GPS und Geographical Information Systems ( GIS ) könnte diese Technologie die Überwachung von Wanderarbeitern auf digitalen Umgebungskarten in Echtzeit ermöglichen. So könnten Zusammenballungen von Wanderarbeitern frühzeitig erkannt und mit Hilfe lokal ansässiger Sicherheitskräfte verhindert werden. Nicht durch Zufall zählen vor allem die Sicherheitsbehörden reicher südchinesische Städte zu den Kunden des Unternehmens. Hieraus erklärt sich auch die absolute und relative Höhe des Sicherheitshaushalts von Städten wie Kanton, Shenzhen, Shanghai und Beijing.49 Es ist keineswegs so, dass die geschilderten Innovationen gleichzeitig überall Anwendung finden. Die lokale Sicherheitsarchitektur variiert stark, da der Sicherheitshaushalt dezentralisiert ist und vielerorts von den Einnahmen der Lokalregierungen abhängt. Während reiche Gebiete, in denen soziale Mobilität und der Zuzug von Migranten zur gesellschaftlichen Anonymisierung geführt hat vor allem auf Hochtechnologie basierte Überwachungssysteme kommissionieren, setzen ärmere Städte, in denen „traditionelle“ Nachbarschaften zumindest teilweise erhalten geblieben sind, eher auf soziale Technologien wie gegenseitige Kontrolle, freiwillige Informanten und Selbstdisziplin.50

4.

Kultur und Indoktrinierung

Wie Anne - Marie Brady zeigt, stellte das Jahr 1989 einen Wendepunkt nicht nur im Hinblick auf die Performanzstrategie der Regierung dar. Auch das Propagandasystem der chinesischen Regierung stand im Zentrum der Reformbemühungen. Die Vernachlässigung der Propagandaarbeit in den frühen 1980er Jahren begünstigte nach Ansicht konservativer Eliten die Verbreitung der Demokratieideen, mit denen die Studenten Ende der 1980er Jahre ihre Proteste rechtfertig48 Vgl. http ://www.chinacnit.com / en / detail.php ?article_id=908; 16.1. 2012. 49 Vgl. http ://www.chinacnit.com / cn / page.php ?column_id=286; 16.1. 2012. 50 Vgl. Heberer / Göbel, Politics.

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ten.51 Brady zitiert Deng Xiaoping bei einem Treffen der Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros kurz nach den Protesten mit folgender Aussage: „[O]ur gravest failure has been in [ political ] education. We did not provide enough education to young people, including students. For many of those who participated in the demonstrations and hunger strikes it will take years, not just a couple of months, of education to change their thinking.“52 In den folgenden Jahren schränkte die Regierung daher die Freiheit der Medien weiter ein und legte einen Schwerpunkt in der Propagandaarbeit auf die Gestaltung überzeugenderer Narrative. Zunächst äußerte sich das in der oben besprochenen Modifikation marxistischer Ideen, um die Verbindung von Sozialismus und Marktwirtschaft ideologisch zu rechtfertigen.53 Ebenso reagierte die Propagandaabteilung auf die Tatsache, dass die rasche Verbreitung des Internets in China ihr Deutungsmonopol für gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Entwicklungen gefährdete. Medienorgane wurden deshalb angewiesen, über negative Vorkommnisse so lange nicht zu berichten, wie sie nicht im Internet diskutiert wurden. Zeichnete sich jedoch ab, dass die Verhinderung der Verbreitung solcher Vorfälle nicht möglich war, sollten diese in den offiziellen Medien nicht länger unterdrückt, sondern nach Vorgaben der Propagandaabteilung berichtet werden.54 Narrative sollen also nicht statisch sein, sondern an die Lebenswelt und Präferenzen bestimmter Bevölkerungsgruppen angepasst werden. So zeigt Heike Holbig, wie das Regime seinen Legitimitätsanspruch von der Propagierung abstrakter Mentalitäten hin zur populistischeren Festlegung kurz - und mittelfristiger Entwicklungsziele verschoben hat, an denen sie sich messen lassen will.55 Sollten diese Ziele erreicht werden, kann sich die Regierung die Verantwortung dafür loben. Sollten sie jedoch nicht erreicht werden, kann die Unfähigkeit der untergeordneten Ebenen getadelt werden. In der Propagandaarbeit geht es jedoch nicht nur darum, durch Bereitstellung überzeugender Inhalte Zustimmung zu erzeugen. Hinzu kommt das allgemeinere Ziel, der Bevölkerung systemstabilisierende Werte und Normen zu vermitteln. Ein Beispiel sind für Autokratien sensible Themen wie Menschenrechte und Demokratie. Hier stellt der Propagandaapparat „westlichen“ bzw. „individualistischen“ Lesarten eigene Modelle entgegen, die ihre Basis in kollektivistischen Werten haben. Hierbei wird die Existenz eines eigenen Entwicklungsmodells hervorgehoben, das in der

51 52 53 54 55

Vgl. Anne - Marie Brady, Marketing Dictatorship. Propaganda and Thought Work in Contemporary China, Lanham 2008, S. 41. Ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 48 f. Vgl. Neibu tongxun, (2003) 18, S. 4–6; Neibu tongxun, (2003) 12, S. 4–9. Vgl. Heike Holbig, Ideological Reform and Political Legitimacy in China. Challenges in the Post - Jiang Era. In : Thomas Heberer / Gunter Schubert ( Hg.), Institutional Change and Political Continuity in Contemporary China, London 2008, S. 13–34.

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Tradition der „5 000 - jährigen Geschichte“ des Landes stehe und die Gemeinschaft vor das Individuum stelle.56 Worte wie Demokratie, Freiheit und Partizipation sind in China, anders als in anderen Autokratien, im öffentlichen Diskurs nicht tabu. Allerdings entspricht die Bedeutung dieser Worte in China nicht den westlichen, liberaldemokratischen Konzepten. „Demokratie“ beispielsweise ist kein Wert an sich, sondern benennt einen partizipativen Mechanismus, mit dem auch nichtdemokratische Ziele erreicht werden können.57 Es ist daher kein Zufall, dass Konzepte, die der autokratischen Regierungsform der VR China diametral entgegenzustehen scheinen, im chinesischen Diskurs oft Verwendung finden. Durch die Belegung normativer Konzepte mit alternativen, regimekompatiblen Inhalten werden die negativen Auswirkungen gemildert, wenn diese Konzepte als diskursive Waffen gegen den autokratischen Charakter des Regimes eingesetzt werden. Argumentieren die Gesprächspartner beispielsweise auf der Basis unterschiedlicher Demokratiebegriffe, ist eine Diskussion über den demokratischen Charakter Chinas schwierig. Ein solches Gespräch verschiebt sich dann leicht zur Frage, wer die Deutungshoheit für solche Begriffe besitzt und ob nicht die „chinesische“ Form der Demokratie der „westlichen“ gleichberechtigt zur Seite gestellt werden müsse. Wird dies verneint, ist es leicht dem westlichen Gesprächspartner zu unterstellen, dass er die Toleranz vermissen lasse, die doch ein Bestandteil der Demokratie sein solle.58 Vor allem seit 2008 wurde die Propagandaarbeit nochmals intensiviert. In einer Rede im Juni betonte Präsident Hu Jintao die Notwendigkeit, nicht nur an der Verbesserung von Propagandainhalten, sondern auch an der Vermittlung regimekonformen Einstellungen zu arbeiten.59 Es ist daher kein Zufall, dass die „Reform des Kultursystems“ im Zentrum des sechsten Plenums des 17. Zentralkomitees ( ZK ) stand, das im Oktober 2011 abgehalten wurde und die politische Richtung für den im Herbst 2012 konstituierten 18. ZK vorgab.60 In seiner Rede von 2008 betonte Hu, dass die chinesische Bevölkerung einen steigenden Bedarf nach unterschiedlichen und qualitativ hochwertigen Informationen entwickele und die Partei auf diese Ansprüche reagieren müsse. Der Medien - und Kultursektor sollte ein attraktives Kulturgebot bereitstellen, gleichzeitig sollten Erziehungs - und Propagandasystem die öffentliche Meinung „steuern“. Auf diese 56 Vgl. State Council Information Office, Building of Political Democracy in China, Beijing 2005. 57 Vgl. Yu Keping / Yan Jian, Min zhu shi ge hao dong xi. Yu Keping fang tan lu (Demokratie ist eine gute Sache. Dialog mit Professor Yu Keping ), Beijing 2006. 58 Siehe z. B. Yu Keping, Rang minzhu zaofu Zhongguo ( Demokratie China zum Vorteil gereichen lassen. Ein Dialog mit Professor Yu Keping ), Beijing 2008, S. 56. 59 Vgl. Hu Jintao, In : Renmin Ribao, 23 (2008) Januar, S. 1. 60 Vgl. Zhonggong Zhongyang guanyu shenhua wenhua tizhi gaige tuidong shehuizhuyi wenhua dafazhan dafanrong ruogan zhongda wenti de jueding ( Entscheidung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas zu einigen wichtigen Fragen betreffend der Vertiefung der Reform des Kultursystems und des Aufbaus hochentwickelter und blühender sozialistischer Kultur ), Beijing, 2011.

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Weise könnten Konsumanspruch und - angebot in einer Weise zusammenfinden, die nicht die Kontrolle der Partei unterminiere.61 Konkret verfügte das Dokument unter anderem, dass der Anteil der chinesischen Kulturindustrie am Bruttosozialprodukt innerhalb von fünf Jahren von 2,75 (2011) auf fünf Prozent erhöht werden solle.62 Empirische Untersuchungen legen nahe, dass derartige Maßnahmen durchaus systemstabilisierend wirken. Unterschiedliche Umfragen, darunter auch der World Values Survey, zeigen dass mehr als 70 Prozent der Bevölkerung Vertrauen in die Politik der KPCh haben, wobei sich diese Unterstützung auf die Zentralregierung bezieht.63 John James Kennedy belegt, dass das Erziehungssystem und die Medien tatsächlich für die Formierung solcher Einstellungen verantwortlich sind. Er wendet das McGuire - exposure - acceptance - Modell auf den World Values Survey an und belegt die mit Bildungsgrad und Medienkonsum zunehmende Wahrscheinlichkeit, dass eine Person das Regime unterstützt. Er legt jedoch auch die Grenzen dieser Strategie dar : Das Unterstützungsniveau nimmt bei Gruppen wieder ab, die das Gymnasium und höhere Bildungsziele erreicht haben.

V.

Zusammenfassung und Auswertung

Die Konsolidierung des chinesischen Einparteienregimes ging mit einem sich verändernden Verhältnis von Legitimation, Kooptation und Repression einher. Während das totalitäre Mao - Regime sich in seinem Machterhalt vor allem auf eine aufeinander abgestimmte Mischung aus Repression und Indoktrinierung stützte, fanden diese beiden Instrumente nach dem Tod Mao Zedongs stark vermindert Anwendung. Die Tatsache, dass das entstehende Machtvakuum zunächst nicht durch Performanzlegitimität oder vermehrte Kooptierung ausgefüllt wurde, gab gesellschaftlichem Widerstand gegen das Regime Raum. Auf den massiven gesellschaftlichen Widerstand reagierte das Regime mit der gleichzeitigen Stärkung aller vier Säulen. Die Performanz des Regimes wurde vor allem durch die Ausweitung und Vertiefung des Sozialversicherungssystems sowie politischer und wirtschaftlicher Reformen verbessert. Gleichzeitig investierte das Regime in die Verbesserung des Propagandaapparats, um eine ideologische Grundlage für die Ausweitung des chinesischen Reformprozesses zu schaffen und Zustimmung für die KPCh zu erzeugen. In diese Zeit fiel auch die Strategie, eine wachsende Anzahl gesellschaftlicher Gruppen zu kooptieren. Allerdings handelte es sich hierbei eher um Kooptierung durch Koproduktion 61 Vgl. Hu Jintao, Meeting. 62 Vgl. Entscheidung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas zu einigen wichtigen Fragen betreffend der Vertiefung der Reform des Kultursystems. 63 Vgl. John James Kennedy, Maintaining Political Support for the Chinese Communist Party. The Influence of Education and the State - controlled Media. In : Political Studies, 57 (2009), S. 517–536, hier 517.

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Legitimation, Kooptation und Repression in der VR China

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als durch Einbettung in klientelistische Verteilungsnetzwerke. Trotz der breiten Zustimmung, die die Zentralregierung auf Grund dieser Maßnahmen in der Bevölkerung erhielt, verzichtete sie nicht auf den Einsatz von Repression. So wurde der Überwachungs - und Kontrollapparat stetig ausgebaut. Für den Fall China kann gezeigt werden, dass drei der in der Einleitung zu dieser Sonderausgabe formulierten Hypothesen auf den chinesischen Fall zutreffen : Die Erzeugung systematischer Legitimität verhinderte bisher Performanzdilemmata. Der Rückgang harter und offener Repression ging mit erweiterten Kooptationsbemühungen einher. Weiterhin korrelierten Legitimations - und Kooptationsdefizite im Mao - Regime tatsächlich mit hoher Repression. Allerdings ist unklar, ob es sich hierbei um Kausalitäten handelt. Gerade das Mao - Regime stützte seine Herrschaft durchwegs auf Repression, sogar als die Legitimität des Regimes noch hoch zu sein schien. Allerdings waren nicht immer alle gesellschaftlichen Gruppen in gleichem Maße Opfer der Repression – zuerst waren es Landbesitzer, später Intellektuelle und schließlich alle der „Konterrevolution“ Verdächtigten. Als die Repression schließlich abnahm, wurde diese Säule zunächst nicht durch eine andere ersetzt. Das Regime verharrte mehrere Jahre in einem Machtvakuum, das zunächst durch gesellschaftliche Kräfte ausgefüllt wurde. Die Kooptierungsbemühungen des Regimes folgten viel später. Die verwandte These, dass Parusieverzögerung und negative Performanz zu verstärkten Kooptationsbemühungen führten, kann für das Mao - Regime nicht bestätigt werden, und danach stellte sich das Problem nicht mehr. Die These, dass Legitimationsdefizite bei guter Performanz durch gezielte Kooptierung kompensiert würden, trifft ebenfalls nicht zu, denn die Kooptierungsbemühungen der Regimeeliten richteten sich systematisch und unabhängig von Legitimationsdefiziten auf alle Bevölkerungsgruppen. Die Politik der Regierung bevorzugt nicht mehr nur Bauern und Arbeiter, sondern richtet sich auf die Verbesserung der Lebensbedingungen auch von Intellektuellen, Kapitalisten, Kulturschaffenden und dem Prekariat. Zumindest für den chinesischen Fall zeigt sich, dass die Aussagen des Säulenmodells und der postulierten Ausgleichsprozesse nur begrenzt zutreffen. Dies liegt nicht nur an der Entwicklung der Autokratie in China, in der ein totalitäres System durch ein Machtvakuum abgelöst wurde, was schließlich durch Aufbau aller Säulen wieder ausgefüllt wurde. Das Beispiel China zeigt ebenso, dass das Modell auf ein Mehrebenensystem, in dem lokale Akteure zwar zur Stabilitätswahrung beitragen, dabei aber die Macht der Zentralregierung unterminieren, nur begrenzt anwendbar ist.

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Ideocratic Legitimation in North Korea Jiwon Yoon Despite the collapse of communism in Europe and the Soviet Union, the Democratic People’s Republic of Korea ( DPRK, also known as North Korea ) and the Republic of Korea ( ROK, also known as South Korea ) present a picture reminiscent of the seemingly deceased Cold War, especially with sustained communism in North Korea. In light of continuing famine, economic hardships, and the loss of two national leaders, scholars have provided negative projections for the future of North Korea. For instance, in the article “The Collapse of North Korea”, Bennett and Lind1 provide four possible scenarios for North Korea’s future; one discusses the possibility of the Kim regime’s “muddling through” for years, and three project the collapse of the country. Authors assume that Kim’s regime may collapse either due to a new dictatorship which would take over the political and military institutions, or due to a current leader who acknowledges the failure of the regime ( although the author added that this is very unlikely to happen ), or by a government collapse where Kim’s regime is challenged without the succeeding leader being able to secure power over the country, resulting in the end of political sustainability of North Korea. The death of Kim Il sung in 1994 and Kim Jong - il in 2011 also yielded a negative prediction for its future, including regime collapse.2 However, Kim Jong - il’s regime has proven these predictions premature. Even after the death of Kim Jong - il, his son Kim Jong - un, who looks more like his grandfather Kim Il - sung than his father Kim Jong - il, has succeeded in keeping the regime in power in spite of all these obstacles and challenges. Scholars have provided explanations for the unusual sustainability of North Korea, which has endured a poor economy and the death of the deified national leader and his successor.3 While different factors may account for North Korea’s 1 2

3

Cf. Bruce W Bennett / Jennifer Lind, The Collapse of North Korea. In : International Security, 36 (2001) 2, pp. 84–119. Cf. Kongdan Oh / Ralph Hassig, North Korea between Collapse and Reform. In : Asian Survey, 39 (1999) 2, pp. 287–309; Benjamin Habib, Climate Change and Regime Perpetuation in North Korea. In : Asian Survey, 50 (2010) 2, pp. 378–401; Victor Cha, China’s Newest Province ? In : New York Times, 20th December 2011, A. 33. Cf. Yun - Jo Cho, The Sources of Regime Stability in North Korea. Insights from Democratization Theory. In : Stanford Journal of East Asian Affairs, 5 (2005) 1, pp. 90–99; Daniel Byman / Jennifer Lind, Pyongyang’s Survival Strategy. In : International Security, 35 (2010) 1, pp. 44–74.

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unusual political resilience, the foundation of these possible theories may be explained by the Juche Idea, along with the deification of Kim Il - sung and his family, which has permeated through all social and economic organizations for more than sixty years.4 This chapter argues that with the ideological support of the Juche Idea, Kim Jong - il and Kim Jong - un have implemented cooptation and repressive strategies to secure their ideocratic legitimacy; however, this legitimacy has recently been threatened by an increasingly negative sentiment towards Kim’s family, continuing economy hardships, and the people’s access to communication technologies. Therefore, this chapter examines how the regime has compensated for these threats to its ideocratic legitimation.

I.

Pillars of North Korean Ideocratic Legitimation : Ideology, Cooptation, and Repression

1.

Ideology

Among the totalitarian communist countries, North Korea has sustained “the longest ideologically driven political system”.5 Its underlying ideology, which is referred to as the “Juche Idea”, has intensely filtered into every aspect of society. North Koreans are seen as indoctrinated into the preeminence of this system of beliefs that emphasizes self - reliance, independence, national pride and patriotism, as well as a pledge of loyalty to their leader, and the military revolutionary spirit. This ideology is learned from pre - school and dominates 44 per cent of school hours in elementary school. North Koreans continue to learn the Juche Idea throughout their lives at school, work, and community meetings.6 This ideology is utilized in guiding policy decisions, fostering new work ethics, reforming social class, reinforcing patriotism, and legitimizing labor for the state.7 The Juche Idea is an indigenized ideology that was inspired by Marxism Leninism, but was adapted into the Korean context. It claims that Marxism Leninism could not provide the right solutions to Korea since the founders of Marxism - Leninism did not share the contexts and experiences of Korea.8 In 1948, Kim Il - sung said that “there is no point to have an ‘- ism’ or ideology without minjok (nation) and fatherland” and “authentic communists should be 4 5 6 7 8

Cf. Cho, The Sources of Regime Stability in North Korea. Patrick McEachern, Inside the Red Box. North Korea’s Post - Totalitarian Politics, New York 2010, p. 51. Cf. Cheng Chen / Ji - young Lee, Making Sense of North Korea. ‘National Stalinism’ in Comparative Historical Perspective. In : Communist and Post - Communist Studies, 40 (2007), pp. 459–475, here 471. Cf. McEachern, Inside the Red Box, p. 6; Cf. Chen / Lee, Making Sense of North Korea, 2005; Robert A. Scalapino / Chong - Sik Lee, Communism in Korea ( Part II ) : The Society, Berkeley, Los Angeles 1972, p. 845, 854. Cf. Scalapino / Lee, p. 867.

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true patriots who enthusiastically love their nation and fatherland”.9 The idea has evolved over the 1950s and 1960s, and was finally codified in the constitution and adopted as the official instruction in 1972.10 The Juche Idea means “national self - reliance”, but it also should be understood as “putting Korea first”.11 The idea emphasizes independent thinking and behavior, demanding that people actively resolve all their problems and hardships under any circumstances and protect the country from its “capitalist enemies”.12 This anti - imperialism can be traced back to Japanese colonial rule (1910–1945). After this period, Korea experienced social disintegration, which divided people according to their differing ideas of a new Korea. During this chaotic period of time, Kim Il - sung, the founding member of North Korea, justified his leadership by purging all the pro - Japanese collaborators who were regarded as traitors. He also awarded patriots who had joined in the independence movement against Japanese imperialism and put them into an elite class. Kim Il - sung himself played his part in the independence movement, worked with anti - Japanese revolutionaries, and turned these experiences into a mythology. Kim Il - sung’s anti - Japan activity was framed as “a heroic anti - imperialist struggle”.13 Kim Il - sung was able to justify his regime through postcolonial nationalism supported by the Juche Idea that advocated self - reliance and independence.14 According to Kim Il - sung’s official biographer Baik Bong, Kim Il - sung’s campaign to spread the idea and hope for “the ultimate communist utopia” in the 1950s was effective in reinforcing “unity in ideology and will” among people : “All functionaries and working people came to take the firm juche position of knowing no other ideas than the revolutionary ideas of Comrade Kim”.15 During his official speech in Indonesia, Kim Il - sung claimed the Juche Idea as “the monolithic thought” and “the principle ideology” of the party.16 “Unitary ideology” is often emphasized in ideological writings to establish “a unitary ideological system”.17 Furthermore, his utopian vision that was influenced by communism attracted Koreans, because it suggested a fair society without hierarchical classes by birth. Before the 35 years of Japanese oppression, the only type of government 9 Kim, Il - Sung, 김구와 한 담화 [ Meeting with Kim Ku ]. In : 김일성 조작집 [ Collective Works of Kim Il - Sung ], 4 (1948/1979), pp. 299–300. Originally cited in Chen / Lee, Making Sense of North Korea, p. 465. 10 Cf. ibid., p. 465. 11 Bradley K Martin, Under the Loving Care of the Fatherly Leader. North Korea and the Kim Dynasty, New York 2004, p. 123. 12 Byman / Lind, Pyongyang’s Survival Strategy, 2010, p. 52. 13 Byman / Lind, Pyongyang’s Survival Strategy, p. 55. 14 Cf. Andrew Scobell, Making Sense of North Korea. Pyongyang and Comparative Communism. In : Asian Security, 1 (2005) 3, pp. 245–266. 15 Cited in Martin, Under the Loving Care of the Fatherly Leader, p. 112. 16 Cf. Chen / Lee, Making Sense of North Korea, p. 465. 17 Scalapino / Lee, Communism in Korea, p. 860.

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Koreans had experienced for 500 years was the royal regime of the Lee Dynasty in Chosun, where people were born into a hierarchical class that was determined by succession. Therefore, the picture of a society that Kim Il - sung suggested seemed very radical, yet idealistic, since the former ruling classes were now seen as “explorative” with a “bad social background”. People applauded when Kim Il - sung’s regime overturned the social class by positioning peasants who had never been appreciated and acknowledged as an important class in the society. The regime’s recognition of independent activists who fought against Japan as an elite class was also cordially received by citizens.18 As a result, Kim Il - sung was able to lay a strong foundation for ideocratic rule, following the explanations by Piekalkiewicz and Penn : “If such leadership is to lay the foundation of the ideocratic rule, it must mobilize individuals and galvanize them into a political movement. [...] the leadership must inspire the masses to believe in the ultimate truth of its own solutions to the existing social chaos. Therefore, it creates a powerful vision of a new, reconstructed and unified future community [...] It identifies those who are assumed to be guilty of causing the present disaster [...] and those who exacerbate it [...]. The clear identification of the individual villains personifies the causes of social breakdown, and this helps to unify support for the ideocratic movement”.19 In addition to anti - Japan sentiment, North Korea is very hostile against the United States for its role in the separation of two Koreas, interventions in world affairs, and the control it has maintained over South Korea up until now.20 The U. S. still has wartime operational control of South Korea, so if a war breaks out in Korea, South Korean military does not have the right to operate its own army. This has made North Koreans think of South Korea as a U. S. colony. Through numerous public statements and official articles, North Korea has denounced U. S. intervention in the two Koreas and blamed South Korea for not being independent and withholding the reunification spirit.21 Since Kim Il - sung and his successors have reminded North Koreans of their independence from other “evil” foreign imperialist nations, such as America and Japan, the people’s acceptance of and support for Kim’s family have been ignited and sustained over a long period.22 This strategy confirms how totalitarian regimes use enemies to secure their power, since such enemies can be “obnoxious to them and to the absolute truths of their ideology”.23 Thus, such framing South Korea, Japan, and the United States as the “inconvertible enemy”24 has legitimated Kim’s regime. 18 Cf. ibid., chapter 11; cf. Byman / Lind, Pyongyang’s Survival Strategy, p. 49. 19 Jaroslaw Piekalkiewicz / Alfred Wayne Penn. Politics of Ideocracy, New York 1995, pp. 118–119. 20 Cf. Byman / Lind, Pyongyang’s Survival Strategy. 21 Cf. Dae - Sook Suh, Korean Communism 1945–1980, Honolulu 1981. 22 Cf. Cho, The Sources of Regime Stability in North Korea. 23 Peter Bernholz, Ideocracy and Totalitarianism. A Formal Analysis Incorporating Ideology. In : Public Choice, 108 (2001) 1–2, pp. 33–75, here 33. 24 Ibid.

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2.

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Shared Authority and Cooptation

One of the ways for regimes to obtain legitimacy is by “developing a cult of personality”.25 Supported by the Juche Idea, which interprets society as “a socialpolitical organism under the guidance of its leader as the ‘brain’ (noesu)”, Kim Il - sung successfully legitimized his totalitarian leadership. Kim Il - sung also used his charisma to develop himself as a god - like figure, claiming himself to be “son of the nation” and “eternal President of the Republic”.26 Even after his death in 1994, Kim Il - sung has continued his position as the Supreme Leader and head of the family. However, lacking the charisma of his father, Kim Jong - il has not been able to secure his authority as his predecessor did. Therefore, in order to sustain his regime, Kim Jong - il decentralized the power system among the Korean Workers’ Party (the party), the Korean People’s Army (the military), and the cabinet (the government),27 as well as co - opted the elites whose support and compliance have been critical to the regime’s sustainability.28 Unlike the common assumption that Kim Jong - il was the sole decision - maker who ruled the country by fiat, diverse views and interests have existed among the party, the military, and the cabinet. While these three arms have ultimate shared goals – which are the progress of the country and reunification – they advocate different paths to accomplish them. They have openly discussed and debated different issues, and even questioned Kim’s direction in politics, international relations, and other domestic matters. Within each institution, workers of different levels communicate to determine what they believe to be right, and produce their own policy directives. While Kim Jong - il was the most powerful and important political figure, such internal politics by different institutions influenced his decisions.29 Therefore, unlike Kim Il - sung who was regarded as totalitarian, the Kim Jong - il regime is often considered a “decentralized, post - totalitarian” state. According to McEachern, his “authority is centralized, but his power is diffuse”.30 While the cabinet, party and military have interacted among one another by applying distinct institutional policy platforms, Kim Jong - il has placed priority on the military to ensure its allegiance.31 Such a military - first policy has allowed Kim Jong - il to reinforce his responsibility for the military and the party, thereby evading responsibility for a weak economy. In his public address on December 7, 1996 on the fiftieth anniversary of Kim Il - sung University, Kim Jong - il stated that : “The great leader told me when he was alive never to be involved in eco25 26 27 28 29 30 31

Byman / Lind, Pyongyang’s Survival Strategy, p. 50. Ibid., p. 52. Cf. McEachern, Inside the Red Box. Cf. Byman / Lind, Pyongyang’s Survival Strategy, p. 58. Cf. McEachern, Inside the Red Box. Ibid., p. 13. The author indicates that the pluralism in North Korea should not be considered as democracy. Cf. Cho, The Sources of Regime Stability in North Korea.

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nomic projects, just concentrate on the military and the party and leave economics to party functionaries. If I do delve into economics then I cannot run the party and the military effectively.”32 By reinforcing the responsibility of the Supreme Leader for the military system, the regime has regulated the problem of economic hardship to the party and the populace, asking the people to take ownership and responsibility for overcoming the current challenge.33 This echoes the Juche Idea, which requires independent problem solving in all situations. According to this approach, the country can be protected from “the capitalist enemies” when individuals “use creativity and independence to build a thriving society”.34 It is thus the people’s responsibility, not the Great Leader’s. However, despite the regime’s attempts to shift the responsibility for a poor economy and other domestic and international matters to other institutions, the condition of North Korea has been extremely severe. North Korea has experienced the heavy flood of 1995, unsuccessful agricultural reforms and government distribution systems, along with isolation and curtailed aid resulting from the fall of the Soviet Union and other Communist countries. To protect the regime from riots and a coup, Kim Jong - il co - opted the elites. Like Kim Il - sung, Kim Jong - il protected the middle class from hunger so that they would not be discontent. In North Korea people cannot choose where to live but are assigned to a place of residency by the state. Only selected groups of people, often with superior family backgrounds, get to live in the capital city Pyongyang. During the famine, these people in Pyongyang received enough high quality food, while others in the rural areas and countryside were dying from hunger.35 Such dissimilar living conditions in different regions are also seen in the fact that only 2.1 per cent of North Korean defectors are from Pyongyang,36 which leads to the speculation that those who live in Pyongyang are not in desperate need of change. By guaranteeing the basic necessities among people in the core class, who are assumed to possess the ability to initiate political movements, Kim Il sung and Kim Jong - il have secured their legitimacy. While Kim Jong - un is following his predecessor by securing his legitimacy through ideology, institutionalized bureaucracies, and cooptation of elites, his regime has pursued the cooptation strategy more aggressively to compensate for his lack of leadership qualifications stemming from his young age and inexperience. Unlike his father, who was groomed for leadership over almost two decades, Kim Jong - un was named as vice - chairman of the party’s Central 32 Interesting essay by Kim Jong - il, http ://www.politicsforum.org / forum / viewtopic.php ?f=12&t=49336; 28.12.2012. 33 Cf. Tatiana Gabroussenko, North Korean ‘Rural Fiction’ from the Late 1990s to the Mid- 2000s. Permanence and Change. In : Korean Studies, 33 (2009), pp. 69–100; Sandra Fahy, ‘Like Two Pieces of the Sky’. Seeing North Korea through Accounts of the Famine. In : Anthropology Today, 27 (2011) 5, pp. 18–21. 34 Cf. Byman / Lind, Pyongyang’s Survival Strategy, p. 52. 35 Cf. Byman / Lind, Pyongyang’s Survival Strategy. 36 Cf. Ministry of Unification, http ://www.unikorea.go.kr / CmsWeb / viewPage.req ?idx= PG0000000365; 26.12. 2012.

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Military Committee in September 2010, signaling that he would be the heir. Only 14 months passed before Kim Jong - il’s death. Even worse, Kim Jong - un was never appointed to a top post in the military, the Workers’ Party of Korea, or the cabinet. It seems that Kim Jong - il wanted to compensate for the brief period of the transition of power by appointing personnel who would support Kim Jong - un. For instance, one year before his death, the Workers’ Party of Korea brought in young members who were in their twenties and thirties, and dislodged elders and disabled by giving them the title of “honorary member”, anticipating that younger members would support the young leader Kim Jong un.37 Kim Jong - un also co - opted the rule of his uncle Jang - Sung - taek, the husband of Kim Jong - il’s only sister. He had accompanied Kim Jong - il for almost 40 years and was thus well informed of Kim Jong - il’s way of governance and relationship with the cabinet. Kim Jong - il appointed him as Vice - Chairman of the National Defense Commission, the second highest position after the Supreme Leader. However, while other politicians have been invested with the title of general, Kim Jong - il never conferred the title of general to Jang Sung - taek. It is assumed that Kim Jong - il was afraid of Jang’s power, fearing the possibility of a plot by Jang against the regime. In fact, Hwang Jang - yop, the highest - ranking defector, had projected that Jang might be the successor to Kim Jong - il, because of the power given to him and due to Kim Jong - il’s not specifying an heir for more than 15 years. Unlike his father who was afraid of the possibility of a coup or revolt by Jang, it seems like Kim Jong - un co - opted the rule of his uncle, either voluntarily or involuntarily. During Kim Jong - il’s funeral, the outside world was surprised to see Jang Sung - taek wearing a four - star general’s uniform, an indication of more authority. It is still not clear how Jang will exercise his power during Kim Jong - un’s regime, but it is projected that Jang will have more power than anyone else has ever held, except the three Kims. Some even project that Jang may be the real authority figure, controlling Kim Jong - un due to their former relationship as family. Since all of Kim Jong - il’s children, including Kim Jong - un, were raised by Kim Kyong - hui, a wife of Jang Sung - taek, Jang and Kim Jong - un have close family ties. Because Kim Jong - un was not anticipated to become an heir for a long time, the type of relationship that he established with Jang was assumed to be casual, with more power and authority attributed to Jang as the elder. These factors may have made Kim Jong - un dependent on and deferential to Jang Sung - taek.38

37 Cf. Mun Suk Ahn, Kim Jong - il’s Death and His Son’s Strategy for Seizing Power in North Korea. In : Problems of Post - Communism, 59 (2012) 4, pp. 27–37. 38 Cf. Peter M. Beck, North Korea in 2011. The Next Kim Takes the Helm. In : Asian Survey, 52 (2012) 1, pp. 65–71; Ahn, Kim Jong - il’s Death and His Son’s Strategy; Sungha Joo, 김정은의 북한, 어디로 가나 [ Kim Jong - Un’s North Korea : Where it is going], Seoul 2012.

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236 3.

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Repression

In order to secure legitimacy and authority, the three Kims have used repression. North Korea is known as one of the world’s most repressive countries, with “arbitrary arrest, detention, lack of due process, and torture and ill - treatment of detainees” and “collective punishment for various anti- state offenses”.39 Political offenders are often sent to forced labor camps with their family members, including parents, spouses, children, and grandchildren. They mine, log, or do agricultural work in harsh environments without proper allocation of food, housing, clothes, and medical care. They are also brutally treated and tortured by guards. Although North Korea never admits the existence of such labor camps, it is estimated that around 200,000 people are confined in these facilities. Furthermore, citizens are publicly executed for various offenses : “crimes against the state” and “crimes against the people” are vaguely defined and broadly applied. People committing “non - violent offenses such as fraud and smuggling”40 have also received the death penalty. Such repression has created fear within the people and has led them to conform to their leaders’ rules. Most North Korean refugees testify that the main reason they dithered over defection was the fear of getting caught, because their entire family could be punished. Even after they are granted asylum in other countries, many of them change their names and avoid media exposure, to avoid their family being punished for their “betrayals”. Those defectors say that those who fearlessly appear in front of the public and the media must have lost all family members and are without a single relative. In North Korea people have to live in a registered town, and inspectors check the family residency without any notification. However, due to the food shortage, many citizens travel other cities and even cross the border to China to attain food and other necessities. As those who go to China come back with necessities not only for their families but to sell in the black markets and to give bribes to inspectors, these inspectors are often indulgent towards these households with missing members. However, when missing people are gone for a long time, their households are listed for special arrangements or punishments. Because there are too many missing people, the state does not punish all the family members when someone is found missing. However, when missing people are found to have defected to other countries and are not planning to come back, their family members can be sent to a forced labor camp or even be executed.41 39 Human Rights Watch, Country Summary. North Korea ( http ://www.hrw.org / world report - 2012/ world - report - 2012–north - korea; 4.1. 2013). 40 Ibid. 41 Data about suppression is acquired from direct communication with North Korean refugees and books that were written by North Korean refugees, such as : Geum - Hee Choi, 금희의 여행 : 아오지에서 서울까지 7,000km [ Geum - Hee’s Travel. From Ah Oh - Ji to Seoul ], Seoul 2007; Good Friends ( eds.) 두만강을 건너온 사람들 [ People Who Crossed the Duman River ], Seoul 1999; Good Friends ( eds.) 사람답게 살고 싶소 [ I Want To Live Like a Decent Human Being ], Seoul 1999.

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While three Kims have instilled fear in people to sustain their regime, it is reported that Kim Jong - un is being more suppressive than Kim Jong - il. The number of defectors has decreased during 2012 because of stricter border security. Up to 20,000 more soldiers are now placed on the Chinese border, and unlike previous guards who received bribes and let people cross the border, increasing numbers of them now do not take bribes, due to the penalties that would be imposed on them.42

II.

Ideocratic Legitimation at Risk

With such a shared homogenous belief system that the entire nation lives by, without allowing different ideas that may challenge the current ideology, North Korea can be seen as a nation with a classic ideocracy.43 North Korea’s unprecedented sustainability, after all of the hardships that could have resulted in the fall of the regime, serves as proof that there is still a developed ideocratic legitimation. However, despite the nation’s continuing adherence to the monistic ideology that permits Kim’s autocracy, ideocracy in North Korea is not fully secured and maintained, and thus there are challenges to its legitimacy. Several intervening factors, such as the people’s disappointment in the leadership, the continuing economic hardships, and accessibility to outside information via technology have been threatening its fully developed ideocratic legitimation. This article will therefore examine how the regime compensates for these threats to ideocratic legitimation.

1.

Changing Public Sentiment

Legitimation in North Korea is closely connected to suryung, meaning the great leader of the country. The Juche Idea emphasizes a pledge of loyalty to the leader, and Kim Il - sung is seen not as a mere founder of the country but rather as a divine figure who is the center of the entire nation. However, the people’s perception towards his successor Kim Jong - il is not necessarily the same. The present author taught young North Korean refugees in South Korea to help them prepare for school diploma exams and better acculturate to South Korean society from 2002 to 2003, and during the summer of 2008. The author also is 42 UK Border Agency, http ://www.bia.homeoffice.gov.uk / sitecontent / documents / policyandlaw / countryspecificasylumpolicyogns / northkoreaogn ?view=Binary; 6.1. 2013. 43 According to Piekalkiewicz and Penn, ideocracy is “a political system animated by a ‘monistic ideology’ and that derives its legitimacy from this ideology.” Cf. Piekalkiewicz / Penn. Politics of Ideocracy, p. 2.; according to Lipset, legitimacy is defined as “the capacity of the system to engender and maintain the belief that the existing political institutions are the most appropriate ones for the society.” Cf. Seymour Martin Lipset, Political Man. The Social Bases of Politics, New York 1963, p. 63.

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keeping a close relationship with North Korean defectors who settled down in the United States. Although most of these young people ( ages 13–25) from North Korea are too young to remember Kim Il - sung as their leader, most of them talked fondly about him. These students regarded Kim Il - sung as a grandfather - like figure who always has wanted and tried to provide the best for his people. Still, most of these students blamed Kim Jong - il for the current hardships in North Korea. They thought they were deceived by Kim Jong - il. While expressing strong hostility towards him, they still believed that Kim Il - sung was the true leader of the country. When one student said that the only mistake Kim Il - sung made was appointing Kim Jong - il as his successor, other students strongly agreed. Such different attitudes and perceptions towards Kim Il - sung and Kim Jongil did not exist only among my students. Fahy could also see North Korean refugees “nostalgically romanticize Kim Il - sung, often in explicit contrast to the ineptitude of his son, Kim Jong -il”.44 North Koreans’ varying attitudes can also be seen in their mourning when Kim Jong - il passed away, compared to their grieving after Kim Il - sung’s death. According to North Korean defectors who live in South Korea, North Koreans genuinely cried and grieved after the death of Kim Il - sung, as they were truly sad for the loss of their great leader. However, their tears were not sincere at Kim Jong - il’s funeral, but they were forced to mourn in front of a camera. Because most North Koreans have lost at least one of their family members due to jail, famine, or execution, most do not honor Kim Jong - il in their hearts, although they used to genuinely support Kim Il - sung.45 People’s changing perceptions of their leader was a great pressure on Kim Jong - il, and presented an even greater burden on Kim Jong - un. He was not prepared as a leader like his father, who was prepared to be a national leader by Kim Il - sung for 20 years after being anointed as the successor. According to Hwang Jang - Yop, who was Chairman of the Supreme People’s Assembly and a teacher of Kim Jong - il at Kim Il - sung University and who defected to South Korea in 1997, Kim Jong - il played the role of the highest leader of the country since 1985. In fact, before Kim Il - sung’s death Kim Jong - il served as a chairman of the National Defense Commission for 11 years, exercising the power of a country leader before he officially became one. Due to the strong support for Kim Il - sung, people did not feel negatively toward Kim Jong - il when he first became a leader.46 Nonetheless, what Kim Jong - il bequeathed Kim Jong - un were an alienated public sentiment, a poor economy, the disillusioned deification of Kim’s family, isolation from other countries, illegalities and corruption of government officials, and a military with divided loyalty.47 Furthermore, North Koreans were 44 Fahy, ‘Like Two Pieces of the Sky’, p. 20. 45 Cf. Joo, Kim Jong - un’s North Korea. 46 Cf. Beck, North Korea in 2011; Ahn, Kim Jong - il’s Death and His Son’s Strategy; Joo, Kim Jong - Un’s North Korea. 47 Cf. Joo, Kim Jong - Un’s North Korea.

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(and still are ) apprehensive about Kim Jong - un, as very little is known about him and his ability. In the populace’s eyes, Kim Jong - un was never declared and affirmed as a legitimate leader. Therefore, as a young man who was only 28 years old when he became Supreme Leader of North Korea, it has been a huge pressure to reclaim the deep affection for the regime that his father had lost during 17 years in power.48 Although Kim Jong - un inherited a country full of problems without the genuine support of the people, he at least inherited the DNA of Kim Il - sung, the leader who people still have fond memories of. With poor economic performance and a relatively weak approval rating compared to his grandfather and father, Kim Jong - un needs to use his spitting image of Kim Il - sung to build upon his authority and aura.49 It seems as if he has already started to use the resemblance to stir people’s loyalty and nostalgia, as shown in the documentary that was aired on January 2012 by Pyongyang television. The program highlighted Kim Jong - un’s resemblance to his grandfather by including the old picture of Kim Il - sung and Kim Jong - un with identical hairstyles. Kim Jong - un was featured as “the fatherly leader now reincarnated”.50 Another method the regime is using to try to restore people’s pride centers around sports. For the first time, North Korean national broadcasting stations have started to air professional football games in European countries and South America. One of the recent games included a player from South Korea, but the game was aired without any edit. While this can be seen as an attempt to incorporate various genres of television contents, analysts surmise that these foreign football games may be aired to promote the North Korean women’s football team. The North Korean women’s football team’s FIFA ranking is 9th ( data updated on December 07, 2012), and it had remarkable records : In the 2007 World Cup the team made it to the Quarterfinals, won (1st place ) the AFC Women’s Asian Cup three times, staged 3rd place in the 2008 Olympics, and won (1st place ) twice in the Asian Games. With these remarkable records it is conjectured that North Korea is trying to unite people through sports. Broadcasting of foreign professional football games is also seen as a way to make people more excited about football, so that people will pay more attention to the women’s team. Unlike its heyday lasting until 1970, when North Korea could have pride in a better economy than South Korea, North Koreans nowadays can hardly find any solace or pride in the very poor economy and standard of living. Therefore, sports may provide a vehicle for restoring pride and igniting patriotism and nationalism.51

48 Cf. Beck, North Korea in 2011. 49 Cf. Ahn, Kim Jong - il’s Death and His Son’s Strategy. 50 Bruce Cumings, The Kims’ Three Bodies. Communism and Dynastic Succession in North Korea. In : Current History, 111 (2012) September, pp. 216–222, here 218. 51 Cf. KBS, 남북의 창 [ Window of South and North ]. TV program aired in South Korea on 20th October 2012.

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Using sports to encourage people to be proud of their country may seem to be too humble and naïve for the North Korean regime, which had successfully indoctrinated the entire country and had survived the fall of other Communist countries. In fact, in spite of the current detrimental conditions of the country, North Korea may find its way to survive with even more stable legitimacy. North Korea has finally launched a satellite and placed it in orbit successfully for the first time on December 12, 2012. While celebrating the satellite’s success, the state and state - owned media have urged people to emulate the success of the scientists in their own positions and continue the glorious task. The channel repeatedly showed how people with different jobs, such as factory workers, miners, housewives, and athletes, are determined to be successful like these scientists.52

2.

Economic Hardship

In the article “Pyongyang’s Survival Strategy” (2010), Byman and Lind stated that when ideology is successfully indoctrinated, “leaders can legitimize their priorities, rationalize their mistakes, and convince the people that they should be followed simply because it is the right thing to do, even if the followers would suffer no consequences if they did not obey”.53 North Korea has been a great example of successfully inculcating that ideology to secure the legitimacy of its leaders. Here, the Juche Idea and deification of Kim Il - sung and his family are indoctrinated ideologies that have sustained Kims’ regimes, allowing the leaders to get away with poor economic performance and violations of human rights. Still, from a leader with absolute power, Kim Jong - il’s attempts to evade responsibility for the poor economy are seen as deceiving people through a transparent guile; therefore most North Korean refugees blame him for the current hardships in North Korea. Therefore, maintaining the same strategy most likely will not sustain Kim Jongun’s regime. It seems that Kim Jong - un will continue the “military - first” principle that he inherited from his father, as indicated in his statement in the 2012 New Year’s Joint Editorial. However, the statement also highlighted the lives of North Koreans. In fact, knowing that the economic performance would either stabilize or weaken his regime, Kim Jong - un has repeatedly expressed his concern about the poor economy, public welfare, and food deficiency.54 In his statement in November 2011, Kim Jong - un identified food as being more critical than bullets. Because economic reform seems to be the only way for Kim Jong - un to secure his legitimacy, it is projected that he will devote himself to this matter.55 52 Cf. MBC, 통일전망대 [ Unification Observatory ]. TV program aired in South Korea on 17th December, 2012. 53 Byman / Lind, Pyongyang’s Survival Strategy, p. 49. 54 Cf. Ahn, Kim Jong - il’s Death and His Son’s Strategy. 55 Cf. Beauchamp - Mustafaga, Prospects for Economic Reform in North Korea.

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Despite all these efforts to pursue the necessary economic reforms, prospects for the North Korean economy are not necessarily positive, reflecting upon the failure of previous attempts to make reforms. In addition to the “lack of consistent effort in implementation” that the government has demonstrated in the past, the current reforms face problems of the “government’s fear of political instability, lack of public will for reform, lack of an overall design, and resistance by state - owned enterprises”.56 Most of all, without regaining the trust and support of its citizens who have become suspicious of the government’s way of handling the economy, Kim Jong - un will not be able to enact fundamental changes to the country’s economic system. A national newspaper article expressed a concern about such economic reforms by pointing out “the reactivity and danger of the conspiracy of ‘reform’ and ‘opening’ advocated by the imperialists”, and asked for a “high level of vigilance”57 to confront them. Such hostility towards “reform” and “opening”, despite the economic hardships, can be understood by the Juche Idea, which emphasizes independence. In his speech in 1948, Kim Il- sung argued that “it is [...] better to produce finished goods at home and develop the economy independently instead of sending raw materials to be processed abroad”.58 According to Juche Idea, North Korea should pursue independence and autarky, not rely on outside sources. North Korea’s attitude towards “reform” and “opening” can also be found in an article published in the state - run newspaper in September 1998 : “It is a foolish daydream to try to revive the economy by introducing foreign capital, not relying on one’s own strength. If one wants the prosperity of the national economy, he should thoroughly reject the idea of dependence on outside forces, the idea that he cannot live without foreign capital [...]. Ours is an independent economic structure equipped with all the economy sectors in good harmony and with its own strong heavy industry at the core. It is incomparably better than the export - oriented economic structure in other countries”.59 Therefore, in spite of increasing industrial partnership with other countries, the inculcated Juche Idea has generated negative reaction towards economic reform that advocates market opening because economic reform with foreign influence would go against “its claim to absolute control over the people’s economy”.60 In the absence of a shared vision of the new economic system, Kim Jong - un’s plan would be another failed attempt, possibly fatal to the regime. Another consequence that has resulted from long - term famine is an increasing number of North Koreans crossing the border. Until 1998, only 947 North Korean defectors came to South Korea. But since then, 23,667 more defectors came south as of December 2012.61 After the famine in 1996–1997, border 56 57 58 59 60 61

Beck, North Korea in 2011, p. 71. Ibid. Martin, Under the Loving Care of the Fatherly Leader, p. 111. Nicholas Eberstadt, The End of North Korea, Washington 1999, p. 13. Ibid. Cf. Ministry of Unification.

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guards needing money and resources were easily conciliated with bribes, resulting in more people crossing the border. Many North Koreans who go to China to obtain food usually do not plan to go to South Korea when they first cross the border. However, after they see how people live in China, and learn about the prosperity in South Korea, many of them then decide to leave their country. An increasing number of defectors can illustrate the public’s sentiments towards their own government and leader. In order to address the problems of famine and poverty, North Korea has received aid from humanitarian agencies from different countries, including South Korea. This has yielded two unwanted consequences the regime did not want to see. First, more accurate data about North Korea’s condition is now being collected. Although representatives from these countries still do not have access to certain parts of the country, they now have been to the regions that the state officials formerly hid from foreigners.62 Second, North Koreans are now recognizing that they do not live in an utopia. According to North Korean defectors, they knew the country was getting aid from foreign nations, including South Korea. The fact that these countries, especially South Korea, have surplus resources has made North Koreans less proud. Knowing that its power will not be secured without the implementation of fundamental measures to solve the problems of food shortage and economic hardship, the regime is expected to put priority on these matters. Kim Jong - un’s determination to enhance the economy and the quality of people’s lives is well demonstrated in the New Year’s address of 2013. In his 21- minute long televised address he repeatedly mentioned improving the economy ( seven times, compared to twice in the 2012 New Year’s Joint Editorial ) and quality of life ( six times, compared to three times in 2012). To make this happen, he suggested formation of coal - mining, electric power, and metallurgical industries, as well as rail transport so that agricultural productivity and the quality and quantity of consumer goods would be increased. His statement about South Korea, that emphasized relationship improvement and commitment to unification, is also interpreted as an extension of his efforts to boost the economy, because the chronic economic problems cannot be resolved without collaboration with and aid from South Korea and foreign nations. His efforts to enhance international relations can be seen in his celebration of New Year’s Eve : He spent the last day of 2012 with ambassadors in North Korea and they greeted the New Year together.63 It is also worth noting that Kim Jong - un’s New Year address was broadcasted on TV for the first time in 19 years. Unlike Kim Il - sung, who always broadcasted

62 Cf. Sue Lautze, The Famine in North Korea. Humanitarian Responses in Communist Nations ( http ://reliefweb.int / report / democratic - peoples - republic - korea / famine - north - korea - humanitarian - responses - communist - nations, June 1997; 2.1. 2012). 63 Cf. KBS, 남북의 창 [ Window of South and North ]. TV program aired in South Korea on 5th January 2013.

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his New Year speech, Kim Jong - il instead published the New Year’s Joint Editorial in newspapers to make statements. Analysts interpret that this is another attempt of Kim Jong - un to imitate Kim Il - sung, as can be seen in his frequent mention of Kim Il - sung’s name. He mentioned Kim Il - sung 15 times, and it was the most frequent mention in five years. His use of television for the New Year speech is also understood within the regime’s continued efforts using propaganda as a means of regime stabilization.64

3.

Mass Media : Gateway to the Outside World

With the indoctrination of Juche ideology and patriotism, North Korea could sustain a fully developed ideocracy and legitimize central rule by controlling people’s access to information, isolating the general populace from the outside world and prohibiting the diffusion of people’s dissatisfaction. Mass media and information technology in North Korea have been controlled by the government, preventing North Koreans from gaining second - hand experience and learning about different cultures and sociopolitical systems. Mass media control has been a very effective propaganda tool in North Korea. To control the media, the government forbids its people to own, watch, or listen to foreign media contents, and radios and television are hardwired to only receive national channels.65 Therefore, while South Korea has earned the title of the world’s most connected country with the development of high technology, North Korea has still been disconnected from the outside world. However, there have been a number of attempts for a development of information technology, with a hope for “productivity gains from increased coordination and the sharing of state - approved information, while keeping out foreign influence”.66 After establishing several IT research organizations and IT faculties at the universities in the 1980s, hundreds of IT corporations have been launched since then. Some of these corporations include IT service providers for local and foreign clients. For instance, the biggest IT service provider, the Korea Computer Center found in 1990 with more than 1,000 employees, works for South Korea, China, Japan, and European countries. Their products include Red Star ( computer operating system ), e - learning and translation software, and games. North Korea has also established its specialties in IT security and has exported to other countries. While many of these highly qualified engineers are trained in China, India, and European countries, there are also several collaborations overseas, such as a 64 Cf. ibid. 65 Cf. Beck, North Korea in 2011; Scott Thomas Bruce, A Double - Edged Sword. Information Technology in North Korea. In : Asia Pacific Issues, 105 (2012) October, pp. 1–8; Cho, The Sources of Regime Stability in North Korea; Dong - wan Kang / Jungran Park, 한류 통일의 바람 [ Korean Wave. The Wind of Korean Unification ], Seoul 2012. 66 Bruce, A Double - Edged Sword, p. 1.

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collaborative research program with Syracuse University in the USA ( Kim Chaek University of Technology ), and joint ventures with a German ( Nosotek ), U. K. ( Hana Electronics ), Egyptian ( Koryolink ), and several Chinese partners.67 In early 2000 North Korea established a national Intranet system, called Guang Myung ( meaning “bright light” ), and a cell phone network, but neither system allows access to outside of the country.68 While North Korea is hoping to use the domestic Intranet and cell phone system to better control the information flow and to protect the country from foreign media, it seems like the government is having a hard time controlling the information flow and media access of its people.69 Although the country has its own 3G system, many North Koreans do not join the North Korean network but surreptitiously own cell phones from China so that they can communicate with their family members in China, South Korea or other foreign countries. It is estimated that more than 50,000 North Koreans have moved away from their homeland, and many of them have left their families behind unless they escaped together.70 In order to communicate with their families in North Korea, North Koreans possess cell phones that were activated in China or pay brokers to use their phones. Even though these phones can be only used near the Chinese border area to use the signal from China, people travel to the region to talk to their family members who are overseas. Because these overseas family members often support their families in North Korea by sending money, keeping in touch with family members abroad often becomes a way of living for domestic residents. It is not only interpersonal communication that enables residents’ interaction with the outside world. Increasing numbers of North Koreans have been exposed to foreign media, mostly from South Korea, despite the law that prohibits the ownership of foreign media and stipulates severe punishments for violators. Although the state is enforcing more frequent unnoticed inspections of households and implementing new security services, people are taking a risk to obtain these foreign media materials. These media materials, such as South Korean television programs and movies, have introduced North Koreans to the South Korean society with affluent and liberal life styles that most North Koreans do not experience in their daily lives.71 In terms of radio, North Koreans listen to South Korean radio programs that are specifically created for North Koreans and broadcast to North Korea.

67 Cf. Paul Tjia, Inside the Hermit Kingdom. IT and Outsourcing in North Korea. In : Communications of the ACM, 55 (2005) 8, pp. 22–25. 68 Cf. Richard Stone, Crunch Time for North Korea’s Revolutionary New University. In : Science, 334 (2011) 6063, pp. 1624; Cf. Bruce, A Double - Edged Sword; Tjia, Inside the Hermit Kingdom. 69 Cf. Bruce, A Double - Edged Sword. 70 Cf. Ministry of Unification. 71 Cf. Kang / Park, Korean Wave; Nat Kretchum / Jane Kim, A Quiet Opening. North Koreans in a Changing Media Environment, Washington D. C. 2012. See also Scott Thomas Bruce, A Double - Edged Sword.

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Propaganda radio broadcasts beamed at North Korea have existed since the 1950s, and until the 1980s these programs were produced to instill anticommunist ideas. However, after the June 15th North - South Joint Declaration (2000) that was adopted by leaders of North and South Korea, discussing the joint efforts of two Koreas for reunification, these radio broadcasts started to focus more on the cultural homogeneity of North and South Korea. As the number of North Korean defectors to South Korea increases, these North Korean defectors also have participated in producing these programs. As of October 2012, there are four radio stations by non - government private organizations, in addition to KBS Han - Min - Jok, (한민족, which means the Korean people ). KBS (Korean Broadcasting System ) is a Korean government - run broadcasting station, with several radio and television channels. KBS Han - Min - Jok radio station is one of KBS’s radio stations, targeting North Koreans, Korean - Chinese, and Korean - Russians. KBS Han - Min - Jok radio programs include various types of contents, such as radio drama, music, news, commentary, education ( such as learning English, history, economics ), and programs that attempt to search for dispersed family members. According to the survey with 481 North Korean defectors who came to South Korea between November 2010 and June 2011, 35 per cent of them had listened to KBS Han - Min - Jok, and 15 per cent listen to the programs regularly. Nearly 25 per cent stated that listening to KBS HanMin - Jok played a critical role in their decision to escape from North Korea.72 According to the book “Korean Wave : The Wind of Korean Unification”73 that included interviews with 100 North Korean defectors who have watched South Korean television programs and movies in North Korea, the penetration of South Korean media is very widespread. Those who watch South Korean videos include a vast range of occupations ( students, housewives, government officials, soldiers, clerks, professionals, farmers, or fishers ), regions ( either close to the border with China or South Korea, cities, or rural areas ), socioeconomic classes, and age groups. 19 per cent of these informants have watched Korean programs every day, 22.8 per cent of them have watched the video once or twice a week, and 26.6 per cent have watched once or twice a month. The most common way to watch these videos is by purchasing or renting a CD, DVD, or USB drive that are illegally and secretly traded on the market. Those who live close to the border with China unwire television sets and remote controls that are hardwired to only receive the state programs, or covertly possess a second television set that is not registered with the state to receive signals from China. A number of Korean - Chinese live in the border city in China, and South Korean dramas and shows are frequently aired in these areas. North Koreans near the border watch these programs although it is illegal.

72 Cf. KBS, 남북의 창 [ Window of South and North ]. TV program aired in South Korea on 20th October 2012. 73 Cf. Kang / Park, Korean Wave.

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Exposure to South Korean media materials is becoming one of the main factors that encourage North Koreans to risk their lives to escape their country. For instance, one of the nine North Korean defectors who were found on the Japanese sea on September 13, 2011 stated that he escaped the country because of his admiration for South Korea after watching South Korean television dramas and movies. The North Korean government has known the influence of these media materials for several years. The reference book for legal professions published in 2009, described videos from South Korea as an invasion of the country’s socialist culture and order. Several cases that were introduced in the book described how these videos are circulated in North Korea, showing how widely these South Korean videos are consumed by ordinary North Koreans.74 A short novel that was published in 2003 in North Korea also talked about radio programs from South Korea attempting to taint North Korean culture with American culture. Although these radio programs try to incite North Koreans, according to the novel, their attempts are absurd and will be in vain.75 However, unlike this novel, it seems that these South Korean media materials are not in vain. North Korean defectors have described South Korean videos as addictive like drugs, and it was hard to stop watching them once being exposed to their contents. Compared to North Korean media contents that aim to spread propaganda, they found South Korean media to be entertaining (sometimes provocative ) with more compelling stories. Some watched South Korean television to learn about North Korea, because they could hardly hear the news about the politics, economy and even society of their own country while living there. They found South Korean news or documentaries to be more informative and helpful in learning about current events in North Korea.76 Interviews with North Korean defectors also revealed that soldiers who are on duty near the border with South Korea also unwire the television or get a second television set to watch South Korean television programs aired in South Korea. Soldiers on duty near the border with China also watch programs from Chinese broadcasting stations, like others who live in the region. It is well known that, since the 1996–1997 famine, North Korean soldiers who guard the border take bribes and let North Koreans cross the border between North Korea and China. The violations of law by these guards were understood in the context of famine and poverty. However, nowadays, these guards and soldiers violate laws not only to earn more money but to watch media contents that are strongly prohibited by the government. This indicates slackened discipline in the army. Since North Korea has put a strong priority on the military, such violations by soldiers who should keep on the lookout for such acts may signal the volatile, uncontrollable condition of the country.77 Pervasiveness of South

74 75 76 77

Ibid., p. 4. Cf. KBS, Window of South and North. Cf. Kang / Park, Korean Wave. Cf. ibid.

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Korean media also confirms that the state is not capable of controlling the information flow and people’s access to these sources. One of the widespread images of North Korea is the entire country under surveillance, as people monitor each other. North Koreans seem to be very patriotic in reporting even their family members for any violations against the regime. In fact, every individual and organization is monitored and managed by the Korean Workers’ Party ( KWP ), ensuring the indoctrination and practice of the Juche Idea and restricting the development and spread of ideas against the regime.78 Some North Korean refugees also stated that they could not have trusted anyone while in North Korea.79 Therefore, outsiders may be surprised to hear that North Koreans watch these South Korean videos with their neighbors, colleagues, and family members, because it is more enjoyable when watching these shows with others. Some of them even watch these videos with inspectors or other government officials who are responsible for tracking down those who watch South Korean videos. Most of the time these inspectors overlook the violations if they get bribes. It is also reported that after they confiscate unwired televisions or radios, or South Korean video CDs and DVDs, these inspectors watch these programs with their neighbors or friends, or sell these products to make money. There are even houses that are specially rigged to watch DVDs from South Korea, and bribed inspectors pretend to not know about these places.80 It is also worth noting that South Korean media materials enable people to share secrets, even with those who work for the government. One of the ways that the state has controlled the people was by making the people keep each other under constant surveillance. Those who report others’ violations of the state law are rewarded and, as North Korean defectors often say that they could not even trust their family members, people do not share secrets with each other due to the fear of being accused.81 It has been an effective strategy for the regime to secure sustainability, as this prevented people from developing trusting relationships and networks which could possibly initiate movements of political opposition. Therefore, while the increased access to the media has significant implications for the future of the state, the state may be more fearful of people forming communities around these media contents.

78 79 80 81

Cf. Byman / Lind, Pyongyang’s Survival Strategy. Cf. Martin, Under the Loving Care of the Fatherly Leader. Cf. Kang / Park, Korean Wave. Cf. ibid.

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III.

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Conclusion

The present article argues that North Korea used to have fully developed ideocratic legitimation, enabled by inculcating the Juche Idea and deification of Kim Il - sung along with cooptation and repression; however, the ideocratic legitimation is currently at risk due to several factors. These influential variables include people’s changing perceptions and sentiments towards Kim’s dynasty; continuing economic hardship; and more access to information from the outside world either through interpersonal communication ( cell phones that are activated in China ) or through foreign media. In order to deal with these matters, it is speculated that the regime will continue to use their current methods : the reinforcement of ideology; cooptation; institutional interaction among the military, cabinet, and party while keeping the military - first policy, increased repression, and the use of sports and other achievements as instruments of propaganda. It would be hard to predict whether Kim Jong - un’s efforts will boost the current severe economic conditions and recover alienated public sentiment. As a nation that was founded and established on the pride of independence, it is hard to gauge how citizens will further respond to the regime’s continuing violations of its own ideology. That being said, it might be the regime itself that gives up ideocratic legitimation as the key to sustainability. Outside variables, which were highlighted in this paper as factors threatening the fully developed legitimacy, may also serve to initiate civil unrest. Whether ideocratic legitimation is continued or not, however, Kim Jong - un’s regime seems to be maintaining a hold on the long - term power seized by Kim’s family. Therefore, the sustainability of the regime to date, despite all the challenges, leads analysts to believe that such movements will not be able to achieve regime change.

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Politische Herrschaft im revolutionären Kuba zwischen Legitimation, Kooptation und Repression Peter Thiery

I.

Einleitung : Kubas „Exzeptionalismus“

Kuba hat – allen Erwartungen und Prognosen zum Trotz, die die „Dritte Welle“ der Demokratisierung1 und das „Ende der Geschichte“2 mit sich brachten – bis heute ein politisches System bewahrt, das einen starken Staat, ein relativ konsolidiertes autoritäres Regime sowie ein Wirtschaftssystem beinhaltet, das weitgehend staatlich kontrolliert ist und nur temporäre und überdies spärliche marktwirtschaftliche Elemente aufweist. Kuba spielt damit eine Sonderrolle und fordert als abweichender Fall in mehrerlei Hinsicht die Demokratie - wie gleichermaßen die Autokratieforschung heraus. Alleine die kubanische Revolution als solche stellte für die diversen sozialwissenschaftliche Theorien ein Ärgernis dar, da sie ihren Annahmen widersprach.3 Noch mehr allerdings gilt dies für die Entwicklung seit Mitte der 1980er Jahre und insbesondere seit 1989 : Konfrontiert (1) mit einem übermächtigen, durchaus feindlich gesinnten Nachbarn nur etwa 80 Meilen im Norden, inklusive einer starken Lobby von Exilkubanern und einer bis heute anhaltenden Politik des Wirtschaftsembargos; (2) mit dem Wegbrechen der Bündnispartner des früheren Ostblocks und damit der politischen und vor allem ökonomischen Bestandsgarantien; (3) mit den Diffusionseffekten der „Dritten Welle“, die zunächst die lateinamerikanischen Nachbarn und nachfolgend die früheren Bündnispartner im Osten erfasste und eine gewissen „Transformationsdruck“ weltweit auslöste; und (4) mit einer Bevölkerung, die zwar wiederholt Entbehrungen hinnehmen musste, aber nach modernisierungstheoretischen Annahmen einen „demokratieträchtigen“ hohen Bildungsstand aufweist, mutet es heute – fast 25 Jahre nach dem Fall der Mauer – eher wie ein Relikt aus der Steinzeit 1 2 3

Vgl. Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman 1991. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992. Vgl. Bert Hoffmann / Lawrence Whitehead, Cuban Exceptionalism Revisited, GIGA Working Papers 28, Hamburg 2006, S. 6–11; dies gilt u. a. für Modernisierungstheorien, die marxistische „Stufentheorie“ ( die etwa von der alten KP Kubas vertreten wurde ) wie für liberale und realistische IB - Theorien.

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an, dass das Regime im Kern seit über 50 Jahren unverändert fortexistiert – bis 2006 mit Fidel Castro an der Spitze und seither mit seinem „jüngeren“ Bruder Raúl Castro, der 2008 auch offiziell die Amtsgeschäfte als Staats - und Parteichef vom máximo líder übernahm. Nicht weniger Rätsel gab Kuba allerdings auch der Autokratieforschung auf. Insbesondere der Mainstream der jüngeren Autokratieforschung,4 der in seiner Autokratiekonzeption gänzlich auf „Ideologie“ als Definitionsmerkmal oder wenigstens als zu berücksichtigendes Kriterium verzichtet, vermag hinter seinem Drang zur quantitativen Vereinfachung5 kaum mehr die Dynamiken zu erkennen, die das oft komplexe, aber durchaus intelligente Selbsterhaltungsspiel autokratischer und insbesondere ideokratischer Systeme bewegen. Doch auch mit den Kategorien der älteren Autokratieforschung – etwa der Typologie von Linz oder der totalen Herrschaft nach Hannah Arendt – lässt sich Kuba nicht recht fassen. Einigkeit besteht bestenfalls darüber, dass es sich um ein autokratisches Regime – in Abgrenzung zu demokratischen Regimen – handelt, doch kann es weder als totalitär noch als sultanistisch oder mit den Begriffen „post totalitär“ oder „quasi - totalitär“ bezeichnet werden.6 Nach beiden Versionen sind somit Aussagen über die Dauerhaftigkeit des Regimes schon aufgrund der unklaren Zuordnung zu Subtypen schwierig. Wie Gratius festhält, liegt die Besonderheit Kubas „darin begründet, dass es sich [...] um ein Einparteiensystem handelt, das aus einer nationalen Revolution hervorgegangen ist. Die Kombination aus Einparteiherrschaft und Nationalismus scheint prinzipiell [...] eine dauerhaftere Herrschaft hervorzubringen als vorwiegend extern induzierte sozialistische Regime wie die osteuropäischen während des Kalten Krieges.“7 Kuba ist somit für jegliche Forschungsrichtung ein Ärgernis geblieben und stellt – dies vorweg – gleichwohl ein erhellendes Beispiel dafür dar, wie die gewiss singuläre Kombination aus unterschiedlichen Versatzstücken der Herr4

5

6 7

Vgl. Barbara Geddes, What Do We Know about Democratization after Twenty Years ? In : Annual Review of Political Science 2 (1999), S. 115–144; José Antonio Cheibub / Jennifer Gandhi / James Raymond Vreeland, Democracy and Dictatorship Revisited. In: Public Choice, 143 (2010) 1–2, S. 67–101; Axel Hadenius / Jan Teorell, Authoritarian Regimes. Stability, Change, and Pathways to Democracy, 1972–2003, Kellogg Institute Working Paper Series 331, Notre Dame 2006. Nebenbei bemerkt divergieren die genannten Autoren nicht nur hinsichtlich der Einstufungen mancher Länder ( etwa Botswana ) beträchtlich, sondern operieren oft auch mit zweifelhaften Kodierungen und Zuordnungen. Im Fall Kubas sind sie sich allerdings einig : es handelt sich um eine one - party autocracy, was freilich die eher komplexe Architektur des kubanischen Regimes nur unzureichend erfasst. Lediglich Geddes u. a. weisen mit ihrer Klassifikation Kubas als one party - personal auf die Führungspersönlichkeit Fidel Castros hin. Unberücksichtigt bleibt dabei freilich, dass Kuba - Kenner auch starke Züge eines Militärregimes erkennen – siehe hierzu die Ausführungen in Abschnitt 3 –, was schließlich jegliche Einordnung in die genannten Typologien unmöglich macht. Vgl. Susanne Gratius, Kuba unter Castro. Das Dilemma der dreifachen Blockade, Opladen 2003, S. 108–119. Ebd., S. 111; Gratius gelangt schließlich zur Klassifikation des kubanischen Regimes als „autoritärer Sozialismus nationalistischer Prägung mit charismatischer Führung“ ( ebd., S. 119).

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schaftsorganisation, - legitimation und Herrschaftsweise eine „hybride“ Autokratie beschert, die sich gerade dadurch länger als erwartet ihr Überleben sichert. Die kubanische Führung – so im Folgenden die These – war über fast den gesamten Zeitraum des nunmehr seit über 50 Jahren existierenden Regimes in der Lage, immer wieder die notwendigen Stabilitätsressourcen zu mobilisieren und dabei gelegentlich auch „windows of opportunity“ zur Dämpfung aufkeimender Krisentendenzen zu nutzen. Dies zeigte sich insbesondere nach dem Zusammenbruch des staatssozialistischen Lagers nach 1989. Vor allem entwickelte das Revolutionsregime von Beginn an eine starke Legitimationsideologie, die im Lauf der Jahrzehnte durchaus in ihren Elementen variiert werden konnte: von der ursprünglichen antiimperialistischen, auf nationale Souveränität und „Befreiung“ setzenden sowie sozialreformerischen Ideologie hin zu einer eindeutig kommunistisch imprägnierten Variante nach sowjetischem Vorbild und – nach deren Zerfall – wieder zurück zu einer nationalistisch - sozialistischen Ideologie. Dabei nutzte das Regime – das aufgrund des von ihm nahezu eisern durchgehaltenen Primats der Politik über die Ökonomie regelmäßig über tiefe Wirtschaftskrisen in zumindest partielle Legitimationskrisen schlitterte – nahezu virtuos die sich bietenden Stabilitätspotentiale. Im Kern funktioniert Kuba bis heute in der Tat primär als Ideokratie, in der der Systemzusammenhalt von einem klaren hierarchischen Verhältnis von normativer Legitimation ( Sozialismus in diversen Schattierungen ) über Kooptation ( Tausch von spezifischen Vorteilen gegen Loyalität seitens bestimmter Machtgruppen kombiniert mit der Exit- Option, sprich : Ausreise und Exil in der Regel in die USA ) bis hin zu selektiver Repression reicht. Diese klare Zuordnung ist freilich auf den zweiten Blick etwas zu relativieren, was zum einen vom Verständnis von „Repression“ abhängt, zum andern von der Rolle der unbestreitbaren sozialen Errungenschaften des Regimes in Bildung und Gesundheit. So ist harte Repression seit 1989 durchweg eher als selektiv zu charakterisieren, doch ruht sie auf einem Kontrollnetz aus Partei - und Spezialorganisationen, das seit Jahrzehnten die kubanische Gesellschaft nahezu unverändert überzieht. In punkto „soziale Errungenschaften“ ist zum einen schon theoretisch umstritten, inwiefern sie als Output Legitimation eher zur Legitimationssäule gehören denn zur Kooptation. Zum andern gilt für den kubanischen Fall, dass sie einen Kernbereich der Legitimationsideologie des Regimes darstellen und damit mehr als „nur“ seine materielle Leistungsfähigkeit betreffen. Gleichwohl wurden neben sozialistischer Ideologie, Kooptation und selektiver bzw. institutionalisierter Repression stets weitere Ressourcen zum Systemerhalt genutzt. Hier steht an erster Stelle das Charisma der Revolutionäre und allen voran das Fidel Castros, das aufgrund der auch von politischen Gegnern anerkannten Prinzipienfestigkeit dem Regime bis heute intern wie extern Glaubwürdigkeit verleiht. Auch die straffe Parteiorganisation, ein „Repräsentationssystem“, das immerhin auch ( stark kontrollierte ) Wahlen zulässt und somit (äußerst begrenzte ) Partizipation mit politischer und sozialer Kontrolle kombi-

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niert, sowie der zwar nicht immer effiziente, aber durchorganisierte Staatsapparat – wie etwa die Maßnahmen bei den Hurrikans zeigen – zählen hierzu. Schließlich ist als zusätzliche Säule der Stabilität jedwelcher autokratischer Regime der Faktor der internationalen Unterstützung zu analysieren. Externe Unterstützung erfuhr der relativ kleine Inselstaat zum einen durch politisch ideologisch befreundete und solvente Regime ( erst die UdSSR, später Venezuela), doch wird das Regime paradoxerweise auch durch das geschickt aufrecht erhaltene Bedrohungsszenario durch den übermächtigen „Klassengegner“ im Norden ( Handelsembargo, Exil - Kubaner ) am Leben erhalten. Die folgenden Ausführung lassen offen, inwieweit Kubas Ideokratie heute – nach dem Rückzug Fidel Castros aus allen offiziellen Ämtern im Jahr 2008, dem für 2017 angekündigten Rückzug seines Bruders und Nachfolgers Raúl sowie den 2010 eingeleiteten Wirtschaftsreformen – einem schleichende Auszehrungsprozess unterliegt, der in erster Linie durch die sukzessiv abnehmende sozioökonomische Performanz induziert wird, von der in erster Linie die im doppelten Sinne überlebenswichtigen sozialstaatlichen Leistungen betroffen sind. Kubas Vergreisung der Ideokratie ist am Kalender ablesbar – schleichend, mit Reformen hin zum Marktsozialismus in Trippelschritten und bisweilen auch wieder zurück. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Führungsriege um Raúl und Fidel ihre Schritte für eine Nachfolge sorgsam plant. Im Folgenden wird zunächst in Grundzügen die Entwicklung von der Revolution 1959 bis 1989 skizziert, in der sich zunächst die Grundkonfiguration der kubanischen Ideokratie herausbildete, dann aber auch einen gewissen Gestaltwandel erlebte. In dieser Phase wurden auch Pfadabhängigkeiten angelegt, welche die nachfolgende Phase seit 1990 prägen und bis heute Bestand haben. Den Schwerpunkt der Analyse stellt anschließend die Phase ab 1989 dar, in der sich das Regime nach zwischenzeitlicher Krise wieder restabilisierte und erneut einen gewissen Gestaltwandel durchlebte. Neben den Grundpfeilern der Stabilität aus Legitimation, Kooptation und Repression wird hierbei als vierte Säule auch die internationale Dimension der Regimestabilität analysiert.

II.

Revolution, „Sowjetisierung“ und „rectificación“ (1959–1991)

1.

Phaseneinteilung

Die Regimeentwicklung bis 1991 lässt sich grob in vier Phasen unterteilen : (1) die relativ kurze Phase der Etablierung und Konfiguration des autoritären Regimes (1959–1961); (2) die Experimentierphase mit Weichenstellungen zum eigenständigen Sozialismus und dessen Krise (1961–1970); (3) die Phase der Reorientierung und Sowjetisierung (1970–1986); sowie (4) die Phase der „rectificación“ (1986–1991), in der Kuba sich von den sozialistischen Bruderstaaten zu distanzieren begann. Insgesamt ist der Zeitraum ab 1960 von der Hinwendung zum Sozialismus, der engen Anbindung an die Sowjetunion sowie der

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Übernahme ihres staatssozialistischen Modells geprägt, das cum grano salis auch nach Glasnost und Perestrojka zunächst aufrechterhalten wurde, während die übrigen RGW - Staaten sukzessive davon abrückten. Darüber hinaus zeichnet sich diese Phase dadurch aus, dass unter der engeren Führungsclique um Castro ein eigenständiges Legitimationsmuster entwickelt wurde, das es ihr zusammen mit Repression, Performanz und teilweise Kooptation sowie getragen vom Mythos der Revolution ( und der Revolutionäre ) ermöglichte, ihre historische Vision einer neuen Gesellschaft umzusetzen – auch wenn hierfür mitunter schmerzhafte Kehrtwendungen vonnöten waren. Neben dem unbedingten Willen der Staatsführung, „ihre“ Revolution an allen Fronten zu verteidigen oder voranzutreiben und darüber stets die Kontrolle zu behalten – mit allen Implikationen – schälte sich dabei auch heraus, dass sie ihren politischen Zielsetzungen prinzipiell Vorrang insbesondere gegenüber ökonomischer Rationalität gab. Dies führte nicht zuletzt zu einigen schweren Legitimationskrisen, die das Regime jedoch allesamt meistern konnte. (1) Etablierung und Konfiguration des autoritären Regimes (1959–1961) : Wie oben angedeutet, ist die „ideokratische“ Grundkonfiguration des seit über 50 Jahren relativ stabilen Regimes nicht ohne die historischen Pfade ihrer Herausbildung zu erklären. Die Revolution stellte – ganz im Sinne des historischen Institutionalismus – eine „critical juncture“ dar, in der sich den beteiligten Akteuren mehrere Optionen eröffneten, die gleichwohl durch die historischen Legate eng geführt wurden. Der Sieg der Revolutionäre über das marode Batista - Regime war im Nachhinein betrachtet weniger überraschend, sehr wohl aber die rasche Etablierung des Castro - Regimes. Als die Revolutionäre nach der Flucht Batistas im Januar 1959 in Havanna einzogen, war die Ideologie des neuen Regimes nur in Umrissen erkennbar. Zwar standen einige der Kampfgefährten – insbesondere sein Bruder Raúl und Ché Guevara – dem Kommunismus nahe, doch waren Fidel und andere aus bürgerlichen Verhältnissen stammende Kämpfer der „Bewegung des 26. Juli“ mehr vom Impetus einer Sozialrevolution geprägt. Insbesondere Fidel Castro selbst war eher ablehnend gegenüber kommunistischen Ideen und insbesondere gegenüber der alten KP Kubas, dem Partido Socialista Popular ( PSP ). Vielmehr verfolgte die neue Regierung zunächst ein eher sozialreformerisches Entwicklungs - und Modernisierungskonzept im Stile des lateinamerikanischen desarrollismo, das nationale Unabhängigkeit, Demokratie, ein gemischtes Wirtschaftssystem und soziale Umverteilung beinhaltete.8 Zu letzteren zählten insbesondere Agrarreformen, erste Verstaatlichungen sowie der Aufbau eines kostenlosen Bildungs - und Gesundheitssystems. Zwar war die erste Agrarreform eher gemäßigt, doch stand sie am Anfang einer Konfliktspirale mit den USA, die über deren Handelsembargo im Jahr 1960, die nachfolgende Verstaatlichung sämtlichen US - Besitzes und die gescheiterte Inva8

Vgl. Karin Stahl, Kuba. In : Dieter Nohlen / Franz Nuscheler ( Hg.), Handbuch der Dritten Welt, Band 3 : Mittelamerika und Karibik, Bonn 1992, S. 473–506, hier 476.

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sion in der Schweinebucht 1961 zur Spaltung der revolutionären Bewegung in Gemäßigte und Radikale sowie schließlich zur politisch - ideologischen Neuorientierung führte.9 Der Annäherung an die UdSSR ( Handelsvertrag 1960) folgte nach der Schweinebuchtinvasion die Erklärung der sozialistischen Revolution, welche die ursprünglich von Fidel Castro angestrebte humanistische Revolution, die noch das Wohlwollen der USA gefunden hatte, ablöste. Parallel dazu gelang es Castro, dessen Führungsanspruch unbestritten war, mit den Guerrilleros sukzessive die Macht in der Revolutionsregierung zu monopolisieren und die wenigen verbliebenen, unabhängigen politischen und sozialen Organisationen auszuschalten oder gegeneinander auszuspielen.10 Während die Bevölkerung weitgehend loyal hinter Fidel und den Revolutionären stand, führten Verhaftungs - und Verurteilungswellen zu einem ersten Exodus großer Teile der Ober - und Mittelschicht in die USA. (2) Experimentierphase, eigenständiger Sozialismus und Krise (1961–1970): Trotz der Annäherung an die Sowjetunion, einschließlich des waghalsigen Abenteuers der Raketenstationierung und der Ausrufung des Sozialismus, blieb die Revolution in den 1960er Jahren mehr nationalpopulistisch und sozialreformerisch mit Bedacht auf einen eigenständigen Weg geprägt, der eine tiefgreifende, auch moralische Erneuerung der Gesellschaft anstrebte und den gleichzeitigen Aufbau von Sozialismus und Kommunismus propagierte.11 Die Rückendeckung seitens der UdSSR erlaubte es den Führungseliten, diese Vision auch in die Dritte Welt zu exportieren und Rebellenbewegungen in verschiedenen Ländern zu unterstützen. Im Innern forcierte die Regierung die Verstaatlichungen und modernisierte über ein staatlich gelenktes Entwicklungsprojekt Landwirtschaft und Industrie, um insbesondere die koloniale Wirtschaftsstruktur zu überwinden. Parallel dazu begann das Regime intern, seine Macht zu konsolidieren – etwa über den Aufbau der Kommunistischen Partei Kubas ( PCC ) –, doch ging die politische Institutionalisierung insgesamt eher langsam voran und zog sich bis in die 1970er Jahre hin.12 Anzeichen von Unzufriedenheit bzw. Rückgang der politischen Unterstützung seitens der Bevölkerung – etwa der städtischen Arbeiterschaft – begegnete die Regierung mit diversen Programmen, um das Wirtschaftswachstum zu erhöhen. Sie schlugen jedoch weitgehend fehl.13 Der verheißungsvolle Aufbruch der 1960er Jahre endete gleichwohl in einer tiefen Wirtschaftskrise und nachfolgend der ersten schweren Legitimationskrise des Regimes. Experimente mit diversen Planungssystemen und bürokratische Ineffizienz trugen dazu bei, dass die ökonomischen Ziele deutlich verfehlt wurden, die Zuckerindustrie wieder zum ökonomischen Leitsektor – abgesichert 9 Vgl. ebd., S. 476. 10 Vgl. Jorge Domínguez, Cuba. Order and Revolution, Cambridge 1978, S. 191–210. 11 Vgl. – auch zum Folgenden – Stahl, Kuba, S. 477; Raimund Krämer / Dirk Krüger, Das politische System Kubas. In : Klaus Stüwe / Stefan Rinke ( Hg.), Die politischen Systeme in Nord - und Lateinamerika, Wiesbaden 2008, S. 363–388. 12 Vgl. Domínguez, Cuba, S. 192 f. 13 Vgl. ebd., S. 173–194.

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über ein Abnahmeabkommen mit der UdSSR – wurde und Versorgungsengpässe zur Einführung von Rationierungskarten ( Libretas ) führten. Zugleich wurden Repressionsmaßnahmen gegenüber kritischen Intellektuellen und Abweichlern in der Partei verschärft. Angesichts wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung – insbesondere nach dem Scheitern der „10 Millionen Tonnen Zuckerernte“ im Jahr 1970, die auch andere Wirtschaftszweige in Mitleidenschaft zog – übte Castro scharfe ( Selbst - )Kritik an den Planungsmethoden und den beteiligten Kadern, die schließlich zur grundlegenden Neuorientierung führte.14 (3) Reorientierung und Sowjetisierung (1970–1986) : Hatte es zuvor durchaus Spannungen mit der UdSSR gegeben, führte Castros Reorientierung ab den frühen 1970er Jahren zum einen zur engeren Bindung an die UdSSR und zur Übernahme des sowjetischen Modells in Politik und Wirtschaft, zum anderen zur Institutionalisierung des Regimes mit dem ersten Parteikongress des PCC im Jahr 1975 und der sozialistischen Verfassung von 1976. Auch ideologisch näherte sich das Regime an die Sowjetunion an, doch bewahrte es sich auch seinen internationalen Freiraum ( Zugehörigkeit zur Blockfreienbewegung, Militäreinsätze in Afrika und Unterstützung revolutionärer Bewegungen ohne Absprache mit der Sowjetunion ). Die Jahre von Anfang der 1970er Jahre bis 1986 gelten nach verfügbaren Daten ökonomisch als die erfolgreichsten des Regimes mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um etwa 50 Prozent und einem hohen Niveau an Versorgungs - und Sozialleistungen ( freilich um den Preis einer neuen Abhängigkeit : ein Handelspartner, ein Hauptexportgut, Subventionen ).15 Allerdings führten die Verhärtung des Regimes und ein drastischer Wirtschaftseinbruch 1979/80 mit massiven Entlassungen im Jahr 1980 zu einer erneuten Legitimationskrise des Systems, als die wachsende Unzufriedenheit in eine massenhafte Besetzung der peruanischen Botschaft und – nach Freigabe der Exit Option durch Castro – in einen Massenexodus von circa 125 000 Kubanern mündete. Dies führte nachfolgend zu Zugeständnissen des Regimes ( Einführung marktwirtschaftlicher Elemente wie freie Bauernmärkte ) und zusammen mit Hilfen der RGW - Staaten zu einer gewissen Entspannung der Versorgungslage. „Jedoch entstanden damit ( erstmals wieder ) soziale Differenzierungen, die für ein politisches System mit solch einem starken egalitären Anspruch und einem moralischen Fundamentalisten an der Spitze auf Dauer nicht akzeptierbar waren.“16 (4) Phase der „rectificación“ (1986–1991) : Mit der Ära Gorbatschow begannen sich die Wege Kubas und der sozialistischen Bruderstaaten zu trennen. Während sich der „Ostblock“ auf den Schlitterpfad von Glasnost und Perestrojka begab, wagte Castro – in nahezu „weiser“ Vorausahnung der Entwicklungen – mit der rectificación eine erneute Kurskorrektur, um nicht zuletzt seine eigene 14 Vgl. Stahl, Kuba, S. 478; Krämer / Krüger, Politisches System, S. 366 f. 15 Vgl. ebd., S. 367. 16 Ebd., S. 367 f.

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Machtposition und die des PCC gegen die gewachsene Macht der Technokraten zu bewahren. Die spärlichen Wirtschaftsreformen wurden wieder zurückgedreht und Politik wie Ökonomie rezentralisiert. Ideologisch begann das Regime sich wieder auf seine eigenen Wurzeln zu besinnen und nach und nach die Fülle seiner Legitimationsmythen anzuzapfen. Im Zuge dessen schreckte es aber auch nicht vor eher stalinistischen Methoden der Herrschaftsbekräftigung zurück.17 Seinen Kurswechsel bezahlte Castro einmal mehr mit einer – letztlich seiner tiefgreifendsten – Legitimationskrise, die er gleichwohl überlebte.

2.

Säulen der Stabilität

2.1

Legitimation

Spätestens mit der Erklärung des Sozialismus und der kubanischen zur „sozialistischen“ Revolution im Jahr 1961 lässt sich Kuba als Ideokratie einstufen. Im Kern waren es drei Faktoren, die die ideokratische Grundkonfiguration des Regimes maßgeblich beeinflussten und in einen zwar auf strukturellen Gegebenheiten basierenden, sukzessive aber von der strategischen Interaktion der Akteure dominierten Prozess mit einem neuen „stabilen Gleichgewichtszustand“ mündeten, der seither cum grano salis andauert : (1) die Persistenz einer extrem ungleichen, von externer Abhängigkeit bestimmten sozioökonomischen Entwicklung, deren Wurzeln bis in die Kolonialzeit zurück veranschlagt werden und im kollektiven Bewusstsein der kubanischen Bevölkerung als solche auch verankert – sprich : negativ codiert – war und so den Nährboden für die Akzeptanz des neuen Regimes und seiner Legitimierung bildete;18 (2) die spezifischen Charakteristika der Revolutionsbewegung, die sich quasi hinter dem Rücken der Beteiligten alleine durch den Erfolg als paradigmatische Grundelemente des neuen Regimes erweisen sollten : der Wille zur Umgestaltung und damit der Vorrang der Politik gegenüber der Ökonomie; die Rolle der Avantgarde der Guerrilla und insbesondere des máximo líder Fidel Castro als legitimen Sachwaltern einer neuen Ära; damit verbunden die – vor dem Hintergrund der negativen Erfahrungen der kubanischen Bevölkerung mit den US - gestützten formaldemokratischen Regimen durchaus akzeptierte – Trennung von Führung und Volk und so auch die erlaubte Bandbreite zwischen „Führerdemokratie“ und sanfter Autokratie; (3) die paradoxe „Geburtshilfe“ der USA für ein Regime, das sie fortan mit allen gebotenen Mitteln bekämpfen sollten und gerade dadurch weiter stabilisieren halfen : die politische Dynamik der Jahre 1959 bis 1961 stellt 17

Exemplarisch hierfür steht der Fall des Generals Ochoa – von Fidel selbst im Jahr 1984 zum „Helden der Revolution“ ernannt –, der aufgrund von Korruption und angeblicher Verstrickungen in den Drogenhandel angeklagt und 1989 hingerichtet wurde. Vgl. José F. Alonso, The Ochoa Affair and Its Aftermath. In : Irving Louis Horowitz ( Hg.), Cuban Communism : 1959–1995, New Brunswick 1995, S. 629–666. 18 Vgl. Domínguez, Cuba, S. 200f; Gratius, Kuba, S. 120–125.

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gewissermaßen ein Lehrstück dafür dar, wie aus einer relativ kontingenten Situation eine Eskalation zwischen beiden Staaten erwuchs, die sich bis heute in einer „geliebten Feindschaft“ ausdrückt. Die Übernahme des Sozialismus als Staatsdoktrin ging nicht nur mit einer weitgehenden Kollektivierung der Wirtschaft einher, sondern wurde sukzessive auch mit einer eigenen – und durchaus auch eigenständigen – Ideologie unterfüttert, die ab Mitte der 1960er Jahre auch nach Lateinamerika und in andere Länder der Dritten Welt exportiert werden sollte. Die Hinwendung zum Sozialismus – stets beendete Fidel Castro seine Reden mit „socialismo o muerte“ (Sozialismus oder Tod ) – bedeutete somit nicht einfach eine Übernahme einer „fremden“ Staatsdoktrin. Vielmehr bildete die kubanische Führung eine Legitimationsideologie aus, die als Amalgam aus diversen kubanischen und sozialistischen Elementen zu bezeichnen ist. Schlüsselelemente der Legitimationsideologie sind erstens das historische Sendungsbewusstsein der Revolutionäre und insbesondere Fidel Castros, eine neue Ordnung zu errichten und aufrechtzuerhalten; in den Augen Castros war und ist es nicht nur möglich, den Lauf der Geschichte zu erkennen, sondern ihn auch zu ändern – beides Elemente, die ihn für Marxismus und Leninismus aufnahmebereit machten. Zweitens gehört dazu die Vision einer unabhängigen, freien und gerechteren Gesellschaft, was soziale Gerechtigkeit nach innen sowie Unabhängigkeit nach außen bedeutet; vor dem Hintergrund der kubanischen Geschichte vor der Revolution begründet dies das Amalgam aus Revolution, Sozialismus und Nationalismus bzw. Antiimperialismus. Zusätzlich ist drittens das besondere Menschenbild der Revolutionäre zu nennen, das allerdings in unterschiedlichen Varianten formuliert wurde. Eine starke, nahezu eschatologische Variante stellte Ché Guevaras 1965 formulierte Vision eines „neuen Menschen“ ( hombre nuevo ) dar, eine schwächere Variante – verkörpert in Fidel Castro selbst – betont mehr die Fähigkeit des Individuums, auch scheinbar unerreichbare Ziele durch Opfer und harte Arbeit erreichen zu können.19 Deutlicher wird dieser ideokratische Gehalt der kubanischen Legitimationsideologie – und nicht zuletzt auch das Maß an Glaubwürdigkeit und Folgebereitschaft innerhalb der Bevölkerung – wenn man sie als Gegenentwurf zu jenen drei Ordnungsmustern versteht, welche die kollektive Erfahrung der Kubaner bis zur Revolution geprägt hatten : erstens zum Kapitalismus, der mit Ausbeutung gleichgesetzt wird; zweitens zur repräsentativ verfassten liberalen Demokratie, die aufgrund der Erfahrungen mit den Regimen vor 1959 ( und später mit dem Zerrbild westlicher Demokratien wie der USA ) als zutiefst korrupt angesehen wird; und drittens zum Ordnungsmuster des internationalen Systems, das mit Imperialismus und Kolonialismus identifiziert wird.

19 Vgl. Jorge Domínguez, Revolution and Its Aftermath in Cuba. In : Latin American Research Review, 43 (2008) 2, S. 225–240.

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Vor diesem Hintergrund gründete sich das Revolutionsregime schon in den Anfängen auf vier legitimatorische Pfeiler :20 (1) politische Befreiung, das heißt die Überwindung eines terroristischen, korrupten, und illegitimen politischen Systems, gepaart mit der Furcht vor dem Rückfall in eine dunkle Vergangenheit; (2) sozialpolitische Performanz in Form von Sozialleistungen und Umverteilung; (3) nationale Souveränität ( Nationalismus ) verstanden als Bekräftigung der kulturellen, politischen und historischen Integrität der Nation und die Betonung der Einheit des Volkes ( was „Klassenfeinde“ auch zu Feinden der Nation macht); und nicht zuletzt (4) das Charisma Fidel Castros, das dem Regime paternalistische und neopatrimoniale Züge verlieh und teils bis heute verleiht ( und entsprechend in die Klassifikationen des Regimes einfließt ).21 Das Regime legitimierte sich somit aus diversen Quellen, die auch in den verschiedenen Krisenphasen abgerufen werden konnten. So bezog sich Castro im Rahmen der ersten Legitimationskrise im Jahr 1970 ausdrücklich auf die sozialen Errungenschaften der Revolution sowie deren Gefährdung seitens der USA und konnte gleichzeitig auf sein Charisma und seine Überzeugungskraft bauen.22

2.2

Kooptation und Performanz

Kooptation im Sinne der Einbindung von Elitensegmenten beziehungsweise Bevölkerungsgruppen durch Zugeständnisse oder Vorteilsgewährung spielte bis 1991 eine eher untergeordnete Rolle für die kubanische Regimestabilität. Vielmehr setzte das Regime – und insbesondere Fidel Castro – entweder auf Bekräftigung der Legitimationsressourcen oder auf Repression, die von selektiv harten Maßnahmen bis zur durchorganisierten alltäglichen Kontrolle reichten. Im Kern war das Regime darauf ausgerichtet, Opposition innerhalb der Bevölkerung gar nicht erst entstehen zu lassen oder gezielt zu unterdrücken. Gleiches gilt für den Umgang mit ( potentiellen ) Elitensegmenten bzw. Abweichlern in Partei und Militär, die gegebenenfalls nach dem Motto divide et impera behandelt und gegeneinander ausgespielt wurden. Wenn also Kooptationsmechanismen rudimentär zum Einsatz kamen, so waren sie gleichzeitig mit Kontrolle verbunden und immer von den strategischen Präferenzen der Staatsführung abhängig. Wie oben angedeutet, erlebte das Regime bis 1990 zum einen relativ akute Legitimitätskrisen (1970, 1980, Ende der 1980er ). Zum anderen führten die 20 Vgl. Domínguez, Cuba, 197–201. 21 Vgl. auch Gratius, Kuba, S. 128 f.; Bert Hoffmann, Charismatic Authority and Leadership Change. Lessons from Cuba’s Post - Fidel Succession. In : International Political Science Review, 30 (2009) 3, S. 229–248. 22 „In the peroration, Castro reiterated the legitimacy of his claim to rule, as coming from history - as - god : ‚If we have an atom of value, that atom of value will be through our service to an idea, a cause, linked to the people.‘ The cause, the idea, history incarnate in the people elects the leader to serve, to implement, and hence to rule : the essence of charismatic legitimation.“ Domínguez, Cuba, S. 198.

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Abb. 1 : Entwicklung des BIP pro Kopf (1950–1990). Quelle : eigene Darstellung nach Daten der Maddison Project Database : http ://www.ggdc.net / maddison / maddison - project / data / mpd_2013 - 01.xlsx; 11. 8. 2013

diversen Wirtschafts - und Modernisierungsstrategien zwar zu einem relativ verbesserten Entwicklungsstand bis etwa Mitte der 1980er Jahre ( siehe Abb. 1), doch waren diese immer von Einbrüchen und einer im Prinzip dauerhaft angespannten Versorgungslage mit entsprechender Unzufriedenheit in der Bevölkerung begleitet. Die prinzipielle Strategie des Regimes bestand darin, seine Performanz zu verbessern bzw. diese als angemessen im Licht der drohenden Alternativen darzustellen. Dazu gehörte auch die Output - Legitimität über Sozialleistungen, die selbst in ökonomischen Krisenzeiten über die gesamte Periode aufrechterhalten wurden ( aber – wie oben dargelegt – ohnehin ein Kernelement der Revolutionsideologie ausmachen ). Als rudimentäre Elemente der Kooptation verbleiben somit drei Mechanismen recht unterschiedlicher Natur : (1) die Sicherung der Loyalität von Militärund Partei - Eliten über Privilegien, was aber ein permanentes Muster und keine Reaktion auf Legitimationskrisen darstellte und überdies immer von der „Peitsche“ bedroht war;23 (2) die temporäre „Öffnung“ zu marktwirtschaftlichen Elementen wie etwa die Zulassung der Bauernmärkte nach der Legitimationskrise 1980, die aber wohl weniger ein Zugeständnis als eine Maßnahme zur Verbesserung der Versorgungslage und damit der Performanz war; schließlich (3) was man „perverse“ oder „negative“ Kooptation nennen könnte, nämlich das 23 Vgl. Krämer / Krüger, Politisches System, S. 375.

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Gewähren der Exit - Option, wie insbesondere 1980. Letztere – in der Literatur als Theorie des „Sicherheitsventils“ behandelt24 – stellt zwar nicht unbedingt Kooptation im Sinne des Ideokratie - Konzepts dar, da die betroffene Bevölkerung nicht eingebunden, sondern de facto und dauerhaft ausgegrenzt wird. Gleichwohl diente sie als eine Art funktionales Äquivalent, indem einerseits Opposition im Innern auch ohne Repression unterbunden werden konnte und – durch den gezielten Einsatz seitens der Regierung – eine Art „Vorteilsgewährung“ darstellte.

2.3

Repression

Sieht man von der Phase unmittelbar nach der Revolution ab, in der gezielte Säuberungen und Hinrichtungen durchgeführt wurden, kann Kuba nach 1959 kaum als Terrorregime gelten. Repression stellte aber in ihren diversen Schattierungen bis heute die dritte Säule der Regimestabilität dar, von Human Rights Watch als „highly effective machinery of repression“25 bezeichnet. In der Tendenz nahmen seit den 1970er Jahren offene Gewaltmaßnahmen ab,26 während formelle und informelle Kontroll - und Repressionsmechanismen („Routine Repression“) gepaart mit gezielter Repression gegen Oppositionelle zunehmend das Repertoire bestimmten. Dazu gehörten u. a. Verhaftungen ohne Gerichtsverfahren, die Einrichtung von Arbeitslagern („Militärische Einheiten zur Unterstützung der Produktion“, in denen später auch „soziale Abweichler“ wie Homosexuelle inhaftiert wurden ) sowie insbesondere der Aufbau eines engmaschigen Kontrollnetzes über diverse Organisationen wie etwa die 1960 gegründeten Komitees zur Verteidigung der Revolution ( siehe Abschnitt III.3). Zunehmend bemühte sich das Regime auch um die Kontrolle der Öffentlichkeit über Indoktrination und das staatliche Informations - und Meinungsmonopol, die auch das kulturelle Leben gemäß Fidels Maxime „dentro de la Revolución, todo; contra la Revolución, nada“ ( innerhalb der Revolution alles, gegen sie nichts ) erfasste. In der Summe bleibt festzuhalten, dass Repression in Kuba weniger als Ersatz für das Versiegen von Legitimations - bzw. Kooptationsressourcen diente. Viel24 Vgl. Bert Hoffmann, Emigration and Regime Stability. Explaining the Persistence of Cuban Socialism, German Overseas Institute ( DÜI ) : Working Papers Global and Area Studies, No. 2, Hamburg 2005. Siehe hierzu auch Abschnitt III.2. 25 Human Rights Watch, Cuba’s repressive machinery, 1999 ( http ://www.hrw.org / legacy / reports /1999/ cuba / index.htm; 30. 8. 2013). 26 Mangels verlässlicher Daten gibt es lediglich Schätzungen über die Zahl der politischen Exekutionen. Der britische Historiker Thomas nennt Zahlen von „wahrscheinlich“ 2 000 bis 1961 und „vielleicht“ 5 000 bis zum Jahr 1970 ( vgl. Hugh Thomas, Cuba or the Pursuit of Freedom, New York, S. 1460); der Politologe Rudolph Rummel schätzt die Bandbreite unter Berufung auf verschiedene Quellen zwischen 4 000 und 33 000 im Zeitraum 1958–1987 ein. Vgl. http ://www.hawaii.edu / powerkills / SOD.TAB15.1B. GIF; 30. 7. 2013.

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mehr baute das Regime von Beginn an ein relativ dichtes Kontrollnetz auf, das zunächst gegen die Gefahr einer „Konterrevolution“ gerichtet war und danach sukzessive der Antizipation von Dissens und Opposition.

2.4

Internationale Unterstützung

Nationale Souveränität bzw. „Freiheit“ war aufgrund der historischen Erfahrung der Abhängigkeit zuerst von Spanien, dann von den USA, von Anfang an Bestandteil der Legitimationsideologie des Regimes. Die Konfrontationsspirale mit den USA kurz nach der Revolution resultierte zum einen im bis heute andauernden „Antagonismus“ mit den USA, zum anderen in der relativ raschen Annäherung an die Sowjetunion. Entscheidender vierter Faktor für die Stabilität des Regimes bis 1991 wurde so die internationale Unterstützung, die das Land in erster Linie von der UdSSR und den RGW - Staaten erhielt. Diese sorgte nicht nur für Sicherheitsgarantien im engeren Sinne, sondern auch für die Subventionierung des „Tropensozialismus“ seit Ende der 1960er Jahre sowie für Nothilfe in Krisenzeiten. Dabei spielte es für Castro eine untergeordnete Rolle, dass alte ökonomische Abhängigkeitsmuster perpetuiert wurden, die das Regime später an den Rand des Zusammenbruchs brachten.27 Castro verstand es auch, das Feindbild USA beständig neu zu beleben und deren Kubapolitik im Sinne der Legitimationsideologie als Bedrohung der Souveränität und Freiheit Kubas zur Stabilisierung der eigenen Herrschaft zu benutzen. Nicht zu unterschätzen ist schließlich auch das Ansehen Kubas in der Dritten Welt, das Castro gemäß seiner Internationalisierungsstrategie verfolgte und das sich unter anderem in Kubas führender Rolle in der Blockfreienbewegung äußerte. Selbst in der Phase der engen Kooperation mit den RGW - Staaten war die Führung um Fidel Castro stets darauf bedacht, auch „eigene“ Lösungen für die spezifischen Probleme Kubas zu finden – „Lösungen“ freilich immer definiert im Sinne der eigenen Ideologie, die von der Bevölkerung teils bereitwillig, teils per Indoktrination akzeptiert wurden. Die Ära von der Revolution bis zum Zusammenbruch des Ostblocks war entsprechend von zahlreichen Brüchen gekennzeichnet, die sich nicht nur auf innere Legitimationskrisen erstreckten, sondern auch auf das Verhältnis zur sozialistischen Führungsmacht. Erstaunlicherweise verfügte die kubanische Führung unter der Käseglocke des Ost West- Konflikts über einen relativ großen Handlungsspielraum gegenüber der Sowjetunion.

27 Vgl. Krämer / Krüger, Politisches System, S. 367 f.

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III.

Regimestabilität nach dem Zerfall der Sowjetunion (1991–2012)

1.

Phaseneinteilung

Wie eingangs erwähnt, zeigte sich Kuba bis heute von jeglicher Demokratisierung relativ unbeeindruckt. Vielmehr gelang es der Staatsführung, die unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einsetzenden Krisenjahre mit einem Mix aus Repression, Kooptation und Relegitimierung des Systems zu überwinden und das Regime anschließend wieder zu festigen. Dies gilt mit Abstrichen auch für die Zeit nach der Übergabe des Amts des Staatschefs von Fidel an Raúl Castro im Jahr 2008, d. h. nach dem scheinbaren Versiegen der charismatischen Legitimationsquelle als stützendem Element des Herrschaftszusammenhalts. Die Entwicklung seit 1991 kann in drei Phasen unterteilt werden : (1) die Krisenphase (1991–1996) mit der von Fidel Castro ausgerufenen período especial en tiempos de paz ( Sonderperiode in Friedenszeiten ) und der Reformulierung der Legitimationsideologie; (2) die Phase der Erholung und Reideologisierung von 1996 bis 2006/2008; und (3) die Phase des Übergangs in die Nach - Castro - Ära mit der unter Raúl begonnenen Reinstitutionalisierung des Regimes und den seit 2010 initiierten erneuten Wirtschaftsreformen. (1) Die „Sonderperiode in Friedenszeiten“(1991–1996) bedeutete mit anderen Worten, dass die Regierung die kubanische Wirtschaft und Bevölkerung auf eine Art Kriegsökonomie einstellte, sie nach außen selektiv öffnete und ( vorübergehend ) auch etwas mehr Wirtschaftsfreiheiten für die Kubaner zuließ. Durch den Zusammenbruch der sozialistischen Regime Osteuropas und des RGW verlor Kuba nicht nur fast alle Bündnispartner, sondern auch 75 Prozent des Außenhandels und fast alle Kreditgeber. Dadurch geriet das sozialistische Regime unter wachsenden Anpassungsdruck. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte zwischen 1990 und 1993 um 30 Prozent bis 40 Prozent ( siehe Abb. 2) und sorgte unter der Bevölkerung aufgrund der katastrophalen Versorgungslage für enorme Unzufriedenheit. Der Exodus von 1994, bei dem nach sozialen Unruhen in der Hauptstadt Havanna mehr als 30 000 Kubaner die Insel verließen, dynamisierte allerdings primär den ökonomischen Reformprozess und führte nur zu marginalen politischen Reformen. Konfrontiert mit dem „Dritte - Welle“ - Virus und den nach wie vor bestehenden Handelsembargos seitens der USA initiierte die Regierung in den frühen 1990er Jahren eine Weltmarkt - Reintegrationsstrategie, welche die verlorenen Wirtschaftsbeziehungen zu den sozialistischen Partnerländern kompensieren und Devisen generieren sollte. Dazu veranlasste die Regierung eine schrittweise Öffnung des Exportsektors für ausländisches Kapital ( vor allem Tourismus, Nickelförderung, Bio und Pharmatechnologie, Telekommunikation, Öl - und Gasförderung etc. und führte überdies 1993 den US - Dollar als legale Zweitwährung ein, was u. a. aufgrund des ungleichen Zugangs zu Rücküberweisungen von Seiten der kubanischen Diaspora – die als willkommene Devisenquelle ebenfalls gestattet wurden – zum Anwachsen sozialer Ungleichheit führte. Zu den weiteren ( begrenzten )

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Abb. 2 : Entwicklung des BIP pro Kopf (1990–2008). Quelle : eigene Darstellung nach Daten der Maddison Project Database : http ://www.ggdc.net / maddison / maddison - project / data.htm; 30. 7. 2013

Freiheiten zählten zudem die Wiederzulassung von Bauernmärkten, privates Dienstleistungs - und Kleingewerbe und selbstverwaltete Produktionsgenossenschaften im Agrarsektor. (2) Phase der Erholung und Re - Ideologisierung von 1996 bis 2006/2008 : Ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre – und parallel zur Stabilisierung und graduellen wirtschaftlichen Erholung – vollzog Fidel Castro erneut eine Kehrtwende, nahm die Wirtschaftreformen zurück und initiierte die Re - Personalisierung der Macht auf Kosten der institutionellen Grundlagen des Regimes. Zum einen beschnitt die Regierung die Autonomie der Staatsunternehmen sowie die Möglichkeiten der Selbstbeschäftigung und ersetzte den US - Dollar durch den „konvertierbaren Peso“ als Parallelwährung, mit dem die dringend benötigten Devisen weitaus besser abgeschöpft werden konnten. Zum anderen griff Castro wieder zunehmend auf ideologische Kampagnen sowie gezieltere Repression gegen aufkeimende Opposition zurück, die 2003 mit einer Verhaftungswelle ihren Höhepunkt fand. Gestützt wurde diese Kehrtwende durch die neue Allianz mit dem seit 1998 in Venezuela regierenden Hugo Chávez, die dem Regime eine neue internationale Unterstützung bot und über den beginnenden Export von Dienstleistungen ( Bildung, Gesundheit, Sicherheitsexperten ) auch bedeutende Konsequenzen für die wirtschaftliche Entwicklung hatte. Mit dieser „neuen“ Wirtschaftspolitik gelang es, die kubanische Volkswirtschaft wieder auf

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Wachstumskurs zu bringen, insbesondere zwischen 2004 und 2008 mit Wachstumsraten jeweils über 5 Prozent. (3) Phase des Übergangs in die Nach - Castro - Ära : Mit der Erkrankung Fidels und seinem sukzessiven Rückzug aus allen politischen Ämtern beginnt die bis dato andauernde Phase der Rekonfiguration des kubanischen Regimes. Allerdings waren jene Prognosen unzutreffend, die auf einen raschen Zerfall des wesentlich vom Charisma des máximo líder zusammengehaltenen Regimes setzten. Vielmehr gelang seinem Nachfolger Raúl Castro die partielle Reinstitutionalisierung des Regimes mit einer wieder stärkeren Akzentsetzung auf formelle Verfahren und der Stärkung der Rolle der Partei, ohne dabei gänzlich auf den „Glanz“ des Fidel’schen Charismas verzichten zu können.28 Ironischerweise versetzte die Finanzkrise der „imperialistischen Welt“ in Kombination mit einer verheerenden Hurrikansaison dem scheinbar florierenden Modell selektiver Weltmarktintegration ohne eigene Marktwirtschaft im Jahr 2008 erneut einen schweren Schlag. Hatten schon 2007 steigende internationale Preise für Nahrungsmittel die Staatsfinanzen in Bedrängnis gebracht, sorgten nun der Verfall der Preise für Nickel als einem der Hauptexportgüter sowie der Rückgang der Subventionen aus Venezuela für eine ernste Liquiditätskrise, die sowohl die Sozialsysteme wie auch die Subvention der unrentablen Staatswirtschaft bedrohte. 2010 schließlich verkündete Raúl Castro neuerliche Wirtschaftsreformen, die zwar nicht auf eine marktwirtschaftliche Ordnung zielen, aber vor dem Hintergrund der 50 Jahre Revolution als drastisch zu bewerten sind ( z. B. Massenentlassungen von Staatsangestellten, Ausweitung der Beschäftigungsbereiche für Kleinstunternehmer oder Erlaubnis des privaten Kaufs und Verkaufs von Immobilien und Autos ). Damit gelang es zwar, die Wirtschaft wieder zu stabilisieren, allerdings bei eher moderaten Wachstumsraten um 3 Prozent. Die Gründe für die Re - Stabilisierung nach dem Ende der UdSSR sind in mehreren Faktoren zu sehen : (1) dem Ausschöpfen der verschiedenen Legitimationsquellen inklusive der Reformulierung ihrer Kernprinzipien; (2) der gezielten Nutzung von Kooptation und – falls opportun – „Ent - Kooptation“, bei der die spezifische Machtstruktur mit dem Staat als gatekeeper im Zentrum eine wesentliche Rolle spielte; (3) dem Mix aus weicher und gelegentlich auch gezielt harter Repression; sowie nicht zuletzt (4) der wiedererwachten internationalen Unterstützung und Kooperation.29 Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die kubanische Führung die Auflösungstendenzen des Ostblocks stets kritisch beobachtet hatte und bereits Mitte der 1980er Jahre – angesichts von Glasnost und Perestrojka – zunehmend auf Distanz zu den Bruderstaaten gegangen war. Wie Domínguez resümiert, zog die Führung daraus wenigstens vier Lehren : (1) so 28 Vgl. Hoffmann, Charismatic Authority, S. 237–241. 29 Ähnlich auch Franziska Stehnken, Kuba. Im Herbst der Patriarchen. In : Der Bürger im Staat, 60 (2010) 1, S. 101–109; dies., Kuba. Die Unsterblichkeit eines politischen Systems oder die Frage nach dem innersten Zusammenhalt. In : Holger Albrecht / Rolf Frankenberger ( Hg.), Autoritarismus Reloaded. Neuere Ansätze und Erkenntnisse der Autokratieforschung, Baden - Baden 2010, S. 249–271.

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wenig politische Reformen wie möglich unternehmen; (2) sich der Unerwünschten in der Partei so früh wie möglich zu entledigen, bevor man dazu gezwungen wird; (3) hart gegen potentielle oder augenscheinliche Illoyalität vorzugehen; und (4) formale Opposition keinesfalls zu erlauben.30 Dies gestattete es bis heute, Machtkonstellationen zu vermeiden, die in den übrigen kommunistischen Regimen zum Um - bzw. Zusammenbruch führten.

2.

Säulen der Stabilität

2.1

Reorganisation der Legitimationsquellen

Der ökonomische Einbruch zu Beginn der 1990er Jahre mit seinen dramatischen sozialen Konsequenzen bedeutet gleichfalls eine ernsthafte Gefährdung der Gesamtlegitimation des Regimes. Nicht anders ist es zu erklären, dass Castro marktwirtschaftliche Korrekturen an der Wirtschaftsordnung zuließ, die er zutiefst verabscheute. Die Wirtschaftsreformen sowie einige andere Korrekturen inklusive der Exit - Option erlaubten dem Regime zunächst ein Atemholen, um sich auf die neue Situation einzustellen und die eigentlich problematische Flanke seines Überlebens – und das der „Revolution“ – anzugehen. Hier erwies sich das Regime als durchaus virtuos, indem es die diversen Legitimationsquellen reorganisierte und bis Ende der 1990er Jahre wieder auf eine solide Grundlage stellte, die zumindest bis zum Rückzug Fidel Castros Bestand hatte. Im Gegensatz zu den kollabierten staatssozialistischen Regimen des Ostens konnte das Regime zunächst noch von Legitimationsbeständen zehren, die es zuvor selbst aufgebaut hatte. Sie sind am besten mit den oben genannten Gegenentwürfen zu Kapitalismus ( Ungleichheit und Ausbeutung ), korrupter liberaler Demokratie und Imperialismus zu umschreiben. An diese Grundmuster knüpfte das Regime an, verabschiedete sich allerdings vom Marxismus Leninismus, der 1992 auch aus der Verfassung gestrichen wurde. Stattdessen besann es sich auf den anfänglichen nationalistisch - populistischen Charakter der Revolution zurück und rekurrierte wieder stärker auf Kubas eigene Nationalhelden – insbesondere die Befreiungskämpfer José Martí und Ché Guevara – um diese anstelle des Kommunismus für die Gültigkeit der Revolution in Anspruch zu nehmen. Ins Zentrum der Legitimationsstrategie rückte damit zunehmend die nationalstaatliche Legitimität, die sich zum einen auf der Trias Nationalismus - Sozialismus - Revolution und zum andern auf einem akzentuierten Antiimperialismus mit dem Feindbild USA gründet.31 Die Betonung der Errungenschaften der Revolution und noch mehr deren Bedrohung von außen – Kuba als „belagerte 30 Vgl. Jorge Domínguez, The Secrets of Castro’s Staying Power. In : Foreign Affairs, 72 (1993) 2, S. 97–107, hier 99. 31 Vgl. Gratius, Kuba, S. 119–131.

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Festung“ – wurden sukzessive im Bild der notwendigen Einheit der Nation gegen den übermächtigen Feind zur internen Machtsicherung benutzt. Hierzu bediente sich das Regime der konstruierten wie realen Bedrohung seitens der USA ( Handelsembargo, Helms - Burton - Gesetz, Panama - Invasion 1989). Kombiniert wurde dieser „antiimperialistische Nationalismus“ mit dem nach wie vor ungebrochenen Charisma des bis zu seiner Erkrankung omnipräsenten Fidel Castro, der untrennbar mit der Revolution und der seitherigen Geschichte Kubas verbunden war und ist. „Castro selbst ist die Identifikationsfigur der nationalen Befreiung, er hat sich an die Spitze der Bewegung gestellt und setzt Revolution mit Nation gleich. Der antiimperialistische Nationalismus ist innenpolitisches Bindeglied und Argument gegen den demokratischen Pluralismus“.32 Auf internationalem Terrain nutzte Castro seinen antiimperialistischen Impetus, um sich als Protagonist gegen den neoliberal globalisierten Kapitalismus – oder konkret gegen die ( letztlich gescheiterte ) panamerikanische Freihandelszone – zu profilieren. Auch diese Inanspruchnahme einer ideologisch - moralischen Autorität – zumal nach dem Aufstieg linkspopulistischer Regierungen und wieder gewachsenem Ansehen auch in anderen Teilen der Dritten Welt – brachte dem Regime intern insofern eine Legitimationsdividende ein, als das eigene Modell nunmehr als anerkennenswerte humanere Alternative zur „globalen Ausbeutung“ präsentiert werden konnte. Letzteres knüpft nahtlos auch an die weiter hoch gehaltene sozialstaatliche Legitimation an, auch wenn die diversen Krisen und insbesondere der stets klamme Staatshaushalt zu Qualitätseinbußen führten und die Ungleichheit seit 1991 – vor allem auch durch die Dollarwirtschaft – tendenziell zugenommen hat. Gleichwohl achtete das Regime über die gesamte Zeit hinweg stets darauf, in den Erhalt der Bildungs - und Gesundheitssysteme zu investieren und zumindest deren Zerfall aufzuhalten. Aufgrund seiner überdurchschnittlichen Sozialentwicklung zählt Kuba so noch immer zu den Ländern, die im Human Development Index ( HDI ) des United Nations Develpoment Programme (UNDP ) als relativ hoch entwickelt eingestuft werden.33 Kombiniert mit dem zuvor skizzierten Szenario der Bedrohung von außen und den auch in Kuba wohlbekannten sozialen Folgen der neoliberalen Reformen in den lateinamerikanischen Ländern führt dies dazu, dass ein Großteil der Kubaner trotz Entbehrungen und Unmut eher bereit ist, am Modell „relativ gleicher Armut“ festzuhalten anstatt risikoreiche Experimente zu wagen. Freilich haben sich 32 Ebd., S. 123. Pointiert hierzu Domínguez : „To oppose Fidel meant to oppose national sovereignty, which is the revolution’s central legacy“; Jorge Dominguez, Cuba in the International Community in the 1990s. In : Tom Farer ( Hg.), Beyond Sovereignty. Collectively Defending Democracy in the Americas, Baltimore 1996, S. 297–315, hier 298. 33 Im HDI 2011 nimmt Kuba Rang 51 unter 187 Ländern ein, knapp hinter Rumänien und vor Bulgarien oder Serbien; in Lateinamerika sind nur Chile, Argentinien und Uruguay – auf den Rängen 44, 45 und 48 – knapp besser platziert. Vgl. UNDP, Human Development Report 2011. Sustainability and Equity. A Better Future for All, New York 2011, S. 127 f.

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unter Raúl Castro und insbesondere seit den Wirtschaftsreformen 2010 die Gewichte wieder weiter in Richtung größerer Ungleichheit verschoben, etwa durch die Kürzung staatlicher Subventionen oder die Entlassungen von Staatsbediensteten, was insgesamt auf eine Abkehr vom Paternalismus Fidels hindeutet.34 Dieser „antiimperialistische Nationalismus“ mit ( bis 2008) „patriarchalischem Führungsstil“35 stellte somit die vier Legitimationssäulen – politische Befreiung, sozialpolitische Errungenschaften, nationale Souveränität / Integrität sowie das Charisma Fidel Castros – neu zusammen für die zunächst eher widrigen Bedingungen einer postsozialistischen und globalisierten Welt. Das Talent zur Neu - Verknüpfung der Legitimationsquellen war erneut gefordert, als mit dem Rückzug Fidels das charismatische Element dahinzusiechen begann und erneut über das baldige Ende des Regimes spekuliert wurde. Wenn dem – bis dato jedenfalls – nicht so war, so liegt dies im Wesentlichen darin begründet, dass das Regime nie eine rein personalistische Diktatur war, sondern auch – spätestens nach der Sowjetisierung – Elemente rational - bürokratischer Herrschaft und insbesondere eindeutige Nachfolgeregelungen aufwies, von Hoffmann treffend als charismatischer Staatssozialismus bezeichnet : „It was precisely the combination of charismatic leadership with bureaucratic - rational authority, in the form of one - party state socialism with strong army participation, which gave the successor government sufficiently strong alternative power structures to turn to as it discontinued the charismatic leadership style.“36 Unter Raúl Castro wurde entsprechend verkündet, die Kommunistische Partei wieder mehr ins Zentrum der Politik zu rücken und insgesamt stärker auf institutionelle statt personalistische Strukturen zu setzen. De facto ist gleichwohl eher ein Amalgam aus oberstem Staatsapparat, Militäreliten und Parteistrukturen die Basis dieser Reinstitutionalisierung.37 Gleichzeitig wurde allerdings dafür gesorgt, dass über Fidels Rolle als politisch - moralischer Instanz noch Elemente seines Charismas bewahrt wurden und als Hintergrundlegitimation auch des neuen bürokratischen Sozialismus fungieren.

2.2

Kooptation à la cubana

Die postsozialistische Krise war freilich nicht ohne das Anzapfen weiterer Stabilitätsressourcen zu bewältigen. Spielte Kooptation aufgrund der relativ hohen Elitenkohäsion und des ansonsten eingesetzten Mix aus Legitimation, Kontrolle und Repression bis 1991 eine eher untergeordnete Rolle, so wandelte sich dies im Zuge der krisenbedingten Unsicherheiten. Das Augenmerk richtet

34 35 36 37

Vgl. Stehnken, Herbst der Patriarchen, S. 108. Gratius, Kuba, S. 118. Hoffmann, Charismatic Authority, S. 243. Vgl. ebd., S. 237–239.

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sich dabei zum einen auf die für den Regimeerhalt notwendigen strategischen Gruppen – Militär, Partei, Sicherheitsapparat – und zum andern die auf lange Zeit wenig profilierte katholische Kirche sowie die Unzufriedenen in der Bevölkerung. Der Fall Ochoa hatte schon zu Ende der 1980er Jahre angedeutet, dass unter den Regimeeliten durchaus Brüche zwischen Hardlinern und Reformern – in diesem Falle an Glasnost und Perestroika orientierte Militärs – auftreten können. Zwar wurde das Militär damals harsch gesäubert, doch setzte der freie Fall der Wirtschaft Reformoptionen erneut auf die politische Agenda. Reformdruck kam dabei nicht nur aus den eigenen Reihen, sondern auch von den möglichen neuen externen Partnern ( Europa, Lateinamerika ) und nicht zuletzt von der arg gebeutelten Bevölkerung – das Regime hatte gute Gründe, soziale Unruhen befürchten zu müssen, wie sie 1994 in Havanna ausbrachen. Dabei stand das Regime – erstmals in seiner bis dahin 30 - jährigen Geschichte – vor dem Dilemma, einerseits Reformen durchführen zu müssen, um einen Teil der Staatselite zufrieden zu stellen bzw. reformwillige Mitglieder zu integrieren, andererseits aber genau dadurch die Hardliner als den größten regimetreuen Sektor zu brüskieren.38 Letztlich entschied sich das Regime für die eher begrenzten Wirtschaftsreformen, die es ihm erlaubten, sowohl mit der Zeit als auch mit den Reformern zu spielen und am Ende die Kontrolle über den Reformprozess – und damit über die relevanten Akteure – zu behalten. Durch die Aufspaltung der Ökonomie in einen profitablen, exportorientierten Sektor und die ineffiziente staatliche Binnenwirtschaft schuf das Regime nicht nur die Möglichkeit der Kooptation von Regimeeliten, sondern konnte darüber hinaus auch den Druck der Reformer ins Leere laufen lassen : „the uneven economic reforms served to mislead – in fact, completely fool – those actors who in the early 1990s were pressuring for deep economic and political opening. The reforms allowed the state to give the impression that the regime was moving toward the market – the type of signal that was necessary to placate the pressures coming from reform advocates – when in fact, the government never intended to follow that path. Instead, the government intended to side with the hardliners.“39 Für die politische Stabilität des Regimes noch wichtiger war allerdings, dass der Staat fortan eine Rolle als so genannter gatekeeper state spielte und es dem Regime erlaubte, mittels diverser Öffnungs - und Schließungsmechanismen die Steuerung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu betreiben und so sukzessive seine politische Macht zu stärken. Entsprechend bilanziert Corrales : „limited reforms actually enhanced the power of the state by converting it into the gatekeeper of a new and highly valuable commodity : the small and profitable externally connected sector. As a gatekeeper, the state has increased the payoff of cooperating with it : the state rewards ( or elicits ) societal loyalty by dispen38 Vgl. Javier Corrales, The Gatekeeper State. Limited Economic Reforms and Regime Survival in Cuba, 1989–2002. In : Latin America Research Review, 39 (2004) 2, S. 35–65, hier 39. 39 Ebd., S. 36.

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sing access to this sector. In many ways, the Cuban state has transformed the way it interacts with society : while the number of winners is decreasing, the reward that actors obtain for endorsing the state is becoming more valuable.“40 Insbesondere profitierten davon die genannten strategischen Gruppen aus Militär, Sicherheitsapparat sowie Funktionären des Partei - und Staatsapparats ( lukrative Gehälter, Möglichkeiten zur persönlichen Bereicherung, alltägliche Privilegien ). Zugleich haben sie selbst die Möglichkeit, als gatekeeper weitere Mitglieder etwa über die Verteilung begehrter Arbeitsplätze zu kooptieren.41 Neben den durch den gatekeeper - Staat kooptierten Gruppen – die gleichwohl auch immer der argwöhnischen Kontrolle der Staatsführung ausgesetzt sind – begann das Regime in den 1990er Jahren, auch seine Beziehungen zur katholischen Kirche zu verändern. Seit der Anfangsphase als konterrevolutionär gebrandmarkt, war die Katholische Kirche sukzessive an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden – erst ab Mitte der 1980er Jahre zeigten sich erste Entspannungstendenzen. Diese haben sich seit 1991 spürbar verstärkt – unter anderem mit der Aufhebung religiöser Diskriminierung, der Zulassung religiöser Zeremonien oder der Umbenennung vom atheistischen zum laizistischen Staat – was nicht zuletzt auch am sozialen Engagement der Kirche in Notzeiten lag, das den Staat entlastete und nicht zuletzt den sozialen Frieden bewahren half.42 Meilenstein dieser Entwicklung war der Kuba - Besuch von Papst Johannes Paul II. im Jahr 1998, mit dem das Regime auch anerkannte, dass Religiosität in Kuba auch im Sozialismus weiter existierte. In den Folgejahren bemühte sich die Kirche, eine Gratwanderung zwischen Konsolidierung ihrer Arbeit ( inklusive wohldosierter politischer Forderungen oder Ausweitung ihrer zivilgesellschaftlichen Rolle ) und der grundsätzlichen Anerkennung von Sozialismus und Revolution. Raúl Castro hat die Annäherung an die katholische Kirche weiter fortgesetzt und versucht, sie dauerhaft als potenziellen Bündnispartner und politischen Vermittler zu gewinnen, wie etwa bei der Freilassung von mehr als 100 inhaftierten Oppositionellen im Jahr 2010.43 Eine strategische Partnerschaft mit der Kirche – der einzigen nicht - staatliche Organisation mit landesweiter Präsenz und hohem Institutionalisierungsniveau – würde auch dazu dienen, neue Legitimationsressourcen zu erschließen.44 Als dritte Quelle schließlich operierte das Regime auch nach 1991 mit der Option der „negativen Kooptation“, d. h. dem Offenhalten der Exit - Option für Unzufriedene über Auswanderung in die USA. Im Gegensatz zu der Phase zuvor fungierte diese nun aber nicht mehr nur als ein Sicherheitsventil, um die Ausbreitung von Unzufriedenheit oder Revolten wie im August 1994 zu vermei40 Ebd., S. 36 f. 41 Vgl. Stehnken, Herbst der Patriarchen, S. 102 f. 42 Vgl. Christina Moebus, Kuba. Die katholische Kirche als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft, Studie der Friedrich - Ebert - Stiftung, Bonn 2011. 43 Vgl. Bert Hoffmann, Wie reformfähig ist Kubas Sozialismus ?, Bonn 2011, S. 16 f. 44 Auf dem VI. Parteitag des PCC im Jahr 2011 unterstrich Raúl Castro den strategischen Charakter der Annäherung an die katholische Kirche. Vgl. ebd., S. 17.

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den bzw. generell Opposition klein zu halten. Vielmehr erlaubte es die Zulassung der Rücküberweisungen ( remesas ), seit 1993 gleichzeitig eine neue Devisenquelle zu erschließen, d. h. paradoxerweise wirtschaftliche Unterstützung von Seiten der Emigranten zu generieren.45 Zwar ist unter diesen der Einsatz der remesas heftig umstritten – die ältere Generation wertet sie als Stützung des Castro - Regimes –, doch scheint insbesondere die jüngere Exil - Generation mit Angehörigen auf der Insel zu dieser „doppelt negativen“ Kooptation bereit zu sein, die in den letzten zehn Jahren einen beträchtlichen Devisenfluss erbrachte.46 Kooptation, dies legen die drei Arten nahe, steht dabei immer in Verbindung mit Kontrolle sowie der Option des Regimes, bei veränderter politischer Lage diese wieder umzukehren oder zumindest zu verändern. Gegenwärtig deuten die Zeichen allerdings eher darauf hin, dass Raúl Castro zunehmend auch auf Output - Legitimität setzt und somit zwar keine radikalen, aber dafür nachhaltige Reformen anstrebt – ohne dabei allerdings den Sozialismus infrage zu stellen.

2.3

Repression : Kontrollmechanismen gegenüber der Gesellschaft

Nach 1991 hat sich die Rolle von Repression für die Regimeerhaltung nicht wesentlich geändert. Wie in den Jahren zuvor gab es keine massive Anwendung physischer Gewalt gegen die Bevölkerung und auch keinen Einsatz von Sicherheitskräften oder gar des Militärs wie in China 1989. Zynischerweise muss man allerdings auch festhalten, dass es dazu kaum eine Gelegenheit gab, also etwa Massendemonstrationen oder massive Unruhen, die einen Einsatz gerechtfertigt hätten. Eine Ausnahme bildeten die Unruhen in Havanna 1994, die aber rasch von den Sicherheitskräften zerstreut werden konnten. Im Kern liegt dieses „niedrige Profil“ an Bürgerprotesten daran, dass die kubanische Regierung bis heute keine Opposition geduldet und alles getan hat, um möglichst auch keine entstehen zu lassen bzw. bereits im Keim zu ersticken. Hierzu bediente sich das Regime nach wie vor der lange etablierten – formalen wie informellen – Kontrollmechanismen, die eine Mischung aus Überwachung und Indoktrination darstellen. Insbesondere ist der öffentliche Raum – Versammlungs - oder Meinungsfreiheit betreffend – absolut tabu, während im privaten Kreis durchaus Kritik geäußert werden kann. Gelegentlich wird auch Toleranz geübt, wie etwa die Duldung 45 Vgl. – auch zu den Komplexitäten der Thematik inklusive Verhandlungen mit den USA sowie die Stärkung der gatekeeper - Rolle – Hoffmann, Emigration, S. 8–16. 46 Neuere Berechnungen der Havana Consulting Group gehen davon aus, dass die remesas von etwa 1 Mrd. US$ im Jahr 2000 auf 2,6 Mrd. US$ im Jahr 2012 angestiegen sind. Nimmt man Warensendungen hinzu ( Medizin, Nahrung u. a.) steigt der Betrag für 2012 auf über 5 Mrd. US$ und damit mehr als aus den vier wichtigsten Wirtschaftssektoren ( Tourismus, Nickel, Medizin, Zucker ) zusammen. Vgl. Emilio Morales, Cuba: $2.6 Billion in Remittances in 2012 ( http ://www.havanatimes.org / ?p=94444; 30. 7. 2013).

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der eher kritischen Punk - und Hiphop - Szene als kontrolliertes Ventil gegen verbreiteten Unmut, doch geschieht dies in einem Klima der permanenten Unsicherheit und Unberechenbarkeit.47 Dies erlaubt es dem Regime, mit einem sehr geringen Maß offener oder harter Repression auszukommen und stattdessen auf diverse Mechanismen selektiver Repression zurückgreifen. Aufkommende Dissidenz – deren systemgefährdende Schwelle selbstredend das Regime definiert und gemäß der Ideologie als „konterrevolutionär“ verurteilt – wird gezielt mit Repressionen und Sanktionen unterdrückt und öffentlicher Diffamierung ausgesetzt, wie etwa im Falle der vom Europäischen Parlament mit dem Sacharow - Preis bedachten „Damen in Weiß“.48 Auch der PCC ist über die Zusammenarbeit mit dem Polizei - und Sicherheitsapparat des Innenministeriums in den staatlichen Unterdrückungsapparat eingebunden und verfügt über eigene mobile Eingreiftruppen zur Einschüchterung von Dissidenten.49 An diesen Vorgehensweisen hat sich nach Angaben von Human Rights Watch auch unter Raúl Castro bis 2012 wenig geändert.50 Dass Dissidenten in der Bevölkerung kaum Ansehen genießen, trägt zur weiteren Dynamik der Schweigespirale bei. Nichtsdestotrotz sind über die letzten 20 Jahre diverse kritische zivilgesellschaftliche Gruppen und Aktivitäten entstanden, die dem Regime in Zukunft Sorge bereiten könnten.51 Für den Rest der Bevölkerung gilt Routine - Repression und ein damit verknüpftes Klima der Einschüchterung. Die Mehrheit der Bevölkerung ist über Massenorganisationen wie die Gewerkschaft CTC, der Bauernverband ANAP, der Verband kubanischer Frauen FMC oder der kommunistische Jugendverband UJC vereinnahmt. Als vom Staat gelenkte Organisationen fungieren diese zum einen als Top - down - Mechanismus der Kommunikation und Organisationsrahmen für die Kontrolle gesellschaftlicher Gruppen, zum andern aber auch als Rahmen für gesellschaftliches Feedback und ( wenngleich begrenzte ) Partizipation und Inputs. Zum anderen wird die Bevölkerung durch die in der Anfangszeit der Revolution gegründeten Comités de la Defensa de la Revolución (Komitees zur Verteidigung der Revolution, CDR ) in ihren Stadtvierteln nahezu lückenlos überwacht. Die Komitees, in denen nach offiziellen Angaben 92,6

47 Vgl. Stehnken, Herbst der Patriarchen, S. 105. 48 Die „Damen in Weiß“ forderten in sonntäglichen Demonstrationen die Freilassung ihrer Familienangehörigen, die seit der Verhaftungswelle 2003 einsaßen. Vgl. Alissa Del Riego / Adrianna C. Rodriguez, Ladies in White. The Peaceful March Against Repression in Cuba and Online. In : Harvard Human Rights Journal, 24 (2011) 221, S. 221–240. 49 Vgl. Krämer / Krüger, Politisches System, S. 380. 50 Vgl. Human Rights Watch, Universal Periodic Review. HRW Submission on Cuba (http://www.hrw.org / news /2013/04/18/ universal - periodic - review - hrw - submission cuba; 30. 7. 2013). 51 Vgl. Carl Gershman / Orlando Gutierrez, Can Cuba Change ? Ferment in Civil Society. In : Journal of Democracy, 20 (2009) 1, S. 36–54; Gerardo Otero / Janice O’Bryan, Cuba in Transition ? The Civil Sphere’s Challenge to the Castro Regime. In : Latin American Politics and Society, 44 (2002) 4, S. 29–57.

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Prozent der Kubaner über 14 Jahre registriert sind,52 stellen ein engmaschiges Informations - und Sicherheitsnetz dar, das zugleich soziale Aufgaben – wie Blutspenden, Verteilung von Nahrungsmitteln – in Wohngebieten übernimmt. Schließlich behält sich der Staat bis heute das Monopol über die öffentliche Meinung vor, die er über die staatseigenen Medien generiert und überwacht. Neben der Kontrolle von Fernsehen, Radio und Zeitungen lässt er immerhin einige kirchliche Zeitschriften zu, die zwar auch öffentliche Themen diskutieren, jedoch eine begrenzte Reichweite haben und der Zensur unterliegen. Auch gewisse Lockerungen für Debatten unter Raúl Castro haben an der grundlegenden Maxime Fidel Castros – „Innerhalb der Revolution : alles. Gegen die Revolution : nichts“ – wenig geändert, das heißt Kritik ist nur möglich im Rahmen einer generellen Loyalität zum politischen System. Gleichwohl sieht sich das Meinungsmonopol des Regimes einem gewissen Erosionseffekt durch das Internet gegenüber, dessen Nutzung und Effekte es seit dem Anschluss ans Web im Jahr 1996 selbstredend zu kontrollieren trachtet. Dennoch haben sich sukzessive Ansätze einer alternativen Öffentlichkeit über E - Mail - Verbreitung oder Blogs ergeben. Die Regierung hat diese Veränderungen bis dato eher geduldet, versucht allerdings die Grenzen zwischen „privater“ Nutzung und monopolisierter öffentlicher Arena zu bewahren und einen Ansteckungseffekt des Web - Pluralismus auf die nationale Öffentlichkeit zu verhindern – gegebenenfalls mit selektiver Repression, wie im Falle Yoani Sánchez.53

2.4

Internationale Unterstützung

Wie einleitend zum Exzeptionalismus Kubas dargelegt, schien das Regime nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in den frühen 1990er Jahren weitestgehend auf sich alleine gestellt zu sein und angesichts internationaler Isolation und des dramatischen Wirtschaftseinbruchs reif für ökonomische und politische Reformen. Zusätzlich verschärften die USA ihre Gangart gegenüber Kuba mit dem Torricelli - Gesetz 1992 ( Ausweitung des Handelsembargos ) sowie 1996 mit dem Helms - Burton - Gesetz ( u. a. Aufhebung der Sanktionen nur bei einem Systemwechsel ohne die Castro - Brüder ), um Kubas Wiedereingliederung in die Weltwirtschaft zu verhindern und so das Regime letztlich ökonomisch in die Knie zu zwingen. Zwar konnte die Regierung dies nach bekanntem Muster als imperialistische Gefährdung der Errungenschaften der Revolution brandmarken und so ( vermeintlich ) letzte Register ihrer ideologischen Legitimation ziehen. Dennoch gelang es dem Regime insbesondere mit der Strategie begrenzter Refor-

52 Vgl. Granma 14. März 2013, S. 8 ( http ://www.granma.co.cu /2013/03/14/ pdf / todas. pdf; 11. 8. 2013). 53 Vgl. Bert Hoffmann, Civil Society 2.0 ? How the Internet Changes State - Society Relations in Authoritarian Regimes. The Case of Cuba, GIGA Working Papers 156, Hamburg 2011.

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men sowie der skizzierten Kooptationsstrategie lediglich, das System in einer „stabilen Stagnation“ zu halten, die angesichts wachsender Ungleichheit weitere Anpassungsschritte erforderlich zu machen schien.54 Letztlich kam, wie kann es anders sein, dem máximo líder „die Geschichte“ – die ihn, so seine berühmte Verteidigungsrede im Prozess nach dem 1953 kläglich gescheiterten Angriff auf die Moncada - Kaserne, ohnehin freisprechen wird – zu Hilfe, und er musste dies geradezu als Bestätigung seiner Mission werten. Denn der neue Retter – Venezuelas Präsident Hugo Chávez, bis zu seinem Tod auch als legitimer Erbe Fidels angesehen – war nicht zuletzt aus ähnlichen Motiven 1998 an die Macht gekommen wie seinerzeit die Revolutionäre und verfolgte spätestens ab 2002 mit seiner „Bolivarianischen Revolution“ ähnliche Ziele. Das Aufkommen weiterer linksorientierter Regierungen in Bolivien, Ecuador oder Nicaragua trug dazu bei, dass zum einen Kubas Isolation auf dem Kontinent abnahm und zum andern – vor dem Hintergrund der als gescheitert angesehen neoliberalen Reformen – Elemente des kubanischen „Modells“ inklusive Freiheit, Selbstbestimmung und Antiimperialismus im „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ adaptiert wurden. Insbesondere die Partnerschaft mit Venezuela brachte dem Regime nicht nur internationale Unterstützung und Anerkennung, die auch intern als Legitimationsquelle genutzt werden konnte, sondern auch wirtschaftliche Vorteile, die u. a. aus Tauschgeschäften – verbilligtes Öl gegen Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Sicherheit – resultierten. Mithilfe Venezuelas konnte dieser Dienstleistungsexport auf andere Länder ausgeweitet und zu einer weiteren Entlastung des Staatshaushalts genutzt werden – zumindest bis zur Krise ab 2008.

IV.

Zusammenfassung und Fazit

Kubas aus der Revolution von 1959 hervorgegangene Ideokratie hat bis dato jegliche Herausforderung ihres Überlebens gemeistert und dabei ihre grundlegende Identität – die Trias aus nationaler Souveränität, politischer Befreiung und sozialer Gerechtigkeit – durch ihre Anpassungsfähigkeit bewahrt. Aus der Analyse bleibt festzuhalten, dass sich das kubanische Revolutionsregime gewissermaßen als Meister der Selbststabilisierung erwiesen hat, ohne dabei – abgesehen von der Anfangsphase – auf massive harte Repression zurückgreifen zu müssen. Es hat nicht nur die verfügbaren Ressourcen virtuos zu seiner Stabilisierung genutzt, sondern auch neue Stabilitätsressourcen generiert und überdies eine gewisse Lernfähigkeit an den Tag gelegt. Im Hinblick auf die „Ideokratie - Hypothesen“ ergibt sich ein recht uneinheitliches Bild, das zudem nach den beiden Hauptphasen zu differenzieren ist. 54 Vgl. Hans - Jürgen Burchardt, Kuba nach Castro. Die neue Ungleichheit und das sich formierende neopopulistische Bündnis. In : Internationale Politik und Gesellschaft, 3 (2002), S. 67–89.

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Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die grundlegende Legitimationsideologie aus politischer Befreiung, nationaler Souveränität und sozialer Gerechtigkeit trotz „Anpassungen“ im Wesentlichen aufrechterhalten wurde und in der kubanischen Bevölkerung auch verankert ist – auch wenn diese sie nicht mehr unbedingt als „Verheißungen“ wahrnehmen mag, dass sie zunehmend von der ökonomischen Performanz und der insgesamt mangelnden Zukunftsvision beeinträchtigt worden sind. (1) Zumindest für die erste Phase der „Revolution“ bis etwa 1980 ist es plausibel, dass die kubanischen Bürger – und die dominierende Elite der Revolutionäre allemal – an die ideologischen Verheißungen der Revolution glaubten und so bereit waren, die ökonomischen Entbehrungen hinzunehmen, die spätestens seit Mitte der 1960er Jahre mit der Einführung der Lebensmittelkarten offenkundig waren. Schon in dieser Phase war die Folgebereitschaft aber deutlich durch das Charisma Fidels, die zwar relativen, aber spürbaren sozialen Erfolge und nicht zuletzt die externe Bedrohung mitbestimmt. Im weiteren Verlauf ist es dem Regime gelungen, diese Ideologie per Performanz und Indoktrination zu bekräftigen und über ein weitgehend geschlossenes Gesellschaftssystem abzusichern. (2) Die politische Führung unter Fidel – und vermutlich er an vorderster Front – setzten in der „Sowjetphase“ (1960–1991) wenig auf Kooptation, um die sukzessive sinkende Glaubensbereitschaft an die ideologischen Verheißungen der Revolution zu kompensieren. Stattdessen griff das Regime zum einen eher auf selektive bzw. „Routine - Repression“ zurück, zum andern auf das Charisma Fidels sowie auf Indoktrination ( Bekräftigung der sozialen Errungenschaften bzw. deren Gefährdung bei einem Regimewechsel ). Bedeutsame Kooptation – sofern man diese als solche fassen mag – fand via Gewährung der Exit - Option statt, die das Regime sukzessive immer besser für die eigenen Zwecke zu nutzen lernte. Ein anderes Bild ergibt sich für die Phase ab 1991, in der das Regime über den gatekeeper - Staat zentrale Machgruppen via Kooptation auf den Erhalt des Systems einschwor. Dies spräche zumindest für die jüngere Phase – und insbesondere seit der Amtsübernahme Raúl Castros – dafür, dass Kooptation zumindest ein weiteres Mittel des Regimeerhalts darstellt, das aber neben und nicht anstelle von anderen Mechanismen eingesetzt wird. (3)/(4) Die Repressionsthese greift im Falle Kubas eher nicht, da das Regime es immer verstand, zumindest für ein Mindestmaß an Legitimation und teils auch Kooptation – und sei sie „negative“ Kooptation – zu sorgen und so kein bestandsgefährdendes Maß an Loyalitätsverlust erleiden zu müssen. Darüber hinaus ist über die diversen Organisationen und die Kontrolle der Öffentlichkeit ein feinmaschiges Kontrollnetz gespannt, das organisierte Opposition gar nicht erst entstehen lässt und so eine massive harte Repression nicht vonnöten ist. ( Dies ist freilich davon abhängig, was man unter harter Repression versteht.) (5) Wie dargelegt, besteht die Ideologie der kubanischen Ideokratie aus mehreren Elementen, die recht unterschiedlich wirken. Der Glaube an „die“ Ideologie war in Kuba vermutlich ohnehin nie sehr stark ausgeprägt, und umgekehrt

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konnte man die „Verheißung“ der sozialen Gerechtigkeit in Form sozialer Leistungen auch als auch als Output verstehen. Allerdings scheinen die Entwicklungen der letzten Jahre darauf hinzudeuten, dass das Regime nun verstärkt auf Kooptation und auch auf wirtschaftliche Output - Legitimität setzt, wenngleich letztere noch mehr als Strategie denn als tatsächliche Performanz wirksam ist.

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III. Vergleiche

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The Legitimizing Role of Palingenetic Myth in Ideocracies Roger Griffin

I.

Introduction : Ideocracy and Totalitarianism

This paper will explore the thesis that spontaneous, non - coerced popular enthusiasm for the revolutionary aspirations of an ideocracy, both before and after the seizure of power, has been crucial for the perceived legitimation of several major totalitarian movements and regimes in the modern age. For the purposes of this analysis, the connotations of the suffix - cracy are taken to be those of theocracy, autocracy, and ethnocracy, thus suggesting a political system dominated by the primacy of a particular idea ( a totalizing vision or grand récit ) of historical development which serves as the basis for realizing a new society, and even for founding a new historical era. This usage corresponds to how the term ‘ideocracy’ is used in the only Anglophone monograph on the topic to date, which defines it as “a political system whose activities are pursued in reference to the tenets of a monistic ideology”,1 a regime which directly contrasts with pluralistic democracy. The main focus here will be the deeper psycho - cultural dynamics of political situations in which an elite consciously sets out to realize a “monistic”, totalitarian world - view through social engineering, and not just through social coercion, to overcome the perceived failure, injustice, or decadence of a modern pluralistic society and at some point in the process of attempted realization of this project is able to count on a significant degree of popular support and consensus thanks to the mass - mobilizing power of its vision of the new order. The legitimacy that results is thus different both from the ( in Weberian terms ) “traditional” authority that underpins pre - modern religious societies and the “legal rational” authority of liberal societies, but also from the enforced but inauthentic legitimation secured through the coercive terror and propaganda apparatus of authoritarian and totalitarian regimes which exercise a state monopoly over cultural production and political thought with no genuine popular base. Despite this exclusive focus, it should be remembered that pluralistic liberalism can also develop ideocratic elements which repress pluralism and distort 1

Jaroslaw Piekalkiewicz / Alfred Wayne Penn, The Politics of Ideocracy, New York 1995, p. 25.

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democratic processes and would be worth investigating in relationship to the issue of totalitarian legitimacy. The Jacobin vision of the French Revolution, McCarthyism, the domino effect model of the communist threat that led the US administration to escalate the Vietnam War while publically claiming to scale down the resources committed to it, Thatcherism, at its most aggressively anti socialist, and the neo - Conservatism that led to the invasion of Iraq after 9/11 all suggest that neat distinctions between ideocratic and democratic societies cannot be drawn. However, the way ideocracy is being used here precludes the consideration of the abuse of power in a system of political pluralism. It also rules out authoritarian societies where ideology plays a minimal or purely instrumental, Machiavellian, or cosmetic role in dictating policies and the ruling elites pursue no utopian vision of social engineering beyond the elimination of the perceived enemies of social and political stability ( which, according to the official ideology, can be represented by liberalism, communism, fascism, freedom of thought, capitalism, Judaism, religious pluralism etc ). Such authoritarian regimes, examples of which are military dictatorships, personal dictatorships, and non - revolutionary conservative or communist dictatorships may produce elaborate rationalizations for their claim to absolute power over the individual and civil society, but lack the ambition to undertake the shaping of a new type of modern society and a “new man” according to an ideological blueprint which is symptomatic of a genuine ideocracy. It should also be pointed out that the basic premise of ideocracy, namely the possibility of a primacy of ideas in a political context, is a contested concept. Certainly many political scientists may agree with the sentiments of Romain Rolland who in his introduction to “Clérambault” (1921), first published in Swiss newspapers in December in 1917 at the height of the mutual slaughter of the First World War, states that “Humanity does not dare to massacre itself from interested motives. It is not proud of its interests, but it does pride itself on its ideas which are a thousand times more deadly.”2 Such an assertion, however, must remain deeply suspect to Marxists of all complexions even if Marx himself sometimes broke with the strictures of the materialist conception of history, for example, when he recognized that the legal institution of private property ( a super - structural force ) was the precondition for the development of capitalist economics and production ( a structural force ).3 A number of other Marxist theorists can be cited to uphold an anti - determinist variant of Marxism, notably Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Antonio Gramsci, Jacques Lacan, and all protagonists of voluntarist interpretations of the revolutionary process, not least Lenin himself who once declared “Politics must take precedence over economics. To argue otherwise is to forget the ABC of Marxism”.4 2 3 4

http ://en.wikisource.org / wiki / Clerambault (1917); 22.10. 2011. Cf. Karl Marx / Friedrich Engels ( Ed.), Capital. A Critique of Political Economy, Hamburg 1867, vol. 1, chapter 3. Vladimir Lenin, Once Again on the Trade Unions. In : Id., Collected Works, vol. 32, Moscow 1965, p. 70.

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The Legitimizing Role of Palingenetic Myth in Ideocracies

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This paper rejects both crudely materialist theories of history, but also Hegelian idealism and other forms of ideocentric approaches. It assumes instead a complex, dynamic, but non - dialectical and non - determinist relationship between the economic ( structural ) and ideological ( super - structural ) factors conditioning the evolution of history as well as among the social elites imposing the hegemony of certain political ideas and the subjects of an autocratic elite, who far from always being passive victims, may in some circumstances become its enthusiastic supporters and the protagonists of the historical transformation in their own right. This results in a fluctuating, irreducibly complex role played by ideology in establishing consensual legitimation, which can never be the product of the power of ideas in itself.

II.

The Neglected Area of Populist Legitimation in Ideocracies

One unintended consequence of the Cold War climate in which much pioneering academic work on totalitarianism was carried out in the West was that totalitarianism became associated with the coerced consensus of closed, monocratic societies ( National Socialist or Communist ), in contrast to the ( no less mythicized ) “open”, polycratic societies of the “Free World” where, ( pace Noam Chomsky,5 Herbert Marcuse6 et al.), a consensus was allegedly not “manufactured” or imposed as a form of totalitarianism. Instead, a symbiotic relationship was assumed or claimed to exist between the policies of political elites and the “will of the people” expressed through its mandated representatives. Western academia in particular was largely “value free”, a laissez - faire market of ideas mirroring the economic market. The image of ideocracies imposed through repression, propaganda, and terror purely for the purpose of retaining power, or as the prelude to world domination, found its most comprehensive, sophisticated, and at times cryptic, academic expression in Hannah Arendt’s “The Origins of Totalitarianism” (1951) and was reinforced in the popular imagination by such classic fictional studies of the subject as Arthur Koestler’s “Darkness at Noon” (1940), George Orwell’s “1984” (1949), and Jean - Luc Goddard’s “Alphaville : The Strange Adventure of Lemmy Caution” (1965). Even Emilio Gentile’s post - Cold War definition of totalitarianism (2000), which breaks new ground in recognizing explicitly the revolutionary aspirations of totalitarianism, contains no allusion to the possibility of a spontaneous community of believers emerging under the new regime willing to contribute energetically and proactively to its realization. By stressing “domination” it remains a “governor’s view of the prison” :

5 6

Cf. Edward Herman / Noam Chomsky, Manufacturing Consent, New York 1988. Cf. Herbert Marcuse, One - Dimensional Man, Boston 1964.

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“The term ‘totalitarianism’ can be taken as meaning an experiment in political domination undertaken by a revolutionary movement, with an integralist conception of politics that aspires toward a monopoly of power and that, after having secured power, whether by legal or illegal means, destroys or transforms the previous regime and constructs a new state based on a single - party regime with the chief objective of conquering society. That is, it seeks the subordination, integration, and homogenisation of the governed on the basis of the integral politicisation of existence, whether collective or individual, interpreted according to the categories, the myths, and the values of a palingenetic ideology institutionalised in the form of a political religion that aims to shape the individual and the masses through an anthropological revolution in order to regenerate the human being and create the new man who is dedicated in body and soul to the realisation of the revolutionary and imperialistic policies of the totalitarian party. The ultimate goal is to create a new civilisation along ultra - nationalist lines.”7

The overdetermined academic concentration on a coerced rather than a spontaneous consensus in totalitarian societies has led to extensive studies of the imposition of ideology through apparatuses of social control and social engineering, and, in particular, through the use of an elaborate political religion, intensive verbal and non - verbal propaganda, and terror. Classics in this respect are Klaus Vondung’s “Magie und Manipulation – Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus” (1971) and Emilio Gentile’s “The Sacralization of Politics in Fascist Italy” (1996). This top - down approach to understanding the power of totalitarian ideology is applied even by such a groundbreaking and sophisticated exercise in comparative totalitarian studies as David Roberts’ “The Totalitarian Experiment in the Twentieth - Century” (2006) and Michael Geyer and Sheila Fitzpatrick’s “Beyond Totalitarianism” (2009), where periods of spontaneous populist enthusiasm for both the Nazi and the Soviet regimes are not foregrounded, and their deep - seated causes are not explored.8 In this paper the focus is different. The paper offers a generic conceptual framework set out with the hope of encouraging future research in comparative totalitarian studies to focus more effectively and productively on the way certain ideocracies can under certain conditions derive their legitimation ( however temporary ) spontaneously from the intrinsic power of their ideology to meet the specific psycho - cultural needs which have arisen from the process of modernization in certain segments of the population. It is a partial consensus that causes a significant percentage of its subjects to promote revolution or to “work towards the system”9 rather than being or feeling repressed by it.

7 Emilio Gentile / Robert Mallett, The Sacralisation of Politics. Definitions, Interpretations, and Reflections on the Question of Secular Religion and Totalitarianism. In : Totalitarian Movements and Political Religion, 1 (2000), pp. 18–55. Original emphasis. 8 Cf. Michael Geyer / Sheila Fitzpatrick ( Ed.), Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009. 9 An allusion to a concept deployed in Nazi studies which alludes to the charismatic power of Hitler to exercise power by being internalized within his followers so they acted spontaneously in accordance with his wishes. See Anthony McElligott / Tim Kirk / Ian

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The Legitimizing Role of Palingenetic Myth in Ideocracies

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Such an approach deliberately departs from “The Politics of Ideocracy”, which states in its opening chapter that “The legitimacy of an ideocratic political system [...] is derived from the monistic ideology which establishes a universal frame of reference for participants of the system”. It goes on to assert that what sets ideocracies apart from all other political systems is that their legitimacy is derived “exclusively from the tenets of the ideology itself”,10 ignoring the crucial issue of the degree of subjective recognition, internalization, and resonance of that ideology within the “masses” ( or explaining how a set of ideas can legitimize itself without human agency ). It should be stressed that this “prisoners’ view of the prison” approach to legitimacy which concentrates on the populist embrace of an ideocracy is hardly new. Rather it is yet another example of “reinventing the wheel”. It is often overlooked – especially in reductive summaries of the book on websites – that Friedrich and Brzezinski’s classic text, “Totalitarian Dictatorship and Autocracy” (1956) stresses that the “official ideology” of a totalitarian state is “focused and projected towards a perfect final state of mankind” ( or rather an elite segment of it ) and thus contains “a chiliastic claim based on the radical rejection of the existing society and the conquest of the world for a new one”.11 The authors make it clear that they do not just conceive this as manipulative propaganda. They argue that genuine totalitarian projects centre on the creation of a “new man”, and display “strongly Utopian elements”, or “some kind of notion of a paradise on earth” which gives them “a pseudo - religious quality”.These features elicit in “their less critical followers a depth of conviction and a fervour of devotion found only among persons inspired by a transcendent faith” to a point where the ideocratic goals act as what Marx described as “the opium of the people”.12 The conclusion to be drawn is that, though a populist consensus for ideocracies is rarely taken into account by human scientists, the pioneers of academic totalitarian studies themselves specifically stress that legitimation in such regimes may derive at least partly from the enthusiastic ( less critical ) or even fanatical ( completely uncritical ) belief of the supporters in their leaders’ vision of the future and their policies to achieve it, whenever the official Utopia finds a deep psychological resonance in the masses. This paper thus reverses the prevalent regime - centric perspective in totalitarian studies by concentrating on the potential of ideas to assume a powerful mythic force to mobilize spontaneous populist energies, especially in the revolutionary phase of overthrowing the old order and establishing a new totalitarian society. It suggests that the stereotypical image of totalitarianism in the “Free

Kershaw, Working towards the Führer. Essays in honour of Sir Ian Kershaw, Manchester 2003. 10 Piekalkiewicz / Penn, Politics of Ideocracy, p. 25. 11 Carl J. Friedrich / Zbigniew Brzezinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge 1965 (1956), p. 22. 12 Ibid., p. 23.

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World” epitomized in “1984” has been derived from an excessive, if understandable, concentration on the enforced ideocracies of imposed, feigned, failed, or spent totalitarian revolutions. These either had no authentic ideological vitality to begin with, or have degenerated into bureaucratic autocracies drained of genuine populist energy to be manipulated and now bankrupt in the charismatic currency originally emanating from the leader and his vision of the future.

III.

Modelling the Dynamics of Charismatic Ideologies

The implication of this reference to the leader’s ‘vision of the future’ is that the Weberian concept of “charisma” should be extended from being treated exclusively as a property of personalities ( or rather an interaction between “outstanding” individuals and the psychological needs of followers to project their fantasies onto them ), to being treated also as a property of ideologies when they assume a powerful populist momentum by the belief that aggregations of individuals invest in them and the actions that flow from these beliefs. This process of a spontaneous, charismatic ideocratic legitimation of regime change can occur without leadership as in the early phase of the French Revolution and in the 1989 anti - totalitarian revolutions in Europe where the idea of freedom from state communism acquired its own mass - mobilizing potency. In this context the key social theory is no longer Weber’s concept of charismatic authority or even Durkheim’s theory of “collective effervescence” laid out in “Elementary Forms of Religious Life” (1912) and eminently applicable to modern secular religions which aim to reverse anomie. Instead, it is Georges Sorel’s analysis in “Reflexions on Violence” (1908) of the power of myths and utopias to unleash forces of social transformation. Far from being a value - free exercise in academic speculation, Sorel looked optimistically to the emergence of new mass - mobilizing myths in his era to act as the source of palingenetic populist forces capable of regenerating a bourgeois society he saw mired in moral torpor, complacency, materialism, and decadence. It would be possible at this point to construct analytical tools from a reading of Nietzsche to flesh out the theory that some totalitarian regimes deliberately enlisted the psycho - dynamic energies generated by a spontaneous revolt against nihilism and the prospect of Western civilization petering out in a generation of mythless, passionless “last men” with irretrievably anomic, spiritually moribund lives. However, it would be even more profitable to widen the academic debate about ideocracies even further by introducing elements drawn from anthropological research into pre - modern movements of ideological renewal. By applying insights from the work of such experts as Clifford Geertz, Victor Turner, Mathieu Deflem, Anthony Wallace, and Peter Berger it is possible to construct a coherent model of the ideological dynamics of situations when the cohesion of both traditional and modern societies break down and give rise to a new society arising Phoenix - like from the ashes of the old on the basis of a new world

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view or value - system.13 This line of enquiry leads to the formulation of heuristic concepts that arguably have a profound bearing on the understanding of twentieth century totalitarianism, allowing periods to be identified when ideocracy and populist revolutionary demands entered a temporary synergy. Reduced to its bare bones, the composite theory that results from this excursion into neighbouring provinces of the human sciences suggests that one way a society can fail ( or a symptom of its failure ) is when the traditional myths and rituals which together constitute its nomos ( total world - view and law ) no longer provide a coherent sense of communal meaning, purpose, and reality. At this point they enter a liminoid state ( experienced as crisis, chaos, anarchy, decadence, decline, or the end of time ) which is resolved either by the collapse of that society, its absorption into another, more powerful culture, or its internal, endogenic renewal. This is brought about through a “revitalization movement” which provides a new collective source of existential legitimacy, psycho - social coherence, and nomic vitality. Characteristic of cultural regeneration is the emergence of a propheta ( a charismatic leader ) who embodies the vision of a new nomos (a new sect, new religion, new principle for making sense of and re ordering society ) as the basis of a new society ( communitas ). If the embodied nomos can attract enough followers during a nomic crisis to gain a critical mass of support, a secessionist movement or sect forms able to serve as the nucleus of a new society, though it may have to occupy new territory to establish the new religious - ritual community. This process of renewal has been repeated countless times in innumerable unique permutations within human history to perpetuate communities in their constant process of renewal, of palingenesis. Indeed, every new religion can be seen as a largely spontaneous ideocracy born of a nomic crisis resolved through the formation of a new community centred on a new nomos embodied in a new propheta, a new scripture or a new oral narrative of the cosmos, and new rituals and observances. It is clear from this approach that the propheta’s charisma is intimately bound up with the dramatic process of social revitalization, of cultural death and rebirth, and the mythic power of the embryonic new nomos in which the new identity ( embodied in a new man and woman ) is crystallized. Each reborn society thus involves a process of ideological renewal and establishes the hegemony of a new ideocracy experienced not as an abstract theory or imposed moral code but as a lived reality, a total but not necessarily totalitarian, new order. Once modern European history is approached from the vantage point of premodern revitalization movements new interpretive vistas will open up in totalitarian studies. The chronic ambivalence ( Zygmunt Bauman ), liquefaction ( Zygmunt Bauman ), and dis - embedding of reality ( Anthony Giddens ) under modernity, and the resulting liquefaction of its earlier solidity ( Karl Marx, Marshall 13 I have attempted to perform this task in chapters 2–4 in : Roger Griffin, Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler, London 2006.

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Berman ) creates – at least for some – a permanent sense of decadence or nomic crisis and, hence, an apocalyptic sense of living constantly on the edge of history torn between fears of social breakdown and hopes for total renewal.14 This subliminal predisposition to live life more meaningfully against a permanent backdrop of angst and anomie can turn into a severe sense of total collapse in times of objective, external socio - political crisis, which can make millions vulnerable to the lure of palingenetic myths of total renewal in moments of structural crisis.15

IV.

Modern( ist ) Socio - political Renewal

It is on the basis of this line of argument that it is possible to identify the subterranean link between modernist art and architecture and a wide range of social and political reform movements which dominated European culture between 1880 and 1914 ( when the Western intelligentsia were dominated by a subjective sense of cultural crisis experienced as decadence ). The palingenetic climate was then intensified between 1914 and 1939 when, objectively, the liberal capitalist world could easily appear to be in a state of terminal collapse, signaling the end of civilization or inaugurating the birth of a new age. This ambivalent mood of catastrophe and the possibility of palingenesis were captured particulately in the first issue of the Austrian cultural review “Die Moderne” published in 1890. Its founder Hermann Bahr proclaimed : “Es geht eine wilde Pein durch diese Zeit und der Schmerz ist nicht mehr erträglich. Der Schrei nach dem Heiland ist gemein und Gekreuzigte sind überall. Ist es das große Sterben das über die Welt gekommen ? Es kann sein, dass wir am Ende sind, am Tode der erschöpften Menschheit, und das sind nur die letzten Krämpfe. Es kann sein, dass wir am Anfange sind, an der Geburt einer neuen Menschheit, und das sind nur die Lawinen des Frühlings. Wir steigen ins Göttliche oder wir stürzen, stürzen in Nacht und Vernichtung – aber Bleiben ist keines. Dass aus dem Leide das Heil kommen wird und die Gnade aus der Verzweiflung, dass es tagen wird nach dieser entsetzlichen Finsternis und dass die Kunst einkehren wird bei den Menschen – diese Auferstehung, glorreich und selig, das ist der Glaube der Moderne.”16

The permanent liminoidality of modernity, which was palpable in cosmopolitan life by the 1880s, generated countless individual moods of apocalyptic despair and palingenetic hope , for what Walter Benjamin called “exploding the contin-

14

It is a thesis expounded at length in Peter Osborne, The Politics of Time. Modernity and the Avantgarde, London 1995. It is also explored in Don DeLillo’s novel : Mao II, New York 1992. 15 Cf. Hermann Broch, The Sleepwalkers, New York 1964, first published as “Die Schlafwandler” in 1932 on the eve of Hitler’s “seizure of power”, is an exhaustive fictional treatment of this analysis of modernity. 16 Hermann Bahr, Editorial to the first issue of “Die Moderne”, quoted in Robert Pynsent, Decadence and Innovation, London 1989, p. 156.

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uum”17 which in turn fuelled revitalization movements in every sphere of cultural production, all expressing an existential longing for purification, a total new order, an overarching vision of reality, rebirth and new beginning. These movements included the “Deutsche Lebensreformbewegung” ( “German Life Reform Movement” ), vitalism, monism, naturism, rationalist architecture, theosophy, anthroposophy, Zionism, Freudianism, Jungianism, Nietzscheanism, youth movements, social hygiene and eugenics, and various types of organic nationalism, socialism, and political racism. They also included a whole array of new aesthetics and their corresponding “isms” ( expressionism, fauvism, surrealism, dadaism etc ). All attempts to establish a new aesthetic in the quest for a higher spiritual truth – a quest epitomized in Wassily Kandinsky’s “Concerning the Spiritual in Art” (1914) – are collectively known as “Modernism”, a term generally restricted to artistic phenomena. However in “Modernism and Fascism” I make a sustained case for seeing aesthetic modernism as simply the artistic manifestation of a welter of palingenetic movements of the period that can all be seen as idiosyncratic modern forms of a revitalization movement and, hence, as forms of social modernism. In this book I further distinguish between epiphanic modernism, where the dark clouds of anomie may break to reveal to the artist glimpses of deeper understanding or shafts of light may traverse the sky emanating from a higher level of “Being”, and programmatic modernism, where the protagonists undertake the self - appointed mission to regenerate society through promoting healthy activities ( e. g. hiking, calisthenics ), or life - asserting forms of architecture, dance, or social mores. The Monte Verità community which thrived above Ascona on the Swiss shore of Lake Maggiore between 1900 and 1926 was a microcosm of the experiments with alternative life - styles that characterized genuine modernism ( as opposed to its commodified travesties )18 while also demonstrating the porous membranes that existed at the turn of the 20th century between various types of epiphanic and programmatic, artistic and social modernism.

V.

The Establishment of Populist Ideocracy

The form of modernism which was to have the most profound – indeed catastrophic – impact on modern history to date was political modernism. The intensifying liminoidality generated by modernity in 19th century European history gradually turned patriotic nationalism into a force which under democratic and 17

Cf. Walter Benjamin, On the Concept of History. In : Walter Benjamin, Gesammelten Schriften, Band I : 2, Frankfurt a. M. 1974, pp. 691–704. 18 Cf. Robert Landmann, Ascona – Monte Verità. Auf der Suche nach dem Paradies (1930), Pancaldi 2000. For an overview see http ://en.wikipedia.org / wiki / Monte_ Verit%C3%A0; Monte Verita. Licht und Leben ( http ://www.emmet.de / hbveri.htm; 16.11. 2011).

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liberal institutional guises hosted powerful irrational organic myths about racial purity, and historical destiny in a number of countries. To this extent, the First World War can be seen as an explosion of repressed state and populist modernist energies directed towards nebulous aspirations to defend culture and identity from demonized enemy forces, which demanded countless blood sacrifices. Even in the most ostensibly democratized countries patriotism was temporarily totalitarianized by the ruling elites for the duration of the war, and the calls to fight for “God and country” ( whatever the God or country ) resonated with powerful palingenetic longings in the general public, and even among the combatant soldiers, many of whom continued to legitimate delusional chauvinist myths from below despite the horrors of combat.19 It is absolutely consistent with this model that in the three European countries where attempts were made to establish palingenetic ideocracies, Soviet Russia, Fascist Italy, and Nazi Germany, the regimes achieved a high level of popular consensus as the solution to a general crisis not just of the state but of reality itself. After decades of socio - political tensions and crises punctuated by attempted anarchist and Marxist revolutionary assaults on the status quo, the Bolshevik revolution initially unleashed a flood of revolutionary fervour in the artistic and intellectual elites20 and was supported by considerable popular enthusiasm, despite the enormous privations endured by the population. Fascist Italy was extensively legitimated by a cult of the duce and mass populist support for Fascism’s programme of rapid modernization and the “nationalization of the masses” between 1928 and 1936. The charismatic energies were orchestrated and intensified but not created or merely inculcated by the elaborate displays of religious politics associated with “the cult of the Fasces”,21 a support that only evaporated once it was realized by ‘ordinary people’ that their country was inexorably being dragged into a major European war by the Axis. It is within this context that it is worth considering the Third Reich as an ideocracy that for a number of years, namely from 1933 until Stalingrad ( the Winter of 1942/1943), was both imposed through social control, propaganda, coercion, and terror while, simultaneously, generating enough authentic populist support to be legitimized through spontaneous charismatic energies. Marginalized electorally until the Wall Street Crash (1929), the ensuing socio political crisis was acute enough to engender a deep nomic collapse, a general “sense - making crisis”22 fuelled by deep - seated anxieties about national identity

19 Essential reading on this are : Modris Eksteins, Rites of Spring, Boston 2000, and Modris Eksteins, Solar Dance. Genius, Forgery and the Crisis of Truth in the Modern Age, Toronto 2012. 20 See Richard Stites, Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, New York 1989. 21 Cf. Gentile, Sacralisation. 22 Cf. Gerard Platt, Thoughts on a Theory of Collective Action. Language, Affect, and Ideology in Revolution. In : Mel Albin (Ed.), New Directions in Psychohistory, Lexington 1980, pp. 69–94.

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and a collective sense of national humiliation and impotence resulting from the catastrophic outcome of the World War, both of which precipitated a collective loss of hope for the future once the Depression struck. In an unfolding process, meticulously documented in the first volume of Ian Kershaw’s biography of Hitler, “Hubris”, Nazism was able to offer millions of existentially desperate individuals in the grip of profound anomie a total worldview, a new sense of belonging, a new nomos to believe in, and a new sacred canopy under which to live out their lives. A miraculous propheta had arisen who held the key to the future, whose Weltanschauung promised a new start in history, which would solve the nation’s crisis, overcome the decadence of Western civilization, and free them from their own existential dilemmas. Once in power, and for as long as its seemed to be fulfilling its promises of total regeneration, Nazism was able to establish itself for nearly a decade as an ideocracy legitimated – given its violence against internal enemies – to a disturbing extent by mass charismatic energies and widely diffused mythic palingenetic expectations projected onto the Führer. Nazi ideology thus became the base of a new communitas ( “Volksgemeinschaft” ) bent on revitalizing and purifying German society by destroying the institutions and human incarnations of decadence, putting an end to the liminoidality of modernity through the establishment of a “new order” in Germany and Europe, and starting time again by instituting a healthy alternative modernity to both Liberal Capitalism and Communism. The first of these would be ruthlessly harnessed to the nation’s needs and the second would be destroyed, along with all other human sources of ideological decay, cultural decadence, dysgenic breeding, and societal Zersetzung. The basis of the legitimation of the Third Reich was therefore not just the violent usurpation of power and the destruction of pluralism by force, but the emergence of a palingenetic community23 diffused throughout Germany which voluntarily “worked towards the Führer”.24 Inevitably, the project to create an organic, morally and physically reborn Volksgemeinschaft as the laboratory of the “new German man” and the “new German woman” was doomed to failure in the long run. Yet in the 1930s it was taken seriously by the regime and millions of previously liberal citizens, many of whom underwent a voluntary process of Nazification, which in many cases outlasted the war ( in marked contrast to the general failure of Fascistization, even before 1943).

23 Cf. Roger Griffin, The Palingenetic Political Community. Rethinking the Legitimation of Totalitarian Regimes in Inter - war Europe. In : Totalitarian Movements and Political Religions, 3 (2002) 3, pp. 24–43. 24 Cf. McElligott / Kirk, Working.

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VI.

Roger Griffin

The Nomic Dynamics of “Living” Ideocracies

The process by which a spontaneous elective affinity can arise between a significant segment of the population of an autocratic state and the totalizing ideology through which it seeks to mould the mindsets of the future inhabitants of the new order is illuminated by Luciano Pellicani’s theory of “God’s orphans”.25 In his neglected but important analysis of political fanaticism, “Revolutionary Apocalypse. Ideological Roots of Terrorism” (2001), published in Italian before 9/11, he analyses the situation of modern human beings caught in liminoid phases of culture, and who thus have a deep thirst for total Gnostic truths about the cosmos in a world spiritually ripped to shreds by the nomocidal impact of modernity. Since they cannot go back to the safe confines of traditional feudal life, nor forward to embrace the atomization and liquefaction of contemporary liberal society, some find themselves forced into the “Third Way” of an extreme utopianism. Exiled from the Divine Truth of pre - modern societies, they conjure up totalizing ideologies of revolutionary transformation shot through with apocalyptic visions of creative destruction, purging violence, and the extermination of demonized and dehumanized enemies as the precondition for the realization of the new order. Pellicani argues that this “Gnostic” syndrome of positive nihilism, and the Zealotic fanaticism it generates, was central to shaping the events of the Jacobin phase of the French Revolution, the Bolshevik Revolution, the Nazi Revolution, and early Maoism; in other studies he finds parallel processes at work in Islamist terrorism. Once the lost souls of modernity become converts to a secular “Gnostic” and apocalyptic movement of total historical transformation, the World becomes mythicized and is split into a Manichaean universe of good and evil. Potential recruits all too easily succumb to the redemptive appeal of the metanarrative which convinces them they belong to a non - military army of “the just” engaged in a cosmic struggle against the damned, or the enemies of a “healthy” society. In the process, God’s orphans metamorphise into “Promethean Builders of the Millennial Kingdom”.26 They undergo a process of what in my study of the sociopsychological dynamics of terrorism I have called “heroic doubling”, formerly anomic individuals becoming transformed into cosmic warriors.27 It is a process deeply akin to what some anomic individuals experienced when they participated in a Nazi rally, the “worm” of the atomized self metamorphosing into “a great dragon”.28 The fanatic that results from this process ( familiar from the 25 Luciano Pellicani, Revolutionary Apocalypse. Ideological Roots of Terrorism, Westport 2003, pp. 54–75. 26 Ibid., p. 63. 27 This aspect of the process of radicalisation is explored extensively in : Roger Griffin, Terrorist’s Creed. Fanatical Violence and the Human Need for Meaning, London 2012, chapter 5. 28 This metaphor is used by Joseph Goebbels, Der Kampf um Berlin. Der Anfang, Munich 1932, p. 18. The phrase first occurs in volume two of Mein Kampf in the section “Erfolge des Marxismus durch Rede” : Adolf Hitler, Mein Kampf, Munich 1943, p. 529.

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French Revolution as a “Jacobin” ) is the vital, living cell of an embodied ideocracy in its revolutionary or populist regime phase. At the core of his or her conversion lies not “brainwashing” by a charismatic leader or an ideocratic state but the powerful drive to find an identity which resolves the nomic crisis born of the combination of the nomocidal impact of modernity and combined with the dis - embedding impact of a socio - political situation. As Eric Hoffer put it in “The True Believer” (1951), a lucid study of extremist political movements which is unencumbered by academic qualifications or elaborate scholarly apparatus : “The true believer who is wholly assimilated into a compact collective body is no longer frustrated. He has found a new identity and a new life. He is one of the chosen, bolstered and protected by invincible powers, and destined to inherit the earth. His is a state of mind the very opposite of that of the frustrated individual; yet he displays, with increased intensity, all the reactions which are symptomatic of inner tension and insecurity”.29 If small in number, these latter - day “Jacobins” may become part of a self appointed terrorist30 or revolutionary vanguard, but particularly profound sense- making crises may produce enough “God’s orphans” to form a critical mass of revolutionary zeal channelled into support for the installation or consolidation of the ideocracy. This happened in the Jacobin phase of the French Revolution, in the First World War ( in the so - called “war fever” that broke out in some countries ), the Bolshevik Revolution ( at least until Lenin’s death ), the Fascist Revolution ( but only after the regime had been established ), in numerous liberation struggles ( Algeria, Sri Lanka, Sikh ), and the Iranian Revolution in its formative phase. It would be worth revisiting various phases of the Maoist Revolution to establish if there was any genuinely populist charismatic legitimation involved behind the orchestrated displays of mass fanaticism. In each case it is the dynamics of a revitalization movement which emerges in response to a nomic crisis that should be examined in order to help explain the power of the ideology, not just the brainwashing techniques of a coercive regime or the self legitimizing component attributed to ideas in an ideocracy. Such an examination is called for whenever more is involved in legitimation than the meaningless legitimacy and simulated belief emanating from a regime’s deployment of autocratic power and terror. What drives genuine totalitarian movements, after all, is not just the megalomania of the leaders but their followers’ existential longing for a new nomos, for palingenesis : “[ The true believers’ ] innermost craving is for a new life – a rebirth – or, failing this, a chance to acquire new elements of pride, confidence, hope, a sense of purpose and worth by identification with a holy cause. An active mass - movement offers them opportunities for both. If they join the movement as full converts they are reborn to a new life in its close - knit collective body, or if attracted as sympathizers they find elements 29 Cf. Eric Hoffer, The True Believer. Thoughts on the Nature of Mass Movements, New York 1951, p. 126. 30 I have explored the implications of this syndrome for causing terrorism in Terrorist’s Creed, chapter 5.

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of pride, confidence, and purpose by identifying with the efforts, achievements, and prospects of the movement.”31 What legitimates an ideocracy from below is thousands or even millions of worms becoming magically transformed by charismatic social energies into zealous parts of the new socio - political dragon. The act of joining a totalitarian movement which fuels a revolution or provides support for an effective ideocracy “cures the frustrated, not by conferring on them an absolute truth or by remedying the difficulties and abuses which made their lives miserable, but by freeing them from their ineffectual selves – and it does this by enfolding and absorbing them into a closely knit and exultant corporate whole”.32 It should be noted, however, that not all endogenous totalitarian regimes have emerged in modern history with significant populist legitimation. For example, the communist Hungarian state which resulted from Bela Kun’s coup was overthrown before it had demonstrated its potential to harness legitimizing charismatic energies within the population or develop into a full - fledged ideocracy. Pol Pot’s Khmer Rouge, on the other hand, intended to wipe out or terrorize into submission the existing population and to wait until a new youth grew up programmed through intensive secondary socialization to embody the dialect of the utopian national communism that he sought to realize. It thus made no attempt to impose an ideocracy on the current generation of Cambodians.

VII. Legitimacy in “Dead” Ideocracies Even when utopianism is the life - blood of an ideocracy, the charismatic, dynamic, populist phase of legitimacy that results is essentially unsustainable as the brute facts that prevent the claimed Utopia being realized mount ever higher and the contradictions between rhetoric and reality become ever more undeniable to increasingly disenchanted eyes and ears. Moreover, it should be borne in mind that for a significant majority of the population the ideocracy has never resolved their personal sense - making crisis even at the time of revolutionary upheaval, let alone in the period of normalization under the resulting state. It should also be emphasized that not all human beings, even in the most anarchic of social dysfunctions, experience a nomic crisis since some are temperamentally more resistant to anomie than others even in intensely liminoid situations, and many more feel safely protected by another sacred canopy, whether it is religious faith, a rival political vision or intense personal relations. It is when populist legitimacy starts haemorrhaging from the system that the repressive techniques of totalitarian rule come into play. They enforce outward conformity, mass - produce feigned commitment, and suppress factionalism, opposition, dissent, and resistance. As true belief drains away, the coercive apparatus may take 31 Hoffer, The True Believer, pp. 12–13. 32 Ibid., p. 41.

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over the task of orchestrating propaganda, political religion, and the leader cult while escalating oppression in order to bridge the widening credibility gap between the regime’s utopian aspirations and promises and its actual achievement. A close study of Baathist Iraq under Saddam Husain would put much needed empirical flesh on this skeleton of abstraction. Orwell’s “Animal Farm” (1945) is also a seminal fictional narrative that traces the rise and fall of a charismatic ideocracy. Alternatively, the whole ideocratic regime may gradually decay into a banal daily hell of bureaucratic rationalization, fossilized utopianism, and routinized charisma, one where a rising tide of collective ennui drowns out the last vestiges of genuine enthusiasm, but most still feel compelled to admire the emperor’s new clothes, even though they have become all too transparent. It is a situation magnificently portrayed in Aleksandr Zinoviev’s dissident novel, “Yawning Heights” (1978). In contemporary China, revolutionary Maoism seems to have atrophied into a new form of Marxian - Confucian Capitalism overseen but no longer run by Big Brother. The terror machine is kept well oiled and fed with victims but discretely located away from the sky - scrapers, advertising billboards, and business hotels of capitalist socialism.33 For over a billion human beings in China this has resulted in an existential reality of having to endure daily the tension between the collective nomos proclaimed by the ideocracy and a private anomie that officially does not exist. This dilemma has yet to find a novelist or a playwright who is accessible to non - Chinese writers. In the meantime, Ai Weiwei has made heroic efforts to use the visual arts to break the fetters of ideological tyranny and conformism and expose the “internal contradictions of socialism” to the West.34 Numerically more common than decayed, defunct endogenous ideocracies in the 20th century were the exogenous ideocratic regimes which were established with minimal or no domestic revolutionary struggle. Instead they were simply imposed by a totalitarian “mother” power in a sustained act of colonial force on an unwilling foreign “satellite” population and thus could never generate extensive domestic charismatic populist energies. Such regimes were forced by the logic of autocratic power in the age of the masses to stage elaborate displays of political religion and mount extensive campaigns of propaganda, indoctrination, and re - education which aped the outward form of charismatic legitimation, but without the substance. Certainly, there may have been a small percentage of indigenous true believers to keep the puppet regime going, but they were vastly outnumbered by the ranks of opportunists, careerists, and survivors prepared to outwardly convert to the ideocracy’s world - view for cynical, egotistical, or survivalist motives. In such cases, it was the initial act of coercion followed by the normalization of the regime through the secondary socialization of a new 33 A paradox no more oxymoronic in essence than “constitutional monarchy” or “national socialism”. 34 See Laura Murray Cree ( Ed.), Ai Weiwei. Under Construction, Sydney 2009.

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generation that sustained its legitimacy, not a fluctuating tide of genuine ideological fervour and Gnostic longings for a new order and a new future. “Propaganda” under such ideocracies loses its original ingredient of faith and acquires its modern connotations of brainwashing and manipulation. This model broadly applies to all Soviet satellite states. Classic case studies are provided by the GDR, Communist Czechoslovakia, and North Korea, which has developed into an elaborate imposed ideocracy of its own. Other examples are Romania under Ceausescu, Tibet under Chinese occupation, and all Nazi satellites formed during the Second World War and integrated willy - nilly into the “Europäische Neuordnung”. Each pseudo - charismatic regime creates deep existential dilemmas for all those subjects who find outward conformity does not satisfy their existential and nomic needs. They are often torn between the drive to rid themselves of false consciousness and bad faith by heroically devoting their lives to freedom, truth and, hence, to resistance at great personal risk, and the opposing need to survive materially ( sometimes for the sake of loved ones ) and to avoid physical pain. This can lead to collaboration of varying degrees of intensity and inward commitment, with many apparent converts to the alien regime immigrating inwardly while outwardly complying with official beliefs to overcome the anguish of cognitive dissonance and to be able to function in everyday life. The plays of Václav Havel such as “Audience” (1975) written at the height of communist repression are testimonies to the intense, anguished inner lives generated by being forced to live under a “dead” ideocracy while clinging to humanist values.

VIII. Conclusion : Implications for the Study of Ideocracies This paper has several implications for the comparative study of the dynamics of legitimation within totalitarian ideocracies. First, it suggests that a distinction is to be made for heuristic purposes between i ) ideocracies which, due to being imposed on a society from within at the height of a liminoid crisis of society, are able to generate genuine currents of populist legitimacy by harnessing generalized longings to belong to a new nomic community, even several years after the establishment of the totalitarian regime ( as in Fascist Italy ); and ii ) ideocracies imposed from without by an imperialist or colonial power, hence lacking the preconditions for an extensive populist base, or ideocracies whose popular reservoirs of genuine ideological fervour have dried up and now function solely as pseudo - populist autocracies. Second, it claims that more work is needed on the revolutionary dynamics of totalitarian revolutions in the context of the modernist revolt against decadence and the resulting drive to find total solutions to the West’s permanent state of nomic crisis and to impose closure on its permanent liminoidality. Third, it is clear that more work is required on the coexistence of ideocratic and pseudo - ideocratic elements within the same regime, their relationship fluc-

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tuating over time due to changing material and political circumstances which make the realization and very survival of the regime more or less utopian. An ideal contemporary case - study for such an investigation, but one which demands advanced language skills and a deep understanding of Islam and Islamic society, is the Iranian theocracy. Fourth, it would be helpful to explore how far Weberian understanding of the “routinization of charisma” and the forces of rationalization and bureaucratization could be applied fruitfully to understanding the process by which a “living” ideocracy, one partially legitimized by charismatic forces from below, can degenerate into a “dead” ideocracy. By looking more critically and with a greater wealth of specialist knowledge of specific regimes, at the distinction between coerced and spontaneous, living and decayed ideocracies and the specific conditions that have produced their rise and fall, not just in Europe but on all five continents, Western academics might finally break out of decades of Eurocentric, inter - war–centric studies of totalitarianism. They would then be in a position to start locating ideocracies properly within modernity. In particular, they could begin relating a particular ideocracy to the creative cosmological and ideogonic forces unleashed by the revolt against actually existing modernity, a revolt driven by the primordial human need for an eternal nomos in an age of permanent transience.

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Legitimation durch Performanz ? Zur Output - Legitimität in Autokratien Manfred G. Schmidt

I.

Einleitung

Inwieweit stützen sich Autokratien1 auf Output - Legitimität – im Sinne eines Legitimitätsglaubens, der aus der Anerkennungswürdigkeit und faktischen Anerkennung der politischen Produkte und Politikergebnisse der Herrschenden erwächst ? Spielt Output - Legitimität2 in autokratischen Regimen überhaupt eine nennenswerte Rolle ? Oder begnügen sich autokratische Machthaber damit, ihre Position mit Repression und Ideologie zu sichern, so eine Auffassung vor allem der älteren Totalitarismustheorie,3 vielleicht ergänzt um Kooptation und um Vorteilsgewährung für ihre „Gewinnerkoalition“?4 Das sind die Leitfragen dieses Beitrages. Er basiert auf der Auswertung der neueren Literatur zur Autokratieforschung, analysiert neue vergleichende Daten zur politischen Performanz von Autokratien und Demokratien und ergänzt sie um eine Untersuchung der Zielkonflikte, in die sich das Streben nach Output Legitimität in der DDR verstrickte. Gegliedert ist der Beitrag wie folgt : Legitimierungsbestrebungen und Legitimitätslücken in Autokratien werden im zweiten Abschnitt erörtert. Ihre strukturellen Legimitätslücken erzeugen das „Dilemma des Diktators“. Einer einflussreichen Sichtweise zufolge kann dieses Dilemma dadurch gelöst werden, dass Repression und Ideologie durch politischen Tausch ergänzt werden (Abschnitt III). Dass dies gelingt, ist allerdings zweifelhaft – nicht zuletzt aufgrund von Performanzdilemmata, Lernschwächen und Zielkonflikten, in die sich 1 2

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4

Autokratie ist in diesem Beitrag der Sammelbegriff für autoritäre und totalitäre Spielarten und für ideokratische und nicht - ideokratische Varianten. Output - Legitimität wird in diesem Essay im engeren, auf den materiellen innenpolitischen Output zielenden Sinn verwendet, während das weitere Begriffsverständnis die Anerkennungswürdigkeit und faktische Anerkennung von Verheißungen, wie sie typischerweise in Legitimierungsbestrebungen von Ideokratien vorkommen, einschließt. Vgl. insbesondere Carl J. Friedrich / Zbigniew Brzezinski, Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur. In : Bruno Seidel / Siegfried Jenkner ( Hg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1974, S. 600–618; Carl J. Friedrich / Zbigniew Brzezinski, Die Stufen der Entwicklung und die Zukunft. In : Seidel / Jenkner ( Hg.), Wege, S. 618–634. Vgl. Bruce Bueno de Mesquita/ Alastair Smith/ Randolph M. Siverson/ James D. Morrow, The Logic of Political Survival, Cambridge 2003, S. 8.

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Manfred G. Schmidt

Autokratien beim Streben nach Output - Legitimität verheddern ( Abschnitte IV und V ). Auch die vergleichende Analyse des Wirtschaftswachstums in Autokratien und Demokratien zeigt – von Ausnahmen abgesehen – keinen Autokratievorteil ( Abschnitt VI ). In die gleiche Richtung weist die Untersuchung der legitimierenden und delegitimierenden Wirkungen der Sozialpolitik der DDR. Dieser Fall ist besonders aufschlussreich für das Streben nach Output - Legitimität in Autokratien, weil in der DDR Repression und politischer Tausch, scheinbar die Lösung für das „Dilemma des Diktators“, zu großer Blüte gelangt waren, aber am Ende nicht die gewünschte Legitimität erzeugten ( Abschnitt VII ). Eine Zusammenfassung der wichtigsten Befunde und Schlussfolgerungen beschließen den Beitrag ( Abschnitt VIII ).

II.

Legitimierungsstreben und strukturelle Legitimitätslücke der Autokratien

Zwei Annahmen liegen diesem Essay zugrunde : Der ersten Annahme zufolge streben auch Autokratien nach Legitimität. Meist zielen sie auf Anerkennung aus einem Kreis der Staatsbürger, der größer als ihre Gewinnerkoalition5 ist. Diese Annahme stützt sich empirisch auf Befunde der neueren Autokratieforschung6 und begrifflich - theoretisch auf Max Webers Lehrsatz vom Legitimitätsglauben als einem zentralen, schier allgegenwärtigen Herrschaftserfordernis : „Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre ‚Legitimität‘ zu erwecken und pflegen“.7 Der zweiten Annahme zufolge ist den Autokratien eine strukturelle Legitimitätslücke eigen. Diese Annahme legt der Vergleich von Autokratien mit Demokratien,8 insbesondere mit intakten Demokratien,9 nahe : Diesem Vergleich 5 6

7 8

Vgl. Mesquita/ Smith / Siverson / Morrow, Political Survival. Vgl. nur Holger Albrecht / Rolf Frankenberger ( Hg.), Autoritarismus Reloaded, Neuere Ansätze und Erkenntnisse der Autokratieforschung, Baden - Baden 2010; Paul Brooker, Non - Democratic Regimes, 2. Auflage Basingstoke 2009; Paul Brooker, Authoritarian Regimes. In : Daniele Caramani ( Hg.), Comparative Politics, 2. Auflage Oxford 2011, S. 110–118; Jennifer Gandhi, Political Institutions under Dictatorship, Cambridge 2008; Oliver Schlumberger, Autoritarismus in der arabischen Welt. Ursachen, Trends und internationale Demokratieförderung, Baden - Baden 2008. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, S. 122. Vgl. Steffen Kailitz, Die Regierungsform und die politischen Leistungen auf den Feldern Wohlfahrt, Sicherheit und Freiheit. In : Gert Pickel / Susanne Pickel ( Hg.), Demokratisierung im internationalen Vergleich, Neue Erkenntnisse und Perspektiven, Wiesbaden 2006, S. 195–210; ders., Stand und Perspektiven der Autokratieforschung. In : Zeitschrift für Politikwissenschaft, 19 (2009), S. 437–488; ders., Macht der Autokratietyp einen Unterschied für die wirtschaftliche Entwicklung von Staaten ? In : ders./ Patrick Köllner ( Hg.), Autokratien im Vergleich. Sonderheft der Politischen Vierteljahresschrift, 47 (2012), Baden - Baden 2012; Patrick Köllner, Autoritäre Regime. Ein Überblick über die jüngere Literatur. In : Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 2 (2008), S.

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zufolge mangelt es den Autokratien an Legitimität. Viererlei ist für ihre Legitimitätslücke verantwortlich : 1. Der Bevölkerungsanteil ihres Selektorats und ihrer Gewinnerkoalition ist viel kleiner als in den Demokratien. 2. Die intermediären Institutionen und die Austauschprozesse zwischen Bürgern und Herrschern sind in den Autokratien in sozialer, zeitlicher und sachlicher Hinsicht selektiv und insgesamt meist schwach und fragil. 3. Den Autokratien fehlt die Legitimierungskraft der Selbsterneuerung, die durch regelmäßig stattfindende Wahlen und die Chance des Regierungswechsels zustande kommt. 4. Die Legitimitätslücke der Autokratien kann auch herrschaftssoziologisch bestimmt werden.10 Ihre offene Legitimitätsflanke ist allerdings nicht die traditionale Herrschaft und nicht notwendig die charismatische Herrschaft. Vielmehr können sich insbesondere intakte, stabile Erbmonarchien11 auf den „Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen“12 stützen. Zudem zählen die Autokratien Regime in ihren Reihen, in denen die charismatische Herrschaft für Legitimitätsglauben und Fügsamkeit eines beträchtlichen Bevölkerungsteils sorgt. Der nationalsozialistische „Führerstaat“ ist ein Beispiel.13 Autokratien fällt es allerdings systematisch schwerer als Demokratien, eine legalrationale Herrschaft zu garantieren, die auf „dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts des durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen“14 beruht und bei der sowohl das Verbandsmitglied

9 10 11 12 13

14

351–366; Manfred G. Schmidt, Demokratische und autokratische Regimeeffekte in Deutschlands Sozialpolitik. In : Zeitschrift für Sozialreform, 52 (2006), S. 149–164; Stefan Wurster, Sustainability and Regime Type. Do Democracies Perform Better in Promoting Sustainable Development than Autocracies? In : Zeitschrift für Staats - und Europawissenschaften, 9 (2011), S. 538–559. Intakte Demokratien meint „nicht - defekte“ Demokratien. Zum Konzept der „defekten Demokratie“ Wolfgang Merkel, Systemtransformation, Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2. Auflage Wiesbaden 2010, S. 37–40. Vgl. Weber, Wirtschaft, S. 122; ders., Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft. In : ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, S. 475–488. Vgl. Gisela Riescher / Alexander Thumfart ( Hg.), Monarchien, Baden - Baden 2008. Weber, Wirtschaft, S. 124. Vgl. Hans - Ulrich Wehler, Der Nationalsozialismus. Bewegung, Führerherrschaft, Verbrechen 1919–1945, München 2009; M. Rainer Lepsius, The Model of Charismatic Leadership and its Applicability to the Rule of Adolf Hitler. In : Totalitarian Movements and Political Religions, 7 (2006) 2, S. 175–190; M. Rainer Lepsius, Max Weber, Charisma und Hitler. In : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 8. 2011, S. 3; Zur Kritik Ludolf Herbst, Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias, Frankfurt a. M. 2010, der allerdings die charismatische Legitimitätsdimension weit unterschätzt. Zur Bedeutung charismaähnlicher oder - äquivalenter Formen „personaler Legitimation“ Uwe Backes, Vier Grundtypen der Autokratie und ihre Legitimierungsstrategien. In : Kailitz / Köllner ( Hg.), Autokratien im Vergleich. Weber, Wirtschaft, S. 124.

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als auch der Befehlende gehorcht :15 Die Schwäche oder das gänzliche Fehlen rechtstaatlicher Strukturen und die weit verbreitete Willkürherrschaft in den Autokratien ersticken den Glauben an die Rechtmäßigkeit der Herrschaftsordnung im Sinne des Typus der legalen Herrschaft meist schon im Keim.

III.

Das „Dilemma des Diktators“

Die Legitimitätslücke ist Teil eines strukturellen Autokratienachteils.16 Doch im Unterschied zu den Demokratien verfügen autokratische Machthaber über Mittel, die ihre Legitimitätsschwäche ausgleichen können : Sie haben in der Regel viel mehr Spielraum für Kooptation und vor allem für Repression. Ferner ist ihre Gewaltbereitschaft namentlich auch zur Herrschaftssicherung hoch. Bei den Spielarten der Ideokratie ist die Gewaltbereitschaft meist sogar extrem hoch. Kooptation, Repression und auch nur Androhung roher Gewalt reichen oft schon aus, um den Gehorsam zumindest der großen Masse der Bevölkerung zu erzwingen. Doch für eine Herrschaft, die sich nur auf Repression stützt, ist ein hoher Preis zu entrichten. Laut dem Rational - Choice - Institutionalismus von Ronald Wintrobe gerät der Diktator in eine Zwickmühle, das „Dilemma des Diktators“.17 Repression erzeugt Furcht. Furcht macht die Untertanen und rivalisierende Gruppen fügsam. Doch sie veranlasst Untertanen und rivalisierende Führungsgruppen, ihre wahren Meinungen und Absichten vor dem Diktator zu verbergen. Hieraus erwächst für den Diktator ein schwerwiegendes Problem : Die Unkenntnis der wahren Meinung über seine Herrschaft bestärkt seine Furcht vor Putsch oder Aufstand. Um beide Probleme zu lösen, ergänzt der Diktator die Repression durch Vorteilsgewährung, um Loyalität zu erzeugen. Repression und Tausch lautet demnach die Stabilisierungsformel. Der Tausch gelingt allerdings nur, wenn der Diktator das Vertrauen der Adressaten gewinnt. Doch Vertrauen kann er nur durch übermäßige Investition in die Loyalität der Adressaten gewinnen, gewissermaßen durch fortwährende „Überbezahlung“ besonders wichtiger Gruppen, beispielsweise des Militärs. Im Ergebnis bringt eine Diktatur zwei Hauptklassen hervor : die Klasse der Repressionsadressaten und die privilegierte, gewissermaßen überbezahlte Klasse. Zwischen beiden Klassen ist eine Mittelklasse positioniert, die im Grundsatz mit jeder der beiden anderen Klassen paktieren kann. So buchstabiert Ronald Wintrobes „Political Economy of Dictatorship“ das „Dilemma des Diktators“. 15 Weber, Typen, S. 476. 16 Das ist das autokratische Gegenstück zum „Demokratievorteil“ im Sinne von Morton Halperin / Joe Siegele / Michael M. Weinstein, The Democracy Advantage. How Democracy Promotes Prosperity and Peace, 2. Auflage London 2010. 17 Ronald Wintrobe, The Political Economy of Dictatorship, Cambridge 2000, S. 335–337; ders., Dictatorship. Analytical Approaches. In : Carles Boix / Susan C. Stokes ( Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Politics, Oxford 2009, S. 363–394, hier 366 f., Übersetzung des Verfassers.

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Die Lehre vom „Dilemma des Diktators“ wirft allerdings Fragen auf. Ist der Diktator intelligent und lernfähig genug, um die Zwickmühle, in der er sich befindet, überhaupt wahrzunehmen ? Oder verfängt er sich in den Verstrickungen der Macht, die Karl W. Deutsch mit den klugen Worten benannt hat, Macht sei die Fähigkeit, nicht lernen zu müssen ?18 Und wenn er sich nicht verstricken sollte : Hat der Diktator überhaupt die Ressourcen, die für den Tausch erforderlich sind ? Falls ja : Kann er diese Ressourcen tatsächlich zielgerichtet und ohne größere Nebenwirkungen einsetzen ? Ronald Wintrobe scheint diese Fragen zu bejahen : Er fügt allerdings hinzu, jede Autokratie reagiere auf das „Dilemma des Diktators“ unterschiedlich. Eine Autokratie des tyrannischen Typs antworte mit Repression und geringem Loyalitätsstreben. Die totalitären Autokratien setzten auf massive Repression und auf Loyalitätsgenerierung. Timokratien hingegen zielten auf Loyalitätsgenerierung auch bei geringer Repression. In Autokratien schließlich, in denen am Ende nur die Maximierung des Konsums des Diktators zähle – in Wintrobes Terminologie „tinpots“ – hätten Repression und Loyalität einen vergleichsweise geringen Stellenwert in der Herrschaftspraxis.

IV.

Jenseits der „Political Economy of Dictatorship“

Laut Wintrobes „Political Economy of Dictatorship“ beruht der Fortbestand von Autokratien auf mehr als nur auf Repression oder Ideologie. Das leuchtet ein. Ebenso plausibel ist die These, dass die Mischung von Repression und politischem Tausch nach Autokratietyp variiert. Beide Thesen ebnen den Weg für die genauere Erkundung der Frage, ob Autokratien durch Output - Legitimität an diesem Tausch mitwirken und ihre Legimitätslücken füllen und – wenn ja – in welchem Ausmaß dies geschieht. Allerdings wird diese Erkundung die oben aufgeworfenen Fragen kritischer erörtern müssen, als bei Wintrobe geschehen. Mehrerlei ist dabei zu bedenken : Erstens : Auf den ersten Blick scheint in Autokratien nicht der Legitimitätsglaube aller Bürger oder zumindest der großen Mehrheit der Bürger erforderlich zu sein, sondern nur der Legitimitätsglaube der Teilhabeberechtigten oder sogar nur der Mitglieder der Gewinnerkoalition im Sinne der Selektoratstheorie.19 Doch der Schein trügt. Es liegt im abstrakten Interesse des autokratischen Staates an sich selbst,20 Legitimität auf Vorrat anzustreben und für eine Output- Legitimität zu sorgen, die weit über den Kreis der Gewinnerkoalition hinausreicht. Denn auch in Autokratien gilt : Je kleiner die Gewinnerkoalition 18 Vgl. Karl W. Deutsch, The Nerves of Government. Models of Political Communication and Control, London 1963, S. 247. 19 Vgl. Mesquita/ Smith / Siverson / Morrow, Political Survival. 20 Die Wendung ist Claus Offes Konzept des „Interesses des Staates an sich selbst“ nachgebildet : Claus Offe, Berufsbildungsreform. Eine Fallstudie über Reformpolitik, Frankfurt a. M. 1975, S. 17.

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(und je kleiner das Selektorat ) und je größer der Anteil derer, die von der politischen Teilhabe und den privaten Gütern der Gewinnerkoalition ausgeschlossen sind, desto größer ist das relative Gewicht potenzieller Gegner des Regimes. Ein Staat „voll von Feinden“21 ist selbst für einen autokratischen Herrscher riskant : Ein solcher Staat ist hochgradig instabil. Das lehrt schon die aristotelische Staatsformenanalytik. Dies unterschätzt der Rational - Choice - Ansatz zur Autokratieforschung. Zweitens : Output - Legitimität kann nicht nur in der Innenpolitik angestrebt werden, sondern auch in der Außen - und Militärpolitik.22 Beispiele für Letzteres sind populäre Machtstaatspolitiken, populistische Mobilisierung nationaler Interessen oder Kriegsführung mit Massenunterstützung wie im Fall des Kriegseintritts des Deutschen Reichs im Jahre 1914 oder des Falklandkrieges der Regierung Thatcher. Aber auch die Profilierung als Friedensmacht oder als Ordnungsfaktor in den internationalen Beziehungen kann für Anerkennung sorgen. Drittens : Weil zur Legitimität in Autokratien nur wenige belastbare und kaum vergleichbare Daten existieren,23 kann die Output - Legitimität in diesen Regimen nur auf Umwegen und nur näherungsweise geschätzt werden. Im vorliegenden Beitrag gründet diese Schätzung auf Messlatten, die als Voraussetzung von allgemeiner innenpolitischer Output - Legitimität gelten : auf Indikatoren von ( potenziell landesweiten, potenziell allen Staatsbürgern zugänglichen ) Zuwächsen des „Wohlstands der Nationen“ im Sinne von Adam Smith.24 Für die Verwendung des Wirtschaftswachstums spricht seine Multifunktionalität auch für 21 Aristoteles, Politik, 3. Auflage Hamburg 1990, III 11, 1281b 30. Bei Aristoteles ist dies ein Gemeinwesen, in dem die vielen Armen von den öffentlichen Angelegenheiten ausgeschlossen sind, deshalb potenziell zu Feinden der Staatsverfassung werden und den Staat instabil machen. 22 Vgl. Heike Holbig, Die globale Finanzkrise in China. Nationale und Internationale Dimensionen der Legitimität autoritärer Herrschaft. In : Albrecht / Frankenberger (Hg.), Autoritarismus Reloaded, S. 227–248; Marianne Kneuer, Die Suche nach Legitimität. Außenpolitik als Legitimationsstrategie autokratischer Regime ? In : Kailitz / Köllner (Hg.), Autokratien im Vergleich; Janka Oertel, Foreign Policy and Regime Legitimacy. China as a Responsible Peacekeeper ? vorgetragen auf der 6th ECPR General Conference, Reykjavik 2011. 23 Hierzu instruktiv Gert Pickel, Staat, Bürger und politische Stabilität. Benötigen auch Autokratien politische Legitimität ? In : Albrecht / Frankenberger ( Hg.), Autoritarismus Reloaded, S. 179–200 und Susanne Pickel / Toralf Stark, Politische Kultur( en ) von Autokratien. In : Albrecht / Frankenberger ( Hg.), Autoritarismus Reloaded, S. 201–226. 24 Die Messung erfolgt in diesem Essay über Indikatoren materieller Politiken und ihrer „Outcomes“. Im Folgenden geschieht dies – nicht systematisch und repräsentativ, sondern aus pragmatisch - arbeitsökonomischen Gründen – überwiegend anhand des langfristigen Wirtschaftswachstums, des Human Development - Indexes und bereichsweise an Indikatoren sozialpolitischer Anstrengungen. Zu den Details UNDP ( United Nations Development Programme ), Bericht über die menschliche Entwicklung 2010, Berlin 2010; Manfred G. Schmidt, Staatstätigkeit in Autokratien und Demokratien. In : Kailitz / Köllner ( Hg.), Autokratien im Vergleich; Die Messung ist mit der heroischen, spätestens seit Seymour Martin Lipset, Political Man. The Social Bases of Politics, Baltimore 1981 ( Erstausgabe 1960) aber vielfach verwendeten Annahme verknüpft, dass ein politisch weithin sichtbarer Output von einem größeren Teil der Bevölkerung als legitimitätsstiftende Effektivität gewertet wird.

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Autokratien.25 Es gewährleistet Teilhabechancen für einen nennenswerten Teil der Bevölkerung – auch jenseits der Gewinnerkoalition des Regimes. Es stellt zudem Ressourcen für die Machthaber bereit, die sowohl zur Belohnung von Wohlverhalten als auch zur Kooptation und zur Finanzierung des Repressionsapparates verwendet werden können. Für „elektorale Autokratien“ und den „kompetitiven Autoritarismus“ kann das Wirtschaftswachstum überdies als Ressource für den Kampf um Wählerstimmen genutzt werden.26 Viertens : Im Unterschied zu Ronald Wintrobes „Political Economy of Dictatorship“ ist anzunehmen, dass das Streben nach ( wirtschafts - und sozialpolitischer ) Output - Legitimität nicht alle Autokratien kennzeichnet. Nach Outputsteigerung, um Legitimität zu erzeugen, streben in erster Linie nur die Autokratien, die eine ökonomische Lösungsstrategie gewählt haben. Die kommunistischen Weltanschauungsdiktaturen gehören zu dieser Gruppe : Sie erhofften sich die Entfaltung der Produktivkräfte auf planwirtschaftlicher, sozialistischer Grundlage. Ökonomische Lösungsstrategien kennzeichnen auch Modernisierungsdiktaturen, die nach wirtschaftlicher Entwicklung auf kapitalistischer Grundlage streben. Auch den Konjunkturaufschwung und den raschen Abbau der Massenarbeitslosigkeit im NS - Staat ab 1933 wird man hierzu rechnen dürfen. Auf ökonomische Lösungsstrategien zielen schließlich diejenigen autokratischen Rentierstaaten, deren wirtschaftliche und finanzielle Hauptgrundlage die Renten aus dem Export von Rohstoffen sind, insbesondere die Erdöl exportierenden Länder.27 Schließlich ist zwischen Wollen und Können zu unterscheiden. Viele autokratische Machthaber streben nach Output - Legitimität, doch etliche scheitern dabei und müssen beträchtliche Nebenwirkungen und Folgeprobleme in Kauf nehmen.

25 Vgl. Martin Brusis, Ökonomische Interessenvertretung in elektoralen Autokratien, Ein Vergleich postsowjetischer Staaten. In : Kailitz / Köllner ( Hg.), Autokratien im Vergleich. 26 Vgl. Andreas Schedler ( Hg.), Electoral Authoritarianism. The Dynamics of Unfree Competition, Colchester 2006; Steven Levitsky / Lucan A. Way, Competitive Authoritarianism. Hybrid Regimes after the Cold War, New York 2010. 27 Nicht zu dieser Gruppe gehören Regime, in denen Fragen der Output - Legitimität hintangestellt werden – etwa aufgrund besonderer Gewalttätigkeit der Herrscher, wie im Stalinismus oder im Pol Pot - Regime oder weil alternative Legitimierungsquellen vorhanden sind. Theokratien zählen am ehesten hierzu, vor allem dezidiert antimodernistische Theokratien ( Mario Ferrera / Ronald Wintrobe [ Hg.], The Political Economy of Theocracy, New York 2009), ferner „nichtstationäre Banditenregime“ im Sinne von Mancur Olson, Dictatorship, Democracy and Development. In : American Political Science Review, 87 (1993), S. 567–576. Dies sind extrem ausbeuterische, zerstörerische Herrscher, die nach der Ausplünderung ihrer ökonomischen Basis weiterziehen („roving bandits“ im Unterschied zum „stationary bandit“) und allgemein Autokratien mit einem kleinen Selektorat und sehr kurzem Zeithorizont.

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V.

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Performanzdilemmata

Das Streben nach Output - Legitimität verspricht Chancen und birgt erhebliche Risiken für Autokratien. Wer nach Output - Legitimität strebt, riskiert „performance dilemmas“28 – Zwickmühlen infolge von erfolglosem und von erfolgreichem Streben nach einem Leistungsprofil, das Legitimität stiftet. Dass Performanzversagen riskant ist, liegt auf der Hand. Es weckt Zweifel an Eignung und Glaubwürdigkeit der politischen Führung. Diese Zweifel wiegen umso schwerer, wenn sie Autokratien betreffen, die typischerweise beanspruchen, omnipräsent und schier omnipotent zu sein. Riskant kann allerdings auch das erfolgreiche Streben nach Performanzsteigerung sein. Vier Risiken treten in diesem Fall häufig auf :29 1. Verletzbarkeit gegenüber externen Faktoren jenseits der Kontrolle des Regimes, z. B. weltwirtschaftlich verursachten Rezessionen, 2. Verwundbarkeit gegenüber Herausforderern, die den Bürgern größeren Nutzen in Aussicht stellen, 3. steigende, letztlich unerfüllbare Erwartungen an immer bessere Performanz, 4. schließlich kann das Streben nach Performanz, beispielsweise eine rasch voranschreitende wirtschaftliche Entwicklung, neue Gruppen entstehen lassen, die mit ihren Anforderungen das autokratische Regime mit neuem Stress konfrontieren.

VI.

Autokratievorteil oder Autokratienachteil beim politischen Tausch ? Testfall Wirtschaftswachstum

Output - Legitimität erfordert vorzeigbare Ergebnisse bei der Politikproduktion (policy output ) und bei den Politikresultaten ( policy outcome ), beispielsweise in der Sozial - und der Wirtschaftspolitik. Zudem verlangt sie, dass diese Produkte und Ergebnisse von einem beträchtlichen Teil der Bürger wahrgenommen und als anerkennungswürdigen Erfolg des autokratischen Regimes gedeutet werden. Ob diese Voraussetzungen aber in den Autokratien erfüllt werden, ist fraglich. Denn vielen von ihnen mangelt es an den erforderlichen Ressourcen einer leistungsfähigen Sozial - und Wirtschaftspolitik. Vielen Autokratien fehlt es zudem an glaubwürdiger Kommunikation zwischen Herrschenden und Beherrschten. Das gilt insbesondere für Autokratien, die sich nicht auf traditionale oder auf charismatische Herrschaft stützen können. Die meisten Auto-

28 Vgl. Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, London 1991, S. 50; zum damit verwandten, spezielleren Fall des „Innovationsdilemmas“ siehe Christian Göbel, Das Innovationsdilemma und die Konsolidierung autokratischer Regime. In : Kailitz / Köllner ( Hg.), Autokratien im Vergleich. 29 Vgl. Huntington, Third Wave, S. 50 ff.; Brooker, Non - Democratic Regimes.

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kratien laborieren zudem an geringer Steuerungs - und Vollzugsqualität.30 Gemessen an den „Worldwide Governance Indicators“31 beispielsweise findet sich die übergroße Mehrzahl der Autokratien32 auf der unteren Hälfte der Rangplätze. Es gibt nur wenige Ausnahmen, allen voran Singapur, das im Lichte des Durchschnitts der Governance - Messlatten auf Rangplatz 24 liegt. Mit erheblichem Abstand folgen Katar ( Platz 54), die Vereinigten Arabischen Emirate (Platz 67), Oman ( Platz 74) und Bahrain ( Platz 88). Nicht wenige Autokratien streben nach ökonomischer Entwicklung. Doch viele von ihnen besitzen weder die hierfür erforderlichen Institutionen und Kapazitäten – gesicherte Eigentumsrechte und qualifizierte Arbeitskräfte beispielsweise – noch die politischen Instrumente.33 Viele von ihnen wählen in ihrer Wirtschaftspolitik den falschen Zeitpunkt oder die falschen Mittel34 – eine der Ursachen der höheren Volatilität des Wirtschaftswachstums in Autokratien. Manche Autokratien sind wirtschaftspolitisch leidlich erfolgreich, aber womöglich weniger erfolgreich als demokratische Nachbarstaaten. Und nur wenige autokratische Regime können eine auch längerfristig vorzeigbare wirtschaftspolitische Bilanz vorweisen.35 Das Streben nach einem hohen wirtschaftspolitischen Leistungsprofil und nach hieraus erwachsender Output - Legitimität stößt in Autokratien offensichtlich vielfach an Grenzen. Mehr noch : Die ökonomische Leistungskraft der Autokratien ist – gemessen an der längerfristigen Entwicklung der Wirtschaft – nicht besser als die der Demokratien, mitunter schlechter.36 Letzteres gilt auch für weite Teile der Sozialpolitik.37 Weder hier noch anderswo ist ein struktureller Autokratievorteil in Sicht, sondern eher ein struktureller Autokratienachteil. Der Demokratie - Autokratie - Vergleich schürt Zweifel, ob die Autokratien über30 Vgl. Daniel Kaufmann / Aart Kraay / Massimo Mastruzzi, Governance Matters VIII, Aggregate and Individual Governance Indicators 1996–2008, Washington D. C. 2009. 31 Vgl. Kaufmann / Kraay / Mastruzzi, Governance Matters. 32 Gemessen durch Skalenwerte von 5, 6 oder 7 auf der Political Rights - Skala von Freedom House : Arch Puddington, The Freedom House Survey for 2010. Democracy under Duress. In : Journal of Democracy, 22 (2011) 2, S. 17–31. 33 Vgl. Herbert Obinger, Politik und Wirtschaftswachstum. Ein internationaler Vergleich, Wiesbaden 2004. 34 Vgl. Huntingtons Erläuterungen der Performanz - und Legitimitätsschwächen von autoritären Regimes, ders., Third Wave, S. 50 ff. 35 Zu den Lücken der Autokratieforschung gehört die systematische, durch den internationalen Vergleich untermauerte Analyse der Bedingungen, unter denen nicht - demokratische Regime mit vorzeigbarem politischen Leistungsprofil aufwarten können. 36 Vgl. die Überblicke bei Obinger, Wirtschaftswachstum und Kailitz, Unterschied sowie – zur Illustration – das Schaubild 1 im Online - Anhang (http://www.hait.tu-dresden.de/ dok/BD_51_Schmidt_Anhang.pdf). 37 Vgl. die instruktive Studie von James McGuire, Wealth, Health, and Democracy in East Asia and Latin America, Cambridge 2010. Auch der ökonomische und soziale Wandel im Sinne des Human Development Indexes ( United Nations Development Programme, Bericht über die menschliche Entwicklung 2010, Berlin 2010, S. 182–185) ist mit den Indikatoren demokratischer bzw. autokratischer Regime nicht signifikant korreliert. Vgl. Schaubild 2 im Online - Anhang.

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haupt fähig sind, Politikprodukte in ausreichender Größenordnung hervorzubringen, die Legitimität stiften.38 Es war eine besonders schmerzhafte Lektion für die kommunistischen Weltanschauungsdiktaturen, die „den Westen“, also Demokratien mit kapitalistischer Wirtschaft, einholen und überholen wollten, dass die meisten kapitalistischen Ökonomien im Westen erheblich schneller wuchsen als die Wirtschaft der sozialistischen Staaten.39 Nur relativ wenige Autokratien haben eine hohe ökonomische Leistung vorzuweisen.40 Für sie gilt am ehesten die Vermutung, dass dort Output - Legitimität zustande kommt. Voraussetzungen des Erfolgs ( im Sinne einer hohen, am Wirtschaftswachstum ablesbaren wirtschaftspolitischen Leistungskraft ) sind insbesondere hohe Investitionen, gesicherte Eigentumsrechte, politische Stabilität, zurückhaltende Staatsintervention, leistungsfähige Bürokratie, geringe Korruption und ein relativ hoher Ausbildungsstand der Bevölkerung.41 Laut Herbert Obingers Studie zur Erforschung der politisch - institutionellen Grundlagen des Wirtschaftswachstums in entwickelten und weniger entwickelten Staaten von 1960 bis zur Jahrtausendwende qualifizieren sich nicht sonderlich viele Autokratien als wachstumsstark – unter ihnen Singapur, Hongkong und Indonesien. Inwieweit Obingers Befund auch für andere Zeitspannen gilt, muss noch geprüft werden. Gemessen an den Daten des „United Nations Development Programme“ ( UNDP ) zum langfristigen Wirtschaftswachstum ist die Gruppe der wachstumsstarken Autokratien heterogener geworden : Zu ihnen gehören in den Jahren von 1970 bis 2008 insbesondere Singapur ( mit einem jahresdurchschnittlichen realen Pro - Kopf - Wirtschaftswachstum von 5,0 Prozent ) und die Volksrepublik China (7,9 Prozent ) sowie – in alphabetischer Reihenfolge – unter anderen Ägypten (2,5 Prozent ), Laos (3,4 Prozent ), Libanon (4,0 Prozent ), Oman (3,4 Prozent ), Swasiland (3,7 Prozent ), Tunesien (3,1 Prozent ), die Vereinigten Arabischen Emirate (4,3 Prozent ) und Vietnam (4,2 Prozent ).42 Dass in zwei dieser Länder – Ägypten und Tunesien – 2010 bzw. 2011 größere Regimewechsel begannen, zeigt, dass relative Erfolge bei der wirtschaftlichen Entwicklung den Fortbestand eines politischen Regimes nicht garantieren. Andererseits signalisiert das sehr hohe Wirtschaftswachstum in China und Singapur eine Steigerung der ökonomischen Leistung, die – bei entsprechender 38 Dafür sprechen auch die Befunde aus vielen anderen Politikfeldern, vgl. Schmidt, Staatstätigkeit. 39 Vgl. Schaubild 3 im Online - Anhang, das auf den historisch und international vergleichbaren Daten von Angus Maddison, The World Economy. Historical Statistics, Paris 2003 beruht. 40 Zur Varianz des Leistungsprofils der sozialistischen Länder : Klaus von Beyme, Ökonomie und Politik im Sozialismus, München 1975. 41 Vgl. Obinger, Wirtschaftswachstum. 42 Vgl. United Nations Development Programme, Bericht, S. 240–244; Erheblich größer ist allerdings die Zahl der Autokratien, in denen die Wirtschaft entweder nur in unterdurchschnittlichem Tempo wächst oder stagniert oder schrumpft. Zur Differenzierung des Wirtschaftswachstums nach Autokratietypen, die hier aus Platzgründen unterbleibt, neuerdings Kailitz, Autokratietyp.

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Streuung der Früchte dieser Entwicklung – auch Output - Legitimität erzeugt. Doch das ist in Autokratien nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme.

VII. Fallbeispiel DDR : Geplante und ungeplante Wirkungen : Legitimierung, Delegitimierung und Zielkonflikte Das Streben nach Output - Legitimität kann ungeplante Wirkungen wie Delegitimierung und Verstrickung in Zielkonflikte haben. Ein lehrreiches Beispiel ist die Deutsche Demokratische Republik.43 Ihre Partei - und Staatsführung hatte sowohl die Sozialpolitik wie auch den Repressionsapparat weit ausgebaut. Repression und politischer Tausch, Wintrobes Stabilisierungsformel für Autokratien, gelangte in der DDR zu besonders großer Blüte. Hat dies die erhoffte Output - Legitimität erzeugt ? Wenn ja, wäre das Wasser auf die Mühlen von Wintrobes „Political Economy of Dictatorship“. Wenn nein, wüchsen die Zweifel an ihr und der Fähigkeit von Autokratien, für erfolgreichen politischen Tausch zu sorgen, zumal es sich bei der DDR um eine Autokratie mit einem relativ hohen Industrialisierungsgrad handelte – insoweit um einen Fall mit relativ günstigen Bedingungen für Output - Legitimität. Vom Auf - und Ausbau der Sozialpolitik und ihrer Aufrechterhaltung auch unter den wirtschaftlich widrigen Umständen der 1980er Jahre hatten sich die Partei - und die Staatsspitze der DDR großen Nutzen erhofft. Voraussetzung und Ansporn wirtschaftlicher Leistungssteigerung sollte die Sozialpolitik sein und zudem Aushängeschild des DDR - Sozialismus nach innen wie nach außen. Auch hoffte man, die Sozialpolitik würde die Gehorsamsbereitschaft der Staatsbürger stärken, Bundesgenossen für die SED gewinnen und für mehr Legitimität, eine der Mangelwaren des SED - Staates, sorgen.44 Dass die Sozialpolitik und die Arbeitsproduktivität überdies in einem wechselseitigen Gewinn bringenden Ver43 Vgl. Christoph Boyer / Klaus - Dietmar Henke / Peter Skyba ( Hg.), Deutsche Demokratische Republik 1971–1989. Bewegung in der Sozialpolitik, Erstarrung und Niedergang. Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg. vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales / Bundesarchiv, Band 10, Baden - Baden 2008; Dierk Hoffmann / Michael Schwartz ( Hg.), Deutsche Demokratische Republik 1949–1961, Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg. vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung / Bundesarchiv, Band 8, Baden - Baden 2004; Christoph Kleßmann ( Hg.), Deutsche Demokratische Republik 1961–1971. Politische Stabilisierung und wirtschaftliche Mobilisierung. Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg. vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales / Bundesarchiv, Band 9, Baden - Baden 2006; Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik der DDR, Wiesbaden 2004; ders., Social Policy in the German Democratic Republic. In : ders./ Gerhard Ritter ( Hg.), The Rise and Fall of a Socialist Welfare State. The German Democratic Republic (1949–1990) and German Unification (1989– 1994), Heidelberg 2012. 44 Dieses Muster ist natürlich nicht nur auf die DDR und andere kommunistische Weltanschauungsdiktaturen beschränkt, sondern kommt auch in anderen Kontexten zum Zuge – allen voran in den Erdöl exportierenden Rentierstaaten. Vgl. Schlumberger, Autoritarismus; Ein geradezu klassisches Beispiel für den erhofften Kauf von Stabilität

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hältnis stünden, war eine weitere Hoffnung, die hinter der 1976 parteioffiziell in der Formel der „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“ festgeschriebenen Programmatik stand. Der Selbstdarstellung von Staat und Partei zufolge war der DDR - Sozialpolitik fortwährend Erfolg beschieden. „Erfolgsmeldungen“ waren auch in der DDReigenen sozialpolitischen Fachliteratur an der Tagesordnung. Die sozialwissenschaftliche Forschung im Westen neigte ebenfalls lange zur Meinung, die Sozialpolitik in der DDR habe zur Stabilisierung des SED - Regimes beigetragen. Besonders große Legitimierungswirkung schrieben diese Studien dem Recht auf Arbeit zu, das die große Masse der Bevölkerung in der DDR tatsächlich als „Errungenschaft“ einstufte. Und für die DDR - Sozialpolitik sprach im Urteil ihrer Bevölkerung, dass sie im Vergleich mit der Sozialpolitik der anderen sozialistischen Staaten im Allgemeinen günstig abschnitt. Darauf waren viele in der DDR stolz.45 Genauere Untersuchungen der Sozialpolitik und der Legitimierungsthematik decken allerdings die Grenzen der Legitimierung durch Sozialpolitik und die Gegentendenzen auf. Die DDR - Sozialpolitik brachte nicht nur Anerkennung mit sich, sondern rief auch Protest hervor. Zudem schürte sie Neid und Missgunst bei denjenigen, die im Vergleich zu den Hauptadressaten der Sozialpolitik ungünstiger abschnitten, so insbesondere die Altersrentner. Zudem waren die Lücken der DDR - Sozialpolitik unübersehbar : Sie betrafen neben der Alterssicherung vor allem soziale Probleme jenseits der Hauptzielgruppen der DDR Sozialpolitik : den produktions - und reproduktionswichtigen Gruppen – von den Werktätigen bis zu den Müttern. Vor allem wirkte die Sozialpolitik der DDR sowohl legitimierend als auch entlegitimierend und zwar in zunehmendem Umfang. Für großen Unmut sorgten ihre offenkundigen Leistungsmängel. Diese Mängel spiegelt die hohe und größer werdende Zahl der Eingaben zu sozialpolitischen Themen wider. Ferner kam der Sozialpolitik der DDR eine „abnehmende Bindekraft“46 zu. Mehrerlei war dafür verantwortlich : Der Glaube an die Stimmigkeit der SED - offiziellen Selbstdarstellung einer erfolgreichen Sozialpolitik schwand vor allem in den 1980er Jahren. Das zeigen Auswertungen der Eingaben zu sozialpolitischen Themen. Auch war für die abnehmende Bindekraft verantwortlich, dass die Sozialpolitik zwar Elementarbedürfnisse befriedigte, aber nicht den zunehmendurch höhere Sozialabgaben ist die im Zeichen der „Arabellion“ stehende Ankündigung der omanischen Regierung vom Dezember 2011, im folgenden Jahr 30 000 Arbeitsplätze für die Hochschulabsolventen dieses Jahres und weitere 50 000 Jobs für arbeitslose junge Omaner zu schaffen – um den Preis einer um 3,9 Prozentpunkte steigenden Staatsquote, vgl. Oman erkauft sich Stabilität durch höhere Sozialausgaben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.12. 2011, S. 12. 45 Vgl. Lutz Niethammer, Volkspartei neuen Typs? Sozialbiografische Voraussetzungen der SED in der Industrieprovinz. In : Probleme des Klassenkampfs, (1990) 80, S. 40–70. 46 M. Rainer Lepsius, Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR. In : Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr ( Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 17–30.

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den Bedarf an gehobenen Gütern und Dienstleistungen stillte. Zudem legten die DDR - Bürger mit zunehmendem Alter ihres Staates strengere Maßstäbe an. Außerdem sah sich die Sozialpolitik einem größeren Legitimierungsbedarf gegenüber, den die Aufwertung des Sozialschutzgedankens nach dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker hervorgerufen hatte. Überdies deutete die große Mehrheit der DDR - Bevölkerung die sozialpolitischen Leistungen zunehmend als eine Selbstverständlichkeit : Sie galten als Teil des einem jeden zustehenden „gerechten Lohnes“ und nicht als Anlass für besondere Anerkennung. Vor allem aber führte der fortwährende Vergleich mit der Bundesrepublik Deutschland und der dortigen Wirtschafts - und Sozialpolitik der DDR - Bevölkerung vor Augen, dass es mit der eigenen „sozialistischen Sozialpolitik“ doch nicht sonderlich weit her war. Zudem bedeutete die nur mäßig hohe Produktivität der DDR - Wirtschaft einen großen Rückstand an volkswirtschaftlichem Wohlstand gegenüber dem Westen Deutschlands. Vor diesen Unterschieden schrumpften die „sozialen Errungenschaften“ des SED - Staates zu Wohltaten, welche die große Mehrheit der DDR - Bürger bereitwillig annahm – und doch bei erster Gelegenheit gegen die ersehnte volle Teilhabe an den Gütern der Marktwirtschaft und des Sozialstaats der Bundesrepublik Deutschland eintauschte. Ein zweites Folgeproblem der „sozialistischen Sozialpolitik“, so die Selbstbeschreibung, kam hinzu : Sie verstrickte sich in schwere Zielkonflikte. Sie geriet insbesondere mehr und mehr in den Zielkonflikt zwischen Sozialschutz und wirtschaftlicher Effizienz.47 Verantwortlich waren teils endogene, teils exogene Größen : einerseits die hohen Kosten des rigiden Kündigungsschutzes und der Arbeitsplatzgarantie sowie der zunehmenden sozialpolitisch motivierten Preissubventionen für Güter des täglichen Bedarfs, andererseits sich verschlechternde wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Mit der DDR - Sozialpolitik wurde ein weit ausgebauter, buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre reichender Wohlfahrtsstaat mit insgesamt bescheidenem Leistungsniveau für die meisten Sozialpolitikempfänger geschaffen. Dieser Wohlfahrtsstaat aber brachte weder die erhoffte Legitimitätsstiftung noch die ersehnte „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“ zustande. Vielmehr geriet er in einen wachsenden Konflikt mit dem Ziel der ökonomischen Effizienz. Dieser Konflikt konnte aufgrund der „weichen Budgetschranke“48 der sozialistischen Planwirtschaft lange überdeckt werden. Mit dieser Schranke („soft budget constraint“) garantierte der Staat den Betrieben der sozialistischen Planwirtschaft das wirtschaftliche Überleben auch bei chronischem Verlustgeschäft etwa infolge von Überlastung mit sozial - oder beschäftigungspolitischen Aufgaben. Die „weiche Budgetschranke“ bestand im Wesentlichen aus Subventionen, Steuererleichterungen, weichen Kredite und anderen Vergünstigungen. 47 Dies ist eine Unterform des von Arthur M. Okun, Equality and Efficiency. The Big Tradeoff, Washington, D. C. 1975 analysierten „equality - efficiency trade - off“. 48 János Kornai, The Soft Budget Constraint. In : Kyklos, 39 (1986), S. 3–30; ders., The Socialist System. The Political Economy of Communism, Princeton 1992.

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Diese Politik trug in starkem Maße zur Verschuldung der DDR bei, insbesondere zur hochriskanten Verschuldung in Hartwährungsländern. Es bedarf der Erklärung, warum der Zielkonflikt zwischen Sozialschutz und ökonomischer Effizienz bis zum Ende der DDR nicht korrigiert wurde, obwohl er Fachleuten der Planwirtschaft seit den 1970er Jahren bekannt war. Die ausbleibende Fehlerkorrektur war genuin politischen Gründen geschuldet : allen voran der historischen Mission, der sich die DDR - Führung verpflichtet sah, zudem ihrer Omnipräsenz und ihren Omnipotenzphantasien, ferner dem Bemühen, alles zu vermeiden, was wieder in einen Aufstand wie im Juni 1953 führen könnte.49 Die Geschichte der DDR - Sozialpolitik lehrt, dass selbst eine aufwendige Sozialpolitik trotz Teilerfolgen nicht notwendig stabile, belastbare, dauerhafte Legitimitätsstützen schafft. Sie lehrt ferner, dass ein solches Streben am Ende in abnehmender Legitimierung, zunehmendem Protest und schweren wirtschaftspolitischen Folgeproblemen münden kann und tatsächlich mündete. Dieses Ergebnis ist von besonderem Wert für die Erkundung von Output Legitimität in Autokratien : Gewonnen wurde es an einem Staat, der, nach dem Stand der ökonomischen Entwicklung, dem Lebensstandard der Bevölkerung und den sozialpolitischen Anstrengungen zu urteilen, zu den leistungsstärkeren Autokratien zählte. Und dennoch wurde das Ziel, Legitimität durch Performanz zu erzeugen, letztendlich verfehlt. Auch dieser Befund stärkt die Zweifel an der These, wonach Autokratien befähigt sind, in großem Maße und nachhaltig Output - Legitimität zu erlangen und zu sichern.

VIII. Fazit Welche Rolle spielt die Output - Legitimität in Autokratien ? So wurde in diesem Essay gefragt. Acht Befunde sind besonders berichtenswert : Erstens : Die Befunde stützen die These, dass autokratische Machthaber in der Regel danach streben, ihre Position nicht allein mit Repression oder mit Unterdrückung und Ideologie zu sichern, sondern auch mit politischem Tausch, um hierdurch Fügsamkeit und möglichst auch Legitimität zu erzeugen. Zweitens : Ein hohes politisches Leistungsprofil und hieraus erwachsende Output - Legitimität können im Prinzip die strukturellen Legitimitätslücken der Autokratien verringern. Das aber scheint in Autokratien nicht die Regel zu sein. Die Ausnahmen bestätigen die Regel. Drittens : Wollen ist nicht gleich Können. Auch beim Streben nach Output Legitimität kommen viele Autokratien nicht allzu weit, etliche bleiben stecken, manche kehren um, nur wenige gelangen ins Ziel. Der Weg zur Output Legitimität ist steinig und lang : Output - Legitimität erfordert sowohl hohe politische Leistungen als auch die Honorierung dieser Leistungen durch die Bürger 49 Vgl. Schmidt / Ritter, Rise and Fall.

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als anerkennungswürdige und anzuerkennende Qualität. Doch ein hohes politisches Leistungsniveau ist nur einem kleinen Teil der Autokratien beschieden. Viertens : Und selbst wenn ehrgeizige Leistungsziele erreicht werden, beispielsweise ein hohes Wirtschaftswachstum oder ein weit ausgebauter Wohlfahrtsstaat, ist der Legitimitätsertrag nicht gesichert. Von Letzterem zeugt die DDR - Sozialpolitik. Und von beiden kündet das Huntington’sche „Performanzdilemma“ : Riskant kann sowohl das erfolglose Streben nach Performanz wie auch das erfolgsgekrönte Streben sein. Fünftens : Die Autokratien können nicht auf einen systematischen Autokratievorteil zählen, den ihnen manche Beobachter angesichts zentralisierter Willensbildungs - und Entscheidungsprozesse mit wenigen Vetospielern und Mitregenten zuschreiben. Das schließt Erfolgsfälle mit einem hohen Wirtschaftswachstum unter den Autokratien wie Singapur oder die Volksrepublik China nicht aus. Sechstens : Ob die Output - Legitimität die strukturelle Legitimationslücke der Autokratien schließen kann, konnte in diesem Beitrag mangels valider Daten zum Legitimitätsglauben in diesen Ländern nicht treffsicher beantwortet werden. Allerdings untermauern die hier vorgestellten Überlegungen die Zweifel an der Fähigkeit zumindest der großen Mehrheit der Autokratien, ihre Legitimationsschwäche durch innenpolitische Leistung und hieraus erwachsende Output- Legitimität in großem Umfang, nachhaltig und weit über ihre Gewinnerkoalitionen und ihr Selektorat hinaus zu beheben. Das schließt weder erfolgreiche Legitimitätsstiftung bei der regimespezifischen Gewinnerkoalition noch Erfolge in einzelnen Politikfeldern aus. Das lehren beispielsweise die Autokratien, die sich hoher Wirtschaftswachstumsraten rühmen können, wie die Volksrepublik China, oder Autokratien mit hoher Budgetdisziplin, wie einige Erdöl exportierende Rentierstaaten, beispielsweise Saudi - Arabien.50 Siebtens : Großflächige, nachhaltige Output - Legitimität scheint aber in den Autokratien nicht die Regel zu sein. Messungen der Governance - Qualität bestärken den Zweifel. Auch bei diesen Messlatten spricht für die Autokratien wenig. Achtens : Output - Legitimität ist in Autokratien fraglich, soweit es um mehr geht als nur um die Befriedung der Angehörigen der Gewinnerkoalition und des Selektorats.51 Damit wecken die Befunde dieses Essays auch Zweifel an der Art und Weise, wie der Rational - Choice - Institutionalismus das „Dilemma des Diktators“ konstruiert und zu lösen beansprucht. Offenbar lässt diese Zwickmühle dem Diktator mehr Optionen als es die Theorie vermutet. Ob sich durch die Analyse der Außenpolitik von Autokratien ein anderes Bild ergibt, muss an dieser Stelle offen bleiben. Wenn aber die Außenpolitik ebenfalls nicht mehr Output - Legitimität als die Innenpolitik zustande bringen sollte, liegt die Vermutung nahe, dass autokratische Machthaber trotz fehlender Output - Legitimität zwei Optionen haben. Die erste ist diese : Die autokratischen Machthaber nehmen ihre Legitimitätsschwäche hin und arrangieren sich mit dem „Dilemma des Diktators“. Die zweite Option ist diese : Die autokratischen 50 Vgl. Schlumberger, Autoritarismus; Wurster, Sustainability. 51 Vgl. Mesquita/ Smith / Siverson / Morrow, Political Survival.

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Machthaber streben danach, ihrer Legitimitätsschwäche auf andere Weise zu begegnen und hierdurch der Zwickmühle zu entgehen. Das Arsenal der dafür in Frage kommenden Instrumente und Schachzüge ist aufgrund des großen Spielraums für Willkürherrschaft in den Autokratien beachtlich. Zu ihm gehören Bestrebungen, Legitimität durch andere Produkte als materielle Politikresultate zu erlangen – durch symbolische Politik etwa, Heilsversprechen, Mobilisierung von ethnischer oder von nationalistischer Inklusion und Exklusion oder andere Techniken des Teilens - und - Herrschens.52 Zu diesem Arsenal gehören außerdem Kooptation einerseits sowie List, Täuschung und Betrug andererseits – und die Bereitschaft, den Machterhalt erforderlichenfalls durch Repression, großflächigen Einsatz von polizeilicher und militärischer Gewalt oder durch die Waffe des Hungers zu sichern, auch wenn dies aus dem „Dilemma des Diktators“ nicht hinausführt. Welche dieser Instrumente verfügbar sind und welche davon eingesetzt werden, ist von Autokratie zu Autokratie verschieden.53 Der Forschungsstand legt die folgenden Hypothesen nahe : Angesichts ihrer besonders hohen Gewaltbereitschaft neigen die totalitären Regime vom Typus der „Weltanschauungsdiktatur“54 am ehesten zur Repression und zur großflächigen Anwendung polizeilicher und militärischer Gewalt. Eine Repressions - und Gewalteinsatzbereitschaft mittleren Grades ist von autoritären Regimes mit hohem Ideokratiegehalt – einschließlich der Theokratien – zu erwarten. Elektorale und kompetitive Autokratien hingegen stehen unter stärkerem Wettbewerbsdruck. Von ihnen kann deshalb erwartet werden, dass sie neben der Repression in größerem Umfang nach vorzeigbaren ökonomischen und sozialpolitischen Leistungen und hiervon abgeleiteter Legitimität streben – sofern ihr wirtschaftlicher Entwicklungsstand und ihre Ressourcen aus Zwangsabgaben oder aus Renten dies erlauben.55 Wer aber Macht als die Fähigkeit definiert, nicht lernen zu müssen, um Karl W. Deutsch erneut in Erinnerung zu rufen, der wird sich auch mit der Zwickmühle des Diktators arrangieren. Genaueres wird aber erst gesagt werden können, wenn zum output - basierten Legitimitätsglauben in Autokratien Beobachtungsdaten vorliegen, die valider als die derzeit verfügbaren Daten sind. Diese Forschungslücke zu schließen, ist nicht nur eine Herausforderung für die Wissenschaft, sondern aufgrund der Wichtigkeit des Themas auch eine Aufgabe der Forschungsförderung. 52 Vgl. die Fallstudie von Alexandros Dukalskis / Zachary Hooker, Legitimizing Totalitarianism. Melodram and Mass Politics in North Korea. In : Communist and Post - Communist Studies, 44 (2011), S. 53–62; als Überblick : Backes, Grundtypen; Brooker, NonDemocracies; Gandhi, Institutions. 53 Zu deren Spielarten unter anderen : Brooker, Non - Democratic Regimes; Steffen Kailitz, Varianten der Autokratie im 20. und 21. Jahrhundert. In : Totalitarismus und Demokratie, 6 (2009), S. 209–251; Wehler, Nationalsozialismus. 54 Vgl. Lothar Fritze, Die Weltanschauungsdiktatur. In : Totalitarismus und Demokratie, 5 (2008), S. 205–227. 55 Vgl. Stephen Haber / Victor Menaldo, Do Natural Resources Fuel Authoritarianism ? A Reappraisal of the Resource Curse. In : American Political Science Review, 105 (2011), S. 1–26.

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Charakteristika der staatlichen Einbindung von Eliten und Bevölkerung in Ideokratien Steffen Kailitz

I.

Einleitung

Ich lege in diesem Beitrag dar, dass es ein spezifisches Muster der Einbindung von Eliten und Bürgern in Ideokratien, vor allem in kommunistischen Ideokratien, gibt, das sich deutlich von dem Einbindungsmuster anderer politischer Regimetypen unterscheidet. Ideokratien „durchherrschen“1 die Gesellschaft mit einem dichten Netz von materiellen Abhängigkeiten des Einzelnen vom Staat, aus dem sich dieser kaum vollständig befreien kann. Die starke Neigung zur Konzentration der Kontrolle über die Güter - und Positionsverteilung bis hin zur weitgehenden Monopolisierung der Verteilung beim Staat geht Hand in Hand mit einer sehr starken Repressionsfähigkeit gegenüber allen Nichteingebundenen. Der Beitrag arbeitet auch Zielkonflikte dieses Einbindungmusters von Eliten und Bürgern in Ideokratien heraus. So vereinnahmen und gängeln Ideokratien den Einzelnen sehr stark. Dies kann auch bei ansonsten politisch indifferenten Personen Widerwillen erzeugen. Dennoch behaupte ich, dass trotz der Zielkonflikte die charakteristische, sehr starke Einbindung von Eliten und Bürgern in die Regimestrukturen einen bedeutenden Beitrag zur Erklärung der im Vergleich mit anderen politischen Regimetypen hohen Dauerhaftigkeit kommunistischer Ideokratien leisten kann.

II.

Was bedeutet Kooptation / Einbindung und wozu dient sie ?

Legitimitätsglaube, der die Zugehörigkeit zur Gruppe der aktiven Regimeunterstützer markiert, ist eine unbedingte ( normative ) Regimeunterstützung2, die in dem Glauben an die Überlegenheit des politischen Regimes gegenüber allen 1

2

Vgl. Jürgen Kocka, Durchherrschte Gesellschaft. In : Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr ( Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547–553; Alf Lüdtke, „Helden der Arbeit“. Mühen beim Arbeiten. Zur mißmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR. In : ebd., S. 188–213, hier 188. Mit Legitimation und Legitimität in Ideokratien beschäftigt sich der Beitrag von Roger Griffin in diesem Heft.

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Regimealternativen wurzelt. Loyalität ist dagegen eine ( materiell und / oder immateriell ) bedingte Regimeunterstützung. Legitimitätsglaube lässt sich direkt nur durch die Anziehungskraft der Legitimation des politischen Regimes und ein Handeln in Übereinstimmung mit dieser Legitimation erzeugen.3 In jedem politischen Regime gibt es drei Gruppen von Menschen : die Gruppe der aktiven Unterstützer, die Gruppe der politisch Indifferenten und die Gruppe der Regimegegner. Jedes politische Regime muss ein Maß an aktiver Unterstützung erreichen, das ausreicht, das politische Regime zu stützen. Zugleich muss es ein Maß an aktiver Unterstützung von Fundamentalopposition vermeiden, das ausreicht, das politische Regime zu stürzen. Solange die politische Stärke der Gruppe der aktiven Regimegegner kleiner bleibt als jene der Gruppe der aktiven Regimeunterstützer, reicht es für ein politisches Regime aus, dass die übergroße Mehrheit das Regime lediglich loyal hinnimmt, ohne dass sie an eine höhere normative Rechtfertigung des Regimes glaubt. Auch politische Indifferenz muss aber zumindest mit Fügsamkeit und Loyalität einhergehen.4 Jedes politische Regime ist nämlich darauf angewiesen, dass auch die politisch Indifferenten den Staat etwa durch das Zahlen von Steuern erhalten.5 Um Loyalität zu erlangen und zu erhalten, müssen politische Regime materielle und immaterielle Ansprüche und Forderungen der Bürger in ausreichendem Maße erfüllen. Die Ebene der Einbindung, sprich nach Belieben auch Kooptation oder Integration, erfasst diesen regelmäßigen Austausch von Loyalität der Bürger und Eliten gegen Güter und Positionen, die ihnen das politische Regime gewährt.6 Der Austausch kann in politischen Regimen grundsätzlich zwei Hauptformen annehmen : erstens den Klientelismus, die informale Vertei3 4

5 6

Vgl. David Easton, A Systems Analysis of Political Life, New York 1965, S. 289–310. Die Abgrenzung von Legitimitätsglauben und Loyalität entfaltete bereits Max Weber systematisch. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980, S. 389. In die Forschung zu den Ideokratien führte diese grundlegende Unterscheidung ein : Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR, 1945–1989, Frankfurt a. M. 1992, S. 22–28. Vgl. zur Abgrenzung des Loyalitätsbegriffs auch : Peter Haslinger / Volker Zimmermann, Loyalitäten im Staatssozialismus. Theoretische und konzeptionelle Grundlagen. In : Volker Zimmermann / Peter Haslinger / Tomáš Nigrin (Hg.), Loyalitäten im Staatssozialismus. DDR, Tschechoslowakei, Polen, Marburg 2010, S. 3–21; Martin Schulze Wessel, „Loyalität“ als geschichtlicher Grundbegriff und Forschungskonzept . Zur Einleitung. In : Martin Schulze Wessel ( Hg.), Loyalitäten in der Tschechoslowakischen Republik . Politische nationale und kulturelle Zugehörigkeiten, München 2004, S. 1–22. Vgl. mit Blick auf das NS - Regime Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde . Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 85. Vgl. u. a. Ronald Wintrobe, The Tinpot and the Totalitarian . An Economic Theory of Dictatorship. In : American Political Science Review, 84 (1990) 3, S. 849–872, hier 852. Wintrobe hat dabei prägnant in eine Rational - Choice - Theorie gepackt, was „seit Jahrtausenden zum Strategiehaushalt von Herrschaft“ gehört. Peter Hübner, Loyalität, Sozial - und Konsumpolitik. Zur Herrschaft und Gesellschaftsgeschichte der DDR und Polens in den 1970er und 1980er Jahren. In : Zimmermann / Haslinger / Nigrin ( Hg.), Loyalitäten, S. 163–188, hier 163.

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Charakteristika der staatlichen Einbindung von Eliten

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lung von Positionen und Gütern in private personalistische Netzwerke; zweitens die Patronage als formale Verteilung von Positionen und Gütern. Im Unterschied zum Klientelismus bedarf die Patronage zwingend eines starken Staates. Je mehr Positionen und Güter ein politisches Regime zu verteilen hat, desto eher dürfte das politische Regime in der Lage sein, Eliten und Bürger in das Regime einzubinden.7 Bei der Betrachtung der Einbindung ist also das Ausmaß der Verfügungsgewalt des politischen Regimes über Güter und Positionen in einer Gesellschaft zu berücksichtigen.

III.

Ideokratien zwischen radikal beanspruchtem Legitimitätsglauben und pragmatischer Loyalitätssicherung

Für Ideokratien ist im Unterschied zu allen anderen Regimetypen in harten, totalitären wie auch weichen, nicht - totalitären Regimephasen im Grunde eine stillschweigende Hinnahme des politischen Regimes vom ideologischen Anspruch her nicht ausreichend. Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski glaubten nun, „[ d ]er Terror und die Leidenschaft für die Einstimmigkeit“8 seien zwei – untrennbare – Seiten einer Medaille. Dies legt nahe, Ideokratien verführen grundsätzlich nach folgendem Motto : „Wer nicht ( ausdrücklich ) für uns ist, ist gegen uns.“ Tatsächlich verhalten sich aber auch Ideokratien außer in Phasen eines Streuterrors gegen die eigene Bevölkerung wie zeitweilig unter Stalin nach dem pragmatischen Motto : „Wer nicht ( ausdrücklich ) gegen uns ist, ist für uns.“9 Selbst Ideokratien geben sich gewöhnlich mit Lippenbekenntnissen zufrieden. Dies gilt umso mehr, wenn im zeitlichen Abstand von der Machtübernahme der Ideokratie selbst unter den wichtigsten Kadern der ideologische Enthusiasmus, der in dem Glauben an die tatsächliche Verwirklichbarkeit der Utopie gründet, allmählich verlischt. Politisch Indifferente dürfen sich demnach der Einbindung in Ideokratien nicht verschließen, diese binden sie aber im Austausch für Loyalität gewöhnlich bereitwillig ein. Generell sind dabei im Alltagsleben die Loyalitätserwartungen von Ideokratien im Vergleich zu liberalen Demokratien weit umfangreicher. Der Einzelne kann daher auch leichter als in Demokratien in Konflikt mit der Vielzahl an Pflichtleistungen geraten, die das Regime von ihm einfordert.10 Die Folgen der rigorosen Erwartung gesellschaftlicher Konformität bekamen etwa

7 Dieser Punkt hat größere Bedeutung für Wintrobes Unterscheidung in traditionelle (tinpot regimes ) und totalitäre Autokratien. Siehe Wintrobe, Tinpot, S. 849–872; Ronald Wintrobe, The Political Economy of Dictatorship, Cambridge 2000. 8 Vgl. Carl Joachim Friedrich, Totalitäre Diktatur, unter Mitarbeit von Zbigniew K. Brzezinski, Stuttgart 1957, S. 122–129. 9 Siehe dazu den Beitrag von Wolfgang Bialas zu Legitimation, Kooptation und Repression im NS - Regime in diesem Band. 10 Vgl. Jana Osterkamp, Loyalität als Rechtspflicht. Verfassungsrechtliche Grundpflichten im Staatssozialismus. In : Zimmermann / Haslinger / Nigrin ( Hg.), Loyalitäten, S. 25–46.

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auch in weicheren Regimephasen von Ideokratien als „asozial“ oder als „Rowdy“ gebrandmarkte Personen zu spüren. Den Begriff „Asoziale“ prägten die Nationalsozialisten, die damit gemeinschaftsunfähige „Ballastexistenzen“ bezeichneten. Als „Asoziale“ galten im Dritten Reich wie in der DDR etwa Obdachlose, Bettler, Prostituierte sowie alle die keiner regelmäßigen Arbeit nachgingen. Auf „asoziales“ Verhalten stand im NS - Regime Konzentrationslager. Auch in den kommunistischen Regimen war dies ein hart und oft verurteiltes Delikt. Noch 1988 sprachen etwa die Gerichte der DDR ein Viertel aller Gefängnisstrafen für „asoziales“ Verhalten aus.11 Die Leidenschaft zur Einstimmigkeit ist aber nicht zwangsläufig mit Terror bei bloßer Verweigerung von ideologischem Enthusiasmus verbunden. Es genügt also gewöhnlich, dass man im Chor kaum hörbar mitsingt. Nur eines darf man nicht tun : Den Chorklang offen durch dissonante Töne stören. Die Illusion der Einstimmigkeit darf der Einzelne nie in Frage stellen. In der Volksrepublik China zeigt sich geradezu mustergültig der Kampf zwischen der radikalen „kulturrevolutionären“ „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ - Linie und der pragmatischen „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“ - Linie zwischen dem „idealistisch“ gewendeten Mao12 und dem pragmatischen Liu Shaoqi. Nach zehn Jahren chaotischer „Kulturrevolution“ zwischen 1966 und 1976 setzten sich in China die pragmatischen Positionen des Parteiflügels um Liu Shaoqi und Deng Xiaoping durch. Sie beinhalteten etwa, dass der Einzelne der Partei auch schlicht um der eigenen Karriere willen beitreten kann und dass auch die kommunistische Partei danach streben muss, die kollektiven Interessen mit den individuellen Interessen möglichst in Übereinstimmung zu bringen.13 Ideokratien zeichnen sich, auch wenn sie eher pragmatisch sind, in der Regel dadurch aus, dass sie zumindest Lippenbekenntnisse zum Regime bis in private Nischen hinein einfordern. So fand sich etwa der Kleingärtner oder Schütze der Weimarer Republik im Zuge der ( Selbst - )Gleichschaltung in einem nationalsozialistischen Kleingärtner - oder Schützenverein wieder. An der Kleingärtnerei und Schießerei änderte sich nichts. Die nächsten Jahre veränderte sich das Alltagsleben des „arischen“ Kleingärtners oder Schützen erst einmal kaum. Er hatte nun lediglich einen politischen Stempel des Regimes als „nationalsozialistischer“ Kleingärtner oder Schütze. Er besagte : „Du ( hast nichts anderes gesagt also ) gehörst ( du ) dazu“.14

11

Vgl. Thomas Lindenberger, „Asociality“ and Modernity. The GDR as a Welfare Dictatorship. In : Katherine Pence / Paul Betts ( Hg.), Socialist Modern . East German Everyday Culture and Politics, Ann Arbor 2008, S. 211–233. 12 Mao verfolgte zunächst ebenfalls eine eher pragmatische Linie. 13 Vgl. Rainer Hoffmann, Kampf zweier Linien . Zur politischen Geschichte der Volksrepublik China von 1949 bis 1977, Stuttgart 1978. 14 Vgl. u. a. Sheila Fitzpatrick / Alf Lüdtke, On the Breaking and Making of Social Bonds in Nazism and Stalinism. In : Michael Geyer / Sheila Fitzpatrick ( Hg.), Beyond Totalitarianism . Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009, S. 266–301, hier 293.

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Charakteristika der staatlichen Einbindung von Eliten

IV.

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Grundmuster der Kooptation in Ideokratien

Alle politischen Regime haben über die Besetzung der Positionen im Staatsdienst sowie die Löhne der Staatsbediensteten und die gesellschaftliche Umverteilung im Rahmen der Steuern und der Sozialpolitik Einfluss auf die gesellschaftliche Verteilung von Gütern und Positionen. In allen politischen Regimen ist dabei zwischen einem staatsdominierten und einem staatsfreien Bereich der Verteilung von Gütern und Positionen zu unterscheiden. Zumindest in kommunistischen Autokratien gibt es idealtypisch aber gar keinen staatsfreien Raum mehr. Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft wären demnach – so Sigrid Meuschel mit Blick auf die DDR – in Ideokratien keine vom Staat unabhängigen Systeme, die in einem Austauschprozess mit dem politischen System stehen, sondern der Staat wäre ein allumfassendes System.15 Charakteristisch für das Muster der staatlichen Einbindung von Bürgern und Eliten in Ideokratien ist, dass die herrschende Elite in Ideokratien nicht nur wie in allen Autokratien beansprucht, die Zivilgesellschaft in Schach zu halten. Ideokratien in ihrer Reinform akzeptieren vielmehr keine vom Staat unabhängigen gesellschaftlichen Organisationen.16 Sigrid Meuschel und andere betonen allerdings etwas unzureichend, dass es sich lediglich um einen Anspruch des Regimes, keineswegs deckungsgleich um die beobachtbare Regimewirklichkeit handelt. Tatsächlich sind weder in den beobachtbaren liberalen Demokratien Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft tatsächlich vollständig autonom vom politischen Regime, noch waren / sind in den beobachtbaren kommunistischen Ideokratien Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft ausschließlich Satelliten der Politik ohne jegliche Eigendynamik. Da Menschen recht zäh ihre Autonomie in privaten Dingen verteidigen, klaffte und klafft immer eine deutliche Kluft zwischen dem idealtypisch allumfassenden ideologischen Herrschaftsanspruch und der beobachtbaren Alltagswirklichkeit in Ideokratien. Insofern kann kein politisches Regime die Gesellschaft gänzlich „[ a ]bsterben“17 lassen. Daher hat etwa Ralph Jessen recht, wenn er einwendet, es habe in der DDR keine „geschlossene Gesellschaft“ und „Grenzen der Diktatur“ gegeben oder Mary Fulbrook, wenn sie die „Grenzen des Totalitarismus“ beschwört.18 Es gibt und wird nie eine vollständig „geschlossene 15 Vgl. Meuschel, Legitimation, S. 10. Vgl. auch M. Rainer Lepsius, Die Institutionenordnung als Rahmenordnung der Sozialgesichte der DDR. In : Kaelble / Kocka / Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte, S. 17–30; Sigrid Meuschel, Überlegungen zu einer Herrschaftsund Gesellschaftsgeschichte der DDR. In : Geschichte und Gesellschaft, 19 (1993), S. 5–14. 16 Vgl. Giuseppe Di Palma, Legitimation from the Top to Civil Society . Politico - Cultural Change in Eastern Europe. In : World Politics, 44 (1991) 1, S. 49–80, hier 56 f. Die Akzeptanz unpolitischer, nichtstaatlicher Organisationen in der Volksrepublik China ist mithin ein klares Abrücken vom ideokratischen Grundmuster der gänzlichen „Durchherrschung“ der Gesellschaft. Vgl. dazu den Beitrag von Christian Göbel in diesem Band. 17 Meuschel, Legitimation, S. 10. 18 Vgl. Richard Bessel / Ralph Jessen ( Hg.), Die Grenzen der Diktatur . Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996; Mary Fulbrook, The Limits of Totalitarianism . God,

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Gesellschaft“ geben. Ebenso wenig existiert eine vollständig „offene Gesellschaft“.19 Dies sind lediglich konstruierte Idealtypen. Die Triftigkeit der Diagnose, dass keine Ideokratie je eine wirklich vollständige „Durchherrschung“ der Gesellschaft erreichen kann, ändert aber nichts an der Triftigkeit der Diagnose, dass die kommunistischen Ideokratien danach strebten. Beide Diagnosen stehen in keinerlei Widerspruch zueinander. In vieler Hinsicht unterscheidet sich das Alltagsleben von Bürgern in Ideokratien von der Wiege bis zur Bahre nur wenig von dem Leben von Bürgern in liberalen Demokratien. Wer aber wie Mary Fulbrook argumentiert, dass die Bürger in einer kommunistischen Ideokratie wie der DDR „relativ unberührt von der schweren Hand des Staats“20 leben konnten und obendrauf setzt, dass die Bürger in der DDR sich freiwillig einbrachten und partizipierten21 oder wer bei der Analyse der DDR von einer „Autonomie der Gesellschaft“22 ausgeht wie Ralph Jessen, zeichnet ein verzerrtes Bild der Alltagswirklichkeit in kommunistischen Ideokratien. Gänzlich autonom ist die Gesellschaft nicht einmal in einer liberalen Demokratie. Der kommunistische Staat griff unterschiedlich schwer in das Leben der Bürger ein. Unberührt blieb aber fast keiner. Mancher erlebte die Hände des Staats als fürsorglich streichelnd, mancher als erdrückend und einige gar als schlagend. Die Gesellschaft war „durchherrscht“, nicht autonom. Das Maß der Monopolisierung der Güter - und Positionsverteilung und der darauf basierenden „Durchherrschung“ der Gesellschaft variiert in Ideokratien dabei beträchtlich. Es gibt einen sehr bedeutenden Unterschied zwischen der gesellschaftlichen Durchdringung durch die kommunistischen Ideokratien und jener durch das nationalsozialistische wie das faschistische Regime. Vergleichsweise am schwächsten war die gesellschaftliche Durchdringung in der faschistischen Autokratie Italiens. Dies führte bezeichnenderweise dazu, dass bis heute umstritten ist, ob das faschistische Regime mit dem Totalitarismusbegriff bezeichnet werden kann.23

19

20 21

22 23

State, and Society in the GDR. In : Transactions of the Royal Historical Society, 6 (1997), S. 25–52; Ralph Jessen, Die Gesellschaft im Sozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR. In : Geschichte und Gesellschaft, 21 (1995), S. 96–110, hier 99. Vgl. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 1992 Vgl. zur Herausarbeitung der Merkmale einer geschlossenen Gesellschaft Armin Pfahl - Traughber, Ideologische Strukturmerkmale der geschlossenen Gesellschaft. Karl R. Popper als Totalitarismustheoretiker. In : Aufklärung und Kritik, 1 (2003), S. 106–125. Mary Fulbrook, The People’s State . East German Society from Hitler to Honecker, New Haven 2008, S. 67. Eigene Übersetzung. Vgl. ebd.; dies., Ein ganz normales Leben . Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2011. Die Argumentation von Fulbrook ist auch in sich nicht stimmig, da sie an anderer Stelle durchaus ausführt, dass es aufgrund der großen Verflechtung von Privatem und Öffentlichem in der DDR keinen unangetasteten Privatbereich gab. Jessen, Gesellschaft, S. 100. Die klar vorherrschende Position ist inzwischen, dass das faschistische Regime sich prinzipiell und nicht nur graduell vom NS - Regime und von den kommunistischen Regimen unterscheidet und daher nicht als totalitär angesehen werden kann. Dieser Position widerspricht etwa : Wolfgang Schieder, Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und

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Um wesentliche Unterschiede im Muster der Einbindung von nationalsozialistischem und faschistischem Regime einerseits, den kommunistischen Regimen andererseits zu verstehen, ist an die deutlich unterschiedliche Ausgestaltung der Herrschaftsstrukturen je nach ideologischer Prägung zu erinnern. Das NS Regime und das faschistische Regime sind Vertreter der Untergruppe der personalistischen Ideokratien. Kommunistische Regime sind von der Ideologie her im Unterschied dazu „reine“ Ideokratien, in denen Entscheidungen in ( parteilichen) Institutionen fallen.24 Dies schließt nicht aus, dass auch in kommunistischen Regimen personalistische Regimephasen wie unter Stalin oder Mao auftreten. Grundsätzlich hat die Institution der Herrschaftspartei in kommunistischen Regimen aber eine weit stärkere Stellung als in den „Führer“ - zentrierten Regimen des Faschismus und Nationalsozialismus. Staat und Partei sind in allen Ideokratien ausgesprochen verquickt. In kommunistischen Ideokratien verschmelzen aber im Unterschied zu Faschismus und Nationalsozialismus Staats - und Parteiapparat nahezu. In den Worten Stalins : „[T ]he party and soviet authorities are closely interwoven and inseperable from each other. [...] With such a setup, we’ll have complete unity between soviet and party leaders, and this will unquestionably double our strength.“25 So war in den sowjetkommunistischen Regimen stets der Vorsitzende der kommunistischen Partei der mächtigste Mann. Er kontrollierte die Regierungsgeschäfte. In den kommunistischen Regimen vereinnahmte der Parteiapparat den Staatsapparat. Im NS - Regime und im faschistischen Regime sollte im Unterschied dazu die NS - „Bewegung“ im Herrschaftsapparat des Staats aufgehen. Der Zugang zu Machtpositionen verlief im nationalsozialistischen und faschistischen Regime von Adolf Hitler und Benito Mussolini forciert im Zeitverlauf immer stärker über personalistische, am streng hierarchischen „Führerprinzip“ orientierte Netzwerke von Personen („Führer - Gefolgschafts - Beziehungen“26), nachdem institutionelle Hindernisse beiseite geräumt waren. Bereits im Juni 1926 hatte die NSDAP ihrem Führer Adolf Hitler einen Freibrief gegeben, alle Entscheidungen unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen in der Partei-

Deutschland, Göttingen 2008, S. 389. Jerzy Maćków geht in umgekehrter Stoßrichtung zu Schieder so weit, dass er auch das nationalsozialistische Regime als eine Variante der autoritären Ideokratie in Abgrenzung zur totalitären kommunistischen Ideokratie verstanden wissen will. Vgl. Jerzy Maćków, Totalitarismus und danach. Einführung in den Kommunismus und die postkommunistische Systemtransformation, Baden - Baden 2005, S. 40. 24 Vgl. zu der Unterscheidung : Steffen Kailitz, Varianten der Autokratie im 20. und 21. Jahrhundert. In : Totalitarismus und Demokratie, 6 (2009), S. 209–251; ders., Classification by Legitimation, vorgetragen auf der 6th ECPR General Conference, 25th–27th Aug. 2011, Reykjavik, University of Iceland 2011. 25 Stalin zit. nach Yoram Gorlitzki / Hans Mommsen, The Political ( Dis )Orders of Stalinism and National Socialism. In : Geyer / Fitzpatrick ( Hg.), Beyond Totalitarianism, S. 41–86, hier 51. 26 Vgl. Martin Broszat, Der Staat Hitlers . Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1969. Vgl. auch Gorlitzki / Mommsen, Political (Dis) Orders, S. 56.

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führung zu treffen.27 Dieses Führer - Prinzip konnte im NS - Regime erst über die Zeit formalisiert werden, indem Hitler ganz offiziell vom „Reichskanzler“ zum „Führer und Reichskanzler“ und schließlich zum institutionell gänzlich uneingeschränkten „Führer“ wurde, dessen Entscheidungen nicht hinterfragt werden durften.28 Nun sollte auch mit Blick auf die Sowjetunion und die Volksrepublik China nicht unterschätzt werden, dass „Führer - Gefolgschafts - Beziehungen“ unter der streng formalisierten Oberfläche vor allem auf der lokalen Ebene von großer Bedeutung waren.29 Selbst Stalin hatte aber – obgleich er sich ab 1929 als „woschd“, also „Führer“ bezeichnen ließ – nie offiziell eine Machtstellung, die der absolutistischen „Führer“ - Stellung Hitlers im NS - Regime oder jener Mussolinis im faschistischen Regime gleich kam.30 Im „Führerstaat“31 artikulierte Hitler wesentliche Punkte seines Willen in öffentlichen Reden, denen dann von der Gefolgschaft „entgegengearbeitet“32 wurde, während Stalin unermüdlich in sechzehnstündigen Arbeitstagen Direktiven auf den institutionellen Dienstwegen weitergab. Die Bedeutung von Institutionen ist im NS - Regime und im faschistischen Regime weit geringer als in den kommunistischen Regimen. Daraus erklärt sich ein unterschiedlicher Umgang mit den Institutionen, auf die das neue ideokratische Regime bei der Machtübernahme stieß. Während die kommunistischen Regime an die Stelle des Institutionensystems des vorherigen Regimes – etwa des zaristischen Regimes – ein komplett neues Institutionensystem setzten, ließen die Nationalsozialisten und Faschisten das vorhandene Institutionensystem zunächst formal weiterbestehen.33 Allerdings waren die vorherigen institutionellen Regeln nicht weiter bindend und sie wurden im Zeitverlauf ad hoc durch Neuregelungen ersetzt. Die Reichsregierung wurde im NS - Regime etwa rasch zu einem Beratungsorgan herabgestuft, das Hitler lediglich noch unverbindliche Vorschläge unterbreiten konnte.34 Parallel dazu etablierte sich aber kein Äqui27 Vgl. ebd., S. 52. 28 Den offiziellen Titel „Führer“ (= „Duce“ ) hat Hitler von Mussolini übernommen. 29 Vgl. u. a. Moshe Lewin, Russia – U. S. S. R. – Russia . The Drive and Draft of a Superstate, New York 1995. 30 Deutliche Analogien finden sich aber zwischen dem Machtaufbau des NS - Regimes und des nordkoreanischen Regimes, in der eine Mischung aus einer Parteiherrschaft und einer Führer - Gefolgschaftsbeziehung in der Verfassung verankert ist. Hier gingen die Gemeinsamkeiten deutlich über die Nutzung des „Führer“ - Titels durch Kim Il - sung und Kim Jong - il hinaus. 31 Vgl. Norbert Frei, Der Führerstaat . Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, München 2007. 32 Die Wendung „dem Führer entgegenarbeiten“ popularisierte : Ian Kershaw, Hitler, 1889–1936 . Hubris, New York 2000; ders., Hitler, 1936–1945 . Nemesis, New York 2000. Siehe auch Anthony McElligott / Tim Kirk ( Hg.), Working Towards the Führer . Essays in Honour of Sir Ian Kershaw, Manchester 2003. 33 Der spezifische mit dem Kommunismus verbundene völlige Umbruch des bisherigen Staatsapparats dürfte allerdings auch damit zu tun haben, dass die Kommunisten sich originär in Russland und China in riesigen Reichen mit bis dahin unzureichend ausgebildeter Bürokratie durchsetzten. 34 Vgl. u. a. Broszat, Staat, S. 353–359.

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valent zum Politbüro kommunistischer Parteien als neues Machtzentrum. Vielmehr wurde das Führer - Prinzip auf den Staat übertragen. Macht wurde im NS - Regime territorial aufgeteilt, aber nicht auf horizontaler Ebene geteilt oder auch nur beschränkt. Faktisch gab es im NS - Regime 36 relativ unabhängige Parteiorganisationen auf Gauebene, die – im Unterschied zu kommunistischen Regimen – nicht systematisch von einer zentralen Parteiführung gesteuert wurden.35 So konzentrierte sich bei den Personalunionen von Gauleitern und Reichsstaathaltern bzw. Oberpräsidenten, die durchweg von zuverlässigen Nationalsozialisten ausgeübt wurden, unterhalb Hitlers beträchtliche Macht.36 Die regelmäßigen Treffen Hitlers mit den Gauleitern können noch am ehesten als das Machtzentrum der Führungsebene der NSDAP angesehen werden.37 Die lokalen Führer waren dabei gemäß dem Führerprinzip zwar vom Wohlwollen Hitlers, aber kaum von den Mehrheitsverhältnissen in lokalen Parteigremien abhängig. Unterhalb der Position des Führers auf zentralstaatlicher Ebene wie Gauebene entschied die Frage des persönlichen Zugangs zum jeweiligen Führer über die Machtbefugnisse, nicht fixierte Amtsfunktionen. Auf dieser Grundlage verschwimmt aber im NS - Regime und im faschistischen Regime im Unterschied zu den meisten kommunistischen Regimen die Grenze zwischen Patronagemacht und Macht zur Speisung klientelistischer Netzwerke dieses oder jenes ( Unter - )Führers. Kommunistische Regime beanspruchen im Unterschied zum nationalsozialistischen und faschistischen Regime über die Verteilung aller Positionen und Güter in der Gesellschaft direkt zu entscheiden. Damit hätte der Staat Zugriff auf potenziell alle Erwerbskarrieren der Bürger. Setzt der kommunistische Staat diesen Anspruch durch, kann er direkt über das Einkommen aller seiner Bürger und damit ihren materiellen Wohlstand bestimmen. Wenn er auch alle Güter produziert und verteilt, kann er effektiv über die Eigentumsmöglichkeiten aller Bürger bestimmen. Letztlich bedürfte der Staat unter diesen Voraussetzungen keiner Steuern mehr. So hat konsequenterweise auch das kommunistische Nordkorea 1974 als erster und bislang einziger Staat der Welt alle Steuern abgeschafft. Alle anderen kommunistischen Regime besteuer( te )n ihre Bürger weiterhin. Dies ergab auch Sinn, da es in den meisten kommunistischen Staaten wie etwa in China, Polen und Ungarn noch bedeutende Bereiche der Privatwirtschaft gab. Es gibt also schon beim angestrebten Grad der Monopolisierung von Gütern und Positionen beim kommunistischen Staat eine in den konkreten kommunistischen Regimen unterschiedlich große Lücke zwischen idealtypischem Anspruch und beobachtbarer Wirklichkeit. In der beobachtbaren Wirklichkeit sind drei grundlegend unterschiedliche Stadien der Monopolisierung der Güter - und Positionsverteilung in kommunis35 Vgl. Gorlitzki / Mommsen, Political ( Dis )Orders, S. 54. 36 Vgl. Rudolf Morsey, Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung. In : Wilfried Berg / Kurt G. Jeserich ( Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte. Band 4 : Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1985, S. 696–706, hier 702. 37 Vgl. u. a. Gorlitzki / Mommsen, Political ( Dis )Orders. S. 57; Kershaw, Nemesis, S. 536.

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tischen Staaten erkennbar. Diese drei „staatskapitalistischen“ Entwicklungsstadien korrespondieren mit den Etappen, die Lenin auf dem Weg zum Kommunismus als unvermeidbar charakterisiert hat. Klaus von Beyme brachte sie so auf den Punkt : „1. [ die ] Phase indirekter Lenkung des überwiegenden Privatsektors durch Steuer - , Preis - und Kreditpolitik; 2. [ die ] Phase der gemischt staatlich - privaten Unternehmungen; 3. [ die ] Phase der Nationalisierung“.38 In aller Regel „nationalisierten“ kommunistische Regime zumindest die Großindustrie und die Banken. Die Entwicklung der Volksrepublik China war am stärksten von einem Hin und Her geprägt. In den letzten Jahrzehnten ist eine deutliche Reprivatisierung von Eigentum in China zu beobachten. Allerdings sind Banken, Fahrzeugbau, öffentliche Versorgung, Telekommunikation und der Rohstoffsektor noch nahezu vollständig in Staatshand und alle größeren wirtschaftlichen Aktivitäten reglementiert der Staat stark mittels eines Fünf- Jahres Plans. Das NS - Regime und das faschistische Regime begnügten sich im Unterschied zu den kommunistischen Regimen ohnehin damit, den Rahmen festzulegen und jederzeit über Kooptationskanäle Einfluss auch auf die nicht - staatliche Verteilung von Gütern und Positionen nehmen zu können. Auch in Nationalsozialismus und Faschismus gab es einen klaren „Primat der Politik“ im wirtschaftlichen Bereich.39 Es herrschte also eine merkantilistische Wirtschaftsstruktur vor. Das NS - Wirtschaftssystem war eine „staatliche Kommandowirtschaft auf privatkapitalistischer Grundlage“.40 Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski ebneten den Unterschied der Wirtschaftsstrukturen zwischen dem nationalsozialistischen und faschistischen Regime einerseits und den kommunistischen Ideokratien andererseits allerdings viel zu stark ein. Sie argumentierten, es habe auch in den faschistischen und nationalsozialistischen Ideokratien eine klare hierarchische Wirtschaftsstruktur mit dem Duce Mussolini und dem Führer Hitler an der Spitze gegeben. Dadurch seien auch alle in der Privatwirtschaft arbeitenden Menschen „verkappte Staatsfunktionäre“.41 Im wirtschaftlichen – wenn auch nicht im politischen – Bereich hatten die Menschen im faschistischen und nationalsozialistischen Regime aber mehr Freiraum als in den kommunistischen Regimen. Das gilt für den Betriebsleiter im NS- Regime, der in Konkurrenz zu anderen Betriebsleitern über seine 38 Klaus von Beyme, Ökonomie und Politik im Sozialismus, München 1975. 39 Vgl. u. a. Karl Dietrich Bracher, The German Dictatorship. The Origins, Structure, and Effects of National Socialism, New York 1970, Kapitel 2; Tim Mason, Primat der Politik. Politik und Wirtschaft im Nationalsozialismus, In : Argument, 8 (1966), S. 473–494; Richard J. Overy, The Nazi Economic Recovery : 1932–1938, London 1982, S. 58. 40 Bernd Jürgen Wendt, Deutschland 1933–1945. Das „Dritte Reich“. Handbuch zur Geschichte, Hannover 1995, S. 206. Vgl. umfassender zur Charakterisierung des NS Wirtschaftssystems als Kommandowirtschaft : Dietmar Petzina, Autarkiepolitik im Dritten Reich . Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Stuttgart 1968, S. 10. Das ist – nebenbei bemerkt – eine Bezeichnung, die sich zunehmend auch auf die Volksrepublik China anwenden lässt. 41 Vgl. Friedrich, Totalitäre Diktatur, S. 161.

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Produktpalette in wesentlichen Punkten noch entscheiden konnte, aber auch für den Arbeiter, der eben überwiegend im Unterschied zu Beamten und Soldaten finanziell nicht direkt vom Staat abhängig war. In Rechnung zu stellen ist hinsichtlich des Nationalsozialismus, dass sechs der zwölf Herrschaftsjahre Kriegsjahre waren, in denen auch im Dritten Reich das Alltagsleben stark von den politischen Maßnahmen des NS - Regimes durchdrungen war.

V.

Einbindung von Eliten

1.

Regimeelite

Idealtypisch kann in Ideokratien wie in allen Einparteiautokratien kein Bürger eine einflussreiche Position in Partei und Staat erlangen, der nicht Mitglied der Staatspartei oder gegebenenfalls Mitglied einer ihrer Satellitenparteien ist. Die millionenfachen Masseneintritte in die ideokratischen Staatsparteien des NS Regimes und der Sowjetunion nach deren Machtübernahme sind nicht durch einen plötzlich virusartig verbreiteten Legitimitätsglauben erklärbar, sondern vorrangig durch die Erwartung, dass der Einzelne im Gegenzug für die demonstrativ signalisierte Loyalität materielle und immaterielle Vorteile gegenüber Nicht- Parteimitgliedern erwarten kann. Tatsächlich gilt aber die Karrierebegünstigung durch eine Mitgliedschaft in der Staatspartei für kommunistischen Regime deutlich stärker als für das nationalsozialistische und faschistische Regime. Nur Parteikomitees konnten in den sowjetkommunistischen Ideokratien Nomenklaturpositionen42 besetzen, und die Inhaber konnten ihre Position nur mit ihrer Zustimmung verlieren. Ein Äquivalent dazu gibt es im nationalsozialistischen und faschistischen Regime nicht. Aus zwei Gründen erscheint es aber auch für kommunistische Regime nicht sinnvoll, die Regimeelite ( also die Nomenklatura - Positionen ) tatsächlich lediglich für einen recht kleinen Kreis ideologisch sehr gefestigter Personen zugänglich zu machen und sinnvoll den Weg in Spitzenpositionen auch pragmatischeren, nicht selten sogar vorwiegend karriereorientierten Personen zu öffnen: 1. Karriereoptionen für die politisch Indifferenten senken die Wahrscheinlichkeit, dass sich die gesellschaftliche Masse der politisch Indifferenten auf die Seite der Opposition schlägt. 2. Weiterhin schadet es der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit stark, wenn alle Spitzenpositionen in Wirtschaft und Gesellschaft lediglich nach dem Grad des Glaubens an die Herrschaftsideologie und nicht vorrangig nach der Befähigung für die Position besetzt wer-

42 Der Begriff „Nomenklatura“ bezieht sich dabei sowohl auf die in den Listen aufgeführten Positionen als auch in der Folge auf die konkreten Inhaber dieser Positionen. Vgl. Michael S. Voslensky, Nomenklatura . Die herrschende Klasse der Sowjetunion, München 1984.

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den. Wer etwa selbst seine Leibärzte aufgrund ideologischer Gesinnung auswählt, stirbt schlicht früher !43 Einer starken Öffnung der Regimeelite gegenüber politischen Pragmatikern44 folgten in kommunistischen Regime allerdings häufig Gegenbewegungen. Das nationalsozialistische und faschistische Regime einerseits und die kommunistischen Regime andererseits unterscheiden sich sowohl im Ausmaß des Bereichs, in dem der Staat Güter und Positionen in Gesellschaft und Wirtschaft verteilt, als auch in der Frage, wie diese Verteilung gehandhabt wird. Obgleich auch das NS - Regime und das faschistische Regime das Militär direkt lenkten, war das Militär in diesen Staaten im Unterschied zur „Roten Armee“ der Sowjetunion eben nicht direkt vom Regime mit ideokratischer Ausrichtung neu formiert worden. Die Militärverbände der Ideokratie in Gestalt der Waffen - SS rückten im NS - Regime vielmehr neben die traditionale Armee. Insgesamt war in Militär und überhaupt der Staatsbürokratie der Personalaustausch in der Sowjetunion dagegen fundamental. Es fand ein ausgesprochen weitreichender Elitenaustausch statt. Im NS - Regime und im faschistischen Regime gab es nach der Machtübernahme der ideokratischen Regime zwar politische Säuberungswellen in Bürokratie und Militär. Sie blieben in ihrem Umfang aber weit hinter dem Totalumbruch im Staatsapparat beim revolutionären Wechsel vom zaristischen Regime zum kommunistischen Sowjetregime zurück. Dies bedeutete, dass das faschistische Regime und das NS - Regime, um die Loyalität von Militär und Bürokratie zu erhalten, deutlich abhängiger von Konzessionen an traditionale Eliten waren, die noch wichtige Positionen in den staatlichen Institutionen von Militär und Bürokratie besetzten.45 Kommunistische Regime haben in größerem Maße einflussreiche politische Eliten außerhalb des Regimes lediglich in ihrer Etablierungsphase direkt nach dem Zweiten Weltkrieg in ost - und mitteleuropäischen Staaten und in ihrer Niedergangsphase in Mittelost - und Osteuropa 1989–1991 geduldet. In Ostmitteleuropa mussten im Unterschied zur Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg bürgerliche Eliten zunächst auf politischer Ebene noch eingebunden werden. Rasch verloren diese aber ihre Eigenständigkeit und wurden in das Regime integriert. War zu Beginn der DDR etwa die CDU noch sehr eigenstän43 Gewöhnlich waren auch Ideokratien – das kambodschanische Pol - Pot - Regime ist eine Ausnahme – ausreichend rational, um bei Kadern in Wirtschaft und Gesellschaft auch Leistungskriterien anzulegen. Vgl. u. a. Axel Salheiser, Parteitreu, plangemäß, professionell ? Rekrutierungsmuster und Karriereverläufe von DDR - Industriekadern, Wiesbaden 2009. 44 Vgl. am Beispiel der DDR : Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel . Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED - Führung. Eine empirisch - systematische Untersuchung, Köln 1968. 45 Eine wichtige Konzession an Banken und Großindustrie war etwa die Ernennung des parteiungebundenen Hjalmar Schacht zum Präsidenten der Reichsbank. Die Konzessionen endeten weitgehend mit Beginn des Zweiten Weltkriegs. Schacht wurde etwa 1939 nach der Äußerung von Vorbehalten gegen die Finanz - und Rüstungspolitik des NS Regimes entlassen.

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Charakteristika der staatlichen Einbindung von Eliten

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dig und eigenwillig bis an die Grenze des Widerstands gegenüber der SED, war sie in den 1980er Jahren lediglich eine Art gleichgeschaltete Zweigstelle mit kaum nennenswerter eigenständiger Profilierung.46

2.

Regimeunabhängige Eliten

Gemäß der monistischen Grundvorstellung von Ideokratien darf es vom Staat und der ihn tragenden Partei unabhängige einflussreiche Gruppen im Grunde gar nicht geben. Dieser Anspruch ist bei den kommunistischen Regimen aber deutlich ausgeprägter als beim nationalsozialistischen und faschistischen Regime. Im NS - Regime waren Eliten in Wehrmacht, Bürokratie und Industrie weitgehend eigenständige Machtsäulen neben der originären NS - Elite. Die kommunistischen Regime monopolisierten dagegen die staatlichen und wirtschaftlichen Elitepositionen. In den kommunistischen Regimen gab es eine Liste mit allen wichtigen Posten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, die nur Parteikomitees besetzen durften ( Nomenklatura ).47 Ein Äquivalent dazu gab es weder im faschistischen noch im nationalsozialistischen Regime. Ein wesentlicher Unterschied auf der Elitenebene ist vor allem, dass die Gruppe der reichen Unternehmer in kommunistischen Regimen – mit Ausnahme der jüngsten Vergangenheit der Volksrepublik Chinas – nicht ( mehr ) vorhanden ist, aber im nationalsozialistischen und faschistischem Regime eine zentrale Akteursgruppe darstellte, die wirksam eingebunden werden musste.48 Das nationalsozialistische und faschistische Regime banden in sehr viel größerem Maße als kommunistische Regime Eliten der vorherigen Regimeperiode wie das Unternehmertum in ihre Herrschaft ein. In Nationalsozialismus und Faschismus ging der Einbindungswille dabei keineswegs immer vorrangig vom Regime aus. So gab es etwa gegen die Deutsche und die Dresdner Bank in der NSDAP bedeutende Vorbehalte. Nicht wenige sahen sie als Bastionen des „raffenden Kapitals“. Aus ideologischen Gründen lag Nationalsozialisten das Modell der Sparkassen weit näher als das der Großbanken. Dennoch hatten die klaren Signale des Einbindungswillens der Großbanken Erfolg. Die Unternehmen signalisierten dabei den Willen zur Regimeeinbindung etwa mittels einer aktiven Kooptation von Nationalsozialisten in Vorstand und Aufsichtsrat.49 Was für die Banken galt, war in der gesamten Wirtschaft kaum anders. Halb zog das 46 Vgl. Michael Richter, Die Ost - CDU 1948–1952. Zwischen Widerstand und Gleichschaltung, Düsseldorf 1990; Michael Richter / Martin Rissmann ( Hg.), Die Ost - CDU . Beiträge zu ihrer Entstehung und Entwicklung, Weimar 1995. 47 Das Nomenklatura - System verabschiedete die KPdSU im Juni 1923. Seither prägte es alle sowjetkommunistischen Regime. 48 Diesen grundlegenden Unterschied betonen etwa beim Vergleich des Sowjet - und NS Regimes auch Gorlitzki / Mommsen, Political ( Dis )Orders, S. 44. 49 Vgl. Klaus - Dietmar Henke, Die Dresdner Bank 1933–1945 . Ökonomische Rationalität, Regimenähe, Mittäterschaft, München 2006; Harold James, Die Deutsche Bank im Dritten Reich, München 2003.

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NS - Regime die Industriellen und Unternehmer in die Einbindung, halb sanken sie entgegen. Um die beiden wichtigsten wirtschaftlichen Interessenverbände, den „Reichslandbund“ und den „Reichsverband der deutschen Industrie“, in die staatliche Kommandowirtschaft einzugliedern, bedurfte es keinerlei Zwanges. Die Verbandspräsidenten arbeiteten dem Führer willig „entgegen“. Bei der IG Farben zeigte sich im industriellen Bereich das höchste – und damit nicht typische – Maß an Verflechtung von Staat und Wirtschaft. Das NS - Regime machte das Vorstandsmitglied der IG Farben, Carl Krauch, zum staatlichen Generalbevollmächtigten Chemie. Umgekehrt übertrug die IG Farben den NS Gauleitern Walter Köhler und Adolf Wagner die Verantwortung für die wichtigen Geschäftsbereiche Rohstoffverteilung und Preisbildung.50 Auch kommunistische Ideokratien können gewöhnlich nicht verhindern, dass zumindest in der Etablierungsphase bereits vor der Entstehung des ideokratischen Regimes etablierte Institutionen und soziale Gruppen weiterhin bedeutenden Einfluss besitzen. In der Sowjetunion wurde die bisherige bürgerliche Elite aber vergleichsweise rasch und vollständig ausgeschaltet, nachdem 1917/1918 die Eigentumsverhältnisse zunächst noch unangetastet geblieben waren. Lediglich in der Phase der „Neuen Ökonomischen Politik“ von 1921 bis 1928 gab es in der Sowjetunion größere Konzessionen an vom kommunistischen Regime unabhängige Restbestände alter Eliten. Auch in Ostmitteleuropa neigten die kommunistischen Machthaber nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer recht weitgehenden Entmachtung und Enteignung alter wirtschaftlicher Eliten. Kommunistische Regime wie die DDR oder Polen taten sich sogar mit der Kooptation von regimeunabhängigen Kleinunternehmern oder freien Bauern schwer und zwar selbst dann, wenn sie offiziell deren Existenzberechtigung anerkannten.51 Das kommunistische Regime Chinas machte deutlich größere Zugeständnisse an alte Eliten. So blieben viele ehemalige Unternehmer beim Übergang zum kommunistischen Regime schlicht an der Spitze ihrer Unternehmen. Dies begünstigte eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik, aber der radikal ideologische Flügel der kommunistischen Partei wurde angesichts wachsender sozialer Ungleichheit zunehmend unzufriedener. Diese Unzufriedenheit mündete letztlich in der „großen proletarischen Kulturrevolution“. Sie war nicht zuletzt ein harter Schlag gegen die vorrevolutionären Eliten, der bis zu diesem Zeitpunkt – durchaus überraschend – ausgeblieben war. Langfristig setzte sich in China dann bekanntlich wieder die pragmatische Linie Liu Shaoqis und Deng Xiaopings durch, die eine Duldung von unabhängigen Regimeeliten im wirtschaftlichen Bereich beinhaltete. Während das Unternehmertum in den kommunistischen Regimen überwiegend ausgeschaltet wurde, gestaltete sich der Umgang mit der Kirchenelite und

50 Vgl. Peter Hayes, Industry and Ideology . IG Farben in the Nazi Era, Cambridge 2001. 51 Vgl. etwa mit Blick auf die DDR : Thomas Großbölting, SED - Diktatur und Gesellschaft. Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerlichung in Magdeburg und Halle, Halle ( Saale) 2001, S. 421.

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insgesamt mit der Kirche weit unterschiedlicher. Während in der Sowjetunion die Kirche ihre Machtposition nahezu vollständig verlor, konnte sie etwa in Polen einen beträchtlichen Teil ihres Machtpotenzials bewahren. Im zaristischen Russland war dabei die Bedeutung der orthodoxen Kirche nicht geringer als jene der katholischen Kirche in Polen. In beiden Staaten war die Kirche in vorkommunistischen Zeiten der eindeutige Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. Die Sowjetunion beschritt nun ab 1929 einen Weg einer totalen Unterdrückung der orthodoxen Kirche. Das Regime enteignete massenweise Kirchengebäude, verwendete sie zu staatlichen Zwecken weiter oder zerstörte sie. Die Sowjetkommunisten inhaftierten Priester und Klosterangehörige oder ermordeten sie sogar. Begründet lag diese äußerst harte und kompromisslose Haltung in der engen Verquickung der orthodoxen Kirche mit dem zaristischen Staat und der eindeutigen Positionierung der orthodoxen Kirche gegen die Kommunisten im russischen Bürgerkrieg 1917/18 bis 1920. Die Unterdrückung der bis dahin zentralen gesellschaftlichen Institution der orthodoxen Kirche schadete allerdings der Integrationsfähigkeit des neuen sowjetkommunistischen Regimes in den ländlichen Regionen. Dort wohnten in der anfangs noch wenig urbanisierten Sowjetunion die weitaus meisten Bürger. Langfristig hatte die harte Repression allerdings machtstrategisch auch Vorteile. Im Unterschied zu Polen wurde die Kirche auch nach der Lockerung der Unterdrückung während des Zweiten Weltkriegs und einer Neujustierung des Verhältnisses zwischen Staat und orthodoxer Kirche nicht mehr zu einem Kristallisationspunkt der Opposition. In den ostmitteleuropäischen kommunistischen Autokratien blieb(en ) dagegen im Unterschied zur Sowjetunion die Kirche( n ), besonders relevant in Polen, die Gruppe( n ) oder eine der letzten verbliebenen Gruppen mit relativ eigenständiger Verfügungsmacht über Positionen und damit Erwerbsmöglichkeiten. In den kommunistischen Gesellschaften lassen sich dabei 1. je nach Zeitabschnitt und Land unterschiedliche vorherrschende Reaktionsweisen und 2. auch innerhalb der Kirche in einem Land unterschiedliche Reaktionsweisen von Würdenträgern von reservierter Loyalität bis hin zu offener Illoyalität erkennen.52 Während das Verhältnis von kommunistischen Regimen und Kirche stets durch ein klar feindliches bis zumindest ausgesprochen reserviertes Gegenüber gekennzeichnet war, stellte sich die Lage im nationalsozialistischen und faschistischen Regime komplizierter dar. Teile des NS - Regimes strebten danach Christen mit einer nationalsozialistischen geprägten Variante des Christentums einzubinden. Dies blieb nicht ohne Erfolg. So spaltete sich im NS - Regime die evangelische Kirche in eine willig in das Regime eingebundene „Glaubensgemeinschaft deutscher Christen“ und eine oppositionelle „Bekennende Kirche“. 52 Vgl. Stanisław Jankowiak, Zwischen Kampf, Loyalität und Zusammenarbeit. Die katholische Kirche und das sozialistische Regime in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Zimmermann / Haslinger / Nigrin ( Hg.), Loyalitäten, S. 328–340; Clemens Vollnhals, „Kirche im Sozialismus“. Kollaboration, Loyalität und Konflikt in der Ära Honecker. In : ebd., S. 265–280.

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Insgesamt gelang dem Nationalsozialismus ein erstaunlich hohes Maß an Durchdringung des Protestantismus.53 Die katholischen Geistlichen blieben im Unterschied zu den evangelischen im Kern durchweg eine Gegenelite, die überwiegend Widerstreben ( in den Worten des Bayern - Projekts „Resistenz“) gegen eine Einbindung in das NS - Regime an den Tag legte. Allerdings ließ sich die katholische Kirche nach 1933 auf einen Waffenstillstand mit dem NS - Regime ein. So widerrief die katholische Kirche im März 1933 die Unvereinbarkeit zwischen katholischer Kirchenzugehörigkeit und nationalsozialistischer Parteimitgliedschaft und im Juli 1933 folgte der Abschluss des Reichskonkordats. Dies war vor allem eine Reaktion auf das unerwartete – und unter Nationalsozialisten durchaus umstrittene – Friedensangebot Hitlers im März 1933 an die Kirchen, ihre bisherigen Rechte unangetastet zu lassen.54

VI.

Masseneinbindung von Bürgern

Konrad Jarausch, Thomas Lindenberger und Gerd Meyer umreißen einen zentralen Ausschnitt der massenhaften Einbindung der Bevölkerung in ( kommunistischen ) Ideokratien, wenn sie von einem „Sozialvertrag zwischen Bevölkerung und Regime“ sprechen, der in den kommunistischen Staaten auf „dem quid pro quo von Befriedigung der Konsumbedürfnisse für politisches Stillhalten“55 beruht habe. Aus dieser Perspektive erscheinen die Ideokratien als „Fürsorgediktaturen“ mit einer ganz eigenen Mischung aus „belagernder Fürsorglichkeit und bürokratischer Unterdrückung“.56 Das nationalsozialistische Regime wurde

53 Vgl. Manfred Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus . Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln 2001. 54 Vgl. Georg Kretschmar / Carsten Nicolaisen, Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches, Band I : Das Jahr 1933, München 1971, S. 24. 55 Konrad H. Jarausch, Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, 48 (1998) B 20, S. 33–46, hier 41 ( Hervorhebung im Original ). Thomas Lindenberger spricht inhaltlich identisch vom „mutual pact between the regime and the population that traded social security and consumption for political obedience and external conformity“. Lindenberger, „Asociality“, S. 211. Gerd Meyer beschreibt ebenfalls inhaltlich deckungsgleich einen „ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag“, in dem die Menschen der DDR „soziale Sicherheit und ein bescheidenes Maß an Wohlstand gegen politische Loyalität und funktionsgerechte Mitwirkung [ tauschten ]“. Gerd Meyer, Gesellschaftliche Widersprüche und demokratischer Aufbruch in der DDR. In : Andrea Pabst / Catharina Schultheiß / Peter Bohley (Hg.), Wir sind das Volk ? Ostdeutsche Bürgerrechtsbewegungen und die Wende, Tübingen 2001, S. 9–30, hier 14. 56 Jarausch, Realer Sozialismus, S. 33–46; ders., Care and Coercion . The GDR as Welfare Dictatorship. In : ders., Dictatorship as Experience . Towards a Socio - Cultural History of the GDR, New York 1999, S. 47–69. Vgl. etwa auch Jürgen Kocka, The GDR . A Special Kind of Modern Dictatorship. In : Konrad H. Jarausch ( Hg.), Dictatorship as Experience . Towards a Socio - Cultural History of the GDR, New York 1999, S. 17–26 und Meuschel, Legitimation.

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aus einer ganz ähnlichen Perspektive des Alltagsempfindens der normalen Bürger von Götz Aly als „Gefälligkeitsdiktatur“57 interpretiert. Die folgenden Betrachtungen konzentrieren sich auf die Kerngruppen der Arbeiter und der Landbevölkerung in den Ideokratien. Die Unruhen in der DDR 1953 und in Polen 1956 entstanden bekanntlich nicht zuletzt wegen Unzufriedenheiten von Arbeitern bei der Abwägung des Kosten - Nutzen - Kalküls ihres Arbeitseinsatzes. Die Arbeiter hielten ihren Anteil vom Kuchen schlicht für unzureichend. Generell führte die Kluft zwischen dem ideologischen Anspruch ihrer gesellschaftlichen Führungsrolle und der sozialen Wirklichkeit der Arbeiter in sowjetkommunistischen Regimen paradoxerweise dazu, dass gerade diese zentrale Bevölkerungsgruppe neben den Intellektuellen die am schwersten vollständig einzubindende Gruppe war.58 Die Angst vor neuen Aufständen der ideologischen Schlüsselgruppe der Industriearbeiter begünstigte in kommunistischen Regimen eine deutliche Überbeanspruchung des wirtschaftlichen Potenzials. Letztlich gelang der Drahtseilakt aber nicht überall. Ab den 1980er Jahren erklärte in der Volksrepublik Polen die staatlich nicht mehr zu bändigende Massenorganisation der Industriearbeiter, die freie Gewerkschaft „Solidarność“, offen ihre Illoyalität mit dem kommunistischen Regime.59 Die offene massenhafte Illoyalität weiter Teile des Kernklientels der Kommunisten in Polen, die durch staatliche Einbindungsversuche nicht mehr zu beschwichtigen war, führte zum Fall des ersten kommunistischen Dominosteins, der dann eine Kettenreaktion in Gang setzte. Illoyale, politisch engagierte Massen ( also nicht bloße eher elitäre und überschaubare Diskussionszirkel von Oppositionellen ) drohen stets Ideokratien ( im Grunde aber jedes politische Regime ) von innen heraus zu sprengen. Es erscheint auf den ersten Blick erstaunlich, dass dem NS - Regime und dem faschistischen Regime die Einbindung der Arbeiter in mancher Hinsicht reibungsloser, jedenfalls nicht reibungsreicher, gelang als den kommunistischen Regimen.60 Durch Organisationen wie das „Amt für Schönheit der Arbeit“ unter dem Dach der „Deutschen Arbeitsfront“ konnte das NS - Regime zum Teil kleine, aber sichtbare Verbesserungen der Arbeitsbedingungen wie etwa besseres Licht oder saubere Tische während der Kaffeepausen einführen.61 Unmut aufgrund geringer Löhne und anziehenden Leistungsdrucks war, wie die Deutschland Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zeigen, auch im NS -

57 Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 2006, S. 49–92. 58 Vgl. Peter Hübner / Christoph Kleßmann / Klaus Tenfelde ( Hg.), Arbeiter im Staatssozialismus . Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, Köln 2005. 59 Vgl. Hartmut Kühn, Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980–1990, Berlin 1999. 60 Vgl. Rüdiger Hachtmann, Industriearbeit im „Dritten Reich“ . Untersuchungen zu den Lohn - und Arbeitsbedingungen in Deutschland 1933–1945, Göttingen 1989. 61 Vgl. Fitzpatrick / Lüdtke, Breaking, S. 287–291; Alf Lüdtke, People Working . Everyday Life and German Fascism. In : History Workshop Journal, 50 (2000), S. 74–92.

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Regime verbreitet.62 Neben der Popularität Hitlers dürfte dem NS- Regime aber unter Arbeitern vor allem zugute gekommen sein, dass es im Unterschied zu den kommunistischen Regimen von den meisten Arbeitern nicht direkt für Mängel der Arbeitsbedingungen und die Höhe der Löhne verantwortlich gemacht wurde, sondern die jeweiligen Unternehmer. Auf diese Weise war das NS - Regime im Unterschied zu den kommunistischen Regimen in der komfortablen Lage sich eine Reihe von Verbesserungen der Arbeitsbedingungen ans Revers heften zu können, während für Unerfreuliches der Unternehmer der vorrangige Adressat blieb. Insgesamt orientierte sich das nationalsozialistische und faschistische Regime, auch wegen der besseren wirtschaftlichen Ausgangsposition, von Anfang an stärker als die sowjetkommunistischen Regime daran, Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Zumindest bis zur Schlacht von Stalingrad 1942/43 ordneten die Nationalsozialisten sogar Rüstungsinteressen partiell den Konsumbedürfnissen der deutschen Bevölkerung unter. Götz Aly urteilte darüber zuspitzend : „Die deutsche Führung schuf und garantierte einen Kriegssozialismus, der auf die Loyalität der kleinen Leute zielte.“63 Der wohl größte Unterschied zeigt sich zwischen Nationalsozialismus und Faschismus einerseits und kommunistischen Regimen andererseits bei der Loyalität der Landbevölkerung. Mit der Kollektivierung in den 1930er Jahren verprellte die Sowjetmacht die Bauern – nach einer Phase des Loyalitätserwerbs im Austausch gegen Boden – nachhaltig. Wegen der gleichzeitigen Verfolgung der gerade auf dem Land sehr wichtigen orthodoxen Kirche wurde die Sowjetmacht vielfach als eine fremde, städtische Ideologie angesehen. Wurde die Sowjetunion zumindest von einer Minderheit der Arbeiter als „Arbeiterstaat“ angesehen, nahm kaum ein Bauer sie als „Bauernstaat“ an. Die Einbindung der zweiten Titulargruppe des Arbeiter - und Bauernstaats war in der Sowjetunion derart erfolglos, dass Stalin im Zuge der „Entkulakisierung“, die sich keineswegs ausschließlich gegen Großbauern richtete, schließlich zu roher Gewalt griff, um die Bauern durch millionenfache Deportation und Mord nachhaltig einzuschüchtern.64 Nationalsozialismus und Faschismus stießen dagegen auch in der Regimephase gerade in stark ländlich geprägten Regionen auf große Anhängerschaft. Die vorherrschende Positionierung der Großagrarier zugunsten von Faschismus und Nationalsozialismus als einer Art „präventiver Konterrevolution“65 gegen eine Enteignung ihres Großgrundbesitzes durch Kommunisten ist dabei interessenbedingt und leicht nachvollziehbar. Die starke Loyalität unter der einfachen Landbevölkerung dürfte schlicht in einer Politik der Nationalsozialisten und Faschisten zugunsten landwirtschaftlicher Interessen wurzeln. 62 Vgl. Bernd Stöver, Volksgemeinschaft im Dritten Reich. Die Konsensbereitschaft der Deutschen aus der Sicht sozialistischer Exilberichte, Düsseldorf 1993. 63 Aly, Hitlers Volksstaat, S. 68. Dies geschah dabei im Krieg konsequent auf Kosten der Bewohner der vom NS - Regime besetzten Gebiete. 64 Vgl. Sheila Fitzpatrick, Stalin’s Peasants. Resistance and Survival in the Russian Village after Collectivization, New York 1996. 65 Vgl. Schieder, Faschistische Diktaturen, S. 385.

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VII. Ausgrenzung : die repressive Kehrseite der Einbindung Verweigerte Einbindung in die Regimestrukturen und Repression gehen in Staaten, die die Verfügungsgewalt über Güter und Positionen weitgehend monopolisieren, fließend ineinander über. Die Nicht - Verteilung von Gütern und Positionen als Nicht - Einbindung ( sprich Ausgrenzung ) geht fließend über in den Entzug von Gütern und Positionen als Mittel der Repression. Die Verweigerung der Einbindung in die Regimestrukturen kann sich auf aktive Regimeopposition beschränken. Sie muss es aber keineswegs und geht in Ideokratien gerade in und direkt nach der Umbruchphase häufig deutlich darüber hinaus. Ein kennzeichnendes Merkmal des Ausgrenzungsmusters von Ideokratien ist, dass sie über eine ( vermeintliche ) Regimegegnerschaft hinaus aus ideologischer Sicht Feindgruppen bestimmen.66 Die Rassengesetzgebung der Nationalsozialisten schloss etwa Schritt für Schritt die Juden aus allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens aus.67 Von einer Autonomie der Gesellschaft kann also auch im NS- Regime trotz des ( zunächst ) weitgehend unbeeinflussten Alltagslebens der Deutschen nach Hitlers Machtantritt keine Rede sein. So verwehrte das NS Regime allen als Juden definierten Personen nicht nur den Zugang zu den Positionen im Staats - oder Parteiapparat, sondern nahm ihnen jegliche Betätigungsmöglichkeit, bevor es sie mit einem Heer von Helfern enteignete, vertrieb und schließlich ermordete. Auch das ideokratische NS - Regime konnte also jederzeit die Verfügungsgewalt über gesellschaftliche Positionen und Güter ausüben, wenn der NS - Elite dies aus ideologischen Gründen geboten schien. Das Beispiel macht auch nachdrücklich anschaulich, dass bei einer staatlichen Kontrolle der Verteilung der materiellen und immateriellen Lebenschancen eine Ausgrenzung durch das Regime immer zugleich lebensbedrohliche Unterdrückung ist. Ein hohes Maß an staatlicher Patronagemacht geht also immer mit einer sehr hohen Repressionsfähigkeit des Staats einher. Bauen wir uns, um dies zu illustrieren, im sozialwissenschaftlichen Sandkasten zwei Burgen mit grob simplifizierten Gesellschaften auf. In der autokratischen Gesellschaft A verfügt der Staat über die Möglichkeit, 20 Prozent aller Positionen in der Gesellschaft zu besetzen, darunter alle Leitungsfunktionen im Staatsapparat. So weit die Bürger auf die Erwerbsmöglichkeiten und die Karriereoptionen im Staatsdienst verzichten, können sie in einem nicht vom Staat „durchherrschten“ privatwirtschaftlichen Bereich ein gutes bis sehr gutes Auskommen haben. In der Gesellschaft B verfügt der Staat über die Möglichkeit, ausnahmslos alle Positionen und Güter zu verteilen. Durch die Alternativlosigkeit zum Erwerb von Gütern und Positionen der Personen, die vom Staat ausgeschlossen 66 Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a. M. 1955. 67 Vgl. Joseph Walk, Das Sonderrecht für die Juden im NS - Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien, Inhalt und Bedeutung, Heidelberg 1981.

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werden, ist die Nichteinbindung zugleich eine potenziell lebensbedrohliche und zumindest die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen stark einschränkende Repression. Besonders in Zeiten von Hungersnöten wie in Teilen der Sowjetunion 1921–1924 und 1932–1933, in der Volksrepublik China von 1959–1961 oder in Nordkorea in den 1990er Jahren kann der Ausschluss aus der Regimeeinbindung einem Todesurteil gleichkommen. Dabei kann das Instrument des Hungers sogar im Rahmen einer „Herrschaft durch Hunger“68 kalkuliert eingesetzt werden.69 Auch in Nicht - Hungerszeiten sind die Folgen des Fallens aus dem Geflecht der Fürsorge und der Gefälligkeiten des Regimes in Ideokratien erheblich. Während im NS - Regime als „Arier“ anerkannte Bürger bei politischer Indifferenz zumindest in den Friedensjahren von 1933 bis 1938 vergleichsweise wenig Angst vor Terror haben mussten, verstärkte in der Sowjetunion unter Stalin der stets drohende Ausschluss die Einbindung in das kommunistische Regime. So hatte fast jeder sowjetische Bürger in den 1920er und 1930er Jahren einen „Kulaken“ oder „Bourgeois“ auf seinen Familienfotos, der bei Bedarf auch gegen ihn verwendet werden konnte. Im Unterschied zum Nationalsozialismus ließ dabei der Sowjetkommunismus die Tür einen Spalt offen selbst für die erklärten Feinde. Sie mussten sich nur entschieden genug dem kommunistischen Regime zuwenden. Je größer der „dunkle Fleck“ eines Bürgers aus ideologischer Perspektive, desto stärker musste der Bürger seine Loyalität beweisen. Loyalität ist keineswegs nur erzwungen, sie ist aber eben auch keineswegs pauschal als freiwillige Gefolgschaft anzusehen.70 Je größer der Loyalitätsbeweis, desto größer die Verstrickung. Gerade die Verwicklung von Bürgern in staatliche Terrormaßnahmen, aber auch der banalere Einsatz von informellen Mitarbeitern der Staatssicherheitsdienste hat dabei eine recht starke Bindewirkung. Diese Bindewirkung zogen ideokratische Machthaber durchaus ins Kalkül. So sollte etwa im Bereich der Hochtechnologie die Tätigkeit für die Staatssicherheit politisch indifferenter Mitarbeiter ganz bewusst an den Staat binden.71

68 Giovanni Sartori, Totalitarismus, Modellmanie und Lernen aus Irrtümern. In : Eckhard Jesse ( Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden - Baden 1999, S. 572–589. 69 Vgl. u. a. Matthias Middell / Felix Wemheuer ( Hg.), Hunger, Ernährung und Rationierungssysteme unter dem Staatssozialismus (1917–2006), Frankfurt a. M. 2011; Felix Wemheuer, Steinnudeln. Ländliche Erinnerungen und staatliche Vergangenheitsbewältigung der „Großen Sprung“ - Hungersnot in der chinesischen Provinz Henan, Frankfurt a. M. 2007. 70 Vgl. Fitzpatrick / Lüdtke, Breaking, S. 281 f. 71 Vgl. Gerhard Barkleit, Anfällige Aufsteiger. Inoffizielle Mitarbeiter des Mfs in Betrieben der Hochtechnologie, Dresden 1998; Reinhard Buthmann, Kadersicherung im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena. Die Staatssicherheit und das Scheitern des Mikroelektronikprogramms, Berlin 1997.

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Mit Dolores Augustine lässt sich sagen, dass in solchen Fällen die geglückte Einbindung eines Bürgers in der Unterdrückung eines anderen mündete.72 Umgekehrt mündete aber eben auch die bewusste Beteiligung an der Unterdrückung des einen in der stärkeren Einbindung des Verstrickten. In der DDR soll der Kreis der auf diese Weise in das Regime Eingebundenen in der Endphase nahezu 189 000 Personen umfasst haben. Den meisten informellen Mitarbeitern ideokratischer Staatssicherheitsdienste dürfte dabei klar gewesen sein, dass bei einem Regimewechsel 1. die Tätigkeit bekannt werden und 2. das Bekanntwerden dieser Tätigkeit mit Nachteilen verbunden sein könnte. Je verwerflicher das Handeln außerhalb des politischen Regimes angesehen werden dürfte, desto stärker dürfte die Bindung an das Regime ausfallen. In dieser Hinsicht dürfte auch die Einbindung von Tausenden ganz normaler – vor allem männlicher – Bürger durch das NS - Regime in den Mord an den europäischen Juden wie in die Brutalisierung des Krieges vor allem im Osten auch eine regimestabilisierende Seite gehabt haben. Immer mehr Deutsche waren durch die in Kriegszeiten zwangsläufig starke Einbindung in das Regimehandeln versucht, Taten des NS - Regimes als gerechtfertigt anzusehen, um ihr eigenes Handeln nicht als moralisch verwerflich oder sogar verbrecherisch werten zu müssen. Mit dem Wissen um ( eigene ) Verbrechen wuchs zudem die Angst vor Rache im Falle einer Kriegsniederlage. Exklusion und Inklusion sind in Ideokratien häufig zwei Seiten einer Medaille. Das NS - Regime nutzte die Enteignung der Juden73 bewusst auch dazu, die übrige Bevölkerung durch Vorteilsnahme stärker einzubinden.74 Viele Bürger waren dabei höchst willig, Vorteile aus den Staatsverbrechen des Regimes einzustreichen. Die Erhöhung der Bindekraft des Regimes durch eine Umverteilung des Besitzes von ausgeschlossenen Opfern ist dabei im Nationalsozialismus trotz des weit geringeren Umfangs von Enteignungen als höher einzuschätzen als in den kommunistischen Regimen. Das liegt daran, dass die kommunistischen Regime schnell statt auf eine Umverteilung auf eine Monopolisierung von Eigentum beim Staat setzten. Das hohe Potenzial der Bindekraft durch Umverteilung zeigte sich somit nur während der Phasen der Umverteilung von Landbesitz von Großbauern auf Kleinbauern, die etwa in der Sowjetunion der Kollektivierung und Verstaatlichung der Landwirtschaft vorausging. Auch in Ostmitteleuropa waren zeitweilig Boden - „Geschenke“ das bedeutendste materielle Tauschmittel des Staats für die Loyalität auf dem Land.75

72 Dolores L. Augustine, The Power Question in GDR History. In : German Studies Review, 34 (2011), S. 633–652, hier 648. 73 Im Rahmen der „Reichsfluchtsteuer“ wurde bereits 1934 allen Juden verboten, mit mehr als zehn Reichsmark zu fliehen. Das Eigentum aller deutschen Juden, die nicht flohen, wurde durchweg in den folgenden Regimejahren enteignet. 74 Vgl. Wolfgang Dreßen ( Hg.), Betrifft : Aktion 3. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung, Berlin 1998. 75 Vgl. Tadeusz Janicki, Die Bodenreform in den „wiedergewonnenen Gebieten“ und in Großpolen (1945–1949). Vergleichende Überlegungen zur Loyalität der polnischen

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VIII. Konsequenzen und Trade - offs des Einbindungsmusters Gerade die große Fähigkeit zur Einbindung von Eliten in Einparteiautokratien gilt in der politikwissenschaftlichen Forschung als ein wesentlicher Erklärungsfaktor dafür, dass diese eine weit höhere durchschnittliche Überlebensdauer aufweisen als andere Autokratietypen wie personalistische Autokratien und Militärautokratien.76 So ist die UdSSR nach 74 Jahren untergegangen. Damit lag ihre Dauerhaftigkeit weit über der durchschnittlichen Dauerhaftigkeit aller politischen Regimetypen inklusive der Demokratien. Auch die Volksrepublik China hat eine weit überdurchschnittliche Regimedauer. Das wird auch dann nicht mehr widerlegt, wenn die verbliebenen kommunistischen Regime in naher Zukunft untergehen.77 Die bisherige wesentliche Begründungslinie für die größere Überlebensfähigkeit von Einparteiautokratien lautet, dass Parteien ein wichtiger Kanal seien, über die politische Regime ihre Anhänger in Form von materiellen und immateriellen Leistungen belohnen.78 Die in Einparteiautokratien vorherrschende formalisierte Form des Austauschs von Loyalität gegen Güter und Positionen mittels Patronagemacht gilt als deutlich effektiver als die informelle Einbindung über personalistische Netzwerke. Die neuere politikwissenschaftliche Autokratieforschung berücksichtigt aber unzureichend das in den vorherigen Abschnitten beschriebene ausgesprochen starke Einbindungspotenzial von kommunistischen Ideokratien, das sich aus der Monopolisierung der Verfügungsgewalt über Güter und Positionen ergibt. Ein hohes Maß an Einbindung von Eliten und Bevölkerung kann aufgrund von Kosten - Nutzen - Abwägung des Einzelnen zu einem fortgesetzten Stillhalten trotz größer werdender Zweifel an der Regimelegitimität führen. Das gilt in besonderem Maße für relativ stark in das politische Regime eingebundene Personen. So äußerte etwa ein kubanischer Ministeriumsangestellter : „My children were born in this apartment. And so was

Landbevölkerung. In : Zimmermann / Haslinger / Nigrin ( Hg.), Loyalitäten, S. 94–111; Michael Schwartz, Loyale „Umsiedler“ durch Bodenreform ? Gesellschaftliche Konflikte und politische Widersprüche in der SBZ / DDR. In : ebd., S. 47–69. 76 Vgl. Jason Brownlee, Authoritarianism in an Age of Democratization, Cambridge, 2007; Beatriz Magaloni, Voting for Autocracy. Hegemonic Party Survival and its Demise in Mexico, Cambridge, 2006; Benjamin B. Smith, Life of the Party. The Origins of Regime Breakdown and Persistence under Single - Party Rule. In : World Politics, 57 (2005) 3, S. 421–451; Milan Svolik, The Regime Party as an Instrument of Authoritarian Cooptation and Control, vorgetragen auf der IPSA - ECPR Joint Conference, Sao Paulo 2011. 77 Die durchschnittliche Überlebensdauer würde vielmehr nur dann noch sinken, wenn neue kommunistische Regime mit unterdurchschnittlicher Überlebensdauer neu entstehen und wieder vergehen. 78 Vgl. Jennifer Gandhi / Adam Przeworski, Cooperation, Cooptation, and Rebellion under Dictatorships. In : Economics and Politics, 18 (2006), S. 1–26; Jennifer Gandhi, Political Institutions under Dictatorship, Cambridge, 2008; Barbara Geddes, What Do We Know about Democratization after Twenty Years ? In : Annual Review of Political Science, 2 (1999), S. 115–144.

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my grandson. This is our home. But I know that someone in Miami has a claim on the building. Given my position in the government, we would be certain to be evicted if the regime were to change. We are in bad shape now, but that fate would be worse.“79 Gerade eine drohende „Vergangenheitsbewältigung“ kann also bei in ein Regime stark Eingebundenen einen Regimewechsel blockieren. Die Unausweichlichkeit der Einbindung in kommunistischen Ideokratien und vor allem eine zwangsweise Mobilisierung kann bei einem Teil der politisch eher indifferenten Bürger aber auch Widerwillen gegen das Regime erzeugen. Machthaber in Ideokratien streben normierte „Biographie[ n ] aus dem Baukasten“80 an. Die damit verbundene starke Beschränkung der individuellen Wahlmöglichkeiten vor allem bei Konsum und Freizeit ist nicht für alle politisch Indifferenten akzeptabel. Das gilt insbesondere für Teile der Jugendlichen.81 Mancher zählte etwa im Dritten Reich zu den Edelweiß - Piraten, der Swing Jugend oder den Kittelbach - Piraten schlicht deshalb, weil etwa die eigenen Musik - und Tanzvorlieben vom Regime aus ideologischen Gründen verfemt wurden. Auf diese Weise entstehen „Helden wider Willen“.82 Im nationalsozialistischen und faschistischen Regime empfand zumindest ein Teil der in Italien wie Deutschland zuvor auf eine unpolitische Grundhaltung verpflichteten Beamten die Totalpolitisierung ihrer Tätigkeit83 als Zumutung und war innerlich eher widerwillig loyal.84 Eine noch weit gewichtigere Kehrseite der allumfassenden Einbindung in kommunistischen Regimen ist, dass das kommunistische Regime im Unterschied zum nationalsozialistischen und faschistischen Regime auch für alle Mängel im privaten Bereich von der Arbeitssituation über die Wohnsituation bis hin zum Konsum verantwortlich gemacht wird. Durch die Verstaatlichung aller Produktionsmittel bringen sich die kommunistischen Ideokratien in eine keineswegs immer vorteilhafte Lage. Sie sind logischer Adressat jeglicher Unzufriedenheit mit der Güter - und Positionsverteilung in der Gesellschaft. Verteilungskämpfe können dadurch den Regimebestand gefährden. Die Überdehnung der Einbindung auf die gesamte Gesellschaft ist in einer zweiten Hinsicht die

79 Jorge I. Domínguez, Why the Cuban Regime has not Fallen. In : Irving Horowitz / Jaime Suchlicki ( Hg.), Cuban Communism, 1959–2003, New Brunswick 2003, S. 435–442, hier 436. 80 Ehrhart Neubert, Eine protestantische Revolution, Berlin 1990, S. 32–41. 81 Vgl. Alfons Kenkmann, Wilde Jugend. Lebenswelt großstädtischer Jugendlicher zwischen Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Währungsreform, Essen 1996. 82 Vgl. Kerstin Rathgeb, Helden wider Willen. Frankfurter Swing - Jugend – Verfolgung und Idealisierung, Frankfurt a. M. 2001. 83 So verpflichtete das NS - Regime die deutschen Beamten im Beamtengesetz von 1937 darauf, „Vollstrecker des Willens des von der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei getragenen Staates“ zu sein. Die Loylitätsverpflichtung ging auch weit über das in liberalen Demokratien übliche Maß hinaus. So wurde gegenüber dem „Führer“ „Treue bis in den Tod“ eingefordert. 84 Vgl. Maurizio Bach / Stefan Breuer, Faschismus als Bewegung und Regime. Italien und Deutschland im Vergleich, Wiesbaden 2010, S. 389.

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Achillesferse kommunistischer Ideokratien. Die größtmögliche Ausdehnung des Kreises der Eingebundenen geht zum Teil auf Kosten der Tiefe der Einbindung.85 Um dies zu verdeutlichen : Ein beliebtes Bindemittel ist in Autokratien eine verhältnismäßige Überbezahlung und sonstige Begünstigung des Kreises der Staatsbediensteten, vor allem von Soldaten und Polizisten. Wenn aber letztlich nahezu alle für den Staat arbeiten, kann eine Überbezahlung bestimmter Gruppen nicht mehr ohne Einbußen beim Grad der Einbindung anderer Gruppen eingesetzt werden. Diese Problematik zeigte sich etwa im Zuge des chinesischen Wirtschaftsaufschwungs, der zunächst nur einen privilegierten Kreis begünstigte und 1989 in den Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens mündete.86 Kommunistische Ideokratien haben in dieser Hinsicht im Vergleich zu allen anderen politischen Regimetypen ein spezifisches Problem : Die offizielle, am Ideal der sozialen Gleichheit aller Bürger ausgerichtete Ideologie lässt bereits ein auch in Demokratien übliches Maß der Begünstigung der Regierenden mit materiellen und immateriellen Gütern als illegitim erscheinen. Jegliche Privilegien der Regimeelite negieren nämlich die in kommunistischen Ideokratien propagierte Gleichheit und untergraben damit die ideologische Herrschaftslegitimation. Daher hielt etwa die DDR - Elite ihre Wohnverhältnisse in der Waldsiedlung „Wandlitz“ sorgsam vor der Bevölkerung geheim. Sie wusste um die Brisanz. Im November 1989 löste die erstmalige Berichterstattung im DDRFernsehen über die Wohnsiedlung tatsächlich einen Sturm der Entrüstung aus. Dieser beruhte auf banalen Dingen wie etwa einem privaten Schwimmbad. Ein Vergleich der Wohn - und Eigentumsverhältnisse von Erich Honecker und Michail Gorbatschow mit jenen von George Bush, Margaret Thatcher und Helmut Kohl, die zeitgleich westliche Demokratien regierten, zeigt impressionistisch, dass eine übermäßige materielle Begünstigung der herrschenden Elite kein typischer Mangel der kommunistischen Ideokratien ist. Das Dilemma zwischen einer zur Systemstabilisierung notwendigen Begünstigung der Gewinnerkoalition und der dadurch entstehenden Unterminierung des eigenen ideologischen Anspruchs führt aber immer wieder zu Auseinandersetzungen in kommunistischen Ideokratien. Der wohl heftigste Konflikt tobte in der VR China. Der grundlegende Konflikt zwischen der radikalen „Viererbande“ um – den erst zum Radikalen gewendeten, vorher zum Pragmatismus neigenden – Mao und den Pragmatikern um Liu Shaoqi und Deng Xiaoping in der VR China drehte sich nämlich nicht zuletzt um die Frage, wie die Antwort auf die Frage nach einer Begünstigung der Gewinnerkoalition ausfallen sollte. Mao sah jegliche Privilegien als verfolgungswürdige „Korruption“ an. Für die Pragmatiker waren dagegen Privilegien der Parteielite vollkommen in Ordnung 85 Zu Weite und Tiefe als zwei Dimensionen der Kooptation vgl. Maria Josua, Co - optation as a Strategy of Authoritarian Legitimation. Success and Failure in the Arab World, vorgetragen auf der 6th ECPR General Conference, 25th–27th Aug. 2011, Reykjavik, University of Iceland 2011. 86 Vgl. den Beitrag von Christian Göbel in diesem Band.

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Charakteristika der staatlichen Einbindung von Eliten

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und die kommunistische Partei sollte generell das Karriere - und Erwerbsstreben der Menschen in Rechnung stellen. Die nationalsozialistische und die faschistische Ideokratie hatten aufgrund ihres propagierten „Führerprinzips“ weit weniger ideologische Probleme mit einer materiellen und immateriellen Begünstigung der Gewinnerkoalition. Lediglich eine offene Korruption der „Goldfasane“, also der Parteifunktionäre, war nicht mit der Ideologie der „Volksgemeinschaft“ vereinbar. Persönliche Vorteilsnahme von Parteivertretern mit „Lametta - Heini“ ( so der Volksmund ) Hermann Göring an der Spitze duldete das NS - Regime allerdings durchaus. So erklärte Hitler Göring trotz aller Eskapaden 1941 zu seinem Nachfolger im Falle seines Todes.

IX.

Zusammenfassung

Ideokratien heben sich durch ihr Muster der Einbindung von Eliten und Bürgern von anderen politischen Regimetypen ab. Die Durchdringung der Gesellschaft durch Fürsorgemaßnahmen und Gefälligkeiten in Ideokratien sowie die daraus resultierende Einbindung der Bürger ist lange in ihrer Bedeutung für Ideokratien unterschätzt worden. Nicht zuletzt das Totalitarismuskonzept von Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski hat den Nachteil, dass es die unter dem Konzept zusammengefassten Regime in erster Linie als Räderwerke von ineinander greifenden Undrückungsmaßnahmen betrachtet.87 Der Wechsel der Perspektive hin zur Einbindung der Eliten und Bürger in Ideokratien hat den Vorteil, das mobilisierende und systemstabilisierende Potenzial der Konzentration der Verfügungsgewalt über Erwerbspositionen und Güter beim Staat in den Mittelpunkt zu stellen. Vor allem erscheint es nicht als bloß durch Repression erzwungen oder durch Ideologie „verführt“, wenn Bürger ideokratischen Regimen gegenüber mehr oder weniger loyal sind. Statt Unterdrückung und Gängelung rückt diese Perspektive das dominierende Alltagsgeflecht von Loyalitäten in den Ideokratien in den Mittelpunkt der Analyse.88 Zwischen dem Muster der Einbindung von Bürgern und Eliten im nationalsozialistischen und faschistischen Regime einerseits, den kommunistischen Regimen andererseits gibt es neben Gemeinsamkeiten auch wesentliche Unterschiede. Die Güter - und Postionsverteilung ist in den kommunistischen Regimen deutlich stärker monopolisiert und daher ist auch die Gesellschaft in stärkerem Maße „durchherrscht“. Nur in dem Maße, in dem ein kommunistischer Staat wie die Volksrepublik China den direkten Zugriff auf die Wirtschaft lockerte, gewannen auch in ihm Verfahren der Einbindung der nicht zur eigentlichen 87 Vgl. Friedrich, Totalitäre Diktatur; Carl J. Friedrich / Zbigniew Brzezinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge 1965. 88 Vgl. u. a. auch Zimmermann / Haslinger / Nigrin (Hg.), Loyalitäten; Robert Gellately, Backing Hitler. Consent and Coercion in Nazi Germany, Oxford 2001. 89 Vgl. dazu mit Blick auf die DDR den Beitrag von Udo Grashoff in diesem Band.

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Regimeelite gehörenden Gruppe der Unternehmer deutlich an Gewicht. In den sowjetkommunistischen Staaten waren sie kaum von Bedeutung.89 In kommunistischen Regimen führt der Weg in die Elite vielmehr in aller Regel über die Staatspartei. Im faschistischen und nationalsozialistischen Regime hat die Staatspartei eine deutlich geringere Bedeutung, personalistische Führer - GefolgschaftsBeziehungen dagegen eine deutlich größere Bedeutung als in kommunistischen Regimen.

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Nationalsozialistische und kommunistische Gewalt im Vergleich – Ein Beitrag zur Repression und Unterdrückung in Ideokratien Jerzy Maćków

I.

Desiderate der Gewaltforschung

Der Zusammenbruch des Kommunismus ( Sowjetsozialismus )1 hat durch die partielle Öffnung der Archive im „Osten“2 und den teilweisen Wegfall lieb gewonnener politischer Tabus im „Westen“ das Interesse der Sozialwissenschaften an politischer Gewalt beflügelt. Das Hauptaugenmerk liegt dabei nicht so sehr auf der Erklärung, sondern auf der Erfassung der politischen Gewalt im 20. Jahrhundert ( bzw. in der Gesamtgeschichte der Menschheit ).3 Die über wiegend statistisch und typologisch angelegte Forschung erschöpft sich gewöhnlich im Zuordnen eines furchtbaren Gewaltaktes zu einem „Typus“ des Massenmordes. Viele Autoren begeben sich in diesem Zusammenhang auf die Suche nach Genoziden.4 Der 1959 in Vergessenheit und Armut in New York verstorbene (nachdem er zuvor sieben Mal für den Friedensnobelpreis nominiert wurde ) polnisch - jüdische Völkerrechtler Rafał ( Raphael ) Lemkin wird nun wieder häufig bemüht.5 Er hatte 1943 im Auftrag seiner im Exil agierenden Regierung Kriterien für „ludobójstwo“ („Völkermord“) – bald von ihm mit „genocide“ ins 1 2 3

4 5

Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Hans - Henning Kortüm und PD Dr. habil. Alexander Straßner für die wertvollen Anmerkungen zu diesem Beitrag herzlich. Im postsowjetischen Raum und besonders in Russland ist der Zugang zu den Akten aus sowjetischer Zeit wieder eingeschränkt worden. Symptomatisch dafür : Rudolf J. Rummel, „Demozid“ – der befohlene Tod. Massenmorde im 20. Jahrhundert, Münster 2003. Mit dem bescheideneren Anspruch verfasst, lediglich ausgewählte Genozide auf der Grundlage von historischer Untersuchung zu analysieren, ist das ursprünglich 2007 bei Yale University Press erschienene Buch von Ben Kiernan, Erde und Blut. Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute, München 2009. Steven Pinker schließlich sucht in seinem eher auf Erkenntnissen und Annahmen der Psychologie basierenden Werk nach Ursachen für seinen umstrittenen Befund, die Gewalt sei im Laufe der Menschheitsgeschichte zurückgegangen. Auf Deutsch : ders., Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt a. M. 2011. Dazu etwa Boris Barth, Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte. Theorien. Kontroversen, München 2006, S. 25 f. Vgl. ebd., S. 14 f.; Rummel, „Demozid“, S. 30; Kiernan, Erde und Blut, S. 22.

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Englische übersetzt – erarbeitetet, die auch in die im Jahre 1948 verabschiedete UN- Konvention gegen den Völkermord eingingen. In diese Konvention wurde vor allem auf sowjetischen Druck hin ( und entgegen der ursprünglichen Intention Lemkins sowie anders als in den ersten Konventionsentwürfen vorgesehen ) ein im Völkerrecht bis heute geltendes, selektives Verständnis des Völkermords aufgenommen, das sich auf Vernichtung nationaler, ethnischer, rassischer oder religiöser Gruppen bezieht. Norman M. Naimark zeigt in seiner nüchtern - kompetenten Untersuchung über die von Josif Stalin durchgeführten Genozide6 auf, wie der sowjetische Parteichef es mit der Unterstützung einiger Staaten durchsetzte, dass die aus politischen bzw. ökonomischen Gründen begangenen Massenmorde nicht zu den Genoziden gerechnet wurden.7 Bereits im Jahre 1946 war dabei dem sowjetischen Autokraten von seinen demokratischen Kriegsalliierten geholfen worden. Während der Nürnberger Prozesse ließen sie nämlich die Anklage wegen des Katyn - Massakers fallen. Um die sowjetische Schuld an diesem Verbrechen zu verschleiern, hatte zuvor der sowjetische Ankläger gegen eine Wehrmacht - Einheit geklagt, wobei er ausdrücklich noch von „Völkermord“ sprach. Den Grund für den plötzlichen Sinneswandel der Ankläger stellte die Tatsache dar, dass sich bereits zu Beginn der Gerichtsverhandlungen die sowjetische Schuld unzweideutig abzuzeichnen begann. Wie damals hat auch heute die wissenschaftliche Diskussion über Völkermorde politische Hintergründe oder zumindest politische Bedeutung, besonders wenn es sich um Ereignisse handelt, die zu Klagen gegen die Täter berechtigen. Die wissenschaftliche Qualifizierung von bestimmten Massenmorden als Genozide erhöht die juristischen Chancen für Entschädigungsforderungen. Zudem prägt sie das Image von Ländern und Regierungen. Wie erwähnt, werden dabei Tabus gebrochen : Beispielsweise scheint die in der Bundesrepublik der 1980er Jahre noch heftig geführte Debatte über die „Vergleichbarkeit“ bzw. „Singularität“ des Holocaust mittlerweile längst im Sinne der seinerzeitigen Minderheit entschieden, die mittels eines Vergleichs mit anderen Massenmorden des 20. Jahrhunderts eine „Historisierung“ bzw. „Relativierung“ der vom „Dritten Reich“ vollbrachten „Endlösung“ intendierte. Die von Norman Davies beschriebene Enttabuisierung der kommunistischen Verbrechen nach 1989 half diesem „Revisionismus“ : „Wegen der unbestreitbar scheußlichen Verbrechen der Achsenmächte [...] hat [ der Konflikt mit den Nationalsozialisten ] [...] die starke Überzeugung in Großbritannien und Amerika geweckt, dass es ein gerechter Krieg war, der von den Alliierten fair geführt wurde [...]. Doch ein flüchtiger Blick auf die vollständige Liste der Schrecken [...] genügt, um zu zeigen, dass die Bilanz so einfach nicht ist. In vielen Punkten war die antifaschistische Koalition in nicht geringerem Umfang für widernatürliche Todesfälle verantwortlich [...]. Aus dem, was heute [...] bekannt ist, geht zweifelsohne hervor, 6 7

Vgl. Norman M. Naimark. Stalin und der Genozid, Berlin 2010. Vgl. ebd., S. 22–36, dort besonders 30 f.

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Nationalsozialistische und kommunistische Gewalt im Vergleich

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dass der [...] stalinistische Parteistaat als verbrecherisches Regime eingestuft werden muss“.8 Dieser Artikel profitiert von der in der Forschung zunehmend sachlichen Sicht des Kommunismus wie auch von jenen Untersuchungen, in denen die nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt deren typologischen Einordnung betrachtet werden. Als beispielhaft dafür kann das Werk des Historikers Timothy Snyder gelten, der die politischen Massenverbrechen der Jahre 1933 bis 1945 in den globalen politischen Kontext dieser Zeit fügt. Damit erarbeitet er sich eine supranationale Sichtweise, aus der heraus er die von den Kommunisten und Nationalsozialisten in dem von ihm „Bloodlands“ genannten Teil Europas ausgeübte Gewalt analysiert :9 „14 Millionen ist die ungefähre Zahl der Menschen, die vorsätzlich durch Massenmordkampagnen von NS - und Sowjetregime in den Bloodlands getötet wurden. Ich definiere die Bloodlands als Territorien, die zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen 1933 und 1945 unter deutscher und sowjetischer Armee und Polizeigewalt standen und den damit verbundenen Massenmorden unterworfen waren“.10 Sozialwissenschaften, die primär an der Erklärung des menschlichen Handelns interessiert sein sollten, werden nur dann vor der Überbewertung von Typologien und Statistiken geschützt, wenn sie sich das notwendige Minimum der historischen ( empirischen ) Kompetenz aneignen. Die typischen Schwächen der „statistischen Vorgehensweise“ der Gewaltforschung demonstriert Rudolf J. Rummel. Er entscheidet sich nicht für die Erweiterung des mittlerweile etablierten Terminus „Völkermord“ um die politischen Massenmorde, sondern verletzt das wissenschaftliche Sparsamkeitsprinzip („Ockhams Skalpell“), indem er einen neuen Begriff – „Demozid“ – kreiert. Es handelt sich dabei nach seiner Definition um alle „durch Regierungen“ intentional durchgeführten großen Tötungsarten : Genozide, „Politozide“, „Massenmorde“ und „Terror“.11 Der heuristische Nutzen einer solchen begrifflichen Neuschöpfung ist nichtig : Er besteht allein in der Neuetikettierung von Massenmorden, zumal der nicht einlösbare Anspruch, alle „Demozide“ des 20. Jahrhunderts zu erfassen, Sachfehler und Interpretationsschwächen nach sich zieht. Es ist hier kein Platz dafür, auch nur auf einige empirische Defizite der „Demozid“ - Untersuchung von Rummel einzugehen. Es sei lediglich ein einziges, dafür aber bezeichnendes Beispiel herangezogen. Rummel betrachtet die mittlerweile gut erforschten Stalin’schen Parteisäuberungen („purge of communists“) als den „Terror“ - Fall 8 Norman Davies, Die große Katastrophe. Europa im Krieg 1939 bis 1945, München 2006, S. 116. 9 In diesem Zusammenhang muss das Werk Timothy Snyders, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011 ( amerikanische Erstausgabe war 2010 erschienen ), genannt werden. 10 Snyder, Bloodlands, S. 417. 11 Rummel, „Demozid“, S. 29. Rummel unterteilt zudem die Täter in „Dekamegamörder“, „Megamörder“ und „vermutliche Megamörder“. Vgl. ebd.

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schlechthin und datiert sie auf die Jahre 1936 bis 1938.12 In der Tat fanden die Moskauer Schauprozesse gegen die alte Garde der Bolschewiki bereits 1936 statt, und die Verfolgung von Parteiangehörigen ging auch in den kommenden Jahren weiter. Trotzdem spielten sich die Ereignisse, die unter dem Namen „Großer Terror“ in die Geschichtsschreibung eingegangen sind, erst in den Jahren 1937/38 ab. Wichtiger und Rummel offenbar ebenso unbekannt ist jedoch die Tatsache, dass die Opfer des „Großen Terrors“ vor allem Bauern und nationale Minderheiten darstellten :13 Bei verschiedenen Nationalitätenaktionen erschoss das NKVD bis November 1938 247157 Sowjetbürger; insgesamt wurden beinahe 700 000 Menschen umgebracht.14 Es ist offensichtlich, dass der statistische Erfassungsanspruch schwerlich eingelöst werden kann, wenn die Daten nicht zuletzt bezüglich der Opferzahlen unvollständig bleiben.15 Vielleicht deshalb ist es nicht außergewöhnlich, dass man es in der Literatur mit den Ermordeten nicht so genau nimmt. Die Maßstäbe dafür wurden leider bereits mit dem seinerzeit viel beachteten „Schwarzbuch des Kommunismus“ gesetzt. In der Einleitung zu diesem Werk spricht der Mitherausgeber Stéphane Courtois von „beinahe“ 100 Mio. Todesopfern des Kommunismus.16 Auf dem Klappentext des Buches ist dagegen von „über 80 Millionen Toten“ die Rede. Die Autoren der vor einigen Jahren erschienenen, minutiös recherchierten Biographie Mao Tse - tungs, Jung Chang und Jon Halliday, schätzen wiederum die Zahl der von seinem Regime zu verantwortenden Todesopfer auf rund 70 Mio. Menschen.17 Würde man also die nur in diesen zwei Werken genannten Zahlen für bare Münze nehmen, müsste man ver12 Vgl. http ://www.hawaii.edu / powerkills / DBG.TAB2.1.GIF; 29. 12. 2012. 13 Viel zu nachsichtig ist bei der Bewertung der wissenschaftlichen Leistung Rummels Marek Jan Chodakiewicz : „Rummel [ beschrieb ] auf eine außergewöhnlich philogermanische und revisionistische Weise [...] die Geschicke der deutschen Zivilbevölkerung nach 1944; er sei aber trotzdem gelobt für die Konstruktion des Rahmens für Demozide, d. h. die durch den Staat aus politischen Gründen verübten Massenmorde“; ders., Pamięć wielkiej zbrodni : 75 rocznica ‚operacji polskiej‘ NKVD – ankieta historyczna [Erinnerung an das große Verbrechen. 75 Jahre der ‚polnischen Operation‘ des NKVD – eine Geschichtsbefragung ]. In : Arcana ( Kraków ), (2012) 106–107, S. 58–79, hier 63 [ Übersetzung J. M.]. 14 Vgl. Snyder, Bloodlands, S. 127, 413. 15 Sogar solch ein vermeintlich gut erforschtes Ereignis wie der NKVD - Mord an polnischen Gefangenen in Katyn im April - Mai 1940 bleibt bis heute teilweise unaufgeklärt. Zwar ist mittlerweile bekannt, dass der Massenmord nicht nur in Katyn, sondern auch in Twer ( Kalinin ), Charkiw, Kiew und Minsk verübt wurde. Aus politischen Gründen bleiben jedoch immer noch die Namen und das Schicksal von 3 870 der wahrscheinlich insgesamt 21768 Ermordeten unbekannt. Ebenso ungeklärt ist die Frage der möglichen Zusammenarbeit von NKVD und Gestapo. Vgl. dazu : Andrzej Przewoźnik / Jolanta Adamska, Katyń : zbrodnia, prawda, pamięć [ Katyń : Verbrechen, Wahrheit, Erinnerung],Warszawa 2010. 16 Vgl. Stéphane Courtois, Die Verbrechen des Kommunismus. In : ders. / Nicolas Werth / Jean-Louis Panné / Andrzej Paczkowski / Karel Bartosek / Jean-Louis Margolin, Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 1998, S. 11–43, hier 16. 17 Siehe Jung Chang / Jon Halliday, Mao. The Unknown Story, London 2005.

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zweifeln. Denn aus der Lektüre dieser jeweils in mehrere Sprachen übersetzten Bücher geht hervor, dass unter der kommunistischen Herrschaft außerhalb Chinas „nur“ 10 Mio. bzw. „nur“ 30 Mio. ( falls im „Schwarzbuch“ der Haupttext doch wichtiger als der Klappentext sein sollte ) Menschen umgebracht worden sind. Zieht man noch die von Rummel ermittelte Zahl von 110 Mio. Opfer von „Communist Democide 1900–1987“18 hinzu, ist die Verwirrung perfekt. Gewiss mögen solche „Ungenauigkeiten“ zum Teil darauf zurückgehen, dass sich die Forscher oft keine Mühe machen, zwischen Ermordung, Tötung und Sterben infolge von gezielt herbeigeführten schlechten Lebensbedingungen ( wie im Konzentrationslager ) zu unterscheiden. Ebenso muss die Tatsache in Betracht gezogen werden, dass die Statistik „parallele Identitäten“ der Opfer nicht zu berücksichtigen vermag. Sie können durchaus Staatsbürger, aber zugleich nicht Angehörige der im Staat hegemonialen Nation sein, was ja im Osten und Süden Europas bekanntlich viel häufiger als in Westeuropa der Fall ist. Es ist darüber hinaus nicht selten passiert, dass die Bauern, die in einigen Regionen Osteuropas keine ausgeprägte nationale Selbstidentifikation aufwiesen, zu Opfern der Gewaltmaßnahmen geworden sind, weil die Mörder besser als die Betroffenen selbst zu wissen glaubten, welchem „zu bestrafenden“ Volk sie zuzuordnen seien. Ähnliche Zuordnungsprobleme treffen selbstverständlich auf assimilierte Juden oder Roma zu. Darf der Forscher die Mörder für immer entscheiden lassen, welchem ethnischen Kollektiv das jeweilige Opfer angehört? Ist es zugleich vermeidbar, dass mehrere Staaten gleichzeitig – etwa Belarus, Israel, Polen, Russland, Sowjetunion, die Ukraine – im Nachhinein die Opfer in ihrem Sinne „nationalisieren“ ? Sogar der exzellent in dieser Problematik ausgewiesene Timothy Snyder19 kann sie im statistischen Zusammenhang nicht immer berücksichtigen.20 Die einseitige Fixierung auf Statistik und Typologie verführt dazu, diese wichtigen Probleme zu übersehen : Die Toten werden einfach zusammengerechnet und die Gewaltakte mit neuen Bezeichnungen versehen, während die Besonderheiten der Opfer und Gewaltmaßnahmen in verschiedenen Gesellschaftsordnungen und politischen Systemen unberücksichtigt bleiben. Das betrifft nicht zuletzt die sogenannte weiche – nicht den körperlichen Einsatz gegen die Opfer einschließende – Gewalt, die sich selbst in fragwürdigen Zahlen kaum ausdrücken lässt. Vergessen scheint mittlerweile, dass ausgerechnet die Verharmlosung der „weichen Gewalt“ bereits im Kalten Krieg wesentlich zur leider gängigen Verklärung des poststalinistischen Kommunismus als ein autoritäres bzw. „post totalitäres“ Modernisierungssystem beigetragen hatte. Um ähnlichen analytischen Fehldeutungen und Kurzschlüssen vorzubeugen, ist es einerseits angebracht, den statistischen Erfassungsanspruch bescheiden zu halten. Er soll auf die Fälle der Gewaltanwendung begrenzt bleiben, in denen 18 Zit. nach http ://www.hawaii.edu / powerkills / COM.TAB1.GIF; 29. 12. 2012. 19 Vgl. Snyder, Bloodlands, S. 408. 20 Vgl. ebd., etwa S. 417–422.

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die Datenlage es möglich macht, ihn zu erfüllen. Ansonsten muss man sich damit abfinden, dass die Opferzahlen, wie genau deren Schätzungen im Einzelfall auch ausfallen mögen, nur Orientierungsgrößen darstellen, die zu präzise ermittelten Zahlen nicht zu addieren sind. Andererseits kommt es darauf an, gerade die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung stärker auf die Beantwortung konkreter Fragestellungen und weniger auf die unausweichlich bruchstückhafte statistisch - typologische Erfassung von Opfern auszurichten. Nicht zuletzt die Ergebnisse der Holocaust - Forschung, der stets die Frage „Wie war es möglich“ ( und weniger : „Wie viele Opfer hat es gegeben ?“) zugrunde lag, zeigen die unzweideutigen Vorteile eines solchen analytischen Zugangs. Obwohl beispielsweise 1989 die Opfer - Zahlen der im Vernichtungslager Auschwitz Umgebrachten nach unten korrigiert wurden ( es wird heute nicht mehr von 3,0 Mio., sondern von 1,1 Mio. im Lager Ermordeten ausgegangen21), hat das die Ergebnisse der Holocaust - Forschung nicht in Frage gestellt. Für die Zwecke dieses Aufsatzes wurde angenommen, dass die von anderen Autoren ermittelten Opferzahlen stimmig sind, wenngleich hier weder die Methodik ihrer Erfassung durch den jeweiligen Autor berücksichtigt noch die Zahlen selbst verifiziert wurden. Deshalb fungieren sie eben als – unverzichtbare – Orientierungsgrößen beim Vergleich der analysierten Gewalttaten. Die Orientierung an der Erklärung empirischer Phänomene bedeutet – wie erwähnt – den Rückgriff auf die Ergebnisse der historischen Forschung, welche die konkreten Fälle der Gewalt darstellt und analysiert. Daraus können die Grundmuster der politischen Gewaltanwendung abgeleitet werden. Erst die Kenntnis dieser Grundmuster berechtigt zur Beantwortung von Forschungsfragen. In der Politikwissenschaft setzt diese Forschungsperspektive zusätzlich noch die Einbeziehung der systemischen Bedingungen der Gewalt voraus. Dabei dürfen die normativen Aspekte der Wissenschaft nicht ganz aus dem Blickfeld geraten, handelt es sich doch bei politischer Gewalt um einen Problembereich, dessen Kenntnis und Verständnis für Menschen eine größere Bedeutung hat als z. B. die Mäander der Wirtschaftsentwicklung diesen oder jenen Landes oder die Ergebnisse von Wahlen in demokratischen Systemen. Der normativen Komponente der Gewaltforschung wird man gerecht, wenn die Opfer zumindest latent selbst dann als der wichtigste Untersuchungsgegenstand präsent sind, wenn die Fragestellung eine auf andere Aspekte konzentrierte Ausrichtung des jeweiligen Forschungsvorhabens erfordert. Wenn etwa bei der Analyse von Massenmorden über die unterschiedliche Verantwortung der Täter wissenschaftlich zuweilen heikel gestritten wird, dürfen die Opfer trotzdem nicht nur als „Diskussionsanlass“ entsorgt werden. In diesem Artikel wird versucht, die unübersehbaren Unterschiede der Gewaltanwendung in jenen Systemen zu erklären, die mit gutem Grund „Ideokratien“ genannt werden können. Er beginnt mit der Begriffsbestimmung 21 Dazu Franciszek Piper, Die Zahl der Opfer von Auschwitz aufgrund der Quellen und der Erträge der Forschung 1945–1990, Oświęcim 1993.

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Nationalsozialistische und kommunistische Gewalt im Vergleich

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der Ideokratie ( der „Umma“) und der Formulierung der Fragestellung. Es folgen die Definitionen der politischen Gewalt und der politischen Gewaltsysteme sowie die Typologie der politischen Gewaltmaßnahmen. Nach einem Hinweis auf wesentliche Unterschiede der nationalsozialistischen und kommunistischen Ideologie wird die Repressivität des Nationalsozialismus der Unterdrückung im Sowjetsozialismus gegenübergestellt. Vor dem Hintergrund dieses Vergleiches wird unter Bezugnahme auf Werke Zygmunt Baumans und Ausführungen Jörg Baberowskis auf die Zusammenhänge von Moderne, Modernisierung und Gewalt eingegangen. Anschließend werden ideologische, kulturelle und systemische Faktoren genannt, die nationalsozialistische Massenmorde zu erklären helfen. Es folgen Überlegungen über die Dynamik von Repression und Unterdrückung im kommunistischen Totalitarismus nach 1953, wobei die Zusammenhänge von politischer Gewalt und Systemeffizienz im Mittelpunkt der Analyse stehen. Abgeschlossen wird der Artikel mit einem Fazit, in dem die Fragestellung knapp beantwortet wird.

II.

Gewalt in Ideokratien

Ernest Gellner definierte Ideokratie unter Rückgriff auf den aus dem Islam bekannten Begriff der „Umma“ : Sie stelle „eine Gemeinschaft“ dar, die „auf dem gemeinsamen Glauben und der Durchsetzung seines Rechts beruht“.22 Der Glaube ist bekanntlich nicht hinterfragbar, d. h. er drückt einen absoluten, rational nicht verifizierbaren Wahrheitsanspruch aus. Für die „Durchsetzung seines Rechts“23 – d. h. für die Implementierung religiöser Gebote, moralischer Normen bzw. sonstiger Handlungsanweisungen – ist nicht zuletzt das politische System zuständig, das in den Dienst der Umma gestellt wird. Um es unmissverständlich auszudrücken : Gemäß diesem Verständnis bezeichnet die „Ideokratie“ keinen Typus politischer Systeme, der in die Herrschaftsformenlehre aufgenommen werden sollte. Der Begriff bezieht sich hingegen auf den spezifischen Charakter der politischen Gemeinschaft, die von einer Ideologie ( vom „Glauben“ bei Gellner ) geprägt wird, und zwar mit Hilfe des dieser Ideologie verpflichteten politischen Systems. Der Nutzen des Konzepts der als Umma verstandenen Ideokratie ist offensichtlich. Es entzieht der weit verbreiteten Unterstellung den Boden, alle politischen Systeme seien „genauso“ ideologisch geprägt wie z. B. der Totalitarismus. Es regt deshalb dazu an, die an die politischen Systeme „gebundenen“ Ideologien ebenso differenziert zu betrachten wie die ideologische Durchdringung der Gesellschaft ( gewissermaßen die Ausbreitung der Umma in der betroffenen 22 Ernest Gellner, Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen, Stuttgart 1995, S. 35. 23 Roger Griffin spricht in diesem Zusammenhang von „nomos“ („total world view and ‚law‘“). Siehe ders., Legitimizing Role of Palingenetic Myth in Ideocracies. In : Totalitarismus und Demokratie, 9 (2012) 1, S. 41–58, hier 47.

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Gesellschaft ). Aus nachvollziehbaren Gründen werden in diesem Zusammenhang der Kommunismus und der Nationalsozialismus am häufigsten analysiert. Die Ideokratien weisen ein breites Spektrum von Staatsformen24 auf : Beispiele ideokratischer Gottesstaaten und Monarchien, religiöser sowie säkularer Republiken liefert die Geschichte zur Genüge. Was wiederum die modernen, der Umma dienenden Herrschaftsformen angeht, so erfordert der Schutz des Glaubens und „seines Rechts“ einen gewissen Grad an politischem Monismus. Deshalb taugen von der klassischen Trias der Herrschaftssysteme nur zwei dazu, das „Recht“ der Umma durchzusetzen : der Totalitarismus und der Autoritarismus. Dabei stellt der Totalitarismus immer eine Ideokratie dar, während sich der Autoritarismus auch ohne den ideologischen Monismus sehr gut behaupten kann. Die moderne pluralistische Demokratie, die auf dem Verfahrenskonsens, Streit und Kompromiss aufbaut, steht der Ideokratie dagegen gar nicht zur Verfügung. Obwohl sie wie jedes politische System auch über ihre ( meist wissenschaftlichen ) Kaplane verfügt, kann sie „bestenfalls“ temporär einen messianischen Anspruch reklamieren. Für nicht - demokratische politische Ordnungen ist Gewalt immer von großer Bedeutung, obwohl sie nicht immer exzessiv benutzt wird. Auch in Ideokratien folgt die Gewaltanwendung keinem einheitlichen Muster, was hier mit zwei Beispielen verdeutlicht werden soll, die sich auf die Landwirtschaft im Nationalsozialismus und Kommunismus beziehen. Das erste Beispiel : Während des Zweiten Weltkriegs arbeiteten in Deutschland mehrere Millionen Zwangsarbeiter, ein beträchtlicher Teil davon in der Landwirtschaft.25 Die meisten kamen aus den vom „Dritten Reich“ eroberten slawischen Ländern. Dort gab es verschiedene „Rekrutierungswege“ für die „Arbeit im Reich“. Einer davon wurde seit Frühling 1943 in belarussischen Dörfern oft praktiziert : Die arbeitsfähigen Männer wurden zur Arbeit nach Deutschland deportiert, während ihre „überflüssigen“ Frauen und Kinder von deutschen Polizisten und Soldaten erschossen wurden.26 Im „Reich“ waren die Zwangsarbeiter der Willkür der Bauern, auf deren Höfen sie „Knechte“ waren, ausgesetzt.27 Das zweite Beispiel : Während der sowjetischen „Kollektivierung“28 der Landwirtschaft (1928 bis 1932) trat im August 1932 das Gesetz „Über die 24 Es gibt auch nicht - staatliche Ideokratien – etwa auf kommunaler Ebene oder bei Sekten. 25 Gegen Ende 1944 gab es allein im landwirtschaftlichen Bereich über 700 000 „Ostarbeiter“. Vgl. Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, 2. Auflage Bonn 1986, S. 271. 26 Vgl. Snyder, Bloodlands, S. 254 f. 27 Vereinzelt wurde auch von erstaunlich anmutenden Fällen einer – von der Gestapo bekämpften – anständigen Behandlung der Sklavenarbeiter berichtet. Jens Binner, „Ostarbeiter“ und Deutsche im Zweiten Weltkrieg, München 2008, S. 183–209; John J. Delaney, Rassistische gegen traditionelle Werte. In : Andreas Heusler / Mark Spoerer / Helmuth Trischler ( Hg.), Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“, München 2010, S. 163–178. 28 In der kommunistischen „Neusprache“ wurde mit diesem Begriff die Verstaatlichung der privaten Bauernhöfe umschrieben.

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Unterschlagung des sozialistischen Eigentums“ ( im Volksmund „Fünf - Ähren Dekret“) in Kraft, das es möglich machte, die Landwirte, welche in der von Stalin künstlich herbeigeführten Hungersnot zum Überleben benötigte Lebensmittel vor staatlicher Zwangsrequisition versteckten bzw. entwendeten, umgehend mit dem Tod zu bestrafen.29 Die folgenden Zahlen geben über das Ausmaß der vom sowjetischen Staat in der Kollektivierung angewandten Gewalt Aufschluss : „[Im Jahre 1931] waren unter ( grob geschätzt ) 25 Mio. Haushalten [ auf dem sowjetischen Land ] 13 Mio. kollektiviert. Im Jahre 1937 [ hingegen ] waren bereits 18,5 Mio. Haushalte kollektiviert, aber die Gesamtzahl der Haushalte schrumpfte auf 19,9 Mio. 5,7 Mio. Haushalte, d. h. wahrscheinlich 15 Mio. Menschen, wurden deportiert, viele von ihnen starben“.30 Sowohl der Nationalsozialismus als auch der Kommunismus werden oft in merkwürdiger Übereinstimmung als „totalitäre Systeme“ klassifiziert, obwohl die Unterschiede zwischen ihnen eklatant und von der Forschung längst erkannt worden sind. Dies betrifft auch ihre jeweilige Gewaltanwendung. Nicht nur im landwirtschaftlichen Bereich gehörten die meisten Opfer des Nationalsozialismus den klar definierten Feinden und Unterworfenen des „Dritten Reiches“ an. Die kommunistischen Ideokratien wandten ( wenden ) hingegen ihre Gewalt vor allem gegen die eigenen Untertanen an. Es stellt sich die Frage, ob und inwiefern diese unterschiedliche Gewaltanwendung im „Glauben“ ( fortan synonym mit „Ideologie“, „Idee“, „Schrift“, „Wort“) der jeweiligen Ideokratie begründet ist. Um dieser Frage nachzugehen, ist es zunächst notwendig, politische Gewalt und ihre Formen zu definieren.

III.

Politische Gewalt und ihr Kulturkontext

Die politische Gewalt wird in der Literatur erstaunlicherweise manchmal entweder gar nicht31 oder nur vordergründig reflektiert. Im Titel eines Literaturberichts von Jennifer Earl – „Political Repression : Iron Fist, Velvet Gloves, and Diffuse Control“32 – kommen zwei typische Vorgehensweisen zum Ausdruck. Zum einen wird eine Unterart der politischen Gewalt – die Repression – mit

29 Vgl. Simon Sebag Montefiore, Stalin. The Court of the Red Tsar, London 2003, S. 87 (Übersetzung J. M.). 30 Ebd. Ähnliches geschah im kommunistischen China, wo während des „Großen Sprungs“ 1958–1961 in der Provinz Henan den kollektivierten Bauern das Essen ausschließlich an ihrem Arbeitsplatz ausgegeben wurde. Sie wurden zudem nicht mit ihren Namen, sondern mit großen Nummern identifiziert, die sie auf dem Rücken ihrer Kleider tragen mussten. Chang / Halliday, Mao, S. 452 f. 31 So leider grundsätzlich auch bei Pinker, Gewalt, und Rummel, Demozid. 32 Jennifer Earl, Political Repression : Iron Fist, Velvet Gloves, and Diffuse Control. In : Annual Review of Sociology, 37 (2011), S. 261–274, hier 262. Trotzdem bietet dieser Aufsatz einen guten Überblick über die Schwerpunkte der gegenwärtigen „Repressionsforschung“.

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dem Phänomen selbst gleichgesetzt.33 Zum anderen tritt die bereits im Titel angekündigte Typologisierung „der Repression“ an die Stelle der im Text ausgebliebenen Reflexion über die unterschiedlichen systemischen Zusammenhänge und Ursachen der Gewalt.34 In zahlreichen Veröffentlichungen wird sogar über die Komplexität der politischen Gewaltanwendung, die doch immer einen Nexus von Handlungen darstellt, hinweggesehen. Vor diesem Hintergrund erscheint das ohnehin skeptische Urteil Vittorio Bufacchis, der Großteil der Publikationen zur politischen Gewalt „at best [...] remind us of the complexity of violence, they don’t help us to understand it“,35 noch als zu wohlwollend. Das bestenfalls rudimentäre Verständnis dieser Komplexität führt oft zu einer Leichtgläubigkeit gegenüber der von Machthabern erklärten Zielsetzung der Gewalt : Die ominöse „politische Stabilität“ wird in diesem Zusammenhang wohl am häufigsten bemüht, als würden sich die Herrschenden prinzipiell immer um das Gemeinwohl und nicht um eigene Interessen Sorgen machen. Man glaubt zudem nicht selten, vom sichtbaren Ergebnis der Gewalt auf die Intention der Machthaber schließen zu können, als wären sie nie dazu fähig, ihre wahren Absichten zu verbergen. Ausschließlich die Beschäftigung mit vielschichtigen Abläufen der Gewaltprozesse kann solchen Kurzschlüssen vorbeugen, was Detlev J. K. Peukert mit seinem Postulat einer umfassenden Analyse des Holocaust nachdrücklich anmahnte : „um die Ermöglichung der ‚Endlösung‘ zu erklären, bedarf es der strukturgeschichtlichen Analyse der Herrschaftsapparate [...]. Zudem bedarf es noch einer alltagsgeschichtlichen Analyse der Erfahrungshorizonte der am arbeitsteiligen Prozess der Stigmatisierung, Verfolgung, Internierung, Deportation und schließlich Vernichtung beteiligten Täter, Mittäter, Zeugen und Opfer, um nachvollziehen zu können, wieso millionenfacher Mord ‚machbar‘ war“.36 Um sich der Komplexität der politischen Gewalt begrifflich anzunähern,37 ist es hilfreich, ihre Definition mit den jeder Gewalt innewohnenden Sequenzen bzw. Dimensionen zu beginnen. Es sind vier : das Subjekt ( der Urheber ), die 33 Christian Davenport definiert „das repressive Handeln“ wiederum als eine Form des Zwanges („coercion“), die auf Drohung und Einschüchterung basiere. Vgl. ders., State Repression and Political Order. In : Annual Review of Political Science, 10 (2007), S. 1–23, hier 2. 34 Jennifer Earl definiert im Einklang mit „Allen“ die „Repression“ tautologisch als „repressive Aktionen gegen Einzelne und Gruppen“, die ein Partizipationspotenzial außerhalb der offiziellen Strukturen haben. Vgl. Earl, Political Repression, S. 262. 35 Vittorio Bufacchi, Two Concepts of Violence. In : Political Studies Review, 3 (2005), S. 193–204, hier 194. 36 Detlev J. K. Peukert, Rassismus und ‚Endlösungs‘ - Utopie. Thesen zur Entwicklung und Struktur der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. In : Christoph Kleßmann ( Hg.), Nicht nur Hitlers Krieg. Der Zweite Weltkrieg und die Deutschen, Düsseldorf 1989, S. 71–82, hier 77. 37 Bei der Definierung der politischen Gewalt muss zunächst zwischen der Regierungs und der „bottom - up“ - Gewalt unterschieden werden. Die zweite Kategorie, zu der etwa Angriffe von Demonstranten auf Polizisten oder terroristische Akte gehören, interessiert hier nicht.

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Einwirkung ( der destruktive „Schlag“), das Objekt und die zerstörerische Auswirkung ( die „Zerstörung“). Wird diese Sequenz auf Regierungsgewalt übertragen, so gleicht der Urheber dem Machthaber mit seinen Intentionen und Zielsetzungen, der „Schlag“ der Gewaltmaßnahme bzw. Gewaltstruktur, das Objekt dem Opfer ( Person, Gruppe, Schicht oder Gesellschaft schlechthin ), und die zerstörerischen Folgen betreffen die körperliche wie auch seelische Integrität der Opfer. Es versteht sich von selbst, dass jede dieser Sequenzen in einem spezifischen, die Vorgänge zuweilen entscheidend prägenden Umfeld abläuft. Vor diesem Hintergrund kann die politische Gewalt als jene von Machthabern angewendete oder gestützte Maßnahme definiert werden, welche die körperliche bzw. seelische Unversehrtheit der Menschen verletzt.38 Dabei tangiert der Gewaltcharakter des politischen Regimes seine Legitimität nicht unbedingt. Mit anderen Worten : Politische Gewaltsysteme können durchaus als legitim gelten.39 Von den anderen politischen Regimen, die ja auch letztlich auf Gewalt basieren,40 unterscheidet sie die Willkür der politischen Gewaltanwendung.41 Die Willkür der politischen Gewalt schlechthin gibt es entsprechend der hier vorgeschlagenen Definition nicht. Sie hat zwei Dimensionen : Opferbestimmung und ( oder ) Wahl der Gewaltmaßnahmen. Die Feststellung, ob eines oder beide Elemente vorliegen, stellt eine wichtige, häufig vernachlässigte Aufgabe der Gewaltforschung dar, in der manchmal jede staatliche Gewaltanwendung als „Repression“ apostrophiert wird. Die Willkür ist analytisch schwer fassbar. Denn jede selbstbestimmte menschliche Handlung dürfte grundsätzlich als willkürlich gelten, zumal das Phänomen viele Abstufungen („Gradation der Willkür“) kennt. Der Analytiker muss deshalb angemessene Kriterien der Willkür selbst bestimmen. Es wird hier davon ausgegangen, dass dazu einerseits das Recht und die Rechtstaatlichkeit gerechnet sein sollen, weil sie in modernen Gesellschaften dem Handeln der Regierenden am entschiedensten Schranken zu setzen vermögen. Andererseits dürfen universale Normen der Moral als Kriterien nicht vergessen werden, die im Konfliktfall wichtiger sind als jedes positive Recht. Beide müssen allerdings im jeweiligen kulturellen Kontext der Gewalt – meist handelt es sich um den nationalen Kulturkontext – der untersuchten Gesellschaft betrachtet werden. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die im nationalen Bewusstsein und in der politischen Kultur dominan38 „Verletzen“ im breiten Sinne wie im Englischen „to violate“. Die zwei wichtigsten Aspekte der in der Literatur vorherrschenden Gewaltkonzepte – Gewalt als Kraftanwendung oder eben als Verletzung – analysiert vorzüglich Bufacchi, Two Concepts. 39 Die Frage, ob ein rechtmäßiges ( im Sinne der Legalität ) Gewaltsystem möglich ist, kann nur entsprechend dem in der betroffenen Gesellschaft vorherrschenden Verständnis der Legalität beantwortet werden. 40 Diese jedem politischen Regime zugrunde liegende Gewalt kann „ursprüngliche Staatsgewalt“ bzw. „ursprüngliche politische Gewalt“ genannt werden. 41 Wohlbemerkt : die Rede ist hier vom politischen Gewaltsystem. Eine Despotie, deren Kennzeichen generell die Beliebigkeit der Herrschaftsausübung darstellt, muss nicht unbedingt auf willkürliche Gewalt zurückgreifen.

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ten Überzeugungen, Vorstellungen, Einstellungen und Erwartungen, die politische Gewaltmaßnahmen erleichtern oder verhindern können. Der Kulturkontext der Gewalt setzt sich folglich aus kognitiven und affektiven Mustern42 zusammen, die in einer Nation überwiegen. Eine Modifikation dieses Kontextes in modernen Massengesellschaften ist mittels einer geschickten politischen Manipulation möglich. Dies geschieht, indem die bevorzugten Muster etwa in der Propaganda bzw. in der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung verdeutlicht werden, während die ungewollten ins Hintertreffen geraten. Im Gegensatz zur Modifikation ist eine schnelle politische Kreation des nationalen Kulturkontextes nicht möglich, weil seine Muster in der langjährigen kollektiven Verarbeitung der historischen „Erfahrungen der Nation“ durch „oral history“, „nationale“ Kunst und Geschichtsschreibung entstehen. Von daher zeichnet sich der nationale Kulturkontext trotz aller Elastizität an der Oberfläche des politischen Alltags grundsätzlich durch Trägheit aus. Aus ihm „schöpfen“ die Regierenden, um ihre Gewalt zu ermöglichen oder zu rechtfertigen. Wie die Muster des Kulturkontextes mittels der Relativierung von rechtsstaatlichen und moralischen Normen die willkürliche Gewaltausübung ermöglichen, kann hier am Beispiel der nationalsozialistischen Diskriminierung der Juden in den Jahren 1935 bis 1941 kurz skizziert werden. Da vielen antijüdischen Maßnahmen dieser Zeit die Nürnberger Gesetze vom September 1935 zugrunde lagen,43 könnte doch argumentiert werden, dass es sich dabei nicht um Willkür und beim Nationalsozialismus nicht um ein Gewaltsystem gehandelt habe. Dem ist zunächst zu entgegnen, dass die Nürnberger Gesetze eine unbegründete rechtliche Diskriminierung einer ethnischen Gruppe darstellten, was im Westen seit der Aufklärung der eklatanten Verletzung von moralischen Prinzipien gleichkommt. Zu dieser willkürlichen Diskriminierung der Juden ist es gekommen, weil die Nationalsozialisten auf zumindest vier Muster des besagten kulturellen Kontextes zurückgreifen konnten. Erstens : Sie nutzten die in der deutschen Rechtskultur traditionell starke „Nachfrage nach Recht“ ( demand for law )44 aus, die allen legalistischen Maßnahmen gleichsam automatisch den Nimbus der Legitimität verleiht. Obwohl die politische Opposition verboten und der Verfassungs - und Rechtsstaat beschädigt war, wurden folglich die Nürnberger Gesetze für rechtens gehalten. Zum zweiten bedienten sie sich der irrationalen Vorstellung von der Nation als einer blutsverwandten Gemeinschaft, die als Prinzip ius sanguinis die deut-

42 Dass affektive Muster zur Kultur gerechnet werden, stellt zugegebenermaßen eine Verkürzung dar, die sich in der Literatur freilich eingespielt hat. 43 Die rechtliche Diskriminierung der Juden begann bekanntlich bereits 1933. 44 Mit dem Konzept des „demand for law“ wird in der Literatur die Bindung der Gesellschaft an die geltenden Rechtsnormen angesprochen. Je stärker die gesellschaftliche Nachfrage nach Recht, desto willkürlicher erscheinen gesetzwidrige Gewalthandlungen des Staates. Zu unterschiedlichen Konzepten der Rechtskultur, darunter den Begriffen „demand for law“ und „supply for law“, siehe Roger Cotterrel, The Concept of Legal Culture. In : David Nelken ( Hg.), Comparing Legal Cultures, Aldershot 1997, S. 13–39.

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sche Rechtstradition bis heute entscheidend prägt.45 Ohne die Hoffnung erwecken zu wollen, dass komplizierte Fragen wie Nationszugehörigkeit mit Hilfe eines anderen einzigen Prinzips ein für allemal und dazu noch juristisch zufriedenstellend geregelt werden können, sei hier darauf hingewiesen, dass die Tradition der uneingeschränkten Bejahung von ius sanguinis ( wie im geflügelten Wort : „Deutsch nur durch Geburt, Franke nur durch Gottes Gnade“) die Bestimmung über die angeblich am Anteil „des Blutes“ zu erkennende „rassische Qualität“ der Menschen ungemein erleichterte. Die messerscharfe Unterscheidung zwischen den „Ariern“ einerseits und den „Juden“ sowie „Mischlingen“ andererseits erschien denkbar einfach.46 Als Juden wurden Menschen definiert, die drei oder mehr „vollständige rassische Juden“ als Großeltern hatten. Als „weniger minderwertig“ galten wiederum die „Mischlinge“, die in diejenigen des „ersten Grades“ ( zwei Großeltern ) sowie die des „zweiten Grades“ ( eine Großelternperson ) eingeteilt wurden. Dabei wurden die „Mischlinge ersten Grades“ den „Juden“ zugerechnet, wenn ihr „nicht - jüdisches Blut“ von den slawischen „Untermenschen“ stammte.47 Die kognitive Unbedarftheit dieser Regelungen, bei denen es sich um einen hastig zustande gebrachten Kompromiss handelte, an dessen Zustandekommen Hitler übrigens kaum einen Anteil hatte48 ( ob das der „Qualität“ der Nürnberger Gesetze abträglich war, steht auf einem anderen Blatt ), hatte u. a. zur Folge, dass nicht wenige Menschen außerhalb Deutschlands erst nach der Eroberung ihre Länder, in denen das Prinzip ius sanguinis kein Gegenstand intellektueller Huldigung war, durch das „Dritte Reich“ erfuhren, sie „seien“ Juden.49 Zum dritten halfen die verbreiteten traditionellen antisemitischen Vorstellungen dem Regime. Der deutsche Antisemitismus wurde u. a. im „Judenboykott“ von Anfang April 1933 und in – illegalen, aber vom Regime geförderten – Pogromen der „Reichskristallnacht“ vom 8. November 1938 für alle sichtbar, wenngleich die Nationalsozialisten speziell über die Wirkung der „Reichskristall45 Dieses Prinzip hatte rechtlich bereits im Wilhelminischen Kaiserreich gegolten – zur Bestimmung der Nationsangehörigen. Es fand auch bei der Aufnahme einiger Bürger der durch das Dritte Reich eroberten Staaten in die „deutsche Volksgemeinschaft“ mittels „Volkslisten“ Anwendung. In diesem Zusammenhang ist die Lektüre des von Ryszard Kaczmarek verfassten Buchs über die in der Wehrmacht dienenden Polen sehr aufschlussreich. Siehe dazu ders., Polacy w Wehrmachcie [ Die Polen in der Wehrmacht], Kraków 2010, S. 53 ff. Das gleiche Prinzip macht sich im Staatsbürgerschaftsparagraphen des Grundgesetzes (116) bemerkbar. Es zeugt von kultureller Kontinuität, dass die Behörden der Bundesrepublik sich bei der Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft an die „Aussiedler“ oft auf die im „Dritten Reich“ erstellten „Volkslisten“ stützen. 46 Dass sehr viele Juden nicht zuletzt wegen ihres freiwilligen Wehrdienstes im Ersten Weltkrieg eine bessere Berechtigung als viele „arische“ Deutsche hatten, sich als Deutsche zu empfinden, ist vor dem Hintergrund von ius sanguinis ebenso irrelevant wie die Tatsache, dass Marlene Dietrich oder Wernher von Braun Amerikaner werden konnten. 47 Vgl. Gunnar S. Paulsson, Secret City. The Hidden Jews in Warsaw, 1940–1945, New Haven 2002, S. X. 48 Dazu Ian Kershaw, Der NS - Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, 4. Auflage Hamburg 2009, S. 168–170. 49 Vgl. Paulsson, Secret City, S. X.

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nacht“ enttäuscht waren. Dieser – nicht exterminatorische – Antisemitismus war in der Weimarer Republik nicht stärker ausgeprägt gewesen als in vielen anderen europäischen Ländern. Es wird angenommen, dass die Deutschen damals weniger Abneigung gegen Juden als die Franzosen gezeigt haben.50 Nichtsdestotrotz verbanden vom christlichen Glauben sowie sozialen Neid gefärbte dumpfe Vorstellungen über „die Juden“ zweifellos die nationalsozialistische Bewegung mit dem Großteil der Gesellschaft, was die Diskriminierung von Juden sehr begünstigte. Viertens muss auch die Popularität der scheinbar wissenschaftlichen Rassenlehre wie auch – worauf hier noch später eingegangen wird – der modernen „Euthanasie - Wissenschaft“ in den deutschen Eliten unbedingt erwähnt werden. Die Verstöße gegen die Normen und Gebote der Moral und Rationalität, die in den Nürnberger Gesetzen festgeschrieben wurden, belegen zwar den willkürlichen Charakter dieses „Rechtswerks“. Der historisch gewachsene Kulturkontext ließ jedoch die antijüdischen Maßnahmen in den Augen der „deutschen Volksgemeinschaft“ als legal, legitim und moralisch vertretbar, d. h. nicht willkürlich erscheinen. Vorsichtshalber sei hier noch die Banalität erwähnt, dass antidemokratische Stimmungen, Scheinheiligkeit und kognitive Unbedarftheit zu bestimmten Zeiten selbst in Massengesellschaften mit etablierter demokratischer Politik Oberhand gewinnen können, wofür es keineswegs ausschließlich in der Geschichte der Bundesrepublik genügend Beispiele gibt. Trotzdem haben die oben skizzierten Kulturmuster nicht zufällig im spezifischen innenpolitischen, gesellschaftlichen und internationalen Zusammenhang Deutschlands der 1930er Jahre verheerende, gewaltfördernde Wirkung entfalten können.

IV.

Unterdrückung, Repression und Typologie politischer Gewaltmaßnahmen

Unabhängig von ihrem jeweils spezifischen gesellschaftlichen Kulturkontext hat die politische Gewalt zwei Grundformen : Repression („Verfolgung“) und Unterdrückung. Repressive Maßnahmen ( Repressalien ) werden gezielt gegen politische Gegner der Regierenden eingesetzt. Die Repression stellt insofern grundsätzlich eine gezielte herrschaftliche Reaktion auf den Schaden dar, den in den Augen der Machthaber ihre politischen Gegner anrichten. Sie kann aber darüber hinaus vorbeugend eingesetzt werden. Demgegenüber stellt die Unterdrückung ungezielte ( breit gestreute ), manchmal sich auf ganze Gesellschaften erstreckende politische Gewalt dar, die für gewöhnlich präventiven Charakter hat. In der Forschungspraxis ist die eindeutige Trennung von Repression und Unterdrückung oft kaum möglich, was mit dem folgenden Bericht über die von Generalissimus ( Caudillo ) Francesco Franco während des Spanischen Bürger50 Vgl. Zygmunt Bauman, Modernity and the Holocaust, Cambridge 1989, S. 31 f.

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krieges 1936–1939 eingesetzte Repression verdeutlicht werden soll : „Contrary to the sycophantic myth of a tireless and merciful Caudillo agonizing late into the night over death sentences, the reality was more prosaically brutal. In Salamanca or in Burgos, after lunch or over coffee, or even in a car speeding to the battle front, the Caudillo would flick through and then sign sheaves of them, often without reading the details but nonetheless specifying the most savage form of execution, strangulation by ‚garrote‘. Occasionally, he would make a point of decreeing ‚garrote y prensa‘ ( garrote reported in the press )“.51 Dieses Zitat belegt auf geradezu archetypische Art und Weise zweierlei : Erstens kann der Urheber der politischen Gewalt außer der ( gezielten ) Bestrafung seiner Gegner durchaus auch die ( breit gestreute ) Abschreckung ihrer potenziellen Nachahmer bezwecken. Die Herbeiführung eines Klimas der Angst und Bedrohung stellt allerdings an sich schon eine politische Gewaltmaßnahme dar, weil sie auf zumindest einige Empfänger der an die Repressalien gekoppelten Botschaft „Jetzt ist niemand mehr sicher“ zerstörerische Wirkung entfaltet. Deshalb verdeutlicht dieser Bericht, dass die Repression in Unterdrückung übergeht. Die Repression erzeugt normalerweise auch dann Abschreckung, wenn die Machthaber ausschließlich die Bestrafung ihrer Gegner beabsichtigen, weil Gerüchte über deren Drangsalierung durch die Staatsmacht in die Welt gesetzt werden. Zweitens geht aus dem zitierten Bericht indirekt hervor, dass die Angst den „sozialen Kitt der Unterdrückung“ darstellt. Je willkürlicher dabei die Wahl der Opfer und der Gewaltmaßnahmen ist, desto bedrohlicher muss die Abschreckung sogar auf die Anhänger bzw. gar Angehörigen des Regimes wirken. Es ist wichtig zu betonen, dass die politische Gewalt nicht nur mit Hilfe des staatlichen Zwangsapparates ( Polizei, Sicherheitsdienste, Armee, Gefängnisse, Straflager, Konzentrationslager, Vernichtungsanstalten, Vernichtungslager ), sondern auch der staatlichen Bürokratie implementiert wird. Dabei können bestimmte Verwaltungsbranchen explizit für bestimmte Unterdrückungsmaßnahmen zuständig sein – wie etwa die Zensurbehörde für die Einschränkung bzw. Beseitigung der Meinungsfreiheit. Aber auch gewöhnliche Segmente der Staatsverwaltung können der Unterdrückung dienen, wenn sie den Untertanen die Wahrnehmung bestimmter Rechte verwehren, die im betroffenen kulturellen Kontext als „normal“ gelten ( etwa der Reisefreiheit ). Kein politisches Gewaltsystem basiert ausschließlich auf direktem physischen Zwang. Die jeweils spezifische Ausbalancierung von physischen und administrativen Zwangsmaßnahmen führt dazu, dass es mehr oder weniger „bürokratisch“ („administrativ“) geprägt ist. Typologien politischer Gewalt betreffen normalerweise lediglich deren sichtbarste und spektakulärste Sequenz : die Gewaltmaßnahme, von der – oft speku51

Paul Preston, The Crimes of Franco. The 2005 Len Crome Memorial Lecture, delivered at the Imperial War Museum on 12 March 2005 (http ://www.altafilms.com / las13rosas / descargas / FrancosCrimesCrome.pdf; 10. 4. 2012).

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lativ – auf die Intentionen des Urhebers rückgeschlossen wird. Typologisierung geschieht für gewöhnlich mittels des „Härte“ - Kriteriums. Präzise betrachtet, handelt es sich hierbei eher um die „Direktheit“ der physischen Kraftanwendung: Je direkter sie ist, desto „härter“ die Maßnahme : Verbannung, Freiheitsberaubung, Deportation, Zwangsarbeit, Folter, Zwangssterilisierung, Aushungern, Mord u. a. Den Gegenpol dazu stellt die „weiche“ ( indirekte ) Gewalt dar: Gewaltandrohung, rechtliche und ökonomische Diskriminierung, Bewachung, heimliche Beeinträchtigung privater und beruflicher Lebenschancen („Zersetzung“),52 Arbeitsplatzverlust, Verleumdung in der Öffentlichkeit u. v. m. Es ist dabei ersichtlich, dass die indirekte Gewalt in ihrer zerstörerischen Wirkung überhaupt nicht „weicher“ sein muss als die direkte. Die Abhängigkeit der weichen von der harten Gewalt ist besonders im Zusammenhang mit der Abschreckung offensichtlich. Denn die Gewaltandrohung würde ihre Wirkung verfehlen, wenn der indirekten nicht die direkte Gewalt vorausgegangen wäre. Oder : Der Entzug von Grundrechten ist nur dann auf administrativem Wege durchsetzbar, wenn erwartet wird, dass er ggf. mit direkter Gewalt erzwungen werden kann. Das Kriterium der „Härte“ ergibt zusammen mit dem der Gewaltstreuung vier Grundtypen : (1) punktuelle direkte ( harte ) Gewalt, (2) breit gestreute harte Gewalt, (3) punktuelle indirekte ( weiche ) Gewalt und (4) weiche Gewalt großen Ausmaßes. Solch eine auf der Grundlage abstrakter Kriterien zusammengestellte Typologie muss insofern nicht unbedingt dazu taugen, die Variantenvielfalt der aus der Wirklichkeit bekannten Gewalt zu erfassen, als die im Kopf konstruierten Typen nicht mit den empirischen Erscheinungen übereinzustimmen brauchen. Die „Trefferquote“ der hier genannten Typen ist allerdings recht hoch, auch wenn es lohnt, sie begrifflich den aus der Realität bekannten Phänomenen anzupassen. Zunächst sei betont, dass die punktuelle Gewaltmaßnahme fast immer auch gezielt angewendet wird, so dass es sich dabei normalerweise um ( weiche oder harte ) Repression handelt. Ausnahmen, d. h. Fälle der zufälligen Verfolgung einzelner Menschen bzw. Kleingruppen, sind selten. Im Gegensatz zu jugendlichen Halbstarken, die ihre Männlichkeit mit Schlägen gegen Unbeteiligte beweisen wollen, brauchen die Machthaber in politischen Gewaltsystemen eine solche Selbstbestätigung selten. Sie kennen freilich die „stellvertretende Repression“, mit der das eigentliche Opfer zu treffen bzw. abzuschrecken ist. Sie gehen beispielsweise gegen seine Familienangehörigen vor. Doch auch diese tückische Maßnahme gehört letztlich der Spezies Repression an. Die breit gestreute Gewaltanwendung umfasst dagegen sowohl Repression als auch Unterdrückung. Wird die „härteste“ Gewalt breit eingesetzt – werden also große Menschengruppen ermordet – kann ab einem bestimmten Punkt von 52 „Systematisch sollen Zersetzungsmaßnahmen das Selbstverstrauen und das Selbstwertgefühl eines Menschen untergraben, Angst, Panik, Verwirrung erzeugen. [...] Die Zersetzung war ein rein psychologisches Unterdrückungsinstrument“ – so Sandra Pingel Schliemann, Zersetzen. Strategie einer Diktatur, Berlin 2003, S. 188.

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„Gewalt biblischen Ausmaßes“ gesprochen werden. Durch harte Gewalt biblischen Ausmaßes ( manchmal auch „Terror“ genannt ) wird die „Schreckensherrschaft“ charakterisiert. Wie unerträglich es für die Harmoniesucht des Analytikers auch sein mag : Bei der Operationalisierung dieser Gewalt muss die Latte sehr hoch angelegt werden; bezogen auf ein Volk müssen die Opfer zumindest einige Prozent seiner Population ausmachen bzw. deren Eliten bilden. Abgesehen von politisch erzeugter Angst wird die Gewalt dann am breitesten gestreut, wenn sie gegen alle zur Anwendung kommt. Es versteht sich von selbst, dass es sich dabei nur um administrative Maßnahmen handeln kann. Der Gewaltcharakter solcher Maßnahmen hängt davon ab, ob anzunehmen ist, dass sie in der betroffenen Gesellschaft als unüblich bzw. gegen die gewachsene Tradition gerichtet betrachtet werden. Einen indirekten ( und deshalb nicht immer zuverlässigen ) Indikator dafür stellt der Widerstand gegen die Maßnahmen dar. Weder die Definition der politischen Gewalt noch die Typologisierung der Gewaltmaßnahmen bringen bereits eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach den Gründen für die Unterschiedlichkeit der Gewaltanwendung in Ideokratien. Sie unterstreichen aber immerhin die Komplexität der politischen Gewalt. Zugleich machen sie es möglich, die am Anfang dieses Artikels aufgeworfene Frage präzise zu formulieren. Sie lautet nun : Weshalb ist die Gewalt in der nationalsozialistischen Ideokratie repressiv, während sie im Kommunismus leicht in Unterdrückung umschlägt ? Hat diese Differenz vielleicht mit den Unterschieden der Ideologie in der jeweiligen Umma zu tun ? Die Beantwortung dieser Frage erfordert die Berücksichtigung der Eigenarten des jeweiligen Glaubens.

V.

Universale „importierte“ vs. exklusive populäre Ideologie

Der Aufstieg der Umma erfolgt grundsätzlich in Krisenzeiten. Im Fall des Kommunismus wird die Krise meistens durch den historischen Bruch eines Krieges ( ggf. Bürgerkrieges ) begleitet, was zusammen genommen dem Niedergang bzw. Zerfall der Staatsmacht gleichkommt. Auch der Nationalsozialismus ( dem Faschismus ähnlich ) entsprang einer Krise. Eine wesentlich größere Rolle als beim Staatsstreich der Bolschewiki spielten in Deutschland jedoch die kulturellen Faktoren, die nach Roger Griffin eine Art Endzeitstimmung und Suche nach einer neuen Legitimation für die politische und gesellschaftliche Ordnung ausdrückten. Griffin betont zu Recht, dass erst diese letztlich durch Modernisierungsprozesse hervorgerufene Kulturkrise „die Etablierung der populistischen Ideokratie“53 in Deutschland ( und in Italien ) ermöglichte. Voreilig ist aber seine Annahme, beim Aufstieg der Bolschewiki sei es ähnlich gewesen.54 Am Ende 53 Griffin, Legitimizing Role, S. 51. 54 Vgl. ebd.

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des Ersten Weltkrieges erlebte Russland nicht die kulturellen Auswirkungen der Modernisierungskrise, sondern die Zerfallsprozesse eines nach Jahrhunderten gescheiterten Imperiums. Diese politischen Entwicklungen hatten im Deutschland der späten 1920er und frühen 1930er Jahre keine Äquivalenz: Mit dem Erfolg Hitlers wurde dort ein System verworfen, das eine Dekade zuvor dem Scheitern eines jungen Reiches gefolgt war. Es darf nicht vergessen werden, dass Deutschland ( und Italien ) mit seiner bürgerlich geprägten Gesellschaft der 1920er und 1930er Jahre zuvor die Modernisierung ungleich tiefer erlebt und empfunden hatte als das kaum urbanisierte und industrialisierte, mehrheitlich nicht alphabetisierte sowie von jeher autokratische Russland. Das rachitische Bürgertum bewohnte einige wenige Städte im russischen Riesenreich, die den Namen auch verdienten, ein Teil davon war nicht - russisch und dem Imperium zwangsweise einverleibt. Die durchaus moderne kommunistische Idee stellte in diesem Russland einen Import dar, der von denjenigen Russen mit berechtigtem Misstrauen beäugt wurde, die den durch den Krieg angeschlagenen russischen Staat vor dem Niedergang retten wollten. Denn der Marxismus schlug das Auswechseln des schwächelnden Staates und der größtenteils prämodernen Gesellschaft vor, nicht deren Genesung und schrittweise Modernisierung. Vom „high level of popular consensus“55 kann daher in den Wirren des bolschewistischen Putsches nicht die Rede sein, was nicht zuletzt die schier unvorstellbaren sozialen und politischen Verwerfungen während des sogenannten Kriegskommunismus anschaulich machen. Eine Art „Volkskonsens“ bildete sich erst später heraus, nachdem Lenin aus taktischen Gründen mit der NÖP und korenizacija- Politik zur reinen Lehre des Marxismus auf Distanz ging und somit einen Kompromiss mit der sozialen Wirklichkeit geschlossen hatte. Obwohl sehr unterschiedlich im Ursprung, weisen der Kommunismus und der Nationalsozialismus ideologische Ähnlichkeiten auf. Im Gegensatz zur religiösen Umma,56 die nicht unbedingt nach Eroberung der staatlichen Macht trachtet, streben diese säkularen Ideokratien keine Besserung der Menschen an, sondern den politischen Aufbau einer neuen Gemeinschaft. Infolge dieser primär gesellschaftlich - politischen Zielsetzung steht für beide nicht Moral, sondern von den Gläubigen zu erobernde politische Macht im Vordergrund. Auf strategischer Ebene wurden die politischen Ziele beider Regime maßgeblich von der jeweiligen Ideologie bestimmt. Aus taktischen Gründen konnten sich allerdings gläubige Repräsentanten der jeweiligen Umma verstellen, was z. B. Stalin und Joachim von Ribbentrop am 28. September 1939 demonstrier55 Ebd. 56 Zu den Unterschieden zwischen den religiösen und säkularen Ideokratien siehe Jerzy Maćków, Ohne Schreckensherrschaft stirbt der Totalitarismus. Einige Überlegungen zur politischen Gewalt in der kommunistischen Umma. In : John Andreas Fuchs / Andreas Umland / Jürgen Zaruski ( Hg.), Brücken bauen. Analysen und Betrachtungen zwischen Ost und West. Festschrift für Leonid Luks zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2012, S. 153– 170, hier 155–157.

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ten. Im Auftrag Hitlers hatte von Ribbentrop an diesem Tag den deutsch - sowjetischen Grenz - und Freundschaftsvertrag unterzeichnet. Daraufhin wurde am Abend im Kreml ausgiebig gefeiert. Am Tisch stellte Stalin dem nationalsozialistischen Verbündeten seine Entourage vor, wobei er schmunzelte, als der deutsche Antisemit sein Glas auf den damals für das sowjetische Transportwesen zuständigen Juden Lazar M. Kaganowitsch erheben musste.57 In Bezug auf die politische Gewalt ist jene Ähnlichkeit beider Ideokratien frappierend, die darin bestand, dass sie trotz ihrer meist einander ausschließenden Glaubenssätze „objektive“, zu eliminierende Feinde identifizierten. Im Kommunismus handelte es sich um die „ausbeutenden Klassen“, im Nationalsozialismus um die Juden, Roma ( sowohl unter „Asoziale“ als auch unter rassisch bzw. gesundheitlich „Minderwertige“ fallend ) sowie „lebensunwertes Leben“. Ohne die Eliminierung der objektiven Feinde, die den Vollzug der Natur - und Geschichtsgesetze verhinderten, könne keine vollwertige Gemeinschaft entstehen. Zwar entstammt die Kategorie der „objektiven Vertreter“ der Klasseninteressen dem Marxismus, doch es war Hannah Arendt, die den Terminus „objective enemy“58 bzw. „objektiver Gegner“59 eingeführt hat : Objektive Feinde seien oft keine politischen Menschen und würden erst dann zur Zielscheibe der mörderischen Wut der totalen Herrschaft, wenn der politische Widerstand gebrochen und „alle politische Opposition liquidiert“60 sei. Mit der Kategorie der objektiven Feinde hat Hannah Arendt unterstrichen, dass die – in ihren Augen von Ideologie und Terror entscheidend geprägte – totalitäre Herrschaft eine eigene Rationalität kreiert. Dem ist hinzuzufügen, dass der Kampf gegen die objektiven Feinde, die im Gegensatz zu den „subjektiven Gegnern“ dem Regime realiter keinen Schaden verursachen, eigentlich seine oft knappen Ressourcen unnötigerweise bindet. Trotzdem ist dieser Kampf unverzichtbar, weil er den „Beweis“ für die Wahrhaftigkeit der totalitären Ideologie darstellt. Die politische Gewalt wird hier nicht dazu genutzt, die Schwächen der politischen Eliten oder die unzureichende Legitimität zu kompensieren, sondern dazu, die Glaubenstreue zu beweisen.61 Die Klassikerin der Totalitarismus - Forschung gab auch bei diesem Thema ihrem oft zu Recht kritisierten Hang zur Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus nach. Folgendermaßen unterstrich sie die Fähigkeit beider Regime, immer neue „objektive Gegner“ zu erfinden : 57 Vgl. Montefiore, Stalin, S. 279. 58 Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, 5. Auflage New York 1973, etwa S. 421–424. 59 Die Autorin bevorzugt in der von ihr selbst übersetzten deutschen Ausgabe ihres Werkes diesen Terminus („Gegner“, nicht „Feind“) – dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a. M. 1955, S. 621 f. 60 Ebd., S. 619. 61 Das bedeutet aber mitnichten, um nicht missverstanden zu werden, dass sich die totalitäre Herrschaft aus der Realität zurückgezogen und von der Rationalität ganz verabschiedet hat.

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„So wurden im Jahre 1941 alle ursprünglich für die Juden erlassenen Vorschriften auf die Polen übertragen – die sogenannten Nürnberger Gesetze sowohl wie das Tragen eines identifizierenden und diskriminierenden Abzeichens –, und Hitler selbst beschäftigte sich in den gleichen Jahren mit großangelegten Plänen zur ‚Gesundung‘ des deutschen Volkskörpers, denen zufolge alle organisch Erkrankten [...] eliminiert werden sollten. Im bolschewistischen Regime spielten die Nachkommen der ehemals herrschenden Klassen die Rolle der Juden in Deutschland. Nach ihrer Liquidierung [...] wurde die Bauernklasse Anfang der dreißiger Jahre zum ‚objektiven Gegner‘ der klassenlosen Gesellschaft; ihnen folgten die Klasse der Bürokraten in den Generalsäuberungen nach 1936, Russen polnischer Abstammung kurz vor Ausbruch des Kriegs, die Krimtataren und Wolgadeutschen während der Kriegsjahre. Seit Ende des Krieges wurden die ehemaligen russischen Kriegsgefangenen und jene Einheiten der Roten Armee, welche zu Besatzungszwecken im Westen gewesen waren, als ‚Träger gefährlicher Tendenzen‘ erkannt“.62

Bei dieser Aufzählung übersah Hannah Arendt einen qualitativen Unterschied zwischen beiden Ideokratien, der auf die Exklusivität des nationalsozialistischen und die Universalität des kommunistischen Glaubens zurückgeht. Die nationalsozialistische Ideologie ist unmissverständlich partikular und exklusiv. Sie ist mit der bereits vor 1933 in den deutschen Eliten sehr populären „Euthanasie“, d. h. einer modernen „Wissenschaft“, die „therapeutische“ Tötung biologisch „minderwertiger“63 Individuen postulierte, eng verwoben. Vor diesem „wissenschaftlichen“ Hintergrund kann jemand, der nach einer verbindlichen Definition zweifelsfrei als „minderwertig“ – „Jude“, „Zigeuner“, „schwachsinnig“, „Untermensch“ oder ggf. organisch erkrankt – identifiziert wird, der „arischen Volksgemeinschaft“ unter keinen Umständen beitreten. Der Marxismus - Leninismus ist hingegen insofern universal, als er die ausbeuterischen „sozialen Klassen“ abstrakt zu objektiven Feinden des Sozialismus und Kommunismus erklärt. Eine unmissverständliche Bestimmung der Zugehörigkeit einer konkreten Person zu den Ausbeutern ist dabei nicht einfach möglich. Die kommunistische Ideologie lässt daher die Konversion der objektiven Gegner zum wahren Glauben – und damit auch ihren Beitritt zur Umma, was in der Praxis oft das Überleben bedeutet – grundsätzlich zu. Sogar einige „Kapitalisten“ können mit dem Verlust ihres Eigentums und einer „Umerziehung“ – d. h. mit der glaubwürdigen Konversion – davon kommen. Für den Beitritt zur kommunistischen Umma sei in erster Linie wichtig, wofür man politisch stehe, und nicht so sehr, welchen sozialen Verhältnissen man entstamme. Anders als Arendt angenommen hat, spielten die Nachkommen der ehemals herrschenden Klassen im Kommunismus nicht immer die Rolle der Juden in Deutschland. Wäre es anders gewesen, hätte es die Bolschewiki mit dem ausgesprochen bürgerlichen Lenin, dem ehemaligen Priesterseminar - Schüler Stalin und dem Spross einer wohlhabenden Familie Trotzki nicht gegeben.

62 Ebd., S. 623. 63 Peukert, Rassismus und ‚Endlösungs‘ - Utopie, S. 76.

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Obwohl die kommunistische Ideologie ungleich stärker als die „Weltanschauung“ Hitlers kodifiziert ist,64 definiert sie aufgrund ihrer Universalität die objektiven Feinde nicht so präzise wie es die nationalsozialistische Rassenlehre und ihr Recht tun. Gerade deshalb hatten die kommunistischen Herrscher aber weit größere Spielräume als die Nationalsozialisten, wenn es darum ging, selbst im innerparteilichen Machtkampf ihre Gegner bewusst unpräzise als subjektive oder objektive „Volksfeinde“ zu diffamieren. Ein Nachweis, dass ein von den Genossen an der Macht des Verrats bzw. der Sabotage angeklagter kommunistischer Schriftsteller oder Fabrikleiter doch nicht den „Klassenfeinden“ zuzurechnen gewesen sei, war ausgesprochen schwierig. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Stalin stets darum bemüht war, die Macht über die verbindliche Exegese der Schrift beizubehalten, weil das die Macht über Leben und Tod seiner Gegner war. Er hatte nur darauf zu achten, die Popularität bestimmter Glaubenssätze im Herrschaftsapparat zu berücksichtigen.65 Auch Hitler hatte diese alleinige Auslegungsgewalt, nutzte sie aber nicht für politische Intrigen.66 Den Unterschied zwischen der endogenen und der „importierten“ Umma vor Augen, wird im Folgenden zu zeigen versucht, dass die Verwurzelung des partikular - exklusiven Glaubens in der Gemeinschaft die zielgerichtete Repressivität der Ideokratie fördert. Eine importierte, zwangsinstitutionalisierte universale Umma mutiert demgegenüber zum Unterdrückungssystem, in dem die Repression biblischen Ausmaßes gegen wahllos ausgesuchte „Volksfeinde“ angewendet werden kann.

VI.

Nationalsozialismus : Repression in der populistischen Ideokratie

Der bereits angedeutete grundlegende Unterschied zwischen der Errichtung der nationalsozialistischen und der bolschewistischen Ideokratie besteht darin, dass die Letztgenannte Diskontinuität geradezu verkörperte, während viele wichtige politische Ziele des Nationalsozialismus durchaus eine Übereinstimmung mit denen der Weimarer Republik aufwiesen.67 Kontinuität zeichnete auch deutsche Eliten aus, deren „Arisierung“ in vergleichender Perspektive schlichtweg den 64 Die Inhalte des Glaubens („Glaubenssätze“) können entweder mittels einer Schrift zu einer „kodifizierten Ideologie“ werden oder der beliebigen Exegese preisgegeben werden. Der Befund Martin Broszats, die nationalsozialistische Ideologie basiere nicht auf einem kanonischen Text und sei nicht theoretisch systematisiert, behält seine Gültigkeit. Vgl. Yoram Gorlitzki / Hans Mommsen, Political ( Dis )Orders of Stalinism and National Socialism. In : Michael Geyer / Sheila Fitzpatrick, Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009, S 41–86, hier 60. Dies ändert nichts daran, dass es sich bei Hitlers „Weltanschauung“ um ein „geschlossenes Gedankengebäude“ handelt, wenngleich „zutiefst nihilistisch“. So Barbara Zehnpfennig, Adolf Hitler : Mein Kampf. Weltanschauung und Programm. Studienkommentar, München 2011, S. 248 f. 65 Vgl. Gorlitzki / Mommsen, Political ( Dis )Orders, S. 59 f. 66 Vgl. ebd., S. 65–67. 67 Vgl. ebd., S. 73.

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Gegenpol zum gewaltigen Ausmaß der Elitenzirkulation in der jungen Sowjetunion darstellte. Im Hinblick auf die staatliche Gewaltanwendung ist die Kontinuität des „Dritten Reiches“ mit dem Vorgängersystem etwa am nationalsozialistischen Umgang mit der „Zigeunerplage“ ( amtlich so bereits im Wilhelminischen Reich) abzulesen.68 Nichtsdestotrotz muss betont werden, dass nach 1933 die Aussonderung und Diskriminierung der Roma eine neue Qualität erreichten. Für die Juden, Homosexuellen und „unwertes Leben“ war der Bruch noch deutlicher zu spüren. Die von zunehmender Repressivität betroffenen Segmente der Bevölkerung stellten überschaubare Minderheiten dar, weil sich in der „populistisch“ verwurzelten nationalsozialistischen Umma der Vorkriegszeit politische Gewalt fast ausschließlich gegen ihre politischen Gegner und objektiven Feinde richtete. Die Opfer des Machtkampfes innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung kamen hinzu, wobei in diesem Zusammenhang der Großteil der in der „Nacht der langen Messer“ vom Sommer 1934 Umgebrachten herausragte, die wahrscheinlich 88 Todesopfer – SA - Männer, Zivilisten und potenzielle Opponenten Hitlers – verursachte.69 Eine andere bekannte Repressionsaktion gegen die Regimegegner im Herrschaftsapparat fand im Jahre 1938 statt und bezweckte die Stärkung des Parteieinflusses auf die Wehrmacht. Diese sogenannte Blomberg - Fritsch Krise wird wegen der gewaltlosen Entfernung von konservativen Kräften aus der Armee, dem Außenministerium und der staatlichen Wirtschaftsverwaltung als eine „Radikalisierung“ des Hitler - Regimes interpretiert.70 Die Repression gegen den politischen Widerstand nahm dagegen größere Ausmaße an, wenngleich sie im Laufe der Vorkriegsjahre zurückging. „Wurden 1936 noch 13 000 Personen wegen angeblicher kommunistischer und sozialdemokratischer Betätigung festgenommen, so waren es 1937 noch etwa 9 000 und 1938 noch etwa 3 500 Deutsche“.71 Insgesamt wurden in den Jahren 1933 bis 1936 vor allem Kommunisten zu politischen Opfern des Regimes, von denen weit mehr als 10 000 verhaftet wurden.72 Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges betrug die Zahl der KZ - Insassen ca. 25 000,73 unter denen sich freilich bereits viele „objektive Feinde“ – allerdings vor allem als „Asoziale“ kriminalisiert (Roma ) – befanden.74 Es ist zwar nicht leicht, die entsprechenden Zahlen zu 68 Vgl. Till Bastian, Sinti und Roma im Dritten Reich. Geschichte einer Verfolgung, München 2001, S. 25–33, und Michael Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma, Essen 1989, S. 23. 69 Vgl. Gorlitzki / Mommsen, Political ( Dis )Orders, S. 74. 70 Vgl. ebd., S. 74 f. 71 Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS - Zeit 1933–1945, Darmstadt 2003, S. 16. 72 Vgl. Ulrich Heinemann, Krieg und Frieden an der ‚inneren Front‘. Normalität und Zustimmung, Terror und Opposition im Dritten Reich. In : Kleßmann ( Hg.), Nicht nur Hitlers Krieg, S. 25–49, hier 33. 73 Ebd., S. 37. 74 Nicht berechnet sind dabei jene ca. 30 000 jüdischen Männer, die nach dem 9. November 1938 für einige Wochen in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sach-

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rekonstruieren, man weiß jedoch, dass sich beispielsweise im August 1938 im Konzentrationslager Buchenwald unter den 4 600 „Arbeitsscheuen“ viele Roma befanden.75 Auch in den anderen Konzentrations - ( Buchenwald, Dachau ) und Sammellagern ( Segeroth in der Ruhrgebietsmetropole Essen ) wurden Roma zusammengeführt, die dort teilweise Zwangsarbeit verrichteten.76 Wie ungewiss die Zahl derjenigen auch sein mag, die im nationalsozialistischen Vorkriegsdeutschland Opfer politischer Gewalt geworden sind, zweierlei ist sicher : Zum einen ging das Regime, wie bereits erwähnt, vor allem gezielt gegen seine politischen Gegner vor, was mit der bewussten Herstellung von Rahmenbedingungen einherging, die künftig eine endgültige Abrechnung mit den objektiven Feinden ermöglichen sollten. Bereits vor dem Krieg wurden so die rechtlichen Grundlagen für eine gezielte Repression geschaffen : Schon 1934 ist ein Gesetz in Kraft getreten, das die Sterilisierung von jenen Erbkranken vorsah, die an „angeborenem Schwachsinn“77 litten, und 1935 nahm der Reichstag die Nürnberger Gesetze einstimmig an.78 Zum anderen erreichte die Repression noch nicht biblische Ausmaße, und zwar weder gegenüber den manchmal als „Parasiten“ am „Volkskörper“79 geltenden „Asozialen“ („Arbeitsscheue, Gewohnheitsbettler, Landstreicher, Trinker, Rauschgiftsüchtige und Prostituierte“80) noch gegenüber den Juden, Roma sowie dem zukünftig ebenso auszulöschenden „unwerten Leben“. Bei der Initiierung und Durchführung all dieser Repressalien blieben die Nationalsozialisten ihrer „Weltanschauung“ treu, wenngleich ihre Führung sehr darum bemüht war, die Unterstützung der „Volksgemeinschaft“ nicht zu verlieren. Dies schloss eine liberale Handhabung des Zugangs zu ausländischen Büchern, Radiosendern, Filmen, Zeitungen sowie der „Negermusik“ ein.81 Im Krieg wurde die „Volksgemeinschaft“ allerdings selbst mit verschärften Gesetzen, die oft den Charakter von Unterdrückungsmaßnahmen hatten, konfrontiert ( etwa Strafen für das Abhören ausländischer Sender ). Es fand zudem ein explosionsartiger Anstieg der Zahl der KZ - Häftlinge statt – im März 1942 handelte es sich bereits um 100 000 Personen. Ähnlich rapide wuchs die Zahl der Justizgefangenen, der zu Tode Verurteilten und auch der mit Tod bedroh-

75 76 77 78 79 80 81

senhausen eingeliefert wurden. Vgl. Wolfgang Benz, Der Holocaust, 7. Auflage München 2008, S. 27. Vgl. Bastian, Sinti und Roma, S. 45. Vgl. Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet, S. 21 f. Ernst Klee, ‚Euthanasie‘ im NS - Staat. Die ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens‘, Frankfurt a. M. 1983, S. 37. Über die Diskriminierung der Juden in dieser Zeit siehe Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, München 2000. Klee, ‚Euthanasie‘ im NS - Staat, S. 39. Diese Gruppen werden etwa im Bericht des Vorstands des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge im Juli 1933 aufgezählt. Vgl. ebd. Siehe Heinemann, Krieg und Frieden, S. 26 f. Dort auch : „Der Januskopf des Dritten Reiches im ‚Frieden‘ zeigte sich [...] im Umgang mit Presse und Literatur. Zeitungsverbote und Bücherverbrennungen waren [ nur ] die eine Seite der Medaille“. Ebd., S. 27.

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ten Tatbestände ( sie stieg von drei im Jahre 1933 auf 46 1943/1944) an.82 Es handelte sich dabei jedoch allesamt um im Krieg nicht untypische Formen politischer Gewalt, die der allgemeinen Disziplinierung dienten. Gleiches kann allerdings nicht über das ideologisch bestimmte Prinzip der Sippenhaft behauptet werden, das gegen die deutschen Gegner des Regimes angewendet wurde. Die Nationalsozialisten wollten damit ein Merkmal des alten germanischen Stammesrechts wiederbeleben.83 Hart ging die Wehrmachtjustiz vor, die im Krieg 30 000 Todesurteile verhängte.84 Besonders in den zwei letzten Kriegsjahren terrorisierte die SS die Wehrmacht. „Alles in allem belief sich die Gesamtzahl der wegen Disziplinlosigkeit erschossenen deutschen Soldaten auf 212 000“.85 Diese Soldaten und die objektiven Feinde nicht eingerechnet, kommt Rudolf J. Rummel auf die gewiss nicht untertriebene Zahl von beinahe 290 000 Deutschen ( sie können als Abtrünnige der Umma gesehen werden ), die „im Verlauf der zwölf jährigen Geschichte des Nazi - Regimes“86 umgekommen sind. Die Hauptwucht der Gewalt richtete sich aber selbstverständlich gegen die als Gegner anerkannten Nicht - Umma - Angehörigen. Mit Beginn des Krieges wurden Maßnahmen ergriffen, welche die bald kommende Gewalt biblischen Ausmaßes erahnen ließen. „Der mündlichen Anweisung“ – schrieb Detlev J. K. Peukert in diesem Zusammenhang –, „mit der systematischen Ermordung psychisch Kranker zu beginnen, folgte wenige Wochen später ein bezeichnender weise auf den 1. September 1939 zurückdatierter schriftlicher Befehl zur sogenannten ‚Aktion T4‘, in deren Verlauf etwa 70 000 Behinderte in eigens dafür bestimmte Anstalten zur Vergasung abtransportiert wurden“.87 Am 2. September wurde darüber hinaus das „Umherziehen von Zigeunern und nach Zigeunerart wandernden Personen“ im Grenzgebiet des „Dritten Reiches“ verboten. Auch die Diskriminierung der Juden wurde zeitgleich verschärft. All dies stellte den Auftakt zur endgültigen Abrechnung mit den subjektiven und objektiven Feinden des „Reiches“ in den eroberten Ländern dar. Hitler nahm seine „Mission“ der Judenvernichtung ernst. Den Holocaust, dem in den baltischen Staaten, Polen und der Sowjetunion 5,4 Mio. Juden zum Opfer gefallen sind, wählte er allerdings erst dann als die praktizierte Variante der „Endlösung der Judenfrage“, nachdem der „Blitzkrieg“ gegen die Sowjetunion gescheitert war.88 Er hatte es zudem auf die slawischen Völker abgesehen, die zwar als „Untermenschen“ eingestuft, aber im Gegensatz zu den Juden nicht eindeutig zu den 82 83 84 85 86 87 88

Vgl. ebd., S. 37 f. Vgl. Davies, Die große Katastrophe, S. 378. Vgl. Heinemann, Krieg und Frieden, S. 38. Davies, Die große Katastrophe, S. 380. Rummel, „Demozid“, S. 96 f. Peukert, Rassismus und ‚Endlösungs‘ - Utopie, S. 71. Zuvor spielte er noch mit anderen Ideen, wie die Juden aus dem „Reich“ entfernt werden könnten. Siehe Snyder, Bloodlands, S. 199.

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objektiven Feinden gerechnet wurden. Geholfen hat ihnen diese ideologische Unschlüssigkeit nicht. Im Sinne des „Generalplans Ost“, der in den Jahren 1940 bis 1942 durch den Agrar wissenschaftler Prof. Konrad Meyer immer wieder aktualisiert wurde, „sollten 80–85 Prozent der Polen, 65 Prozent der Westukrainer, 75 Prozent der Weißrussen und 50 Prozent der Tschechen vernichtet werden“.89 Zwar konnte die für den Winter 1941/42 vorgesehene Aushungerung von 30 Mio. Menschen ( die meisten von ihnen Slawen ) nicht ver wirklicht werden,90 doch die deutschen Besatzer haben es in den Jahren 1941 bis 1944 immerhin geschafft, 4,2 Millionen Sowjetbürger ( vor allem Russen, Belarussen und Ukrainer ) verhungern zu lassen. Zuvor, in den Jahren 1939 bis 1941, hatten die Einsatzgruppen 61 000 Polen erschossen, wobei sie gezielt gegen die Vertreter der „inteligencja“ vorgegangen waren.91 700 000 in den Jahren 1941 bis 1944 bei „Vergeltungsaktionen“ erschossene Zivilisten ( hauptsächlich Belarussen und Polen ) kamen hinzu.92 Zumindest 100 000 Roma wurden umgebracht93 – es gibt Schätzungen, die bis zu 400 000 reichen. Die chaotische und enthemmte Kriegsführung des „Dritten Reiches“ macht es oft schwer, die hinter den unvorstellbaren systematischen Gewaltausfällen der SS, der Polizei und der Wehrmacht stehenden Intentionen zu erkunden. Der „Terror“ – formuliert dazu Snyder zutreffend – „diente als Multiplikator der Macht“.94 Diese Art Kriegsführung wurde von der nationalsozialistischen Ideologie begünstigt, die nach dem Scheitern des Angriffs auf die Sowjetunion besonders intensiv die Kriegspropaganda des Regimes prägte. Die Ideologie rechtfertigte die gegen die Zivilbevölkerung der eroberten Länder geführten Vernichtungsaktionen und half dabei, die sich Ende 1941 bereits abzeichnende Kriegsniederlage zu verschleiern. Während die subjektiven und objektiven Feinde rücksichtslos verfolgt wurden, sollten sich die politisch angepassten „Arier“ sicher sein können, vom nationalsozialistischen Staat geschont zu werden. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass sich das Regime trotz der bereits in der zweiten Hälfte 1941 aufgetretenen riesigen Versorgungsprobleme der Wehrmacht erst im kommenden Jahr dazu entschloss, die Lebensmittelrationen für seine deutschen Untertanen zu kürzen.

89 Zit. nach ebd., S. 173. Von 1956 bis 1960 war Konrad Meyer Ordinarius ( Professor für Landesplanung und Raumordnung ) an der Universität Hannover. 90 Vgl. ebd., S. 199 f. 91 Vgl. ebd., S. 142. 92 Vgl. ebd., S. 419. 93 Vgl. ebd., S. 282. 94 Ebd. S. 259. Siehe auch S. 250 f.

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VII. Repression gegen die tatsächlichen und erfundenen Feinde im Kommunismus Anders als das „Dritte Reich“, das von der Weimarer Republik einen intakten Staatsapparat übernahm, musste die Sowjetunion nach den Wirren des Bürgerkrieges als „proletarischer“ Willkürstaat ( Rechtsstaatlichkeit hatte in Russland ohnehin keine Tradition ) erst neu aufgebaut werden. Da der Staatsaufbau nach der „Oktoberrevolution“ etwa ein Jahrzehnt beanspruchte, sind erst die 1930er Jahre auch für die Sowjetunion als die Zeit der institutionalisierten Umma zu sehen.95 Während Hitler gerade im Krieg seine zentralen Glaubenssätze fürchterliche Wirklichkeit werden ließ, mobilisierte Stalin alle seinen Ressourcen für den Kriegseinsatz und schien dabei sogar bereit, die Ideokratie in Frage zu stellen. Ein Krieg, in dem sich die Niederlage der angeblich unbesiegbaren Armee abzuzeichnen beginnt, vermag die importierte, auf unpopulärer Ideologie basierende Umma wohl am meisten zu erschüttern. In einer solchen Situation schob Stalin die im Volk unpopuläre Schrift des Marxismus - Leninismus beiseite und mobilisierte seine Untertanen nicht für die Verteidigung des Sozialismus, sondern für den letztlich nationalistisch legitimierten „Großen Vaterländischen Krieg“. Obwohl in den Jahren 1918 bis 1939 in der Sowjetunion ca. 42 000 Priester umgebracht und einige Tausend mehr ihrer Freiheit beraubt worden waren,96 ging diese Würdigung des Vaterlandes und des „russischen Volkes“ mit einem vom NKVD im Eiltempo vollbrachten „Wiederaufbau“ der russisch - orthodoxen Kirche einher. Nicht zuletzt dank dieser taktischen Umstellung auf die „Götzen des Volkes“ sowie der barbarischen Kriegsführung durch den Aggressor, der so der Kräftemobilisierung durch das eigentlich unbeliebte kommunistische Regime in die Hände spielte, konnte der Krieg letztlich gewonnen werden. Der drakonische Umgang mit jenen Soldaten der Roten Armee, die dem deutschen Druck nicht standhielten und zurückwichen ( alleine in den Jahren 1941/42 wurden dafür 790 000 Todesurteile verhängt, von denen fast 200 000 vollstreckt wurden ), trug das Seine zum Sieg bei.97

95 Eine neue politische und gesellschaftliche Ordnung ist dann institutionalisiert, wenn die wichtigen politischen und gesellschaftlichen Akteure ihre Spielregeln akzeptiert und verinnerlicht haben. Einige Politologen ziehen in diesem Zusammenhang den Begriff „Konsolidierung“ vor, dessen heuristischer Nutzen jedoch nicht erkennbar ist. Darüber : Jerzy Maćków, Autoritarismus. Noch immer das System des eingeschränkten Pluralismus. In: ders. ( Hg.), Autoritarismus in Mittel - und Osteuropa, Wiesbaden 2009, S. 17–42, hier 39 f.; ders., Totalitarismus und danach. Einführung in den Kommunismus und die postkommunistische Systemtransformation, Baden - Baden 2005, S. 93–96. 96 Vgl. Jan Jarco, Kalendarium ‚Sacrum Russiae Millenium‘. In : Kazimierz Podlaski (Hg.), Dar Polski Białorusinom, Rosjanom i Ukraińcom na Tysiąclecie ich Chrztu Świętego [ Das Geschenk Polens an die Belarussen, Russen und die Ukrainer aus dem Anlass ihres Taufe - Millenniums ], London 1989, S. 39–87, hier 76. 97 Vgl. Davies, Die große Katastrophe, S. 383.

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Nicht nur im Krieg legte Stalin im Gegensatz zu Hitler einen „pragmatischen“ Umgang mit der Ideologie an den Tag. Dies geschah bereits früher, und zwar bei Gewaltanwendung im Inneren. In der Praxis des Kampfes gegen die privaten Bauern waren – im Gegensatz zum Nationalsozialismus, der bei Bekämpfung der objektiven Feinde „lediglich“ Schranken der Moral und des gesunden Menschenverstandes brach – der staatlichen Willkür auch keine ideologischen Grenzen gesetzt. Die Opfer der „Kollektivierung“ wurden nicht präzise, geschweige denn rechtlich definiert. Obwohl offiziell Kriterien für die Einteilung der Bauern in objektive Feinde ( reiche „Kulaken“) und gute ( arme ) „sozialistische Bürger“ entworfen wurden, kam es in der Praxis auf die präzise Aussonderung und gezielte Repression gegen die „Kulaken“ überhaupt nicht an. Alle Bauern, die den Kolchosen nicht freiwillig beitreten wollten, wurden mit Zwangsrequisition ihrer Produktion pauschal dem Hungertod ausgeliefert. Von der Willkür der Opferauswahl zeugt allein die Tatsache, dass die politische Führung für die nach Kasachstan oder Sibirien zu deportierenden bzw. zu erschießenden „Kulaken“ Zahlenvorgaben gemacht hatte.98 Die Vernichtung von Millionen Bauern konnte von den Kommunisten und ihren Anhängern im Westen im Nachhinein als ein Problem der Verhältnismäßigkeit der letztlich dem Aufbau der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ dienenden Repressionen gegen eine „reaktionäre“ soziale Klasse „verharmlost“ werden. Der Große Terror der Jahre 1937/38 ist hingegen sogar unter Rückgriff auf die marxistische Ideologie nicht zu rechtfertigen. Das Politbüro ordnete am 2. Februar 1937 die Gründung von sogenannten Trojkas ( lokaler NKVD - Vertreter, Parteisekretär und Staatsanwalt ) an, deren Aufgabe es war, die „feindlichsten antisowjetischen Elemente“ binnen eines Tages zu verhaften, zu verurteilen und ggf. erschießen zu lassen. Mit dem an die regionalen Zwangsapparate erteilten Befehl 00 447 vom 30. Juli 1937 hatte der NKVD die Opferquoten festgelegt : 72 950 Erschossene und 259 450 Verhaftete ( Verbannte ) wurden gefordert. „Lieber zu viel als zu wenig“, kommentierte der NKVD - Chef Nikolai I. Jeschow, als ihm die erreichten Zahlen der 737 397 Verhafteten und 386 798 Erschossenen vorgelegt wurden.99 Der damalige Moskauer Parteichef Nikita S. Chruschtschow beispielsweise überschritt die vom Politbüro vorgegebene Quote von 50 000 Erschossenen um 5 741.100

98 Vgl. Montefiore, Stalin, S. 87. Auch die Volksrepublik China kannte „Gewalt nach Quote“ : Um den staatlichen Herrschaftsapparat während der Kollektivierung der Landwirtschaft (1953) zu disziplinieren, unterwarf der „Große Vorsitzende“ beispielsweise gut 14 Mio. Staatsbedienstete einer teils öffentlichen Loyalitätsprüfung, wobei er von vorherein festlegte, dass sich unter ihnen ca. 5 % zu bestrafende ( Verhaftung, Folter und Mord) „Konterrevolutionäre“ befanden. Die Überschreitung dieser Fünfprozentvorgabe sollte mit einer Autorisierung durch die Obrigkeit möglich sein. Vgl. Chang / Halliday, Mao, S. 412. 99 Vgl. Montefiore, Stalin, S. 233 f. 100 Vgl. ebd., S. 255.

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Die absolute Willkür der Gewaltanwendung drückte sich außerdem darin aus, dass es den Machthabern möglich war, bei der Anwendung der Gewalt sogar gegen die ausdrücklichen Gebote der Schrift zu verstoßen. Zum einen vertrat Stalin ( gegen Karl Marx ) die These von der angeblichen Verschärfung des Klassenkampfes im Zuge des sozialistischen Aufbaus. Zum anderen wurde die Verfolgung der „Volksfeinde“ nach explizit ethnischen Kriterien betrieben, obgleich der Marxismus - Leninismus keinerlei Handhabe dafür bietet, bestimmte Völker und Nationen als die Träger „der Reaktion“ zu brandmarken. Das erste und größte nationale „Kontingent“ der wegen ihrer Nationalität Verfolgten stellten die Polen dar.101 Der NKVD - Chef Jeschow ordnete im August 1937 einen Kampf gegen „Polnische Diversanten und Spione“ (Befehl 00 485) an, der den „Terror radikalisierte“, indem er „eine ethnische Gruppe als Staatsfeinde zu behandeln“102 schien. „Ab September 1937 folgten sieben weitere Kampagnen, bei denen Finnen, Esten, Rumänen, Bulgaren, Griechen, Chinesen und angebliche japanische Spione verfolgt wurden“.103 Im „Polen - Befehl“ Jeschows wurde zum ersten Mal das vom bekannten russischen „Memorial“ - Forscher Nikita Petrow sogenannte Alben - Modell der an den Gerichten vorbei durchzuführenden Repression ausgearbeitet : Der NKVDVertreter und der Staatsanwalt vor Ort („Dwojka“) hatten einem Moskauer NKVD - Ausschuss „Alben“ zur Bestätigung zuzuschicken, die Informationen über die Opfer samt Bestrafungsvorschlägen ( Erschießen oder Deportation in den Gulag ) enthielten.104 Diese Bestätigung war in der Praxis Formsache. „Im Verlauf all dieser ‚nationalen Operationen‘ wurden insgesamt 336 000 Personen verurteilt, davon 247157 erschossen“.105 Unter den Verhafteten waren ca. 144 000 Polen, von denen 110 000 erschossen worden sind. Es handelte sich hierbei um einen von dem „Demozid - Experten“ Rummel übersehenen „Mini Genozid“,106 wie Simon S. Montefiore dazu trocken bemerkt.107 Für die winzige Minderheit der Sowjetbürger mit polnischen Wurzeln ( weniger als 0,4 Prozent der sowjetischen Gesamtbevölkerung ) war die Wahrscheinlichkeit, im Großen Terror zu sterben, vierzig Mal größer als für andere Sowjetbürger.108 „Die am stärksten verfolgte europäische Minderheit in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre waren nicht die 400 000 deutschen Juden ( deren Zahl durch Emigration sank ), sondern die 600 000 sowjetischen Polen ( deren Zahl durch Erschießungen sank )“.109 101 Über die Hintergründe siehe dazu Timothy Snyder, Sketches from a Secret War. A Polish Artist’s Mission to Liberate Soviet Ukraine, New Haven 2005, besonders S. 115–133. 102 Snyder, Bloodlands, S. 110. 103 Kiernan, Erde und Blut, S. 659. 104 Vgl. „Pamięć“, S. 58–79. 105 Kiernan, Erde und Blut, S. 659. 106 „Pamięć“, S. 63. 107 Vgl. Montefiore, Stalin, S. 234. 108 Vgl. Snyder, Bloodlands, S. 120. 109 Ebd., S. 107.

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Schon seit 1933 sahen sich neben Polen auch Deutsche und in den Jahren 1935 bis 1938 zusätzlich noch Letten, Koreaner, Kurden und Iraner der ethnischen Verfolgung durch die Sowjetmacht ausgesetzt.110 Seit 1944 wurden wieder ganze Ethnien – Inguschen, Kalmücken, Krimtataren, Russlanddeutsche (auch bereits 1941), Tschetschenen u. a. – deportiert, die pauschal der Kollaboration mit den deutschen Aggressoren bezichtigt worden waren. Nicht nur die vorgegebenen Opfer - Quoten, die eklatanten Verstöße gegen die Ideologie und die Beliebigkeit der Strafe demonstrieren die Willkür bei der Wahl der Opfer im Stalin’schen Großen Terror, sondern auch die spontan unkontrollierbaren Abläufe der Opferbestimmung. So bezichtigte ein „kleiner“ Akteur der Terrorwelle, nämlich ein einfaches Parteimitglied aus Kiew, Polia Nikolajenko, während der Parteiversammlungen ihr völlig unbekannte Menschen des Verrats und „begründete“ diese Vorwürfe schreiend mit der Behauptung, sie könne die „Feinde des Volkes“ an ihrem Blick erkennen. Mit ihren absurden Denunziationen war sie für ca. 8 000 Todesopfer verantwortlich. Das wilde Treiben Nikolajenkos hatte die Rückendeckung Stalins, der ihre fanatisierte Dummheit in seinen Auseinandersetzungen mit der ukrainischen Parteiführung nutzte.111 Und der russische Forscher Mark Solonin zeigt, dass die regionalen Organe des NKVD, konfrontiert mit dem von oben kommenden Druck, gegen Polen vorzugehen, sich bei der Suche nach Opfern polnischer Telefonbücher bedienten.112 Die gegen nicht existierende Feinde gerichtete Gewalt wandte sich oft gegen ihre Vollstrecker. Der Chef des ukrainischen NKVD, Wsewolod Balitzkij, ging bereits während der Kollektivierung repressiv gegen die polnische Minderheit in seiner Republik vor, der er die Unterstützung einer antisowjetischen Organisation POW ( Polska Organizacja Wojskowa : Polnische Kampforganisation ) unterstellte. Nachdem Stalin Anfang 1937 den Kampf gegen die „polnische Verschwörung“ auf die gesamte Sowjetunion ausgedehnt hatte, wurde Balitzkij wegen angeblicher Nachlässigkeit durch seinen Stellvertreter Izrail Leplewski ersetzt und daraufhin erschossen. Auch Leplewski wurde im April 1938 erschossen. Sein Nachfolger Alexander I. Uspenskij versteckte sich, um der Aufgabe, die gefährliche „polnische Aktion“ zu leiten, zu entkommen; letztlich gefasst, wurde auch er erschossen. Die Monstrosität dieser Vorgänge wird durch die Tatsache unterstrichen, dass sich Balitzkij die POW ausgedacht hatte. Diese Organisation hat in der Sowjetunion niemals existiert.113

110 Vgl. Montefiore, Stalin, S. 658. 111 Vgl. ebd., S. 254 f. 112 Vgl. Mark Solonin, Mozgoimenie. Falšivaja istorija Velikoj vojny [ Die falsche Geschichte des Großen Krieges ], Moskva 2008, S. 207. 113 Vgl. Snyder, Bloodlands, S. 108–109, 116 f. Siehe auch ebd., S. 124 f.

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VIII. („Imitierte“) Moderne als das Potenzial der „Gewaltexzesse“ ? In Anlehnung an Max Weber sieht der in England lebende Soziologe Zygmunt Bauman die gesellschaftliche Modernität vor allem durch die Kultur der instrumentellen Rationalität und die moderne Bürokratie geprägt.114 Beide Faktoren erachtet er als die notwendigen, wenn auch nicht ausreichenden Voraussetzungen dafür, dass der Holocaust stattfinden konnte. Mit Hilfe der hier eingeführten Terminologie ausgedrückt, haben seiner Meinung nach sowohl die Intentionen der Urheber als auch die Gewaltmaßnahmen selbst durch und durch modernen Charakter. Die Intentionen entstammten direkt dem Selbstverständnis der Moderne : „Modern culture is a garden culture. [...] Modern genocide, like modern culture in general, is a gardener’s job. It is just one of the many chores that people who treat society as a garden need to undertake. If garden defines its weeds, there are weeds wherever there is the garden. And weeds are to be exterminated. [...] Stalin’s and Hitler’s victims were not killed in order to capture and colonize the territory they occupied. [...] They were killed because they did not fit, for one reason or another, the scheme of a perfect society. Their killing was not the work of destruction, but creation“.115 Der Problematik des vernichtenden social engineering zugewandt, übersieht Bauman die markante Besonderheit der Massenmorde Stalins im Vergleich zu jenen Hitlers : Dem sowjetischen Diktator fielen unzählige wahllos ausgesuchte Sowjetuntertanen zum Opfer. Trotzdem hat Bauman mit seiner Modernitätsthese einen großartigen Beitrag zur Gewaltforschung geleistet. An die These Baumans knüpft Jörg Baberowski in einem Aufsatz kritisch bis ablehnend an, den er für den von ihm herausgegebenen Band „Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert“116 verfasst hat. Im Gegensatz zu Bauman, der den Gefahren der „modernen Gartenarbeit“, die gleichermaßen Unkraut wie objektive Feinde beseitigen kann, den Großteil seiner Holocaust - Analyse widmet,117 unterstreicht Baberowski die Vorteile des mit der Moderne verbundenen „Streben[ s ] nach Ordnung“, d. h. danach, „Ambivalenz zu überwinden und Eindeutigkeit herzustellen“.118 Auf dem Weg zum friedlichen Garten müssten prämoderne Kräfte, die für die ausbleibende gesellschaftliche „Eindeutigkeit“, d. h. für den Fortbestand der überkommenen gesellschaftlichen „Ambivalenz“ verantwortlich seien, beseitigt werden. Da sich in den vormodernen Gesellschaften Gewalt „frei entfalten konnte“,119 traue sich dort nur der übermächtige Staat an die Aufgabe heran, moderne Bürokratie auf114 Bauman, Modernity. 115 Ebd., S. 93. 116 Jörg Baberowski ( Hg.), Moderne Zeiten ? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006. 117 Vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a. M. 1996. 118 Vgl. Jörg Baberowski, Diktaturen der Eindeutigkeit. Ambivalenz und Gewalt im Zarenreich und in der frühen Sowjetunion. In : ders. ( Hg.), Moderne Zeiten ?, S. 38–40. 119 Ebd., S. 54.

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zubauen und die erwünschte „Eindeutigkeit“ – Rechtsstaatlichkeit, Ordnung und ethnische Homogenität – herbeizuführen. Er wende dabei massiv Gewalt an ( gewaltlose Modernisierungswege thematisiert der Autor nicht ) : „Deshalb feierten die monströsen Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts vor allem in den vormodernen, staatsfernen Räumen ihre größten Triumphe, dort, wo sich der Hybris des modernen Interventionsstaates nichts mehr entgegenstellte. [...] Nicht anders verhält es sich mit den Gewaltexzessen und Massentötungen, die in der Sowjetunion, in China, in Korea und Kambodscha im Namen des Kommunismus verübt wurden“.120 Die exzessive Gewaltanwendung durch den bolschewistischen Staat sieht Baberowski in der Tradition der russischen Imitationen der westlichen Moderne stehen. Er schätzt das Streben der Romanows nach der Überwindung der nationalen Ambivalenz ihres Imperiums ( d. h. nach Russifizierung der Völker in den eroberten Ländern ) als von vornherein zum Scheitern verurteilt ein. Dabei entzieht er sich der Frage, ob ein durch Expansion entstandenes Reich überhaupt von Bestand sein kann, wenn beträchtliche Teile seiner Peripherie moderner als sein Kernland sind. In den zwangseinverleibten Ländern der südlichen und westlichen Peripherie des Zaren - Imperiums wurde Russland von den Litauern, Polen, Ruthenen ( Belarussen und Ukrainern ), Tataren u. a. doch nicht nur deshalb als „barbarisch“ angesehen, weil sich seine Eliten gewaltsamer Herrschaftsmethoden bedienten und damit von den „indigenen Kulturen“ entfremdeten. Auch seine Rückständigkeit provozierte diese Grundeinstellung. Die aussichtslose Politik der harten und weichen Gewaltanwendung im Dienste der nationalen „Homogenisierung“ zeugte vom unlösbaren Dilemma des nicht von ungefähr als das „Gefängnis der Völker“ apostrophierten Zaren - Imperiums. Sehr „gouvernemental“ ist auch die Sicht Baberowskis auf die bolschewistische Gewalt. Im sozialistischen Experiment erkennt er ausschließlich ein „Projekt, dessen Absicht darin bestand, im Imperium die ständischen und ethnischen Unterschiede zum Verschwinden zu bringen und [ bäuerliche ] ‚Barbaren‘ in zivilisierte Europäer zu verwandeln“.121 Als verträten die Kommunisten eine nationalistische Kolonialmacht, behauptet Baberowski gewagt, „das moderne Streben nach Eindeutigkeit“ habe „die ultima ratio des stalinistischen Terrors, seine Begründung und Rechtfertigung“122 dargestellt. Dieser Argumentation zufolge stellten die Bolschewiki die Utopie des Kommunismus und den „Marxismus - Leninismus“ lediglich zur Schau, während sie realiter versuchten, die „barbarischen“ russischen Bauern in eine „zivilisierte“, homogene Nation nach „europäischem Vorbild“ umzuwandeln. Die von Baberowski benutzte Kolonialsprache – er unterstellt der jeweiligen russischen 120 Ebd., S. 40. 121 Ebd., S. 49 f. Daraus leitet er ein Forschungsdesiderat ab : „Kollektivierung und Industrialisierung wurden bislang stets nur daraufhin untersucht, was sie ökonomisch bedeuteten, nicht aber, welche zivilisatorische Bedeutung in diesen Modernisierungsprojekten verborgen lag“. Ebd., S. 53. 122 Ebd., S. 54.

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Regierungsgewalt stets die Intention der „Zivilisierung“ – verwirrt noch zusätzlich, weil damit der Eindruck erweckt wird, dass aufgeklärte Modernisierer von barbarischen Bauern und rückständigen Völkern, die sich frei entfaltende Gewalt gewöhnt waren, dazu gezwungen wurden, Gewalt anzuwenden. Dieser Eindruck hat mit der Wirklichkeit aber kaum etwas oder gar nichts zu tun. Selbst in Russland verdienen „politische Projekte“ nicht alleine deshalb das Adjektiv „zivilisiert“, weil sie von der korrupt - zynischen zaristischen Bürokratie oder von der marxistischen Partei an der Macht verfolgt werden. Bei aller Kritik an Bildungsdefiziten und rohen Sitten der Bauern in den russischen Ländern muss betont werden, dass sie sich selbst in den schlimmen Zeiten der Kollektivierung einer Diskussion mit den Bolschewiki nicht verschlossen, vorausgesetzt, sie wurden auf zivilisierte Weise behandelt.123 Da die oft primitiven Machthaber und ihre nicht anders gestrickten Vertreter vor Ort diese Erwartungen meist nicht erfüllten, sahen sich die Landwirte auch dazu gezwungen, erbitterten Widerstand zu leisten, was im Jahre 1930 besonders oft geschah.124 „Mehr als ein ukrainisches Kind“ – schreibt Snyder über diese Zeit der Hungersnot – „musste einem Bruder oder einer Schwester sagen : ‚Mutter hat uns gesagt, wir sollten sie essen, wenn sie stirbt‘“.125 Verhielten sich diese Bauern, die sich dem staatlichen Raub von Hab und Gut entgegenstellten, diese Mütter, die deshalb starben, weil sie das knappe Essen zuerst ihren Kindern gegeben hatten, und diese jungen Kannibalen wirklich nicht zivilisiert ? Die folgende Wortwahl wird der Gewaltanwendung durch die kommunistischen „Modernisierer“ gerechter : Eine quasi - intellektuelle Sektierer - Partei ergriff in einem Staatsstreich die Macht, um ein ideologisches Gesellschaftsprojekt zu verwirklichen, das sie auch mittels jeder nur erdenklichen Gewalttat verfolgte. Baberowski geht auf die Tatsache nicht ein, dass die Gewalt der kommunistischen Machthaber durch den Marxismus geprägt wurde. Damit deutet er an, die Kommunisten hätten barbarische Gewalt biblischen Ausmaßes eingesetzt, um eine moderne und nicht unbedingt eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Leider nennt der Berliner Historiker nicht ein einziges Faktum, das trotz aller unzweideutigen Schnittmengen von Sozialismus und Modernität annehmen ließe, die kommunistische Gewalt wäre primär der Rechtsstaatlichkeit, Ordnung und ethnischen Homogenität geschuldet gewesen. Ganz zu schweigen davon, dass vom Ergebnis her die kommunistische Modernisierung, wo auch immer sie stattgefunden haben mag, bestenfalls als pathologisch bezeichnet werden kann.126

123 Dazu Lenny Viola, Peasant Rebels under Stalin. Collectivization and the Culture of Peasant Resistance, Oxford 1996, S. 147–149. 124 Vgl. ebd., besonders S. 132–180; Baberowski, Diktaturen der Eindeutigkeit, Anm. 45, S. 59, zitiert übrigens auch Viola. 125 Snyder, Bloodlands, S. 72. 126 Über die pathologische Modernisierung im Kommunismus siehe Jerzy Maćków, Totalitarismus und danach, S. 26 f.

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Alles in allem beantwortet Baberowski mitnichten die grundsätzliche Frage der politischen Gewalt, die immer lautet : Warum lassen manche Regierende angesichts der Probleme mit der Verwirklichung ihrer Herrschaftsziele Menschen massenhaft umbringen und andere nicht ? Ist es wirklich ein Zufall, dass all jene „Gewaltexzesse und Massentötungen [...] in der Sowjetunion, in China, in Korea und Kambodscha“, für die Baberowski in der Modernisierung die Erklärung gefunden zu haben glaubt, „im Namen des Kommunismus verübt wurden“ ? Warum entwickelte sich dabei ausgerechnet Südkorea zu einer modernen Gesellschaft, obwohl in Nordkorea ungleich mehr monströse Gewalt angewendet worden ist? Auch in Bezug auf den Nationalsozialismus beantwortet Baberowski die Gewaltfrage nicht zufriedenstellend, obwohl es für ihn kein Zufall ist, „dass die Nationalsozialisten ihr Mordprogramm nicht im eigenen Land, sondern im fernen Osteuropa, unter Bedingungen eines barbarischen Krieges vollendeten. Deshalb hatten die modernen rassistischen Diskurse in den USA eine andere politische Wirkung als in Deutschland, wenngleich sie sich aus verwandten intellektuellen Quellen speisten“.127 Es verwundert schon, dass sich der Herausgeber von „Moderne Zeiten ?“ nicht über das Verhältnis des Nationalsozialismus zur Moderne auslässt, obwohl er diese ( und damit indirekt auch Deutschland ) ausdrücklich aus dem Zusammenhang „des“ ( welchen ?) Mordprogramms ausnimmt, indem er es den Nationalsozialisten, dem Krieg und dem „fernen Osteuropa“ in die Schuhe schiebt. Gibt es wirklich keine plausible Erklärung dafür, weshalb die Nationalsozialisten ca. zehn Millionen Menschen aus dem Osten nicht nach Deutschland transportiert haben, um sie ausgerechnet hier verhungern zu lassen, zu erschießen und zu vergasen ? Ganz nebenbei blendet Baberowski noch die Tatsache aus, dass aus dem „Deutschen Reich“ wahrscheinlich weniger Menschen zum Töten in den Osten geschickt wurden als umgekehrt. Es handelte sich dabei vor allem um deutsche Juden, die nach Minsk, Riga, Kaunas und Łódź ( diese Stadt war zuvor dem „Reich“ einverleibt worden ) gebracht wurden. Ihre Deportationen begannen im Oktober 1941, wobei es damals noch kein „Mordprogramm“ für sie gab ( trotzdem wurden die in Riga und Kaunas Angekommenen „dank“ eifriger Nationalsozialisten vor Ort sofort bzw. bald umgebracht ).128 Dahingegen wurden im Vernichtungslager in Ausschwitz ( diese Stadt war ebenso ins „Reich“ eingegliedert worden ) ca. 200 000 polnische Juden aus dem „Generalgouvernement“ vergast. Ebenso wurden in Chełmno ( Kulmhof im zum Reich gehörenden „Wartheland“) Juden aus dem Osten ermordet. Analytisch wenig ergiebig ist schließlich der Hinweis auf die USA. Rassenlehre und Eugenik galten zwar auch in vielen westlichen Gesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts als anerkannte Wissenschaften. Daraus kann jedoch nicht ernsthaft der Schluss gezogen werden, die USA hätten deshalb keine 127 Baberowski, Diktaturen der Eindeutigkeit, S. 40. 128 Vgl. Snyder, Bloodlands, S. 217–220.

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rassistischen Völkermorde begangen, weil ihnen ein „fernes“ Land fehlte, in dem Erschießungskommandos hätten agieren, Kriegsgefangene hätten ausgehungert und Baracken, Gaskammern sowie Krematorien hätten errichtet werden können. Wenn es bei der Massenvernichtung von Menschen tatsächlich ausschließlich auf die „verwandten intellektuellen Quellen“ und abgelegene Orte angekommen wäre, hätten sich etwa Woodrow Wilson oder Franklin D. Roosevelt für Panama oder ein schwach besiedeltes Territorium innerhalb der eigenen Staatsgrenzen entscheiden können.

IX.

Repression autoritärer Ideokratie nutzt den nationalen Kulturkontext

Die Nationalsozialisten begingen ihre Massenmorde nicht infolge der unzureichenden Modernisierung der von ihnen im „fernen Osteuropa“ für eine Weile eroberten Länder, zumal Hitler dort ausgerechnet die Vernichtung der modernen bürgerlichen und urbanen Bevölkerung angestrebt hatte und zum beträchtlichen Teil auch verwirklichte.129 Vielmehr kann als die Erklärung für diese schrecklichen Gewaltmaßnahmen die Tatsache dienen, dass sie durch eine rassistisch - eliminatorische Ideologie legitimiert wurden, die sich insofern in den kulturellen Kontext der funktionierenden „Volksgemeinschaft“ einfügte, als sich die Nationalsozialisten bis zum Ende ihrer Herrschaft auf das Volk und dessen Meinung einlassen und verlassen konnten.130 Dieser Verlass stellte die notwendige Voraussetzung für das Instandsetzen und reibungslose Funktionieren der modernen bürokratischen bzw. militärischen Mordmaschinerie dar, in der – wie Bauman es in seinem Werk über den Holocaust und die Moderne131 eindringlich zeigt – die Kontrolle über das ganze komplexe Gewaltvorhaben nur Wenigen vorbehalten und die Verantwortung für die Teilmaßnahmen von den Durchführenden auf die Vorgesetzten abgeschoben wurde. Nicht nur wegen der Vernichtung der aus dem zaristischen Russland kommenden Eliten durch die Bolschewiki, sondern auch deshalb, weil die Russen bereits unter der Zarenherrschaft eine passive nicht - bürgerliche Gesellschaft gebildet hatten,132 agierte das Monstrum des kommunistischen Leviathans in einer „gesellschaftlichen Leere“ ( das war freilich in den stärker bürgerlich geprägten nicht - russländischen Ländern des kommunistischen Imperiums nicht unbedingt der Fall ). Das Fehlen der bürgerlichen Akteure erleichterte also die reibungslose Funktionsweise seines Repressions - und Unterdrückungsapparats. Nicht ganz, aber doch entschieden anders verhielt es sich mit der Judenvernich129 130 131 132

Vgl. ebd., 169–198. Vgl. Heinemann, Krieg und Frieden, S. 26–28. Bauman, Modernity. Vgl. Jerzy Maćków, Am Rande Europas ? Nation, Zivilgesellschaft und außenpolitische Integration in Belarus, Litauen, Polen, Russland und der Ukraine, Freiburg i. Brsg. 2004, S. 170 f.

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tung und den anderen nationalsozialistischen Massenmorden. Bauman zitiert in diesem Zusammenhang Sarah Gordon, die vor knapp drei Jahrzehnten zu Recht das „extreme powerful government“133 als eine unverzichtbare Voraussetzung der nationalsozialistischen Gewalt genannt hatte. Für das Gelingen des von der Ideologie vorgeschriebenen Vernichtungsvorhabens war jedoch darüber hinaus außergewöhnlich wichtig, dass die Gewaltprojekte des modernen deutschen Leviathans nicht einen Widerstand der starken deutschen bürgerlichen Gesellschaft hervorriefen. Das tatsächliche Ausbleiben dieses Widerstandes ging auf eine „positive“ gesellschaftliche Leere zurück : Die Akteure der bürgerlichen Gesellschaft standen dem nationalsozialistischen Regime größtenteils positiv gegenüber. Dabei basierte die Popularität des Regimes nicht primär auf dessen Vernichtungspolitik, sondern die Vernichtungspolitik stützte sich auf diese Popularität. Für die Letztgenannte sorgte der nationale Kulturkontext. In diesem Sinne erklärt der traditionelle deutsche Antisemitismus zwar nicht die Extermination der Juden, aber er war dennoch stark genug, um gegenüber den Verfolgten jene Gleichgültigkeit mit zu erzeugen, die der polnische Literatur wissenschaftler Jan Błoński in seinem berühmten Essay „Die armen Polen schauen auf das Ghetto“134 seinen Landsleuten vorhält. Aus nachvollziehbaren Gründen war es jedoch nicht die polnische ( oder französische oder ukrainische oder englische oder amerikanische usw.), sondern die deutsche Verbannung der Juden aus dem von Błoński sogenannten „Raum der gesellschaftlichen Solidarität“,135 die den Völkermord an ihnen möglich machte. Ähnliches gilt für die anderen Opfer des „Dritten Reiches“. In diesem Zusammenhang ist das in Deutschland historisch gewachsene Kulturmuster der Missachtung der slawischen Völker wichtig gewesen. Dessen verheerende Wirkung kann am Beispiel Polens angedeutet werden. Es ist heute fast vergessen, dass Hitler zunächst der antipolnischen Politik der Weimarer Republik ein Ende gesetzt hatte und in Polen den Verbündeten für den geplanten Krieg gegen die Sowjetunion suchte. Diese Politik zog eine „gute Presse“ Polens in Deutschland nach sich, ohne dass die historisch gewachsene deutsche Attitüde der kulturellen Überlegenheit das Sendungsbewusstsein einer „zivilisatorischen Mission“ im slawischen Osten getilgt hätte. Die polnische Ablehnung der deutschen Pläne ließ die nationalsozialistische Propaganda auf diese herkömmliche Attitüde wieder zurückgreifen, was in den kommenden Jahren eine Art innerdeutsche Fundierung der gegen die Polen ausgeübten Gewalt darstellte.

133 Sarah Gordon, Hitler, Germans and the „Jewish Question“, Princeton 1984, S. 48 f., zit. nach Bauman, Modernity, hier S. 94. 134 Jan Błoński, Biedni Polacy patrzą na getto [ Die armen Polen schauen auf das Ghetto ], Krakau 1994, S. 42–44. 135 Ebd. Helen Fein schreibt in Bezug auf Deutschland von „universe of obligation“. Vgl. dies., Accountig for Genocide. National Response and Jewish Victimization during the Holocaust, New York 1979, S. 4, zit. nach Bauman, Modernity, S. 26.

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Mussolinis Italien gibt ein Beispiel dafür ab, dass autoritäre Umma mit einer aggressiven Ideologie in einem anderen Kulturkontext nicht unbedingt zum schrecklichen Gewaltsystem mutieren muss. Vom deutschen Fall kann zudem gelernt werden, wie verhängnisvoll jene Muster des Kulturkontextes sind, die dazu genutzt werden können, institutionelle Voraussetzungen der Gewalt zu begünstigen. Die rechtsstaatliche Demokratie, die selbst nicht selten die nationalistische Relativierung der Moral und des gesunden Menschenverstandes fördert, stellt zugleich das einzig bekannte institutionelle Korrektiv dar, das die gewaltigen Vernichtungspotenziale der Moderne zu kontrollieren und zu zähmen imstande ist. Die nur seichte Verankerung der Demokratie in Deutschland, die sich in der Ablehnung der Weimarer Republik besonders durch das – nicht zuletzt junge – Bildungsbürgertum manifestierte,136 erwies sich in diesem Zusammenhang als verhängnisvoll. Für dieses Bürgertum schien die vermeintliche Größe des monarchischen Deutschlands wertvoller als die demokratische Freiheit der Weimarer Republik gewesen zu sein. Vor dem Hintergrund dieses adoleszenten nationalen Größenwahns trug der Umstand, dass die Kriegsniederlage und der Zerfall des Wilhelminischen Reiches historisch mit der Wirtschaftskrise und der Demokratie verknüpft waren, zur Ablehnung der Letztgenannten bei. Ohne das Korrektiv des demokratisch fundierten politischen Pluralismus konnte Hitler den durch sein Regime ideologisch geschickt mitgestalteten Kulturkontext frei nutzen. Folgerichtig fand er für die rassenideologisch motivierte Diskriminierung und Verfolgung der subjektiven und objektiven Feinde zumindest Billigung, sehr oft aber auch eine tatkräftige Unterstützung in der „deutschen Volksgemeinschaft“ – vor allem was die Juden und „Zigeuner“ angeht. „Gegen die nationalsozialistische Judenpolitik rührte sich in der Bevölkerung so gut wie keine Hand“ – stellte dazu Ulrich Heinemann einige Jahre vor Daniel J. Goldhagen137 unmissverständlich fest.138 Über die recht „eindeutige“ Haltung der Bevölkerung gegenüber den Roma gibt wiederum der nach Einschätzung Till Bastians für den Großteil der deutschen Bevölkerung repräsentative Inhalt eines Schreibens Auskunft, das eine Berliner Kleingärtnergruppe „am 28. Oktober 1943, [...] als fast alle deutschen ‚Zigeuner‘ bereits nach Auschwitz oder in andere Konzentrationslager deportiert worden waren, an die Berliner Kriminalpolizei richtete : ‚Wir sprechen hierdurch die dringende Bitte aus, dafür Sorge tragen zu wollen, dass die Zigeuner, die noch auf Kleingärtnerparzellen hausen, endlich einem Sammellager überwiesen werden. Abgesehen davon, dass dadurch die Kleingärtner von unliebsamen Mitmenschen befreit würden, würden auch Kleingärtnerparzellen frei werden‘“.139 136 Vgl. Karl Dietrich Bracher. Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 1970, S. 178–183. 137 Dieser hat mit einer ähnlichen Behauptung nicht nur in Deutschland eine große Diskussion ausgelöst. Vgl. Daniel Jonah Goldhagen, Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, New York 1996. 138 Vgl. Baberowski, Diktaturen der Eindeutigkeit, S. 32. 139 Zit. nach Bastian, Sinti und Roma, S. 35.

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Die Einstellung weiter Teile der deutschen Bevölkerung gegenüber den Geisteskranken und der Euthanasie war demgegenüber weniger eindeutig, weil auch „normale“ Deutsche Angst haben konnten, zu „Schwachsinnigen“ erklärt zu werden.140 Mit dieser Angst der „Volksgemeinschaft“ und der Kritik seitens der Katholischen Kirche konfrontiert, zeichnete sich die nationalsozialistische Politik in dieser Frage bezeichnenderweise nicht immer durch Konsequenz aus. Denn die „Machthaber waren peinlich auf eine gute Presse im Volk bedacht und wichen zuweilen sogar zurück, wenn sich öffentlicher Unmut breit machte. Der vorübergehende Stopp der Euthanasie war ein solcher Fall“.141 Diese Responsivität der politischen Führung galt übrigens nicht nur den Stimmungen des Volkes, sondern auch den Mächtigen der Gesellschaft, von denen es im „Dritten Reich“ ungleich mehr als in der Stalin’schen Sowjetunion gab, wo keine Kirche je eine Maßnahme der Machthaber öffentlich kritisieren konnte. Im „Dritten Reich“ wurde zwar der politische Pluralismus rücksichtslos bekämpft, weshalb das nationalsozialistische Regime durch die politische Alternativlosigkeit geradezu bestach. Nach der Abschaffung der politischen Opposition wurde gegen den schwachen politischen Widerstand rücksichtslos vorgegangen. Nichtsdestotrotz kannte die rassistische Ideokratie im Gegensatz zum totalitären Kommunismus einen eingeschränkten gesellschaftlichen Pluralismus.142 Die der Politik gegenüber weitgehend autonome Wirtschaft stellte dabei den gesellschaftlichen Bereich schlechthin dar, in dem Menschen nach Aufstieg, Wohlstand, Anerkennung und auch nach Macht streben konnten, ohne sich allzu stark mit der Politik abzugeben ( es sei denn, sie profitierten wirtschaftlich von der Zusammenarbeit mit dem Regime ). Der Nationalsozialismus akzeptierte übrigens nicht nur die private Wirtschaft, sondern in Friedenszeiten auch grundsätzlich ihre rechtliche Absicherung,143 wie Ernst Fraenkel bereits in seinem 1941 erschienenen „The Dual State“ festhielt : „Nationalsozialistische Phrasen haben das deutsche Eigentumssystem nicht erschüttert. Das Privateigentum genießt nach wie vor gegenüber behördlichen Übergriffen gerichtlichen Schutz – außer in politischen Fällen“.144 Obwohl sich Fraenkels Beobachtungen auf die Jahre 1933 bis 1938 ( in diesem Jahr floh er aus Deutschland ) beziehen, muss erwähnt werden, dass selbst 140 Aber : „Der von Hitler 1939 neben dem Arzt Karl Brandt zur ‚Euthanasie‘ ermächtigte Philipp Bouhler ‚fürchtet, dass unter Umständen während eines Krieges da oder dort einzelne Gauleiter diese Frage aufgreifen und ohne Steuerung in ihrem Gau zur Durchführung bringen würden‘. Der Druck von unten war gleichzeitig eine ausreichend solide Grundlage für die kommenden zentral gesteuerten Anstaltsmorde“. So Götz Aly / Angelika Ebbinghaus / Matthias Hamann, Aussonderung und Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren, Berlin (West ) 1987, S. 19. 141 Heinemann, Krieg und Frieden, S. 32. 142 Vgl. u. a. Juan J. Linz, Totalitäre und autoritäre Regime, hg. von Raimund Krämer, Berlin 2000. 143 Ausgenommen war selbstverständlich das Wirtschaftseigentum der Juden, das „arisiert“ wurde. 144 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Frankfurt a. M. 1974, S. 107 f.

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die nationalsozialistische Kriegswirtschaft ungleich freier verfasst war als die kommunistische zentrale Planwirtschaft zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Existenz. Den Besitzern der Unternehmen, die im „Dritten Reich“ als „autonome soziale Organisationen“145 fortbestanden, stand es frei, die „sich [...] ergebenden wirtschaftlichen Chancen“146 zu nutzen – oder nicht. Joachim Scholtyseck resümiert in seiner viel beachteten Monographie über die Unternehmerdynastie der Quandts am Beispiel Günther Quandts, der den Konzern in der nationalsozialistischen Zeit führte : „Sein [ aus der Weimarer Republik mitgebrachtes] Netzwerk ergänzte er [...] durch Männer der Wehrmacht und der Partei. Der Beitritt zur NSDAP am 1. Mai 1933 öffnete die Tore für lukrative Staatsaufträge [...]. Für sein wirtschaftliches Fortkommen hatte der Wechsel von der Demokratie zur Diktatur keine negativen Konsequenzen, weil das Regime staatliche Aufträge in Aussicht stellte, eher auf Anreize als auf Zwangsmaßnahmen setzte und somit Profite nicht nur möglich blieben, sondern sich tatsächlich einstellten“.147 Hitler interessierte sich für Wirtschaft kaum und suchte lediglich einen modus vivendi mit dem ökonomischen Establishment, dessen Elite jeden Übergriff der Partei leicht abwehren konnte.148 Allein dieser Befund rechtfertigt übrigens die Feststellung, dass es sich bei der nationalsozialistischen Ideokratie um ein autoritäres und kein totalitäres politisches System handelte.149 Auch die in der Geschichtsforschung seit Langem vertretene These von „polykratischen“ Machtstrukturen und einem sich aus dem „Naziblock“, der Großwirtschaft und der Armee zusammensetzenden „Machtkartell“ im Dritten Reich lässt sich mit der Totalitarismus - Behauptung ( die das Primat des Zwangs in der Gesellschaft zur Voraussetzung hat ) solange nicht in Einklang bringen,150 so lange der Gegensatz von Pluralismus und Totalitarismus gilt. Für die nationalsozialistische Ideokratie war der Zwang gegenüber ihren eigenen Angehörigen kontraproduktiv, weil ihre Bewegung den Großteil der Gesellschaft ergriff ( im Gegensatz zum Zwang der von der Gesellschaft ideologisch entfremdeten marxistischen Umma). Die Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung sollten nicht dort abgeschreckt werden, wo ein freiwilliges Mitziehen mit dem Regime leicht, sei es aus ideellen Gründen oder auf Kosten der Verfolgten, herbeigeführt werden konnte : „Namentlich in den ersten Kriegsjahren gab es in Deutschland tatsächlich so etwas wie eine ‚Volksgemeinschaft‘. Sie drückte sich in dem bewussten 145 Christoph Buchheim, Unternehmen in Deutschland und NS - Regime 1933–1945. Versuch einer Synthese. In : Historische Zeitschrift, 282 (2006), S. 351–390, hier 389. Zit. nach Joachim Scholtyseck, Der Aufstieg der Quandts. Eine deutsche Unternehmerdynastie, München 2011, S. 849. 146 Scholtyseck, Der Aufstieg, S. 842. 147 Ebd. 148 Vgl. Gorlitzki / Mommsen, Political ( Dis )Orders, S. 73. 149 Vgl. Yoram Gorlitzki und Hans Mommsen sprechen ausdrücklich vom „autoritären“ Regime der Nationalsozialisten. Ebd., S. 72. Zum Unterschied zwischen autoritärer und totalitärer Ideokratie siehe Maćków, Ohne Schreckensherrschaft, S. 157–159. 150 Dazu ausführlich Kershaw, Der NS - Staat, S. 95–111.

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Willen oder auch nur in der gedankenlosen Selbstverständlichkeit aus, die Privilegien eines ‚Herrenvolkes‘ auszukosten. Die Unbarmherzigkeit und Mitleidlosigkeit dieser ‚Volksgemeinschaft‘ bekamen von Anfang an besonders die Juden zu spüren“.151 Vor allem „Ärzte und Rechtsanwälte, aber auch andere freie Berufe, Lehrer und Journalisten unterstützten aus beruflichen oder standespolitischen Interessen die Diskriminierung ihrer jüdischen Kollegen“.152 In Erfüllung ihrer „Mission“ der Judenvernichtung waren die Nationalsozialisten sogar bereit, sich partiell mit den im Krieg unterworfenen Völkern im Westen und Osten des von ihnen beherrschten Kontinents zu arrangieren,153 selbst wenn die Letztgenannten auch der Vernichtung geweiht, weil „rassisch minderwertig“ waren. An der oft grauenvollen Ermordung von Juden „in einem Bogen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer“ im Juni–Juli 1941 beteiligten sich freiwillig antisemitische Segmente der einheimischen Bevölkerung der Bloodlands.154 Diesem Verhalten lag neben dem Wunsch nach Rache für die Grausamkeiten der gerade von den deutschen Truppen zurückgeworfenen Kommunisten, die ebenso pauschal wie unreflektiert und emotional „den Juden“ gleichgesetzt wurden, auch – ähnlich den erwähnten deutschen bürgerlichen Angehörigen der „Volksgemeinschaft“ – der mit dem traditionellen Antisemitismus verbundene Wunsch nach materiellen Vorteilen und sonstigen Vergünstigungen durch den Besatzer zugrunde. Nicht zuletzt aus Polen sind darüber hinaus Berichte über die Festnahmen und Auslieferungen von jenen Juden durch die einheimische Bevölkerung bekannt, die im Jahre 1942 den Transporten in Vernichtungslager entkommen waren :155 „In der Umgebung [ der Stadt Lublin ] liefen Banden von Juden herum, die aus Städten und Städtchen geflohen waren [...]. Manchmal gab man ihnen einen Teller Suppe oder eine Scheibe Brot. Meistens vertrieb man sie, damit der [ auf die jüdische Bezahlung ] neidische Nachbar nichts sieht – die Landwirte bekommen [ bei einer Denunziation ] die Kugel in den Kopf und das Haus wird

151 Heinemann, Krieg und Frieden, S. 31. 152 Ebd., S. 32. 153 Siehe die vergleichende historische Untersuchung von Tomasz Szarota, U progu zagłady. Zajścia antyżydowskie i pogromy w okupowanej Europie. Warszawa, Paryż, Amsterdam [ Am Vorabend der Vernichtung. Antijüdische Vorfälle und Pogrome im besetzten Europa. Warschau, Paris, Amsterdam ], Warszawa 2000. 154 Vgl. Snyder, Bloodlands, S. 206 f. 155 Dazu auch die ausgezeichnete Studie von Jan Grabowski, Judenjagd. Polowanie na Żydów 1942–1945. Studium dziejów pewnego powiatu [ Judenjagd. Jagd auf die Juden 1942–1945. Eine Studie zur Geschichte eines Landkreises ], Warszawa 2011. Unter der kommunistischen Herrschaft war diese Problematik von der Zensur behütet und deshalb auch den meisten Menschen unbekannt. Dazu Jerzy Maćków, Jedwabne und die dunklen Seiten der polnischen Geschichte. In : Bernd Rill ( Hg.), Nationales Gedächtnis in Deutschland und Polen, Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen, Heft 73, München 2011, S. 91–102.

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Jerzy Maćków

verbrannt [...]. Nicht selten hielt man [ aber ] den Juden fest und zog zur Polizeistation [...]. Für so einen Juden konnte man Lob und Prämie erhalten“.156

X.

Langfristig kommt die totalitäre Ideokratie ohne Schreckensherrschaft nicht aus

Das große Interesse Stalins für wirtschaftliche Detailfragen hatte stets auch politischen Charakter.157 Dies hing selbstverständlich mit der Ideologie zusammen, in der die Forderung nach Abschaffung des Privateigentums und somit der Marktwirtschaft den absolut zentralen Stellenwert einnahm. Im Gegensatz zu Hitler hat Stalin mit der Verstaatlichung des Handels und der Landwirtschaft sowie Aufbau von Staatsindustrie die Schwelle zum Totalitarismus tatsächlich überschritten. Weder Hannah Arendt noch Carl - Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski158 haben in den 1950er Jahren die ausschlaggebende Relevanz erkannt, welche die Abschaffung des „Privateigentums an Produktionsmitteln“ für den Totalitarismus hat. Diese Klassiker des Totalitarismus - Ansatzes unterschieden sich damit von Friedrich A. Hayek und Wilhelm Röpke, die noch in den 1940er Jahren eindrucksvoll darauf hingewiesen hatten, dass erst im sozialistischen Totalitarismus alle Menschen Beschäftigte des Staates und insofern sogar in ihrer privaten Existenz von ihm abhängig sind.159 Die Kehrseite der absoluten Vorherrschaft des Parteistaates in der Gesellschaft stellten die jämmerliche Effizienz der Staatsökonomie und die daraus resultierende Armut der Untertanen dar. Das durch die Gewalt biblischen Ausmaßes erzeugte Klima der Angst und Bedrohung verhalf den Machthabern dazu, den Unmut darüber zu verdrängen oder nicht aufkommen zu lassen. Zugleich zogen die periodisch wiederkehrenden Terrorwellen eine scheinbare politische „Instabilität“160 nach sich, die Stalin die Chance bot, gegen seine poli156 Barbara Engelkind, Jest taki piękny, słoneczny dzień ... Losy Żydów szukających ratunku na wsi polskiej 1942–1945 [ Es ist solch ein schöner, sonniger Tag ... Die Schicksale der Juden, die auf dem polnischen Dorf Rettung suchten 1942–1945], Warszawa 2011, S. 145 [ Übersetzung J. M.]. 157 Vgl. Gorlitzki / Mommsen, Political ( Dis )Orders, S. 63 f. 158 Friedrich und Brzezinski schreiben über die „zentrale Überwachung und Lenkung“ der Wirtschaft im Totalitarismus, womit sie offenbar ebenso die private Gewinne abwerfende Kriegswirtschaft Hitlers wie die komplett verstaatlichte zentrale Planwirtschaft im Kommunismus meinen. Dazu kritisch Jerzy Maćków, Die Krise des Totalitarismus in Polen. Die Totalitarismus - Theorie als Analyse - Konzept des sowjetsozialistischen Staates, Münster 1992, S. 66, dort auch Anm. 72. Hannah Arendt geht auf diese Problematik nicht ein. 159 Vgl. Friedrich A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Erlenbach ZH 1945, S. 56. Vgl. dazu Maćków, Die Krise, S. 62, dort auch Anm. 59. 160 Zum Konzept der politischen Stabilität als Kontrollierbarkeit der Lage durch die Regierenden siehe Jerzy Maćków, Die Konstruktion politischer Stabilität. Polen und Russland in den Umbrüchen der achtziger und neunziger Jahre, Baden - Baden 1998, S. 58–60.

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tischen Gegner vorzugehen, zumal seine Sorge, entmachtet zu werden, zeitweilig berechtigt gewesen sein mag.161 Die Tatsache, dass die marxistische Ideologie dem traditionellen russischen Kulturkontext fremd war, verlieh der offiziellen Gewaltrechtfertigung, die Repression sei gegen die „Volksfeinde“ gerichtet, paradoxerweise eine gewisse Glaubwürdigkeit. Die Entwicklung nach dem Tod Stalins, der im März 1953 inmitten der Vorbereitung einer neuen ( diesmal antisemitischen ) Welle der Schreckensherrschaft verstarb, zeigt, dass die totalitäre Ideokratie diesen „Terror“ – die harte Gewalt biblischen Ausmaßes – nicht unbedingt dazu braucht, um ihre ominösen objektiven Feinde und politische Gegner zu bekämpfen sowie die Gesellschaft im Angstzustand zu halten. Sie braucht ihn vielmehr zum Überleben. Denn ohne ihn begibt sie sich auf einen langen Weg des Niedergangs. Da der Terror ausgerechnet für den überwiegenden Teil der Systemelite lebensgefährlich war, haben die sowjetischen Machthaber nach 1953 ihr Gewaltregime reformiert. Sie hielten zwar am administrativen Entzug der Grundrechte für alle konsequent fest; zugleich verzichteten sie jedoch auf die Schreckensherrschaft. Es wurde die weiche Repression perfektioniert, was insbesondere auf die „Zersetzung“ der mittlerweile in ihrer Zahl überschaubaren Systemgegner hinauslief, die in der Öffentlichkeit als die vom objektiven Feind des „kapitalistischen Auslands“ gesteuerten Verräter verunglimpft wurden. Die Nachfolger Stalins setzten folglich auf die in seiner Zeit erfolgte „Umerziehung“ der Untertanen zu „sozialistischen Bürgern“ („Sowjetmenschen“), die annehmen ließ, dass die Ideokratie mittlerweile in einer ihr gegenüber konformen Kulturwelt agierte. Die Kommunisten beabsichtigten trotzdem zu keinem Zeitpunkt, ein autoritäres System einzuführen ( d. h. einen eingeschränkten Pluralismus, sei es nur in der von der strukturellen Ineffizienz befallenen Staatswirtschaft, zuzulassen ). Nach dem Abschied von der Schreckensherrschaft verfiel die Umma, wie Griffin es zutreffend ausdrückt, „into a daily, banal hell of bureaucratic rationalization, fossilized utopianism, and routinized charisma“.162 Im öden, von den Engpässen der zentralen Planwirtschaft geprägten Alltag war der „auffrischende“ Fanatismus einer Polia Nikolajenko nicht leicht zu generieren. Die Ernsthaftigkeit des sozialistischen Projekts, das bestenfalls dazu taugt, der Wirklichkeit der pathologischen Modernität einen Anstrich der Absurdität zu verleihen, kann auf Dauer offenbar nur mit einem allgegenwärtigen Klima der Überlebensangst, der Verdächtigungen und des Mistrauens gewährleistet werden. Wo die mit eiserner Faust durchgesetzte Vernichtung vorkommunistischer Eliten und die Abschaffung bzw. Unterwanderung der überkommenden Institu-

161 So verhielt es sich bei Stalin nach dem XVII. Parteitag der bolschewistischen Partei im Januar - Februar 1935. Vgl. dazu Montefiore, Stalin, S. 130 ff. Ähnlich war es während der chinesischen „Kulturrevolution“ um Mao bestellt. Dazu Chang / Halliday, Mao, S. 534–547. 162 Griffin, Legitimizing Role, S. 55 f.

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tionen es nicht vermocht hatten, die Grundlage für die erfolgreiche Sozialisierung der systemkonformen „sozialistischen Bürger“ zu legen, musste die administrative Entrechtung des Volkes mit einer geschickten Balance aus punktueller bzw. gestreuter Repression abgesichert werden. Das war vor allem in der im Zweiten Weltkrieg eroberten Peripherie der Fall, deren westlich geprägter Kulturkontext dafür sorgte, dass sich dort alle großen Krisen des kommunistischen Imperiums abspielten. Das Beispiel Polens veranschaulicht, wie gefährlich ein starker Widerstand für die primär auf der administrativen Unterdrückung basierenden Ideokratie war. Als Reaktion auf die spontane Aktivierung der polnischen nationalen Gemeinschaft im Jahre 1980 ging in den Jahren 1982 bis 1986 eine große Repressionswelle über das Land, die gegen Tausende Aktivisten und Anhänger der bis zum 13. Dezember 1981 legal agierenden Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“ gerichtet war. Daraufhin etablierte sich ein breiter antikommunistischer Untergrund. Die Behörden gingen entschlossen gegen die von ihm organisierten politischen Demonstrationen vor, während sie die von illegalen Untergrundverlagen vollbrachte Durchbrechung des staatlichen Kulturmonopols zähneknirschend duldeten. Die im Land nun vorherrschende, mit der Ideologie unvereinbare nationale Kultur wurde somit gleichsam fassbar und leicht reproduzierbar. Die ausschließlich dank der Unterstützung des Moskauer imperialen Zentrums an der Macht verbleibende Umma der Volksrepublik reagierte auf diese Entwicklung nicht zuletzt mit einer Vergabe von Reisepässen, die wesentlich liberaler als in jenen Staaten des Imperiums gehandhabt wurde, die keine breit gestreute Repression praktizierten. Die Kehrseite der verstärkten Repressivität stellte folglich eine neue Responsivität des Regimes dar, die sogar zur Lockerung der administrativen Unterdrückung führte. Der nationale Kulturkontext bewirkte also eine Entideologisierung („Pragmatisierung“) der Gewaltanwendung durch die Ideokratie. Zugleich gingen die Machthaber offiziell weder zur Schrift noch zu ihrem Herrschaftsmodell auf Distanz. Dieser für beide Seiten des Konflikts „marxistische Ideokratie vs. polnische Nation“ untragbare Zustand wurde erst mit dem im Jahre 1989 begonnenen Zerfall des kommunistischen Imperiums behoben.163 Auch in der Sowjetunion fand die Korrelation zwischen der Abnahme der Unterdrückung und der Zunahme der Repression eine Bestätigung, was die statistischen Daten über die Zahl der von sowjetischen Gerichten wegen „antisowjetischer Propaganda“ Verurteilten belegen. Diese Zahl war während der Reformperiode Chruschtschows im Jahresdurchschnitt mehrfach größer als in der „wenig liberalen“ Herrschaftszeit Breschnews.164 Und auch die Sowjetunion 163 Siehe Maćków, Die Krise, besonders S. 294–308. 164 Dazu Pavel Kudjukin, Levoe krylo sovetskogo dissidentstva 1968–1990 [ Der linke Flügel des sowjetischen Dissidententums 1968–1990], Präsentation für die Konferenz „Opozycja polityczna w krajach Europy Środkowo - Wschodniej w latach 1945–1989“ [Politische Opposition in den Ländern Mittel - und Osteuropas in den Jahren 1945– 1989], Opole, am 27.–28. November 2012.

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verfiel in eine Krise, für die allerdings zunächst nicht der national motivierte Widerstand ( obwohl er im Laufe der Perestrojka in der Westukraine und den baltischen Sowjetrepubliken eine für das gesamte Imperium zunehmend entscheidende Rolle spielte ), sondern die wirtschaftliche Ineffizienz den Impuls gab. Die zentrale Erkenntnis aus den misslungenen systemkonformen Reformen Michail Gorbatschows, eine ökonomische Leistungssteigerung und damit die Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem „kapitalistischen Feind“ seien nur durch die Wiederherstellung des Privateigentums und somit der Marktwirtschaft möglich,165 widersprach krass der marxistischen Schrift. Diese Erkenntnis entzog dem Kernland wie auch der bisher bis auf Polen wenig renitenten Peripherie die Legitimationsgrundlage.166 Der anschließende Zerfall der kommunistischen Ideokratie wurde von zwei Faktoren beschleunigt : Erstens fand die kriselnde Import - Umma in den Grenzen ihres riesigen Imperiums auch sieben Jahrzehnte nach ihrer Errichtung keine gesellschaftliche Unterstützung. Zweitens wollte sich ihre Führung trotz einiger halbherziger Versuche doch nicht dazu durchringen, der marxistischen Ideologie mit Schreckensherrschaft wieder Geltung zu verschaffen.

XI.

Fazit

Für die Formen der politischen Gewalt in einer Ideokratie ist es durchaus wichtig, welcher Ideologie sie verpflichtet ist. Besonders ins Gewicht fallen in diesem Zusammenhang die Universalität und Verwurzelung des Glaubens in der Bevölkerung. Ist die Ideologie exklusiv und weist sie beträchtliche Schnittmengen mit dem gegebenen Kulturkontext auf, arrangieren sich die Machthaber mit dem bürgerlichen Mainstream und mit den mächtigen Akteuren der Gesellschaft. Die Umma bedient sich dann eines autoritären Systems : Unter strikter Beibehaltung des ideologischen und politischen Monismus wird ein eingeschränkter gesellschaftlicher Pluralismus akzeptiert. Die Exklusivität des Glaubens schützt dabei die „auserwählte Mehrheit“ vor politischer Verfolgung. Der nationale Kulturkontext kann zusätzlich die penible Aussonderung der objektiven Feinde und eine Art Koexistenz der staatlichen Willkür mit Elementen der praktizierten Rechtsstaatlichkeit begünstigen. Die Gewalt der Ideokratie richtet sich in diesem Fall gegen ihre politischen Gegner und objektiven Feinde, wobei gegen die Letztgenannten Repression biblischen Ausmaßes eingesetzt werden kann. 165 Indem Jörg Baberowski die wesentlichen Inhalte des Marxismus ( vor allem die Forderung nach Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln ) ignoriert, blendet er beiläufig auch die zumindest mitentscheidende Bedeutung des wirtschaftlichen Versagens der sozialistischen Staatsökonomie für den Zusammenbruch des Sowjetsozialismus aus. Für ihn scheint einzig das kommunistische Fiasko, im Imperium eine „homogene Nation“ zu bilden, dafür verantwortlich. Vgl. Baberowski, Diktaturen der Eindeutigkeit, S. 51–53. 166 Vgl. Maćków, Die Konstruktion, besonders S. 209–223.

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Die in der Gesellschaft nicht verwurzelte und zugleich universale Ideologie ebnet dagegen den Weg zum totalitären Unterdrückungssystem. Da der Glaube spontan kaum Anhänger findet, muss die ( beinahe ) ganze Gesellschaft zur Konversion gezwungen („umerzogen“) werden, was nur mit einer beinahe lükkenlosen Unterdrückung möglich ist. Die Universalität der Ideologie macht es möglich, dass die Machthaber unter scheinheiliger Berufung auf die Schrift jeden zum subjektiven oder objektiven Feind erklären können, was Wellen der Schreckensherrschaft möglich macht. Die harte Gewalt biblischen Ausmaßes blüht besonders in jenen Gesellschaften auf, deren soziale Struktur kaum Bürgertum und deren Kultur kaum Nachfrage nach Recht kennen. Der Verzicht auf die Schreckensherrschaft ist für eine solche Ideokratie langfristig existenzgefährdend. Muss die totalitäre Umma mit vorwiegend administrativer Unterdrückung auskommen, geht der gesellschaftliche „Angstpegel“ zurück, weshalb die strukturelle Wirtschaftsschwäche unübersehbar und eines Tages in der Öffentlichkeit kritisch thematisiert werden kann. Die Fragestellung, die diesem Beitrag zugrunde liegt, lässt kaum Aussagen über die autoritären Gewaltsysteme zu, die keiner Ideokratie dienen. Der repressive Charakter des autoritären Nationalsozialismus legt freilich die Hypothese nahe, dass in allen autoritären Gewaltsystemen die Repression der Unterdrückung vorgezogen wird.

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Ergebnisse Uwe Backes / Steffen Kailitz

I.

Ideokratiekonzept

Dieser Band rückt die Perspektive der Herrschaftslegitimation in den Vordergrund. Damit wird eine in der neueren Forschung vernachlässigte Herrschaftskategorie abgegrenzt und beleuchtet. Mittels des Ideokratiekonzepts lassen sich wichtige Aspekte der Funktionslogik von Regimen einfangen, die bei anders gearteter Betrachtung unterbelichtet oder gänzlich unberücksichtigt blieben. So dürfte es kaum möglich sein, die Vernichtungspraxis gegen „objektive Feinde“1 unter Hitler und Stalin ohne Rückgriff auf die jeweilige Staatsideologie plausibel zu erklären. Selbst wer den Totalitarismusbegriff ablehnt und sich bei einem Vergleich zwischen dem NS - Regime unter Hitler und der Sowjetunion unter Stalin ganz auf die Herrschaftsstrukturen ( Institutionen und personelle Netzwerke ) konzentriert, kommt nicht umhin, den Bewegungscharakter beider Regime als ihre zentrale Gemeinsamkeit zu betonen.2 Die enorme Mobilisierungskraft der Bewegungen, welche diese Regime formten, ist aber ohne die Macht der sie an - und umtreibenden Überzeugungssysteme nicht zu verstehen. Die Beiträge dieses Bandes dürften die Fruchtbarkeit des Ideokratiekonzepts für die sozialwissenschaftliche und historische Forschung aufzeigen. Der erste Teil des Bandes leistet einen Beitrag, um die Konturen des Ideokratiekonzepts zu schärfen und verbleibende Probleme der Konzeptualisierung offen zu legen. Wie Uwe Backes in seiner begriffsgeschichtlichen Skizze zur „Ideokratie“ nachweist, ist der Begriff älter als der des „Totalitarismus“. Doch sind die Entwicklungslinien beider Konzepte im 20. Jahrhundert eng verschlungen. „Totalitarismus“ stand von der frühen „antifaschistischen“ Begriffsbildung der 1920er Jahre an für ideen - oder ideologiegetriebene Bewegungen, die einen totalen, unumschränkten Herrschaftsanspruch erheben, indem sie ein Erkennt1 2

Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 10. Auflage München 2005, S. 878 f. Vgl. Yoram Gorlizki / Hans Mommsen, The Political ( Dis - )Orders of Stalinism and National Socialism. In : Michael Geyer / Sheila Fitzpatrick ( Hg.), Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009, S. 41–86, hier 46. Den Begriff „Bewegungsregime“ als Alternative zum Totalitarismusbegriff propagierte zuerst : Robert C. Tucker, Towards a Comparative Politics of Movement - Regimes. In : American Political Science Review, 55 (1961) 2, S. 281–289.

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Uwe Backes / Steffen Kailitz

nis - und Deutungsmonopol reklamieren und mit ihrem „totalitären Geist“ ( „spirito totalitario“3) auf die Exklusion aller anderen politischen Kräfte zielen. Dieses zentrale ideologische Definitionselement war bereits im historisch älteren Ideokratiekonzept enthalten.4 Den totalitären Regimebildungen des 20. Jahrhunderts gingen ideologische Strömungen und politische Bewegungen voraus, die sich lange vorher ankündigten und entfalteten. Der Ideokratiebegriff stellt nach Backes zudem – ähnlich dem nach seiner Auffassung artverwandten Konzept der „politischen Religionen“5 – eine Verbindung zu älteren theokratischen Herrschaftsformen her und eröffnet somit eine universalhistorische Vergleichsperspektive, welche die bei den Klassikern der Totalitarismuskonzeption meist vorzufindende These von der historischen Neuartigkeit des Totalitarismus stark relativiere.6 Auch Hermann Lübbe behandelt in seinem Beitrag die intellektuelle Vorgeschichte der totalitären Regime. Er übt Kritik an Immanuel Kants Betonung des guten Willens zur moralischen Qualifikation menschlichen Handelns und zeigt auf, wie dieser gute Wille in Verbindung mit dem Anspruch höherer Einsicht und der Selbstimmunisierung gegenüber den Korrektiven erfahrungsbasierter Wissensbestände ideokratische Gewissenstäter zu beflügeln vermag. Diese gewinnen aus ihrer „Zugehörigkeit zu einer Vorzugsgruppe“ mit „höherer Einsichtsfähigkeit“ die Rechtfertigungsgrundlage für opferreiches Handeln in der Verfolgung ihrer utopischen politischen Projekte. Der Anspruch höherer Einsichtsfähigkeit leitet sich aus dem Besitz einer „Supertheorie“ ab, die den Gang der Geschichte zuverlässig erklärt, die Gegenwart verbindlich deutet und eine „wissenschaftlich begründete“ Zukunftsprojektion erlaubt. Die politische Elite ideokratischer Regime besteht gewöhnlich – anders als weit stärker vom Eigennutz getriebenen Formen der Autokratie7 – zu einem beachtlichen Teil aus überzeugten Anhängern der Herrschaftsideologie. „Sultanistische“ Ideokratien wie Rumänien unter Nicolae Ceauşescu und Nordkorea unter den Kims stellen hier keineswegs die Regel dar.8 In Ideokratien glauben die Herrschenden – zumindest im Allgemeinen – an die Überlegenheit der ideologisch abgeleiteten Lehrsätze, Regeln und Maximen und gewinnen daraus die Rechtfertigung für ihr politisches Handeln. Zum einen führt die Berufung auf 3

4 5 6 7 8

Luigi Sturzo, Spirito e realtà (1924). In : ders., Opera omnia, seconda serie, volume IV, Bologna 1956, S. 234–242, hier 240. Vgl. zum konzeptgeschichtlichen Hintergrund : Jens Petersen, Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs in Italien. In : Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2. Auflage Baden - Baden 1999, S. 95–117, hier 105. Vgl. Uwe Backes in diesem Band. Vgl. u. a. Emilio Gentile, Political Religion : a Concept and its Critics. A Critical Survey. In : Totalitarian Movements and Political Religions, 6 (2005) 1, S. 19–32. Vgl. zur Kritik : Uwe Backes, Totalitarismus – Ein Phänomen des 20. Jahrhunderts ? In: Jesse ( Hg.), Totalitarismus, S. 341–353. Wie vor allem personalistische „sultanistische“ Regime : Houchang E. Chehabi / Juan Linz ( Hg.), Sultanistic Regimes, Baltimore 1998. Vgl. Peter Gelius, Sultanistischer Totalitarismus. Nordkorea, Rumänien und Kuba im regimetheoretischen Vergleich, Baden - Baden 2013.

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höhere Einsichten ( und einen daraus abgeleiteten theoretischen, „vernünftigen“ Volkswillen ) zu einer Entkoppelung vom empirischen Volkswillen : So zeigt Leonid Luks, wie die Bolschewiki während des Bürgerkrieges die anfängliche Volksunterstützung fast völlig einbüßten, sich aber wenig um den tatsächlichen Willen des „Proletariats“ scherten, in dessen Namen sie ihre Herrschaft ausübten. Ideokratische „Supertheorien“ haben jedoch tatsächlich nur dann eine Chance, regimebildende Kraft zu entfalten, wenn ihre Lehren und Visionen – zumindest zeitweilig – Massenattraktivität entfalten. Dies dürfte vor allem dann der Fall sein, wenn die Legitimitätsgrundlagen seit langem bestehender Regime wie im Falle des russischen Zarenreichs in hohem Maße erodiert sind und in Zeiten tiefer, existenzbedrohender Krisen vollends unterspült werden.9 Aber auch unter derartigen Umständen gewinnen nur solche Bewegungen regimebildende Dynamik, die ideologische Überzeugungskraft entfalten, für große Gruppen der Bevölkerung Lösungen für gravierende Probleme versprechen und genügend Anhänger im Kampf gegen Regimealternativen wie den demokratischen Verfassungsstaat mobilisieren. Auf eine Honoratiorenpartei lässt sich eine Ideokratie nicht gründen; sie bedarf zwingend einer Massenbewegung.10 Um den Bewegungscharakter zu erhalten, muss die ideokratische Elite der Bevölkerung erfolgreich suggerieren, große Schritte in Richtung auf die Verwirklichung der Herrschaftsideologie stünden bevor. Laut Lothar Fritze erzeugen die Regimeideologien in Weltanschauungsdiktaturen zudem eine „ideologischen Selbstbindung“ der Herrschenden. Die Ideologie sei nicht lediglich ein Mittel, um die Herrschaft zu stabilisieren, sondern die überzeugten Ideologen und Führer empfänden eine echte Verpflichtung, das propagierte ideologische Projekt zu realisieren. Die ideokratische Elite ist mithin in der Wahl ihrer Ziele und Mittel nicht völlig frei, sondern muss ihr Reden und Handeln an den Leitsätzen der offiziellen „Supertheorie“ ausrichten. Da die Regimeeliten der Ideokratie über die Deutungshoheit der Ideologie verfügen, stellt dies aber kein Äquivalent für rechtsstaatliche und demokratische Institutionen dar. Eher besteht eine Parallele zum „aufgeklärten Absolutismus“, der ebenfalls keine institutionelle Kontrolle und Rückkopplung des Herrschaftshandelns an den empirischen Volkswillen vorsieht. Laut Fritze sollte der „Erfolg“ einer Weltanschauungsdiktatur daran bemessen werden, in welchem Maße es ihr gelinge, den Glauben der Bevölkerung an die Richtigkeit der propagierten Ideen und Vertrauen in die Tätigkeit der weltanschaulichen Führer zu verankern. Die Erwartungen der Bevölkerung im Blick auf eine sichtbare Annäherung an die ideologischen Ziele könnten nicht belie9

Bekanntlich stürzten aber etwas die russischen Kommunisten in der „Februarrevolution“ nicht direkt das morsche und verhasste Zarenreich, sondern sie setzten sich erst in der Transitionsphase in der „Oktoberrevoultion“ durch eine Mischung aus Putsch und Massenerhebung gegen demokratische Kräfte durch. Vgl. Rex A. Wade, The Russian Revolution, 1917, Cambridge 2000. 10 Auf dieser Grundlage fußt die Begründung für den Terminus „Bewegungsregime“. Vgl. Tucker, Movement - Regimes.

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big enttäuscht werden, ohne dass das Vertrauen in die Richtigkeit der Ziele und in die Tätigkeit der weltanschaulichen Führer erschüttert werde. Nach Fritze ist also der Grad der Ideologisierung nicht wie bei Linz ein Kriterium zur Abgrenzung von Totalitarismus und Posttotalitarismus, sondern von erfolgreichen und nicht erfolgreichen Ideokratien. In Anlehnung an die Unterscheidung Wolfgang Merkels in „defekte“ und „eingebettete“ Demokratien11 ließe sich – um den Faden weiterzuspinnen – demnach zwischen in dem Legitimitätsglauben der Bevölkerung eingebetteter und defekter Ideokratien unterscheiden. Während Lübbe und Fritze sich dem Phänomen der Ideokratie aus philosophischer Sicht nähern, analysiert es Peter Bernholz aus einer sozialwissenschaftlichen Rational - Choice - Perspektive. Inhaltlich treten teils erstaunliche Ähnlichkeiten zum philosophischen Zugang zutage. Ideokratien sind nach Bernholz politische Regime, in denen die Herrschaft durch Ideologien legitimiert wird, die so genannte „höchste Werte“ reklamieren. Diese „höchsten Werte“ sind demnach der Maßstab, dem „notfalls alles einschließlich des eigenen oder fremden Lebens und auch die politischen Entscheidungsverfahren unterzuordnen sind“.12 Totalitäre Regime interpretiert Bernholz als eine Unterform von Ideokratien. Abweichend vom vorherrschenden Begriffsverständnis erfasst er allerdings jene Ideokratien als totalitär, welche die in der Ideologie angelegten „höchsten Werte“ noch nicht verwirklicht haben. Von derart definierten „totalitären Regimen“ grenzt er die „reifen Ideokratien“ wie das pharaonische Ägypten ab, in denen fast alle an die höchsten Werte glauben. Die „reifen Ideokratien“ sind dabei fast durchweg Theokratien. Wie Backes vertritt mithin auch Bernholz die Auffassung, dass die Geschichte der Ideokratien weit hinter die kommunistische Oktoberrevolution zurückgeht. Nach Bernholz unterteilen Ideokratien die Herrschaftsunterworfenen systematisch in drei Gruppen : 1. Gläubige, 2. Menschen, die noch nicht glauben, aber konvertierbar sind, und 3. Nicht - konvertierbare. Die Behandlung durch die Ideokratie hänge eng mit der Zugehörigkeit zu einer der drei Gruppen zusammen. Die dritte Gruppe bildet letztlich das Spezifikum der Ideokratie. Nur in diesen Regimen gibt es klar definierte Bevölkerungssegmente, die aufgrund der „höchsten Werte“ gar nicht für das Regime gewonnen werden sollen, sondern schlicht von vornherein der Ausgrenzung und Vernichtung anheimfallen. Bernholz macht in diesem Zusammenhang auf die extrem hohen Opferzahlen einiger totalitärer Ideokratien aufmerksam. Johannes Gerschewski prüft in seinem Beitrag die Tragfähigkeit des Konzepts der Ideokratie als „Subtyp“ autokratischer Regime. Bei seinem Versuch, den analytischen Mehrwert und den Platz dieses Typus in einer Typologie politischer Regime zu verorten, kommt er zu einem ambivalenten Ergebnis. Bei manchen Konzeptualisierungen ist nach seinem Urteil der analytische Mehrwert des 11

Vgl. Wolfgang Merkel, Embedded and Defective Democracies. In : Democratization, 11 (2004) 5, S. 33–58. 12 Peter Bernholz in diesem Band.

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Ideokratiekonzepts gegenüber jenem des „Totalitarismus“ nicht ausreichend bestimmt. Dieser Einwand zielt vor allem gegen eine bloße Unterscheidung der Autokratien in Weltanschauungs - und Mentalitätsdiktaturen, wie sie Gerschewski bei Jaroslaw Piekalkiewicz’ und Alfred Penns Ideokratiedefinition13 und der inhaltlich verwandten der „Weltanschauungsdiktatur“ Lothar Fritzes ausmacht. Ein Problem sieht Gerschewski darin, dass sich bei dieser Zweiteilung fast alle Regime auf einer Seite ballen, nämlich jener der Mentalitätsdiktaturen. Gerschewski plädiert dafür, statt einer dichotomen Zweiteilung der Regime nach dem Grad der Ideologisierung inhaltlich genauer nach den unterschiedlichen Legitimationsquellen von Autokratien zu fragen. Daher begrüßt Gerschewski auch die Versuche der Herausgeber, eine Regimeklassifikation systematisch anhand von Legitimationsgründen vorzunehmen. Darüber hinaus will er ergänzend Repression und Kooptation heranziehen, um verschiedene Formen der Autokratie abzugrenzen.

II.

Legitimation

Die Herrschaftslegitimation bildet die Schlüsselkategorie bei der Definition ideokratischer Autokratie. Demnach ist deren Funktionslogik ohne angemessene Berücksichtigung ihrer Staatsideologie nicht zu verstehen. Roger Griffin hebt in seinem Beitrag die legitimierende Rolle „palingenetischer Mythen“, also der Mythen einer kollektiven Wiedergeburt, hervor. Er plädiert dafür, Max Webers Konzept charismatischer Herrschaft von der personellen auf die ideologische Ebene auszudehnen und sich der Konstruktionsform politischer Doktrinen zu widmen, die Phantasien beflügeln, eschatologische Hoffnungen wecken und die psychologischen Bedürfnisse ihrer gläubigen Anhänger befriedigen. Mythen der Wiedergeburt, der Wiederauferrichtung einer vor Jahrhunderten untergegangenen guten Ordnung, der Herausbildung eines Neuen Menschen, der in der Lage ist, die Grenzen irdischer Existenz zu überwinden, können Massen begeistern und umfassende Transformationsprojekte beflügeln. Auf diese Weise sind Ideokraten in der Lage, systemische Legitimität zu generieren, ihr Regime erfolgreich zu etablieren und zu stabilisieren. Diese Überlegungen lassen sich auf das NS - Regime unter Hitler, die Sowjetunion unter Lenin und Stalin und wohl auch auf den italienischen Faschismus unter Mussolini anwenden. Eine andere Seite der Herrschaftslegitimation behandelt Manfred G. Schmidt in seinem Beitrag. Es geht um das Streben nach Erzeugung von Output Legitimität bei Autokratien im Allgemeinen, also nicht nur ideokratischen Regimen im Besonderen. Nach den empirischen Ergebnissen Schmidts, die auf einem globalen Makrovergleich der wirtschaftlichen Leistungsprofile von Demokratien und Autokratien wie einer Fallstudie zur DDR basieren, wird das 13 Vgl. Jaroslaw Piekalkiewicz / Alfred Wayne Penn, Politics of Ideocracy, Albany 1995.

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„Dilemma des Diktators“14 nur scheinbar überwunden, indem Autokraten neben Repression auch Loyalität stiftenden politischen Tausch einsetzen. Die Herrschaftssicherung von Autokratien und damit auch Ideokratien stütze sich – abgesehen von Erfolgsfällen wie der Volksrepublik China – typischerweise nicht oder kaum auf Output - Legitimität, denn diese werde allenfalls phasenweise erreicht. In die gleiche Richtung weisen die Ergebnisse der Untersuchung der legitimierenden und delegitimierenden Wirkungen der Sozialpolitik der DDR. Dieser Fall ist laut Schmidt besonders aufschlussreich, weil sich die Herrschenden an einer Kombination von Repression und politischem Tausch in Form von Wohlfahrtspolitik orientierten, dies aber nicht die gewünschte Legitimität erzeugt habe. Laut Schmidt gibt es also ganz entgegen mancher alarmistischen Pressestimme einen strukturellen Nachteil von Autokratien und damit auch Ideokratien im Vergleich mit Demokratien bei der politischen Leistungsfähigkeit. Sind Autokratien nun in der Lage, Defizite bei der Erzeugung systemischer Legitimität durch die Gewinnung von Output - Legitimität mittels guter wirtschaftlicher Performanz zu kompensieren ? China hat sein Streben – auch auf Kosten ideologischer Glaubwürdigkeit – sehr stark in Richtung eines Legitimitätsgewinns durch wirtschaftliche Performanz und die Stillung von Konsumbedürfnissen der Bevölkerung ausgerichtet. Nordkorea hingegen verhält sich umgekehrt. Nach dem verheerenden Zusammenbruch der Wirtschaftsleistung,15 der gar in einer Hungerkatastrophe mündete, beharrte die Staatsführung auf einem außerordentlich hohen Maß an ideologischer Indoktrination, „Durchherrschung“ und Repression. Es zeigten sich zudem ganz andere Tendenzen als in der Volksrepublik China, die in anderer Hinsicht schwer mit dem idealtypischen Bild ideokratischer Herrschaft vereinbar sind : Zweimal gab es einen quasi - dynastischen Führungswechsel,16 die Korruption wuchert und die Bedeutung des Militärs ist zentral.17 Auch Kuba erfüllt längst nicht alle Anforderungen des ideokratischen „Idealtyps“ : Die Karibikinsel näherte sich nach dem Sturz des Batista - Regimes außenpolitisch erst allmählich der Sowjetunion an und verfolgte dann zunehmend auch innenpolitisch einen kommunistischen Kurs. Ursprünglich stammte Fidel Castro aus den Reihen der eher antikommunistischen „Orthodoxen Partei“, deren Ziele die Bekämpfung der Korruption und die Herausbildung

14

Vgl. Ronald Wintrobe, The Tinpot and the Totalitarian. An Economic Theory of Dictatorship. In : American Political Science Review, 84 (1990) 3, S. 849–872. 15 Weithin vergessen ist inzwischen, dass nach der Teilung Koreas das Wirtschaftswachstum im kommunistischen Nordkorea zunächst höher ausfiel als in Südkorea. 16 Vgl. Adrian Buzo, The Guerilla Dynasty. Politics and Leadership in North Korea, Boulder 1999. 17 Vgl. etwa Patrick Köllner / Johannes Gerschewski, Nordkorea und kein Ende ? Zum Wandel innenpolitischer Legitimation und externer Unterstützung der DVRK, in : Hanns W. Maull ( Hg.), Ostasien in der Globalisierung, Baden - Baden 2009, S. 169–190, hier 175–177.

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einer nationalen kubanischen Identität waren. Kuba driftete aufgrund des Aufschaukelns feindseliger Handlungen der USA und der Aufständischen in Richtung kommunistischer Ideokratie. Die USA hatte das Batista - Regime gegen die Aufständischen unterstützt, das neue Regime kündigte nach der Machtübernahme eine „Nationalisierung“ ausländischen Großgrundbesitzes (> 1330 Hektar ) gegen eine eher niedrige Entschädigung an. Daraufhin verhängte die USA ein Embargo, dem wiederum eine rasche Annäherung an die Sowjetunion folgte. Das Regime radikalisierte sich nun innenpolitisch zunehmend. Dem Sturz der Sowjetunion ging, wie Peter Thiery in seinem Beitrag zeigt, dem paternalistischen, quasi - dynastischen Führungswechsel an der Spitze der Staatspartei infolge der Erkrankung des charismatischen „máximo líder“ eine sozialrevolutionär - nationalistische Wandlung der Legitimationsideologie voraus – wie überhaupt es dem Regime schon in den Jahrzehnten zuvor immer wieder gelungen war, seine legitimatorischen Ressourcen wechselnden Stabilisierungsanforderungen in der „geliebten Feindschaft“ mit den USA und ihren Verbündeten anzupassen. Allerdings ist die ideologiebasierte autokratische Grundstruktur des Regimes bis heute in weit stärkerem Maße erhalten geblieben als in der Volksrepublik China, die sich gegenüber der Mao - Ära in ihrer Herrschaftsstruktur, Sozial - und Wirtschaftsordnung stark verändert hat. Immerhin blieb das Herrschaftsmonopol der Kommunistischen Partei wie in Kuba erhalten. Und die ideokratische Perspektive erhellt auch im chinesischen Fall Legitimierungsstrategien, die bei einem Teil der Parteiintellektuellen und der mit ihnen verbundenen Think Tanks die Kontinuität des Denkens in den Kategorien der Avantgarde, des historischen Materialismus und der missionarischen Rolle des Landes zeigen. Dabei sind die Propagandaanstrengungen, wie Christian Göbel in seinem Beitrag verdeutlicht, in den letzten Jahren unter Einbeziehung der digitalen Medien erheblich erweitert worden, um den individualistischen Werten des „Westens“ kollektivistische Begriffe und Konzepte chinesischer Tradition entgegenzustellen. Das Regime hält in seiner propagandistischen Selbstdarstellung am Ziel des Kommunismus fest. Nur führt dieser Weg gemäß der propagierten Ideologievariante in der gegenwärtigen Entwicklungsphase über eine von der kommunistischen Partei gelenkte und kontrollierte Marktwirtschaft. In seinen Grundzügen ist dieser Schachzug nicht so neu, wie er vielen erscheint. Vielmehr ähnelt er der „Neuen Ökonomischen Politik“ (NÖP ), die Lenin und Trotzki 1921 gegen starken parteiinternen Widerstand durchsetzten. Die NÖP legalisierte neben Privatbesitz von Geschäften und Landeigentum sogar Privateigentum in der Konsumgüter - Herstellung und erlaubte eine gewinnorientierte Produktion. Lenin argumentierte, diese Phase sei zur Erreichung des revolutionären Ziels notwendig und die Schlüsselindustrien blieben in der Hand des Staates. Ähnlich wie im heutigen China entstand relativ rasch eine Schicht von reichen Unternehmern, den sogenannten „nepman“ ( NÖP - Männern ), die ihren Reichtum zur Schau stellten und Unbehagen bei größeren Teilen der Bevölkerung und der kommunistischen Elite auslösten. 1927 endete die NÖP mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel. Das

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historische Beispiel sollte vor dem Fehlschluss bewahren, der gegenwärtige Weg Chinas führe zwangsläufig zu einer marktwirtschaftlichen Demokratie. In den ideologischen Verheißungen liegt die Anziehungs - und Mobilisierungskraft von Ideokratien begründet. Zugleich bilden sie aber auch ihre Achillesferse. Massive Enttäuschung ist gleichsam programmiert, wenn für die lebende Generation wie in China ein „großer Sprung nach vorn“ propagiert wird, jedoch Hunger und Not grassieren. Wie Steffen Kailitz in seinem Beitrag darlegt, waren die sowjetkommunistischen Ideokratien für derartige Enttäuschungen noch anfälliger als Faschismus und Nationalsozialismus, da die weitgehend verstaatlichten Zentralverwaltungswirtschaften die Gesamtverantwortung für Produktion und Distribution trugen. Die Nichterfüllung sozialistischer Wohlstandsversprechen war daher nicht nur ein Performanz - , sondern zugleich auch ein systemisches Legitimitätsproblem. Allerdings konnten wirtschaftliche Schwierigkeiten wie Versorgungsengpässe mit der Notwendigkeit des „Aufbaus des Sozialismus“ begründet werden. Insofern deutet Udo Grashoff Erich Honeckers „sozialpolitische Wende“ von 1971 in der DDR als „Übergang von normativer zu funktionaler Legitimierung“, erhielten doch nun die aktuellen Versorgungswünsche der Bevölkerung Vorrang vor den längerfristigen wirtschaftsstrukturellen Zielen. Über längere Zeit anhaltende sozial - und wirtschaftspolitische Leistungsschwäche führt in kommunistischen Ideokratien rascher zu Legitimitätskrisen als in Ideokratien, bei denen Wohlstands - und Umverteilungsversprechen nicht im Zentrum der Herrschaftsideologie stehen. Der kubanische Sozialismus zeigt immerhin, dass eine Nichterfüllung der ideologischen Verheißungen nicht unweigerlich zur Destabilisierung des Regimes führt. Wie Peter Thiery darlegt, blieb Fidel Castro in seinen Verheißungen zurückhaltender als der frühe Mitstreiter Ché Guevara. Fehlschläge und Versorgungsengpässen ließen sich mit dem Hinweis auf die zu erwartenden Folgekosten von Systemalternativen ( einen Rückfall in den kapitalistischen Despotismus ) relativieren. Auch die Boykottpolitik der USA dient bis heute als Begründung für gravierende Entwicklungsdefizite. Während das durchschnittliche Einkommensniveau in Kuba niedrig ist, kann die Karibikinsel etwa im „Human Development Index“ immerhin mit einem gut ausgebauten Bildungs - und Gesundheitssystem punkten. Mit solchen Vorzügen vermag die nordkoreanische Ideokratie nicht aufzuwarten. Aufgrund der extremen Isolation können allerdings weder das Ausland noch die eigene Bevölkerung die Performanz des Regimes anhand zuverlässiger Statistiken mit derjenigen Südkoreas und anderer Nachbarländer vergleichen.18 Vage lässt sich lediglich sagen, dass Nordkorea inzwischen zu den ärmsten Ländern der Welt zählt. Wie Jiwon Yoon in seinem Beitrag zeigt, spricht viel dafür, dass das Regime mit seinen umfassenden Indoktrinationsbemühungen aber noch immer in der Lage ist, ein gewisses Maß systemischer Legitimität zu 18 Nordkorea wird bei internationalen Vergleichsindizes wie dem HDI wegen der desolaten Datenlage nicht mehr erfasst.

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erzeugen. Die Systemideologie gewinnt ihre Attraktivität zum einen aus der historischen Leistung des Staatsgründers, die darin bestand, die starren Hierarchien des alten Korea in einer egalisierten Gesellschaft zu überwinden. So wurde den in den Jahrhunderten zuvor über wenig Sozialprestige verfügenden Bauern erstmals hohe Wertschätzung entgegengebracht. Zum anderen lebt die Herrschaftslegitimation von der Konfrontation mit tatsächlichen und imaginären Feinden, die angeblich darauf hinarbeiten, die überwundenen Hierarchien zu reetablieren. In dieser Grundkonstellation ähnelt Nordkorea durchaus dem kubanischen und auch dem sowjetischen Fall. Besonders der sowjetische / russische Fall zeigt, dass die hohe Achtung dabei keineswegs nur erzwungen ist. So genießt Lenin bis heute bei bedeutenden Teilen der russischen Bevölkerung, und zwar deutlich über den Kreis der kommunistischen Sympathisanten hinaus, aufgrund seiner Rolle als charismatischer Staatsgründer hohe Achtung. Auf dieser Grundlage votieren in Umfragen noch immer rund drei von zehn Russen mit Vladimir Putin an der Spitze dafür, Lenins Leichnam weiterhin auf dem Roten Platz in Moskau in einem Mausoleum aufzubahren. Mithin generieren selbst Extreme des Personenkults ein nicht zu unterschätzendes Maß freiwilliger Unterstützung. Auch der nordkoreanische Staatsgründer Kim Il - sung vermochte als Schöpfer der egalisierten Gesellschaft in hohem Maße charismatische Legitimität zu erzeugen. Den quasi - dynastischen Nachfolgern, seinem Sohn Kim Jong - il und dem Enkel Kim Jong - un, ist dies dagegen kaum gelungen. Jiwon Yoon, die zahlreiche Gespräche mit Flüchtlingen aus Nordkorea führen und auswerten konnte, breitet in ihrem Beitrag zahlreiche Indizien für die Erosion der systemischen Legitimität des Landes in den letzten beiden Jahrzehnten aus. Kim Jong - un hat nach seinem Machtantritt den Versuch unternommen, die äußerliche Ähnlichkeit mit dem Großvater für die Gewinnung eigener charismatischer Legitimierungskraft zu nutzen. Darüber hinaus setze das Regime wie schon die klassischen ideokratischen Vorläufer auf den Sport als Legitimierungsmedium. So sind die Auslandserfolge der nordkoreanischen Damen - Fußball - Nationalmannschaft in den Staatsmedien wie gewonnene Kriege gefeiert worden.

III.

Kooptation

Wie Steffen Kailitz in einem Vergleich historischer wie gegenwärtig noch existierender Formen ideokratischer Herrschaft nachweist, lässt sich insbesondere in kommunistischen Ideokratien ein spezifisches Muster der Einbindung von Eliten und Bürgern beobachten, das sich deutlich von dem Einbindungsmuster anderer politischer Regimetypen unterscheidet. Ideokratien „durchherrschen“19 19 Vgl. Jürgen Kocka, Durchherrschte Gesellschaft. In : Hartmut Kaelble / ders./ Hartmut Zwahr ( Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547–553; Alf Lüdtke, „Helden der Arbeit“ – Mühen beim Arbeiten. Zur mißmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR. In : ebd., S. 188–213, hier 188.

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demnach die Gesellschaft mit einem dichten Netz von materiellen Abhängigkeiten des Einzelnen vom Staat, aus dem sich dieser kaum vollständig zu befreien vermag. Die ideokratische Neigung, die Güter - und Positionsverteilung zu kontrollieren oder sogar gänzlich beim Staat zu monopolisieren, gehe mit einer sehr starken Repressionsfähigkeit gegenüber allen Nichteingebundenen Hand in Hand. Die Konsequenzen des Einbindungsmusters von Eliten und Bürgern in Ideokratien schätzt der Beitrag als ambivalent ein. So vereinnahmen und gängeln Ideokratien den Einzelnen auf umfassende Weise. Dies könne auch bei ansonsten politisch indifferenten Personen Widerwillen erzeugen. Dennoch vermöge die charakteristische Einbindung von Eliten und Bürgern mit zu erklären, warum kommunistische Ideokratien im Vergleich mit anderen politischen Regimetypen eine recht hohe Dauerhaftigkeit aufwiesen. Ideokratien bilden gewöhnlich eine spezifische ideologiebasierte Regimeelite heraus, die in den sowjetkommunistischen Regimen den Titel „Nomenklatura“20 trug. Dazu gab es in den rechtsextremistischen Ideokratien keine Parallele. Doch betonten schon die ersten wissenschaftlichen Arbeiten, die sich der Funktionslogik der in Russland und Italien neu entstandenen ideokratischen Regime widmeten, eine Gemeinsamkeit : die Bedeutung des Bekenntnisses zu den Idealen der Bewegung als zentrales Selektionskriterium für die Vergabe von Führungspositionen.21 Je nach Grad der Ideologisierung bzw. spiegelbildlich des Grads des Pragmatismus unterschieden sich Ideokratien danach, ob und in welchem Maße sie gewillt waren, bei entsprechender inhaltlicher Kompetenz etwa für Positionen in der Wirtschaft Abstriche bei der Tiefe der vermuteten ideologischen Bindung zu machen. In der Etablierungsphase ideokratischer Regime besteht oft die Notwendigkeit, außerhalb der ideokratischen Bewegung stehende Elitensegmente einzubinden. Die rechten Ideokratien, Nationalsozialismus und Faschismus, setzten dabei viel stärker auf ein Bündnis mit den „alten“ Eliten als die kommunistischen Ideokratien. So bemühten sich die italienischen Faschisten intensiv darum, die Vertreter der drei K, Krone, Kirche, Kapital, in ihre Herrschaft einzubinden. Mussolini wie Hitler standen am Beginn ihrer Herrschaft an der Spitze von Koalitionen mit bürgerlichen Parteien. Die nationalsozialistische Ideologie der „Volksgemeinschaft“ wie die korporatistische Ideologie der italienischen Faschisten zielte im Unterschied zu den Kommunisten also nicht rigoros auf die Ausschaltung der „alten“ sozialen Eliten, sondern auf den Ausgleich der Interessen etwa von Arbeitern und Unternehmern unter staatlicher Kontrolle. Die „Gleichschaltung“ war also mit weitgefächerten – häufig verpflichtenden – Integrationsangeboten verbunden.

20 Vgl. Michael S. Voslensky, Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion, München 1984; Eberhard Schneider, Die politische Funktionselite der DDR. Eine empirische Studie zur SED - Nomenklatura, Opladen 1994. 21 Vgl. Nicolaus S. Timaschew, Die politische Lehre der Eurasier. In : Zeitschrift für Politik, 18 (1928), S. 598–612, hier 602.

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Was Lorenzo Santoro für das faschistische Italien zeigt, trifft in vielerlei Hinsicht auch auf das nationalsozialistische Deutschland zu : Die ideokratischen Bewegungen verstanden es, ein breites Spektrum sozialer Gruppen einzubinden – von der Arbeiterschaft über das Bürgertum bis zum „Großkapital“, von der Bauernschaft über die Staatsfunktionäre bis zu den Intellektuellen. Zugleich handelte es sich um jugendliche Bewegungen mit geringem Altersdurchschnitt selbst der Führungsgruppen, die ihre Jugendlichkeit kultivierten und zelebrierten und jungen Menschen zugleich vielfältige Integrationsangebote unterbreiteten. Schließlich darf auch das weibliche Element der Bewegungen ( trotz des widersprüchlichen Charakters der Frauenpolitik zwischen traditionellen Frauenrollen und neuen Wahlmöglichkeiten ) nicht unterschätzt werden, wie Santoro etwa mit dem Hinweis auf die weiblichen Unterstützerzirkel in der Etablierungsphase des faschistischen Regimes und die Rolle der “volontarie militi dell’assistenza” am Rande des etablierten, männlich dominierten Machtgefüges belegt. Die kommunistischen Regime standen ihren ideologischen Antipoden im Blick auf ihre Integrationsangebote für Jugendliche und Frauen in nichts nach. Mit der Integration „bürgerlicher Eliten“ taten sich kommunistische Regime aber so schwer, dass der Versuch in der Sowjetunion nach der kurzen Phase der NÖP mit dramatischen Konsequenzen aufgegeben wurde. Die Problematik erwuchs aus der Ideologie. Im Kern erfordert die Umsetzung der kommunistischen Ideologie nämlich einen radikalen Bruch mit den „alten“ Eliten aus Adel, Kirche( n ) und Bürgertum. Wie Udo Grashoff für die DDR belegt, stellte die Kooptation „bürgerlicher Eliten“ nur eine „Notlösung“ dar und war überdies ein „Auslaufmodell“. Schon in den 1950er Jahren habe sich ein Prozess der „Entbürgerlichung“ vollzogen, der zwar vor „bildungsbürgerlichen Nischen“ (etwa im kirchlichen Raum ) Halt machte, im Bereich der politischen Top - Elite jedoch so gut wie keine Ausnahmen zuließ. Die Öffnung für Fachleute im Planungsbereich nach der Einführung des „Neuen Ökonomischen Systems“ (1963 bis 1968) beschränkte sich auf einen kurzen Zeitraum und schloss zentrale Leitungsfunktionen weitgehend aus. Insgesamt blieb die schon in den 1950er Jahren erreichte hochgradige Homogenität der Elitenrekrutierung nach ideologischen Vorgaben unangetastet. Was Udo Grashoff für die DDR beschreibt, bestätigt Peter Thiery im Großen und Ganzen auch für das kubanische Regime. In den etablierten Ideokratien spielte die Einbindung von Elitensegmenten – etwa in der Form dissentierender Parteifunktionäre und Militärs – nur eine marginale Rolle. Wichtiger war in beiden Regimen die Umkehrung von Einbindung und Kooptation : nämlich der Zwang zu „exit“ statt „voice“ in Form der Exklusion durch erzwungene Ausreise oder verhinderte Rückkehr widerspenstiger Zeitgenossen, die sich dem kubanischen Exil in Florida oder Gemeinschaften ehemaliger DDR - Bürger in Westberlin und Westdeutschland hinzugesellten und so den „Druck im Kessel“ verringerten. Das Schicksal der DDR im Herbst 1989 zeigte, dass dies auf Dauer keine Patentlösung für die Restabilisierung eines ideokratischen Regimes darstellt. Infolge gewandelter äußerer Rahmenbedingungen verstärkten sich

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„exit“ und „voice“ entgegen den theoretischen Annahmen in Albert O. Hirschmans ursprünglichem Modell sogar gegenseitig, bis der „Kessel“ gesprengt wurde.22

IV.

Repression

Jerzy Maćków regt in seinem vergleichenden Beitrag zur Repression im NS Regime und im Stalinismus zu einer in der Literatur meist so nicht anzutreffenden terminologischen Unterscheidung an : Von Repression solle nur dann gesprochen werden, wenn sich die staatliche „Pression“ – wie es das Präfix nahelegt – gegen ein vermutetes illoyales Verhalten richte. Hannah Arendts Begriff der „objektiven Feinde“, den sich Maćków zu eigen macht, fällt demnach nicht unter „Repression“ im Sinne von Gegendruck, sondern in die Kategorie „Unterdrückung“, wobei auch hier „direkte“ ( wie physische Gewaltanwendung ) und „indirekte“ Formen ( wie die Erzeugung von Bedrohungsgefühlen ) unterschieden werden können. Im Umgang mit seinen Feinden sticht der Nationalsozialismus hervor. Seine rassisch definierten „objektiven Feinde“ hatten keine Möglichkeit, sich der Exklusion – und schließlich der Elimination – durch Gefolgschaftstreue gegenüber der Ideokratie zu entziehen. Wie Jerzy Maćków in seinem Beitrag erläutert, war dies dagegen selbst in der Sowjetunion unter Stalin anders. Durch ideokratische Gefolgschaftstreue ließ sich in kommunistischen Regimen der „objektive“ Makel der Zugehörigkeit zu einer „feindlichen Klasse“ tilgen. Allerdings mussten Parteikader mit bürgerlicher Vorgeschichte und / oder Verwandtschaft ihre Loyalität mehr als andere Genossen unter Beweis stellen. In der Ideologie des italienischen Faschismus spielten „objektive Feinde“ in der Gestalt von „Rassen“ oder „Klassen“ keine zentrale Rolle. Im Sinne von Arendt wäre die faschistische Ideologie demnach nicht totalitär. Vor Unterdrückung war in den Hochphasen totalitärer Regime niemand gefeit, auch und gerade nicht die Regimeelite. „Parteisäuberungen“ kannten viele ideokratische Regime. Sie erreichten aber in den kommunistischen Regimen größere Ausmaße als in den rechten Ideokratien.23 Unter Stalin nahmen sie extreme Formen an. Dies veränderte den Charakter der sowjetkommunistischen Bewegung. So zeigt Leonid Luks in seinem Beitrag den Wandel von der noch diskutierenden Partei Lenins zu der monolithisch - führerzentrierten Stalins. Auch nach dessen Tod konnte die innerparteiliche Diskussionskultur 22 Vgl. Albert O. Hirschman, Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptuellen Geschichte, in : Leviathan, 20 (1992), S. 330–350; Vgl. auch Steven Pfaff, Exit - voice Dynamics and the Collapse of East Germany. The Crisis of Leninism and the Revolution of 1989, Durham 2006 23 Vgl. Hermann Weber / Dietrich Staritz / Siegfried Bahne / Richard Lorenz, Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und „Säuberungen“ in den kommunistischen Parteien Europas seit den dreissiger Jahren, Berlin 1993.

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nicht mehr nachhaltig revitalisiert werden. Gorbatschows Anlauf zu „Glasnost“ und „Perestroika“, der in diese Richtung ging, mündete in den Untergang des Kommunismus. Hannah Arendts Totalitarismuskonzept unterstellte einen engen systematischen Zusammenhang zwischen Ideologie und Terror. Auf dieser Grundlage erfüllen nur wenige historische Fälle die engen Kriterien ihres Konzepts. Bei der Betrachtung des viel weiteren Anwendungsbereichs des Ideokratiekonzepts zeigt sich, dass sich der enge Zusammenhang zwischen Ideologie und Gewalt gegen „objektive Feinde“ auf totalitäre Hochphasen konzentriert. Die charakteristischen Beispiele finden sich beim Blick auf das NS - Regime und die Sowjetunion Stalins. Zunehmend wird dabei auch die historische und territoriale Verzahnung der Massenmorde beider Regime im Zuge des Zweiten Weltkriegs herausgearbeitet.24 Ein weiteres Beispiel wäre das kommunistische Regime Pol Pots in Kambodscha. Auch die chinesische Kulturrevolution weist, wie Christian Göbel in seinem Beitrag belegt, diesen Zusammenhang auf. Hingegen fehlt der Massenterror gegen „objektive Feinde“ in der DDR und Kuba weitgehend, nimmt man gewaltsame Exzesse in den Etablierungsphasen der Ideokratien aus. Beide Regime können im Blick auf die Härte ( Qualität ) von Unterdrückung und Repression im Unterschied zum NS - Regime, zur Sowjetunion unter Stalin und China während der „Kulturrevolution“ nicht als „terroristische Diktaturen“25 klassifiziert werden. Die DDR entwickelte dafür Systeme präventiver Massenüberwachung, die einen dosiert - punktuellen Einsatz physischer und nicht zuletzt psychischer Gewaltanwendung26 gegen tatsächliche oder vermutete Regimefeinde ermöglichten. Alternativ etablierte Kuba bereits zu Beginn der 1960er Jahre „Komitees zur Verteidigung der Revolution“, die nach Thiery noch im Jahr 2010 über 70 Prozent der Bevölkerung ( ab 14 Jahre ) erfassten. Durch die Organisation auf Wohnbezirksebene wie der Verbindung von Spitzel - , Kontroll - und sozialen Dienstleistungsfunktionen ähnelt die Anlage dem nationalsozialistischen Blockwartsystem. Im Unterschied zu Kuba zielten die lokalen DDR - Parteistrukturen weit stärker auf die betriebliche Ebene. In den Wohnbezirken übten sie nur komplementäre und weit weniger kontrollierende Funktionen aus.27 Für die DDR erfüllte der ausgebaute Staatssicherheitsapparat und vor allem das dichte Spitzelnetz des Ministeriums für Staatssicherheit ähnliche präventive Funktionen wie für Kuba die „Komitees“. Der enorme personelle Ausbau der Staatssicherheit in den 1970er und 1980er Jahren ging in der DDR mit einer 24 Vgl. Timothy Snyder, Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, New York 2010. 25 Sandra Pingel - Schliemann, Zersetzen. Strategie einer Diktatur, Berlin 2002. 26 Vgl. etwa Matthias Vetter ( Hg.), Terroristische Diktaturen im 20. Jahrhundert. Strukturelemente der nationalsozialistischen und stalinistischen Herrschaft, Opladen 1996. 27 Vgl. Detlef Schmiechen - Ackermann, Die Staatsparteien NSDAP und SED als lokale Vermittlungsinstanzen der Diktatur. In : Günther Heydemann / Heinrich Oberreuter (Hg.), Diktatur in Deutschland – Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen, Bonn 2003, S. 150–186.

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Abnahme harter Repression einher. In ähnlicher Weise dürfte der Ausbau der „Komitees“ gewirkt haben. In der Volksrepublik China waren die Spielräume für Dissens nach der Niederschlagung der studentischen Proteste 1989 zunächst geringer, dann wieder größer geworden. Doch der Repressionsapparat expandierte. Inzwischen dominiert ähnlich wie in der DDR ab den 1970er Jahren eine überbordende präventive Überwachung mittels neuester Kommunikationstechnologien. Nur selten und selektiv wird brachiale physische Gewalt wie in Tibet 2008 und Xinjiang 2009 eingesetzt. Wie Christian Göbel darlegt, handelt es sich dabei nicht um Maßnahmen gegen „objektive Feinde“, sondern um Repression gegen vermeintliche und tatsächliche Gegner. Das heutige China sowie die Fälle DDR und Kuba unterscheiden sich also vom NS - Regime und der Sowjetunion in ihren totalitären Hochphasen zum einen durch den dosierten Einsatz harter Repression, zum anderen auch durch das Fehlen der systematischen Verfolgung und Vernichtung „objektiver Feinde“. In dieser Hinsicht entspricht das nordkoreanische Regime dem „klassischen Muster“ weitgehend. Allerdings zerfließen die Grenzen zwischen der umfassenden Verfolgung „objektiver Feinde“ und einer schrankenlosen Unterdrückung von vermeintlichen und tatsächlichen Regimegegnern. Zwei Formen, welche die Grenze zwischen Repression und Unterdrückung im Sinne Maćkóws überschreiten, erörtert Jiwon Yoon ausführlich in ihrem Beitrag. Bei der ersten Form handelt es sich um ein Phänomen, das aus dem NS - Regime als „Sippenhaft“ bekannt ist : Die Familienangehörigen von tatsächlichen oder bloß vermuteten Regimegegner sowie von Landesflüchtigen werden in Arbeitslager deportiert und oft lebenslänglich zur Zwangsarbeit herangezogen. Selbst Fälle von in Arbeitslagern geborenen Häftlingen sind umfangreich dokumentiert. In der DDR oder Kuba mussten die Angehörigen von Landesflüchtigen zwar ebenfalls Nachteile und Repressalien befürchten, doch blieben die Konsequenzen in der Regel weit hinter den nordkoreanischen Unterdrückungsmaßnahmen zurück. Auch die zweite Form überschreitet die Grenzen zwischen Repression und Unterdrückung. Sie zeigt zugleich die geringere Härte der Repressions - und Unterdrückungsmaßnahmen der DDR, Kubas und des heutigen China im Vergleich zur nordkoreanischen Praxis : Das Regime ahndet selbst aus schierer Not begangene „Verbrechen gegen den Staat“ oder „das Volk“ ( wie Betrugsdelikte und Schmuggel ) mit drakonischen Strafen, nicht selten sogar mit der öffentlich vollstreckten Todesstrafe. Es erzeugt auf diese Weise ein Klima von Angst und Schrecken, das zum Teil die ostentativen Loyalitätsbekundungen von Teilen der Bevölkerung erklärt.

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V.

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Wechselverhältnis von Legitimation, Kooptation und Repression

Mehrere Autoren des Bandes behandeln in ihren Beiträgen das spezifische Wechselspiel von Legitimation, Kooptation und Repression. Wolfgang Bialas konzentriert sich in seinem Beitrag zum NS - Regime wesentlich auf die zentrale Gruppe der politisch Indifferenten. Er zeigt, wie das Regime in seiner Haltung gegenüber politischer Indifferenz auf effektive Weise Kooptation, Repression und Legitimation verknüpfte. Bialas erfasst dabei die Rechtfertigungen opportunistischen Verhaltens und freiwilliger Gefolgschaft politisch indifferenter Deutscher ebenso wie die rassenideologische Vereinnahmung christlich - humanistischer Denkfiguren, mit denen das Heilsversprechen eines Neuen Menschen verbunden war. Anschaulich legt Bialas dar, wie bloßer Opportunismus und ideologischer Fanatismus im Nationalsozialismus nebeneinander standen. Udo Grashoff widmet sich dem Wechselspiel von Legitimation, Kooptation und Repression in der zweiten deutschen Diktatur, der DDR. Sie legitimierte sich laut Grashoff von Anfang an als antifaschistischer Staat auf dem Weg zum Kommunismus. Brachiale Formen der Repression dominierten in der Etablierungsphase, wurden aber im Zeitablauf seltener und von präventiver Überwachung und „Zersetzung“ abgelöst. Die Kooptation von Nicht - Kommunisten beschränkte sich auf die Anfangsphase des Regimes. Der Beitrag von Christian Göbel untersucht das sich im Zeitverlauf verändernde Verhältnis von Legitimation, Kooptation und Repression und Performanz in der Volksrepublik China. Das totalitäre Mao - Regime war nach Göbel durch ein äußerst hohes Maß an Repression und ideologischer Indoktrinierung, aber zugleich von einem niedrigen Kooptationsgrad mit negativer Performanz geprägt. Nach dem Tod Maos habe der Repressions - wie der Indoktrinierungsgrad abgenommen, während Kooptation und positive Performanz kaum zunahmen. So sei ein Machtvakuum entstanden, in dem sich gesellschaftlicher Widerstand gegen zunehmende Korruption, wachsende Ungleichheit und hohe Inflation rührte. Dieser Widerstand habe seinen Ausdruck in den Demonstrationen von 1989 gefunden, die von Studenten initiiert wurden, sich aber schnell auf andere Bevölkerungsschichten ausweiteten. Durch gezielte Reformen seien in den folgenden Jahren die Performanz des Regimes verbessert, wichtige gesellschaftliche Gruppen kooptiert und der Einsatz von Repression dem Notfall vorbehalten worden. Diese Maßnahmen hätten die Stabilität des Regimes erheblich erhöht. In der Einleitung wurden mit Blick auf mögliche Wechselwirkungen zwischen Legitimation, Kooptation und Repression einige vorläufige Hypothesen formuliert. Sie seien hier noch einmal in einer Weise wiederholt, bei der stärker deren Verzahnung deutlich wird : 1. Solange Eliten und Massen in Ideokratien an die ideologischen Verheißungen glauben, sind sie bereit, Entbehrungen hinzunehmen, und das Regime bleibt auch ohne Erfolge bei Kooptation und Performanz stabil.

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2. Wenn der Glaube an die ideokratischen Verheißungen in Bevölkerung und Elite sinkt, muss das Regime sich verstärkt um Kooptation und Performanz bemühen, um die Ideokratie zu stabilisieren. 3. Andernfalls bleibt ihm beim Scheitern oder bei bewusster Nichtverfolgung dieser Option nur der Ausweg, zu harter Repression zu greifen, um die Ideokratie zu stabilisieren. 4. Im Falle drastisch gesunkener Legitimität von Ideokratien sollte mithin ein Rückgang harter Repression mit einer Ausweitung der Kooptation einhergehen. Wohlgemerkt geht es hierbei um Repression im Sinne der Verfolgung vermeintlicher und tatsächlicher Regimegegner und nicht um die Frage der Unterdrückung der „objektiven Feinde“. 5. Erfolgreiche Kooptation und Performanz sollte Loyalität ( bzw. Output Legitimität ) erzeugen, die Regimestabilität auch bei geringer Verbreitung eines Glauben an die Legitimation der Ideokratie ermöglicht. Die Autoren des Bandes gingen in ihren Beiträgen weit über diese Fragen und Hypothesen hinaus. Den Herausgebern war bei deren Formulierung klar, dass in den Beiträgen zwar Indizien für oder gegen die Hypothesen gesammelt werden könnten, diese aber letztlich ( noch ) nicht systematisch zu bestätigen oder zu verwerfen seien. Weiterhin war auch zu erwarten, dass für ein systematisches Modell zur Erklärung der Regimestabilität von Ideokratien Modifikationen und Ergänzungen erforderlich sein dürften. Die erste Hypothese wurde in den Beiträgen weitgehend bestätigt. Vor allem Göbel sieht sie im Kern für China als erhärtet an. Peter Thiery hält es zumindest für die erste Phase der kubanischen „Revolution“ bis etwa 1980 für plausibel, dass die kubanischen Bürger die mit der Einführung der Lebensmittelkarten 1960 offenkundigen ökonomischen Entbehrungen auch wegen der ideologischen Verheißungen der Revolution in Kauf zu nehmen bereit waren. Doch hätten auch das Charisma Castros und spürbare soziale Erfolge zu dieser Entbehrungsbereitschaft beigetragen. Damit regt er eine Ergänzung des Erklärungsmodells an. Auch im Falle Hitlers, Kim Il - sungs, Maos, Mussolinis und Lenins trug das persönliche Charisma des Regimegründers wesentlich zur Regimestabilisierung bei. Während wir uns bei der ersten Hypothese im Sinne des Erfolgskriteriums von Fritze der Ideokratie auf der Ebene einer in den Bevölkerungs - und Elitenglauben eingebetteten funktionierenden Ideokratie bewegen, ist bei sinkendem Ideologieglauben von einer defekten Ideokratie auszugehen. Hier werden dann die Hypothesen zwei und drei relevant. Nach den Ergebnissen dieses Bandes sind diese jedoch weit stärker als Alternativen im Falle eines Legitimitätsverlusts zu formulieren. Der Einsatz harter Repression bei sinkendem Legitimitätsglauben ist also nicht unbedingt erst eine Folge – wie zunächst vermutet – gescheiterter Kooptations - und Performanzbemühungen. Unter diesen Voraussetzungen bestätigt der chinesische Fall in der Gegenwart die zweite, der nordkoreanische Fall die dritte Hypothese. Mit Blick auf den kubanischen Fall zeigt sich als Ergebnis, dass die Reaktionen auf einen Legitimitätsverlust in verschiedenen Phasen der Entwicklung einer Ideokratie unterschiedlich ausfallen

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können. Wie Thiery belegt, setzte die kubanische Führung in der „Sowjetphase“ (1960–1991) wenig auf Kooptation, um den abnehmenden Glauben an die ideologischen Verheißungen der Revolution zu kompensieren. Legitimitätsdefizite habe das Regime vielmehr durch das Charisma Fidel Castros und Repression auszugleichen versucht. In der Phase ab 1991 setzte das Regime hingegen verstärkt auf eine Kooptation von Machtgruppen außerhalb der Regimeelite. Was die rechtsextremistischen Ideokratien, Nationalsozialismus und Faschismus, angeht, so können wegen der kurzen Herrschaftsdauer keine ähnlichen Betrachtungen angestellt werden. Generell ist eine ideokratische Stabilisierungsstrategie, die stark auf Kooptation und Performanz setzt, risikoreich. Der von Gorbatschow in der Sowjetunion initiierte Umbauversuch führte zum Zusammenbruch. Vergleicht man den sowjetischen mit dem chinesischen Fall, so lässt sich folgender Schluss ziehen : Sinkende Ideokratielegitimität lässt sich nur dann erfolgreich durch Kooptation und Performanzerfolge kompensieren, wenn auf „Glasnost“ verzichtet wird, denn mit einem Minimum an Repression oder gar der Gewährung von Pressefreiheit ist ein ideokratisches Regime nicht aufrechtzuerhalten. Diese Konsequenz hat letztlich auch die Volksrepublik China aus dem Scheitern des Sowjetkommunismus gezogen. Was die fünfte Hypothese angeht, so konstatiert Manfred G. Schmidt ein Spannungsverhältnis zu seinen Ergebnissen. Allerdings beziehen sich viele der Aussagen Schmidts auf Autokratien im Allgemeinen und weniger auf Ideokratien im Besonderen. Zumindest China bietet deutliche Indizien für die Tragfähigkeit der Hypothese. Mit Blick auf die Sowjetunion stellt sich das Problem, dass die Zeiten des Wirtschaftswachstums bis in die 1960er Jahre noch mit einem verbreiteten Ideologieglauben einhergingen. Die Erosion der Systemlegitimität ging wiederum mit einer zunehmend schwächeren wirtschaftlichen Performanz einher.28 In Ergänzung zu Schmidts Beobachtungen lässt sich zudem sagen : Kommunistische Ideokratien, allen voran die Sowjetunion bis Ende der 1960er Jahre, waren zwar zeitweilig in der Lage, starkes Wirtschaftswachstum zu erzielen und in einem Regimevergleich andere Autokratieformen zu übertreffen,29 erzeugten damit aber wenig Output - Legitimität, da die Erfolge auf einer besonders harten „Ausbeutung“ der Arbeiter basierten. So nutzten sowjetkommunistische Regime ihre wirtschaftliche Monopolsituation systematisch dazu, um den in den Konsum der Bevölkerung fließenden Teil der Wirtschaftsleistung zu minimieren,30 während enorme Ressourcen in staatliche 28 Bis heute ist vielen Politikwissenschaftlern unzureichend die Bedeutung natürlicher Ressourcen für die Wirtschaft der Sowjetunion bewusst. Die wirtschaftliche Boomphase bis in die 1960er Jahre wurde auch durch die Erschließung von Öl und Gasressourcen erklärbar. Der wirtschaftliche Niedergang hängt wiederum auch mit einem Verfall der Öl - und Gaspreise in den 1980er Jahren zusammen. 29 Vgl. Steffen Kailitz, Macht der Autokratietyp einen Unterschied für das Wirtschaftswachstum ? In : ders./ Patrick Köllner ( Hg.), Autokratien im Vergleich. Sonderheft der Politische Vierteljahresschrift 47/2012, Baden - Baden 2013, S. 500–527. 30 Vgl. Mancur Olson, Power and Prosperity. Outgrowing Communist and Capitalist Dictatorships, New York 2000.

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Prestigeprojekte und das Militär flossen. Zu einem Sputnik war die Sowjetunion mithin fähig, während zugleich in vielen Konsumbereichen Mangel herrschte. Das heutige China zeichnet sich im Vergleich zu den kommunistischen Regimen mithin nicht nur durch wirtschaftliche Performanz aus, sondern vor allem auch dadurch, dass mit wachsender wirtschaftlicher Leistung die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden. Dies war in der Sowjetunion auch in der Boomphase nicht der Fall. Einschränkend, aber nicht im Widerspruch zu der fünften Hypothese, ist schließlich zu ergänzen, dass – bedingte – Loyalität und – unbedingter – Legitimitätsglaube einen entscheidenden Unterschied in Zeiten schwerer Wirtschaftskrisen machen. Wie die erste, im Kern durch Länderbeiträge bestätigte, Hypothese betont, trägt ideologische Gläubigkeit auch über Wirtschaftskrisen hinweg. Fehlt diese „Versicherung“, mündet eine schwache Wirtschaftsleistung in einer Regimekrise.

VI.

Ende der Ideokratien ?

Als Ausblick bleibt die Frage, ob wir, wenn wir schon nicht am freiheitlichen „Ende der Geschichte“31 angelangt sind, so doch zumindest das „Ende der Illusion“32 erreicht haben, an dem niemand mehr an die Realisierbarkeit utopischer Ideologien glaubt. Nun besteht kein Zweifel, dass sich die sozialen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen für die Entfaltung ideokratischer Bewegungen im 21. Jahrhundert in globaler Perspektive im Vergleich zum 20. Jahrhunderts deutlich verschlechtert haben. Dies zeigen bereits die abnehmende Zahl der Ideokratien wie die gesunkene ideologische Prinzipientreue der wenigen verbliebenen Ideokratien. Manches spricht zumindest dafür, dass in Weltregionen wie Europa mit noch lebendiger ideokratischer Leidensgeschichte eine Immunreaktion eingesetzt hat, die eine kraftvolle Renaissance von Kommunismus und Faschismus / Nationalsozialismus in den alten Formen blockiert. Aber können wir gänzlich sicher sein, dass eine tiefe, anhaltende und für Teile der Bevölkerung existenzbedrohende Krise nicht die Entfaltungschancen für ideokratische Bewegungen auch in Europa nachhaltig verbessern würde ? Was wäre eigentlich, wenn etwa die Überschuldung der USA tatsächlich in eine Pleite des Landes und in eine tiefere Weltwirtschaftskrise als jene der Zwischenkriegszeit führte ? Sind die Menschen heute wirklich nicht mehr anfällig für – mehr oder weniger – charismatische Persönlichkeiten, die mit großen Versprechungen den Weg aus dem Jammertal weisen ? Ob es in Zukunft bei relativ weichen und vagen Ideologien wie dem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ von Hugo Chávez in Venezuela bleibt, scheint noch nicht ausgemacht. In den westlichen Industriestaaten 31 Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992. 32 François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996.

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könnten insbesondere angesichts wachsender Ungleichheit in der Bevölkerung und wachsendem Zuwanderungsdruck ( etwa in Folge der globalen Erwärmung) in Kombination mit einer schwierigeren wirtschaftlichen Lage politische Heilslehren von rechts oder links in gewandelten Formen Erfolge bringen. Die größte ideokratische Herausforderung geht seit mehreren Jahrzehnten von der islamischen Welt aus, wo die Verschmelzung von Staat und Religion als politisches Programm Massen zu faszinieren vermag, und in der Islamischen Republik Iran seit mehreren Jahrzehnten regimebildende Kraft entwickelt hat. Im innenpolitischen Kräftespiel der arabischen Staaten – die immerhin inzwischen rund 350 Millionen Menschen beherbergen – wie in Ägypten oder Syrien spielen islamistische Kräfte fast durchweg eine zentrale Rolle. Die Auseinandersetzung zwischen demokratischen, traditionell - autokratischen ( in der Regel militärgestützten ) und islamistischen Kräften erinnert dabei in mancher Hinsicht an die blutigen Auseinandersetzungen im Europa der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Da sich ideokratische Bewegungen und Gegenbewegungen häufig gegenseitig aufschaukeln, kann ein Bedeutungsgewinn islamistischer Bewegungen im arabischen Raum und unter Zuwanderern aus diesem Raum auch Rückwirkungen auf rechtsextremistische Bewegungen in Europa und Nordamerika haben.

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Abkürzungsverzeichnis ACLP AFC ANAP APuZ BSP BIP CDR CDU CTC DB DBD DDR DFG DNA DPRK DVRK FDJ FIFA FMC GDR GG GIS GPS GUF HDI IT KBS KGB KPCh KPD KP(I) KPdSU KPR KSZE KWP

Alvarez Cheibub Limongi Przeworski; benannt nach den Nachnamen der am Forschungsprojekt beteiligten Wissenschaftler American Football Conference Asociación Nacional de Agricultores Pequeńos (Nationaler Verband der Kleinbauern) Aus Politik und Zeitgeschichte Bruttosozialprodukt Bruttoinlandsprodukt Comités de Defensa de la Revolución (Komitees zur Verteidigung der Revolution) Christlich Demokratische Union Central de Trabajadores de Cuba (Zentrale der Arbeiter Kubas) Deutsche Bauernpartei Demokratische Bauernpartei Deutschlands Deutsche Demokratische Republik Deutsche Forschungsgemeinschaft Desoxyribonukleinsäure Democratic People’s Republic of Korea (Nordkorea) Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea) Freie Deutsche Jugend Fédération Internationale de Football Association (Internationale Vereinigung des Verbandsfußballs) Federación de Mujeres Cubanas (Vereinigung der kubanischen Frauen) German Democratic Republic Grundgesetz Geographical Information System Global Positioning System Gruppi Universitari Fascisti (Faschistische Hochschulgruppen) Human Development Index Information Technology (Informationstechnik) Korean Broadcasting System (Südkoreanische Rundfunkanstalt) Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti (Komitee für Staatssicherheit) Kommunistische Partei Chinas Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei (Italiens) Kommunistische Partei der Sowjetunion Kommunistische Partei Russlands Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Korean Workers’ Party (Koreanische Arbeiterpartei)

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404 KZ LDPD MfS MP NDPD NKVD NÖS NS NSDAP NVA OVRA

PCC PNF POW PSP PVS RFID RGW ROK SA SBZ SDAPR SED SMAD SMT SS TV UdSSR UJC UK UN UNDP UNFS US USA USB VEB VR WZB ZK

Abkürzungsverzeichnis

Konzentrationslager Liberal-Demokratische Partei Deutschlands Ministerium für Staatssicherheit Member of Parliament Nationaldemokratische Partei Deutschlands Narodnyj komissariat vnutrennich del (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) Neues Ökonomisches System Nationalsozialismus, nationalsozialistisch Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationale Volksarmee Organizzazione per la Vigilanza e la Repressione dell’Antifascismo (Organisation zur Überwachung und Bekämpfung des Antifaschismus) Partido Comunista de Cuba (Kommunistische Partei Kubas) Partito Nazionale Fascista (National-Faschistische Partei) Polska Organizacja Wojskowa (Polnische Kampforganisation) Partido Socialista Popular (Sozialistische Volkspartei) Politische Vierteljahresschrift Radio-Frequency Identification Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Republic of Korea (Südkorea) Sturmabteilung Sowjetischen Besatzungszone Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetische Militäradministration Sowjetische Militärtribunale Schutzstaffel Television Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Unión de Jóvenes Comunistas (Kommunistischer Jugendverband) United Kingdom United Nations United Nations Development Programme Unione Nazionale Fascista del Senato United States United States of America Universal Serial Bus Volkseigene Betrieb Volksrepublik Wissenschaftszentrum Berlin Zentralkomitee

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Autorenverzeichnis Uwe Backes, Prof. Dr., stellvertretender Direktor, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität Dresden Peter Bernholz, Prof. Dr., Emeritus der Universität Basel Wolfgang Bialas, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-ArendtInstitut für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität Dresden Lothar Fritze, Prof. Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hannah-ArendtInstitut für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität Dresden und Lehrbeauftragter der Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz Johannes Gerschewski, Dipl., M. A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Christian Göbel, Prof. Dr., Hochschule der Bundesagentur für Arbeit in Mannheim Udo Grashoff, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte der Universität Leipzig Roger Griffin, Prof., Professor für Zeitgeschichte an der Oxford Brooks Universität Steffen Kailitz, PD Dr. habil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität Dresden Hermann Lübbe, Prof. Dr. Dr. h.c., Honorarprofessor für Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich Leonid Luks, Prof. Dr., Direktor des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Jerzy Maćków, Prof. Dr., Institut für Politikwissenschaft der Universität Regensburg Lorenzo Santoro, Dr., Institut für Soziologie und Politikwissenschaft der Universität Kalabrien

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Autorenverzeichnis

Manfred G. Schmidt, Prof. Dr., Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg Peter Thiery, Dr., Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg Jiwon Yoon, Ass.-Prof., Bereich Kommunikation an der Roosevelt-Universität in Chicago

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