Hongkong, Macau und Kanton: Eine Forschungsreise im Perlfluss-Delta 1933 9783110421347, 9783110426113

In 1933, the German architect and China scholar Ernst Boerschmann visited the cities of Hong Kong, Macau and Canton (Gua

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Hongkong, Macau und Kanton: Eine Forschungsreise im Perlfluss-Delta 1933
 9783110421347, 9783110426113

Table of contents :
Danksagung
Ernst Boerschmann in Guangdong (September bis Dezember 1933). Die ersten modernen städtebaulichen Entwicklungen im Perlfluss-Delta
Reisevorbereitungen
Reise nach China
Reisen in der Provinz Guangdong
Briefe und Reportagen aus Guangdong
Zusammenfassung des Aufenthalts in Guangdong
Postskript
Editorische Vorbemerkung
Die Stadtentwicklung und Geschichte von Hongkong, Macau und Kanton
Hongkong
Hauptinsel und Stadt Victoria
Aberdeen
Kowloon und das New Territory
Fahrt durch das Pachtgebiet
Macau
Kanton
Mit der Bahn von Kowloon nach Kanton
Nach Kanton zu Schiff auf dem Perlfluss
Wiedersehen mit Kanton
Kanton im Umbau
Das alte Bild
Stockung und Antrieb
Neue Straßen
Leitgedanke
Durchbrüche
Entschädigungen
Zwischenzustand
Starke Kräfte
Widerstände
Vermessung
Große Gliederung
Freie Bahn
Stadtteile
Alte Häuserblocks
Geschäftsstraßen
Regierungsviertel
Uferstraße
Westliche Vorstadt
Östliche Vororte
Groß-Kanton
Neue Regierung und Universität
Stadtverwaltung
Honam
Hauptstraßen
Industrieviertel
Flussregelung
Feste Pläne
Kanton-Strom als Hauptweg
Perlfluss
Zuflüsse
Häfen
Der innere Hafen
Dschunken und Wohnboote
Der äußere Hafen
Wille und Tat
Chinesische Baukunst Gestern und Heute
Literatur
Index

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Ernst Boerschmann Hongkong, Macau und Kanton

Ernst Boerschmann

Hongkong, Macau und Kanton Eine Forschungsreise im Perlfluss-Delta 1933 Herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Eduard Kögel

Gedruckt mit großzügiger finanzieller Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.

ISBN 978-3-11-042611-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042134-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042136-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter De Gruyter GmbH Berlin/Boston Einbandabbildung: Blick über die Innenstadt von Kanton. Siehe Abb. 56 (unbekannter Fotograf, mit freundlicher Genehmigung durch Michael Kaempfe). Satz: Rüdiger Kern, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Gottingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Die Vorbereitung zur Publikation dieses Manuskriptes entstand mit Hilfe des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zwischen 2009 und 2011 gewährten Forschungsprojektes „Die Bedeutung des Architekturhistorikers Ernst Boerschmann im Kontext des Kulturtransfers: Rezeption und Wirkung seiner Forschung über traditionelle chinesische Architektur zwischen 1902 und 1949“ am Lehrstuhl von Prof. Dr. Peter Herrle an der Technischen Universität Berlin (Fakultät VI Planen Bauen Umwelt, Institut für Architektur, Habitat Unit). Ich danke Ernst Christian Boerschmann für die Erlaubnis das Manuskript seines Großvaters zu veröffentlichen. Emily Kachholz steuerte von ihrem Großvater Ernst Boerschmann einige Fotografien bei. Michael Kaempfe stellte großzügig aus seiner Sammlung historische Fotografien zu Guangzhou bereit, die hier verwendet werden konnten. Er kommentierte zusätzlich das Manuskript und meine Anmerkungen, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Auch der ehemalige deutsche Konsul in Guangzhou, Harald Richter, stellte Material zur Verfügung und kommentierte das Manuskript von Boerschmann mit seinem detaillierten Wissen. Bodo Niemann (picture perfect GbR) stellte großzügig einige Fotografien von Ernst Boerschmann aus seiner Sammlung für diese Veröffentlichung zur Verfügung. Helga Landau steuerte aus dem privaten Nachlass ihres Großvaters Heinrich Schubart Pläne bei, die eine Bereicherung der Materialien darstellen. Auch Fredericke Assandri stellte aus ihrer Sammlung historischer Aufnahmen des Architekten Walter Frey großzügig Aufnahmen zur Verfügung, die Lücken schlossen, wo Material von Ernst Boerschmann nicht greifbar war. Aus dem Konvolut von Chen Kuen Lee im Archiv der Akademie der Künste in Berlin kommt eine Abbildung, die dieser für seine nicht fertig gestellte Dissertation bei Ernst Boerschmann in den 1940er-Jahren gefertigt hatte. Aus dem Universitätsarchiv Köln, wo ein Teilnachlass von Ernst Boerschmann liegt, konnte ich eine Abbildung verwenden. Aus den Staatlichen Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek, konnte ich aus dem Fotobestand Boerschmann ebenfalls einige Aufnahmen verwenden. Viele andere Personen waren in die Arbeit involviert. Ich danke allen von ganzem Herzen für ihren Beitrag zum Gelingen dieses Werkes. Ohne die großzügige Unterstützung der genannten Personen und Institutionen wäre es nicht möglich gewesen diese Publikation zu erstellen. Alle Fehler die trotz genauer Prüfung noch vorhanden sind, habe ich selbst zu verantworten. Nicht zuletzt danke ich meiner Familie, ohne deren großzügige Unterstützung das Projekt undenkbar gewesen wäre.

Zwei Gedichte von Du Fu übertragen von Ernst Boerschmann

Heimweh Der Strom ist grün, die Vögel um so weißer, die Berge blau, die Blumen brennend rot. Wiederum seh ich diesen Frühling verstreichen. Wann wohl kehr ich in die Heimat zurück?

Blick ins Land Klarer Herbst, Blick ohne Ende. Weitab steigen Schwaden von Dunst. Fernes Wasser bindet sich rein mit dem Himmel. Einsame Stadt, dort sinkt sie tief in den Nebel. Die Blätter, schon spärlich, fallen noch schneller im Winde, Fern in den Bergen versinkt soeben die Sonne. Einzelner Kranich, spät erst kehrst du heim! Dunkle Raben füllen schon den Wald.

Gedichte von Du Fu (712–770). Deutsche Übertragung des ersten (Heimweh) von Ernst Boerschmann, und das zweite (Blick ins Land) Ernst Boerschmann zusammen mit Johnny Hefter.

Inhalt Danksagung  V Eduard Kögel Ernst Boerschmann in Guangdong (September bis Dezember 1933). Die ersten modernen städtebau­lichen Entwicklungen im Perlfluss-Delta  1 Reisevorbereitungen   4 Reise nach China  7 Reisen in der Provinz Guangdong  10 Briefe und Reportagen aus Guangdong  28 Zusammenfassung des Aufenthalts in Guangdong  38 Postskript  38 Editorische Vorbemerkung  43 Ernst Boerschmann Die Stadtentwicklung und Geschichte von Hongkong, Macau und Kanton  45 Hongkong   45 Hauptinsel und Stadt Victoria  45 Aberdeen  59 Kowloon und das New Territory  64 Fahrt durch das Pachtgebiet  67 Macau  72 Kanton  92 Mit der Bahn von Kowloon nach Kanton  92 Nach Kanton zu Schiff auf dem Perlfluss  99 Wiedersehen mit Kanton   108 Kanton im Umbau  121 Das alte Bild  122 Stockung und Antrieb  123 Neue Straßen  127 Leitgedanke  128 Durchbrüche  130 Entschädigungen  130 Zwischenzustand  131 Starke Kräfte  132 Widerstände  132 Vermessung  134 Große Gliederung  135 Freie Bahn  136

X 

 Inhalt

Stadtteile  138 Alte Häuserblocks  139 Geschäftsstraßen  140 Regierungsviertel  140 Uferstraße  141 Westliche Vorstadt  143 Östliche Vororte  144 Groß-Kanton  145 Neue Regierung und Universität  145 Stadtverwaltung  145 Honam  146 Hauptstraßen  147 Industrieviertel  148 Flussregelung  149 Feste Pläne   149 Kanton-Strom als Hauptweg   150 Perlfluss  152 Zuflüsse  153 Häfen  153 Der innere Hafen  153 Dschunken und Wohnboote  155 Der äußere Hafen  157 Wille und Tat  157 Ernst Boerschmann Chinesische Baukunst Gestern und Heute  161 Literatur  181 Index  185

Abb. 1: Ernst Boerschmann, 1934, während seiner Reise in Schanghai. (Unbekannter Fotograf, PAB).

Abb. 2: Die Reiseroute von Boerschmann in der Provinz Guangdong zwischen September und Dezember 1933. 1 Hongkong, 2 Macau, 3 Kanton, 4 Tangjiawan, 5 Luofu-Berge, 6 Sanshui, 7 Dinghu Berg, 8 Zhaoqing, 9 Südchina-Tempel, 10 Shaoguan. (© EK).

Eduard Kögel

Ernst Boerschmann in Guangdong (September bis Dezember 1933). Die ersten modernen städtebau­ lichen Entwicklungen im Perlfluss-Delta Der deutsche Architekt und Chinaforscher Ernst Boerschmann (1873–1949) hinterließ ein Manuskript zu den Städten Hongkong, Macau und Guangzhou, das er nach einem dreimonatigen Aufenthalt Ende 1933 zirka Mitte des Jahrzehnts in Berlin verfasste. Vermutlich aufgrund der sich verschlechternden Beziehung der deutschen Nationalsozialisten zur republikanischen Regierung in China in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre ist es Boerschmann nicht gelungen, das Manuskript als Buch zu drucken. Es verblieb im Privatarchiv der Familie und wird hier zum ersten Mal veröffentlicht. Da im Manuskript keine Hinweise auf Illustrationen enthalten waren, sind entsprechende Bilder aus verschiedenen Archiven eingefügt. Die Beschreibung der Modernisierung in der Stadt Guangzhou und im Perlfluss-Delta verdeutlicht die gewaltige Vision, die hinter diesen Plänen stand. Ein zweiter, kürzerer, hier abgedruckter Text von Boerschmann, befasst sich mit der alten chinesischen Architektur und entstand für einen Vortrag, den er 1933 in Guangzhou auf Basis seiner früheren Studien hielt. Die Studienreise in China begann für Boerschmann im September 1933 in Hongkong und endete Februar 1935 in Schanghai. In der Einführung wird lediglich sein dreimonatiger Aufenthalt in der Provinz Guangdong aufgrund von Dokumenten und Briefen aus seinem Nachlass dargestellt. Die Stadtgeschichte von Guangzhou, vormals von den Europäern Kanton oder Canton genannt, ist heute in westlichen Sprachen in vielen Aspekten dargestellt.1 Am eindrücklichsten vielleicht von Valery M. Garrett, die gerade die für den westlichen Handel mit China bedeutende Zeit des 19. Jahrhunderts beschrieb und mit zeitgenössischen Abbildungen illustrierte.2 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschob sich der Fokus des Westens von Kanton auf Schanghai, das zum Synonym für den Zugang zur chinesischen Hemisphäre wurde. Die westlichen Medien verloren Kanton vielleicht auch deshalb aus den Augen, da vorgelagert zwei europäische Kolonien, Macau als Kolonie der Portugiesen (bis 1999) und vor allem Hongkong als Kolonie der Briten (bis 1997) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle als Drehscheibe zwischen Ost und West einnehmen konnten. Verstärkend wirkte für diese Situation die Gründung der Volksrepublik China 1949 und die darauf folgenden ideologischen Konfrontationen. Die drei Städte

1 Hier verwende ich konsequent Kanton, da dies auch dem folgenden Manuskript von Boerschmann entspricht. Zur Darstellung der Stadtentwicklung von Guangzhou für die hier relevante Periode siehe Tsin 1999, Cody 2001 und Lai 2009. 2 Garrett, 2002.

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zusammen zu betrachten, wie es Boerschmann in den dreißiger Jahren nach seiner Reise tat, wurde auch nach der wirtschaftlichen Öffnung in den 1980er-Jahren höchstens in Reiseführern versucht. Es dauerte bis 1997, als der holländische Architekt Rem Koolhaas mit einem Beitrag auf der Documenta X in Kassel den Blick der westlichen Fachöffentlichkeit erneut in diese Region lenkte.3 Alle drei Städte repräsentieren etwas Spezifisches, das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte und ihre Struktur nachhaltig prägte. Hongkong wurde zum globalen Finanz- und Dienstleistungszentrum in Ostasien, Macau setzte auf das Glücksspiel und Kanton etablierte sich als Handelsmetropole der Volksrepublik, die mit ihren Messen auch während der politisch schwierigen Zeiten ein Schaufenster zum Westen blieb. Die städtebaulichen Entwicklungen, wie sie Boerschmann für die 1930er Jahre beschrieb, ließen schon damals Großes erahnen. Aber die japanische Besetzung während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges (1937–1945) und danach der Bürgerkrieg zwischen Nationalisten und Kommunisten bis 1949 sowie die folgende ideologische Separation, verhinderten lange eine gemeinsame Entwicklung. Auch nach der Gründung zweier Sonderwirtschaftszonen in den 1980er-Jahren, nördlich von Hongkong Shenzhen und nördlich von Macau Zhuhai, sowie nach der Rückgabe der beiden Kolonien Hongkong und Macau in den späten neunziger Jahren, wächst der gemeinsame Entwicklungsraum nur langsam zusammen. Viele Differenzen sind geblieben und die zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Zentralregierung in Peking zeigen von Zeit zu Zeit die Differenzen. Um 1900 arbeitete der deutsche Hafenbaumeister Gustav Ludwig Hummel in Whampoa (heute im Huangpu Distrikt), östlich von Kanton. Er verfasste ein Buch über die chinesische Kultur, in dem er seine Eindrücke festhielt.4 Hummel schrieb über die Religion, die Sitten, das Theater, das Militär und auch über die Architektur. Nach seiner Auffassung, und damit entsprach er der Mehrzahl westlicher Reisender, war die Baukunst in China erbärmlich: Die Architektur der Chinesen ist weit hinter den europäischen Ländern zurück; ihr Grundsatz ist, zwei Seitenmauern zu bauen auf denen Querbalken ruhen, und das Dach tragen. […] Eine große chinesische Stadt bietet nichts was dem fremden Besucher ins Auge fällt; prächtige Kirchen, stattliche Paläste, wie wir sie in Europa zu sehen gewohnt sind fehlen; anstatt aus breiten Straßen und großen Plätzen besteht die chinesische Stadt aus einem Komplex sehr schmaler Gassen und besitzt nur verhältnismäßig kleine Plätze vor Tempeln.5

Auf zwei Seiten seines Buches versuchte Hummel darzustellen, wie wenig die Stadt und Architektur den Europäern zu bieten hatte. Nur eine Ausnahme ließ er zu: „Pagoden sind

3 Koolhaas, 1997. 4 Hummel, 1900. 5 Ebenda: S. 28/29.



Ernst Boerschmann in Guangdong (September bis Dezember 1933) 

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die geschmackvollsten Bauwerke der Chinesen; […].“6 Seine Auffassung war um die Jahrhundertwende exemplarisch und unterstreicht in welchem geistigen Klima der Architekt und Chinaforscher Ernst Boerschmann ab 1906 versucht hatte die fremde Baukultur zu verstehen und mit einer neuen Bedeutung zu versehen. Seine dreijährige Reise zwischen 1906 und 1909 wurde zur Basis für ein Lebenswerk, in dem er die Architektur in ihrem Zusammenklang mit der religiösen Kultur darstellte und in der westlichen (deutschsprachigen) Welt bekannt machte.7

Zur geschichtlichen Entwicklung der portugiesischen Kolonie Macau hatte 1900 Max Kutschera auf Deutsch ein Buch vorgelegt,8 und über die wirtschaftliche Entwicklung und Bedeutung Hongkongs publizierte im selben Jahr der Nationalökonom Hermann Schumacher (1868–1952).9 Natürlich gab es zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts auch Bücher über die beiden Kolonien in portugiesischer und englischer Sprache, sowie die ersten Reiseführer,10 die auch für Kanton vorlagen.11 Dort machten sich schon bald nach der Revolution von 1911–12 die lokalen Eliten daran die Stadt zu erneuern und mit dem Abriss der Stadtmauer neue Perspektiven zu eröffnen.12 1936 publizierte Edward BingShuey Lee ein Fachbuch zur städtebaulichen Entwicklung und Planung von Groß-Kanton in dem er sowohl das Erreichte wie die zukünftige Planung darstellte.13 Alle genannten Titel lagen Boerschmann in den dreißiger Jahren vor und dienten als Reverenz für sein hier veröffentlichtes Manuskript über die drei Städte. Der Hauptteil seines Textes beruht jedoch auf eigener Anschauung und Aufzeichnungen während des dreimonatigen Aufenthalts Ende 1933 in der Provinz Guangdong. Auch seine Sammelleidenschaft für historische Chroniken, Pläne und Karten gaben ihm originales Material an die Hand, mit dem er arbeitete. Während Macau und Hongkong sich nur langsam anschickten als Großstädte Struktur zu gewinnen, war Kanton die erste Stadt, die sich radikal den neuen Erfordernissen anpasste und dafür eine monumentale Planung weit über ihre eigentlichen Grenzen hinaus entwickelte. Diesen von der Politik gestützten Aufbruch Anfang der dreißiger Jahre dokumentierte Boerschmann, da er mit den maßgeblichen Personen sprach und vor Ort die Ergebnisse besuchen konnte. Sein Bericht ist deshalb eine Bestandsaufnahme auf dem Weg zu neuen städtischen Bau- und Lebensformen, die uns auch noch heute in machen Details sehr vertraut vorkommen. Viele Aspekte haben sich in den letzten achtzig Jahren radikal verändert, wurden überformt oder verschwanden gänzlich. Aber mit Boerschmanns Bericht gelingt gerade zu Kanton ein Rückblick, der aufzeigt wie radikal

6 Ebenda. 7 Siehe Kögel, 2015. Zur vollständigen Publikationsliste von Boerschmann siehe Walravens, 2010. 8 Kutschera, 1900. 9 Schumacher, 1900. 10 Zum Beispiel der kurz vor Boerschmanns Reise herausgekommene Reiseführer für Hongkong. Pep­ low/Barker, 1931. 11 Kerr, 1918. 12 Tsin, 1999: S. 19–29. 13 Lee, 1936.

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sich der Übergang von einem religions-geographisch geprägten Netzwerk im Landschafts­ raum, hin zu einer funktionalen Zonierung vollzog, in der die Ökonomie plötzlich weit mehr Bedeutung bekam als die alten Beziehungen mit ihren historischen Merkzeichen. Die alten Planungsprinzipien, die noch während der Qing-Dynastie bis 1911 den Diskurs bestimmten, wurden über Bord geworfen, um sich den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen des Westens zu öffnen.14 Das Manuskript von Boerschmann ist deshalb mehr als nur ein Reisebericht, denn er dokumentiert sowohl die politischen und gesellschaftlichen Träume wie auch eine gewisse Hilflosigkeit gegenüber den Unwegsamkeiten, die sich aus der Größe der Aufgabe und ihrem Symbolcharakter für den Nationalstaat ergaben. Aufgrund des 1937 erfolgten japanischen Überfalls auf China konnte die begonnene Entwicklung eines zeichenhaften Städtebaus mit einer republikanischen Monumentalarchitektur in Kanton jedoch nicht weitergeführt werden. Die Entwicklung der beiden anderen Städte war hingegen von kolonialen Überlegungen der imperialen Mächte geprägt, die mit ihren Planungsmodellen aus anderen asiatischen Ländern eine ihren politischen Zielen entsprechende, geordnete Siedlungsentwicklung sichern wollten. Hier galt es nicht dem politischen Aufbruch Raum zu geben, sondern man erwies dem Mutterland Referenz, und band dabei die lokale Bevölkerung nur soweit wie nötig in die geschäftlichen Belange ein. Ein phantastische bauliche Vision, die im Falle von Macau die Spielerstadt bis heute prägt, entwickelte sich erst viel später. Dasselbe gilt für die Geschäftsstadt Hongkong, die mit ihren Hochhaustürmen und ihrer Effizienz seit den neunziger Jahren als Vorbild für viele städtische Entwicklungen in China Pate stand. Im Folgenden wird Boerschmanns Reise in der Provinz Guangdong auf Basis der originalen Dokumente dargestellt. Im Anschluss folgt sein eigenes Manuskript mit erläuternden Anmerkungen und zum Schluss das Manuskript eines Vortrages, den er am 17. November 1933 an der Lingnan-Universität in Kanton hielt.

Reisevorbereitungen Im August 1933 brach Boerschmann von Berlin zu einer sechzehn-monatigen Reise nach China auf. Seit 1927 hatte er versucht mit Eingaben und Anträgen öffentliche Stellen wie das Auswärtige Amt, das Kultusministerium, die Baessler Stiftung15 und private Sponsoren aus der Industrie für eine finanzielle Unterstützung zu gewinnen. Der Erfolg war Ende der zwanziger Jahre ausgeblieben. 1932 wendete sich das Blatt langsam zu seinen Gunsten. Zuerst konnte er das Auswärtige Amt überzeugen, das jedoch nur unter der Bedingung zustimmte, dass auch die Baessler Stiftung einen Teil der Kosten tragen würde. Boerschmanns Reputation als Experte für chinesische Architektur befand sich zu

14 Kögel, in Forum Stadt, 4/2011: S. 357–370. 15 Arthur Baessler (1857–1907) war ein bedeutender Förderer des Museums für Völkerkunde Berlin. Er gründete 1903 die “Arthur Baessler Stiftung”.



Ernst Boerschmann in Guangdong (September bis Dezember 1933) 

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Abb. 3: Weihnachten 1927. Ernst Boerschman mit Familie und chinesischen Studenten in Berlin. Der zweite Chinese von links ist Xi Fuquan, der 1930 bei Boerschmann an der TH Berlin promovierte. (NL EB, mit freundlicher Genehmigung durch Emily Kachholz).

diesem Zeitpunkt auf ihrem Höhepunkt. Seine Bücher waren nicht nur in der Fachwelt wohlbekannt. Gerade das letzte über Pagoden (1931) wurde in fast zwanzig Rezensionen in den Feuilletons und in den Fachzeitschriften als Meilenstein gelobt.16 24 Jahre nach seiner großen Forschungsreise (1906–1909) kehrte Ernst Boerschmann 1933 wieder zurück in das Land, dem er seitdem die ganze professionelle Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg unterrichtete er ab 1924 mit einem

16 Boerschmann, 1931. Rezensionen: Erwin Rousselle in Sinica 7.1932: S. 253; Bernd Melchers in Deutsche Literaturzeitung 1932: S. 1460–1465; Otto Kümmel in Ostasiatische Zeitschrift NF 8.1932: S. 314– 316; Franz Oelmann in Orientalistische Literaturzeitung 1933: S. 264–265; Jaques Bacot in Revue des Arts Asiatiques 7.1931/32: S. 248–249; Georg Wegener in Vossische Zeitung 27.3.1932; Friederich Paulsen in Die Bauwelt 26.5.1932; Ernst Tiessen in Deutsche Allgemeine Zeitung, Unterhaltungsblatt 6.3.1932; Erwin von Zach in Deutsche Wacht 1932:8; Theodor Devaranne in Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft 1932:10; Konrad Wittmann in Deutsche Bauhütte 1932:22; Alfons Paquet in Frankfurter Zeitung 4.12.1932; Erich Michelsen in Ostasiatische Rundschau, 13.1932: S. 226–227; F. M. Trautz in Nachrichten der Gesellschaft für Natur und Völkerkunde Ostasien, 34.1934: S. 44–46; Reginald F. Johnston in Bulletin of the School of Oriental Studies, 4.1932: S. 1087–1091; Jean Buhot in Revue des Arts Asiatiques, 4.1939; Im Berliner Börsen-Kurier 22.5.1932 nur Abbildungen; Teng Gu für The Book Review (Peking) 1933; Pao Ting in Bulletin of the Society for Research in Chinese Architecture, Vol. VI., No. 4, Juni 1937.

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 Eduard Kögel

Lehrauftrag und ab 1927 als Honorarprofessor an der Technischen Hochschule Berlin in Charlottenburg zur ostasiatischen Baukunst. Diese Position zog auch chinesische Studenten an, für die sich Boerschmann immer außerordentlich engagierte. So verkehrten in seinem Haus in Berlin nicht nur die chinesischen Architekturstudenten, sondern auch die aus allen anderen Fachrichtungen. Diese Kontakte halfen ihm auf seiner Reise durch China zwischen August 1933 und Februar 1935 entscheidend, um mit wichtigen Personen aus Politik und Kulturleben zusammenzutreffen. All diejenigen, die an anderen Orten Deutschlands studiert hatten, kannten zumindest seinen Namen und hatten oft auch seine Bücher im Schrank. Das Auswärtige Amt, das Preußische Kultusministerium, die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft17 und die Baessler Stiftung unterstützten diese Reise finanziell, und erwarteten von Boerschmann Berichte über seine Aktivitäten. Von seinem dreimonatigen Aufenthalt in der Provinz Guangdong sandte er drei Berichte mit unterschiedlichem Inhalt nach Deutschland – denn jeder Geldgeber hatte ihn mit anderen Aufgaben betraut – die teilweise über seine eigentlichen Forschungsschwerpunkte zur Architektur und Stadtentwicklung hinausgingen. Der erste Bericht an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft ist mit „Erforschung und Pflege der alten chinesischen Baudenkmäler“ betitelt.18 Die Generalverwaltung der Preußischen Museen, zu der die Baessler Stiftung gehörte, erhielt den „Reisebericht über chinesische Wohnanlagen in ihrer Bedeutung für Volkskunde“.19 Einen „Bericht über meine Tätigkeiten und Beobachtungen in der Provinz Kuangtung [Guangdong]“ ging an die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes.20 Zusätzlich schickte Boerschmann einige Berichte an Zeitungen, die als Reportagen erschienen. Private Briefe und Dokumente ergänzen das Material, aus dem sich seine Arbeit in der gesamten Provinz zwischen September und Dezember 1933 recht genau dokumentieren lässt. Das im Anschluss publizierte Manuskript zu den Städten Hongkong, Macau und Kanton ist in seinen Grundzügen aus diesem Material zusammengestellt, das jedoch von Boerschmann nach seiner Rückkehr in Berlin vertiefend bearbeitet wurde. Das Manuskript ist nicht datiert, aber da er neben seinen eigenen Erfahrungen später offensichtlich auch Literatur heranzog, die erst nach seiner Rückkehr 1935 erschien, kann man annehmen, dass es im Zeitraum 1936–37 entstand.21 Da Boerschmann vor allem auf seine eigene Erfahrungen und die Geschichte und Entwicklung der drei genannten Städte eingeht, fokussiert meine Einführung auf andere Aspekte der Reise in der Provinz Guangdong.

17 Die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft war 1920 gegründet worden, trug aber ab 1929 offiziell den Namen Deutsche Gemeinschaft zur Erhaltung und Förderung der Forschung. Boerschmann nutzte jedoch weiterhin den erst genannten Namen. 18 Boerschmann, Bericht, Erforschung und Pflege der alten chinesischen Baudenkmäler, 24. Januar 1934 (Ms. 12 S.), Privatarchiv Ernst Boerschmann (PAB). 19 Boerschmann, Bericht, Chinesische Wohnanlagen, 10. Januar 1934 (Ms. 12 S.), PAB. 20 Boerschmann, Bericht, Tätigkeiten und Beobachtungen in der Provinz Kuangtung, 26. Dezember 1933 (Ms. 16 S.), PAB. 21 Lee, 1936.



Ernst Boerschmann in Guangdong (September bis Dezember 1933) 

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Reise nach China Boerschmann flog mit dem Flugzeug am 15. August 1933 von Berlin über München nach Venedig. Von dort erreichte er mit dem Zug zwei Tage später Genua, um dann mit dem Lloyddampfer Trier nach China zu reisen. Die Trier fuhr über Port Said und weiter durch das Rote Meer nach „Dschibuti in Französisch Somali-Land“, das (bis 1977) unter französischer Kolonialverwaltung stand. Die dortige zweigeschossige Kolonialarchitektur mit leicht orientalisierenden Fensterformaten und Arkadengängen erschien ihm „in einem überaus hässlichen Kolonialstil, ziemlich das Entsetzlichste, was ich in meiner Erinnerung bewahrte.“22 Die Reise führte weiter über Colombo in Sri Lanka (7.9.), Medan auf Sumatra (12.9.), Penang in Malaysia (13.9.), nach Singapur (15.9.) und Manila auf den Philippinen, bevor er das Land seiner „Studien und Träume“ am 23. September 1933 in Hongkong betreten konnte.23 Die asiatischen Haltepunkte und Landausflüge dienten Boerschmann als Studienorte und gaben ihm „die Grundlage für die wissenschaftliche Erkenntnis ostasiatischer Menschen und Kulturen.“24 In Colombo fand er – im Gegensatz zu Dschibuti – die Architektur der englischen Kolonialherren „wunderschön“. Dort besuchte er auch einen buddhistischen Tempel, der „geradezu ein Musterbeispiel buddhistischer Kultbauten und eine Parallele zu gewissen chinesischen Anlagen“ aufwies.25 In Penang fand Boerschmann Zeit den 1890 erbauten Kek Lok Tempel in Ayer Itam zu besuchen. Er hielt ihn für sehr bedeutend, weil dort die Mönche in direktem Austausch mit China standen. Zwar sei die Pagode neu (von 1930), aber sie stärke das Feng Shui des Tempels, der in den Bergen eine „schöne und ungewöhnlich glückliche Lage“ habe.26 Die Pagode auf einem oktogonalen Grundriss vereint tailändische und burmesische Einflüsse. In Medan auf Sumatra, eine wichtige Handelsstadt in der Niederländisch-Indischen Kolonie (ab 1949 Indonesien), traf er auf ein buntes Völkergemisch. In Berastagi auf dem Weg zwischen Medan und dem Toba-See besichtigte Boerschmann ein Dorf der Karo-Batak-Volksgruppe, die in Pfahlbauten mit gewaltigen strohgedeckten Dächern lebten. In Singapur wurde dann der chinesische Einfluss deutlich sichtbar. Dort besuchte Boerschmann den, wie er selbst, aus dem Memelland stammenden deutschen Konsul Walter Maenß. Zusammen mit chinesischen Freunden, die bereits seit Genua mit an Bord waren, besichtige er einige Bauten. In der Villa der Brüder Hu, die die Salbe Tiger Balm erfunden hatten, empfing man ihn freundlich, und er sollte später in seinem Bericht über Hongkong deren Geschäftsaktivitäten dort erwähnen.27

22 Boerschmann, in Memeler Dampfboot, 10.12.1933, 2. Beilage Nr. 290. 23 Ebenda. 24 Boerschmann, in Memeler Dampfboot, 17.12.1933, 2. Beilage Nr. 291. 25 Ebenda. Boerschmann nennt keine Namen. 26 Boerschmann, Bericht Nr. 1, „Durch Südliche Eingangstore zu China“, 10/1933 (Ms. S. 2), PAB. 27 Boerschmann in Memeler Dampfboot, 17.12.1933, 2. Beilage Nr. 296.

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 Eduard Kögel

Abb. 4: Die 1930 erbaute Pagode am Kek Lok Tempel in Ayer Itam in Penang, Malaysia. ­(Postkarte 1936, Sammlung EK).

Am 23. September erreichte Boerschmann Hongkong und reiste sechs Tage später nach Kanton weiter, wo er in den nächsten Wochen sein Quartier aufschlug.28 Weitere Reisen führten ihn von dort für drei Tage nach Sanshui und Zhaoqing am Westfluss (Xi Jiang) sowie zu den Kultstätten am Dinghu-Berg, knapp zwanzig Kilometer östlich der Stadt Zhaoqing. Eine neun-tägige Reise unternahm Boerschmann nach Shaoguan und Renhua, wo er den Zen-buddhistischen Nanhua Tempel (Südchina-Tempel)29 und das Danxia-Gebirge besuchte. Eine sechs-tägige Reise am Ostfluss (Dong Jiang) und weiter zum Luofu-Gebirge nutzte er, um die dortigen Tempel zu besichtigen. Zweimal fuhr Boerschmann nach Macau, und einmal besuchte er nördlich davon in Tangjiawan den Politiker Tang Shaoyi (1862–1938).30 Tagesausflüge brachten ihn ins Umland von Kanton, zum Beispiel nach Zengcheng oder in Hongkong nach Aberdeen auf Hong Kong Island und die New Territories nördlich von Kowloon. Die wissenschaftliche Ausbeute der Reisen zwischen

28 Boerschmann, Bericht, Erforschung und Pflege der alten chinesischen Baudenkmäler, 24. Januar 1934 (Ms. S. 1), PAB. 29 1589 hatte Matteo Ricci den Tempel besucht. 30 Tang Shaoyi (auch Tong Shao-yi) war 1912 kurze Zeit der erste Premierminister nach der Revolution. 1938 ermordeten ihn chinesische Nationalisten in Schanghai. Siehe Who is Who in China, 1936: S. 223. Sein ehemaliges Haus, in dem ihn Boerschmann besuchte, ist heute öffentlich zugänglich.



Ernst Boerschmann in Guangdong (September bis Dezember 1933) 

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Abb. 5: Die Postkarte (1926) eines Batak-Hauses in Sumatra, Indonesien, aus der Sammlung von Boerschmann. (NL EB, mit freundlicher Genehmigung durch Emily Kachholz).

September und Dezember 1933 in Guangdong bezifferte er mit 800 Fotografien und etwa 200 Seiten Skizzen, Notizen und Niederschriften. Zusätzlich kaufte Boerschmann „etwa 20 Spezialwerke, darunter einige seltene, von Städten und Kultstätten, etwa 100 Landkarten, Stadtpläne, Holz- und Steindrucke von Bauten und zugehörigen Darstellungen.“31 Inhaltlich umriss er die Themen seiner Forschungen wie folgt: Fortführung der Studien über die alte, klassische, insbesondere religiöse Baukunst der Chinesen / Notgemeinschaft. Entwicklung des chinesischen Wohnungsbaues von einfachsten Anfängen bis zum reichen Bürgerhaus, Siedlungen und Städte / Baessler Institut. Entwicklung der heutigen chinesischen Baukunst in Gebäuden und Stadtanlagen, im Hinblick auf die geistigen und sozialen Wandlungen, mit dem Ziel, gemäß den neuen wirtschaftlichen Bedingungen die Möglichkeit einer praktischen deutschen Beteiligung beim Aufbau von China festzustellen / Auswärtiges Amt. Hiermit verbunden ist die Frage der chinesischen Studierenden, insbesondere der Technik, in Deutschland. An allen diesen Fragen ist auch das Preußische Kultusministerium interessiert.32

31 Boerschmann, Bericht, Tätigkeiten und Beobachtungen in der Provinz Kuangtung, 26. Dezember 1933 (Ms. S. 3), PAB. Nur ein sehr kleiner Teil der genannten Materialien hat sich in zugänglichen öffentlichen oder privaten Archiven erhalten. 32 Ebenda.

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Mit der jeweiligen Nennung der Institution verwies Boerschmann auf die Mittelgeber und deren Interessen. Speziell aus den Studien für das Auswärtige Amt zur städtebaulichen Entwicklung entstand das hier veröffentlichte Manuskript, das Boerschmann offensichtlich auch als Anleitung verstand um deutschen Firmen den Markteinstieg in China zu erleichtern.

Reisen in der Provinz Guangdong Boerschmanns Reisen ins Hinterland der Provinz gaben ihm die Möglichkeit neben dem großen Stadtumbau in Kanton – von dem er in seinem eigenen Manuskript ausführlich berichtet – auch die Kleinstädte und die ländliche Entwicklung zu studieren. Zum Thema Ausbildung beobachtete er, dass selbst in den kleinen Dörfern, häufig in ehemaligen Tempeln (besonders in Ahnentempeln der Familien), Schulen eingerichtet wurden. Diese standen zur Verfügung weil der „Kult nachgelassen“ habe. „Ungemein zahlreich sind auch Schulneubauten.“33 In Kanton nutzte man selbst den berühmten Ahnentempel der Familie Chen (auch Chen Clan Academy), den Boerschmann schon bei seinem Besuch 1908 dokumentiert hatte, als Seminar für Sportlehrer.34 Auch die neue Gestaltung des öffentlichen Raumes fiel ihm auf.

Abb. 6: Ein neuer öffentlicher Garten im Namen von Sun Yat-sen in Zhangzhou. (PAB).

Eine große Rolle spielt im öffentlichen Bilde der Städte und selbst kleinerer Orte der früher nicht bekannte, erst im neuen China entstandene Kung Yüan [Gongyuan], der öffentliche Volkspark. […] die Provinzstädte wetteifern in der Anlage solcher Parks, die von der Bevölkerung eifrig benutzt werden und ihr das Gefühl der Zugehörigkeit zum Gemeinwesen geben. […] Ja, man richtet solche Volksparks

33 Ebenda: S. 6. 1912 gab es angeblich 86.316 Grundschulen in China, 1931 war die Zahl auf 261.264 gestiegen. 1912 gab es 373 weiterführende Schulen, 1931 zählte man 1.892. Siehe Tang Leang-li, 1935: S. 70–72. 34 Boerschmann, Bericht, Tätigkeiten und Beobachtungen in der Provinz Kuangtung, 26. Dezember 1933 (Ms. S. 7), PAB. Zum Chen Familientempel siehe Boerschmann, 1914: S. 275–286.



Ernst Boerschmann in Guangdong (September bis Dezember 1933) 

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Abb. 7: Lin Yungai, der Zivilgouverneur der Provinz Guangdong in einem Portrait. (Lee, 1936: 37).

schon auf dem flachen Lande ein, fern von Städten, in Verbindung mit Tempeln, wie im uralten Nanhua sze [Südchina-Tempel] im Bezirk Shiuchow [Shaoguan], unter der unmittelbaren Obhut des General Li [Han-yun]35, der sich an die Spitze der Geldsammlungen dafür setzte und mit seiner Behörde den Ausbau persönlich leitet.36

Für die Provinz gab es ein Aufbauamt in Kanton, das der Zivilgouverneur Lin Yungai (auch Lin Yun-kai, 1884–1948)37 leitete. „Insbesondere wird der Ausbau der Autostraßen gefördert nebst Brücken und Kunstbauten.“ Boerschmann erschien die provisorische und schnelle Ausführung nicht nachhaltig. „Der heutige chinesische Grundsatz schneller Gewinn, rücksichtsloser Verschleiß des Materials, wenig Unterhalt, keine Rücklagen, später völliger Neubau, widerspricht unserer Anschauung […].“38 Trotz dieser Einschrän-

35 Er war Vorstand des Nord- und West-Amtes, das seinen Sitz in Shaoguan hatte und dem nach Boerschmann die Aufgabe zufiel, die Region zu „befrieden“. Boerschmann, Bericht, Tätigkeiten und Beobachtungen in der Provinz Kuangtung, 26. Dezember 1933 (Ms. S. 8), PAB. 36 Ebenda: S. 9. 37 Lin Yungai hatte in den USA studiert und war 1931 nach China zurückgekehrt. Siehe Who is Who in China, 1936: S. 293. 38 Boerschmann, Bericht, Tätigkeiten und Beobachtungen in der Provinz Kuangtung, 26. Dezember 1933 (Ms. S. 9), PAB.

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kungen glaubt er die Entwicklung in Kanton und der Provinz Guangdong befänden sich auf einer „gesunden Grundlage“. Deshalb warb er bei jeder Gelegenheit vor Ort für die Beteiligung deutscher Firmen, was man im Auswärtigen Amt offensichtlich auch von ihm erwartete. Seine Werbung für Deutschland erfolgte im „eifrigen Verkehr mit den verschiedensten Kreisen der chinesischen Intelligenz“. Als quasi natürlichen Verbündeten in dieser Angelegenheit nannte er den Chinesischen Verein für deutsche Wissenschaft in Kanton, der siebzig Mitglieder zähle. Daneben hob er die Rolle der Deutsch-Chinesischen Mittelschule39 als Mittler und als deutsche Bildungsstätte hervor.40 Während seines Aufenthaltes in Kanton hielt Boerschmann drei Vorträge über seine Forschungen zur chinesischen Architektur. Einmal am 2. November vor der Vereinigung chinesischer Bauingenieure und Architekten (direkt aus dem Deutschen ins Chinesische übersetzt), einmal am 17. November an der Lingnan-Universität in englischer Sprache, sowie am 28. November im Deutschen Gartenklub. Der Vortrag an der Lingnan-Universität erschien in voller Länge in der englischsprachigen Tageszeitung Canton Gazette.41 Eine Übersetzung ins Chinesische druckte das Journal of the Lingnan Engineering Association.42 Für den Vortrag fertigte man aus seinem Fotobuch Baukunst und Landschaft von 1923 Lichtbilder zur Illustration.43 Das 1931 erschienene Buch Pagoden überreichte Boerschmann dem Gouverneur der Provinz, Lin Yungai, sowie dem Präsidenten der Sun-Yat-sen-Universität für die dortige Bibliothek. Mit diesem hatte er im Auftrag des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) zwei Unterredungen um die Frage von Austauschstudenten zu erörtern. Dabei diskutierte er über deutsche Ingenieure als Lehrkräfte für die technische Abteilung der Universität. Für den Wasserbauspezialisten Adolf Ludin (1879–1968)44 legte Boerschmann in Kanton gute Worte beim Bürgermeister ein, damit dieser beim Ausbau der Wasserstraßen Berücksichtigung finden solle. Persönlich habe er auch einige junge Männer als Studenten gewinnen können, berichtete er an die deutschen Behörden. Seine Bilanz der drei Monate in Guangdong fiel gegenüber dem Auswärtigen Amt recht positiv aus. Nirgends sei er auf Probleme gestoßen, überall habe man ihn willkommen geheißen und er habe viele kompetente Gesprächspartner getroffen.45

39 Die Deutsch-Chinesische Mittelschule wurde von der Berliner Mission betrieben. 40 Boerschmann, Bericht, Tätigkeiten und Beobachtungen in der Provinz Kuangtung, 26. Dezember 1933 (Ms. S. 13), PAB. 41 Boerschmann, in The Canton Gazette, (in vier Teilen erschienen), 14./15./16./18., Dezember 1933. 42 In The Journal of the Lingnan Engineering Association, 2.1934/1: S. 28–51. Auf Deutsch erschien der Vortrag in Ostasiatische Rundschau 15.1934: S. 14–17; auf Latein in Collectanea Commissionis Synodalis, Peking 1935: S. 693–697. Hier ist dieser Vortrag nach seinem originalen Manuskript im Anhang abgedruckt. 43 Boerschmann, 1923. 44 Ludin war Professor für Wasserbautechnik an der Technischen Hochschule Berlin. 45 Boerschmann, Bericht, Tätigkeiten und Beobachtungen in der Provinz Kuangtung, 26. Dezember 1933 (Ms. S. 16), PAB.



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Abb. 8: Die massiven Wehrtürme der Familien in einem Dorf nahe Sheqi. (© EB 1933, PAB).

War der Bericht an das Auswärtige Amt vor allem durch die äußeren Umstände, die politischen und gesellschaftlichen Kontakte geprägt, so enthält der Bericht an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft eine eindeutige Ausrichtung auf die neuen Erkenntnisse zur historischen Baukunst und zur neuen republikanischen Architektur. Unter dem Titel „Erforschung und Pflege der alten chinesischen Baudenkmäler in der Provinz Kuangtung“ berichtete er von seinen Erfahrungen.46 Auf der Nordseite der Insel Hongkong sei in der Stadt Victoria keine alte Baukultur mehr vorhanden. Aber auf der Südseite, in Aberdeen, habe er vier bemerkenswerte Tempel gesehen (die er aber nicht weiter benennt), die für das günstige Feng Shui des Ortes sorgen würden. Vor allem begeistert er sich für den „neuen großartigen Friedhof“ am Hang.47 Boerschmann hält diesen Friedhof für „künstlerisch und kulturell“ einzigartig in China. Auf monumentalen Terrassen seien in „weißem Werkstein höchst eigenartige Gräber reicher Familien angelegt in einer zum Teil vollendeten Mischung altchinesischer und ganz moderner Formen.“48

46 Boerschmann, Bericht, Erforschung und Pflege der alten chinesischen Baudenkmäler, 24. Januar 1934 (Ms. 12 S.), PAB. 47 Der terrassenförmig am Hügel angelegte Friedhof Chinese Permanent Cemetery wurde 1915 eröffnet. 48 Boerschmann, Bericht, Erforschung und Pflege der alten chinesischen Baudenkmäler, 24. Januar

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Auf dem Festland, in Kowloon, lag der von den englischen Behörden ausgebaute moderne Hafen. Im alten, ummauerten Kowloon, hatte man die meisten Bauten bereits ersetzt. Nur die Stadtmauer stand noch. Die Vorstädte und Dörfer im Umland hätten aber noch eine Reihe von Denkmälern bewahrt, berichtete Boerschmann. Vor allem in den New Territories sei der alte chinesische Charakter noch weitgehend vorhanden. Allerdings baue man auch dort bereits „im neuen Stil“. In der Landschaft zwischen Kowloon und Kanton „sind die zahlreichen weißen Turmbauten in mannigfacher Formgebung bestimmend für das Bild der Dörfer.“ Diese massiven Türme wurden als Wehrtürme und als Vorratsspeicher der Clans genutzt.49 Daneben fanden sich viele Gräber und Pagoden in der Landschaft. Die Bauten und die Tempel zeichnete Boerschmann auf und fotografierte sie „in reicher Zahl“. Die Reisen in der Region unternahm Boerschmann mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln. Mit dem Schiff fuhr er von Hongkong nach Macau und auf dem Westfluss von der Mündung bis nach Zhaoqing. Auf dem Ostfluss bis zur Stadt Sheklung und auf dem Nordfluss bis in die Nähe der Grenze zur Provinz Guangxi. Auch zwischen Kowloon und Kanton fuhr er mit dem Schiff, wie er in seinem Text ausführlich beschrieb. Mit dem Auto konnte Boerschmann die New Territories und Hongkong erkunden, ebenso die Strecke zwischen Macau und Tangjiawan. Von Kanton aus fuhr er nach Zengcheng, erkundete die Umkreise der Städte Zhaoqing im Osten und Shaoguan im Norden der Provinz. Mit der Eisenbahn verkehrte er zwischen Hongkong und Kanton, zwischen Kanton und Samshui sowie zwischen Kanton und Shaoguan. Während er die größeren Strecken mit Schiff oder Bahn zurücklegte, konnte er offensichtlich lokal immer auf die chinesischen Gastgeber setzten, die für ihn mit dem Auto entsprechende Touren zu den wichtigen Orten unternahmen. Als Vertreter der wissenschaftlichen Elite und im Auftrag deutscher Institutionen wurde er von den chinesischen Behörden sehr ernst genommen. Aber die lokalen Ämter wollten auch ihre Aufbauleistungen der letzten Jahre in besonders hellem Glanz erscheinen lassen. Deshalb darf man annehmen, dass sie ihm die besten Beispiele zeigten. Er notierte die „ergiebigsten Beobachtungen von den Überlandreisen“, die zu den „großen religiösen Brennpunkten führten.“50 In den Städten fand Boerschmann die alte Architektur „vielfach in Mitleidenschaft gezogen durch die oft stürmische Umgestaltung.“ Sowohl in Kanton wie in Samshui, Shaoguan und Zhaoqing hatte man die alten Stadttore mitsamt der Stadtmauer bereits vollständig niedergelegt und an ihrer Stelle Straßen gebaut. Den seit 1921, mit Unterbrechungen, verfolgten Umbau von Kanton beschrieb er ausführlich in seinem Text. Aber

1934 (Ms. S. 2), PAB. 49 Auf der anderen Seite des Delta in Kaiping stehen diese Wehrtürme heute auf der Liste des Weltkulturerbes. Auf der von Boerschmann beschriebenen Seite zwischen Hongkong und Kanton sind die Türme verschwunden. 50 Boerschmann, Bericht, Erforschung und Pflege der alten chinesischen Baudenkmäler, 24. Januar 1934 (Ms. S. 4), PAB.



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auch in den Provinzstädten waren neue große Straßendurchbrüche und neue Geschäftsstraßen entstanden. Trotz dem offensichtlich drastischen Umbau mit dem Verlust vieler alter Baudenkmäler, versuchte Boerschmann positive Aspekte in den Vordergrund zu stellen. Man sei im Ganzen in der radikalen Zeit nach der Revolution mit „Verständnis vorgegangen“. Vor allem findet er lobende Worte für die Umnutzung alter Tempel und Yamen51 für öffentliche Zwecke wie Schulen, Verwaltung und öffentliche Parkanlagen. Zwar seien viele religiöse Praktiken (wie der Ahnenkult), die er auf seiner Reise zwischen 1906 und 1909 beobachten konnte, verschwunden, aber gerade der Buddhismus (der für Boerschmann immer die größte Faszination ausübte) spiele mit seinen Tempeln und Klöstern noch immer eine herausragende Rolle. Boerschmann fand auch Beispiele, bei denen für die Umwandlung eines Tempels in eine Schule oder in eine Verwaltung, die Bauteile abgetragen und in neuer räumlicher Ordnung wieder aufgebaut worden waren. Insgesamt beklagt er dennoch, dass das Interesse an Archäologie und Geschichtsforschung in Kanton und der Provinz Guangdong sehr schwach ausgeprägt sei. Deshalb fiel es ihm schwer Literatur über diese Themen zu finden. Mit Mühe konnte sich Boerschmann ältere Spezialwerke zu Kultstätten beschaffen, neuere gab es nicht. Als einzig zuverlässig beschrieb er die beiden japanischen Werke „Geschichtliche Erinnerungen des chinesischen Buddhismus“ und „Archäologische, religiöse Beschreibung der Provinz Kuangtung“.52 Die 1928 gegründete Forschungseinrichtung Academia Sinica schien ihm in Kanton nicht sonderlich aktiv.53 Er traf sich mit dem Maler und Archäologen Chao Hao-kung, der viele hundert Ziegel der Stadtmauer von Kanton beim Abbruch (ab 1919) dokumentierte. Chao habe Exemplare aus der Han-Zeit (206 v.Chr.–220 n.Chr.) und durch alle folgenden Jahrhunderte gefunden. „Leider ist seine Arbeit rein literarisch, die Gelegenheit wurde versäumt, zugleich baugeschichtliche Feststellungen zu machen über Entwicklung von Stadt und Mauer.“54 Immer waren Boerschmann die Grabanlagen von besonderer Wichtigkeit. In Kanton faszinierte ihn der „Gräberberg der Weißen Wolke“ (Baiyun Shan). Er hielt ihn sogar für „das gewaltigste Zeugnis für Gräberkult aller Zeiten und Völker.“55 Die sorgfältige Erneuerung der Tempel, Pflege der Grabanlagen und die Neuanlage von Denkmälern der Republik nahe an der Nekropole, hielt er „für einen sinnfälligen Beweis für meine stets vertretene Anschauung, dass die alten, auch baukünstlerischen Grundlagen in

51 Der Yamen war eine kaiserliche Verwaltungsbehörde, die teilweise modifiziert in der republikanischen Periode weiterbestand. 52 Boerschmann, Bericht, Erforschung und Pflege der alten chinesischen Baudenkmäler, 24. Januar 1934 (Ms. S. 5), PAB. (Es bleibt unklar wer die beiden Werke verfasste.) 53 Die Academia Sinica wurde 1928 gegründet und ihr erster Präsident Cai Yuanpei (1868–1940) hatte in Leipzig studiert. Boerschmann traf in 1934 in Nanjing. 54 Boerschmann, Bericht, Erforschung und Pflege der alten chinesischen Baudenkmäler, 24. Januar 1934 (Ms. S. 5), PAB. 55 1922 zählte ein britischer Report 18.000.000 Gräber, wobei für die Stadt lediglich 120.000 Gebäude gezählt wurden. Siehe Lai Delin, 2009: S. 151.

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Abb. 9: Die Zeichnung des Architekten Lu Yanzhi zeigt den Gedenkpfeiler für Sun Yat-sen hinter der Gedenkhalle in Kanton. (© Lu, 1929).

China lebendig weiter wirken.“56 Auch in der Platzierung von Pagoden im regionalen Kontext sah er eine große Kontinuität, über die er bereits 1931 publiziert hatte.57 In Kanton standen die beiden großen Feng Shui-Pagoden im Südosten weit vor der Stadt und wirkten nach seiner Interpretation als Gegenpol zu den beiden Pagoden in der Stadt, die nun mit dem 1930 erbauten „Turmpfeiler“ zum Gedenken an Sun Yat-sen (1870–1925) auf dem Nordberg eine moderne Steigerung erfahren hätten.58 Ob der Architekt des Gedenksteines, Lu Yanzhi (1894–1929), ähnliche Gedanken hegte, ist nicht bekannt.59 Der Gedenkpfeiler entstand als Teil der Gedenkhalle für Sun Yat-sen. Wie bereits 1908 besuchte Boerschmann die Huata-Pagode (Blumenpagode) im Tempel der Sechs Banyan-

56 Boerschmann, Bericht, Erforschung und Pflege der alten chinesischen Baudenkmäler, 24. Januar 1934, (Ms. S. 6), PAB. 57 Boerschmann, 1931: S. 185–192. 58 Sun Yat-sen, in China eher als Sun Zhongshan bekannt, war Revolutionsführer und Staatsmann. Er gründete 1912 die Chinesische Nationalpartei Guomindang und entwickelte die politische Philosophie der „Drei Prinzipien des Volkes“ (Nationalismus, Demokratie, Volkswohl). Nach seinem Tod wurden in den zwanziger Jahren mehrere Gedenkstätten gebaut. So in Kanton und Nanjing. 59 Lu Yanzhi hatte in den USA Architektur studiert und kehrte 1918 nach Schanghai zurück. Mit seiner Beaux-Arts-Ausbildung gelang es ihm in den zwanziger Jahren bei den Memorialbauten für Sun Yat-sen in Nanjing und Kanton den politisch geforderten neuen Nationalstil mit traditioneller Dekoration und westlicher Monumentalität zu versöhnen. Siehe dazu auch Kögel, 2006 und Kögel, 2008: S. 455–468.



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Abb. 10: Eine Illustration der Blumenpagode in Kanton von 1933. (PAB).

bäume (Liurong-Tempel, begründet 537). Boerschmann faszinierte besonders die für ihn neue Entdeckung, dass dieser Tempel enge Verbindungen mit dem Südchina-Tempel (Nanhua-Tempel) in der Nähe von Shaoguan im Norden der Provinz Guangdong hatte. Huineng (auch Hui Neng, 638–713), der sechste Patriarch des Chan-Buddhismus (ZenBuddhismus), hatte hier gewirkt und nach Boerschmann auch die Blumenpagode um 670 in Kanton erbaut (auf dem heute vorhandenen oktogonalen Grundriss wurde sie zuerst 1097 errichtet und später mehrfach grundlegend renoviert). Huineng wurde als Bronzestatue, die nach Boerschmann aus der Tang-Dynastie (618–907) stammte, im LiurongTempel verehrt. Weiter sah er im Tempel einzigartige Ashoka-Pagoden aus Bronze.60 Da die Blumenpagode trotz einer Renovierung um 1900, nun 1933 wieder erneuert werden sollte, hatten Architekten ein genaues Aufmaß angefertigt. Boerschmann erhielt die Bauaufnahmen in mehreren Ausfertigungen für seine Studien. (Siehe Abb. 10 und 12). Auch der während der Östlichen Jin-Dynastie (317–420) begründete Guangxiao-Tempel hatte eine Verbindung zu Huineng und wurde bei Boerschmanns Besuch als Rechtsund Polizeischule genutzt.61 Dennoch standen einige kleinere Pagoden aus der Tang-Zeit

60 Der indische König Ashoka ließ angeblich im 4. oder 5. Jahrhundert 84.000 kleine Pagoden mit buddhistischen Reliquien verbreiten. 61 Die Bauten stammten aus der Qing-Dynastie (1644–1911) und werden heute wieder als Tempel genutzt. 1925 hatten die Behörden den Tempel zur Schule umgewandelt. Siehe Fitzgerald, 1996: S. 263.

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Abb. 12: Die Bauaufnahme für die Renovierung der Blumenpagode von 1933. (PAB).

Abb. 11: Die Blumenpagode in einer Aufnahme von Anfang des 20. Jahrhundert. (Unbekannter Fotograf, Sammlung Boerschmann. Mit freundlicher Genehmigung durch Bodo Niemann, Berlin/picture perfect GbR).



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Abb. 13: Der Zhenhai-Turm in Kanton, der in den zwanziger Jahren in ein Museum umgewandelt wurde. Das Foto hat Boerschmann bereits 1909 aufgenommen. (© Boerschmann, B+L, 1923: 231).

und eine Eiserne Pagode62 aus der Song-Zeit (960–1276) in einer offenen Kapelle. Die Haupthalle werde mit ihren Figuren aber trotz der neuen Nutzung gut gepflegt, berichtete er. Weiter besuchte Boerschmann den buddhistischen Hualin-Tempel mit seiner Halle der 500 Luohan.63 Der buddhistische Haitong-Tempel war bei Boerschmanns Besuch durch zwei Straßendurchbrüche in drei Teile geschnitten, die teils als öffentlicher Park, teils als Schule Verwendung fanden. Heute zählt er zu den vier wichtigsten buddhistischen Tempeln der Stadt. Der Medizintempel, direkt neben dem Hualin-Tempel, befand sich in einem verwahrlosten Zustand.64 Sehr begeistert äußerte er sich jedoch zur Umnutzung

1961 stellten die Behörden der Volksrepublik den Tempel unter Schutz, aber er wurde während der Kulturrevolution (1966–1976) dennoch schwer beschädigt und erneut als Schule genutzt. Siehe auch Gaubatz, 1996: S. 272. 62 Es gibt zwei, die östliche (963) und die westliche Eiserne Pagode (967), im Tempel. Die westliche Eiserne Pagode wurde Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts durch den Zusammenbruch eines Gebäudes beschädigt. 63 In Sanskrit Arhat (chinesisch Luohan), religiöser Titel für buddhistische Heilige. 64 Den Medizintempel hatte er bereits 1908, damals noch in gutem Zustand, fotografiert. Siehe Boersch­ mann, 1923: S. 224/225.

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Abb. 14: Die Region westlich von Kanton mit den wichtigsten Wasserläufen und 18 Pagoden. ­Boerschmann hatte diese Illustration dem Tourist Guide of Kanton von 1903 entnommen. (EB, Pag. 1931: 186).

des Zhenhai-Turmes, einer 1380 erbauten fünfgeschossigen Pagode, die Teil der nördlichen Stadtmauer war und seit 1928 das Stadtmuseum beherbergte.65 (Abb. 13). Exemplarisch für seine Exkursionen in die Region beschrieb Boerschmann fünf Bauwerke oder Orte. In der Nähe von Samshui, an der Mündung des Nordflusses in den Westfluss, besuchte er den Wallfahrtsberg Dinghu, wo er den aus der Ming-Dynastie (1368–1644) stammenden Qingyun-Tempel (1633) besuchte. Am Dinghu-Berg erwarb Boerschmann ein vierbändiges Werk zur Geschichte der Gegend (ohne den Titel zu nennen). In Shaoqing, am mittleren Westfluss, besuchte er die Sieben-Sterne-Felsen (Qixing Yan), die von religiös genutzten Höhlen durchzogen waren. Um die Stadt gruppierten sich sieben Pagoden, die die außerordentliche landschaftliche Lage betonen sollten. In den zahlreichen taoistischen und buddhistischen Tempeln sah Boerschmann Skulpturen aus Eisen und Bronze, die er in die Song- und Tang-Zeit datierte. Die Tempel wurden während seines Besuches umfassend mit öffentlichen Mitteln instandgesetzt. Südöstlich der Stadt Shaoguan am Nordfluss besuchte Boerschmann den SüdchinaTempel (Nanhua-Tempel), der ihm vorher unbekannt war. Dort hatte der Mönch Huineng, wie bereits oben angemerkt, im siebten Jahrhundert die südchinesische Zen-Schule begründet. Boerschmann konnte mit einem Beamten der Regionalverwaltung, die für die Renovierung des Tempels zuständig war, einige Tage dort verbringen und selbst Aufmaße anfertigen. Er kaufte eine „ausgezeichnete Tempelchronik“, die Auskunft über die religiöse und bauliche Geschichte der Anlage gab. Die Mumie von Huineng verehrte

65 Boerschmann, Bericht, Erforschung und Pflege der alten chinesischen Baudenkmäler, 24. Januar 1934 (Ms. S. 8), PAB.



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Abb. 15: Eine Grundrissskizze des Südchina-Tempels in Shaoguan. Im ersten Hof steht der Pavilion mit einer metallenen Pagode. Die zweigeschossige Eingangshalle beherbergte 500 Luohan im Obergeschoss. (© Boerschmann, UAK.ZUG.606-II.10.013-nan hua si, Universitätsarchiv Köln).

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Abb. 16: Die metallene Pagode unter einem offenen Pavillon im Südchina-Tempel. (© Boerschmann 1933, privat).

Abb. 17: Die Mumie des Abtes Huineng wurde im Südchina-Tempel in einem Altar verehrt. (© Boerschmann 1933, privat).

man in der Haupthalle immer noch, ebenso zwei weitere Mumien späterer Nachfolger, die an anderer Stelle im Tempel untergebracht waren. Der Grundriss erschien Boerschmann ungewöhnlich interessant, ohne dass er weiter darauf einging. Im ersten Hof stand die zweigeschossige Eingangshalle mit den Wächterfiguren im Erdgeschoss und darüber lag ein Raum für die 500 Luohan. In diesem Hof stand eine Bronzepagode mit dem Relief von tausend Buddhas aus der Song-Zeit unter einem Pavillon, die seine Aufmerksamkeit erregte, zumal er darin Parallelen zu einer ähnlichen Pagode im Guangxiao-Tempel in Kanton sah. Als Boerschmann den Südchina-Tempel besuchte war er mitten im Ausbau begriffen, um ihn als Pilgerort in einen öffentlichen Park einzubetten. Die politische Führung bemühte sich in dieser Periode, alte religiöse Ort für die Freizeit und Öffentlichkeit umzudeuten und ihnen somit einen neuen (republikanischen) Sinn zu verleihen. Nördlich von Shaoguan, im Kreis Renhua, an der Grenze zur Provinz Guangxi, besuchte Boerschmann das Danxia-Gebirge mit Beamten und Offizieren in einer größeren Reisegruppe.66 Deshalb konnte er nicht frei seinen eigenen Interessen nachgehen

66 Die Landschaft steht heute auf der Liste des Weltkulturerbes.



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Abb. 18: Eine Galerie mit 500 Buddha-Figuren im Obergeschoss in der ersten Halle im Südchina-Tempel. (© Boerschmann 1933, privat).

und musste sich der Gruppe unterordnen. Heute ist die aus rotem Sandstein bestehende Felsformation vor allem wegen zwei kurioser Einzelstücke berühmt: eine phallusähnliche Felssäule und eine Höhle, die einer Vagina gleicht. Im Gebiet selbst gab es viele Tempel und religiöse Stätten. Boerschmann besichtigte einige Höhlentempel (ohne die Namen zu nennen), die er zu den „Meisterleistungen der Felsentempel in China“ zählte. Das Luofu-Gebirge am nördlichen Ufer des Ostflusses ist ein wichtiges Zentrum des Taoismus. Boerschmann berichtete, zwar sei das Gebirge von europäischer Seite wiederholt besucht und in geographischer und naturwissenschaftlicher Hinsicht beschrieben worden, doch hätte bislang niemand die religiösen Zusammenhänge dokumentiert.67 Mit viel Mühe konnte er in Kanton vor seiner Reise in mehreren Antiquariaten die zehnbändige Geschichte des Luofu-Gebirges von 1716 erwerben. Mit diesem Kompendium und mit der Hilfe chinesischer Begleiter forschte Boerschmann vor Ort in den Tempeln über die Götter und die Kultgeschichte. Demnach ging die Verehrung der Region mindestens bis

67 Zur Geografie siehe Panzer, in Quatern, Journal of Geography, Canton 1933: S. 79ff. Für die Dokumentation einer Exkursion Ende des 19. Jahrhunderts zum Luofu-Gebirge siehe Bourne, 1895.

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Abb. 19: Einige Statuen in einer nicht näher bezeichneten buddhistischen Felsgrotte in der Provinz Guangdong. (© Boerschmann 1933, privat).

ins dritte oder vierte Jahrhundert zurück, als der bedeutende Taoist Ge Hong (280–340), dessen Grab in der Nähe des Chongxu-Tempels immer noch gepflegt werde, dort wirkte.68 Boerschmann machte genaue Aufnahmen der Anlage, die mit 60 Mönchen besetzt war. Sechs Tage lief er zu Fuß durch die Berge, zeichnete und fotografierte die Tempel, und bestieg den 1220 Meter hohen „Gipfel der fliegenden Wolken“, wo er die Ruinen eines alten Bauwerkes vorfand.69 In diesem Bericht spiegelt sich die Begeisterung für sein Spezialgebiet, der Verbindung zwischen Baukunst, Landschaft und Religion, die er jedoch durch die politische und wirtschaftliche Entwicklung bedroht sah. Ein weiterer Bericht an die Baessler Stiftung über „chinesische Wohnanlagen“ ist hingegen deutlich allgemeiner gehalten. Boerschmann verweist auf die Hilfe des Geografen Wolfgang Panzer (1896–1983), der genaue Studien der Siedlungen in der Landschaft vorgenommen habe.70 Für Boerschmann war die chinesische Wohnarchitektur Neuland,

68 Heute wird bezweifelt, dass Ge Hong wirklich im Luofu-Gebirge beerdigt wurde. Siehe Sun Xiangzhong, in Journal of the Henan University (Social Science), 1/2008. Ge Hong hatte auch das Ziyuan (Essay on Chinese Characters) geschrieben, in dem das erste Mal das chinesische Zeichen ta für Pagode dokumentiert wurde. Boerschmann wusste davon jedoch noch nichts. 69 Boerschmann, Bericht, Erforschung und Pflege der alten chinesischen Baudenkmäler, 24. Januar 1934 (Ms. S. 12), PAB. 70 Aus dem gewonnen Material hat Panzer offensichtlich nicht viel publiziert. Siehe Panzer in Geo-



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Abb. 20: Ein Boot wurde am Flussufer zum Haus. (© Boerschmann 1933, privat).

mit dem er sich zuvor nicht befasst hatte, und er erarbeitete den Bericht darüber lediglich auf Wunsch der Geldgeber. Darin gruppiert er das Thema in zehn Punkten und merkte an, er habe genügend Material gesammelt um einzelne Themen später zu vertiefen. Ein Zehntel der 1,2 Millionen Einwohner Kantons lebten nach Boerschmann in Booten auf dem Wasser. Dreiviertel davon, also 90.000, seien Chinesen mit unterschiedlichen Dialekten, während er ein Viertel zu den „Ureinwohnern“ zählte, die sich in Aussehen und Sprache deutlich von den Chinesen unterscheiden würden. Boerschmann lag zu diesem Thema eine Studie vor, die der Professor der Lingnan Universität, Wu Yuelin (Wu Yueylen), in den zwanziger Jahren verfasst hatte. Die „Ureinwohner“ hatten sich am Ufer des Perlflusses in Kanton ohne Bodenrechte Pfahlbauten errichtet. Auf dem Land bauten sie jedoch feste Häuser, von denen Boerschmann annahm, man könne mit Vergleichsstudien zwischen Pfahlbauten und festen Bauten die Evolutionsgeschichte der Behausung dieser Volksgruppe untersuchen. Er selbst nahm mehrere Objekte zeichnerisch auf. Die Grundrisse zeigten „die ungewöhnliche Anordnung eines Hintereinander von Räumen für eine abweichende Lebensform“. Vor allem die Pfahlbauten würden die Raumorganisation der Boote imitieren. Manchmal fand er auch Beispiele, bei denen richtige Boote aus dem

logische Rundschau Bd. 26/1935, No. 1/2: S. 156–157 und Panzer, in Geographischer Anzeiger, 1939: S. 214–220.

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Wasser auf Pfähle gestellt worden waren, die nun als Behausung dienten. (Siehe Abb. 20). Als Baumaterial kamen vor allem Bambus und geflochtene Matten zum Einsatz.71 Die Verwendung dieser Materialien habe eine große Tradition und werde immer noch für temporäre Bauten eingesetzt. Aber auch Werkstätten, Krankenhäuser und Schulen wurden damit errichtet. Die Bauten der neuen, großen Technischen Universität bestünden aus Bambus und Matten, und sie ziehe erst nach Fertigstellung in feste Gebäude um. Boerschmann erkannte hier, dass seine frühere Annahme, die Schwingung des typisch chinesischen Daches komme aus der Tradition des südlichen Bambusbaus, falsch war. Denn in diesen Bauten folge alles der geraden Linie der Bambusrohre.72 Ein Besuch bei den „Ureinwohnern“ im Norden der Provinz – der Volksgruppe der Yao73 – war ihm einerseits aus Zeitgründen nicht möglich, obwohl dies in seinem Programm vorgesehen war. Anderseits habe ihm an der Grenze zur Provinz Guangxi der zuständige Beamte die Reise dorthin als zu gefährlich abgelehnt. Die politischen Verwerfungen und Auseinandersetzungen zwischen Volksgruppen, Regionen und politischen Organisationen der späten zwanziger, Anfang dreißiger Jahre bestimmten auch hier die Tagespolitik. Ohne Vertrauensleute und Genehmigung konnte Boerschmann die Reise unmöglich durchführen. Boerschmann berichtete ebenfalls über die Häuser und Siedlungen der Volksgruppe der Hakka,74 die sich ihre eigenen Bräuche und Trachten erhalten hatten. Die Grundrissorganisation ihrer Häuser unterschied sich grundsätzlich von vergleichbaren chinesischen Bauten. Entweder als massiver Rundling oder als rechteckige, ummauerte Wehrdörfer grenzten sie sich komplett gegen ihre Umwelt ab. In technischer Hinsicht waren die Bauweisen jedoch sehr einfach, auch bei den wohlhabenden Schichten der Bevölkerung. Ihre massiven Häuser standen oft in chinesischen Siedlungen, bilden aber manchmal auch eigenständige Gruppen. Über den Osten der Provinz, die er nicht selbst besuchte, hörte er, die Berliner Mission missioniere dort in dieser Volksgruppe. Die Bauten der Hakka befanden sich immer in der Ebene, in unmittelbarer Nähe der Felder, aber er fand keine herausragenden Gebäude für die Ahnenhalle oder die Tempel. Die chinesischen Dörfer dagegen „stehen meist monumental in der Landschaft“, der Ahnentempel war architektonisch auffallend und sichtbar an der Front der Siedlung platziert. Die Häuser standen eng beisammen, um möglichst wenig Fläche zu verbrauchen. Vom Flugzeug aus – ich hatte Gelegenheit mit einem Militärflugzeug über Canton und Umgebung zu fliegen – erkennt man am besten die fast vollkommene Geschlossenheit der Dorfsiedlungen, es findet sich durchaus nirgends ein Außengehöft, das nur ein wenig entfernt liegt vom Dorf. Ja man sieht selbst deutlich das Aufsaugen dieser Dörfer durch die Großstadt in den Außenbezirken, wo die

71 Boerschmann, Bericht, Chinesische Wohnanlagen in ihrer Bedeutung für Volkskunde, 10. Januar 1934 (Ms. S. 2), PAB. 72 Boerschmann hatte sich zur Entwicklung der Dachform allerdings nie in einer Publikation geäußert. 73 Heute eine der 56 ethnischen Minderheiten der Volksrepublik. 74 Ebenfalls eine Volksgruppe, die ursprünglich aus dem Norden eingewandert war und sich ihre wehrhafte Siedlungsform erhalten hatte.



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klaren Dorfflächen durch die freie und weiträumige Bebauung eingeschlossen sind. Selbst im alten ummauerten Canton treten solche geschlossenen Dorfteile noch hervor und lassen schließen auf den gleichen Prozess der Aufsaugung schon in der frühen Zeit vor Anlage der alten, jetzt abgebrochenen Stadtmauer.75

Besonders eigenartig fand Boerschmann die Familiendörfer, in denen – so vermutete er – schon seit sehr langer Zeit ununterbrochen dieselben Großfamilien wohnten. Viele dieser Dörfer konnte er fotografieren, zu drei machte er weitere Angaben. Ein Familiendorf bei Kowloon hatte eine Grundfläche von 120 Metern im Quadrat und war mit einer Mauer und einem Wassergraben umgeben. Es gab nur ein Zugangstor in der Mitte der Südseite, von wo die schmale innere Gasse direkt auf den Familientempel zuführte, der mit taoistischen Gottheiten geschmückt war. Im rechten Winkel zur Hauptgasse zweigten etwa acht Nebengassen ab. Die Anlage mit vier Ecktürmen auf der Mauer, erinnerte ihn an ein befestigtes Lager. Gerade im Umfeld von Kowloon fand Boerschmann viele dieser befestigten Dörfer. Als zweites beschrieb er das Dorf der Familie Chu in der Nähe von Zengcheng im Osten von Kanton. Es bestand seit der Song-Zeit und hatte bei seinem Besuch zirka 3000 Einwohner. Die Bauformen waren frei entlang der Wasserläufe und Teiche gewachsen, das Dorf machte aber dennoch einen geschlossen, kompakten Eindruck. Die Funktionen von Schule, Verwaltung, Läden, Wohnen und Industrie war „in zwanglosem Nebeneinander, das einigermaßen städtischen Charakter beanspruchte.“ Es gab einen Tempel für die Ahnen, einen Turm für den Gott der Literatur, einige kleinere Tempel und eine schlanke Pagode außerhalb der Siedlung. Das Dorf Tangjiawan nördlich von Macau kannte er von seinem Besuch bei dem Politiker Tang Shaoyi. In diesem Dorf lebten 10.000 Menschen auf zwei Familien verteilt. Die eine Gruppe mit dem Familienname Tang zählte 7000 Mitglieder, die Familie Liang umfasste 3000 Personen. Räumlich waren die beiden Klans nebeneinander angesiedelt und jede Gruppe hatte ihren eigenen Familientempel. Alle Bauten orientierten sich nach Süden. Das Land war in Privateigentum aufgeteilt, aber es gab auch Dorfeigentum (eine Art Allmende) an Feldern und Pflanzungen, deren Ertrag man für öffentliche Zwecke einsetzte. Zum Beispiel unterhielt man die Schulen vom Gewinn bestimmter Reisfelder. Dies war nach Boerschmann in der Provinz in den Gemeinden überall Brauch. Der Handel hatte sich in den letzten Jahren, nach politischen Unruhen in den ersten Jahren der Republik, offensichtlich in der ganzen Provinz positiv entwickelt. Die Regierung stimulierte den Ausbau von Marktplätzen, auch in den kleinen Dörfern. Mancherorts entstanden sogar große, gedeckte Markthallen. Der wehrhafte Charakter chinesischer Dörfer erschien Boerschmann erwähnenswert, da er bis in die neuste Zeit Bedeutung hatte. Diese Dörfer, die sich von Hongkong entlang der Bahnlinie nach Kanton und weiter entlang des Nordflusses fanden, zeichne-

75 Boerschmann, Bericht, Chinesische Wohnanlagen in ihrer Bedeutung für Volkskunde, 10. Januar 1934 (Ms. S. 6), PAB.

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ten sich durch eine fehlende Ummauerung aus. Der Wehrcharakter entstand durch weiße Turmbauten, die teilweise auch als Speicher genutzt wurden. Diese Türme gaben der ganzen Landschaft ihr Gepräge. Auch in der Provinz Guangxi war eine solche Bauweise weit verbreitet, wie Boerschmann auf den Luftaufnahmen von militärischen Stellen in Kanton sehen konnte. Dort fanden immer wieder Aufstände gegen die Nationalregierung statt, die man mit militärischen Mitteln bekämpfte. „Derartige Anlagen, die das südliche Guangxi in Mengen bedecken sollen und bis nach Guangdong hinein reichen, züchten natürlich das kriegerische Eigenleben und ermöglichen den Aufständischen nachdrücklichen Widerstand. Ihr Niederringen wird selbst für geübte Kampftruppen schwer, auch wenn, wie zahlreiche Bilder zeigten, in größerem Umfange von schweren Flugbomben Gebrauch gemacht wird, die oft alle Gebäude innerhalb der Wehrmauern niederlegen.“76 Städtische Wohnbauten wollte Boerschmann in einer separaten Untersuchung dokumentieren, zu der er jedoch in Kanton keine Zeit mehr fand. Zusätzlich beklagt er sich, dass die „bewundernswerte Geschäftigkeit aller amtlichen Stellen“ es nicht zuließe vertiefende Studien in Zusammenarbeit mit örtlichen Stellen vorzunehmen. Vor allem die Politik sei mit kriegerischen und militärischen Maßnahmen voll beschäftigt. „Es ist mir kaum gelungen, einige private Persönlichkeiten zu finden, die ein aktives Interesse an meinen Arbeiten nehmen konnten, viel weniger amtliche Stellen. Und doch war die Tendenz zu Unterstützung vorhanden, wenigstens ein Verständnis, [...].“77 Man darf also annehmen, dass offizielle politische Stellen ein relativ bescheidenes Interesse an seiner Arbeit hatten, obwohl dem einen oder anderen vermutlich die Bedeutung für die eigene Stadtgeschichte nicht entging.

Briefe und Reportagen aus Guangdong Neben den offiziellen Berichten an die ihn fördernden deutschen Institutionen stand Boerschmann im Briefwechsel mit unterschiedlichen Personen und schrieb Reportagen für deutsche Zeitungen. Bereits in Colombo erreichte ihn der Brief von Wilhelm Wagner (1884–1949), dem deutschen Generalkonsul in Kanton, dem er im Juni sein Kommen mitgeteilt hatte. Wagner wies seinen Vizekonsul Hans Voskamp (1900–1945) an, Boerschmann zu helfen, da er selbst erst später in Kanton sein konnte. Wagner hatte auch den Oberbürgermeister Liu Chi-wen (1889–1957)78 unterrichtet, der seinerseits jegliche Unterstützung für die Vorhaben von Boerschmann zusagte. Er wolle sogar Hilfskräfte zur Verfügung stellen, schrieb Wagner, der auch den an der Sun-Yat-sen-Universität unter-

76 Ebenda, (Ms. S. 11). 77 Ebenda, (Ms. S. 12). 78 Liu Chi-wen hatte in Japan und England Recht und Wirtschaftspolitik studiert. Als 1927 Nanjing zur Hauptstadt wurde, berief man ihn zum Bürgermeister. 1932 kam er als Bürgermeister nach Kanton. Siehe Who is Who, 1936: S. 163/164.



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Abb. 21: Liu Chiwen, der Bürgermeister von Kanton. (Lee, 1936: 39).

richtenden deutschen Geografen Wolfgang Panzer informierte. Weiter benannte Wagner den deutschen Architekten Eugen Schwemmle (1889–1979), der ebenfalls in Kanton aktiv war und sich „gerade in letzter Zeit eingehend mit chinesischer Architektur befasst hat.“79 Aus Colombo antwortete Boerschmann, er habe bereits ein Empfehlungsschreiben für den Bürgermeister Liu von der Chinesischen Gesandtschaft in Berlin. Er freue sich auch darauf die Herren Panzer und Schwemmle zu treffen.80 Auf Panzer traf er bereits in Hongkong, zu Schwemmle gibt es keine weiteren Hinweise. Dennoch ist es fast ausgeschlossen, dass sie sich nicht begegnet sind. Eugen Schwemmle hatte sich vor seiner Ausreise nach China als Architekt für die Deutschen Werkstätten in Hellerau bei Dresden mit Holzbau befasst. In Kanton betrieb er seit 1932 mit dem in Deutschland ausgebildeten Guo Bingqi ein Architekturbüro. Schwemmle und Guo bauten 1933 für den Kaufmann Walter Eckert eine moderne Villa im ehemaligen Dorf Lung Ngan Tung (heute Longdong) 25 Kilometer nordöstlich von Kanton.81 Eckert vertrat in Kanton die Firma Siemssen & Co, die ihr Hauptgebäude auf der Insel Honam hatte. Dort wohnte Boerschmann als Gast von Eckert während seines Aufenthalts zwischen Ende September und Mitte Dezember 1933. Später baute das Duo Schwemmle/Guo die neue Deutsch-Chinesische Mittel-

79 Brief, Wagner an Boerschmann, 5.8.1933, PAB. 80 Brief, Boerschmann an Wagner, 9.9.1933, PAB. 81 Die Hinweise zu Schwemmle verdanke ich Harald Richter, dem ehemaligen Generalkonsul in Guangzhou.

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Abb. 22: Die neue Villa für Walter Eckert außerhalb der Stadt. Boerschmann wohnte bei Eckert während seines Aufenthaltes in Kanton. Die Villa baute Eugen Schwemmle 1933. (Unbekannter Fotograf, mit freundlicher Genehmigung durch Harald Richter/PA).

schule (1936) sowie eine Waffenfabrik. Boerschmann erwähnt Schwemmle in seinen Aufzeichnungen und Briefen nicht. Möglicherweise missfiel ihm der architektonische Ansatz von Schwemmle, der sich in den Projekten sachlich auf das Neue Bauen in Deutschland bezog. Vor allem die Villa für Walter Eckert, die als kubischer weißer Körper in einen üppigen Garten integriert war und 1933 fertiggestellt wurde, entsprach sicherlich nicht Boerschmanns Vorstellungen einer neuen chinesischen Architektur. Da er sich selbst jedoch nie dazu äußerte, kann dies nur aus seinen anderen Aussagen zur Architekturentwicklung in China geschlossen werden. Der Journalist Ludwig Sochaczewer (1870–1943)82 arbeitete viele Jahre als Redakteur für die Zeitung Memeler Dampfboot. Er versuchte für Boerschmann in Deutschland Abnehmer für die Reportagen aus China zu finden. Die Frankfurter Zeitung, die Münchner Neuesten Nachrichten, das Hamburger Fremdenblatt und der Hannoversche Kurier sagten die Abnahme einzelner Beiträge zu.83 Am 24. Oktober 1933 sandte Boerschmann den ersten Bericht an Sochaczewer, der für die Deutsche Allgemeine Zeitung bestimmt

82 Er wurde 1943 im Konzentrationslager in Theresienstadt von den Nationalsozialisten ermordet. 83 Brief, Sochaczewer an Boerschmann, 15.9.1933, PAB.



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war. Er hatte mit dem zuständigen Redakteur ausgemacht alle sechs Wochen einen Aufsatz zu schicken.84 Der mit der Nummer eins versehene Bericht trägt den Titel „Durch Südliche Eingangstore zu China“.85 Ebenfalls im Oktober folgte der mit Nummer zwei versehene Bericht mit dem Titel „Wiedersehen mit Canton“, der im Januar 1934 im Memeler Dampfboot erschien.86 „Hier in Canton, der Geburtsstätte des Neuen China, soll diesmal von Süden her der Hebel der Erkenntnis ansetzten, um in stetigem Vordringen durch alle Breiten bis zum alten Nordpol, Peking, ein Bild zu erhalten von Sinn und Ziel der heutigen Entwicklung im größten Reich des Ostens.“87 Für Boerschmann war die chinesische Entwicklung seit der Revolution von 1911/12 und nach dem Ersten Weltkrieg 1914–18, sowie den neuen Bemühungen um die nationale Einheit der Nanjinger Regierung unter der Führung der Nationalpartei Guomindang seit Ende der zwanziger Jahre, durchaus mit der deutschen Situation nach dem Ende des Kaiserreiches 1918 und den Entwicklungen in der Weimarer Republik, die nach seiner Auffassung mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in geordnete Bahnen kam, vergleichbar. Obwohl er sich zu politischen Dingen gegenüber der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland nie direkt öffentlich äußerte, zeigte er am Anfang gewisse Sympathien, die sich auch in seinen Aufzeichnungen niederschlugen. Boerschmann war viele Jahre Vorsitzender des MemellandBundes, den er 1919 mitbegründet hatte, und der nach dem Versailler Vertrag die Sache der Deutschen im neu geründeten Litauen vertreten wollte. Boerschmann legte jedoch den Vorsitz nach der Eingliederung des Memelland-Bundes in den Bund Deutscher Osten 1933 nieder und trat nie einer anderen Organisation der Nationalsozialisten bei.88 Es ist zwar nicht bekannt, dass er je einer anderen politischen Partei angehörte, aber seine Haltung kann als nationalkonservativ, und auch nach Gründung der Weimarer Republik, als „kaisertreu“ beschrieben werden. Wie in seinem hier folgenden Manuskript über die Städte Hongkong, Kanton und Macau deutlich wird, versuchte er sich dennoch gegen-

84 Brief, Boerschmann an Sochaczewer, 24.10.1933, PAB. 85 Bericht Nr. 1, „Durch Südliche Eingangstore zu China“, 10/1933 (Ms. 4 S.), PAB. Inhaltlich ähnelt er dem Bericht im Memeler Dampfboot, 17.12.1933, 2. Beilage Nr. 296. 86 Boerschmann, in Memeler Dampfboot, 14.1.1934, 2. Beilage Nr. 11. 87 Ebenda. 88 Zum Rücktritt siehe Das Memelland, Nr. 7/9, September 1933, Titelseite. Boerschmann trat bereits im Juni vom Posten des ersten Vorsitzenden des Memelland-Bundes zurück, der ab September dann als Teil des nationalsozialistischen Bundes Deutscher Osten weitergeführt wurde. Er begründete diesen Schritt mit der bevorstehenden Reise nach China. Weil Boerschmann auch später nie einer nationalsozialistischen Organisation angehörte, wurde er bei der Berufung als Honorarprofessor 1940 an die Universität Berlin (heute Humboldt-Universität) vom Nationalsozialistischen Dozentenbund genau geprüft. Professor Willi Willing verfasste im Januar 1940 ein Gutachten, in dem er schrieb: „Ich muss bemerken, dass Boerschmann keiner nationalsozialistischen Gliederung angehört. Es ist aber Nachteiliges nicht über ihn bekannt.“ Gutachten, 30.1.1940, Willing an NS-Dozentenbund, Archiv Humboldt-Universität zu Berlin, Personalakte 301.

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Abb. 23: Der Plan für Greater Kanton 1936 kurz bevor der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg begann. Im Vergleich zur alten ummauerten Stadt (oben) wird deutlich, wie gewaltig die neue Planung war. (Lee, 1936: 26).

über den deutschen Behörden sprachlich mit rassistischen Aussagen an den neuen Zeitgeist anzupassen.89 In China erwartete Boerschmann durch die politischen Umwälzungen, bei denen Kanton eine bedeutende Rolle spielte, viele Veränderungen. „Es war mir klar, dass bei der Neuordnung der meisten Dinge vieles Alte hatte fallen müssen, darunter auch vielleicht edle Baudenkmäler, die mir stets einen tiefen und zugleich erhabenen Eindruck chine-

89 Später hat er offensichtlich das Manuskript noch einmal zur Hand genommen und mit Bleistift die entsprechenden Stellen mit einem Fragezeichen versehen. Die Stellen sind von mir im Manuskript mit Fußnoten kommentiert. Die zuweilen positiven Anmerkungen zu den Nationalsozialisten in Briefen und Manuskripten zwischen 1933 und 1938 verschwinden, nachdem er feststellt, dass die sich mit den in China Krieg führenden Japanern verbündeten und gegen die Chinesen agierten. Boerschmann unterstützte in den vierziger Jahren chinesische Studenten finanziell und nahm sie gegenüber den nationalsozialistischen Behörden in Schutz.



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sischen Wesens bedeuten. Doch darf man sich nicht den technischen Notwendigkeiten einer gewaltigen wirtschaftlichen Entwicklung verschließen, die Opfer verlangt, wenn einem Volke neue Blüte werden soll.“90 Mit einem Liniendampfer fuhr er von Hongkong nach Kanton und erreichte die Stadt am frühen Morgen. Die Kulisse vom Boot aus war offensichtlich recht beeindruckend. Auf der dem Bund gegenüberliegenden Insel Honam hatte sich eine rege Bautätigkeit entfaltet. Die großen alten Pfandtürme verschwanden hinter den neuen sechs-geschossigen Geschäftshäusern. Am Ufer und auf dem breiten Bund, der sich überall noch im Ausbau befindet, sind wir mitten in ungeheuerem Lärm und Treiben der rastlosen Millionenstadt wo chinesische Art sich auslebt nach eigenen Gesetzten. Das Heulen und Kreischen zahlloser Dampfpfeifen und Sirenen, in raffiniert erdachten, nie gehörten Tönen, mischt sich in das laute Geschrei der Träger und Rikschakuli, in die Schläge der Dampframmen an Kaibauten, die uns umgeben, in das unaufhörliche Tuten der jagenden Autos und Autobusse auf den neuen Asphaltstraßen. Das Unbekümmertsein um großen Eindruck oder peinliche Ordnung, wie wir es verstehen, zeigt sich im Durcheinander des knapp geregelten Verkehrs, im sorglosen Nebeneinander von Schilfhütten und monumentalen Fassaden, von Baufronten beliebigen Stils, von halbabgebrochenen Häusern und reizvollen Gebäuden im Feuerzauber chinesischer Farben. […] Es ist dieses verwirrende Rücksichtslose für Augen und Ohr (einschließlich Nase) und doch zugleich der Anspruch, eine moderne Stadt darzustellen, was den Fremden, der nur von der Außenseite urteilt, leicht zur Ablehnung des Ganzen kommen lassen kann.91

Seine eigene Reise verstand Boerschmann als Versuch ein Gegenbild zu dieser Sicht von Außen zu entwerfen. Der Besuch bei Kantons Bürgermeister und bei dem in Deutschland ausgebildeten Stadtbaudirektor noch am Tag seiner Ankunft brachten ihm die Erkenntnis, dass das neue „Groß-Kanton“ auf einer Gesamtfläche von vierzehn mal achtzehn Kilometern ein gewaltiges Unternehmen darstellte, das trotz bereits erfolgter Eingriffe noch einige Jahre brauchen würde, um zu einem zufriedenstellenden Resultat zu gelangen.92

90 Boerschmann, in Memeler Dampfboot, 14.1.1934, 2. Beilage Nr. 11. 91 Ebenda. 92 Erstaunlich bleibt, dass Boerschmann den deutschen Wilhelm Schrameier (1859–1926) nicht erwähnt, der von Sun Yat-sen 1924 nach Kanton berufen worden war um bei der Konzeption einer urbanen Administration zu helfen. Nach dem Tod von Sun Yat-sen arbeitete Schrameier für dessen Sohn Sun Ke, der als Bürgermeister die erste moderne Verwaltung auf die Beine stellte. Als Schrameier nach einem Unfall 1926 verstarb, wurde er mit einem Gedächtnisstein geehrt, in den Sun Fo eine lange Inschrift einschrieb: „Im Jahre 1924 wurde er von dem Generalissimus Dr. Sun Yat-sen nach Canton berufen, um ihm zu helfen, die von ihm gelehrten drei Volksprinzipien zu verwirklichen, und zum Ratgeber der CantonStadtverwaltung ernannt. Als solcher wurde ihm, der die besten Kenntnisse von den Gesetzen der Bodensteuer hatte, die Untersuchung der Besteuerung des städtischen Grundbesitzes übertragen. In Erfüllung seiner Dienstpflicht und getreu den unverfälschten Ideen Dr. Sun Yat-sens hat Dr. Schrameier die Grundzüge eines Bodensteuergesetzes ausgearbeitet. Gerade hoffte man, diese Grundsätze auszuführen, als er 10 Tage nach der Ausfertigung des Gesetzentwurfes einen Unfall ..... erlitt und starb. Als unsere Landsleute diese traurige Nachricht erhielten, zeigten alle ihr Beileid. Seine Freunde, meist berühmte Männer, kamen persönlich, um an der Beerdigung teilzunehmen. Daraus kann man seinen Charakter ersehen. Er war ein bescheidener, vollkommener und liebenswürdiger Mann im Sinne des klassischen Buches der

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Abb. 24: Der Eingang zur neuen Stadtverwaltung in Kanton, die von dem in Lyon ausgebildeten Architekten Lin Keming entworfen wurde. (Postkarte, mit freundlicher Genehmigung durch Michael Kaempfe).

Aber er versuchte anzuerkennen, dass die neuen Straßendurchbrüche und der Abbruch der alten Stadtmauer die Voraussetzungen geschaffen hatten für die kommende Entwicklung. Überall traf er auf Baustellen, teilweise war das Neue bereits sichtbar, an andrer Stelle domminierten Abbruch und Ruinen. „Das Gewaltige […] gehört zu den Spitzenleistungen des modernen Städtebaues.“ Man habe sich bemüht, Tempel und Yamen zu erhalten, teilweise sogar zu verbessern. „Allerdings hat der Kult des neuen Nationalismus seit Sun Yat-sen eine neue Religion nationaler Heldenverehrung hervorgebracht.“ Man habe für Sun und seine Mitstreiter Denkmäler und eine Ruhmeshalle erbaut. Die neuen Bauten für Verwaltung und Bildung seien teils schon ausgeführt oder in Planung. Zu den fertigen Bauten gehörten ein Stadthaus, eine Bibliothek und die neue Sun-Yat-sen-Universität, die in „edlem chinesischem Stil“ ausgeführt seien. Die Pläne für Verwaltungsbauten

Wandlungen und des Buches der Gedichte. Er wurde in Nan Schih Tao beigesetzt. Ich, zugleich Bürgermeister von Canton, arbeitete mit ihm zusammen. Zum Zeichen meiner Verehrung lasse ich diese Aufzeichnung auf den Grabstein einmeißeln. Ach, die Wolkenberge bleiben grün, der Perlfluß fließt ununterbrochen und Dr. Schrameier ist dahingegangen! Ihr, die Ihr an dieses Grab tretet denkt immer an ihn! Canton, im November 1926. Sun Fo, Kommissar der Volksregierung von China, hat dies verfaßt und geschrieben.“ Zitiert nach Matzat, 1985: S. 18.



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Abb. 25: Das Bild „Brücke im Regen“ des Malers Gao Qifeng 1934 in der Ausstellung in Berlin. ­(Ausstellungskatalog, 1934, Nr. 119).

der Provinz und der Stadt lagen zur Ausführung bereit, ebenso Pläne für den Ausbau der Infrastruktur an den Flüssen mit neuen Häfen. Boerschmann schließt seinen Bericht mit einem überaus positiven Bild, das er von seinem ersten Eindruck gewonnen hat.93 Am 6. Oktober 1933 traf Boerschmann den zur Lingnan-Schule gerechneten Maler Gao Qifeng (1889–1933) in dessen Haus in Kanton. Gao war einer der Künstler die 1934 an der großen Ausstellung über chinesische Malerei in Berlin beteiligt waren.94 Er bereitete gerade seine Reise nach Deutschland vor, als er kurz nach dem Besuch Boerschmanns überraschend verstarb. In einem Nachruf beschrieb er seinen Besuch und Gao’s Haus direkt am Fluss.95 Der Architekt Eugen Schwemmle entwarf für ihn ein monumentales Grabmal, das jedoch nicht zur Ausführung kam. Im November 1933 sandte Boerschmann unter dem Titel „An (m)einem chinesischen Fluss“ die mit der Nummer vier versehene Reportage für die Zeitung Münchener Neueste Nachrichten.96 Darin beobachtete er von seiner Gastwohnung in der Niederlassung der Firma Siemssen & Co, bei Walter Eckert auf der Insel Honam, gegenüber dem Bund, das Leben auf und am Fluss. Vor allem die quirlige Lebendigkeit auf den Hausbooten und die rasante bauliche Entwicklung am Flussufer sind Themen seiner Darstellungen. Von Hong-

93 Ebenda. Die drei Berichte im Memeler Dampfboot veröffentlichte Boerschmann in einem zusammenfassenden Artikel in der in Tianjin herausgegebenen Tageszeitung Deutsch-Chinesischen Nachrichten am 31. Dezember 1933 unter dem Titel „Durch südliche Eingangstore nach China“. 94 Liu Chung-chieh, 1934. (Im Katalog sind vier Bilder von Gao Qifeng abgebildet). 95 Boerschmann, in China-Dienst 5/1934: S. 186. 96 Boerschmann, in Münchener Neuste Nachrichten Nr. 8, 10.1.1934: S. 4.

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Abb. 26: Die Anlegestelle für Hausboote und große Passagierschiffe in Kanton. Im Hintergrund die unterschiedlichen Bautypen, teils Kolonialstil, teils traditionelle Bauten mit arabisch anmutenden Lüftungskanälen und Wehrtürme der Familien. (© Boerschmann 1933, mit freundlicher Genehmigung durch Michael Kaempfe).

kong aus schrieb Boerschmann am 15. Dezember 1933 an Sochaczewer und legte den fünften Bericht über den Besuch bei Tang Shaoyi in Tangjiawan in der Nähe von Macau bei, der im Januar in der Deutschen Allgemeinen Zeitung erschien. Er hatte Tang in Kanton kennengelernt und dieser lud ihn wegen gemeinsamer Interessen zur chinesischen Architektur in sein Heimatdorf ein. Tang hatte kurz zuvor Boerschmanns zweibändiges Buch Chinesische Architektur von 1926 erworben. Bei ihrem Treffen sprachen die beiden über „die geistige Haltung im neuen China und seine kulturellen Aussichten“. Die Fahrt von Macau mit dem Auto auf den Landsitz führte durch „schöne und wohlgepflegte Landschaft“.97 Im Begleitschreiben an Sochaczewer vermerkte Boerschmann, er reise am 16. Dezember von Hongkong nach Schanghai. Im Januar 1934 siedelte er dann in die neue Hautstadt

97 Boerschmann, in Deutsche Allgemeine Zeitung 20.1.1934 (später auch in Deutsch-Chinesische Nachrichten, 25.2.1934: S. 15).



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Nanjing über, von wo er im folgenden Jahr weitere Reisen durch das Land unternahm.98 Eigentlich hatte er vor auch von dort Artikel zu schreiben, die sein schmales Reisebudget aufbessern sollten. Aber offensichtlich fiel ihm diese Arbeit neben den Exkursionen und Treffen mit bedeutenden Persönlichkeiten zunehmend schwer.99 Entschuldigend vermerkte er in seinem Brief an Sochaczewer: „Ich musste mich erst einschreiben, das schwierigste war ja in der ersten Zeit das Verwirrende der ungezählten Eindrücke, die Klärung ist ja das Entscheidende. Und erst jetzt, wo ich einige Tage im stillen Hotel für mich allein sitzen und ganz über mich bestimmen kann, merke ich, wie sehr ich in Canton als Hausgast und noch dazu durch das anstrengende chinesische Leben in Straßen und auf dem Lärmfluss vor mir angespannt gewesen war. Vielleicht war das eine gute Schule und heilsames Nerventraining.“100

98 Brief, Boerschmann an Sochaczewer, 15.12.1933, PAB. 99 Siehe dazu Kögel, 2013. 100 Brief, Boerschmann and Sochaczewer, 15.12.1933, PAB.

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Offensichtlich waren jedoch seine weiteren Verpflichtungen in Schanghai, Nanjing und auf den folgenden Reisen in unterschiedliche Provinzen von ähnlichen Konditionen bestimmt, denn er verfasste im folgenden Jahr keine weiteren Reportagen für die deutsche Presse.

Zusammenfassung des Aufenthalts in Guangdong Boerschmanns Berichte seines fast drei-monatigen Aufenthaltes in der Provinz Guangdong sind einerseits von erzählerischem Charakter geprägt, anderseits – vor allem gegenüber den nationalsozialistischen Behörden – von einem zuweilen unangenehmen Ton, der sich den rassistischen und politischen Ansichten der neuen Machthaber in Deutschland anbiedern will. Es bleibt spürbar, dass die Politik nicht sein Feld war und er 1933 versuchte auf die geänderte politische Großwetterlage in Deutschland zu reagieren. Wie viele andere Nationalkonservative glaubte Boerschmann offensichtlich die Nationalsozialisten würden ähnliche Ziele verfolgen wie er und hoffte wohl, durch ein konformes Verhalten auf eine größere Unterstützung für seine Forschungsvorhaben. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht, obwohl Deutschland bis zum Ausbruch des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges 1937 in militärischen Fragen intensiv mit China zusammenarbeitete. Das Interesse der politischen Öffentlichkeit in Deutschland an seiner Forschung blieb gering und nach seiner Rückkehr Anfang 1935 lehrte er zwar weiter an der Technischen Hochschule Berlin (ab 1940 auch an der Humboldt-Universität), doch er konnte keine großen Publikationen mehr veröffentlichen. Spätestens mit der chinesischen Kriegserklärung gegen Hitlerdeutschland, nach dem Angriff auf Pearl Harbour (7.12.1941), erlosch jedes öffentliche Interesse an Boerschmanns Arbeit. Bei seiner Reise hatte er 1933 in Kanton zum ersten Mal in der Realität die Anstrengungen der neuen politischen Klasse studiert, eine Stadt den radikalen funktionalen Aspekten einer modernen Industriegesellschaft anzupassen. Das Gesehene hinterließ einen nachhaltigen Eindruck, den er im hier folgenden Text zu erfassen suchte und von dem er hoffte, dass die deutsche Öffentlichkeit (und Regierung) die chinesischen Bemühungen in einem neuen, positiven Lichte sehen mögen.

Postskript Boerschmann hatte zwischen Januar 1934 und Februar 1935 sein Hauptquartier in der neuen Hauptstadt Nanjing, deren Ausbau seit dem Regierungsumzug (1927) aus Peking planerisch ebenfalls vor großen Herausforderungen stand. Mit gigantischen Straßenplanungen, neuen Quartieren und einer rationalen Überformung der bestehenden Stadt sollten auch dort die noch vorhandenen religions-geographischen Bezüge zu Gunsten einer funktionalen Ordnung verändert werden. In Nanjing hatte zwischen 1929 und 1931 der promovierte Architekt und fließend chinesisch sprechende Heinrich Schubart



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Abb. 27: Der radikale Erweiterungsplan für Hangzhou in den 1930er Jahren, an dem der deutsche Architekt Heinrich Schubart einen Anteil hatte. Der untere kleine Plan zeigt das alte, ummauerte Hangzhou mit dem Westsee. (Sammlung J. Heinrich F. Schubart mit freundlicher Genehmigung durch Helga Landau).

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Abb. 28: Der neue Straßenplan für die neue Hauptstadt Nanjing Anfang der 1930er Jahre. Die alte Stadtstruktur wurde mit den neuen Straßenachsen überschrieben. An dieser Planung war der deutsche Architekt Heinrich Schubart als Berater der Regierung ebenfalls beteiligt. (Sammlung J. Heinrich F. Schubart mit freundlicher Genehmigung durch Helga Landau).



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Abb. 29: Das Luftbild des Südtores (Zhonghuamen) der Stadtmauer in Nanjing mit dichter Bebauung und dem Qinhuai-Fluss im Süden. (Unbekannter Fotograf, ca. 1934, Sammlung Boerschmann, PAB).

(1878–1955) als städtebaulicher Berater gewirkt, dessen Einfluss jedoch nicht von durchschlagendem Erfolg gekrönt war. Boerschmann kannte seine Arbeit und hatte 1934 selbst Gelegenheit in den Kreisen der chinesischen Verantwortlichen und Politiker zu verkehren. Dabei ist sicher, dass er die neuen Planungen für die Hauptstadt Nanjing und die Überplanung der wegen seiner malerischen Lage seit dem Altertum verehrten Stadt Hangzhou gesehen hat. In beiden Fällen lagen radikale Konzepte vor, an denen Schubart beteiligt war, die zeigen, dass ein neuer Begriff der Stadt in den Köpfen der Planer Eingang gefunden hatte. Die Ziele, die Sun Yat-sen in seinem Buch The International Development of China 1922 formuliert hatte, sind hier zumindest auf dem Papier bereits erreicht.101 Boerschmann hat diese Entwicklungen nicht kommentiert und konzentrierte sich während seiner Zeit in Nanjing voll auf die Erforschung der historischen Architektur. Deshalb blieb das hier publizierte Manuskript seine einzige Arbeit zu städtebaulichen Fragen in der republikanischen Periode. Dass er sich dennoch intensiv für den

101 Sun, 1922.

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Städtebau interessierte, zeigen die unveröffentlichten Pläne, die der junge chinesische Architekt Chen Kuen Lee 1944 in Bad Pyrmont für ihn bearbeitete. Lee schrieb selbst unter Boerschmanns Betreuung an einer Dissertation über chinesischen Städtebau, die jedoch nach dessen Tod 1949 nicht mehr abgeschlossen wurde.102

102 Das Beispiel eines solchen Planes von Lee findet sich als Abbildung 45 in diesem Buch.

Editorische Vorbemerkung Das folgende Manuskript befand sich im Nachlass von Ernst Boerschmann und wird hier zum ersten Mal publiziert. Dafür wurden offensichtliche Fehler in der Schreibweise korrigiert, wobei versucht wurde den originalen Charakter des Textes beizubehalten. Ein besonderes Problem stellen Boerschmanns Umschriften chinesischer Namen dar, die teils phonetischen Regeln, teils anderen (verschiedenen) Umschriftsystemen folgen. Zum Teil beziehen sich seine Namen auf die chinesische Ausgangssprache, zum Teil jedoch auch auf das Kantonesisch. Ich habe soweit möglich die heutige Pinyin-Umschrift oder für Hongkong Kantonesisch in eckigen Klammern im Fließtext eingefügt. Falls weiter Erklärungen notwendig waren, sind sie als Fußnote angemerkt. Ich danke Ernst Christian Boerschmann für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung des Manuskriptes. Ich danke Harald Richter, dem ehemaligen deutschen Konsul in Guangzhou, und Michael Kaempfe für ihre hilfreichen Hinweise, die in den Fußnoten mit HR und MK gekennzeichnet sind.

Ernst Boerschmann

Die Stadtentwicklung und Geschichte von Hongkong, Macau und Kanton Hongkong Hauptinsel und Stadt Victoria Am Sonnabend den 23. September, auf der Reise von Manila her mit Kurs Nordwest, erreichte unsere „Trier“ im ersten Morgengrauen die Südspitzte des englischen Kolonialgebietes Hongkong, der Weihrauch-Hafen-Insel.1 Bei verbleichenden Sternen und Leuchtfeuern traten aus dem Frühdunst die vorgelagerten kahlen Felseneilande hervor, unter ihnen als größte die „Schilfterrassen des Drachenbootfestes“ und die „Halle des Südlichen Buddha“. In der breiten Durchfahrt, der „Buddha und Wolken“ und der „Großen Ehrfurcht“, umschlossen uns bereits auf allen Seiten die wiederum ganz kahlen bewegten Berge und Buchten einer wildzerrissenen Küste. Schnell kam der junge Tag, nur um die Höhen lagerte noch Nebel. Wir passierten die östliche Einfahrt, das berühmte Karpfentor, so genannt nach dem Karpfen als Sinnbild für Wohlstand, weil hier der Reichtum des großen China sich öffnet für Seefahrt und Handel. In dieser Enge stoßen die Berge ganz nahe aneinander, im Süden die Hauptinsel Hongkong, im Norden das Festland mit einem der zahlreichen Ausläufe des vielgegliederten Bergzuges der Neun Drachen, Kiu Lung oder Kowloon. Diese Bergkette mit ihren Verzweigungen durchzieht die Halbinsel und hat ihr, wie auch der alten chinesischen Kreisstadt dort, den gleichen Namen Kowloon gegeben. Rechts voraus, im entfernten Winkel der Bucht, klettert die Stadtmauer den Berg hinauf,2 während wir im breiten Meeresarm, einem einzigen Riesenhafen, nach Westen fuhren, unserem nahen Ziel entgegen, vorbei an Siedlungen und Arbeitsstätten aller Art, zwischen gleitenden Dschunken, ankernden Kriegsschiffen und Dampfern, flinken Sampans und Barkassen. Zur Linken im Süden hoben sich die Berge der Insel empor zum hochragenden Peak von Hongkong, der jetzt schon klar funkelte in der ersten Sonne, zu seinen

1 Die Insel Hongkong war zwischen 1843 und 1997 britische Kronkolonie, seit 1860 mit Kowloon auf dem Festland und seit 1898 mit den New Territories bis zum Shenzhen-Fluss. 2 Die Stadtmauer gehörte zur später so genannten Walled City, die wegen ihrer spektakulären Dichte und ihrer Unregierbarkeit 1993 abgerissen wurde. Die Stadtmauer hatten die japanischen Besatzer bereits in den vierziger Jahren, während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges, niedergelegt. Siehe Lambot/Girard, 1993 oder Sinn, 1987.

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Füssen die langgestreckte Stadt Victoria. Gegenüber im Norden, auf dem Horn des Neunfachen Drachen, breitete sich der flache Hafenort Kowloon. In scharfer Wendung bogen wir rechts herum zu den neuen, mit großen Dampfern gut besetzten Piers und lagen bald, um sieben Uhr, fest an einer großen, wohlgefügten Mole. Das Land neuer Erkenntnisse war wieder erreicht, nach vierundzwanzig Jahren.3 Sofort war ich in persönlichen Anregungen und Hilfen. Im allgemeinen Durcheinander von Abschied und Begrüßung an Bord fand mich der alterprobte Boy des Deutschen Konsulats mit einem Stoß von Briefen, vornehmlich aus Hongkong und Kanton, meinen nächsten Arbeitsstätten. Hier hatte man schon bereits vorgesorgt mit Wohnung und Empfehlungen. Selbst unser Gesandter Dr. Trautmann4 hatte aus Peking freundliche Worte zum Empfang gesandt. Zur freudigsten Überraschung standen bald vor der Kabine meine Freunde aus der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin, Professor Wolfgang Panzer5, der deutsche Geograph an der Sun-Yat-sen-Universität6 in Kanton, und seine anmutige Gattin. Er war gerade von einer Forschungsreise durch Formosa [heute Taiwan]7 zurückgekehrt zum Semesteranfang und stellte sich für den gleichen Tag zur Verfügung zu ersten gemeinsamen Studien, die wir bereits am Nachmittag tatsächlich begannen an dörflichen Siedlungen bei der alten Stadt Kowloon. Alsbald erschien Konsul Gipperich8 selber, der unermüdliche und zuständigste Betreuer jener zahlreichen Deutschen, die mit besonderen Aufgaben Hongkong fast ständig durchreisen. In China geboren und aufgewachsen, dort im Dienst die größte Zeit seines Lebens, gibt er treffendste Hinweise gerade in rein chinesischen Dingen. Doppelt gerne folge ich darum seiner schon früher in Berlin ausgesprochenen, nun wiederholten Einladung, Gast in seinem Haus zu sein. Jetzt kamen an die Reihe einige Reporter für englische, besonders aber für chinesische Blätter, die vor allem meine Einstellung zur neuen Entwicklung ihres Landes, auch auf baulichem Gebiet kennenlernen wollten.

3 Ernst Boerschmann war zuvor zwischen 1902 und 1904 sowie zwischen 1906 und 1909 in China unterwegs. 4 Die Deutsche Gesandtschaft in China wurde im Juli 1935 in eine Botschaft umgewandelt. Ab 1931 leitete Oskar Paul Trautmann (1877–1951) die deutsche Gesandtschaft in Peking, ab 1936 als Botschafter in Nanjing, von wo er 1938 abberufen wurde. Siehe Leutner/Merker, 1998: S. 538. 5 Der Geograph Wolfgang Panzer (1896–1983) lehrte ab 1931 für drei Jahre an die Sun-Yat-sen-Universität. Vor Panzer wirkte der deutsche Geograf Wilhelm Credner (1892–1948) als Professor an gleicher Stelle. 6 Die Sun-Yat-sen-Universität wurde 1924 durch den Namensgeber gegründet, 1926 nach ihm benannt und befand sich im Stadtteil Shipai im Osten der Stadt. 7 Siehe dazu Panzer, in Zeitschrift für Gletscherkunde, 1935: S. 81ff. Auch Rolshoven, 1993: S. 147–156. 8 Hermann Gipperich (1882–1959) arbeitete als Konsul (ab 1936 als Generalkonsul) von Juni 1933 bis August 1939 in Hongkong. Ab 6.11.1939 hatte er die „kommissarische Leitung der Dienststelle Nanking, später Generalkonsul an der Botschaft in China (Nanking)“. Siehe Auswärtiges Amt, 2005: S. 44. Siehe auch Leutner/Merker, 1998: S. 527, (Hinweis Harald Richter, im weiteren HR).



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Abb. 30: Hongkong: 1 Aberdeen, 2 Victoria, 3 Kowloon, 4 New Territories, 5 Boerschmanns Route durch die New Territories. (© EK).

Als erste Offenbarung über die neue chinesische Lebensform erschien auf der Bildfläche die chinesische Frau. Mein Freund, der Diplom-Ingenieur Wong Man-Fat, der mit seiner deutschen Frau und zwei Jungen die ganze Reise auf der Trier mitgemacht hatte und nun nach Jahren zurückkehrte in seine Heimat auf der Insel Hongkong, wurde empfangen von Vater und drei jungen Schwestern. Diese, wie bald überall sichtbar wurde, waren bekleidet in jener feinen und flüssigen, dabei lebensvollen Eleganz der neuesten, ganz einheitlichen rein chinesischen Mode, die vollkommen im Einklang steht mit der freien und zwanglosen, dennoch geschlossenen Haltung in Gespräch und Umgang. Das war ein hoffnungsvolles Vorzeichen für die Deutung des heutigen China. Nun noch ein herzlicher Dank an den prächtigen Lloyd-Kapitän [Theodor] Thele, der uns sicher hergeführt in diesen fünf schönen Wochen seit Genua, an die anderen Schiffskameraden und Freunde, und man fand sich auf dem Kai im lauten und gefährlichen Gewühl schneller Lastenkulis, sprang über Schienen vor flitzenden Loren und Wagen, hatte noch die Ohren voll vom Rasseln der Ladebäume großer Dampfer und wurde dann, am Ende der langen Reihe niedriger Speicher plötzlich umfangen

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von vollkommener Ruhe und Ordnung der englischen Welt. Auf dem großen Platz zwischen Bahnhof der Kanton-Bahn9 und dem Fahrgebäude, von dem aus größere Dampfer den Pendelverkehr nach drüben vermitteln, zur Linken die stillen und hohen europäischen Häuser der Stadt Kowloon, spielt ein starker Betrieb sich ab ohne jeden Lärm, wie selbsttätig. Solches europäische Vorbild hat seit Jahrzehnten erfolgreich auf China gewirkt. Die Fähre setzte sich in Bewegung, die vorderen Querreihen gestatteten den Genuss des großen, einzigartigen Bildes während der kurzen Überfahrt. Drüben am Ufer wächst aus der Wasserfläche die lange Zeile hochragender Geschäftshäuser, hinter ihnen steigt die dichte Masse von Steingebäuden den unteren Hang des Berges empor, einige Straßenzüge sind gerade noch zu erkennen, weiter nach oben lösen sich einzelne Gruppen heraus und darüber in der ganzen Front streben immer höher empor bis zu den Kämmen die in geringen Abständen voneinander verteilten, gleichmäßigen Gebäude alter Privathäuser, jedes für sich weiß leuchtend aus dem Grün von Bäumen und Busch, das alle Flächen überzieht. Noch höher ragen die Hauptgipfel bis über fünfhundert Meter, als größtes der alles beherrschende Peak selber fast bis sechshundert Meter. Dort nahe der Signalstadion setzen sich die Siedlungen fort auch auf der südlichen, hier unsichtbaren Seite. Die feine Linie der Drahtseilbahn zeichnet sich deutlich ab bis nahe an den ersten Pass.10 Am Fuß der Berge laufen Ufer und untere Hänge aus nach West und nach Ost in öffentliche Anlagen und große Baugruppen für Verwaltung, Kriegshafen, Werften und die endlosen Linien dicht besiedelter chinesischer Stadtteile. Man fühlt die ungeheure Spannung von Leben und Arbeit. Um uns eilen Boote aller Art, doch auch das große, besondere Fährboot für Kraftwagen. Mit jeder Sekunde entwickeln sich neue Rundblicke auf Inseln und Festland, auf seltsame Berglinien, die sich überschneiden, schließen und öffnen im steten Wandel. Vor uns schon die nahe, mit Dampfern stark besetzten Piers, ihre Reihe setzt sich nach Westen unabsehbar fort. Sie dienen mittleren Dampfern nach den Küstenhäfen des südlichen China. Immer sind neue entstanden, sie haben sich hinausgeschoben in die Bucht, als man die Ufer aufschüttete und verbreiterte. Vielleicht war es an jener Mole dort, dass ich vor vierundzwanzig Jahren am Ende der Überlandreise von Peking bis Kanton, die ein Jahr gedauert hatte, bei dem Dampferwechsel meinen kostbaren Eisenkoffer mit dem wichtigsten Material an Bildern und Tagebüchern beinahe eingebüßt hätte. Im Gewirr der Lastenträger hatte ein Kuli ihn auf ein anderes Schiff geschleppt, auf mein Verlangen stoppte die englische Polizei jede Abfahrt, bis mein Boy mit dem wiedergefundenen und im Kampf den anderen Trägern entrissenen Koffer, zwar zerschlagen und blutüberströmt, doch strahlend ob des Erfolges, endlich an Bord unseres Dampfers ihn mir zu Füssen stellte. Ohne jenes Glück und seine spätere Auswertung wäre ich kaum

9 Die Kowloon-Canton Railway eröffnete 1910 die Verbindung der beiden Städte. 10 Mit der sogenannten Drahtseilbahn meinte er vermutlich die Peak Tram, die auf den Victoria Peak führt. Die Peak Tram ist eine schienengebundene, über Drahtseile gezogene Bahn. (Hinweis HR).



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jemals wieder nach China gekommen. Am Fährhaus sind wir mit dem Strom der Menge schnell auf dem schmalen Uferplatz, vor den Handelspalästen, sogleich in den engen Straßen zwischen hohen, modernen Häuserfronten, im stärksten Getriebe von Geschäft und Verkehr. Völker und Waren aus allen Teilen der Erde umgeben uns, der Chinese beherrscht das Straßenbild, doch englische Art leitet die sichtbare und unsichtbare Ordnung. Etwas über hundert Jahre sind es her, dass Lord Napier [William John Napier, 1786–1834] im Frühjahr 1834 seiner Regierung vorschlug, den höchst geeigneten Hafen von Hongkong dauernd in englischen Besitz zu nehmen, dass Admiral Elliot [George Elliot, 1784–1863], der vor den Chinesen aus Macau hatte weichen müssen, am 26. August 1839 Hongkong als endgültigen Ankerplatz für seine Schiffe wählte, und dass, nach dem Opiumkrieg am 26. April 1842 in Nanking, die Übereignung der Hongkong-Inseln von China an England für ewige Zeiten beschlossen wurde. Aus dem damaligen einfachen Fischerdorf entstand die glänzende Kronkolonie, 1898 noch vergrößert durch das Neue Pachtgebiet, das New Territory, nördlich der Halbinsel Kowloon. Das Gebiet, nebst einer Anzahl von Inseln der südlichen Gruppe, umfasst heute eine Gesamtfläche von tausend Quadratkilometern. Unter den bedeutenden wirtschaftlichen Hauptpunkten in China ist Hongkong der eigenartigste. Was hier seit der Zeit der Besitzergreifung durch die Engländer trotz vieler schwerer Rückschläge geleistet wurde, stets in weitherziger Arbeitsgemeinschaft mit den übrigen westlichen Nationen und vor allem mit den Chinesen selber, das bleibt für immer auf das engste verbunden auch mit jeder kommenden Entwicklung in China und im Fernen Osten. Millionen von Chinesen hatten und haben daran Anteil, Tausende fanden hier Vorbild und Belehrung, Zuflucht und neue Plattform in bewegten Zeiten. Hongkong ist, ähnlich wie Schanghai, zwar auch in zähem Ringen auf beiden Seiten mit Blut und Eisen geformt, doch vornehmlich organisch gewachsen. Eine solche Brücke zu den Kräften des Westens erscheint, bei der Verschiedenartigkeit unserer Rassen und Kulturen, für beide Teile noch auf lange Zeit notwendig. Im Deutschen Konsulat, Padder Building [sic]11 sechster Stock, stand bereits mein großes Gepäck sorgfältig aufgetürmt, ich begrüßte wieder meinen alten Freund, Kanzler Frederking, nach langen Jahren, seit wir uns in Tschengtufu [Chengdu] in der Provinz Szetschuan [Sichuan] zuerst gesehen hatten. Er war ständig im Konsulatsdienst in China geblieben, jetzt schon zehn Jahre in Hongkong. Nach einigen Gängen und Besuchen kam dann gegen Mittag, zusammen mit Konsul Gipperich, die Fahrt im Wagen zu seinem Hause hoch auf dem Peak, die berühmte Wunderfahrt im Auto den Berg hinauf. Oft noch fuhr ich den Weg hinauf und hinab, immer aufs neue hingerissen von den Eindrücken. Doch genau so ergeht es noch den ältesten Hongkongleuten,

11 Korrekt Pedder Building, es wurde 1923 von den Architekten Palmer & Turner gebaut, die damals auch in Schanghai wichtige Bauten errichten konnten. Es steht heute unter Denkmalschutz.

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auch wenn sie Jahrzehnte täglich auf und nieder fuhren. Das Erlebnis ist einzig in der Welt. In schnellster Fahrt fährt der geschickte chinesische Chauffeur mit eiserner Ruhe die schwierige Bergstraße unentwegt empor. Diese Kunststraße ist ideal ausgebaut mit Asphaltdecke, an steilen Abfällen voll gesichert. Kaum kurze Strecken sind gerade, ständig geht es bergauf an Hängen, um Vorsprünge, durch tiefe Falten der eigenwilligen Bergformen, in Windungen, Serpentinen, schärfsten Kehren, man kreuzt Überschneidungen, auch Brücken und Durchfahrten. Abzweige führen in das kunstvolle, nur schwer entwirrbare Wegenetz und verbindet alle Besitze miteinander. Wir fliegen vorbei an den einzelnen Villen mit Gärten und Spielplätzen, auch an größeren Palästen, an Toren, Treppen und Terrassen, ragenden Stützmauern, an Abflüssen und Sammelbehältern für Wasser, alles fest in Stein gebaut. Doch immer sind wir zwischen immergrünen Sträuchern, auch spärlichen, aber prächtigen Bäumen, hier und dort leuchten weiße, blaue Blumen, die Amaryllis, und in der geheimnisvollen Buschdecke, die alles überspannt, weiß man das unsichtbare Heer der giftigsten Schlangen. Der Blick schweift frei, nur für Sekunden behindert. Im schnellen vorwärts und zurück, mit jeder Wendung wechseln die Bilder der großen Landschaft, sie schwingen und drehen sich, hier voneinander gelöst, dort zusammengeschlossen zur kurzen, gewaltigen Einheit. Wir haben uns, und deutlicher treten aus diesem Grunde die Terrassen, Straßen und Gliederungen der Stadt, die Ausläufer der chinesischen Vorstädte, in der Ferne Sportfelder und Friedhöfe hervor. Breiter wird der Hafen mit den Schwärmen ankernder und ziehender Schiffe, klarer treten dort drüben heraus die Häfen und Buchten und Stadtteile in Kowloon, die Siedlungen im Lande. Ferne Bergketten schließen im Norden alles ab, zerstreuen sich aber an den Seiten zu Inselwelten der zertrümmerten Küste. Doch auch um uns wird es frei, die Täler und Berge öffnen sich, neue Gipfel erstehen, überall um uns blicken frische, auch werdende Häuser aus dem Dunkel der Flächen. In scharfer Fahrt über den Kamm. Mit Zauberschlag schwinden hinter uns die Arbeit und Leben erfüllten Täler und Wasser im Norden, vor uns glitzert das stille weite Meer im Süden, auf ihm schwimmen vorgelagerte kleine Eilande und am Horizont die große Südinsel Lamma, an der vorbei die großen Dampferstraßen führen, von Süden her zur Westeinfahrt nach Hongkong. Um uns jetzt die weiträumige und weiche südliche Landschaft. Tief unten, am Fuß der mächtigen Talbucht, inmitten neuer Seitentäler und Kuppen, die Missionsstationen im Ort Pokfulum [Pok Fu Lam] und andere, langgestreckte Siedlungen an der großen Straße, die entlang der hundertfach gewundenen Küstenlinie die ganze Insel umziehen. Ganz nahe bei uns ist der Endpunkt der Bergbahn mit den großen Gebäuden, unweit des Peak Hotel.12 Am Kegel des Peak vorbei geht ein Fußweg auf

12 Das Peak Hotel wurde 1938 durch Feuer zerstört.



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Abb. 31: Die Besiedlung am Peak auf Hongkong Island mit typischen, standardisierten Bauten der Europäer. (Postkarte).

den Berglehnen zur Westspitze der Insel, seitlich der Sommersitz des Gouverneurs. Wir umfahren die Talbucht, passieren in Richtung auf den nahen, 550 Meter hohen Mount Kellett, das neue große Hospital, ein wenig geht es herab an seinem Hange, kleine, fast verschwiegen liegende Gruppen an Besitzungen, und wir erreichen als letztes unser Haus, wo Frau Konsul Gipperich mich auf das freundlichste willkommen heißt. Hier, geborgen auf der Höhe, verlebe ich, auch bei späteren, wiederholten Besuchen, glücklichste Tage voller Gastfreundschaft, Anregung und Behagen während der Stunden, die frei waren von Fahrten und Arbeit in der Kolonie. Die hochgelegenen Wohnhäuser sind ein idealer Aufenthaltsort im heißen Sommer, wenn Stadt und Hafen durch das Bergmassiv vom Südwest-Monsun abgeschnitten, in gleichmäßig starker Hitze Tag und Nacht schmachtet. Auf der Höhe aber erfrischen Wind und Kühle, Ausblicke ohne Ende und Spaziergänge jene auserwählten Europäer, denen es möglich ist, dort oben zu wohnen. Zwar muss man auch dort Kleider und Leder in geheizten Wärmestuben vor Schimmel bewahren, man muss sich abfinden mit den Nebeln, die zu gewissen Zeiten die Gipfel und Kämme umlagern, und mit einer empfindlichen Kühle in den Wintermonaten. Doch gerne nehmen auch Besucher und Gäste, denen ein dauerndes Wohnen in der Höhe nicht vergönnt ist, nach Möglichkeit teil am Behagen ihrer begünstigten Freunde. Für Besucher sind innerhalb der vielverzweigten Peakkolonie vor den einzelnen Villen kleine Kästen

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für Besuchskarten angebracht, Schieber mit Aufschriften „in – out“ zeigen an, ob die Hausherrin zu Hause ist. Da das Signal nur selten auf „in“ steht, so heißt es, dass die Peak-Damen immer „out“ wären. Trotzdem trifft man sie auch einmal an. Das Haus des Konsuls bildet natürlich den bevorzugten Mittelpunkt für deutsche Geselligkeit. Dem allgemeinen Verkehr dient der schöne und geräumige Deutsche Klub13 in der Stadt. Etwa hundert Deutsche haben sich in den Jahrzehnten nach dem großen Kriege schnell wieder eine feste und angesehene Stellung in der englischen Umwelt geschaffen. Unter den großen deutschen Firmen, deren kenntnisreichen und erfahrenen Vertretern ich wichtige Hinweise verdanke, nenne ich nur Siemens & Schuckert, Carlowitz & Co., Deutsche Farben, Melchers & Co., Jebsen & Co., Siemssen & Co., die nebst vielen anderen Häusern auch an den übrigen großen Handelsplätzen in China vertreten sind.14 Alle nahmen starken Anteil an dem frischen Geschehen in der Heimat nach der Machtergreifung durch die Partei und hatten sich voll eingestellt auf das damals noch ganz junge dritte Reich. Im Gefühl der hohen Verantwortung wirkten sie auf ihren fernen Außenposten gerade jetzt überlegen und klug für die deutsche Geltung. Auf das deutlichste ging das hervor aus einer höchst eindrucksvollen, fast von allen Deutschen besuchten Versammlung der Ortsgruppe der Partei in Hongkong. Und das gleiche gilt auch für alle anderen deutschen Klubs und Gemeinschaften, die ich späterhin noch an den übrigen Plätzen in China erleben durfte.15 Geschichte und Gegenwart von Hongkong lehren, dass diese englische Kolonie sich unter ganz unzweifelhaft schwierigen Bedingungen zu ihrer heutigen Blüte entwickelte. Unter allen ihren anderen Stützpunkten auf dem Erdball trafen die Engländer nur hier auf ein großes, altes Kulturvolk von einzigartiger Geschlossenheit. Wenn militärische Schwäche der Chinesen und ihre Unfähigkeit, der neuen Lage gerecht zu werden, es den Engländern schließlich ermöglichte, die Kolonie zu erwerben, zu halten und auszugestalten, so war dabei, neben den Auseinandersetzungen mit den anderen, im Wettbewerb stehenden weißen Nationen, doch entscheidend die Geschicklichkeit, mit der man das weit überwiegende, in vielem ausschlaggebende chinesische Element einzuordnen verstand in die eigene, überlegene Führung. Die Schwierigkeit des Ausgleichs bestand immer, bis zu unseren Tagen eines klar erwachten, äußerst starken chinesischen Nationalgefühls, das auch die Engländer noch jüngst zu fühlen bekamen. Doch trotz mancher Rückschläge bleibt Hongkong vielleicht das treffendste Kolonialbeispiel dafür, dass man am besten Erfolge erzielt

13 Der Deutsche Klub war im New Oriental Building in der Connaught Road Central. Das Gebäude wurde 1898 erbaut und 1963 abgebrochen. 14 Für die deutschen Firmen siehe auch Bard, 1993: S. 96–105. (Hinweis HR). 15 Im Manuskript war hier mit Bleistift, offensichtlich nach 1945, ein Fragezeichen eingefügt. Die Begeisterung für die Aktivitäten der NSDAP könnte mit der Hoffnung verbunden gewesen sein, dass er mit dieser Sprache leichter einen Zuschuss für die Publikation erhalten könnte.



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durch die richtige Verbindung von großzügigem gewährenlassen und der Ausübung unbedingter, dabei möglichst unsichtbarer Herrschaft, von bestem Einvernehmen mit der fremden Bevölkerung, doch peinlichster Reinerhaltung der eigenen Rasse.16 Es wäre verlockend, die eigentlich englische, bewundernswerte Tätigkeit und Organisation in Hongkong in den Vordergrund zu stellen. Doch führte das an unseren Zielen vorbei, einige Andeutungen müssen genügen. Unsere besonderen Betrachtungen gelten dem Chinesentum in Eigenleben und Umbildung unter fremdem Einfluss und in seinem Anteil an der neuen Entwicklung. Durch das ständige Anwachsen von Handel und Bevölkerung in der Kolonie ist die englische Verwaltung vor gewaltige Aufgaben gestellt. Allerdings gestatten die großen laufenden Einkünfte eine großzügige Behandlung auch aller baulichen Fragen. Der Direktor der Öffentlichen Arbeiten für den ganzen Bereich Hongkong, The Honorable Mr. Tickle [Arthur George Warnham Tickle]17, zu dem Konsul Gipperich die Verbindung hergestellt hatte, verfügt in einem ausgedehnten Park über eine Reihe von Amtsgebäuden. An der Hand von Plänen erläuterte er ausführlich wichtige Vorhaben, die an den verschiedenen Teilen der Kolonie gleichzeitig zur Ausführung gelangten. Die Stadt Victoria mit ihren Ausläufern erstreckt sich als ein ganz schmaler, meist nur wenige hundert Meter breiter Streifen, zwischen Ufer und dem plötzlich ansteigenden Berg, in einer Gesamtlänge von nahezu sieben Kilometern, die von Tram und Omnibus durchfahren werden. Jene Einengung wird am empfindlichsten im europäischen Geschäftsviertel. Hier hat man schon die zulässige Grenze nach oben erreicht, mehr Flächenraum wurde nötig. Es war gerade in Angriff genommen die völlige Umgestaltung des größeren Stadtteiles, wo durch Abriss schon stehender großer Gebäude und durch Abtrag ganzer Hügel Platz geschaffen wurde für Neubauten, Verwaltungsgebäude, Stadthalle, ganze Blocks für Wohnhäuser und Geschäftsgebäude. Weiter östlich ist ein ganz chinesischer Stadtteil entstanden und kürzlich neu ausgebaut. Die Masse der Chinesen hatte sich in den letzten Jahren stark vermehrt, auch durch Rückwanderung aus den Straits Settlements18. Sie umfasste bei einer Gesamtbevölkerung der ganzen Kolonie in Höhe von einer Million etwa 98 Prozent. Das gleiche Verhältnis gilt auch für die Stadt Victoria. Im Rest von zwei Prozent sind alle anderen Rassen und Nationen enthalten, also die zahlreichen Japaner, Juden, Portugiesen, Filipinos, und es bleibt für die eigentlichen Engländer und die andersrassigen weißen Nationen nur ein ganz bescheidener Bruchteil übrig. Hierin sind aber kaum mitzuzählen die fluktuierenden Angehörigen der Marine, deren Standort mit den Kriegsschiffen häufig wechselt. Jener neue Stadtteil zeigt völlig chinesisches Gepräge. Doch hat man hier

16 Im Manuskript war auch hier mit Bleistift, offensichtlich nach 1945, ein Fragezeichen eingefügt. 17 Tickle übernahm im Mai 1933 diesen Posten. Siehe The Hong Kong Gazette, May 5, 1933: S. 279. 18 Die Straits Settlements (ab 1867 Kronkolonie) umfassten die an der Straße von Malakka gelegenen Gebiete der Britischen Ostindien-Kompagnie. Die wichtigsten Orte waren Malakka, Penang und Singapur, mit einem jeweils hohen chinesischen Bevölkerungsanteil. (Hinweis HR).

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Abb. 32: Eine Straßenszene in Hongkong mit typischen fünfgeschossigen Shophäusern (Postkarte).

neuartige Häuser entworfen nach modernen Erfordernissen. Englische Architekten, die Public Works, in Zusammenarbeit mit chinesischen Architekten und Fachleuten, fanden höchst zweckmäßige, klare Typen von zwei, drei und vier Geschossen für Reihenhäuser, in denen immer je eine oder zwei oder mehrere Achsen für Kaufläden, Werkstätten und Wohnungen in verschiedener Verbindungen eingerichtet sind. Eine solche Anordnung entspricht durchaus der chinesischen Gewohnheit, ermöglicht aber zugleich bessere Hygiene und Bewirtschaftung, auch leichtere staatliche Aufsicht. Dieser Typ wurde übernommen auch auf das chinesische Festland. In der Provinz Kuangtung [Guangdong] trifft man in den neuen Städten und Stadtteilen überall auf diese Reihenhäuser, fast durchweg mit offenen Pfeilergängen im Erdgeschoss, offenbar unter wesentlicher Anlehnung an Hongkong.19 Die Vermehrung der Bevölkerung von Hongkong machte die Frage der Wasserversorgung erneut brennend. Zwar war sie in den letzten Jahren gut gelöst worden durch ausgezeichnete offene Reservoire in den Bergen für Niederschlagswasser, der

19 In Hongkong nennt man das Shophouse Tong Lau, in Guangzhou Qilou, in Penang und Singapur Shophouse. (Hinweis Michael Kämpfe, im weiteren MK).



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einzig möglichen Art in Hongkong. Doch jetzt mussten ständig neue, auch kleinere und kleinste angelegt werden. Trotzdem wird in trockenen Sommern, wie es auch 1933 geschah, die Wassergabe zeitweilig stark eingeschränkt. Im Übrigen nimmt Kowloon den Überschuss der Bevölkerung in steigendem Masse auf. Vom Hauptgeschäftsviertel nach Westen zu, in deren anschließenden eng bebauten, hauptsächlich chinesischen Geschäftsviertel, fallen die neuen chinesischen Kaufpaläste auf, in deren vier bis fünf Geschossen auch Theater, Restaurants, Tanzsäle eingebaut sind. Sie zeigen jene zwanglose, gleitende Verbindung von neuem europäischen und von chinesischem Stil, die eine Eigenart des südlichen China bildet. Der äußere Aufbau ist modern geteilt, doch nicht mit phantasievollen und bunten Zutaten, die innere Einteilung meist sehr zweckmäßig, jedoch finden sich dort fast durchweg merkwürdig schwülstige Dinge in unverstandenen fremden Formen. Solchen beklemmenden Wiederspruch, der aber natürlich von Chinesen kaum empfunden wird, erlebte ich unter anderem in einem soeben eröffneten Kaufhaus, mit dem eine riesige Gaststätte verbunden war. Dort hatte der chinesische Architekt Siu20 für mich und unsere näheren chinesischen Freunde nebst ihren Frauen und Töchtern ein größeres Gastmahl veranstaltet. Es fand statt in einem jener abgegrenzten Abteile, die für geschlossene chinesische Gesellschaften unbedingt nötig sind und darum für die Planung chinesischer Speisehäuser von vorneherein vorgesehen werden müssen. In Architektur und Ausstattung herrschte ein zwangloses, doch befreiendes Gemisch von Europa und China, wobei aber chinesische Formen und chinesische große Linie das Übergewicht hatten. Baudirektor Tickle erkannte freimütig an, dass zu dem Erfolg des großzügigen und äußerst schmucken Ausbaues der Kolonie die überlieferte Werktüchtigkeit der Chinesen entscheidend beigetragen hätte. Und wirklich, vor allen anderen Kolonien der Welt, stehen nur Hongkong, am Rande des baugeübten China, äußerst durchgebildete, fleißige, überdies billige Werkleute zur Verfügung für alle Arbeiten in Ziegel, Werkstein, Holz, Dachdeckung, Putz und Farbe, an Wegen und Wasserbauten, neuerdings selbst in Beton. So konnten auch nur am Peak in Hongkong, noch dazu in kürzester Zeit, diese Wunderwerke entstehen von Straßen, Terrassen, Sicherungen aller Art, an Häusern und Steinarbeiten. Geschicklichkeit und Kunst der Chinesen, ihre Freude an den Baustoffen selbst, strahlen herüber vom großen Festlande nach hier und werden voll nutzbar gemacht durch Organisation und Kapital der Fremden. Hinzu kommen noch die ausgezeichnet arbeitenden Bauunternehmer, die sogenannten Kontraktors, die auch umfangreichste und schwierigste Aufgaben schnell und sachgemäß durchzuführen verstehen. Das wird sichtbar auch auf Fahrten durch die Insel, etwa nach dem Badestrand Repulse Bay. Überall staunt man über die saubere und technisch vollkommene Arbeit. Gerade an dieser Bucht, an deren Felsenstrand

20 Eventuell Siu Ho-Ming, der ab 1924 als Partner in der Firma Hewlitt & Siu geführt war und ab 1935 ein eigenes Büro betrieb. Siehe Hongkong Institute of Architects Journal, No. 45/2006: S. 53. Zu seiner Zulassung als Architekt siehe auch Hongkong Government Gazette, May 16, 1924: S. 196.

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die Europäer die langen Reihen ihrer eigenartigen Badehütten aus Bambus und Blattdeckung errichteten, steht auch ein technisches chinesisches Meisterwerk aus hellem Kalkstein und Granit, ein ausgedehnter Doppelpalast, den der reichste Chinese aus Singapore, Hu Wenhu21, der „Tiger“, ein berühmter Menschenfreund und Helfer der Sache Sun Yat-sen, dort auf hohem Felsen kürzlich errichten ließ als seinen Erholungssitz. Wenn diese Anlage in ihrer italienischen Romantik auch fremd erscheint in der Umgebung, befremdend gerade durch eine Reihe ganz verfehlter westlicher Einzelmotive in den Höhen und im Schmuck, ähnlich wie im Heim des gleichen Tiger Hu in Singapore, so ist das Bauwerk neben seinem einheitlichen, immerhin schlagenden architektonischen Eindruck, besonders bemerkenswert als gewollter, deutlicher, dauernder Hinweis auf den machtvollen chinesischen Einfluss im Bereich der englischen Herrschaft. Das Verhältnis zwischen Europäern und Chinesen ist durch die neuste Entwicklung auch in China selbst schon seit längerer Zeit in richtige Bahnen gelenkt worden. Die Änderung gegen früher kommt stark zum Bewusstsein im plötzlich empfundenen Gegensatz. Als ich Ende 1902 zum ersten Male in Schanghai chinesischen Boden betrat, war es, unter dem bestimmenden englischen Einfluss, noch ganz unmöglich, selbst mit vornehmen Chinesen in einem europäischen Hotel gemeinsam zu speisen. Unüberbrückbar schien damals die Kluft, die gegenseitiges Missverstehen aus einer schweren Vergangenheit, hart in Handel, Kämpfen und gegenseitigen Demütigungen, noch bis in die neuere Zeit offen gehalten hatte. Heute haben Verständnis, Achtung ja Freundschaft auf beiden Seiten, dazu die klare Erkenntnis, dass nur gegenseitige Förderung auf allen Gebieten beide Teile vorwärts zu bringen vermag, zur weitgehenden Annäherung geführt, im persönlichen Verkehr wie auch in öffentlichen Einrichtungen und Maßnahmen. Ein selbstverständlicher Abstand wird nur gewahrt infolge der Unterschiede in Sprache und Lebensgewohnheiten, und ganz wie bei uns, in Bildungsstufen und Gesellschaftskreisen. Im vornehmen Hongkong-Hotel ist aus Gründen der Zweckmäßigkeit eine chinesische Abteilung vorgesehen, doch auch dort besteht nirgend Ausschließlichkeit für eine der beiden Rassen. Seit der chinesischen Revolution haben alle weißen Nationen eifrig Kulturpropaganda getrieben in China und an den chinesischen Studenten im Auslande, das lag auch völlig in der Linie der chinesischen Wünsche selber. Das angelsächsische Element hatte, schon durch die englische Weltsprache im Osten, stets das Überge-

21 Hu Wenhu, (auch Aw Boon Haw, 1882–1954) war ein burmesisch-chinesischer Geschäftsmann, der aus einer Hakka-Familie in Yongding stammte. Er gründete 1920 zusammen mit seinem jüngeren Bruder Aw Boon Par das Pharmaunternehmen Haw Par Healthcare in Singapur, dessen erstes und bekanntestes Produkt die Salbe Tiger Balm ist. Außerdem gründete er mehrere Zeitungen in Malaysia und Hongkong. Als Philanthrop stiftete er mehrere Parks, unter anderem die heutige Haw Par Villa in Singapur, die 1937 unter dem Namen Tiger Balm Gardens erbaut wurde. Der Beiname Tiger entstammt dem letzten Zeichen im Vornamen von Aw Boon Haw (= hu = Tiger). In Singapur hatte Boerschmann das dortige Haus von Hu besichtigt. (Hinweis HR).



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wicht, zumal in Hongkong, dem bedeutendsten Exponenten für englische Einwirkung. In Hongkong hat besonders die letzte chinesische Generation seit dreißig Jahren eine Fülle von Persönlichkeiten ausgebildet als rechte Vermittler auf der Grenze zwischen unseren beiden großen Kulturen West und Ost, auf den Gebieten von Handel und Bildung, jene haben sich sogar beteiligt an rein englischen Einrichtungen, wie Schulen. Daneben sind sie, im Zuge der Entwicklung, heute starke chinesische Nationalisten und haben oft genug von hier aus in die politischen Bewegungen Chinas eingegriffen. Einer der bedeutendsten dieser chinesischen Industriellen und Finanzleute ist Sir Robert Ho Tung22, den das kluge England mit diesem Adelsrang auszeichnete. Neben dem Heros Sun Yat-sen selber, der hier studierte und von hier aus wirkte, war ein anderer Hongkong-Finanzmann größten Stiles Liang Schi-yi [Liang Shiyi, 1869– 1933]23, einst Minister, sogar Premierminister in Peking. In China nannte man ihn Tsai Schen [Cai Shen], Gott des Reichtums, weil alles, was er begann, sofort sich in Gold umsetzte. Ich hatte ihn als Finanzminister 1924 in Berlin kennengelernt auf einem Empfang bei dem damaligen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Maltzan24, der später den Flugzeugtod fand. Liang hatte mir Hilfe bei meinen Pagodenforschungen versprochen, für die er sich, echt chinesisch, fast mehr zu interessieren schien als für seine Finanzpläne, war aber kurz vor meiner Ankunft in Hongkong gestorben. Über den Verbleib seines großen Materials über Pagoden konnte mir auch sein Bruder, ebenfalls ein bekannter Geschäftsmann, keine Auskunft geben. Diese reichen und vornehmen Chinesen wohnen fast durchweg in schmucken und stattlichen, fast rein europäisch gebauten Villen an den unteren Hängen der westlichen Bergseite. An diesen Gebäuden sind chinesische Motive nur selten und unauffällig verwendet, auch im Innern ist der Zuschnitt europäisch, um so chinesischer sind die kostbaren Stücke in Einrichtung, Sammlungen und Bücherei. Im Übrigen hat der Vornehme sich in seiner Lebenshaltung dem neuen Stil weitgehend angepasst. Die vornehmste Pflegestätte für Bildung und Wissenschaft in europäischem Sinne ist die Universität, deren ausgedehnte Baulichkeiten sich malerisch erheben an den Berghängen im Westen der Insel, oberhalb der großen Straße nach Aberdeen. Sie wurde eröffnet im Jahre 192125 und zählt heute 400 fast ausschließlich chinesische Studenten in drei Abteilungen für Medizin, Technik und Fine Arts. Hauptsprache ist selbstverständlich Englisch. Außer Hauptgebäude und Wohnhäusern für Lehrer und Studenten gibt es vier weitere kleinere Bauanlagen für einzelne Gemeinschaften, die

22 Sir Robert Ho Tung Bosman, manchmal auch Robert Hotung (1862–1956), finanzierte als Unternehmer die chinesischen Revolutionäre um Sun Yat-sen. Siehe Who is Who in China, 1936: S. 86/87. 23 Liang Shiyi war Politiker unter dem Kaiser bis 1911 und unterstützte danach die monarchistischen Bestrebungen von Yuan Shikai bis zu dessen Tod 1916. Danach floh er nach Hongkong. Zwischen 1921 und 1922 war er noch einmal kurz Premierminister der Beiyang-Regierung in Peking, die bis 1928 bestand. 24 Adolf Georg Otto „Ago“ von Maltzan, Freiherr zu Wartenberg und Penzlin (1877–1927). 25 Die University of Hong Kong wurde 1911 eröffnet.

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sich zu kameradschaftlichem und geistigen Austausch zusammengefunden haben, je nach Weltanschauung und Bekenntnis. Zwei von diesen Gruppen werden geleitet durch englische Missionen, je eine protestantisch und katholisch. Meine Zeit erlaubte mir nur den Besuch der katholischen Gruppe, die etwa hundert Studenten umfasst, darunter 20 nicht-katholische. Sie werden betreut durch Irische Jesuiten in dem kürzlich errichteten Gebäude der Ricci-Hall.26 Zu jenen hatte ich Verbindung durch vier junge Patres, die mit mir zusammen auf der Trier zu ihren Wirkungsstätten nach China gereist waren, natürlich elegant in Kajütenklasse und, neben ihren religiösen Übungen, als Engländer gewandt in Sport und Umgang. Sie waren zugeteilt dieser Provinz ihres Ordens, die in Hongkong ihren Sitz hat und sich erstreckt über Südchina, auch weit hinein in die Provinz Kuangtung. Die gruppierte Anlage zeigt sehr gefälligen Stil und macht weitgehend Gebrauch von chinesischen Architekturformen, auch im Inneren, das vorzüglich eingeteilt ist in luftige Räume für ausgedehnte Bücherei, für Lesen und Unterhaltung. Die Ricci-Hall trägt ihren Namen nach dem römisch-katholischen Missionar in China, dem italienischen Jesuiten Matteo Ricci [1552–1610], der 1582 noch unter der Ming-Dynastie [1368–1644] seine Tätigkeit in Macau und schon 1583 im Gebiet von Kanton selbst aufnahm und zwar in der alten Stadt Shiuhing [Zhaoqing] und Schaoking [eigentlich Shaozhou], westlich von Kanton am Westfluss, Sikiang [Xi Jiang].27 Lehrend und wirkend zog er von dort aus durch die Provinzen Kuangtung [Guangdong] und Kiangsi [Guangxi], erreichte 1598 Nanking [Nanjing]28, 1601 Peking, und arbeitete dort, bis zu seinem Tode im Jahre 1610, hochgeehrt durch den Kaiser Shen Tsung Wan Li [1563–1620]. Er gehört zu den Stammvätern der katholischen Mission in China.29 In der Ricci-Hall hatte seinen Hauptsitz der Superior der Ordensprovinz, Father G. Byrne S.J., ein sehr verbindlicher, aufgeschlossener Mann, voller Energie für sein Werk. Dort saßen wir, mit weiteren Patres, im großen Essraum am langen Tisch bei gutem englisch-chinesischen Frühstück und selbsterzeugtem Rotwein, danach zum Tee im oberen behaglichen Raum mit Veranda und prächtigem Ausblick. Pater Vinn [Daniel D. Finn, 1886–1936], Professor für Geographie und Archäologie an der Universität, berichtete von seinen sehr beachteten, umfangreichen Grabungen und Sammlungen auf einer südlichen Insel des Hongkong Archipels.30 Von den anderen sollten zwei meiner Reisegefährten vom Dampfer sofort weiter zur Mission nach Shiuhing

26 Die zur University of Hong Kong gehörige Ricci-Hall wurde 1929 fertiggestellt. 27 Hier bleibt die genaue Stadtbezeichnung etwas unklar. Denn Ricci begab sich von Zhaoqing im Westen der Provinz, wo damals der Vizekönig von Guangdong und Guangxi residierte, nach Shaoguan (nach älterer Bezeichnung Shaozhou) im Norden der Provinz am Nordfluss (Bei Jiang). (Hinweis HR). 28 Eigentlich war Ricci 1595 in Nanjing und ließ sich dann bis 1601 in Nanchang nieder. 29 Zu Ricci siehe auch den Ausstellungskatalog des Museums für Ostasiatische Kunst zu Berlin. Siehe Mignini, Mailand, 2005. 30 Siehe auch Finn, 1933.



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[Zhaoqing], dem Ursprungsort der ersten chinesischen Mission durch Matteo Ricci, während in diesem Bereich von Hongkong der Superior selber die alte Tradition fortsetzte als Leiter der jesuitischen Mission. Die anderen beiden Patres waren auf dem Wege zum Dienst am Lehrerseminar im nahen Aberdeen.

Aberdeen Was Zuversicht, Tatkraft und Geldmittel bei Missionen zu leisten vermögen, wurde alsbald klar an diesem Regional Seminary der Irischen Jesuiten.31 In einer kleinen Viertelstunde bringt uns der Autobus auf der tadellosen Ringstraße, vorbei an Pokfulum [Pok Fu Lam] mit den ausgedehnten Anlagen der französischen Mission étrangére32, nach Aberdeen an den Südrand der Insel. Dieser alte, auch jetzt noch ganz chinesische Hafenort hieß früher Schi pai wan [Shek Pai Wan] – aus Felsen gebildete Bucht. Heute, wo die Reihen stattlicher neuer Häuser und breiter Straßen sehr modern geworden ist, wird er genannt von den Chinesen Hongkong tsai33, Ableger von Hongkong, amtlich aber Aberdeen. Mein Freund, Diplomingenieur Wong Man-Fat, der nach Rückkehr aus Deutschland mit Frau und Kindern bei seinen Eltern hier vorläufig wohnte, brachte mich nach kurzer Begrüßung im Hause zum Hafen. Er ist von ungemeinem, altchinesischem Reiz. Eingeschlossen durch die bewegte Linien der Ufer, Buchten und Berginseln, blickt man hier und da auf die hohe See. Vor uns schaukeln ganze Flotten von Reisedschunken, Fischerfahrzeugen und das übliche Heer der kleinen Hausboote und Sampans, die alle Wasser in China füllen. Es galt, über den schmalen Arm der Bucht hinüber zu setzten zur Insel. Zum ersten Mal sah ich hier als Bootsleute Frauen, ein gewöhnlicher Anblick im südlichen China. Schreiend und stoßend, mit aufgeregtem Lärm und lautem Angebot nahmen sie uns als gutzahlende Opfer in ihre Mitte, die Masse schob uns vorwärts auf dem wohlgebauten Steinkai. Doch kaum war die Wahl getroffen, so herrschte Ruhe wie durch Zauberschlag, alle anderen zogen sich höflich zurück.

31 Das Regional Seminary for South China wurde 1964 zum Holy Spirit Seminary umbenannt. Das Gebäude entwarf der belgische Pater Dom Adelbert Gresnigt 1929/1931. Er versuchte die Vorgaben seines römischen Vorgesetzten Celso Costantini (1876–1958) umzusetzen. Costantini war seit 1922 der erste apostolische Delegat in China und propagierte, dass die lokalen Stilelemente der Kultur aufgegriffen werden müssten, um so die Bevölkerung für die Ziele der Mission zu gewinnen. Siehe Costantini, in Fu Jen Magazine, July-August, 1932: S. 6–9 und Gresnigt, in Fu Jen Magazine, July-August, 1932: S. 9–13. 32 Die Société des Missions Étrangéres de Paris (Gesellschaft des Pariser Missionsseminars) betrieb in Pok Fu Lam das 1875 in neogotischem Stil errichtete Sanatorium Béthanie. Siehe auch Pichon, 2006. 33 Tsai = ist wohl das kantonesische Zeichen zai = wörtlich Sohn, und dient hier vermutlich als Verkleinerungs-Suffix. (Hinweis HR).

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Abb. 33: Das katholische Regional Seminary (1929–1931) von Dom Adelbert Gresnigt in Aberdeen zeigt die Anpassung der Kirche an den traditionellen chinesischen Baustil. (Gresnigt 1932: 10).

Auf der Kuppe der Insel beherrschte der reiche Bau des Seminars das Bild der ganzen Hafenbucht, man will sogar die Herstellung einer monumentalen Brücke durchsetzen in der Achse des Gebäudes. Dieser Aufwand erscheint als überstarker Hinweis auf die Mission, doch wohl nicht zu widerspruchsvoll, da in der Tat Hongkong große Mengen auch gebildeter Chinesen dem Christentum ergeben sind. Der Hauptbau zeigt zwei lebhafte, turmartige, langgestreckte Eckbauten mit vier Geschossen, die sich malerisch abtreppen zu dem verbindenden Mittelteil mit nur zwei Geschossen. Es war ein kühnes Unternehmen, sich stark an den chinesischen Stil anzulehnen, in Säulenstellungen und geschwungenen Dächern. Trotz einiger Widersprüche mit dem massigen europäischen Unterbau und trotz der wuchtigen, mehr nordchinesischen Wirkung des Ganzen ist der Versuch gut geglückt, vor allem auch in der einheitlich geordneten, reichen Belichtung der oberen Geschosse und in der richtigen Verwendung der Horizontalen im Dachgesimse und Brüstungen. Man erkennt die Möglichkeit, aus altchinesischer Form einen neuen chinesischen Stil organisch zu entwickeln. Zwei weitere niedrige Flügel sind vorgesehen nach der Zugangsseite vom Ort, in das offene Hufeisen soll eine Kirche hineingesetzt werden.34 Nach der Seeseite im Süden bietet sich von der einheitlichen Front aus ein weiter Blick über Terrasse, Berghang und Badestrand und die schmale Bucht auf die See und die fernen Lamma-Inseln. Augenblicklich waren 50 chinesische Seminaristen dort untergebracht, durchweg Söhne christlich-katholischer Eltern und Absolventen der chinesischen Mittelschule Tschung hsüa tang [vermutlich Zhongxue tang], die etwa

34 Diese Pläne wurden nicht ausgeführt.



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unserem Gymnasium entspricht. Sie kommen im Alter von 18 bis 19 Jahren auf das Seminar für sieben Jahre Ausbildung. Von chinesischen Fächern wird nur Literatur unterrichtet. Das Gebäude hat heute Platz für 100, nach Erweiterung für 200 Seminaristen, die jährlich 300 Hongkong Dollar zahlen sollen, jedoch auch Stipendien und sogar Freiplätze erhalten können. Diese klare, festgefügte Organisation lässt bereits auf starke Erfolge unter der Bevölkerung schließen. Pater Finn erläuterte seine zum Teil prähistorische Sammlung, die in einzelnen Schaukästen und mehreren Räumen aufgestellt, in Massen oben auf dem Boden des Gebäudes untergebracht waren. Nach den Untersuchungen hatten auf diesen abgelegenen Inseln bereits eine sehr frühe, ausgebildete Kultur bestanden mit Vorläufern chinesischer Formen. In der Familie meines Freundes Wong in Aberdeen durfte ich auch später noch einige Male zu Gaste sein. Sein Vater, ein wohlhabender Kaufmann, zählte zu den Ersten des Ortes, besaß hier, neben seinem Hauptgeschäft in Hongkong, ein sehr geschmackvolles Anwesen am Berg und hatte sein europäisch gebautes Wohnhaus innen nach altchinesischem Stile behaglich und breit ausgestattet. Er berichtete in englischer Sprache von den Schwierigkeiten, die sich für die wirtschaftliche Lage der Kolonie ergeben hätten infolge Zuwanderung und Weltkrise im Handel. Seine Familie stammte aus der Nähe von Kanton, von dort war er vor zwanzig Jahren ausgewandert nach Hongkong, das damals einen neuen Aufstieg erfuhr. Seine Frau, katholische Christin, wurde hoch geehrt als gütigste Hausfrau und Mutter von zwei Söhnen und fünf Töchtern, von denen die älteste als vielbeschäftigte Lehrerin an einer chinesischen Volksschule unterrichtete, die beiden andern sich auf Berufe vorbereiteten, der jüngste Sohn sollte in Deutschland Polizeiwissenschaft studieren. Vater Wong, noch im besten Mannesalter, starb leider bereits wenige Monate nach meinem Besuch und wurde beigesetzt auf dem berühmten Bergfriedhof von Aberdeen in seiner längst hergerichteten Grabstätte. Er hatte diesen Platz in der Höhe von seinem Hause aus schon immer vor Augen gehabt, dorthin, nach chinesischer Sitte, vor etlichen Jahren auch die Überreste seines Vaters und Großvaters aus der alten Heimat überführen lassen. Der neue rein chinesische Friedhof in Aberdeen [Chinese Permanent Cemetery], bereits sehr berühmt auch unter den Fremden, beherrscht in seiner monumentalen Weise auf dem Berge das ganze Bild von Hafen und Stadt. Er zeigt die Entwicklung des alten Gräberkultes in einer neuen, bedeutenden Form und verdient nähere Betrachtung. Er behauptet sich neben schönsten und größten Beispielen auch anderer Länder.35 Man muss ihn den Friedhof der Reichen nennen, denn nur gut Bemittelte können es sich leisten, dort ihre Familiengräber zu haben. Die Anlage besteht erst seit zwei Jahrzehnten, als das Verlangen auftrat, für die wachsende Zahl gut gestellter

35 Boerschmann interessiert sich immer außerordentlich für Friedhöfe und Gräber. Auch in Guangzhou hatte er ein besonderes Augenmerk darauf. Er war als Architekt bei Ausgang des Ersten Weltkrieges in Königsberg für die Kriegsgräber in Ostpreußen zuständig und kam erst 1921 zurück nach Berlin, wo er sich wieder dem Studium der chinesischen Architektur widmen konnte.

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Chinesen im Bereiche von Hongkong einen eigenen Friedhof zu besitzen, der bestes Feng Shui, also glücklichste Lage, und die Möglichkeit gewährt, die Macht chinesischer Geschlossenheit zu bekunden. Der alte Friedhof entsprach diesen Absichten nicht. Der Hauptteil von Aberdeen steht auf dem Boden einer Talbucht, die sich öffnet gegen die südlich vorgelagerte, kleine Insel, dort erstreckt sich am Ufer der zweite, kleinere Teil des Ortes. Die Enden beiden Ortsteile hüben und drüben, sind Ost und West besetzt je durch einen Tempel. Diese vier, in vollem Kult stehenden Heiligtümer an den vier Ecken zu beiden Seiten des Meeresarmes bilden eine treffliche religiöse Wehr zusammen mit dem mittleren fünften Tempel, dem Palast der Himmelsfürstin Tien hou kung [Tianhou oder Tin Hau Tempel]36, am Fuß der nördlichen Berge. Unmittelbar südöstlich neben diesem hatte Vater Wong sein Haus gebaut. Der alte Friedhof lag ungünstig auf der Westspitze der vorgelagerten Südinsel, mit Richtung gegen Norden. Der neue, auf der Hauptinsel selbst, westlich neben der Stadt, hebt sich auf der vorspringenden Kuppe eines starken Höhenzuges hoch empor mit Hauptrichtung gegen Süden, wo die Berge der kleinen Insel die Geistermauer bilden, die kommenden Erweiterungen auf den östlichen Hängen werden gegen Osten und Südosten gerichtet sein. Von jedem Punkt hat man überwältigende Ausblicke auf Aberdeen und auf seine Tempel in der heiligen Fünfzahl, über Hafen, Buchten und Berge auf das Südliche Meer wie auch ein buddhistischer Ausdruck lautet, und rückwärts sichern die Kämme des Hongkong-Gebirges gegen Norden. – Wahrlich, ein vollkommenes Feng Shui. Den Eingang zum Friedhof bildet an der großen Fahrstraße ein Tor aus Stein im altchinesischen Stil. Es trägt eine horizontale Inschrift: Chinesischer Friedhof der Ewigen Ferne, umrahmt von einem Paar senkrechter Doppelsprüche. Vom Tor aus führt ein breiter Weg zwischen üppigem Baumwuchs in starker Neigung und in Windungen empor zum breitangelagerten Gebäude für Empfang und Verwaltung. Es ist erbaut im alten südchinesischen Stil, mitsamt den Sitzplätzen und Pavillons fast eingehüllt in dichte Bäume, Palmen und blühenden Busch. Im Hauptraum zeigt ein großer Wandplan die Einteilung der weitverzweigten Anlage in Terrassenfelder, die benannt sind nach bestimmten zyklischen Begriffsgruppen aus Natur und Seele, Leben und Vergänglichkeit. Man gelangt zu den gewünschten Plätzen auf klaren Wegen, wandelt zwischen spärlich gestelltem, doch vollem Buschwerk über die sonnendurchglühten Steinterrassen, in die der ganze Berg aufgelöst ist. Alle sind sie bereits voll ausgebaut mit hellem Gestein, Graniten, Kalken, Marmor, in Stützmauern, Treppen, Brüstungen, Steinzäunen und der Gräber selbst. Diese können hier nicht weiträumig sein, wie es sonst üblich in unbegrenzter Landschaft, sie folgen gedrängt aufeinander, die

36 Die Himmelsgöttin Tianhou, auch Mazu, (in Hongkong Tin Hou) wird als taoistische Schutzgöttin der Fischer und Seeleute verehrt. In Hongkong gibt es sechzig Tin Hou Tempel. Siehe http://en.wikipedia. org/wiki/Tin_Hau_temples_in_Hong_Kong (1.3.2012).



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meisten sind schon voll ausgestaltet und belegt, andere, nur erst begonnen in großen Zügen, warten noch auf ihre Erfüllung. Dennoch sind auch größere Familiengräber, selbst in ausgedehnten und doch reizvollen Gruppen, hineinkomponiert in die enge Folge der Terrassen, doch alles schließt sich zur ununterbrochenen Einheit, die zwar belebt wird durch viele auffallende Architekturteile, doch immer wieder sich durchsetzt mit überlegener Ruhe. Auf diesem neuen Friedhof sind die Elemente der Gräberkunst im wesentlichen die alten, doch weiterentwickelt meist im Sinne der Vereinfachung, dann wider bereichert durch fremde Ausdrucksmittel. Diese erscheinen uns heute oft missverstanden, doch sie wurden gewählt, um durch überraschende neue Formen die alte Art zu steigern. Hierzu gehören die beliebten freistehenden Steinposten von äußerster Schlankheit, auch in Gruppen, ferner flache Pavillons, europäisch empfundene Türen, Säulen, Altartische, und vor allem die christlichen Kreuze, die ohne Widerspruch geachtet und verstanden werden, inmitten des altchinesischen Gutes. Trotz offenbarer Widersprüche im Stil der Linien und Maße ergibt sich sehr häufig eine erstaunliche Übereinstimmung im Ausdruck. Ihr eigentliches Gepräge erhält aber die große Anlage durch das alte Gut. Da sind überall die hufeisenförmigen Grabstellen, die Brüstungen, Postamente, Aufbauten mit überkommenem Reliefschmuck, die symbolischen Tiere, die Inschriftentafeln, und nie, auch nicht bei Christen, fehlen kleinste Steintäfelchen mit Aufschrift für die Gottheit Hou Tu, Fürstin des Erdbodens, den chinesischen genénsloci [genius loci] des geweihten Ortes. Zuweilen sind an den Terrassenmauern nach europäischem Vorbild Kapellen angelegt, das Bild beherrschen aber die runden, aus Stein erbauten Grabhügel. Eine solche lebendige Durchbildung, noch durchaus im Sinne der alten höchstentwickelten und tief verinnerlichten Gräberkultur, erweckt selbst inmitten der reich und eng zusammengedrängten, weißstrahlenden Steinmaßen das warme Gefühl der Gleichheit von Tod und Leben, der Vereinigung mit der Natur. Der Friedhof dort oben deckt die Kuppe, das Haupt des Drachen, und von dort zieht die geschwungene Linie seines Leibes in neuen Kuppen und Senken weiter landeinwärts über tausende Meter, und überall, auf Hängen und in Tälerfalten, sind neue massive Gräberterrassen in vollem Ausbau begriffen. Ein Vergleich ist nur möglich mit dem santo bei Genua.37 Doch in Aberdeen ist das Bild, bei aller Größe, fest in sich geschlossen und lebendig, und bleibt doch weiträumig durch den Bezug auf Ort und Hafen, auf Berge und Meer.

37 Bei seiner Ausreise nach China bestieg Boerschmann im August 1933 in Genua das Schiff. Möglicherweise hat er dort den berühmten Monumentalfriedhof Staglieno besucht, den er hier mit „santo“ bezeichnet.

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Kowloon und das New Territory Nördlich gegenüber der Hauptinsel Hongkong wurde die knappe Landzunge von Kowloon seit der Besitzergreifung durch England nur nebenbei benutzt, wirklich abgetreten erst durch den neuen Vertrag von 1861. Damals war die kleine ummauerte Hafenstadt Kowloon noch nicht einbezogen, jedoch durch einen breiten englischen Uferstreifen bereits abgetrennt von ihrer Hafenbucht. Erst nach Erpachtung des New Territory mitsamt der großen Inselgruppe um Hongkong im Jahre 1898 auf 99 Jahre wurde die Grenze auch über die alte Stadt etwa dreißig Kilometer nach Norden vorgeschoben bis zur Einschnürung der mächtigen Halbinsel. Dieser ganze Bereich hatte gehört zum Kreis Shin an [Xin’an County], die Kreisstadt heißt heute Pao an [Bao’an] und liegt östlich am Perlfluss. Mit dem neuen englischen Besitz war dem Kreis fast die Hälfte seiner Fläche herausgeschnitten worden, im äußersten Süden verblieben ihm nur einige ganz unbedeutende Inseln. Für den englischen neuen Hafenort Kowloon aber begann damals der allgemeine Aufschwung. Die Bahnlinie von Kowloon nach Kanton wurde, nach fünf Jahren Bauausführung zugleich auf englischem und chinesischem Gebiet, im Oktober 1911 in Betrieb genommen. Zur Zeit meines ersten Besuches 1902 hatte alles noch in den Anfängen gesteckt. Das alte Kowloon-Hotel, das ich auch jetzt einmal wieder bewohnte, war damals soeben erbaut und stand nahe dem Ufer, heute ist es weit ins Innere entrückt, schon in die Stadt selbst, vor ihm breitet sich das später geschlossene Gelände mit Bahnhof und Fährhaus. Hier, am neuen Ufer, steht jetzt als Wahrzeichen des Ortes das riesige, ganz neue Peninsula-Hotel38, im schweren, uns kaum erträglichen Prunkstil des England von gestern, es ist, wie alle anderen Hotels und Boardinghouses hüben und drüben am stärksten besetzt, wenn einige Male im Jahre die gesamte englische Flotte des Fernen Ostens bei Hongkong zusammengezogen wird. Dann versammeln sich hier auch die Familien der Offiziere und es herrscht regstes Leben. Die Stadt Kowloon folgt der wirtschaftlichen Entwicklung und zeigt heute im voll ausgebauten Hauptteil ein regelmäßiges Netz breiter, luftiger Straßen mit endlosen Reihen sauberer, mehrgeschossiger Häuser für Wohnungen, Geschäfte, Werkstätten sowie für alle öffentlichen Zwecke einer werdenden Großstadt. Neue Viertel sind entstanden oder im Entstehen, auch für eigene Wohnhäuser, die im Villenstil und in gefälligen Gruppen in das bewegte Gelände hineingesetzt wurden und zum größten Teil vornehmen und wohlhabenden chinesischen Familien gehören. Moderne Straßen mit Autobusverkehr, verbinden alle Teile miteinander, auch die verschiedenen Hafengebiete mit ihren Werften und industriellen Betrieben, und führen in Richtung auf die alte, etwa vier Kilometer entfernte Stadt Kowloon zu ausgedehnten rein chinesischen Siedlungen. Diese sind zum Teil errichtet als moderne, mehrgeschossige Reihenhäu-

38 1928 eröffnet.



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ser, auch wohl behelfsmäßig in einfachster Form oder endlich noch ganz im alten Stil, aber durchweg zeigen sie das bekannte Leben ungezwungener chinesischer Prägung. Um geeignete Bauflächen für neue Stadtteile zu schaffen, hat man Einebnungen größten Maßstabes vorgenommen, Hügel und ganze Berge, Ausläufer der nahen, nördlichen Gebirgskette völlig abgetragen, Senken ausgefüllt und Uferflächen in die See hinein vorgeschoben. Die Gesteinsart, der weit verbreitete mürbe Laterit der Südostküste, begünstigte solche Arbeiten, doch auch stärkere Widerstände des harten Granits wurden überwunden. Noch heute sind diese Arbeiten in vollem Gange. Die größte Aufgabe, schon seit 15 Jahren vorausgesehen, sollte alsbald in Angriff genommen werden: das Zuschütten einer großen und der folgenden kleineren Bucht im nördlichen Winkel der Westküste, nordöstlich der Insel Stonecutters Island39 im Anschluss an das dortige Militärlager am Fuß der Höhen, die dort stark ansteigen bis zu dem 430 Meter hohen Gipfel des Jn tan schan [Yan Dun Shan?]40. Es handelt sich dabei um eine Fläche von 3500 Metern neuer Küstenlinie und von 500 Metern mittlerer Breite, also um Schaffung eines gänzlich neuen Stadtteiles aus dem Wasser. Die aufgeteilten Grundstücke des kommenden Landes waren angeblich bereits sämtlich verkauft. Es gibt aber Zweifler. Die alte Stadt Kowloon liegt auf der Ostseite der Halbinsel in der Nord-West-Ecke der tief eingeschnittenen gleichnamigen Bucht, einige hundert Meter landeinwärts, am Fuße eines auffallenden, etwa 90 Meter hohen Berges. Entlang den dürftigen Stadtmauern und Toren vermag man in wenig mehr als sechs Minuten das Rechteck der Innenfläche zu umwandeln, die, fast leer und ausgestorben, doch noch viele malerische und reizvolle Reste von Tempeln, Häusern und Straßen aufweist. Als besondere Eigenart des Städtchens klettern von den zwei Ecken der nördlichen Stadtmauer zwei weitere Mauern in gezackten Treppensprüngen über die nackten Granitfelsen den Berg empor und treffen auf der Kuppe in der Spitze des Dreiecks, einem vielbesuchten Aussichtspunkt. Das Gebiet von Kowloon ist verknüpft mit dem Zusammenbruch der Song-Dynastie [960–1279]. Auf der Flucht vor den verfolgenden Mongolen war 1278 der treuste Kanzler Lu Shiu-fu [Lu Xiufu, 1236–1279] mit seinen noch geretteten kaiserlichen Knaben bis Kowloon gelangt. Von dort aus segelte er nach Kanton zu einer nur mehr ganz kurzen Regierung und zum Untergang. Ein Denkmal bei Kowloon bezeichnet noch heute die Stelle, wo er sich einschiffte. Als Ersatz für die bedeutungslose Innenstadt wurde das Wirtschaftsleben verlagert in den Raum zwischen ihr und der großen Uferstraße. Dort entstand ein neuer und dicht bebauter Ort, ringsum die alte Stadt aber gibt es noch viele zerstreute Siedlungen vor den Toren, an Wasserläufen, zwischen Feldern, um Hügel. Hier lebt die Bevölkerung in ihren überlieferten kleinen Häusern und Gehöften noch in alter

39 Stonecutters Island ist heute durch die Landgewinnung an das Festland angeschlossen. 40 Möglicherweise meint er hier den 457 Meter hohen, nördlich von Stonecutters Island gelegenen Beacon Hill.

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Weise. Nur gering ist die Zahl der Hakka-Leute, jener zugewanderter Chinesen, die in großen Teilen besonders der Provinz Kuangtung [Guangdong] als Ackerbauern siedeln und sich eigene Sitten bewahrt haben auch in Gestaltung ihrer Wohnungen. Professor Panzer hatte sich gerade mit dieser Frage eingehend beschäftigt und vermochte mir wertvolle Aufschlüsse zu geben. Die Häuser um Kowloon, meist in geschlossenen Reihen, sind sauber aus Werkstein errichtet, mit chinesischen Dächern, oft mit gutem Schmuck versehen, öffnen sich gewöhnlich mit dem mittleren Hauptraum unmittelbar auf die Straße. Man blickt hinein auf die Rückwand mit dem Hausaltar für Ahnen und Hausgötter. Er ist einfach, doch liebevoll ausgestaltet mit Opfergerät, Weihrauchbecken, Lichtern, Bildern, Figuren und Papierinschriften, die man auch neben der Zugangstür auf die Außenmauer sorgfältig geklebt hat. Ehrfürchtige Pflege religiösen Kultes wurde offenbar. Die Leute waren höflich zu uns, freundlich und ruhig miteinander. Dieser erste Eindruck alter Zufriedenheit, Selbstsicherheit und Einkehr war doch überraschend angesichts der langen Einwirkung durch das moderne Hongkong, das auch von hier aus seine Industriearbeiter bezieht. Es boten sich sogar entzückende Dorfbilder dar an Bächen und Pfaden, auf Plätzen etwa um Eukalyptus oder riesenhafte Banyanen [Banyanbäume], Einzelgehöfte in dichtem Baumwerk, Hauseingänge, Brücken. Diese Bilder steigerten sich später im Pachtgebiet, mehr noch in der Provinz Kuangtung [Guangdong] selbst unter chinesischer Hoheit, doch wurde ich schon hier ergriffen von dem Gefühl einer Gedämpftheit und Verhaltenheit, die kennzeichnend ist für die chinesischen Gebiete unter der Fremdherrschaft. Von geschlossenen Siedlungstypen, die neben den offenen auch im ganzen Süden häufig auftreten, sah ich ebenfalls dicht bei der alten Stadt das erste Beispiel. Ein rechteckig ummauertes Familiendorf mit Ecktürmen und umlaufendem Wassergraben, zugänglich nur durch ein Südtor mit Brücke in der Hauptachse, war im Innern ganz regelmäßig aufgeteilt durch ein größeres Straßenkreuz und schmale parallele Quergassen, an denen einfachste chinesische Reihenhäuser alten Stiles mit den Fronten gegen Süden standen. Eine völlig nordchinesische Plananlage. Die breite Hauptstraße führt im Endpunkt der Achse auf eine Dreiheit von Tempelgebäuden, die nebeneinander sich an die Nordmauer lehnte. Die mittlere Halle enthielt die Ahnenaltäre, in den beiden seitlichen standen Figuren und Tafeln von Volksgöttern. Der Dorfälteste der Familie wohnte in irgend einem der unter sich gleichen, bescheidenen Häuser. Die meisten Bewohner schienen recht arm, wohl einfachste Arbeiter oder gar arbeitslos zu sein, Reinlichkeit und Zustand der Wohnungen war dürftig, das Ganze offenbar eine der Stellen des Niederganges inmitten der glanzvollen Kolonie.



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Fahrt durch das Pachtgebiet Ein ganzer Tag war gewidmet der Fahrt im Auto durch das Pachtgebiet. Kanzler Frederking und Frau, seit Jahren unermüdliche und begeisterte Wanderer durch die herrlichen Gebirge und Täler, waren meine Führer, uns begleitete der vielwissende chinesische Sekretär des deutschen Konsulates, Hung Ying-hai, ein Hakka-Mann. Als Nachkomme des Rebellen-Kaisers Hung [Hong Xiuquan, 1814–1864]41 aus dem Aufstand der Taiping, trug er zu seinem Familiennamen Unermesslich noch den Beinamen Weltmeer. Eine solche Fahrt, wenn auch einmalig und schnell, erschloss den wechselvollen Zauber des großen Gebietes. Mit seinen mannigfaltigen Häfen und weiten Ebenen ist es gerade für den sportfreudigen Engländer der willkommenste Auslauf zu seinen zahlreichen Landhäusern und schönsten Plätzen für Pferderennen, Polo, Golf, Cricket und Seebädern, wie für militärische Übungen. Immer wieder passiert man modern ausgebaute, schmucke Dörfer und Marktplätze an den Haltestellen der Bahn, zweckmäßige kleine Häfen, Baumschulen und andere modern betriebene Kulturen für Feldfrüchte, Bambus und Obst, zugleich Versuchsfeldern für neue, meist deutsche Düngemittel. Und doch bleiben das nur Einzelheiten im herrschenden chinesischen Bilde, das den Ausschlag gibt für die große Landschaft. Aus dem Nordende der großen Kowloon-Stadt führt die Autostraße, die das ganze Pachtgebiet umzieht, am nahen Westufer vorbei schnell auf den Rand der nördlichen Bergkette, die das Hinterland abtrennt und von der Bahn in einem 2500 Meter langen Tunnel durchbrochen wird. Wir umfahren diese Kette, ihre beiden Berghorste, genannt nach Krähe und Adler, genießen noch von der Höhe den prächtigen Blick rückwärts auf die Welt von Buchten und Inselbergen, auf Hongkong selbst und sind dann plötzlich allen Fernen entrückt an dem großen Wasserreservoir, einem vielverzweigten, von allen Seiten durch Hügel und Berge umschlossenen Stausee, eingebettet in Bergzungen mit dichtestem Baumwuchs, an den Mündungen wohl bewehrt mit kunstvollen Steinbauten.42 Eine kurze Strecke weiter, vom Pass in 170 Meter Höhe, geht der Blick über das weite Tal von Scha tien [Sha Tin], einer Haltestelle der Eisenbahn, es mündet im Nordosten aus in den Meeresarm. Die Berge um das weite Tal sind großartig gegliedert. Vor uns, auf der anderen Seite, tritt die Bahnlinie aus dem großen Tunnel am Fuß der Bergkette des Einhorn. Diesen Bergzug krönt auf dem höchsten Gipfel von 540 Meter ein auffallendes Naturspiel, ein mächtiger, ruhender Felslöwe [Lion Rock Hill, 495 m] in freiem Umriss beherrscht als Wächter das ganze

41 Er wollte das „Himmlische Reich des höchsten Friedens“ (Taiping Tianguo, 1851–1864) begründen. Die als Taiping-Aufstand in die Geschichte eingegangene Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich war im 19. Jahrhundert der opferreichste Krieg in dem viele Millionen Menschen starben. Hong gehörte der Volksgruppe der Hakka an, deshalb emigrierten nach seinem Tod viele im späten 19. Jahrhundert in andere asiatische Länder und in die USA. Der Volksstamm der Hakka soll während der Song-Dynastie (960–1279) aus dem Norden in Guangdong eingewandert sein. 42 Vermutlich meint er hier den direkt an der Straße liegenden Kowloon Stausee von 1910.

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Abb. 34: Ab 1930 erbaute der dänische Architekt Johannes Prip-Møller das christliche Zentrum Tao Fong Shan in Hongkong. (© EK, 2010).

Tal. Eine weitere Kuppe im Osten in 440 Meter Höhe, stellt das Haupt des Einhorn dar, und eine dritte, gerade vor uns, zeigt auf der 280 Meter hohen freien Spitze ebenfalls ein Felsenspiel, die Gestalt der Kuanyin [Guanyin], der Göttin der Barmherzigkeit, mit ihrem Kinde. Diese Gruppe wird von den Chinesen auch gedeutet als die Frau, die mit ihrem Kinde geduldig und unbewegt auf die Rückkehr des Mannes wartet. Zugleich aber meint man damit die Rückkehr des nationalen China, damit das Gebiet erlöst werde aus der Gefangenschaft in fremder Hand. Jene seltsamen Punkte sind untereinander etwa einen bis eineinhalb Kilometer entfernt, jener, der unten im Zuge sitzt, sieht sie während der ganzen Talfahrt oben wandeln. Die breite flache Talsohle von Scha tien [Sha Tin] liefert auf den Feldterrassen eine berühmte Sorte von Reis, die seit langem bevorzugt an die Kaiserhöfe nach Norden geliefert wurde. Dort, wo die Felder an die Berge stoßen, haben die Chinesen und Hakka-Bauern ihre geschlossenen Siedlungen erbaut, Reihenhäuser oder zusammengedrängte kleine Gehöfte, auch ganze Dörfer, meist vor dem dunklen, gerundeten Hintergrund dichter Haine. Auch hier gibt es ein Beispiel jener rechteckig ummauerten, mit Ecktürmen bewehrter Dörfer, die zahlreich im Pachtgebiet auftreten und einen besonderen Typ bilden in Kuangtung [Guangdong] und anderen Südprovinzen.



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Kurz vor der Haltestelle hat der norwegische Pastor Karl Ludwig Reichelt43 seine Missionsstation malerisch am Berghange errichtet.44 Bekannt durch seine stark verinnerlichte Arbeiten über den Buddhismus, erstrebt er eine praktische Vereinigung zwischen Christentum und Buddhismus, selbst Taoismus, und bringt dieses auch in der Art seiner Bauten wie in der inneren Einrichtung und den Kultsymbolen zum Ausdruck.45 Schon die Aufschrift seines Institutes lässt es erkennen: Christlich-buddhistisches Kloster auf dem Berge taoistischen Einflusses, Tao feng schan Ki tu kiao Tsun lin [Tao Fong Shan]. Gerne hätte ich mit dem interessanten Mann über seine Ziele gesprochen. Doch erlaubte die kurze Zeit der Fahrt keine Unterbrechung, und später fand sich, wie leider noch häufig auf meiner weiten Reise, keine zweite Gelegenheit zu einem Besuch. Die Fahrstraße folgt im Tal ungefähr der Bahnlinie nahe dem Ufer, stets bleibt der Weitblick auf den Meeresarm der Gezeiten, Tide Cove von Scha tien [Sha Tin], auf die umschlungene Innenbucht To lu wan [Tolo Harbour, Tai Po Hoi]. Ihr Name gibt das wahre Bild, sie ist wirklich ein Netz aller Zuflüsse aus der verwirrten Felsenküste und gleicht einem verzauberten Bergsee. Nur flüchtig erhascht man durch ihre schmale Ausmündung einen Blick auf die große Meeresbucht des Riesenvogels Peng peng wan46, gleichnamig mit dem Großen Gebirgsstock des Riesenvogels Ta peng schan [Dapeng Shan], der mit seinen Verzweigungen alle diese zerrissenen Landstücke erfüllt. Es ist klar, dass dieser treffende, schon alte Name nur geprägt werden konnte auf Grund genauer Landkarten, die also schon sehr früh vorhanden gewesen sein müssen. Jenseits im Osten ragt der Kegel des Pferdesattel-Berges, Ma an schan [Ma On Shan], 750 Meter hoch empor, man unterscheidet am Fuß den kleinen Hafen mit Gebäuden, am Aufstieg den Bergweg. Dort gibt es eine sehr reiche Eisenerzmine, die von den Engländern einer chinesischen Gesellschaft übergeben wurde mit der Verpflichtung zur dauernden Ausbeutung. Der Boykott gegen Japan hat den Absatz ganz eingeschränkt, jetzt wird der Betrieb notdürftig gerade noch aufrecht erhalten, um die Konzession nicht einzubüßen.47

43 Karl Ludvig Reichelt (1877–1952) arbeitete für die Norwegische Missionsgesellschaft in China. Er war mit dem dänischen Architekt Johannes Prip-Møller (1889–1943) befreundet, der ihm 1930 auf dem Berg das Tao Fong Shan Christian Centre entwarf. Die Gebäude stehen heute unter Denkmalschutz. Boerschmann lernte Prip-Møller erst 1938 kennen, als sich die beiden in Berlin und Kopenhagen besuchten um über ihre Forschungsthemen zur chinesischen Architekturgeschichte zu reden. Prip-Møller hatte 1937 das monumentale Werk Chinese Buddhist Monasteries publiziert. Zu seinem Werk siehe auch Faber, 1994. 44 Tao Fong Shan liegt nördlich des Shing Mun River in Sha Tin in den New Territories. Boerschmann wusste zum Zeitpunkt seines Besuches und bei Abfassung des Manuskriptes offensichtlich nicht wer der Architekten war. 45 Reichelt, 1926 und Holth, 1952. 46 Mit Peng oder Dapeng wird ein sagenhafter Riesenvogel in der chinesischen Mythologie bezeichnet. 47 Der Boykott bezieht sich vermutlich auf die aggressive Politik, die Japan in der Mandschurei betrieb.

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Bald sind wir am nächsten Haltepunkt der Bahn, im Großen Fischerdorf und Fischmarkt, Tai yo hsü [Tai Po], auffallend durch seine höchst schmucken, wenn auch einfachen Häuser in neuchinesischen Formen und durch den anmutigen Hafen, den man mit massiven Molen vorzüglich ausgebaut hat. Vor der ankernden Dschunkenkette, am breiten, flachen Ufer hängen an Gerüsten unabsehbare Reihen von Salzwasserfischen, Lai mang, zum Dörren in der Sonne. Diese getrockneten Makassa-Fische [Kaninchenfisch], vorzüglich geeignet zu Bereitung von Curry und Reis, werden von den südlichen Küsten in Mengen weithin verschickt über China und ins Ausland. In der Umgebung laufen aus den nahen Bergen eine Anzahl breiter Täler zusammen, dicht bepflanzt mit Reis, der jetzt vor der zweiten Ernte stand, und an den Rändern besetzt mit Reihen von Dörfern. Solche fruchtbare und besiedelte Täler werden zahlreicher, bedeutender und malerischer, je weiter der Weg ins Innere des Gebietes führt. Ganz nahe bei Tai yu hsü [Tai Po] ist das gleichnamige Große Bauerndorf Tai yu tou [Tai Wo] angelegt am westlichen Ende einer größeren Talebene. Die geschlossene Front der offenen, nicht ummauerten Siedlungen, etwa 250 Meter lang, mit niedrigen massiven Häusern in mehreren Reihen hintereinander, hebt sich vor dem Hintergrund der dicht bewachsenen Hügelkette mit größter Wirkung ab. Die Türen der Einzelwohnungen führen unmittelbar ins Freie. Zwei Hauptmotive treten hervor, Familientempel und Türme, zugleich vorbereitete Kennzeichen für den Süden der Provinz Kuangtung [Guangdong], der Ahnentempel der Familie wächst über die Zeile der Häuser hinaus durch die höheren Dächer der hintereinander stehenden größeren Hallen. Schon die Eingangshalle zeigt in der Front die bekannte, reiche Architektur im Kanton-Stil, Pfeiler und freie, geschwungene Balken aus hellem Werkstein. Weithin aber leuchtet der quadratische massive Turm in weißem Verputz, zugleich Schatzkammer und Wehrbau. (Siehe Abb. 8). Solche Türme gehören zu den meisten größeren Dörfern und treten in großer Zahl auf, bis zu zehn in einem Dorf. Dann handelt es sich vermutlich um mehrere verschiedene Familien, die sich das Dorf teilen, während sonst mit Vorliebe einheitliche Familiendörfer aufrechterhalten wurden. In diesem Tal stand am Fuße des nördlichen Höhenzuges eine kleine, höchst reizvolle Hakka-Siedlung, oberhalb von ihr erhoben sich an den Hängen übereinander zwei große, reich ausgebaute Grabanlagen. Unermüdlich erfreut man sich an diesen eigenartigen schönen Bildern in der anmutigen und zugleich großen Landschaft, während der nächsten Stunden der Fahrt. Die prächtige Straße läuft nunmehr durchweg in Ebenen von Kilometern Ausdehnung. Dann wieder verengten sie sich, gehen in einander über und bilden zusammenhängende Flächen um die einzelnen größeren Gruppen von Hügeln und Bergen. Ständig, wenn auch in milden Änderungen, wechseln ihre Formen, die Massen und Höhen, steigern sich aber zuweilen zu besonders auffallenden Richtpunkten, Gipfeln von 500 Meter, ja am Grenzgebiet nach Nordosten bis zu 1000 Meter, die wir umfahren oder begleiten. Alle Hänge und Flächen der Berge sind durchweg dicht bewachsen, meist mit Gestrüpp und gelegentlichem, dann weit verstreutem Baumwerk, so blieben selbst die kleineren Berglinien im Umriss deutlich sichtbar, nicht scharf,



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wie im chinesischen Norden, doch in sanfter Zeichnung. Zuweilen sind die Ebenen durchsetzt von geringen Bodenwellen, doch auch diese fast gänzlich überzogen von wild verschlungenem niedrigen, oft stacheligem Gesträuch, das ein Durchgehen fast verwehrt. Nur kleine Flächen hat man hier mit Feldfrüchten bebaut. Alle Arbeit gilt vornehmlich dem Reisbau in der bequemen Niederung und der Grabensysteme, die sorgfältig unterhalten werden und sich oft zu stehenden Teichen verbreitern. Waldstücke und größere Haine erscheinen nur in Verbindung mit zahlreichen Siedlungen, die man angelegt hat in den Anschnitten der Ebenen an Hügel und den Fuß der Berge, alle in der gleichen freundlichen Art vor dem dunklen Hintergrund von Bambus und riesigen Bäumen (Liki?) [vermutlich Litschi], vor allem auch Banyanen (Kampfer)48. Zuweilen stehen rund um eine bewaldete Kuppe zwei, gar drei verschiedene, langgestreckte, schönste Haufendörfer, durch Zwischenräume von einander getrennt, sogar hintereinander, wenn die Bodengestaltung es erfordert. Gerade diese Dörfer, wohl meist von Hakka bewohnt, hatten sehr selten Türme, dafür waren die Familientempel häufig zu erkennen. Auch Gruppen neuer, wenig ansprechender chinesischer Siedlungen in modernem Stil hatten dennoch ihre großangelegten Familientempel in überlieferten Formen. Dazwischen erschienen immer wieder offene Dörfer mit Türmen und völlig ummauerte, festungsartige Kastelldörfer mit Toren und Ecktürmen. Doch diese waren gewöhnlich in starkem Verfall, sie konnten der englischen Regierung nicht genehm sein, ihr Wiederaufbau wurde darum nicht gefördert. Die gleichen Bilder der Siedlungen setzten sich organisch fort an der Bahnlinie nördlich der Grenze des Pachtgebietes, jenseits der Grenzstation Schen Tschuan shu und des gleichnamigen Grenzflusses [Sham Chun River oder Shenzhen-Fluss], in dem fruchtbaren chinesischen Bergland, das ich zweimal im Zuge durchfuhr.49 Auch dort gewahrte man in den Tälern stets die drei verschiedenen Typen, Haufendörfer am Fuß der Berge, offene Dörfer mit Türmen und ummauerte Siedlungen im Festungsstil. Überall arbeiten die Hakka-Frauen mit ihren Männern auf den Feldern, oder sie wanderten auf den Wegen und trugen Lasten in langen Reihen mit ihren malerischen, bunten Trachten und Kopfbedeckungen, flachen, breiten Tellerscheiben, in deren Mitte kleine Kuppen sich wölbten für die Kopfform, das ganze Gebilde umrandet von einem breiten Behang aus dünnem Stoff, dessen lustiges Flattern Kühlung bringt und die Mücken verscheucht. So erreichten wir den größeren Ort Fenling [Fanling], von wo eine kurze Nebenstrecke der Bahn zugleich mit unserer Straße nach der Grenze läuft im äußersten Nordosten des Pachtgebietes. Dort zeigt das lebhafte, große Grenzdorf Scha tou kueh (kok) [Sha Tau Kok] zahlreiche Türme, es befand sich im starken, modernen Ausbau. In der Nähe hielten wir ein reichhaltiges Picknick an einem Waldstück, am Wasser-

48 Der Banyanbaum gehört zur Gattung der Feigen. Der Kampferbaum gehört zur Familie der Lorbeergewächse. 49 Die Grenzstation der Kowloon-Canton Railway war immer Lo Wu.

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graben, im blühenden Gesträuch neben Reisfeldern. Unmittelbar neben uns eine Begräbnisstätte in der verwitterten Steilwand des ansteigenden Felsens. Aus dem Gerank und blauen Blühen der bewachsenen Terrassen lugen Reihen von Graburnen aus Ton. Sie standen frei, etliche ohne Deckel, oder ganz zerbrochen, zeigen ihren Inhalt, Knochenreste, Schädel, die von früheren, aufgegebenen Erdgräbern gesammelt und hier endgültig beigesetzt waren. Im nahen kleinen Dorf des Bergvorsprungs, Schan tsui tsun [Shan Tsui Tsuen], gab es einen reizvollen Familientempel, daneben eine taoistische Kapelle der versammelten Genien Shieh tien kung50. Aus dem zugehörigen berühmten Brunnen holten am Nachmittag, mehr noch Abends, Scharen von Hakka-Frauen klares, bestes Wasser. Zurück ging es wieder über Fenling [Fanling], dann den ganz modern hergerichteten Straßen zwischen Reihen glanzvoller Eukalyptus- und Mimosenbäumen, zur Küste. Hier unaufhörlicher Wechsel herrlichster Bilder von Wasser und Meer, Klippen und Felsen, Windungen, Buchten, Inseln, Bergen. Jenseits der westlichen tiefen Bucht die große südwestliche Landnase des Pachtgebietes mit der Pyramide des Castle Peak, über 500 Meter hoch. Im unteren Drittel inmitten dichtem Wald ein vielbesuchter Tempel. Aller Zauber einer idealen Riviera umgab uns, Wald und Badeplätze und Hütten, an der Straße gewaltige Stützmauern aus Werkstein, gewerbliche Betriebe, Reihen von Villen für Europäer und Chinesen. Eine Gruppe von drei schönen Gebäuden, breit hingelagert in Garten und Wald, vornehmlich im chinesischen Stil, gibt Gelegenheit zur Rast. Sie gehören dem Marschall von Kuangtung [Guangdong], Tschen Tschi-täng [Chen Jitang, 1890–1954]51, sie dienen zur Wohnung für die Familie, das dritte als Erholungs- und Gaststätte, auch für Europäer, selbst zum kürzeren Wohnen. Endlich mündet die Ringstraße, auf der wir das ganze englische Gebiet in zehn Stunden umfahren haben, von Nordwesten her wieder in Kowloon mit Hafen, neuer Stadt und Fährhaus. Im ersten Dunkel geht es zurück über das Wasser nach Hongkong. Gerade steckte es seine Abendlichter an für die Nacht, bald entflammt vom Ufer bis zur Spitze des Peak.

Macau Zweimal besuchte ich Macau [auch Macao oder Àomén], die portugiesische Kolonie zwischen den Mündungen von Kantonfluss [auch Perlfluss, Zhu Jiang] und Westfluss [Xi Jiang]. Die vereinigten Linien der Hongkong, Canton und Macau Steamboat Co. und der China Navigation Co. unterhielten einen lebhaften Dienst zwischen jenen drei Häfen, mehrere Male täglich, auch nachts. Eine Fahrt von Hongkong nach

50 Es handelt sich dabei wohl um den 1895 gebauten Hip Tin Temple, der auf kantonesisch Shan Tsui Tsuen genannt wird. In Mandarin heißt er Xie Tian Gong, was vermutlich Boerschmanns Bezeichnung „shieh tien kung“ entspricht. Der Tempel steht heute unter Denkmalschutz. 51 Zu Chen siehe: Who is Who in China, 1936: S. 24.



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Abb. 35: Die Perlflussdelta-Region mit den Städten Hongkong, Macau und Kanton, und den Wegen, die Boerschmann in dieser Region Ende 1933 zurücklegte. (© EK).

Macau kostet nur drei Dollar und dauert drei bis vier Stunden, je nach Strömung und Wetter. Die stattlichen Dampfer sind meist gut, in den niederen Klassen stets vorzüglich besetzt, im allgemeinen sehr behaglich und modern eingerichtet in Verpflegung, Kabinen, Speiseräumen und auf freien Decks mit Liegestühlen, von denen aus man die prächtigen Blicke vollauf genießen kann. Auf wiederholten Fahrten zu verschiedenen Zeiten und Beleuchtungen, bei Tag und Nacht durch die Inselwelten um Hongkong und Macau, in der einzigartigen Mündung des Kantonflusses wächst das Verstehen für Natur und Geschichte dieses merkwürdigen Gebietes. Den ersten Besuch machte ich am 26. und 27. September gemeinsam mit Professor Dr. J. B. Aufhauser aus München, der für einige Monate die Lage der Katholischen Missionen im Fernen Osten studierte, besonders in Japan und Südostasien.52 Er befasste sich auch eingehend mit der Frage, in welchem Grade Missionsbauten den europäischen Stil behalten oder sich an den Baustil des betreffenden Landes anlehnen sollten.53 So war seine Gesellschaft besonders angenehm und lehrreich. Am 11. Dezember sah ich Macau wieder auf der Fahrt nach Tong kia wen [Tangjiawan], einem Ort auf dem benachbarten Festlande von Kuangtung [Guangdong]. An der Westküste von Hongkong fährt das Boot zwischen dem hochragenden Bergkegel des Mount Davis und dem vorgelagerten kleinen Green Island durch den Sulphur Kanal mit Kurs Südwest. Wir kreuzen die breite Einfahrt des Westlichen

52 Johannes Babtist Aufhauser (1881–1963) war katholischer Theologe und außerordentlicher Professor für Missionswissenschaften in München. Er hat zu den genannten Themen in den zwanziger Jahren publiziert, z. B. Aufhauser, 1927, oder, 1933. 53 1932 hatte Aufhauser das genannte Werk publiziert, in dem er auf die unterschiedliche Anpassung der christlichen Mission an die jeweiligen Länder eingeht. Er verwies dabei im Kapitel „Anpassung der religiösen Kunst, Architektur und Skulptur“ (S. 86–111) auch auf Boerschmanns Werk (S. 89). Aufhauser, 1932.

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Abb. 36: Der Plan der portugiesischen Kolonie Macau. 1 Kun Iam Tempel, 2 Guia Hügel, 3 Ruine von St. Paul, 4 A-Ma Tempel, 5 Ilha Verde, 6 Monte Fortress, 7 Praja Grande, 8 Hip Tin Tempel, 9 Lin Fung Tempel. (© EK).

Lamma Kanals und erreichen die Südostspitze der großen Insel Lantau, ebenfalls noch englisches Hoheitsgebiet und grösser als die Hongkong Insel selber. Dort geht es durch die enge Passage vorbei am lebhaften Ort und Hafen der Tschantschou Insel [Cheung Chau], weiter nach West entlang der vielgegliederten Südküste von Lantau zur Rechten und immer neuen Inseln zur Linken. Hinter der letzten größeren Gruppe der Steinlämmer, Schih kao tao [vermutlich Nintou Island], öffnet sich die gewaltige Mündung des Delta von Kanton, jedoch auch hier, in der freien See gegen Süden belebt durch eine unabsehbare Fülle kleiner und kleinster Inseln. In dieser breiten Straße bildet der Große West Kanal die eigentliche Scheidelinie zwischen den Archipelen des östlichen Hongkong und des westlichen Macau, das nun bereits vor uns liegt. Wir lassen zwei südlich vorgelagerte, schon portugiesische Inseln links liegen54 und halten mit Kurs Nordwest gerade auf die höhere Bergkette in der Mitte der Hauptinsel, sind jetzt schon zwischen niedrigen Führungsmolen, die weit vorgeschoben sind mitten in die See. Zu unserem Erstaunen geht es jetzt scharf links ab nach Südwest, vorüber an der malerischen, dicht bebauten Stadt, wir umfahren den Berg von Barre auf der Südspitze und wenden nun nach Norden in den Inneren Hafen, eine langgestreckte Bucht zwischen Macau und dem Festlande, erfüllt mit Dampfern und einem Heer von Dschunken. Bald liegen wir im Lärm und Wirrwarr der Ankunft an einem der zahlreichen Piers vor der langen Häuserzeile an der Westseite der Stadt.

54 Die beiden Inseln Coloane und Taipa waren damals noch nicht ausgebaut. Heute sind die beiden Inseln durch Landgewinnung verbunden und mit der Hauptinsel über Brücken angebunden.



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Es war bereits Nacht, als wir landeten. Nur über 500 Meter führte die Rikscha auf der mäßig breiten Straße vom westlichen betriebsamen Hafen durch die eng bebaute Stadt zum Hotel an der östlichen, mild gebogenen Bucht, im jetzt ganz stillen und dunklen Bahia da Praja Grande. Der Mond beleuchtete das flach abgeschliffene Felsgestein am Rande des Wassers, die einsame Uferstraße und die Praja Grande, ihre Paläste, deren späte klassische Formen gerade noch einen feinen Abglanz der alten portugiesischen Heimat erkennen ließen. Dort, an den Enden der Bucht, ragten letzte Umrisse der Berge und hoher Kapellen, und der Lichtkegel des alten Leuchtturms schoss über das Meer bis zum fernen Peak von Hongkong. In solchem undeutlichem Schimmer, im rechten Zwielicht auch unserer Erkenntnis, erlebten wir alsbald das berühmte nächtliche Macau der Gambler. Es war zwar nur die eine, die dunkle Seite des Märchens, das Macau heißt, dennoch bot sie sich uns im hellsten Lichterglanz und ausgelassener Lebensfreude. Je später es wurde, umso bunter erschienen die Fronten der Gebäude, umso stärker erstrahlte ihr elektrischer Feuerzauber. Hauptstraßen und Gassen, kleinste Plätze wetteiferten im Schmuck und Glanz ihrer Säulen und Gesimse, Türen, Fenster und Wände, der goldenen Inschriften und brennend vielfarbigen Blumen. Dazwischen schob sich die begierige Menge, gemischt aus allen Völkern, von Haus zu Haus, um irgendwo noch etwas zu erhaschen von neuem Glück und Genuss. Natürlich ganz überwiegend Chinesen. Täglich bringen die Dampfer und Boote aus den nahen Häfen, oder jetzt auch die Autos über den langgestreckten schmalen Fahrdamm, durch den Macau mit dem Festlande in Verbindung steht, von dorther und von den Inseln Scharen von Besuchern herbei, vor allem die chinesische Lebewelt, junge Herren und ihre Frauen oder Freundinnen. In erster Linie gilt es, in den Spielhäusern das Glück zu versuchen, sie sind einzig in der Welt, kein Bericht über Macau darf sie übergehen. Die größten Spielhäuser sind ansehnliche Gebäude, bis zu sechs Geschossen hoch, mit Aufzügen und allen modernen Einrichtungen, verbunden mit Gaststätten, Teezimmern, Tanzsälen und abgeteilten Rauchstuben, auch für Opium. Freude und Leichtsinn, Ausschweifung und Laster begleiten ungehemmten Genuss. Polizeiliche Einschränkung war kaum zu merken, dennoch fehlte sie nicht. Den Dienst auf der Straße versehen vielfarbige Polizisten, bärtige, würdige Inder, glatte Annamiten, kräftige Neger, aufmerksame Chinesen, vereinzelt selbst Weiße, nicht nur Portugiesen, sie greifen aber selten ein. Meist glättet sich alles wieder von selbst. Johlen und Tätlichkeiten auf der Straße scheiden ohnedies fast aus, wo der Chinese die Art angibt. Viele dringliche, doch wieder höfliche Zubringer suchen die Unentschlossenen zu den Spielstätten zu bringen. Aus den kleineren Häusern tönt Lärm genug von den freien dicht umlagerten Spieltischen durch die offenen Türen und Fenster hinaus in die heiße Nacht, bei den großen Häusern dringt nur gedämpftes Geräusch aus dem Inneren. Das Spiel leitet vom Ende des großen Tisches der Croupier mit seinen Gehilfen. Er teilt von einem großen Haufen kleiner runder Scheiben eine beliebige kleinere Menge ab, etwa 60 bis 100 Marken, und von diesen durch einen Handschieber hintereinan-

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der je vier Stück. Der übrig bleibende Rest gibt die jedesmalige Gewinnzahl eins, zwei, drei oder vier. Inzwischen haben die Spieler um den Tisch in ein Zahlennetz auf dem Tisch diese vier Zahlen nach Wahl gesetzt und können in immer wachsender Spannung den Treffer erwarten. Doch auch das Obergeschoss nimmt unmittelbar teil. Dort sitzen um einen Ausschnitt in der Decke, genauso groß wie der Tisch selbst, an der Brüstung die Spieler und blicken herab. Eifrige Agenten des Hauses überreden die Zögernden zu bestimmten Zahlen, die sicher Glück bringen sollen durch das berühmte System. Schließlich werden Einsätze in blanken Dollars mit Zahlenangaben in Beutelchen an Schnüren heruntergelassen und durch die Croupiers an die gewünschten Stellen gesetzt. Nach Entscheidung steigen die Gewinne prompt wieder in die Höhe. Nie gibt es ein Versehen in dem neckischen Auf und Nieder der zierlichen Beutel. Dieses Spiel im Spiel hat einen besonderen Reiz und fesselt sofort auch uns Neulinge. Wird man aber durch Anfangserfolge noch so angenehm überrascht, am Ende steht der Verlust. Doch meist handelt es sich um geringe Einsätze. Neben anderen Spielarten gibt es auch eine, man muss sie nennen Schnell-Lotterie, in der die Gewinne noch in der gleichen Nacht, oft in der gleichen Stunde, in der man das Los kaufte, an zahlreichen offenen Lotteriestellen ausgezahlt werden. Denn Eile tut Not, schon um drei Uhr früh fährt der Nachtdampfer zurück nach Hongkong. Bei meiner zweiten Rückfahrt mit meinem Freund Wong, erlebten wir eine höchst abenteuerliche Reisegesellschaft, auch sorgloser Spielpärchen, die selbst von den chinesischen Stewards nicht gerade mit Ehrerbietung behandelt wurden. Die portugiesische Regierung von Macau verteidigt sich gegen den Vorwurf, dass sie hauptsächlich lebe von den Abgaben aus diesen Spielunternehmungen oder aus Opiumhandel, sie weist darauf hin, dass jener gesamte, genau festgestellte Betrag verwand würde für öffentliche Wohlfahrt und für öffentliche Arbeiten, insbesondere für Ausgestaltung des neuen Hafens, dadurch würde die eigene wirtschaftliche Stärke der Kolonie vorbereitet. In den Seitenstraßen, auch den entlegenen Gassen, geht die fleißige chinesische Arbeit ihren ruhigen, gewohnten Weg auch des Nachts. Hier sieht man Handwerker in ihren Werkstätten, Kaufleute in ihren Läden, in denen auch schöner und teuerster Schmuck verkauft wird, und Händler auf den Straßen. In Macau lebt eine umfangreiche Kleinindustrie unter der Bevölkerung von insgesamt 160.000 Seelen. Am Tage ist der Spuk der Nacht völlig fortgeweht, alles geht ernster Arbeit nach, wie in jeder anderen Hafenstadt. In stetigem Steigen seit 1920 hatte der Handel im Jahre 1927 eine Höhe von fünfzig Millionen Dollar erreicht und ist seitdem noch weiter gestiegen. Im schönen, europäisch geleiteten Hotel Riviera, am Strande bequem gelegen, überstanden wir schlecht die übermäßig heiße Nacht ohne Luftzug, auch die modernen Einrichtungen brachten keine Erleichterung. Vielleicht wäre es in dem anderen großen, aber luftigen Hotel Boa Vista auf der Höhe des südlichen Berges von Barra erträglicher gewesen. Fast hätten wir das große chinesische Hotel Ta hua kiu tien gewählt, am Hauptplatz mitten in der Stadt, wo man in ausgezeichneten Zimmern mit erlesener, rein chinesischer Einrichtung auf Matten schlafen kann statt auf durch-



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feuchteten Matratzen fremder Dünste. Doch die Schwierigkeiten ohne Dolmetscher schreckte uns ab, besonders im Hinblick auf den Verkehr mit Behörden und Missionen. Professor Aufhauser war es zu danken, dass wir in dem Jesuitenbruder P. Boehmer, einem Rheinländer mit sehr bewegtem Leben im Dienste seiner Mission, schon vom frühen Morgen ab einen lang ansässigen und kenntnisreichen Führer gewannen, besonders beim Besuch der zahlreichen katholischen Kirchen, Klöster und Einrichtungen. Unser erster gemeinsamer Gang galt dem Direktor der Public Works und der Wasserwerke, dem Ingenieur J. M. Braga.55 Die Herren von Siemens China in Hongkong, die in Macau die neue Telefonanlage ausführten, hatten mich an ihn empfohlen. Braga kannte aus langen Dienstjahren die Kolonie ganz genau, hatte sie in einigen amtlichen Reiseführern selber beschrieben und unterrichtete uns an Hand von Plänen und Karten bereitwillig über die Lage und Aussichten.56 Um den Schlüssel für das merkwürdige Bild von Macau zu finden, muss man die Entwicklung sich gegenwärtig halten. Es fesseln meist allein die wundervolle, große Lage, die malerischen Stadtteile, Siedlungen und die verteilten Bergkuppen am Rande der Insel. Die besondere Wirkung beruht auf der anziehenden Stadtanlage mit winkligen Plätzen, doch auch langen Avenuen, auf den wechselvollen Bauten in iberischem Barock, vermischt mit Anklängen an den südchinesischen Stil. In solcher phantasievollen Umgebung fügen sich selbst der berüchtigte Kolonialstil und die radikale Moderne zwanglos ein. Eine lange Geschichte hat dieses einzigartige Gebilde hervorgebracht, hat die Zugewanderten aus vielen andere Völkern mit der herrschenden chinesischen Art verbunden und die besondere Klangfarbe Macaus geschaffen. Doch die leichte Hand der portugiesischen Leitung behielt daran stets den führenden Anteil. Portugiesen waren es, die China wieder entdeckten und für den Westen erschlossen. Vasco da Gama fand 1497 den Seeweg nach Indien, von 1514 ab fassten Portugiesen Fuß und trieben Handel auf einigen Inseln südlich der Mündung des Sikiang [Xi Jiang, Westfluss]. Peres de Andrade57 erzwang 1517 mit Kanonenbooten, aber friedlich den Zugang nach Kanton, 1520 folgte einer seiner Beauftragten einer ehrenvollen Einladung nach Peking an den Hof des Ming-Kaisers Wu Tsung Tscheng Te [Zhengde, 1491–1521]58 und erreichte dort Vergünstigungen. Doch im Süden wurde durch das herrische Auftreten der Portugiesen die Lage wieder angespannt. Sie mussten die Inseln wiederholt räumen, verlegten ihre Niederlassungen weiter nach Norden und gründeten große Kolonien in Ningpo [Ningbo], Provinz Tschekiang [Zhejiang] und Tsuentschoufu [Quanzhou], Provinz Fukin [Fujian], wo schließlich 800 und 500 ihrer

55 José Maria Braga (1897–1988), sein Nachlass befindet sich heute in der National Library of Australia. 56 Z.B. Braga, 1926. 57 Fernao Pires de Andrade († 1523) war ein portugiesischer Kaufmann und Diplomat. 58 Kaiser Zhengde regierte als zehnter Regent der Ming-Dynastie von 1505 bis 1521.

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Landsleute ansässig waren und neben tausend Privathäusern auch Kirchen und Hospitäler unterhielten. Doch sie wandelten ihr gutes Benehmen bald in Anmaßung und Gewalttätigkeit. Die Chinesen erhoben sich, zerstörten 1545 und 1549 beide Kolonien restlos und töteten fast alle Fremden, auch die Tausende chinesischen Christen, die noch aus der Missionszeit des 14. Jahrhunderts stammten. Berichte darüber sind selbst in chinesischen Familienchroniken erhalten. Gestützt durch immer neue Flotten aus der Heimat, setzten sich die Portugiesen nun wieder mit Zähigkeit fest vor den Mündungen des Sikiang [Xi Jiang, Westfluss] und des Kanton-Flusses, zunächst auf St. John’s Island, Samcian oder San chuan [Shangchuan Dao], 120 Kilometer südwestlich vom heutigen Macau. Dort traf 1552 auf der Rückreise aus Japan auch als erster Missionar für China, der Jesuit Franz Xaver59 ein, starb aber schon im gleichen Jahre am 27. November. Er wurde später endgültig beigesetzt in Goa, seiner vornehmsten Wirkungsstätte. Die Insel musste bereits 1554 wieder geräumt werden. Ähnlich verlief der Versuch auf der Insel Lampacao, etwa 40 Kilometer südwestlich von Macau. Dort sollen damals 600 Portugiesen ansässig gewesen sein. Gleichzeitig aber, nach chinesischen Quellen im Jahre 1550, ließen die Portugiesen sich nieder im heutigen Macau, wo sie bereits 1535 unter einem Vorwande gelandet waren. Alles geschah unter ständigem, starkem Widerstreben der Chinesen. Da fügte es sich, dass ein großer japanischer Pirat in Macau seine Operationsbasis einrichtete und 1557 die Kühnheit hatte, Kanton selbst anzugreifen. Die Chinesen erbaten die Mitwirkung der Portugiesen und versprachen ihnen, wenn sie die Piraten aus ihren Schlupfwinkeln um Kanton vertreiben würden, die Einräumung des Platzes Macau. Wirklich gelang durch sechs portugiesische Galeonen die Vertreibung der Piraten und Macau wurde im gleichen Jahre 1557 portugiesische Handelsniederlassung. Von da ab rechnet Portugal amtlich das Bestehen der Kolonie, die aber noch keinen Rechtstitel durch die Chinesen erhielt, vielmehr nur geduldet war. Die Portugiesen mussten jährliche Tribute zahlen, überdies dem Gouverneur in Kanton und den Beamten drückende Geschenke machen, um ihren Handel erfolgreich treiben zu können. Sie waren äußerst eingeengt in ihrer Bewegungsfreiheit, abgesperrt durch Tore, noch für 100 Jahre. Die noch ganz private Niederlassung verblieb unter der Oberleitung des portugiesischen Vizekönigs von Goa in Indien. So bestand dieser erste offene Handelsplatz als der einzige in China fast 300 Jahre, bis nach 1842 Hongkong und andere Häfen ebenfalls abgetreten oder geöffnet wurden. Für einige Jahrhunderte blieb die portugiesische Sprache die lingua franca an der chinesischen Südküste, selbst die portugiesische Bauart tritt auch heute noch nicht selten auf, auch in rein chinesischen Städten in der Nähe der Küsten.60

59 Francisco de Xavier (1506–1552), im deutschsprachigen Raum der heilige Franz Xaver. 60 Der Baustil wird heute manchmal als Sino-Portuguese Style bezeichnet.



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Während der Vereinigung von Portugal mit Spanien 1581–1640 durfte Macau die portugiesische Flagge die ganze Zeit über zeigen, es blieb als treuste aller Kolonien für alle Zeit stolz auf seine damalige unentwegte Loyalität. Doch die spanischen Kriege gegen Holland und England wirkten sich auch hier aus. Macau verteidigte sich 1601–1627 wiederholt erfolgreich gegen die Flotten der Holländer, die durch englische Schiffe unterstützt wurden, und der 24. Juni, an dem im Jahre 1622 die holländischen Landungstruppen völlig besiegt und gefangen genommen wurden, blieb bis heute der Nationalfeiertag der Kolonie. Die Engländer erschienen bald wieder, nun friedliche Kaufleute, durften Macau sogar als ihren Stützpunkt nehmen. Von Macau aus gingen zu Ende der Ming-Dynastie Missionare nach Peking, der erste und berühmteste, Matter Ricci [sic], erreichte es 1601. Sie erwarben sich eine angesehene Stellung auch bei Hofe, nicht zum wenigsten durch ihre Kunst in astronomischen Berechnungen und Geschützgießen, doch auch ihre Missionserfolge waren nicht gering. Es folgten besondere portugiesische Gesandtschaften, sogar bewaffnete Abteilungen, die in den beginnenden Kämpfen gegen die Mandschu61 an der Nordostgrenze als Hilfstruppen verwandt wurden. Doch die Lage von Macau wurde immer schwieriger, zumal in den blutigen chinesischen Kriegen, die dem Ende der Ming 1644 folgten und erst nach drei Jahrzehnten voll erstaunlicher Begebenheiten zur Festigung der Mandschu-Herrschaft führten. Sie spielten sich zum großen Teile an den südlichen Küsten ab, auch um Macau, die Pforte zum vielumstrittenen Kanton. Einen Aufschwung brachte das Jahr 1662, in dem Japan sich vom fremden Handel endgültig abschloss. In den Christenverfolgungen, die dort schon lange vorausgegangen waren, hatten viele japanische Christen, Handwerker und Kaufleute ihre Heimat verlassen und in Macau Wohnung genommen. Nunmehr sandten alle Nationen, auch schon lange die Engländer, ihre Schiffe hierher, wo die Fremden wohnten und mit Kanton Handel trieben. Die Spanier und Holländer begründeten ihre Kolonien auf den Inseln, die Engländer hatten keine festen Stützpunkte, wurden aber immer dringender. Als wichtige Vorboten weilten hier die Gesandtschaft des Lord Macartney62 1792 für kurze Zeit, ferner der englische, erste protestantische Missionar Robert Morrison [1782–1834], der in Macau bis 1830 grundlegend wirkte, dort gestorben und begraben ist neben vielen anderen berühmten europäischen Pionieren. In den Napoleonischen Kriegen [1792– 1815] besetzten die Engländer vorsorglich im Jahre 1802 Macau gegen etwaige Angriffe der Franzosen, mussten es aber Ende 1808 wieder räumen auf energisches Verlangen der Kanton-Regierung und der Portugiesen, die hierbei merkwürdigerweise gemeinsam

61 Die Mandschu sind ein Volk aus dem Nordosten Chinas, das 1644 die Ming-Dynastie ablöste und die Qing-Dynastie begründete. 62 Der britische Staatsmann George Macartney (1737–1806) führte die erfolglose, nach ihm benannte Mission 1792 an den Hof von Kaiser Qianlong.

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vorgingen. Ebenso erging es dem Admiral Elliot63, der 1839 von Macau weichen musste, doch Hongkong besetzte und dieses alsbald endgültig in Besitz nahm für England. Das Verhältnis zwischen Macau und der Kantonregierung verschlechterte sich trotz ihres Zusammenstehens gegen England. Gerade im Widerstreit der europäischen Nationen untereinander machten die Chinesen immer nachdrücklicher ihre noch gültigen Hoheitsrechte geltend. Die Portugiesen aber rangen um vollständige Selbständigkeit. Bald nach Gründung von Hongkong, fast gleichzeitig mit dem ersten amerikanisch-chinesischen Vertrag, der abgeschlossen wurde in Macau, löste Lissabon 1844 die Abhängigkeit, in der Macau bisher gestanden hatte, von der indischen Kronkolonie Goa, machte es selbständig und zum Freihafen. Anfang 1849 hob der energische Gouverneur Amaral64 die alte drückende chinesische Zollstelle auf und verjagte eigenhändig die leitenden Mandarine, er wurde aber nach wenigen Monaten, am 22. August, von sechs chinesischen Patrioten ermordet. Jedoch noch am gleichen Tage stürmten die Portugiesen unter Führung des heldenhaften Leutnant Mesquito65 das noch von tausend Chinesen besetzte Fort, sprengten es in die Luft, vertrieben die gesamten chinesischen Truppen und alle Beamten. Dieser 22. August 1849 gilt als Tag der Freiheit, im Zeichen des Todesopfers des Gouverneurs. Doch nunmehr setzte ein starker wirtschaftlicher Niedergang ein, da die modernen, größeren Schiffe hier nicht mehr anlaufen konnten. Hongkong begann seinen glänzenden Aufstieg. 1886 schwebten Verhandlungen, Macau im Tausch für Französisch-Kongo an Frankreich zu geben. Da erhob England Einspruch, die neue Nachbarschaft schien ihm nicht geheuer, es setzte sich für eine andere Lösung ein. So kam es schließlich zum Vertrag vom ersten Dezember 1887, 13. Jahr Kaiser Kuang Hsu [Guangxu, 1871–1908],66 in dem Macau von China endgültig an Portugal abgetreten wurde, erst seit dieser Zeit besteht die volle Selbständigkeit der Kolonie. Die Chinesen hatten ihren langen, zähen und tapferen Wiederstand aufgeben müssen, waren schließlich ohnmächtig geblieben gegenüber den Machtmitteln Europas. Direktor Braga gab uns als weiteren Führer einen jungen deutschen Ingenieur mit, zu gemeinsamen Fahrten auf den besten Autostraßen durch Stadt und Insel. Die reiche Geschichte, das vierhundertjährige Ringen um Geltung und Wohlstand, um Ausgleich zwischen Abendland und China spiegelten sich deutlich wieder in zahllosen Erinnerungen und in der baulichen Erscheinung. Einer der vielen schönen Parkgärten ist gewidmet dem Andenken des berühmtesten Sohnes von Macau, Luis de Camoes [1524–1580], der schon 1556, im allerersten Beginn der Kolonie, hierher kam, hier über zehn Jahre blieb und seine Lusiaden schrieb.67 Seine Büste lugt hervor

63 George Elliot (1784–1863) befehligte die britischen Truppen während des Ersten Opiumkrieges 1840. 64 Joao Maria Ferreira do Ameral (1803–1849) wurde beim sogenannten Baishaling Incident ermordet. 65 Vicente Nicolau de Mesquita (1818–1880). 66 Der neunte Kaiser der Qing-Dynastie. 67 Dieses Epos der portugiesischen Literatur wurde 1592 zum ersten Mal gedruckt. Camoes, 1949.



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aus einer zerklüfteten Felsspalte, wo angeblich die Dichtung entstand. Dem Gedächtnis Vasco da Gama (1460/69–1524), des Haupthelden der Lusiaden, gilt ein anderer Garten mit seiner Büste.68 Hier steht auch das Siegesdenkmal zur Erinnerung an den Sieg über die Holländer im Jahre 1622, nur ein Beispiel für die zahlreichen Gedenkzeichen und Inschriften, durch die Macau die Erinnerung an wichtige Begebenheiten seiner wechselvollen Geschichte in lebendiger Wirkung hält. Fast an jeder Stelle der Insel öffnet sich der Blick auf eines der zahlreichen alten Forts oder ihre Reste von Mauern und Gebäuden auf den Kuppen der Berge, nie verschwindet das Hauptkastell Monte Fortress [erbaut 1864/65]69 inmitten der Stadt, oder der weiße Leuchtturm, der älteste an der chinesischen Küste, zwischen alten Befestigungen und neuen Parkanlagen, oben auf dem wohlausgebauten Guia-Hügel70, der höchsten Erhebung der Insel am Nordostrande. Die schmucken weißen Gebäude der jüngsten Zeit, die Paläste für Gouverneur und Verwaltung, der Bischofssitz auf dem Penha-Hügel im Süden, schon nahe dem Beora Point, dort gerade erstanden als Ersatz für das alte Gebäude, das von Ameisen zerfressen war, geben das moderne Leitmotiv. An den Bergen steigen die Villen empor, im neusten Stil, gerne mit flachen Dächern ausgestattet zum Schlafen im Freien in den heißen Nächten. Doch den Hauptreiz gaben uns die Bauten, die im Zeichen des alten iberischen Barock entstanden. Man kann durch die Straßen wandeln, wie im Traume, entrückt der Zeit und Gegenwart. In diesen aus der Heimat mitgebrachten edlen Formen, von denen unter vielen anderen öffentlichen Gebäuden auch der schöne Stadtpalast Zeugnis gibt von der katholischen Kirche, von Anbeginn Führerin an ihren Kirchen und Klöstern, von denen noch viele in die frühe Zeit zurückreichen. Zuerst erschienen hier spanische, dann portugiesische Franziskaner und Dominikaner, doch schon 1560 gründete ein portugiesischer Jesuit als der erste Bischof von Macau eine Pflegestätte des Ordens der Barmherzigkeit, den eine portugiesische Königin lange vorher gestiftet hatte.71 Bald folgten Hospitäler und die heute älteste Kirche St. Lazarus72, deren Hauptteile noch von 1579 stammen. Auf dem Hügel am Nordende der Praja Grande bezeichnen sehr schöne Gartenanlagen die Stellen, an denen die Franziskaner um 1570 ein Kloster anlegten. Etwas oberhalb bauten sie später das Fort aus, das im ruhmreichen Kampf gegen die Holländer 1622 die Entscheidung brachte durch die Tapferkeit der mutigen Patres an ihren Kanonen.

68 Der Vasco da Gama Garten wurde 1898 angelegt. 69 Fortaleza do Monte gehört heute mit zum UNESCO Weltkulturerbe. 70 Die Festung auf dem Hügel wurde 1637/38 erbaut. 71 Der erste Bischof von Macau wurde 1566 der Portugiese Melchior Carneiro (1516–1583). 1567 etablierte der Papst Gregor XIII in Macau eine Diözese, die auch für China, Japan und Indochina zuständig war. Siehe Melton/Baumann, 2010: S. 568. 72 Die Kirche ist auch als San Lazaro bekannt und wurde 1570 begonnen. Die heutige Kirche stammt von 1882.

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Abb. 37: Die Ruinen der St. Pauls-Kirche in Macau wurden nach dem Brand von 1835 nicht mehr aufgebaut. Die Fassade wurde zu einem der Wahrzeichen der Stadt. (Wong, 1970: 43).



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Über alle weiteren Kirchen mit ihren reichen Fassaden und Innenräumen, die noch bis in das neunzehnte Jahrhundert hinein in dem warmherzigen iberischen Baustile entstanden, triumphiert auf einem niedrigen Hügel, unweit des Monte Fortress, das Glanzstück von Macau, der berühmte Rest der Mutter Gottes Kirche, die 1594–1602 durch Jesuiten mit Hilfe geflüchteter japanischer Christen erbaut wurde, im Jahre 1835 aber fast gänzlich niederbrannte. Es ist die prächtige, vielbewunderte Südfassade aus 1638, mit der mächtigen Freitreppe davor, das hohe Wahrzeichen der frühen katholischen Mission in China. Im dreigeteilten Aufbau, ganz aus Werkstein, stehen zwischen reichen Säulenreihen in Nischen die einzelnen Bronzestatuen, der vier Geschosse, die Mutter Gottes umgeben von Heiligen, unter ihnen Ignatius von Loyola, Franz Xaver und St. Paul, bekrönt durch eine Taube als Symbol des Heiligen Geistes. Man plant den Wiederaufbau der ganzen zerstörten Kirche von St. Paolo, wie sie gewöhnlich genannt wird, und will auf dem Gelände hinter ihr eine Schule anlegen. In der jetzt zerstörten Kirche befand sich früher eine kostbare Reliquie, ein Stück vom Armknochen des Franz Xaver. Die Reliquie wurde geteilt und wird heute aufbewahrt zu einem Teile im Vatikan in Rom, zum anderen in Macau selbst in der Kirche von St. José.73 Diese Kirche des Heiligen Joseph [1742–1758] steht im südlichen Teile der Stadt, sie zeigt im Äußeren und Inneren eine sehr schöne iberische Architektur etwa aus 1758, zum Haupteingang führt hier ebenfalls eine stolze Freitreppe. Das Motiv solcher Freitreppen geht auch auf alte chinesische Vorbilder zurück und kommt in Macau noch wiederholt vor. Eng verbunden mit der Kirche, die viele Erinnerungen an die katholische Mission in China birgt, ist das berühmte Seminario St. José oder St. Joseph’s College. Es wurde 1657 durch Jesuiten gegründet, jedoch nach deren wiederholter, seit 1910 endgültiger Vertreibung zur Ausbildung weltlicher Priester bestimmt, Europäer wie Chinesen. Allerdings spielen Jesuiten als Lehrer noch wesentliche Rollen. Ein Seminar von achtzig Seminaristen und eine weitere Mittelschule dem allgemeinen Unterricht auch in chinesischer Wissenschaft und in Fremdsprachen. Die freundlichen Patres des Hauses führten uns bereitwillig durch die ausgedehnte Anlage, die luftigen peinlich sauberen Schlafsäle mit ihren hohen Fenstern und durch die Räume für Unterricht, Bibliothek, Erholung, alle zwischen dicken, alten Mauern. In den weiten Höfen, auch für Sport viel benutzt, stehen uralte Benyonenbäume [Banyan], einige mit Umfang bis zu zwölf Metern. An einer anderen Stelle der Stadt unterhält die Katholische Mission in einem der alten portugiesischen Gebäude ein sehr beachtliches Museum. Es gibt dort vorwiegend wertvolle kirchliche Gegenstände von einiger künstlerischer Bedeutung, daneben aber auch sehr gute chinesische Stücke von der Han-Zeit [206 v. Chr.–220 n. Chr.] an, Keramiken, Bilder, Schnitzereien und Plastiken, selbst etliche archäologische und vorgeschichtliche Funde aus Macau und den benachbarten Inseln. Die Samm-

73 Hugo-Brant, 10/1956: S. 24–30.

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lung wurde verwaltet und uns erklärt durch eine hochgebildete junge Dame, in der die deutliche Mischung aus portugiesischen, indischen und chinesischen Stammeselementen zu einer besonders reizvollen und anmutigen Erscheinung geführt hatte. Mischlinge aller Grade sind nicht eben selten gerade in der portugiesischen Kolonie, wo das Bewusstsein von der Erhaltung rassischer Eigenart ausgesprochen schwach ist. Die portugiesische und katholische Seite von Macau wurden hier an erste Stelle gesetzt, weil sie dem äußeren Bilde der Stadt durchaus die Note gibt und die Tatsache portugiesischer Herrschaft klar und unmittelbar zum Ausdruck bringt. Dennoch bleibt das Chinesentum der eigentliche starke Untergrund der Kolonie. Wirtschaft und Handel beruhen, trotz aller europäischen äußeren Führung, letzten Endes im Wesentlichen auf chinesischem Fleiß. In der Gesamtbevölkerung von 160.000 Seelen hat der Chinese, gegenüber etwa 4000 Portugiesen und 500 anderen Fremden, den weitaus überragenden Anteil. Eifrigste Missionsarbeit von Jahrhunderten konnte dem katholischen Christentum kaum mehr als 3500 Chinesen gewinnen. Durch ihre Qualität hat sie zwar dem ganzen chinesischen Volkskörper dort in vieler Hinsicht hohe Werte gebracht und überdies eine Pflanzstätte für die Mission im weiteren China geschaffen, doch an dem festen Bestande chinesischer Eigenart wurde dadurch auch in Macau kaum gerüttelt. Setzt man die wenigen chinesischen Tempel hier in Vergleich zu den stolzen katholischen Kathedralen, so schneiden jene allerdings schlecht ab, denn mehr als einen eben noch lebendigen Volkskult darf man ihnen nicht zugestehen. Die völkische Hauptstärke der Chinesen, zumal unter fremder Herrschaft, liegt in der Pflege des Familienkultes und der gesellschaftlichen Verbundenheit. Immerhin lohnt ein Gang durch die Tempel von Macau. An der äußersten Südwestspitze der Insel umfahren die Dampfer den scharf abfallenden Felsen von Barra Point. Dort, wo die Uferstraße heute besetzt ist mit einer Zelle ansehnlicher moderner Gebäude, fanden sich früher noch alte Spuren der ersten Besetzung durch die Portugiesen. Chinesisch heißt der Punkt Ma kok, Turmhalle der Göttin Ma oder Ama [A-Ma]. Sie ist die Hauptgöttin der Insel und der seefahrenden Bevölkerung, sie wird auch genannt Ma tsu yo [Mazu], Göttliche Ahnfrau und im örtlichen Kult gleichgesetzt der Tien hou [Tian Hou], der Himmelsfürstin. Aus ihrem Namen hat man die heute unter Fremden übliche Bezeichnung für die Insel Macau abgeleitet, indem man Ma verband mit Ngao oder cao, das eine Bucht mit Steilküste bedeutet und als Ngoo men oder Aumen [Aomen] der chinesische Name für unser Macau ist. Nur wenig nördlich jener Südspitze, am Westufer besitzt die Göttin ihr bedeutendes, weit berühmtes Heiligtum, den schönen und sehr gut durchgebildeten Ma kok miao, Tempel der Turmhalle für die Ma.74 Eine erhöhte Steinbrüstung mit reichen Reliefs trennt den Tempelgrund unmittelbar von der Straße, eine kleine

74 Der A-Ma Tempel ist der älteste (1488) und bekannteste taoistische Tempel in Macau. Siehe Wong, 1970: S. 30f.



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Abb. 38: Der taoistische A-Ma Tempel von 1488 in einem Holzschnitt von 1746. Der Tempel ist der taoistischen Göttin Mazu geweiht. (Wong, 1970: 33).

Freitreppe führt empor zum Eingangstor in chinesischem Stil, seitlich von diesem in einigem Abstand steht ein zweites Parktor hinter der Brüstung. Hinter dem Tor sind die mannigfaltigen Teile des Tempels auf engen Räumen mit äußerster Kunst eingeführt in die steil ansteigenden Hänge von Felsen und Klippen, die kleinen Schluchten und Spalten, eingebettet in dichten Bambus und Baumwuchs. Nur gelegentlich findet die Sonne ihren Weg zu Kapellen und Weihrauchbecken aus Stein und Bronze, zu den Pavillons und Hallen, Treppen, kleinen Terrassen und Felsgestein mit eingemeißelten Inschriften und Reliefs, auch Bilder alter Dschunken. Ein anschmiegender freier Gartenstil hat sich hier gepaart mit strengeren achsialen Motiven an Terrassen und Hallen. Alte Kultur, auch der Baumkult, leben mit den Göttern von Erde und Meer, in Schreinen und Altären. Die Hauptgöttin, die wiederholt auftritt, ist erklärt durch Nebengottheiten auch buddhistischen Gepräges. Holzschnitzereien und Ornamente und figürliche Reliefs, Farben, selbst Glasuren, zahlreiche Votivgaben, Götterfiguren und Gewänder offenbaren eifrige Verehrung des Volkes und frommer Spender während der Jahrhunderte, in denen der Tempel entstand und gepflegt wurde bis zum heutigen Tage. Das Auto hatte uns über die südlichen Berge zu jenem vornehmsten Tempel geführt, jetzt ging es die Hafenstrasse entlang, über das Straßennetz der Stadt zum

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entgegengesetzten Punkt der Insel, an ihre äußerste Nordostspitze. Dort bildet eine große Felsklippe den Rest des Bergzugs. Diesen hatte man gesprengt und eingeebnet zur Gewinnung neuen Ufergeländes, das durch Anschwemmung noch mit verbreitert wurde. Der vorgeschobene, vereinzelte Felsen, ein weithin sichtbares Wahrzeichen, trägt ein anderes, ebenfalls sehr altes Heiligtum der Göttin Ama [A-Ma Tempel, der Göttin der Seefahrer und Fischer, Mazu, geweiht]. Dieser alte Tempel Ku miao heißt Ma kao schi, Fels des Schuppendrachens der Göttin Ama. Es ist wohl daran gedacht, dass sie auf diesem Drachen, der gefährliche Überschwemmungen hervorrufen kann, über das Meer zieht, ähnlich wie die barmherzige Göttin Kuan yin [Guanyin], nur dass jene zugleich den Drachen bändigt und unschädlich macht. Möglicherweise darf man den Namen Macau auch unmittelbar ableiten von diesem Fabeldrachen, der seiner Gottheit dienstbar ist, und dessen Form man in der Gestaltung der Insel wiederzuerkennen glaubt. Der Kopf des Drachen erscheint hier im Nordosten in diesem Felsen und ist gegen die Ausmündung des Perlflusses gerichtet, den Körper bilden die Berge und Täler der Insel in ihrem Zuge nach Südwesten, er endet dort im erhobenen Schwanzende des Barra Point und ist kurz vorher betont durch den großen Tempel der Göttin Ama. Zur Kuppe unseres nordöstlichen Felsens, Ma kao schi, eine hohe, steile Freitreppe, dort steht der kleine Tempel, nur wenige dürftige Gebäude und Höfe neben alten Bäumen. Der einsame Priester und seine beiden kleinen Helfer, Buben von zwölf Jahren, waren alle miteinander vor Freude außer sich über den Besuch der vornehmen Herren, lachend und lärmend wiesen sie uns die Stufen empor in die Halle zum Tee, zeigten die Räume und Altäre, endlich das Hauptbildnis, die liebenswürdig starre, sehr alte Steinfigur der Göttin inmitten einer Steinumrahmung, beide aus dem gewachsenen Felsen herausgearbeitet, als Krönung des Drachenkopfes. Hinter dem oberen, frei stehenden Teile der Figur, vor der rückwärtigen Felsfläche lässt ein reicher taoistischer Zauberspiegel die Göttin leibhaftig erscheinen wie eine Offenbarung des Felsens selber. Von dieser Höhe genießt man bezaubernde Blicke auf die nahen Haine und Friedhöfe, die Hügel und Siedlungen der Stadt, den neuen Hafen, über den Verbindungsdamm auf das Festland, auf ferne Inselberge und das weite Meer, in die Mündung des Kanton-Flusses hinein und mit dem sinkenden Sonnenglanz in Richtung auf Hongkong. Im nahen nördlichen Außenbezirk Mong ha steht der ansehnliche und reich ausgebaute Tempel der Kuanyin [Guanyin], Kuan Yin tang [Kun Iam Tempel]75, mit schöner Eingangshalle und vielen buddhistischen Elementen, ziemlich gut unterhalten, von höflichen Priestern betreut. Nach einer bestimmten Erklärung des Baudirektors wurde hier – nicht in Lien feng miao [Lin Fung Tempel]76, wie es fälschlich

75 Der Tempel Kuan Iam geht auf das Jahr 1627 zurück und ist Guanyin geweiht. Siehe auch Wong, 1970: S. 36. (Dort unter dem Namen Koon Yam Tong). 76 Der Lin Fung Tempel (Temple of the Lotus) wurde zwischen 1573 und 1619 erbaut. Siehe auch Wong,



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auch in älteren Reiseführern heißt – am 3. Juli 1844 der erste frei verhandelte amerikanisch-chinesische Handelsvertrag unterzeichnet als erster Schritt zu den guten, seitdem kaum jemals ernstlich getrübten Beziehungen zwischen beiden Staaten. Der erwähnte Tempel zum Lotusgipfel, Lien feng miao [Lin Fung Tempel], steht nicht weit entfernt an der äußersten Nordspitze der Insel, am Abzweig der beiden Verbindungsstraßen, die von dort aus über die später angelandeten Dämme führen, nach Norden zum Grenztor, dem Barrier Gate, am chinesischen Festlande, nach Westen zu der kleinen, ebenfalls portugiesischen Grünen Berginsel, Tsing tschau [Ilha Verde]. Die Front des Lien feng Tempels [Lin Fung Tempel] zeigt den voll ausgebildeten Baustil, der in Kanton und im südlichen Kuangtung [Guangdong] für eine lange Reihe vornehmer Familientempel üblich ist. Die Front aus drei, von einander knapp getrennten Eingangshallen von je drei Feldern, mit schlanken Pfeilern und einigen freien Querbalken aus weißem Werkstein, mit hohen Holzgittern, flachen Dächern und reich verzierten Firsten. Diese drei Hallen betonen die drei Hauptachsen der gruppierten Anlage mit je einigen weiteren Hallen und Höfen. Hier am geräumigen Marktplatz, im lebhaften und zwanglosen Getriebe eines freundlichen Volkes, wirkte die klare und großzügige Anlage besonders gefällig und zugleich bedeutend. Die luftige Wirkung der schönen Steinarchitektur an der Straße setzte sich in den Innenräumen fort, auch in den Altären und Bildnissen der Gottheiten, unter denen die Himmelsfürstin Tien hou [Tian Hou] führte, doch auch die barmherzige Kuanyin [Guanyin] vertreten war. Ganz in der Nähe des Tempels erinnert ein Steinmonument mit den Wahrzeichen Waffen von Portugal an den Gouverneur Amaral, der 1849 an jener Stelle ermordet wurde, dessen Tode aber noch am gleichen Tage das Signal gab, die chinesischen Truppen und Beamten in blutigen Gefechten zu vertreiben und die Kolonie gänzlich loszulösen aus der chinesischen Oberherrschaft. Unter den zahlreichen anderen chinesischen Tempeln der Stadt ist der Klub und Tempel der Hongkong Kaufleute, Hongkong miao, weiträumig angelegt mit drei Achsen und reich ausgestattet nach Art ähnlicher Klubs von Kaufleuten und Landsmannschaften aus Provinzen. Doch die vielen Götterfiguren sind alt und hässlich, die Schmuckteile unansehnlich geworden und verräuchert. Das Schwergewicht der Gemeinschaft jener Kaufleute liegt doch in Hongkong. Der Tempel steht inmitten des stark belebten Geschäftsviertels. Im Verkehr und Treiben des Volkes wie in den Formen der höchst malerischen Gassen und Häuser herrscht das bekannte und ungezwungene chinesische Nebeneinander von schön und aufreizend, behaglich und aufdringlich, von Ruhe und Arbeit, Stille und Lärm. Alle aber opfern gelegentlich ihren Göttern an den Altären. Ein besonders eindrucksvoller und viel beachteter Schrein, A to miao, mit Halle und Vorbau in kleinen Massen, doch gefälliger Architektur, dient auch der Verehrung der 33 Genien, San schi san sein.77 Er steht am Vorplatz unmittel-

1970: S. 39. (Dort Lin Fong Miu). 77 Unklar ist um welchen Tempel es sich handelt. Möglicherweise meint er den Na-Tcha Tempel.

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bar neben dem Aufgang zu der mächtigen Treppe und der alten stolzen Fassadenruine von St. Paolo [Paulskirche].78 Ein starker Gegensatz. Diese Rundfahrt, die wir am Nachmittag in Begleitung eines jungen deutschen Ingenieurs durch die Stadtteile und die chinesischen Tempel gemacht hatten, endete für meinen Reisegefährten Professor Aufhauser mit einer peinlichen Überraschung. Schon unterwegs hatte er bemerkt, dass er seine Brieftasche im Hotel vergessen haben musste, doch vertrauensvoll fuhr er ruhig weiter. Nach der Rückkehr war sein erster Gang auf sein Zimmer. In größter Bestürzung war er bald wieder da, die Tasche war gestohlen mit Pass, Dampferkarte nach Europa und allem Reisegeld. Sofort wurden Hotel, Kriminalpolizei alarmiert, das Personal verhört, ohne Ergebnis, auch am folgenden Tage, den Aufhauser noch zu weiteren Nachforschungen in Macau blieb. Die Mission und andere Freunde halfen ihm dann aus, so dass er zwar genötigt war, die beabsichtigte Reise nach Kanton aufzugeben, indessen die Heimreise über Indochina noch planmäßig durchführen konnte. Dieser Vorfall, an sich nicht ohne Beispiel, war doch für Macau besonders kennzeichnend. Dort herrscht, neben allem normalen geschäftlichen Leben, ein vielfältiges Durcheinander der unleugbaren Schattenseiten, von gemischtem Volk und unsicheren Existenzen, von lockenden Gelegenheiten und flüchtiger Moral. Eine solche allzu irdische Welt begünstigt das Aufkommen entwurzelter Elemente, der Zwischenträger, Ausbeuter und Hehler, zumal in den Hohlräumen gesellschaftlicher Ordnung auf den Grenzen zwischen Europäern und Chinesen. Aus diesen vorhandenen zwei völkischen Seiten mit ihren häufig entgegengesetzten Einstellungen erklären sich aber auch die starken Spannungen, die in den fremden Kolonien und Niederlassungen in China nach vielen Richtungen bestehen und weiterhin zu neuen politischen Konflikten führen müssen. Macau ist dafür ein treffendes Beispiel. Hinter der scheinbaren Gleichheit und Eindeutigkeit chinesischen Volkslebens wurde mir besonders in Macau, wie ähnlich schon vorher in Hongkong und auch später in den anderen Niederlassungen der Zwiespalt klar, in dem der Chinese unter fremder Herrschaft lebt. Im Zeichen des wachsenden nationalen Bewusstseins empfindet er immer stärker die Unfreiheit unter die er gezwungen ist, auf seinem eigenen, angestammten Boden sich der fremden Führung unterzuordnen. So ist hier die Klangfarbe des Fröhlichen auch des Ausgelassenen, auf der anderen Seite aber selbst des Eigenwilligen und Widerspenstigen, oder gar der Auflehnung, die überall in China zum Wesen des Chinesen gehören, stets merkbar gedämpft unter der fremden Gewalt, im Angesicht der fremden Aufsicht und Polizei. Die schwerwiegenden Folgen sind Stauung und Stillstand im lebendigen Fluss chinesischen Wirkens auf allen Gebieten, in schöpferischer Arbeit und selbständiger Organisation, die heute zu den Kennzeichen des Neuen China gehören. Eigener Antrieb, Freude an der Verantwortung haben

78 Die ruinöse Fassade, erbaut zwischen 1620 und 1627, ist bis heute das Wahrzeichen der Stadt. Siehe auch Guillen Nunez, 2009 und Abbildung 36.



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in den entrissenen Gebieten Platz gemacht mechanischem Tun, innerer Teilnahmslosigkeit und dem Warten auf bessere Zeiten. Zwar die chinesischen Kaufleute, die unmittelbar am fremden Handel beteiligt waren, sind seit je, gerade wie es auch bei uns in Europa in Zeiten schwerer Konflikte immer der Fall war, auch dort auf ihre Kosten gekommen, sie haben sehr häufig den augenblicklichen geschäftlichen Nutzen über die völkischen und nationalen Belange gestellt und zumal bei den Jahrhunderte langen und sehr schweren Wirtschaftskämpfen mit den Fremden im Gebiet um Kanton die Entscheidungen ihrer Regierung mehr als einmal unheilvoll beeinflusst. Doch bei den Gebildeten, führenden Beamten und selbst bei der gebildeten Mittelklasse und den sehr tüchtigen selbständigen Geschäftsleuten und Handwerkern sind jene Kämpfe unvergessen. Sogar die breiten Massen, die in China sehr wohl Bescheid wissen um den Gang der Ereignisse von einst und heute, bilden eine ruhende Kraft, die von uns meist unterschätzt oder überhaupt nicht erkannt wurde in dem scheinbaren Chaos der häufigen Wirren. Stärker denn je ist im Volke dort heute das Bewusstsein, dass es durchaus die Fähigkeit hat, seine Geschicke auch wirtschaftlich selber in die Hand zu nehmen, und dass man in dem Heer der schon modern durchgebildeten Chinesen auf allen Gebieten auch die geeigneten Führer dazu besitzt. Bei diesen Vorstellungen spielt in Hongkong und Macau das nahe Vorbild des mächtig entwickelten Kanton und mancher großer Provinzstädte eine entscheidende Rolle. Es wird noch lange Zeit brauchen, bis die Träume von der künftigen Selbstbestimmung sich verwirklichen. Aber wenn die Engländer in Hongkong alle Kräfte daran setzten, um Handel und Wohlstand in ihrer Kolonie zu fördern, so tun sie das gewiss unmittelbar zum eigenen Nutzen, doch auch in Vorahnung der Gefahren, die ihnen drohen aus dem stummen Gegensatz der chinesischen Bevölkerung, aus dem kommenden Wettbewerb und dem unaufhaltsamen Aufstieg Chinas, mit dem sie beizeiten Schritt halten müssen. Das Gleiche gilt für Macau, wo die Verhältnisse noch weit schwieriger liegen, denn die augenblickliche Kraft der Kolonie ist nicht groß, die erforderlichen Aufwendungen für den Ausbau werden aber ungeheuer, wenn Macau in der laufenden Entwicklung sich halten und nicht weiter zurückbleiben soll. Schon das überaus reiche Gebiet zwischen den Mündungen des Westflusses und des Perlflusses, Vorland und zugleich Hinterland von Kanton, hat, ganz für sich betrachtet, eine bedeutende wirtschaftliche Zukunft. Macau kann dafür Vorort werden, sogar einen weiteren Anteil am Kanton-Handel gewinnen. Raum für wirtschaftliche Ausdehnung ist dort in Hülle und Fülle. Man braucht nur an die Industrien zu denken, die auf den nördlichen anschließenden, höchst mannigfaltig gestalteten, wenn man will, Insel des Kreises Tschung schan [Zhongshan],79 der früher Hsiang schan hieß, mit Sicherheit ent-

79 Die Stadt wurde zu Ehren von Sun Yat-sen, der in China als Sun Zhongshan bekannt ist, von Xiangshan oder Hueng-san in Zhongshan umbenannt. Die Stadt liegt heute nördlich der Sonderwirtschaftszone Zhuhai.

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stehen müssen. Schon die neue Autoringstraße durch jenen großen Bezirk hat den Umsatz in Macau merklich beeinflusst. Bei dieser Umbildung von Wirtschaft und Handel wird der Anteil an Opium, Schmuggel und Spiel, der heute zwar noch bedeutend ist, doch schon stark abgebaut wird, künftig kaum mehr eine erhebliche Rolle spielen. Jedenfalls ist die Zeit vorbei, in der wir Europäer diese Dinge als lasterhafte Haupteinnahmequellen mit einer starken und mitleidvollen Selbstgefälligkeit immer in den Vordergrund stellen konnten. Wie groß die lebendigen Handelsmöglichkeiten in Macau jetzt schon sind, zeigt die Tatsache, dass sein Handel in den Jahren des chinesischen Boykotts gegen England und Hongkong sprungartig in die Höhe gegangen war. Er war von 22 Millionen Dollar im Jahre 1920 gestiegen auf 50 Millionen Dollar im Jahre 1927. Nach einem vorübergehenden Rückgang hat er heute wieder eine erneute Steigerung erfahren. Die portugiesische Regierung macht alle Anstrengungen, um die Möglichkeiten zur Hebung von Macau voll auszunutzen. Nur daran hat sie Aussicht, ihren Bestand, ja ihren Vorsprung auf der Westseite des Perlflusses zu sichern und für eine spätere, neue Regelung ein wertvolles Objekt in der Hand zu haben. Alsdann würde sie auch in den festen Interessen der chinesischen Kaufmannschaft ein erwünschtes Schwergewicht zu ihren Gunsten besitzen. Ausschlaggebend ist die Verbesserung der Hafenverhältnisse. Der Innenhafen liegt auf der Westseite der Insel in einer schlauchartigen Bucht, eigentlich einem Mündungsarm, der östlich vom Westfluss abzweigt. Dieser umströmt die große Insel Lappa, den Kopf des Festlandes, und gewinnt zwischen einigen weiteren vorgelagerten Inseln im Süden das offene Meer. Jener Hafen ist nur flach, doch noch heute der einzige, er sah die gesamte Entwicklung von Macau, konnte aber nach Aufkommen der Dampferschifffahrt schon bald nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts größere neue Dampfschiffe, vollends die modernen Riesenschiffe, nicht mehr aufnehmen. So blieb Macau für den unmittelbaren Weltverkehr hoffnungslos im Hintergrund. Heute dient der Hafen mit gelegentlichen Ausnahmen, nur örtlicher Dampferverbindung mit Kanton, Hongkong und einigen nahen Hafenstädten, im wesentlichen aber der eigenen Schifffahrt mit Dschunken, zumal innerhalb des großen KantonDelta. Seit 1926 besteht ein umfassender Entwurf für den Ausbau neuer Häfen um die drei Inseln, die in portugiesischem Besitz sind. Die beiden südlich vorgelagerten Berginseln, Taipa und Coloane, sollen durch Dämme und vorbereitete Anlandungsflächen miteinander zur Einheit verbunden werden und dadurch auch neuen Raum für Bebauung und Siedlungen schaffen. Auf der Ostseite wird der neue große Außenhafen innerhalb von Seemolen angelegt, mit Zufahrtskanal und Docks auch für große Ozeandampfer. Im Westen ergibt sich durch Verbindung der drei Inseln ein geräumiger Innenhafen, auch für den Umschlag zu Delta und Westfluss. Die Arbeiten an den noch freiliegenden beiden Südinseln sind kaum in Angriff genommen, doch Macau selbst zeigt schon in großen Zügen die hauptsächlichsten Leitmolen und im Norden weit angelandet Flächen, auch die bereits erwähnten Landverbindungen zur Grünen Insel [Ilha Verde] und zum chinesischen Festlande.



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Der Innenhafen soll zugleich vor weiterer Versandung geschützt, ja nach Möglichkeit vertieft werden. Nun befinden sich aber die beiden Inseln auf der Westseite, Macarira [Ilha Macarira] und Tai Vong Cam [Ilha Tai-Von-Cam, Ilha da Montanho oder chinesisch Da Hengqin], genau gegenüber von Taipa und Coloane, in chinesischen Händen. Die Kanäle zwischen ihnen befördern aus der weiten Mündung des Sekiang [Xi Jiang] immer neue Sinkstoffe in den portugiesischen Innenhafen. Wird dieser auf seiner Ostseite durch die neue, lange Uferlinie abgeschlossen, so erwächst die Gefahr der Versandung. Um dieser zu begegnen, sind auch die westlichen, chinesischen Inseln in den gesamten Entwurf einzubeziehen. Dazu ist aber Verständigung und Zusammenarbeit mit den Chinesen in dieser Frage für beide Teile notwendig. Ist das zu erreichen, so kann durch großzügigen Ausbau der Inselgruppe, einschließlich von Lappa, ein Hafenplatz bedeutenden Ranges entstehen, der zum mindesten für das Gebiet des Sikiang [Xi Jiang] der Vorort werden muss und sogar einen gewissen Wettbewerb mit Hongkong aufzunehmen vermag. (Siehe Abb. 36). Die Chinesen aber, bei aller Bereitschaft, der neuen Zeit gerecht zu werden, ja sogar mit den Fremden zusammen zu arbeiten, wollen bei solchen Unternehmungen das entscheidende Wort mitsprechen. Sie haben, leicht erklärlich, den Portugiesen bisher nur ein sehr geringes Entgegenkommen bewiesen. So ist zum Beispiel die Frage der Versorgung mit Trinkwasser für Macau bis heute eine der größten Schwierigkeiten geblieben, da dort kein Frischwasser gefunden wird, die Chinesen aber jegliche Anlage von Brunnen auf ihrer Landseite und damit eine Zuleitung von Wasser zur portugiesischen Kolonie verhindert haben. Nur Wasserboote helfen gelegentlich aus. Auf dem kleinen Gebiet der Insel selber steht nur geringes Niederschlagswasser zur Verfügung, das in kleinen Sammelbecken an den Bergen aufgespeichert wird. Erst neuerdings wird Trinkwasser durch ein Pumpwerk ordnungsgemäß gewonnen im nördlichen Teile der Innenbucht, aus dem breiten Flussarm, doch nur auf seiner portugiesischen Seite. Überdies ist die Entnahme nur möglich in den wenigen Hauptstunden der Ebbe. Zu diesen Zeiten strömt dort fast brauchbares Süßwasser von der Landseite zur See, ein viel bemerkter, auffallender Vorgang, der dem ganzen Mündungsgebiet des Westfluss eigentümlich ist. Jenes Wasserwerk mit den zugehörigen Reinigungsanlagen ist von deutschen Firmen ausgeführt, jedoch bezahlt mit englischem Kapital, das seine Macht in der unsicheren Nachbarkolonie, für alle Fälle, nach Möglichkeit festhält. Jene chinesisch-portugiesischen Reibungen würden gemildert oder verschwinden, wenn die Chinesen stärkeren Einfluss oder gar die Führung gewönnen. Doch das ist ein politisches Problem von größter Tragweite. Immerhin hängt von seiner Lösung die Zukunft der Kolonie Macau durchaus ab, auch im portugiesischen Sinne. Jetzt, wo die Vormacht des geeinigten China von Nanking auch in Kanton sicher gilt und ausgeübt wird, mag sich, aus großen Gesichtspunkten heraus, eine Lösung vorbereiten. Die Portugiesen, als Staat und Kolonialmacht schwach geworden, haben dennoch mit Tapferkeit ihre bevorzugte Kolonie durch schwierige Zeiten sich erhalten. Die neue Linie kann aber nur laufen in der Richtung chinesischer Führung und Souveränität.

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Kanton Mit der Bahn von Kowloon nach Kanton Zwischen Hongkong, dem Brennpunkt des Seeverkehrs vor dem Mündungsgebiet der Kantonströme, und der Hauptstadt der Provinz Kuangtung [Guangdong], benutzte ich widerholt die beiden Wege, die dem Reisenden sich bieten. Jeder von ihnen hat seinen eigenen Reiz und öffnet uns das Wesen des Landes. Die Eisenbahn läuft ständig inmitten von Landschaft und Volk, die Seefahrt auf dem Perlfluss offenbart die Natur des Delta, fließendes Alluvium, Entstehen der Städte und Siedlungen aus der ewigen Erneuerung des Bodens. Doch überall begleitet uns die lebendige Vorstellung von der wechselvollen Geschichte, die sich in tausenden von Jahren auf diesem merkwürdigen Gebiet abspielte und in unseren Tagen gar zu Höhepunkten des Geschehens führte. Schon die Herstellung der Bahnlinie von Kowloon bis Kanton ist verknüpft mit bedeutungsvollen Ereignissen. Im Jahre 1899, also ein Jahr vor dem Boxeraufstand, lehnten sich die Kantonesen, in nationalem Widerstand gegen die herrschenden Mandschu in Peking und die übermächtigen Fremden in Hongkong, dagegen auf, dass der Bahnbau auch auf dem chinesischen Gebiet von den Engländern ausgeführt werden sollte. Sie erzwangen die rein chinesische Ausführung auf ihrer Strecke, die von der Kowloon-Grenze bis Kanton etwa viermal länger war als die englische, und wurden damit in vier kurzen Jahren ebenso schnell fertig wie die Engländer, die in ihrem Kowloon allerdings noch schwierige Tunnelarbeiten durchzuführen hatten. Das erste Jahr des vollen Betriebs, 1911, bezeichnet zugleich den Ausbruch der nationalen Revolution und brachte den Sturz der Mandschu. Und nach weiteren 25 Jahren, über alle politischen Wechselfälle hinweg, erfolgten im Jahre 1936 der Anschluss an den großen durchlaufenden Schienenstrang von Peking über Hankau [heute Wuhan] nach Kanton und zugleich die endgültige politische Angliederung des Südens an Nanking. Damit ist eine wichtige Voraussetzung geschaffen auch für die machtvolle Entwicklung der Provinz Kuangtung [Guangdong]. In unmittelbarer Nähe des geschickt eingerichteten Fährhauses für die Fährdampfer von Hongkong steht in Kowloon der saubere Bahnhof in englischer, peinlicher und trockener Ordnung. Von hier fährt der moderne Schnellzug zweimal oder dreimal am Tage in drei Stunden nach Kanton und hält unterwegs nur an drei wichtigen Punkten. Er ist stets gut besetzt, in der dritten Klasse, zumal in den Lokalzügen, meist überfüllt, auf jedem Bahnhof herrscht ein dichtes Gewühl reiselustiger Chinesen, die zu ewigen Geschäften unermüdlich hin und her fahren. Auf englischem Gebiet ist alles zurückhaltender, kühler und disziplinierter, erst jenseits des Grenzflusses Schentschuan [Sham Shun Fluss oder Shenzhen-Fluss] im freien China wird es merklich ungezwungen und lebhaft. Besonders hier erfreuen auf den Bahnsteigen immer wieder die altvertrauten, köstlichen Bilder lässiger Buntheit, lärmende Händler, eifrige und geruhige Fahrgäste, flinke Träger, hockende Nichtstuer, alle, wenn nötig,



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Abb. 39: Die Bahnlinie zwischen Kanton und Hongkong.

geleitet oder mit leichter Hand gebändigt durch schmuck uniformierte Beamte und Polizisten von höflicher Bestimmtheit. Unter das sorglose, nach Belieben chinesisch oder europäisch gekleidete Volk mischen sich, als Eigenart der Provinz Kuangtung [Guangdong], die sauber hergerichteten, gemessenen Gestalten rundlicher HakkaFrauen in ihren langen Überröcken und mit den weiten, flatternden Tellerhüten. Sie haben ihre Lasten niedergestellt und warten geduldig, bis es Zeit ist zum Einsteigen. Der schöne Wagen erster Klasse fährt äußerst ruhig. In den Abteilen sind die Lederpolster geschützt durch weiße Schaudecken in gefälligen Mustern, sehr zweckmäßig in der glühenden Hitze im Oktober. Der rührige Diener bringt höflich Tee und Gebäck, etwa auch Speisen in das Abteil oder in den größeren, abgeteilten gemeinsamen Raum mit ansehnlichen Klubsesseln. Zu Beobachtungen ist genügend Gelegenheit. Einmal saß mir im Abteil gegenüber ein vornehmes junges Paar. Die sehr schöne, auf das liebenswürdigste gekleidete, doch zarte junge Frau vertrug das Reisen im Zuge offenbar sehr schlecht. Der Gatte umtat und pflegte sie mit allen erdenklichen Aufmerksamkeiten, in unendlicher Geduld, die sie in allem Weh dennoch durch gleiche Rücksicht vergalt. Selten sah ich feinere Fürsorge und zarteres Gefühl von beiden Seiten. Von der Grenze ab war jeder Wagen regelmäßig besetzt, auch von etlichen bewaffneten Soldaten, sie saßen still und aufmerksam an den Enden des Ganges. Die Fahrkarten wurden geprüft durch zwei Beamte, die ebenfalls von bewaffneten Soldaten begleitet waren. Man wurde daran erinnert, dass Unruhe im Lande herrschte, auch Anschläge sogar im Zug zu befürchten waren. Zu Beginn und Ende der Fahrt wurden

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die chinesischen Reisenden in Gepäck und Kleidung streng und genau auf Waffen untersucht, hierbei arbeiteten sogar die englischen mit den chinesischen Behörden Hand in Hand. Auch die sonst großzügige Zolluntersuchung in Kanton oder Kowloon richtete ihr Augenmerk vor allem auf Waffen. Jede Fahrt in China zu einem neuen oder auch schon bekannten Ort spannt das Herz immer wieder voll Erwartung nach ersehnten Aufschlüssen, nach geheimen Offenbarungen. Die einzigartige Beseelung der chinesischen Landschaft durch den Menschen in Boden und Bauten lässt uns auch heute noch selbst lange Reihen fast gleicher Bilder menschlicher Werke mit der gleichen Hingabe genießen, wie wir sie den Schöpfungen der Natur selbst entgegenbringen. Die Widersprüche im chinesischen Menschen und in seiner Gemeinschaft, sein fremdartiges, oft unbegreifliches Gehabe steigert nur unser Verlangen, die Harmonie zu erklären, die von ihm und seinen Werken ausstrahlt und uns selber durchdringt. Weit stärker wird unsere Sehnsucht nach seinem Begreifen des Undurchdringlichen gerade heute, wo der weltgeschichtliche Hintergrund einer neuen Zeit und die stürmische Umbildung des großen chinesischen Volkes das Rätsel seiner inneren Unerschütterlichkeit nur noch unlösbarer zu machen scheinen. Ein sicheres Mittel, die verschlungenen Fäden zu entwirren, ist der Wille, alle diese Dinge mit unbedingtem Wohlwollen und mit gerechter Würdigung auf sich wirken zu lassen, in ihnen die aufbauenden Kräfte zu ergründen und selbst scheinbar geringfügige Merkmale in Leben und Formen zu deuten im Sinne einer Erfüllung höchster menschlicher und völkischer Aufgaben. Wer sich in solcher Weise den neuen Eindrücken hingibt, für den wird auch die sonst tausendfach zurückgelegte und bekannte Fahrt auf der Bahnlinie nach Kanton ein immer neues Erlebnis. Schnell schwinden das moderne Getriebe des mächtigen Hafenortes Kowloon, seine starren und kalten wie europäischen Werkstätten, Straßenzüge und Häuser. Zwischen den ersten Tunneln öffnen sich noch einige Blicke auf gemischte Siedlungen um die alte chinesische Stadt Kowloon und auf die Häfen in Ost und West, dann aber sind wir hindurch, durch die höchste „Bergkette des Einhorn“ [Unicorn Ridge] und hinaus aus dem längsten Tunnel, ganz im Banne der großen Landschaft, der Berge, Täler und Meeresbuchten, die wir auf der Rundfahrt im Wagen erlebten. Von schnellen Windungen und wechselnden Höhen aus nehmen wird die fließenden Wandelbilder voll in uns auf. Gewaltiger erscheinen im zerklüfteten Bergland der Neun Drachen die hohen Gipfel und Kämme, anmutiger die alten Dörfer und Siedlungen vor ihren Hainen an den Rändern der wohlangebauten Täler bis in die letzten Falten engster Schluchten, kühner die Blicke über die weite, verzauberte Inlandbucht mit ihren wunderlichen Uferlinien und zerrissenen Felsgebilden. Oben, hart am Klippenrand, führt die Strecke durch ausgesprengte Felsentore, senkt sich wieder ins Uferland, bleibt nun in den freundlichen Feldern zwischen Dörfern, Hügeln und Bergen. Kurz vor der Grenze müssen wir noch einige letzten befremdende Landhäuser auf den nahen Gipfeln über uns ergehen lassen, dann erreicht der Zug jenseits des Flusses den ersten chinesischen Ort Schentschuan [Shenzhen].



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Das Bild der Landschaft hier im chinesischen Hoheitsgebiet behält für Stunden das Gepräge, das sich im Norden des englischen Pachtgebietes vorbereitet hatte. Man fährt durchweg auf ebener Strecke, doch ständig auch in nächster Nähe, begleitet von Höhen, den Ausläufern ferner Bergzüge, die meist als getrennte Gruppen emporsteigen aus der Ebene. Gleich östlich ist es die mächtige Kette des Da tung schan [Wutong Shan], genannt nach dem chinesischen Kaiserbaum Wu tung shu [Wutong Shu – Chinesischer Parasolbaum], berühmt wegen seines schönen Holzes. Er ähnelt mit seinen schönen Blüten der Catalpa [Trompetenbaum] und wurde oft verherrlicht von Malern und Dichtern. Jene Kette ist aber selber nur Ausläufer vom Gebirge des Riesenvogels Da peng schan, das weit im Osten jenseits der breiten Meeresbucht und dem Orte gleichen Namens emporragt und einen auffallenden Richtpunkt der Küste bildet [Dapeng Peninsula oder Dapengbandao]. Im Nordosten der Bahn, in der Richtung auf die große Kreisstadt Huitschou [Huizhou] erscheinen bald dessen berühmte südliche Berge, die im Westen von der Stadt am Ostfluss [Dong Jiang] den viel besuchten und gepriesenen Westsee einschließen und viele alte Erinnerungen bergen.80 Huitschou [Huizhou] ist ruhmvoll verknüpft auch mit der neusten Geschichte. Es war die Hochburg des verräterischen Generals Tschen Schiung-ming [Chen Jiongming, 1878–1933], der sich gegen Sun Yat-sen in offener Feindschaft aufgelehnt hatte und nach dessen Tode die Macht im Süden an sich reißen wollte. Da erstürmte am 14. Oktober 1925 der junge General Chiang Kaishek in umfassendem blutigem Großangriff die ummauerte Stadt, zwang den Gegner außer Landes zu gehen, und legte durch diese Tat den Grund zur Einigung Chinas unter der heutigen Nationalregierung. Ein riesiges Panoramabild des Malers Tann (?) auf dem Purpurberg bei Nanking stellt jene Schlacht um Huitschou [Huizhou] meisterhaft dar. Auch im Westen der Bahnlinie, gegen die Mündungsbucht des Perlflusses, ist das Land durchsetzt mit höheren Bergzügen. Doch entlang der Strecken selbst gibt es nur bescheidene Höhen, in weichen Formen sind sie einzeln zusammengeschlossen, dicht bewachsen, zuweilen selbst mit höherem Wald. Zwischen diese Hügelberge spannen sich die ebenen Flächen, hochkultiviert mit reichsten Erträgen, freundlich gestaltet durch Umrahmung mit Hainen oder Gruppen von Bäumen, die in Kraft und Fülle strotzen, der Landschaft Ernst und Anmut geben und die Siedlungen schützend umfangen. Hier gibt es die wuchtigen oder anmutigen Pflanzungen von Nussbäumen, Banyan oder Kampferbäumen, dort die Liki [Litschi], die Banane und Ananas, auch Haine von hellem Bambus oder Flächen mit eigenwilligem Zuckerrohr, die regelmäßigen, gepflegten Felder, meist mit drei oder gar vier Ernten im Jahr, stehen weithin in Reis und in den verschiedenen Gemüsepflanzen, die in hundert Arten unter diesem gesegneten Himmel gezogen werden. Und überall glitzert das Wasser in Teichen, Becken oder Gräben. Denn auch dieses Land gehört zum großen Delta zwischen den

80 Den Westsee plante während der Song-Dynastie (960–1276) der Poet Su Dongpo (1037–1101). Er hat die doppelte Größe zum berühmteren Westsee in Hangzhou, der ebenfalls auf Su Dongpo zurückgeht.

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vielverzweigten Flussarmen, die dem ganzen Gebiet unerschöpfliche Fruchtbarkeit verleihen. In der natürlichen Landschaft mögen ähnlich große Formen und sogar Bilder von Baumkultur und Feldbestellung sich auch an anderen Gegenden, selbst anderen Ländern annähernd wiederholen. Wirklich entscheidend für unseren besonderen Eindruck bleibt immer das, was die Hand des Menschen schuf in den Bauanlagen für seine Zwecke, zumal für Wohnen und Wirtschaft und für Pflege ehrfürchtiger Gesinnung. Nach hunderten zählen die Siedlungen entlang der Bahn nach Kanton, tausende ähnliche mögen die Felderflächen hinter den Bergen umgeben. Jedes Bild scheint neu, wechselnd in den Gruppen der weißen Häuser, der dunklen Bäume und der Berglinien, und doch fühlt man die Wiederholung des Gleichen, die restlose Einheit von Leben und Gestaltung. In Wirklichkeit ändert sich der Stil selbst ähnlicher Bauart leise, fast unmerklich mit jeder Stunde, er hat schon vor Kanton ein weit anderes Gesicht als zu Beginn der Fahrt. Diese Unterschiede reichen über die ganze Provinz, stärker über das Reich. Doch fast überall bleibt als Grundlage die Forderung nach engstem Zusammenschluss der Menschen in Familien oder Gemeinwesen. Selbst eine neue Siedlung entsteht sofort mit mehreren Gehöften, und ein Turm muss dabei sein. Türme sind ein auffallendes Kennzeichen für äußerst zahlreiche Wohnanlagen in der ganzen Provinz, doch auch in den benachbarten Provinzen, vor allem Kiangsi [Jiangxi]. Im übrigen China, besonders im Norden, werden ähnliche Türme auch nicht selten errichtet, doch bei weitem nicht so durchgängig wie im Süden. Hier gehören sie fast zum Bilde der ländlichen, vielfach auch der städtischen alten Bauart und gehen sogar in die Gestalt der Pagoden über, die für sich wieder eine andere Bestimmung haben. Die Türme der Gehöfte und Dörfer sind gewöhnlich quadratisch, weiß getüncht, meist flach abgedeckt mit zugänglicher Plattform und geteilt in Geschosse mit Öffnungen. Sie dienen als Schatzkammer, als Pfandkammer, vornehmlich aber in unruhigen Zeiten zur Verteidigung gegen Räuber, Aufständische oder feindliche Soldaten. Auch das Gebiet am Ostfluss bis nach Swetou [eigentlich Swatow, heute Shantou] am Meere hat noch in jüngster Zeit diese Nöte zur Genüge kennen gelernt in den Kämpfen der Generale unter einander und gegen die Roten. Wie bei den monumentalen und schön ausgebauten Befestigungstoren der Städte entwickelte der architektonische und malerische Sinn der Chinesen jene Türme, die in erster Linie Bauten und Wahrzeichen der Verteidigung waren, zugleich zu liebenswürdigen Schmuckstücken für das Land. Wohlgeordnete gelegentliche Zinnen um die oberen Plattformen, gefällige Gesimse, doch große Zurückhaltung in Zierformen, lassen sie höchst angenehm wirken. Die Ortschaften entlang der Bahn zeigen, je nach Art und Größe, die verschiedensten Gruppen solcher Türme, zwei nebeneinander in getrennten Gehöften, zahlreichere in ausgedehnten Siedlungen, in großen Plätzen betonen sechs oder gar acht die Hauptpunkte und beherrschen das architektonische Bilde selbst über den seltenen Hochbauten mit Obergeschossen. Sonst gibt es hier fast durchweg nur eingeschossige Reihenhäuser oder dicht aneinander gereihte



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Abb. 40: Der Berg der Weißen Wolke nördlich von Kanton mit einer großen Nekropole. (© Boerschmann 1909, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek).

niedrige Gehöfte. Die langen weißen Reihen dieser gleichmäßigen und niedrigen Häuser bringen die enge Verbundenheit der Menschen unter sich und mit dem Erdboden deutlich zum Ausdruck. Nur einige bevorzugte Teile der Gebäude zeigen leise erhöhte Dächer, oder es hebt sich aus der Reihe die betonte Front eines Familientempels heraus und verleiht der Gesamtheit eine würdige Haltung. Ähnliche Grundzüge geben auch dem Gebiet Kowloon noch seine Eigenart. Die Anordnung der einzelnen Siedlungen ist meist von großem Reiz. Ein Beispiel in der Nähe von Dschang mu tou [Zhangmutou?], etwa in der Mitte zwischen Sheklung [Shilong] und Schen tschuan [Shenzhen?], ist besonders eindringlich. Gegen die Bahnlinie öffnet sich ein Halbrund von Höhen mit einer Spanne wohl von tausend Schritten und umschließt weite ebene Felderflächen. Deren Ränder sind im Kreise am Fuß der Berge besetzt durch drei in sich eng geschlossene, doch von einander getrennte, lange Familiendörfer mit Türmen, halb verhüllt in dichtem Baumwuchs, der sich auch auf die unteren Hänge der umkränzenden Berge hinaufzieht. Auf diesen Hängen sind auch die Gräber angeordnet, zahlreiche Hügel und einzelne große Grabanlagen. In der Ferne überragen hohe Bergketten das liebliche Bild. So sehen wir vom Bereich des Ostflusses aus den entlegenen geheiligten Losoushan [Luofu Shan], das berühmteste und höchste Bergmassiv der Provinz, und kurz vor Kanton, wo nach

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Norden zu wieder die gleichen Bilder sich darbieten von Dorf und Türmen, Feld und Hügelzug, ist es der Gräberberg der Weißen Wolken, Bai yün schan [Baiyun Shan], der von hohem Kamme aus mit einem Ausläufer sogar in den Norden der Hauptstadt selbst hineinreicht. Beide bestimmen weithin die große Haltung der Landschaft. Vorher aber fahren wir noch einmal durch eine breite Ebene quer über die Hauptadern des mächtigen Ostflusses Dungdyiang [Dong Jiang], der von der Kreisstadt Huitschou [Huizhou] herkommt, hier ein eigenes Delta bildet und sich dann mit vielen Armen in den Perlfluss ergießt. Seine Verzweigung beginnt etwa bei dem bedeutenden Handelsplatz Sheklung [Shilong], einem der sprichwörtlichen vier großen Marktorte der Provinz, unserem letzten Haltepunkt, eine Stunde vor Kanton. Mehrere Pagoden auch auf weiten Höhen schützen das Feng Shui dieses ausgezeichneten Bereiches. Der Schnellzug donnert über die zweihundertfünfzig Meter der ersten langen Stahlbrücke, hält wenige Minuten auf dem Bahnhof, weit querab von der breit gelagerten Stadt, und kreuzt danach die nächsten zwei Flussarme. Jetzt begleiten wir die nördliche Hauptader des Ostflusses und dann den Perlfluss auf ihren Nordseiten. Nach Süden breitet sich die große Ebene in das Delta hinein, schön angebaut und

Abb. 41: Die Lotus Pagode am Perlfluss stammt aus der Ming Dynastie. (Unbekannter Fotograf, Sammlung Boerschmann, mit freundlicher Genehmigung Bodo Niemann, Berlin/picture perfect GbR).



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Abb. 42: Die Bahnstation in Kanton. (Unbekannter Fotograf, mit freundlicher Genehmigung, Sammlung Michael Kaempfe).

in höchstem Grade fruchtbar, im Norden folgt auf das gewellte Hügelland bald das lebhaft gegliederte Gebiet von Kanton. Hier lassen neue große Bauanlagen schon das Ausgreifen der Hauptstadt nach Osten erkennen. Alles steht im Schutze des riesigen Bai yün schan [Baiyun Shan], des Gräberberges der Weißen Wolken, der immer näher rückt, fast bis in die östliche Vorstadt hinein. Hier ist der Zielpunkt unserer Fahrt, der Bahnhof Da scha tou [Da-sha-tou], gegenüber der Inselspitze des Großen Sandes, nahe der südöstlichen Ecke und dem einstigen, jetzt verschwundenen südlichen Osttor des alten Kanton.81

Nach Kanton zu Schiff auf dem Perlfluss Das große Erleben ist die Fahrt auf dem Dampfer von Hongkong nach Kanton. Zwei Dampferlinien vermitteln den Verkehr mit großen, sehr schmucken und bequem eingerichteten Schiffen, die ständig zwei mal am Tage, Nacht und Tag acht Stunden, fahren und gefüllt sind mit chinesischen Passagieren in zweiter und dritter Klasse, in

81 Da-sha-tou (Großer Sand Kopf) bezeichnete eine heute nicht mehr existierende Flussinsel, die gegenüber dem Endbahnhof der Canton-Kowloon Railway lag.

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der ersten Klasse allerdings sehr ungleichmäßig besetzt mit Europäern und besseren Chinesen. Auf dem Nachtdampfer genießt man ...82 Alle jene nächtlichen, fast träumerischen Vorstellungen über unser Gebiet, das wir durchfahren, werden bei Tage Wirklichkeit und greifbar. Unser Tagesdampfer war dieses Mal die Kinschan, so genannt nach dem buddhistischen Heiligtum des Goldenen Berges [Jin Shan] bei Tschinkiang [Zhenjiang] am Yangtze [Jangtse], unterhalb von Nanking. In der klaren Frühstunde liegt ihr weißer Leib noch fast an der weit vorschwingenden Zunge einer der Landungsmolen auf der Hongkongseite, im Gewühle der Fahrgäste, der Ladeboote und Ladearbeiter. Doch schnell ist die Trennung geschehen, das Schiff löst sich pünktlich um acht Uhr, durchquert geschickt die breite, stark belebte Hafenstraße, lässt das kleine Grüne Eiland [Green Island] jetzt zur Linken und hält Richtung Nordwest. Hinter uns wächst der gewaltige Peak in geschlossenem Umriss empor, um mit wachsendem Abstand mählich wieder zu schwinden, doch vor uns erstehen deutlicher die Klippen und Gipfel des Festlandes von Kowloon, der großen Insel Lantau und vorgelagerten kleineren Inseln. Zwischen ihnen führt die enge Straße hindurch, zuerst im Tor aller Zuflüsse Hsien tong men, dann im Tor der heftigen Wasser, Tji schui men [Kap Shui Mun]. Der Kurs geht hart vorbei am hochragenden Massiv des Castle Peak [Pui To Shan] mit seinem weithin sichtbaren Tempel für die gnadenreiche Gottheit des Meeres und der Schiffer [Tsing Shan Monastery], eine wahrhaft großartige Landschaftsmarke, umschlossen von drei Buchten, an der westlichen Nase des Pachtgebietes. Hinter dem Vorgebirge schneidet nach Osten in das bergige Inland tief hinein die Bucht Schen tschuan wan [Shenzhen Bay, Deep Bay oder Hau Hoi Wan], berühmt wegen ihres Fischreichtums. Sie ist nur flach und wird darum fälschlich von den Engländern bezeichnet als deep water bay, hat ihren Namen nur von dem Grenzfluss Schentschuan [Shenzhen-Fluss] zwischen dem Pachtgebiet und Kuangtung [Guangdong]. Nach Westen gleitet der Blick zwischen einigen vereinzelten, nahen Inseln über die unabsehbar breite Mündungsbucht des Kanton-Flusses. Im Südwesten weiß man Macau, nördlich davon erscheint, querab von uns, in feiner Linie die Bergküste der alten Halbinsel Hsiangschou [Xiangzhou], heute der Bereich des Kreises Tschung schan [Chung Shan], geheiligt als Heimat des Sun Yat-sen. Gerade als wir die größte jener nahen Inseln passieren, den fast 400 m hohen Berg von Lin ting, seit hunderten von Jahren bis heute berüchtigt als ein Mittelpunkt des Schmugglerwesens, steht dort drüben im Westen der Umriss der Insel Tji ao [Jinxingwan], unmittelbar bei den Bergen von Tong kia wan [Tangjiawan], wo ich später dem Minister Tong Schao yi [Tang Shaoyi] auf seinem Landsitz neben dem alten Familiendorf einen Besuch abstatten durfte. Unsere Kinschan machte gute Fahrt im klaren Wasser der weiten Bucht. Ein chinesischer Küstendampfer passiert, Reisedschunken und Fischerboote ziehen

82 Im Manuskript endet der Satz hier etwas unvermittelt.



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Abb. 43: Die SS Kinshan auf einer Postkarte von 1921 aus einem Reiseführer der Zeit. (Mit freundlicher Genehmigung, Sammlung Michael Kaempfe).

ihrer Wege, einige dieser Boote machen sich zu schaffen an einer wohl über hundert Meter langen Wand aus Fischreusen und Netzen, die befestigt sind an eingeschlagenen Pfählen in einer Untiefe mitten im freien Wasser. Um zehn Uhr fünfundvierzig Minuten durchschneiden wir die scharfe Trennlinie zwischen der klaren Meeresflut und dem gelblich trüben Wasser, das dem Mündungsgebiet des Delta eigen ist. Der sachliche englische Kapitän und seine Offiziere gestatten Einblick in die Seekarten und erklären den Kurs, auch die Tiefenrinne, die sich bald verengt in der immer noch dreißig Kilometer breiten Wasserfläche. Der wunderbar klare Himmel des heißen Oktobers öffnet alle Fernen. Am Ostrande erkennt man oder weiß die zahlreichen dichten Siedlungen und Ortschaften, die bei der südlichen Kreisstadt Paoan [Bao’an]83 beginnen und aufeinander folgen entlang der Küste nach Norden. Dahinter steht das Bergland, es setzt sich weit ins Innere fort bis zu der Bahnlinie, die dort wohl 40 Kilometer vom Ufer entfernt läuft parallel mit dem Kurs der Dampfer. Vor uns aber, im Norden, unterscheiden wir bereits deutlich die merkwürdigen Berglinien von Ufer und Inseln, die sich von beiden Seiten her näher zusammenschließen.

83 Bao’an ist heute einer der Stadtteile von Shenzhen.

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Es ist das berühmte Tigertor Hu men, am besten bekannt unter dem portugiesischen Namen Bocca Tigris, die eigentliche Mündung der Deltaströme.84 Wir halten gerade auf das auffallendste Gebilde zu, die Große Tigerinsel, die in der Mitte der Fahrstraße schnell aus dem Horizont emporwächst, passieren aber zuerst zu unserer Rechten die Insel Tschüan yi [vermutlich die Insel Chuenpee]. Hier liegt der große Handelsort Taiying hsü [Humen Town], wo die besten und beliebtesten Strohgeflechte der Provinz Kuangtung [Guangdong] hergestellt werden, also die Auslese aus dem Schönsten. Die Insel erwarb aber vor allem ihren schmerzlichen Ruhm als Schauplatz der Ereignisse, die den Opiumkrieg von 1840/42 veranlassten und eröffneten. Das wurde der Anfang aller folgenden, verhängnisvollen Konflikte Chinas mit den europäischen Mächten in den verflossenen, fast genau hundert Jahren. Es war am dritten Juni 1839, als auf der Insel Tschüan yi [Humen] der kaiserliche chinesische Opiumkommissar Li Tsö shu [Lin Zexu 1785–1850] die 20.291 Kisten Opium vernichten ließ, die der englische Beauftragte, Kapitän Elliot, unter Zwang hatte ausliefern müssen. Und am dritten November des gleichen Jahres führten englische Kriegsschiffe vor der gleichen Insel die ersten Kriegshandlungen aus, indem sie dort eine Anzahl chinesischer Kriegsdschunken vernichteten. Danach nahmen die Dinge ihren Lauf. Im nächsten Sommer begann der eigentliche Krieg mit einer strengen Blockade des Kanton-Flusses vor der Insel Tschüan yi [Humen]. Zu Beginn 1841 wurden die Sperrforts der Tigerstraße in Trümmer gelegt, im Mai Kanton selbst eingeschlossen, doch in letzter Stunde gerade noch verschont. Der weitere Verlauf des Krieges am Yangtze [Jangtse] führte zu Demütigung Chinas im Frieden von Nanking am 29. August 1842, auch Kanton wurde Vertragshafen. Die Straße durch das Tigertor, der südliche und leichtere Zugang zu Kanton, hat auch allen anderen Wechsel in der reichen Geschichte des südlichen China wohl am unmittelbarsten erlebt, in friedlichem Verkehr, im Krieg und Räuberei. So mag es schon gewesen sein in grauer Vorzeit bei den alten Eingeborenen und ihren Staaten, danach, bei entstehen des chinesischen Reiches und der ersten losen Angliederung des Südens unter den Tschou [Zhou-Dynastie, etwa 1100–256 v.Chr.], unter Tsin Shif Huangdi85 und den Han [Han-Dynastie, 206 v.Chr.–220 n.Chr.]. Doch darüber gibt es kaum nur schwache Kunde. Spätere Berichte lassen schon deutlichere Vorstellung zu über den lebhaften Seeverkehr der reichen Provinz und ihrer Hauptstadt, über den indischen Handel, das auftreten der Araber, auch buddhistischer Pilger zwischen China und Indien. Unter den Kriegszügen über See, die stets auch das Tigertor berührten, sind bekannt die Unternehmungen der Tang [Tang-Dynastie, 618–907] bis

84 Bocca Tigris, Bogue oder Humen (pinyin: Humen, wörtlich: “Tigertor”) ist eine Meerenge im Perlflussdelta. Sie wird an der östlichen Seite von den Inseln Chuenpee und Anunghoy, und an der Westseite von Tycocktow begrenzt. 85 Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.), Kaiser Shihuangdi, Regierungszeit 221–210 v. Chr.



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Abb. 44: Die Kiu-Kiu Brücke in Kanton. Im Hintergrund sind die Lüftungskamine mit den einfachen Klappen zu erkennen, wie sie sonst in arabischen Ländern verwendet wurden. (Unbekannter Fotograf, mit freundlicher Genehmigung, Sammlung Michael Kaempfe).

nach Annam86, am berühmtesten wurde die Seeschlacht, in der die Mongolen in der Mündung des Westflusses im Jahre 1279/1280 die letzten Reste der Sung [Song–Dynastie, 960–1279] vernichteten. In den langwierigen Kämpfen der Mandschu gegen die Reste der Ming [Ming–Dynastie, 1368–1644] in den Südprovinzen spielte bis 1662 die Seeherrschaft des Koyinga [Koxinga oder Zheng Chenggong, 1624–1663], den schließlich beide Parteien für sich in Anspruch nahmen, eine bedeutsame Rolle und wirkte sich bis Kanton aus. Damals waren auch die schweren Auseinandersetzungen mit den europäischen Nationen schon seit langem in vollem Gange, sie liefen noch in unseren Tagen, zusammen mit den Wirren der jüngsten Revolution, auf und ab durch diese Tigerstraße, die Schlagader aller großen Geschehnisse. Doch um diese Mittagsstunde, bei mäßiger Brise in heißer Sonne, ist alles still, nur wenig Boote ringsum, man genießt vom Bord aus das schöne Bild einer echt chinesischen Landschaft von Bergen und Wasser. Mitten in der Fahrstraße, die immer noch etliche Kilometer breit ist, ziehen hart an unserer Linken vorbei die zwei ersten Tigerinseln, ganz flache Eilande, rechts türmt sich das ragende Ufermassiv mit dünn

86 Eine Region im heutigen Vietnam.

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bewaldeten Kuppen, gegenüber im Westen sind es niedrige, bewegte Ketten. Nur in den Strichen zwischen Wasser und Land lassen um uns feine, weiße Linien aus frischem Beton die neuen starken Befestigungen ahnen, die auf den Höhen angelegt, doch kaum irgendwo erkennbar sind. Jetzt, zur Linken, gleitet die Große Tigerinsel vorüber, Da Hu dao, ein mächtig und breit gelagertes, ganz nacktes Felsmassiv im verbreiterten Strome. Die gerundeten Kuppen quellen aus einander hervor und gehen doch zugleich in einander über, man gewahrt weder Anfang noch Ende. So schufen chinesische Künstler ihren kauernden, fleischigen Tiger aus Stein oder Jade und brachten gerade durch weiche Formen die unberechenbare Wildheit verhaltener Stärke zum unheimlichen Ausdruck. Sogleich nördlich hinter dieser geschichtlichen Wasserpforte des Tigertores ändert sich das Bild. Zur Rechten im Osten verschwinden die Berge völlig, an ihre Stelle tritt eine unübersehbare, völlig ebene Niederung aus Wasserläufen und Flachlandstücken, die zu schwimmen scheinen. Selbst Siedlungen sind kaum bemerkbar, einige verbergen sich hinter zerstreuten, fernen Baumgruppen. Es ist das weite Delta des Ostflusses, der von Huitschou [Huizhou] herkommt und sich bei Sheklung [Shilong] teilt. Wir fahren in der Mitte des Perlflusses, der an dieser Stelle noch zweitausend Meter breit ist und den Namen Löwensee, Schif tze yang [Shizi Yang] führt, hier bereits auf der Grenze zwischen dem alten östlichen Verwaltungsbezirk von Kanton, Pan yü [Panyu], und dem weiter östlich jenseits des Perlflusse sich anschließenden Kreisbezirk Dung kuan [Dongguan]. Dieser Kreis besteht in seinem nordwestlichen Teile völlig aus jenem aufgelösten Inselland, es reicht bis zu dem nördlichen Arme des unteren Ostflusses und bis Sheklung [Shilong] selber. Das übrige Gebiet des Kreises ist Bergland, weiter im Osten führt durch dieses die Bahnlinie von Kowloon hindurch, im Westen aber entsendet es seine Ausläufer bis an das Delta und an das Tigertor, dessen Ostberge selber noch dazu gehören mitsamt ihrem Ort Hu men tscha [Humen Town] und einigen weiteren Dörfern am Fuß der letzten Hügel. Nördlich davor breitet sich das endlose Gewirr aus schwimmenden Inselstücken, die zum großen Teile nur mit Wassergräsern und Schilf bewachsen sind und nach denen die Kreisstadt Dung kuan [Dongguan] selber ihren Namen erhielt: Wassergräser am Ostfluss. So unzugänglich ist dieses Gebiet von der eigenen Kreisstadt her, dass die vier einzigen kleinen Siedlungen, die versteckt inmitten des Inselgewirrs liegen, noch zur Verwaltung des westlichen Kreises Pan yü [Panyu] an dessen Außengebiete geschlagen wurden, trotzdem sie bis dreizehn Kilometer von seiner Grenze entfernt sind. Sie dürften von Reisenden kaum je besucht sein und willkommenste Schlupfwinkel bilden für die Deltapiraten. Auch auf der Westseite gibt es in dem Löwensee selber noch mehrere solcher Sandinseln, einige bis 2000 Meter breit und mit Wassergräsern bedeckt, mit den Gezeiten abwechselnd frei oder überflutet. Die gesamte Breite der Durchfahrt wächst hier entsprechend bis auf sechs Kilometer. Selbst die Uferverlandungen des großen westlichen Insellandes zeigen die gleiche Beschaffenheit, sie erreichen abermals Breiten bis zu 3000 Meter. An diesen Stellen ist die Strömung in der Fahrrinne nur



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schwach. Die Gefahr der Barrenbildung darum besonders groß. Die dichtbevölkerte und reiche Insel, eher schon als Festland zu bezeichnen, etwa 12 mal 25 Kilometer groß, ist ein geschlossenes Gebiet, von Wasserläufen nur im Westen zerteilt und für die Verwaltung zwei verschiedenen Unterbezirken des Kreises zugeordnet. Ihr Inneres ist stark durchsetzt von Hügelland und Höhen. Zwei Pagoden auf weit von einander entfernten Gipfeln krönen die Landschaft und begleiten uns wandelnd, während wir nun den Hauptarm des Perlflusses verlassen und die Rundung der Insel nach Westen umfahren, in die südliche Fahrrinne hinein. Hier ziehen sich einige Bauten die Hänge hinauf bis zum Leuchtturm auf der beherrschenden Kuppe, in den Niederungen und nahe den Ufern reihen sich jetzt freundliche Siedlungen und Dörfer aneinander. Schmucke Besitzungen, mit Gartenhäusern und Familientempeln liegen dicht am Uferrand an kleinen Buchten und lugen hervor aus dunklen Hainen alter Bäume. Der Bootsverkehr ist ganz gering. Doch erhaschen wir einen Blick auf den Hafen von Whampoa, wo im Perlfluss neben einem Wald von Dschunkenmasten eine kleine Flotte chinesischer Kreuzer ankert. In dieser Zeit politischer Hochspannung gegen die Nankingregierung waren sie aus der Provinz Schantung [Shandong], von Tsingtau [Qingdao] her, geflohen und hatten sich der Südregierung in Kanton zur Verfügung gestellt. Whampoa ist der kommende Großhafen von Kanton, wenn der heute noch zu flache Oberarm des Perlflusses zwischen jenen beiden Plätzen erst fertig ausgebaut sein wird. Jetzt dient er dem lebhaften Reiseverkehr mit Dschunken. Unsere Straße der großen Dampfer führt uns durch den tiefen Südkanal, der sich wechselnd verengt und verbreitert, rund um die große Insel Honam [heute Stadtbezirk Haizhu].87 Diese erstreckt sich südlich vom Perlfluss bis vor Kanton selbst, ist aber gerade hier im Osten auch stark zerlegt in viele Unterinseln, von denen Whampoa mit seinem Ort gleichen Namens die äußerste Ostspitze bildet. Etwas westlich davon ragt die schlanke Stockwerkspagode von Pa dschou [Pazhou Pagode]88 empor und bleibt für lange das Wahrzeichen der ganzen Gegend. Im Süden des Gebietes der Insel Honam sind wir wieder inmitten von Scharen schwimmender Inseln aus Sand, Acker und Wasserfeldern, aus Gras und Schilf. Wieder geht der Blick endlos nach Westen und Norden, über Wasser und glatte Flächen und vereinzelte Siedlungen. Die Landteile (die in dieser gleicher Art und in allen Größen das weite Delta bilden am Westfluss, Perlfluss und Ostfluss) vielfach mit Deichen versehen gegen Hochwasser, sind bekannt als äußerst fruchtbar in der sorgfältigen Pflege der fleißigen Bevölkerung. Jeder Mann oder Frau, ist meist alles zugleich, Feldbauer, Pflanzer von Baum, Schilf und Rohr, Mattenflechter, Händler, Entenzüchter, Fischer und Schiffer, mancher nach Bedarf Pirat. Jene Inselfelder, Dschou tien [Zhou Tian], nennt man auch Sandfelder, Scha tien [Sha Tian], und meint hier damit angeschwemmtes oder künstlich aufgeworfenes und bearbeitetes Land.

87 Honam (Pinyin He-nan), heißt „südlich des Flusses“. 88 Die Pazhou Pagode wurde zwischen 1597 und 1600 erbaut.

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Wegen dessen großer Fruchtbarkeit ist der immer wiederkehrende Name Sandfeld ein ehrenvoller Begriff geworden als Eigenart dieses Bereiches. Besondere Abgaben aus den reichen Erträgnissen der Besitzer wurden in den letzten Jahrzehnten abgetrennt vom allgemeinen öffentlichen Haushalt und ausschließlich verwendet zu Einrichtung und Unterhalt von Volksschulen, die nach Möglichkeit dem ganzen Volk kostenlos zur Verfügung stehen sollen. Zu unserer Linken auf der großen Südinsel hebt sich das vielgestaltige Hügelland mit zahllosen Ortschaften, doch auch zur Rechten auf der Insel Honam stehen, weiter nach Norden vereinzelte Kuppen und in der Ferne, jenseits des Perlflusses ragen Berggipfel empor über das unabsehbare Flachland. Der Geologe deutet diese Bergspitzen auf abgesunkene Gebirge, die später von den Ablagerungen der Flüsse zugeschwemmt wurden, die Arbeit der Menschen schuf dann das heutige Bild an geregelten Wasserläufen und flachen Inseln. Gewiss bemerkt man noch immer an zahlreichen Stellen solche lebendigen Verbesserungen an den Ufern, Landstücke werden vereinigt und aufgehöht, zumal in und um Kanton füllt man Wasserläufe und wandelt sie in Land. Doch lassen die Berichte seit geschichtlicher Zeit kaum eine Veränderung im Großen erkennen. Um die chinesische Kultur im Delta zu verstehen, darf man für mehr als die letzten 3000 Jahre im wesentlichen eine Beharrung des Zustandes annehmen, wie er heute erscheint und braucht jene Theorie, das Absinken in einer geologischen Vergangenheit, nicht in Rechnung zu stellen. Bereits um die Zeit um 300 v.Chr., in die man das erste Eindringen der Chinesen in den Süden setzt, wird das große Bild der Landschaft mit Wasser, Inseln, Ebenen und Bergen fast genau so gewesen sein, wie wir es heute sehen. Schon im Augenblick, als die Kinschan in den Südkanal bog, waren uns über allen Fernen, im Westen, als das große Wahrzeichen der Stadt Kanton selber erschienen, die Weißen Wolkenberge, Bai yün schan [Baiyun Shan]. Jetzt stehen sie im Nordwest. Zuerst wie ein gehauchter Umriss, dann immer deutlicher wandert das Massiv über die gleitenden Felder und Wasser und gibt anfangs still, dann unwiderstehlich und eindringlich das Leitmotiv für die Landschaft. Keine Spur der Stadt ist sichtbar, auch nicht, als jetzt zu unserer Rechten die Pagode des Roten Felsens, Tschi gang ta [Chigang Pagode]89 ihre Wirkung beginnt. Jenseits der weiten Gefilde der Insel Honam steht sie neben einem Hügel des Perlflusses und wandert nun ebenfalls vor unseren Augen mit der Fahrt. Sie bildet mit der Pagode bei Whampoa [Pazhou Pagode] ein Paar religiöser, glückverheißender Feng-shui-Türme, die in Südost und weiter im Osten von Kanton schon vor hunderten an Jahren zu Ende der Ming-Dynastie erbaut wurden und seitdem die Geschicke der Stadt günstig beeinflussten. Wirklich treten

89 Die Chigang Pagode wurde 1619 als Feng Shui Turm auf oktogonalem Grundriss aus rotem Sandstein erbaut und ist 57 Meter hoch. In seinem Buch Pagoden von 1931 transkribierte er den Namen als „Tschi kang ta, Pagode des roten Felsenhügels“. Nach seinen dortigen Erkenntnissen entstand die Pagode zwischen 1621 und 1628. Boerschmann, 1931: S. 188/189.



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die schlanken Türme, die etwa sieben und dreizehn Kilometer vom Inneren der Stadt entfernt stehen, mit jenem Bergzug der Weißen Wolken und mit der Pagode in der Stadt [Pagode des Tempels der Sechs Banyanbäume, Blumenpagode] in eine überaus günstige Wechselwirkung und verliehen besonders früher dem Bilde der Landschaft ein betontes, doch wohltuendes Gleichmaß. Deutlich erkennt man das Massiv jener Weißen Wolkenberge als den Ausläufer fernster Bergketten im Inneren des Landes, weit im Nordosten vor der Stadt. Und nun, während die Kinschan weiterrauscht in der leicht gewundenen breiten Fahrrinne zwischen neuen flachen Inseln, unterscheidet man auf den Hängen und Kuppen der Weißen Wolkenberge zahllose weiße Punkte und Striche und gebogene Linien, es sind die Millionen von Grabmonumenten auf jenem Gräberberg, in dessen Hut und Schutz die Stadt erbaut wurde und seit tausenden Jahren sicher liegt. Jetzt löst sich als letztes Glied jener Kette, aus den höheren Bergzügen ein vorgelagerter Berg, der bereits in der Stadt liegt und sie im Norden abschließt. Es ist der Kuan yin schan, Berg der Göttin der Barmherzigkeit [heute im Yuexiu Park gelegen]. Der alte Turmbau von fünf Geschossen Wu tseng lou [ZhenhaiTurm] krönt wuchtig den Kamm. Daneben aber leuchtet schlank und weiß das Wahrzeichen der neuen Zeit, der Gedenkpfeiler, der soeben vollendet wurde zu Ehren des Sun Yat-sen. Sieghaft behauptet sich der feine Strich des ragenden Denkmals in der großen Landschaft mit ihren Pagoden. (Siehe Abb. 9). Schnell gewinnt alles deutlichere Formen, doch die innere Einheit des geschlossenen Gesamtbildes schwindet mit der Fülle neuer und vielfältiger Bauten, die immer näher und ständig neu aus dem Boden hervorwachsen, den Blick über das Ganze mindern und ihn bald völlig nehmen. Schon tauchen die Hochbauten von Kanton selbst auf, doch immer wieder schieben sich zwischen alles Fabriken mit Schornsteinen, die hohen Gebäude und Pfandtürme der dicht besiedelten Vorstadt auf Honam. Sie verdecken bald völlig die alten Pagoden innerhalb von Kanton, einst die wirkungsvollen örtlichen Richtpunkte. Inzwischen erscheint zuweilen wieder und immer deutlicher der Umriss des Bai yün schan [Baiyun Shan]. Wir laufen vorbei an Werften, Kais und Liegestellen für Dampfer und Boote aller Größen, geräuschvolle Hafenarbeiter und lebhafter Verkehr zu Wasser und Land spannen uns ein in das moderne Getriebe. Links zieht nah die altvertraute Berlin Mission vorbei, mit Kirche und stattlichen Gebäuden in dichtem Hain auch aus uralten Banyanen [Banyanbäumen]. Dann eine letzte Wendung wieder nach Osten und der mächtige Kanton-Fluss, der Perlfluss, öffnet sich in überwältigender Fülle. Drüben bleibt Shameen [Shamian], die alte abgesonderte Fremdenniederlassung auf der alten vorgelagerten Sandinsel, der einzige stille, verträumte Platz. Wie verloren liegt er abseits, doch der große Fluss ist wie ein Strudel aus Lärm und Bewegung, von unzähligen Booten und Dschunken, Barkassen und Dampfern. Sie eilen auf und nieder unter endlosem schrillen Gekreische der Dampfpfeifen und Sirenen. Doch unsere Kinschan steuert geschickt und lautlos hindurch, macht vor den mächtigen Steinpalästen der neuen Uferstraße ruhig und sicher eine elegante, knappe Volldrehung gegen den Strom und liegt danach in einer Reihe mit anderen großen Dampfern, mächtigen Reisedschunken und Booten

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aller Art, umschwärmt von zahllosen, ankernden und flüchtenden Sampans, Punkt drei Uhr an der wohlausgebauten Kaimauer.

Wiedersehen mit Kanton Am 29. September 1933 betrat ich nach einundzwanzig Jahren wiederum chinesischen Boden an der Liegestelle des Dampfers in Kanton. Im Januar 1909 war es der Endpunkt meiner vieljährlichen Reise gewesen, die mich von Peking über den fernen Westen und danach vom Yangtze [Jangtse] nach Süden durch die Provinz Kuangsi [Guangxi] in beschwerlichen Fahrten über Land und auf Flüssen zur Metropole des Südens geführt hatten.90 Damals schon bildete Kanton einen unbestreitbaren Höhepunkt altchinesischer Städtebilder, die in jenen letzten Jahren der kaiserlichen Mandschuzeit [Qing-Dynastie, 1644–1911] dem ausdauernden Reisenden durch einzelne Provinzen in langer Reihe vorübergezogen waren. Es zeichnete sich aus vor den übrigen Städten, die mit einander noch eine gesteigerte innere Lebenskraft, die sich wie hochgespannter Wechselstrom schnell auch den Fremden mitteilte, so fern und mit wie geringem Verständnis er im übrigen und zu jener Zeit dem wahren chinesischen Leben noch gegenüberstehen musste. Im November 1908 hatten wir auf dem oberen Yangtze [Jangtse] in Szechuan [Sichuan] an Bord eines deutschen Flusskanonenbootes die Nachricht erhalten vom Tode des Kaisers und der Kaiserin-Mutter, ohne die Tragweite dieser Ereignisse zu ahnen.91 Hier in Kanton hatten uns dann nur zwei kurze Jahre getrennt vom Ausbruch der Revolution 1911, an deren Vorbereitung und Verlauf diese Stadt durch Sun Yat-sen und seine nächsten Anhänger so hervorragenden Anteil haben sollte. Nun nahte mit dem 10. Oktober schon der 22. Jahrestag der Revolution, und in wenigen Tagen erleben wir seine Feier hier, wo die führenden Chinesen wie das Volk der Provinz Kuangtung [Guangdong] Gedanken und Willen zur Gestaltung einer neuen Zeit immer noch in erster Linie für sich in Anspruch nehmen. Zugleich aber sollte Kanton, diese Geburtsstätte des Neuen China, für mich dieses Mal der Punkt werden, von dem ich ausgehen und in stetigem Vorwärts durch alle Breiten bis hinauf nach Peking, dem alten Nordpol des Reiches ein Bild erhalten wollte von Sinn und Ziel der heutigen Entwicklung im größten Volk der Erde. Grund genug, um die eigene Einstellung genau zu prüfen. China ist seit Beginn des Weltkrieges im allgemeinen Aufbruch der Völker und mit den übrigen Ländern durch alle Höllen und nur wenig Himmel gegangen, die das Geschick dem Erdball bescherte. Darüber hinaus hat es noch seine besonderen Nöte und Widersprüche. Die große Frage war: wie würde Kanton, die führende Stadt Südchinas, sich darbieten jetzt, nach so entscheidendem Erleben auf beiden Seiten?

90 Siehe dazu Kögel, 2015. 91 Siehe Boerschmann, April 2006: S. 3–6; Sept. 2006: S. 6–9.



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Abb. 45: Das Kanton während der Qing-Dynastie mit Stadtmauer und hervorgehobenen religiösen Bauten. Den Plan hat Chen Kuen Lee in den 1940er-Jahren für seine (unvollendete) Dissertation bei Boerschmann gezeichnet. (Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Chen-Kuen-Lee-Archiv, Lee-103 Pl. 3).

Auch unser Standpunkt ist längst nicht mehr der gleiche wie vor Jahrzehnten. Alte Chinaresidenten und wirkliche Kenner prophezeiten Schaudervolles, andere waren voller Bewunderung, gebildete Chinesen lobten mit Stolz das neue Antlitz von Kanton. Es war mir klar, dass bei der Neuordnung der meisten Dinge vieles Alte hatte fallen müssen, darunter auch edle Baudenkmäler, die mir stets einen und zugleich erhabenen Ausdruck chinesischen Wesens bedeuteten. Doch darf man sich von vorneherein nicht verschließen den technischen Notwendigkeiten eines gewaltigen

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Abb. 46: Der Perlfluss in Kanton. (© Boerschmann 1933, PAB).

Umbruchs, der Opfer verlangt, wenn einem Volke neue Blüte werden soll. Stark war die Erwartung, in welcher Weise die Chinesen es verstanden hätten, Altes und Neues in Einklang zu bringen, ob ihre ersten Taten eine günstige Endlösung für die Zukunft versprächen. So groß die Spannung, so verblüffend war der erste Eindruck. Es bedurfte geraumer Zeit, um durch genaues Verstehen der Einzelheiten Ordnung zu bringen in die Fülle der widersetzlichen Erscheinungen und in die eigenen erregten Sinne. Doch schon die nächsten Tage brachten eine gewisse Klärung. Auf dieser ersten Fahrt nach Kanton hatte der Nachtdampfer Taischan uns hergeführt. Der Name ist entlehnt vom uralten Heiligen Berge des Ostens, der in der Provinz Schantung [Shandong] emporragt und in Gestalt einer ernsten Gottheit die Mächte der Nacht und der Unterwelt verkörpert. Aus jenem Gotte des Taischan [Tai Shan] ging aber zugleich hervor seine liebliche Enkelin, die als Göttin der schillernden Morgenröte und des jungen Tages [Bixia Yuanjun] ebenfalls auf dem Taischan [Tai Shan] ewig neu entspringt dem Hades und verehrt wird im zarten Kult einer gläubigen Hoffnung. So war auch unsere Taischan ein immer wiederkehrendes Sinnbild der Verheißung aus dem Dunkel des Vergangenen zur neu schaffenden Helle der Gegenwart. Wie ein Zeugnis dessen hatten sich gegen Ende der Fahrt wirklich im schnellen Frühlicht mit den Formen von Fluss, Hafen und Stadt um uns auch die Weißen Wolkenberge am Horizont in Nordost aus dem schwindenden Dämmer gelöst und standen zuweilen für kurze Strecken vor uns, schimmernd über dem Land.



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Nun legen wir, um sechs Uhr, am Kai an und waren in aller Frühe dennoch schon ganz umfangen von Lärm und Geschäftigkeit an Bord und Uferstraße. Mein Begleiter war wiederum, wie in Hongkong, mein Freund Wong Man-Fat, Diplomingenieur für Elektrotechnik an der Technischen Hochschule in Berlin. Er stammte aus dem Bereich von Kanton, war hier aufgewachsen, ein genauer Kenner des Landes und bester Helfer bei allen unseren gemeinsamen Arbeiten und Unternehmungen, Besuchen und Reisen in Stadt und Provinz. Kaum gelandet waren wir mitsamt dem großen Gepäck auch schon in der Obhut deutscher und chinesischer Freunde und Behörden, trotz der frühen Stunde. Die amtliche Fürsorge durch Berlin, unsere Gesandtschaft in Peiping92 und das Generalkonsulat in Kanton hatten vorzüglich gearbeitet, persönliche Beziehungen hatten geholfen. Da standen Vizekonsul Dr. Voskamp, als gebürtiger Tsingtauer [Qingdao] mit chinesischen Dingen seit je vertraut, ferner mein alter Freund aus Berlin, Diplom-Bauingenieur Yün Ming-Lung93, jetzt Baudirektor von Kanton nebst einigen anderen chinesischen Bekannten. Sie begrüßten uns herzlich, und es war sogleich zu erkennen, wie umsichtig und zweckmäßig man gemeinsam alles vorbereitet hatte für meinen Aufenthalt. Das war ein großer Unterschied gegen die alte Zeit, in der man zwar bei deutschen Behörden und Freunden ebenfalls bereitwillige Unterstützung stets gefunden hatte, indessen an chinesische amtliche Kreise viel schwerer oder gar nicht herangekommen war. Jetzt ließen das gute Einvernehmen beider und die zuvorkommende Bereitschaft auf chinesischer Seite das Beste erhoffen, später übertraf die Wirklichkeit noch bei weitem meine Erwartungen. Bei der Zolluntersuchung gab es allerdings einen Aufenthalt. Pochend auf den großen Reisepass und amtliche chinesische Bescheinigungen, auch um auf weiteren Reisen keine neuen Schwierigkeiten zu haben, wollte ich Zollfreiheit für meine Apparate und Filme, hatte auch den ersten Zollbeamten des Außendienstes oder Out door, zufällig einen Russen, von meinem Recht überzeugt. Da erhob aber der zweite Beamte, ein gewissenhafter und eifriger Chinese, energisch Einspruch. Je mehr ich auf meinem Schein bestand, desto aufgeregter wühlte er die Sachen durcheinander, wurde dann aber unsicher, gab schließlich nach und ließ sie durch. Inzwischen hatte sich niemand von den anderen Herren irgendwie hineingemischt, jeder erwartete mit voller Zurückhaltung und parteilos die Entscheidung. Das ist gute chinesische Art. Die Lösung solcher Schwierigkeiten überlässt man in China grundsätzlich den beiden Parteien, zumal, wenn eine Behörde beteiligt ist. Nachträglich tat es mir fast Leid um den Beamten, denn sein Pflichteifer hätte den kleinen Erfolg verdient. In

92 Nachdem die Hauptstadt 1928 nach Nanjing verlagert worden war, benannte man die alte Hauptstadt Peking in Peiping um. Erst 1949 wurde die Namensänderung mit der Rückverlegung der Hauptstadt nach Peking wieder geändert. 93 Boerschmann erwähnt diese Person drei Mal in seinem Manuskript und schreibt den Namen jeweils anders. Zuerst hier Yün Ming-Lung, dann Yün Menghung und folgend Yün Mengfung. Möglicherweise handelt es sich um Yuan Mong Hung, der in einem Zeitungsbeitrag zur Neubesetzung des genannten Postens genannte wurde. Siehe Hong Kong Daily Press, 2.11.1933: S. 8.

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einem ähnlichen Falle sollte ich später noch amtlich kennen lernen, wie genau die Seezollbehörde ihre Bestimmungen handhabt, und wie wenig selbst chinesische Regierungsstellen imstande oder auch nur bereit sind, sich dagegen durchzusetzten. Eine Unterkunft sollte ich haben, so bequem und großzügig, wie es besser nicht zu denken war, überdies höchst zweckmäßig für Arbeiten und als Operationsbasis für Reisen. Walter Eckert, Leiter der Kanton-Niederlassung von Siemssen & Co.94, hatte sie zur Verfügung gestellt in seinem großen Hause auf der Insel Honam, unmittelbar am Ufer überragte das Gebäude mit zwei Geschossen, um 1900 erbaut, in reichem, weiten Kolonialstil, die dicht besiedelte Vorstadt im Süden jenseits des Stromes.95 Schon der erste Blick von unserer Dampferstelle aus zeigte deutlich, wie umfassend die Aussicht von dort aus sein musste. Und als unsere Autos zuerst auf der Uferstraße, dann auf der ganz neuen und ersten Stahlbrücke über den Perlfluss, endlich durch die Vorstadt Honam das Haus erreicht hatte, als kurz darauf das Gepäck von den flinken Dienern und Trägern, fast geschickter und schneller wie je im alten China, im Boot über den Fluss unmittelbar an der Wasserpforte des Hauses gelandet war, als der Hausherr mit herzlicher und breiter Gastfreundschaft mich empfangen und im besten Eckzimmer nebst umlaufender, geschlossener Veranda im Nordosten des oberen Geschosses untergebracht hatte, da begannen jene einzigartigen Wochen, in denen ich von meiner hohen Warte aus Tag und Nacht unter dem spannenden Eindruck immer frischen Erlebens stand gegenüber dem neu werdenden und doch unvergänglichen alten Kanton.96 Schon nach wenigen Minuten brauste eine gut ausgerichtete Fliegerstaffel über Haus und Fluss und kündete von der jungen chinesischen Stärke. Später sollte mein Aufenthalt in Kanton auch mit einem eigenen Flug enden. Drüben aber im fernen Nordost standen wieder die ewigen Gräberberge der Weißen Wolken still zur Seite über der weiten Stadt, die sich dort im Dunst verlor. Die ersten Tage, voll erfüllt mit Besuchen und Vorbesichtigungen, brachten einen allgemeinen Überblick und waren ein erster Auftakt. Stets unter sachkundiger und amtlicher Führung, meist mit meinen treuen Beratern Voskamp und Yün, ging es immer wieder durch Honam über die Brücke in Stadt und Vorstädte zu Ämtern und Büros, großen Anlagen, Neubauten oder alten Stätten, die sich wandelten. Erst später kam ich aus dem ewig geschlossenen Wagen heraus und vermochte zu Fuß

94 Das Handelshaus Siemssen Co. hatte seit 1846 einen Sitz in Kanton. 95 Walter Eckert hatte später eine Schrift zu seiner Zeit in Kanton verfasst. Eckert war von Oktober 1930 bis Ende 1936 Leiter der Filiale von Siemssen & Co. in Kanton, vorher sechs Jahre Leiter der Importabteilung. Zu seinem Haus schrieb er: „Mein Vorteil war, dass ich in einem anderen Stadtteil wohnte als alle übrigen Europäer […]. Ich bewohnte ein sehr großes, repräsentatives Haus, das einem der allerreichsten und vornehmsten Chinesen Cantons gehörte. Der Geist dieses großen schlossartigen Hauses hat mir im Laufe von 14 Jahren, die ich darin wohnte, viele ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, die freundschaftlichen Beziehungen zu Chinesen zu pflegen.“ Eckert, 1981: S. 11. (Hinweis HR). 96 Von hier schrieb Boerschmann seine in den Münchner Neuesten Nachrichten am 10. April 1934 erschienene Reportage „An (m)einem chinesischen Fluss“.



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oder in Rikscha den bunten Bildern und dem Wesen von Volk und Straßen selber näher kommen. Ein erster Besuch galt dem Vertreter Deutschlands in Südchina, Generalkonsul Wagner [Wilhelm Wagner, 1884–1949], Jahre vor dem Kriege waren wir in Peking zusammen gewesen an der Gesandtschaft. Nun hatte er mir bereits die Wege geebnet, als unsere Trier noch im Indischen Ozean schwamm. Und als er und Frau Wagner gerade jetzt aus der Provinz Yünnan [Yunnan] von einer längeren Dienstreise zurückgekehrt waren, nahm er sich mit Nachdruck meiner Sache an und stellte vielfach sogar persönlich sehr wichtige Verbindungen her. Im weiträumigen Gebäude des Generalkonsulats auf dem stillen Schamien [Shamian]97 fand ich in Kanzler Kanter, früher Militärbeamter bei der Boxerexpedition und Besatzungsbrigade, wiederum einen alten Bekannten und Kameraden sogar aus der allerersten Chinazeit.98 Schon am Vormittag nach unserer Ankunft in Kanton empfing uns der Bürgermeister selber, Liu Chi-wen [1890–1957]99, im Beisein vom Vizekonsul, Baudirektor und einigen anderen Beamten in seinem mehrgeschossigen Amtsgebäude mit großzügiger Anordnung und luftigen Räumen. Wie die Schnelligkeit dieses Besuches durchaus gar nicht herkömmlich war, ganz ungleich altchinesischer Förmlichkeit, so gab sich auch der Bürgermeister frei und ungezwungen, bei aller Höflichkeit ging er immer schnell und gerade auf sein Ziel los und hatte eine bezwingende Art. Kantonmann, in Japan und England modern gebildet, hatte Liu sich schon früh Sun Yat-sen angeschlossen, in den folgenden wechselvollen Zeiten viele wichtigsten Posten auch in der Partei der Kuomintang [Guomindang] bekleidet, überdies als Oberhaupt von Nanking seit 1926, dessen Umbau er leitete, und war mit 44 Jahren erst vor 18 Monaten als Bürgermeister nach Kanton gekommen. An Hand von Plänen, die nicht zurecht gelegt, doch auf meine Bitte sofort zur Stelle waren, erläuterte er lebhaft, mit vollkommener Klarheit und genauer Sachkenntnis entscheidende Grundlagen und Ziele für den Umbau des größeren Kanton, dass außer der eigentlichen Stadt noch weiteres Verwaltungsgebiet umfasst, insgesamt eine Fläche etwa von 20 mal 15 Kilometer. Es wird als Einheit durchgebildet auch im Anschluss an die weitere Landesplanung, deren Bearbeitung durch das Aufbauamt der Provinz erfolgt unter der persönlichen Leitung des Gouverneurs. Einige Tage später waren wir mit dem Generalkonsul Wagner, Dr. Voskamp, Baudirektor Yün und einigen leitenden Herren des Stadtbauamtes Gäste des Bürgermeisters bei einem erlesenen Frühstück im Chinaklub in der östlichen

97 Seit März 1931 war das deutsche Generalkonsulat in einem Gebäude (Nr. 66 British Concession), das der Bank of East Asia gehörte, an der Zentralstraße der Britischen Konzession auf Shamian untergebracht. Das Gebäude des kaiserlichen deutschen Konsulats, das noch heute hinter dem White Swan Hotel steht, war mit dem Versailler Vertrag verloren gegangen. Ab 1. Juli 1935 mietete sich das Generalkonsulat im Nebengebäude des ehemaligen kaiserlichen Konsulates ein. (Hinweis HR). 98 Hier erwähnt Boerschmann seinen Chinaaufenthalt zwischen 1902 und 1904 als Mitglied des deutschen Kontingents der Alliierten Truppen nach dem Boxeraufstand. 99 Who is Who in China, 1936: S. 163/164. Siehe Abb. 20 in Abschnitt 1.

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Vorstadt Tungkuan [Dongguan]. Dort wurde die Aussprache fortgesetzt, besonders nach Tisch in der weiten Glashalle. Angeregt durch die schönen Blicke auf den Parkgarten mit seinen gefälligen Baulichkeiten und auf den nahen Poloklub, entspann sich eine höchst lebendige Unterhaltung über große Fragen der kommenden Stadtgliederung für Industrie, Hafen, Verwaltung und Privatbauten. Daran beteiligten sich auch die Beamten mit vollem Freimut und unbefangen. Zum ersten Male konnte ich die unabhängige Überlegung und die natürliche, dabei großherzige Rücksicht auf alle Bedingungen bewundern, von denen die führenden Chinesen sich heute leiten lassen, wenn sie ganz auf sich gestellt sind und allein zu entscheiden haben. Der feurigste Verfechter der Belange der Stadt war Bürgermeister Liu selber, ganz erfüllt von Kanton und seiner Zukunft. Nach persönlicher Anmeldung bei dem Vertreter des verreisten Außenkommissars, der die amtlichen Beziehungen mit den Fremden betreut, wurden wir alsbald empfangen vom Zivilgouverneur der Provinz. Sein Amtssitz, der mächtige alte Yamen,

Abb. 47: Das historische Kanton mit Stadtmauer und öffentlichen Funktionen während der Qing Dynastie. (Lee, 1936: 9).



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Abb. 48: Der Eingang zum Gouverneurs-Yamen. Die Abbildung stammte ursprünglich aus der Sammlung von Boerschmann. (Unbekannter Fotograf, mit freundlicher Genehmigung, Sammlung Michael Kaempfe).

in dem bis zur Revolution der einstige Vizekönig über beide Provinzen Kuangtung [Guangdong] und Kuangsi [Guangxi] residiert hatte, befindet sich unmittelbar östlich zum Zentralpark und neuem Stadtpalast in der Hauptachse der Stadt. Seine Bodenfläche ist von Nord nach Süd etwa 250 Meter tief und füllt den ganzen Raum zwischen zwei Querstraßen. Das eindrucksvolle Bild alter Regierungssitze ist noch wohl erhalten in den wuchtigen Toren an den Eingängen und Zwischenhallen mit Terrassen, in der Folge weiterer Höfe und breit angelagerter Hallen. Der mittlere Hauptteil wird an den Seiten geleitet von Bürogebäuden, die schon vielfach modern gestaltet und von Gartenanlagen umgeben sind. Es herrscht der große Zuschnitt wohlbewahrter hoher Regierungsstellen. Polizei und Kontrolle im Haupteingang am breiten Vorplatz, Meldeboten mit den Besuchskarten hin und her über Höfe, Begleiter von Tor zu Tor, überall Posten, Ablösungen, Soldaten, Wachen. Gerade ist im ersten weiten Haupthof fast seine ganze Osthälfte erfüllt mit Offizieren, die hier in kleinen Gruppen unter Leitung zahlreicher Fechtmeister das Fechten mit alten Schwertern und Lanzen üben, blitzschnell, gewandt und mit äußerster Anspannung die gleiche Figur immer wiederholt, bis es klappt. Dieser hergebrachte und höchst wirksame Sport ist noch vorgeschrieben für die militärische Ausbildung.

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Später entdeckten wir im anschließenden Nebenhof eine größere Ansammlung. Es waren wohl dreißig Eingeborene der Li [Lizu] von der Insel Hainan, Männer und Frauen in ihren malerischen, doch vorwiegend dunkel gehaltenen Trachten, eine Abordnung an den Gouverneur zur Klärung von Fragen ihrer Stämme.100 Eine Menge von Beamten und sonstigen Besuchern des Yamens betrachteten mit uns und mit nicht geringerer Neugierde als wir, das ruhige und würdevolle, doch etwas scheue Gebaren dieser Hainanesen, die selbst den Chinesen nur selten zu Gesicht kommen. Vielleicht waren jene Offiziere im großen Hofe mit Vorbedacht gerade jetzt zum Fechten angetreten, um Eindruck zu machen auf die Bittsteller aus dem fernsten Süden. Wir werden in einen entfernten Nebenhof geführt zu dem neuen und schmucken kleinen Haus mit den privaten Arbeitsräumen des Gouverneurs. Im Beisein seines Sekretärs und Neffen begrüßt er uns dort im Empfangszimmer, das vorwiegend chinesisch und sehr gefällig eingerichtet ist. Der Gouverneur Lin Yün-Kai [Lin Yungai]101, in kantonesischer Aussprache Lam Man-hoi genannt, ebenfalls aus Kuangtung [Guangdong] gebürtig und alter Parteigänger der Kuomintang [Guomindang] und der jetzigen Regierung, hatte vor drei Jahren, nach Abschluss seiner spät durchgeführten modernen Studien in Amerika, die Leitung der Provinz übernommen und stand jetzt im 50. Lebensjahr. Lebhaft und frei, mit schnellen, doch höflichen Augen, ist er zugleich verbindlich und abwartend, wie je ein hoher Beamter der alten Schule, dabei ungemein sachlich eingestellt und führend in der Unterhaltung. Lin stand baulichen Fragen nahe, weil er in einem Aufbauamt für die Provinz mit derartigen Aufgaben dauernd zu tun hatte, überdies, als Mann alter Bildung, für kulturell oder gar religiös bedeutungsvolle Bauten eine besondere Vorliebe besaß. So kam bei der Tasse Tee, die bei Besuchen noch immer wie einst zu jeder Tageszeit auch auf den höchsten Ämtern gereicht wird, die Rede leicht auf mein eigenes Fachgebiet, zumal er ein Werk von mir in Händen hatte. Bei der Berührung der Wandlung im neuen Städtebau wurde auch gesprochen über die kommende industrielle Entwicklung und die Art, wie dann die Arbeitermassen untergebracht werden sollten. Diese Aufgabe, meinte er richtig, wäre bereits grundsätzlich gelöst. Das altchinesische Wohngehöft für eine zahlenreiche Großfamilie fördere das Zusammenleben in einer großen Gemeinschaft, durch seine Gestaltung hätte die alte Zeit schon gut vorgearbeitet, besser, als Europa mit seinen Einzelhäusern oder Mietskasernen. Mit Hilfe jenes Vorbildes würde man auch eine beste Lösung finden für die fast kongruente Aufgabe, Arbeiterfamilien geschlossen anzusiedeln zum Besten für den einzelnen wie für die Gemeinschaft. Als wir uns den geschichtlichen Baudenkmälern zuwandten, entschuldigte der Gouverneur seine Provinz Kuangtung [Guangdong], die wenig alte Überlieferungen und darum auch nur wenig berühmte Bauanlagen hätte. Diese Bemerkung entsprang

100 Weiter Informationen zu den Li bietet Stübel, 1937. 101 Siehe Abbildung 7.



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zu einen Teile der üblichen höflichen Bescheidenheit, ich sollte sie aber auch von anderer Seite immer wieder hören. Die Vorstellung über den Süden als ein junges chinesisches Gebiet, fast Kolonialland, im Gegensatz zu den uralten Kulturgebieten im mittleren und nördlichen China, ist weit verbreitet und durchaus lebendig, trotzdem schon über 2000 Jahre der Geschichte dahingegangen über die südlichen Provinzen, und trotzdem es in Wirklichkeit eine achtbare Reihe wichtiger und greifbarer Denkmäler dort gibt. So nannte Lin auch voller Eifer und etwas Stolz besonders sieben berühmte Stätten und legte mir ihren Besuch nahe. Es war im Westen der Stadt Familientempel und Wohnhäuser der alten Familien Tschen [Chen]102 und die viel bewunderte Bibliothek Kuangya [Guangya]103, ein Muster für gebildeten Geschmack, heute ein Gymnasium. Im nahen Whampoa der vielbesuchte Ananastempel Polo miao [Boluo, Nanhai oder South China Sea Tempel]. In der Provinz weiter im Osten der geheiligte Berg Lo fou schan [Luofu Berg], im Westen der Stadt Tschaoking [Zhaoqing] mit dem Wallfahrtberg Ting hu schan [Dinghu Berg]104, im Norden der buddhistische Südchinatempel Nan hua sze [Nanhua Tempel], und im Süden der Bezirk von Tschung schan [Zhongshan] mit reichen Tempelanlagen und dem Geburtsort des Sun Yat-sen. Ich habe dann später doch einige von diesen Plätzen nicht besuchen können, sah dafür aber noch manche anderen und lernte Berichte kennen über viele weitere, sodass der Eindruck sich dauernd verstärkte von Zahl und Bedeutung dieser religiösen Stätten in der Provinz.105 Bei unserem Besuch wurde englisch gesprochen, Freund Wong dolmetschte ausgezeichnet und gestaltete dadurch die Aussprache umso verbindlicher. Oft erlebten wir es, dass ein langsames und überlegtes Dolmetschen auch sein Gutes haben kann und manche Unebenheit zu glätten vermag. So war es auch hier. Bei passender Gelegenheit wollte ich die Kantonstudenten in Deutschland als besonders eifrig und geistig geweckt rühmen und dadurch die Sprache auf den Studentenaustausch bringen. Doch verlief dieses Unternehmen durch die sichere, feine Führung der anderen Seite schnell im Sande. Zu meiner eigenen Genugtuung, denn weder der Gouverneur noch Wong, beide selber Kantonleute, hätten solches Selbstlob gut erörtern können, und dann gehörte dieses Gebiet der Studenten auch nicht zur unmittelbaren Zuständigkeit des Gouverneurs. Mit vollendeter Höflichkeit wurden wir verabschiedet, und ich hatte während des ganzen folgenden Aufenthaltes wiederholt Gelegenheit die Fürsorge des Gouverneurs zu spüren in dem Entgegenkommen, das ich von allen Seiten empfing.

102 Den Tempel der Familie Chen beschrieb Boerschmann bereits 1914 ausführlich. Siehe Boerschmann, 1914: S. 275–286. 103 Guangya wurde 1888 als Akademie gegründet und besteht noch heute als Schule. 104 Von Buddhisten als heilig verehrter Berg und heute ein wichtiges Erholungsgebiet. 105 Boerschmann besuchte die meisten der hier aufgelisteten Orte. Siehe einleitenden Text in diesem Buch.

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Bald nach diesem Besuche durften wir unter persönlicher Führung des Baudirektors Yün Menghung106 sein Stadtbauamt besichtigen, das Gung wu djü [Gongwu – öffentlicher Dienst], die Public Works der Stadt, wie sie gewöhnlich im Verkehr mit Ausländern genannt werden. Hier sollte ich zum ersten Male genauen Einblick erhalten in einen modernen chinesischen Bürobetrieb großen Maßstabes, und zwar gleich am wichtigsten Punkt im technischen Hirn einer Millionenstadt. Solche Kenntnis ist mir auch später an anderen Orten in China stets in erstem Grade lehrreich gewesen, denn der Fachmann vermag aus Einrichtungen, Betrieb und Plänen in einem derartigen zentralen Amt Aufschlüsse zu gewinnen, die weit hinausgehen über die äußeren Bilder und gelegentlichen Erklärungen fertiger Anlagen und Einrichtungen an Ort und Stelle. Auch das Stadtbauamt war untergebracht in einem neueren, modernen Gebäude mit luftigen, hellen Räumen und Zeichensälen. Alle chinesischen Behörden haben heute feste Dienststunden, meist von acht bis zwölf und eins bis fünf Uhr. Zu Beginn und Schluss strömen Beamte und Angestellte hinein und hinaus genau wie bei uns, man hat sich in China auf diesen pünktlichen Einheitsbetrieb offenbar reibungslos eingestellt, trotzdem die große Hitze im Sommer erhebliche Anforderungen stellt an alle. So war es auch hier. Wieder traf ich unter den nächsten Mitarbeitern des Baudirektors drei gute Freunde aus Berlin, die Ingenieure Li, Dschao und Ma, Fachleute für Eisenbahnen, Brücken und Straßen. Sein erster Sekretär, energisch und zielbewusst, hatte in Amerika studiert. Auch einige andere hatten ausländische Vorbildung, die meisten aber, zumal die mittleren Techniker und natürlich das ganze Hilfspersonal, ihre Kenntnisse nur in China erworben, auf Fachschulen oder im praktischen Betrieb. Die leitenden Kräfte der großen Ämter in China haben zum größten Teil im Ausland studiert und hatten von ihren Studien in den verschiedenen fremden Ländern auch unterschiedliche Grundlagen und Anschauungen mitgebracht, was eine Zusammenarbeit offenbar erschwerte. Aus der Ferne war mir diese Sachlage immer als unüberwindbares Hindernis erschienen. Doch hier vor der Wirklichkeit erkannte man klar, wie sehr die Notwendigkeit, alles Widerstrebende auf den gemeinsamen chinesischen Nenner zu bringen, zwangsläufig einen ganz natürlichen Ausgleich in einheitlich chinesischem Sinne herbeiführen musste. Das bezog sich sogar auf die chinesische Prägung neuer technischer Fachausdrücke, doch auch auf den eigentlichen Verwaltungsbetrieb. Es ist je ein chinesischer Vorzug gewesen, sich schnell auf gemeinschaftliche Arbeit einzuspielen. Diese alte Überlieferung, besonders stark auch bei Behörden, schien mir als Teil der lebendigen Kraft, die dem stetigen Lauf auch dieses neuen technischen Amtes immer frischen Antrieb gab. Mit Hilfe des Baudirektors, der das alles aber nur so nebenher erwähnte, wurden mir diese Zusammenhänge deutlich. Und in Wahrheit scheint es fast als ein Wunder, dass dieses Bauamt, das schon sehr früh bestanden hat und aus der alten kaiserlichen Zeit von der neuen Nationalregierung übernommen wurde, auch in den folgenden

106 Siehe Anmerkung 93.



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schrecklichen Wirren gerade in Kanton arbeitsfähig blieb und sogar planmäßig in den breiten Aufbau unserer Tage überführt werden konnte. Einige Hauptzüge der neuen Gestaltung der Stadt, etwa die Pläne für Uferstraßen, Kaimauern und Verengung des Flussbettes, gehen noch auf die letzte Kaiserzeit zurück. Im übrigen aber stammt die entscheidende Änderung im Stadtbild erst aus dem stürmischen Drang nach gewaltsamer Neuerung seit der Revolution. An Hand einer Riesenkarte in großem Maßstabe, in die sämtliche Veränderungen laufend eingetragen werden, erläuterte Yün genau die Entwicklung des Bebauungsplanes, der verschiedenen Bezirke für alle Zwecke von Verwaltung, Verkehr, Handel, Industrie und Wohnwesen, dazu die Vorhaben für Wasserbau, Häfen, Brücken, Straßen und Eisenbahnen. Eine gänzlich neue Vorstellung war mir die Leichtigkeit, mit der man lange und mächtige Straßenzüge und Plätze mitten im dichtbesiedelten Inneren der Stadt geschaffen und dazu rücksichtslos die alten, oft schon mehrgeschossigen Häuser, auch Geschichtsgebäude, ganz oder bis auf kümmerliche Reste, die man dann aber ziemlich instand gesetzt, niedergelegt hatte. Ich verglich das in Gedanken mit den Bedingungen bei uns, wo auch nur vereinzelt derartige Fälle vor lauter jahrelangen Einsprüchen und Prozessen kaum von der Stelle kommen. Dort in Kanton hatten chinesische Großzügigkeit und unbedingte Regierungsgewalt sich gepaart und das Erstaunliche in wenigen Jahren zuwege gebracht. Auch auf diesem Stadtbauamt berührte es sehr angenehm, dass man nicht etwa in breiter Selbstgefälligkeit alle Taten sofort ausbreitete, vielmehr in höflicher Zurückhaltung bedeutsame Unterlagen oft erst dann herbeibrachte, wenn in der Aussprache die Anregung sich ergab. Dass sie dann gleich zur Hand waren, ließ auf beste Ordnung schließen. So hatte ich zur großen Überraschung plötzlich einen prächtigen Atlas in Händen, mit Karten von Groß-Kanton im Maßstab eins zu zweitausend, ein wahrhaft großes Kartenwerk, das nach Vermessungen des Bauamtes bearbeitet und nur in wenigen Exemplaren vervielfältigt war. Und dann ein mächtiges Katasterbuch, in das sämtliche Grundstücke und Gebäude wohl auf hundert Plänen im Maßstab eins zu sechshundert eingetragen waren und dauernd berichtigt wurde gemäß dem fortschreitenden Umbau der Stadt. Jeder mag sich vorstellen, wie viel Kräfte dazu nötig sind, um derartige Arbeiten, die durchaus unseren Anforderungen entsprechen, laufend durchzuführen im Einvernehmen mit allen Stellen, die für die Veränderungen zuständig sind. Schon diese Einzelheiten hatten eine wohlgeordnete Verwaltung zur Voraussetzung. Einen verstärkten Eindruck davon erhielt ich später auf dem Aufbauamt für die Provinz. Es ist in einem neuen Gebäudeblock untergebracht und bearbeitet neben den baulichen Dingen auch alle andere neuzeitlichen Aufgaben mit einem entsprechend umfangreichen Personal. Vorläufige, schnelle Besichtigungen im Wagen waren wie ein Programm für später und galten einigen wichtigen neuen Bauten, in denen die junge Republik China sich bereits mit Nachdruck zu verkörpern begann. Die Stadtbibliothek zeigte sich gerade vollendet, doch der gewaltige Stadtpalast, noch in Gerüsten verborgen, in vollem Ausbau, beide im klassisch chinesischen Stil. Im Osten von der Stadt zahlreiche Grabanlagen für die Gefallenen der Revolution. Am Nordrand der Stadt, zu

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Abb. 49: Die von Lu Yanzhi gestaltete Gedenkhalle (1929–1931) für Sun Yat-sen. (© EK, 2010).

Füßen des Berges der Göttin der Barmherzigkeit, Kuanyin schan [Guanyin Shan], leuchtete die zentrale Gedächtnishalle für Sun Yat-sen als eindrucksvollster Bau in Weiß, Rot und Blau.107 (Abb. 49) Hier stiegen wir gegen Abend den Berg selber

107 Die 1931 fertig gestellte Gedächtnishalle für Sun Yat-sen in Guangzhou wurde nach einem Archi-



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empor auf den gepflegten Parkwegen bis zu seinem Kamm. Unweit der alten Turmhalle der fünf Geschosse, Wutsenglou [Zhenhai Turm],108 standen wir, in der Höhe und etwa in der Achse der unteren Gedächtnishalle des Sun Yat-sen, neben seinem riesigen, schlanken Gedächtnispfeiler, dem weißen Wahrzeichen über dem endlos weiten Land. (Siehe Abb. 9). Schon während der Fahrten nach Kanton hatte es uns fein und lange geleuchtet. Die Dämmerung kam. Mit einbrechender Dunkelheit entflammten die Lichter in Stadt und Ebene, zuerst vereinzelt, dann funkelnd in Reihen und Gruppen und vollen Flächen, flimmernd wie Meeresleuchten. Vor uns, den Hang herab, folgten die eigenartigen Standlaternen in Doppelreihen und in regelmäßigem Wechsel dem gebrochenen Treppenweg herab bis zur Staatshalle mit ihrem Dach in blauem Schimmer. Auf der Heimfahrt durch die matt oder hell belichteten Straßen standen in gewissen Abständen als Hauptpunkte die hohen Lichtmaste mit einer Traube aus fünf strahlenden Ampeln. Auf diese Fünfzahl traf man noch oft in der Stadt in anderen Zusammenhängen. Sie war das viel gebrauchte Sinnbild für das alte Kanton, die Stadt der fünf Ziegen, Wu yang tscheng [Wu Yang Cheng].109 Der nachdenkliche Sinn verknüpfte dieses Bild mit dem Werden auch der Stadt, ihrer langen Geschichte und eigenartigen Lage, doch auch mit der gesamten Provinz, die im Norden abgeschlossen ist durch Gebirge und Pässe, und nach dieser Lage, südlich der Bergzüge, ihren verehrten Namen trägt: Lingnan.110

Kanton im Umbau Gern möchte man die erste moderne und grundlegende Wandlung einer alten und großen chinesischen Hauptstadt, wie Kanton es seit je gewesen ist, als einheitlichen Vorgang erfassen und dabei alle bewegenden Kräfte und in ihren gegenseitigen Verknüpfungen im Zusammenhange würdigen, Land, Volk, Geschichte, politische, wirtschaftliche und technische Belange der Gegenwart. Damit wäre ein wichtigster Beitrag geliefert für volles Verständnis der laufenden chinesischen Entwicklung und ihrer Einordnung in den allgemeinen Umbruch der heutigen Zeit. Doch es ist schwer, fast unmöglich, die stürmische Umgestaltung einer fremden Millionenstadt auch nur in ihren wichtigsten Erscheinungen im Verlaufe weniger Wochen persönlich kennen

tektenwettbewerb von dem damals sehr bekannten, in den USA ausgebildeten, Architekten Lu Yanzhi (1894–1929) entworfen. Er verstarb vor Fertigstellung des Bauwerks 1929. Siehe auch Lai 2011. 108 Der fünfgeschossige Zhenhai Turm wurde 1380 erbaut und 1929 als Stadtmuseum umgenutzt. Siehe Abbildung 13. 109 Nach der Legende brachten fünf Unsterbliche auf fünf Widdern Saatgut als die Bewohner der Region unter einer Hungersnot litten. 110 Das Lingnan-Gebiet umfasst eigentlich die heutigen Provinzen Guangzhou, Guangxi, Hunan, Jiangxi und das nördliche Vietnam.

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zu lernen und zu begreifen. Zunächst ist man fast hilflos preisgegeben der überwältigenden Fülle der Eindrücke. Zwar wird man unterstützt durch chinesische und deutsche Freunde, von denen viele schon seit langen Jahren und nimmermüde in praktischer Arbeit stehen. Doch es muss alles, Auszug und Übersicht, das meiste der eigenen Einstellung überlassen bleiben, um in der Reihe einzelner Erkenntnisse den Roten Faden zu entdecken, der das Ganze durchzieht. Immerhin lassen sich aus dem greifbaren Ergebnis fertige Werke und reife Pläne, manche Kräfte des Geistes und Willens deuten, die jenen Fortschritt hervorbrachten und weitere Erfolge verbürgen.

Das alte Bild Der alte Zustand der Stadt Kanton ist vielen unter uns bekannt und noch heute an zahlreichen Stellen zu erleben. Die Stadt war innerhalb der früheren Mauern und bis zum Fluss auf einer Fläche etwa zweieinhalb mal zweieinhalb Kilometer, in unserem Sinne hoffnungslos verbaut. Zwar zeigte die Anlage im allgemeinen die klassische Hauptrichtung gegen Süden, die Hauptadern liefen nordsüdlich und ostwestlich und bestimmten die streng axiale Anordnung regelmäßiger Rechtecke auch für die großen Regierungspaläste, Schulen und Tempel. Jedoch der nördliche Teil war stets ganz unregelmäßig durch die abschließenden Berge und den gebrochenen Zug der Stadtmauer dort, und im südlichen Teile folgten die Straßen bereits dem schrägen Verlauf der doppelten Stadtmauer, die dem Flussufer parallel liefen, sie waren dort besonders lässig geführt und durch ihre dauernde Biegung und Brechung schufen sie höchst malerische Blicke, doch auch schwerste Hindernisse für den Verkehr. Dazu kam die äußerste Enge selbst der Hauptstraßen, auf denen – zumal an den Ecken – die einstigen Tragstühle bei ihren Begegnungen häufig nur dann aneinander vorbei konnten, wenn ihre langen Tragstangen zum Teil in nächste offene Ladeneingänge geschoben wurden. Hatte schon die Innenstadt durch solches enge Gewirre jede Freiheit eingebüßt, so war die schnell und fast regellos gewachsene westliche Vorstadt ein undurchdringliches und gefährliches Labyrinth geworden. Einen wesentlichen Grund dafür erkennt man bei der Schau vom Flugzeug. Wie im weiteren Umkreis von Kanton zahlreiche verstreute Dörfer allerengste Bebauung zeigen und mit ihren überschießenden Hausdächern fast wie geschlossene Schilfflächen erscheinen, lassen sich noch heute innerhalb der Stadt ganz deutlich einzelne ähnliche, von einander abgesonderte Teile unterscheiden. Ursprünglich getrennte kleinste Dörfer wuchsen im Laufe der Zeit teilweise zusammen, vorerst zu den drei alten, dichteren Stadteinheiten, von denen schon zur Zeit der Besitzergreifung durch die Chinesen um 250 n.Chr. berichtet wird, jede für sich umwallt, dann enger miteinander verbunden. Die große Einheit entstand erst unter dem ersten Ming-Kaiser Hung Wu [Hongwu, 1328–1398] nach 1368 durch die neue Stadtmauer, sie wurde nach 150 Jahren bis zum Fluss erweitert und im Beginn der Mandschu-Herrschaft [1644] durch neue Befestigungen im Osten und Westen noch besonders gesichert. Diese Ent-



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Abb. 50: Die Stadtmauer mit Pavillon am Guanyin Shan. (Postkarte, mit freundlicher Genehmigung, Sammlung Michael Kaempfe).

stehung aus getrennten, erst später vereinigten Siedlungen lässt Enge und unregelmäßige Führung der Straßenzüge verständlich werden, erklärt auch die später und unvermittelt eingesprengten Räume für die großen öffentlichen Bauanlagen.

Stockung und Antrieb Als andere große Städte der Welt schon durchflutet waren von modernem Verkehr auf breiten Straßen und sich vorbereitet hatten auf gesteigerte Beweglichkeit und umfassenden Aufbruch unserer Tage, da ging im Inneren von Kanton zwar das völkische Leben noch seinen hergebrachten regen Gang, doch das enge Häusergewirr blieb eine feste, unbewegliche Masse, ein starrer Block vor der Neuen Zeit, es schien keine Möglichkeit vorhanden für eine Auflockerung großen Stiles. Allerdings waren schon in der letzten Mandschu-Zeit [1644–1911] schwache Versuche gemacht worden zu Verbesserungen, denn hierzu mahnten unter anderem auch die voraussichtlichen Folgen der entstehenden Bahn nach Hongkong. So wurden unter Mitwirkung auch deutscher Handelshäuser und Ingenieure leidlich genaue Vermessungen durchgeführt, im Jahre 1907 sogar eine große, vorzügliche Karte des gesamten Stadtgebietes hergestellt und

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in Gotha gedruckt.111 Doch alles blieb stecken nicht nur aus Mangel an Mitteln und straffer örtlicher Leitung, sondern vor allem aus dem lärmenden Gefühl des Fruchtlosen, weil man zu der Mandschu-Regierung kein Vertrauen mehr besaß. Die nahe politische Umwälzung warf bereits ihren Schatten voraus. Woher hätte die damalige Regierung wohl ihre Autorität nehmen sollen, um durchzugreifen und hart zu handeln, die Mauern und Tempel, ja, die halbe Stadt niederzulegen und alle Kräfte auf das große Werk zielbewusst zu vereinigen? So musste es kommen, wie immer im Geschehen der Völker und meist auch des Einzelnen, der Kelch des Niederganges und der Verzweiflung war erst bis zur Neige zu leeren, die Leere musste sogar vollkommen sein, das Bewusstsein des Unerträglichen, des Unlösbaren musste alle beherrschen, damit nach völligem Stillstand der entscheidende Umstoß erfolgen konnte zu Bewegung und entschlossener Tat mit dem Ziele einer grundlegenden Neuordnung. Wohl selten in der Weltgeschichte gab es eine merkwürdigere Übereinstimmung gleichzeitiger Notwendigkeiten für die große Politik eines ganzen Volkes und für die örtliche Entwicklung einer Großstadt, als zu Beginn des Jahres 1911 für China und Kanton. Es war darum kein Zufall, vielmehr ein Auftakt für den gesamten Umbruch, wenn gerade in Kanton schon im gleichen Frühjahr, am 29. März, der Aufstand zum ersten Male blutig aufflammte in jener vorzeitigen Erhebung der ersten kämpfenden Scharen des Sun Yat-sen [Huanghuagang-Aufstand]112. Zwar wurde er noch einmal niedergeschlagen. Aber jene 72 Märtyrer, die damals miteinander den gewaltsamen Tod erlitten, wurden nicht umsonst an ihrem riesigen gemeinsamen Grabmal im Osten vor der Stadt wie Heilige verehrt, denn sie schufen einen unzerstörbaren Grundpfeiler zugleich für das Neue Reich und für dessen Vorkämpfer, das neue Kanton. (Siehe Abb. 51 und 52). Allerdings, nach dem Erfolge der Revolution gingen die Dinge vorerst auch in Kanton noch nicht recht voran. Unruhe im ganzen China, Spaltungen innerhalb der Partei, fehlende Machtmittel des Sun Yat-sen, vor allem die Ansprüche des Nordens auf weitere Führung Chinas von Peiping aus verhinderten eine schnelle Umgestaltung. Erst als Yuan Schikei [Yuan Shikai, 1859–1916], der Träger der Machtansprüche im Norden im Juni 1916 gestorben und ernste Gegensätze auch im Gebiet um Kanton ausgeglichen waren, wurde eine vorläufige Klärung möglich. Sun Yat-sen begründete im gleichen Jahre in Kanton die Südregierung und beeinflusste trotz mannigfacher schwerer Rückschläge in den folgenden Jahren auch persönlich und auf das stärkste den Ausbau der Stadt. In Gemeinschaft mit seinen Anhängern, vor allem mit Hu

111 Der Stadtplan von 1907 wurde von dem Handelshaus Carlowitz & Co. beauftragt, von dem deutschen Ingenieur Schnock vermessen und im Verlag Justus Perthes in Gotha im Maßstab 1:5.000 gedruckt. Die Karte war nicht im Handel erhältlich. PAAA, Aktenbestand R 137 814 (Konsulat Canton, Geldangelegenheiten), Brief, 5.8.1908, Deutsches Generalkonsulat Kanton an AA. (Hinweis HR). 112 Der 29. März bezieht sich hier auf den chinesischen Mondkalender. Nach dem gregorianischen Kalender war es der 27. April 1911.



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Abb. 51: Eine Skizze von Boerschmann zur Anlage der monumentalen Erinnerungsstätte für die 72 Märtyrer, die beim Aufstand gegen die Qing-Dynastie 1911 ums Leben kamen. (© Boerschmann 1933, PAB).

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Abb. 52: Das 1918 von dem in den USA ausgebildeten Architekten Yeong Sik Chung erbaute Mahnmal für die 72 Märtyrer. Die Freiheitsstatue auf den 72 Steinblöcken wurde im Laufe der letzten fast 100 Jahre mehrfach durch andere Symbole ausgetauscht. Heute steht wieder eine Variante der ersten Freiheitsstatue auf dem Sockel. (Unbekannter Fotograf, zwischen 1918 und 1927, PA).

Han min [Hu Hanmin, 1879–1936], dem langjährigen Gouverneur von Kuangtung [Guangdong]. So begann man 1919 mit dem Abbruch der Stadtmauern und in ihrem alten Zuge mit der Anlage breiter Straßen, und im Februar 1921, nachdem eine neue Regierung eingesetzt war, mit dem schnellen Bau eines umfassenden Straßennetzes, das schon im Februar 1922, bei der ersten Jahresfeier des Bestehens der neuen Regierung, eine Gesamtlänge von 40 Kilometer aufwies. Als in den folgenden Jahren neuer Unruhe und besonders nach dem Tode des Sun Yat-sen 1925 das politische Schwergewicht unter Führung des Generals Chiang Kaischek [Chiang Kai-shek] sich nach dem Yangtze [Jangtse] und nach Nanking verlagerte, traten große Unterbrechungen



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in der Bauausführung ein, doch mit erneuter Festigung des wieder fast selbständigen Südens unter dem wachsenden Einfluss des Generals Chen Chitang [Chen Jitang], des neuen Oberbefehlshabers in Kuangtung [Guangdong] seit 1930, macht die weitere Ausgestaltung von Kanton wieder starke Fortschritte und folgt der wachsenden Bevölkerung, deren Zahl innerhalb der Stadt schon 1926 etwa eine Million erreicht hatte.

Neue Straßen Bei meinem Besuch zu Ende 1933 war der Straßenbau wieder im vollen Fluss unter dem energischen Bürgermeister Liu Chi-wen. Der leitende Baudirektor Yün Mengfung113 erläuterte die Einzelheiten. Die Breiten der neuen Straßen waren ihrem Range nach abgestuft in runden Zahlen von Fuß nach englischem Maß, damals noch durchweg gebraucht, doch im nächsten Jahre durch das neue amtliche Metermaß ersetzt wurde, zuerst allerdings nur im Hoheitsgebiet von Nanking und allmählich durchgeführt wurde. Man verwendete Breiten von 40, 60, 80, 100 und 140 Fuß, hatte somit einen Spielraum von etwa zwölf Meter für kleine Nebengassen bis zu 30 Meter für die Hauptstraßen. Hierin waren mit eingerechnet die Bürgersteige. Diese sind in zahlreichen Hauptgeschäftsstraßen als Laubengänge ausgebildet mit Pfeilern, die das überbaute obere Geschoss tragen, eine Form, die dem gesamten chinesischen Süden eine neue Eigenart gibt. In solcher Weise waren in den letzten sechs Jahren etwa 160 Kilometer neuer Straßen fertig gestellt worden, unter Hinzurechnung auch der Autostraßen in der engeren Umgebung der Stadt. Verschiedene, auch gedruckte Lagepläne der Stadt machten den laufenden Fortgang und die weitere Planung im Straßenbau auf das genauste deutlich. Die neue Planordnung der Straßen folgte der alten und naturgegebenen Anlage der Stadt, die alte Stadtmauer wurde umgelegt, an ihrer Stelle Ringstraßen gebaut, die den Zug der verschwundenen Mauer mit ihrer unregelmäßigen Linienführung auf das genaueste wiederholen und so die Überlieferung des alten Zustands in der Andeutung für immer aufrecht erhalten. Das abgebrochene Ziegelwerk wurde nach Möglichkeit zu Neubauten verwendet, Bauschutt und Erde aber in die Stadtgräben gefüllt, die den Mauern überall vorlagerten, zum Teil noch schiffbar waren und mit dem Fluss in Verbindung standen. Seit alten Zeiten, als noch die Trennung in einzelne Stadtteile bestand, hatte es innerhalb der Stadt eine weitere Anzahl schiffbarer Kanäle gegeben, deren Reinhaltung aber große Mühe verursachte. Darum waren die meisten im Laufe der Jahrhunderte zugeschüttet, jedoch die Spuren solcher Gräben noch in neuerer Zeit zu erkennen. Nunmehr werden mit der Regulierung des Flusses und seiner Ufer auch die letzten Reste der Seitenarme und Gräben im Osten der Stadt bald ganz verschwunden sein.

113 Siehe Anmerkung 93.

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Leitgedanke Einen großen, ganz neuen Baugedanken führte man in der veränderten Grundrissgestaltung der Stadt durch, auf der Grundlage der altchinesischen Anschauung von einer alles bestimmenden Nord-Süd-Achse. Feste Richtpunkte dafür bilden der Nordberg, eine kurze Einklinkerung in der Mitte der Südmauerstraße und zwischen ihnen das lange Rechteck des alten Gouverneurs-Yamen, dessen Gebäude im Tumult der Revolution verbrannt und dadurch völlig niedergelegt worden waren. In diesem axialen, nord-südlichen Zuge schuf man durch einen sehr bedeutenden, völligen Durchbruch von eineinhalb Kilometer Gesamtlänge eine breite Hauptstraße bis zum Fluss, auf dem Grunde des alten Yamen einen öffentlichen Park, an dessen Nordende den neuen Regierungspalast für die Stadt, dahinter auf dem weiten freien Gelände zu Füssen des Berges den Erinnerungsbau für Sun Yat-sen in Gestalt der riesigen zentralen Halle mit monumentalen Zugängen, alles in altem, klassischem Stil. Diese Achse setzte sich fort im Norden auf den Berg, endete dort oben jedoch nicht etwa in dem neuen, später erbauten weißen Denkmalpfeiler selber, sondern man ordnete diesen auf der Höhe stark seitlich im Westen an. Hier hält er das Gleichgewicht zu dem alten Monument des Turmes der fünf Geschosse, Wutseng lou [Zhenhai Turm], der entsprechend seitlich im Osten der Achse, weiter rückwärts steht und auch zum Teil massiv verstärkt und mit sorgsamer Ehrfurcht dauerhaft ausgebaut wurde. Nun bilden beide Bauten, der alte und der neue Turm, gemeinsam ein Paar religiöser Wahrzeichen und schaffen zugleich den ästhetischen Ausgleich auch mit der unteren Zentralhalle, dem Endpunkt der großen Achse in der Ebene. Durch jenes Dreieck hervorragender Bauten in verschiedenen Höhenlagen wurde die Aufgabe, einen natürlichen Abschluss der großen Stadtachse auch auf der unregelmäßig gestalteten Bergkuppe zu schaffen und dabei das alte Baudenkmal des Wutseng lou [Zhenhai Turm] mit zu benutzen, zugleich in altchinesischem wie in modernem, freien Sinne überraschend neuartig und doch auf das Beste gelöst. Vorläufig wird das Bild allerdings noch empfindlich gestört durch den kugelrunden Hohlbehälter, den die Ingenieure für Wasserversorgung der Stadt, unter merkwürdiger Duldung der Zentralbehörde, dort oben errichtet durften in unbegreiflichen, rein statischen und nackten Formen, wie sie indessen auch bei uns selbst an bedeutungsvollsten Stellen nicht unbekannt sind. Es ist sicher, dass jenes in jeder Hinsicht ungehörige Wassergerät in naher Zeit von dort verschwinden und den Weg frei machen wird zum Begreifen der einzigartigen Gruppe neuer, nationaler Baukunst.114 Nach der anderen Seite im Süden verlängert man den leicht nach Osten abgebogenen südlichen Teil der Hauptstraße über den Perlfluss durch eine neue und groß-

114 Der Wasserbehälter steht heute noch, wird aber in seiner Wirkung durch den Baumbestand gemildert. (Hinweis MK).



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Abb. 53: Der Wasserturm im Bereich des Nordberges auf einer Aufnahme vom August 1935. (Postkarte, mit freundlicher Genehmigung, Sammlung Michael Kaempfe).

artige, erste moderne Stahlbrücke in Südchina.115 Sie überspannt den Flusslauf genau senkrecht in einer Länge von 300 Metern, und ermöglicht den großen Schiffsverkehr durch zwei mächtige Klappteile, die bei Bedarf eine breite Öffnung freigeben.116 Die Straße setzt sich auf dem gegenüber liegenden Honam fort als Hauptader für die kommende Bebauung der werdenden Tochterstadt, die sich auf der Insel ausbreiten wird. Nachdem die große Linie durch Ringstraßen und axiale Hauptstraße einmal gefunden und festgelegt war, auch innerlich begründet durch kultische Verbindung mit dem Gedächtnis an Sun Yat-sen, wurde diese Gesinnung folgerichtig übertragen auf die weitere Ausgestaltung des Straßennetzes. In Anlehnung an die alten Straßenzüge baute man die Hauptadern aus, und es ist deutlich zu erkennen, wie die Ziele wuchsen mit der fortschreitenden Durchführung. Man scheute sich nicht, erst behelfsmäßig befestigte Strecken noch einmal, ja wiederholt zu ändern, bis das Ergebnis befriedigte und klare Unterschiede erreicht waren in Straßen für bestimmte

115 Die Brücke wurde Februar 1933 eröffnet. Siehe Lee, 1936: S. 20. 116 Die Brücke wurde 1949 von den Truppen der Nationalregierung zerstört und später ohne die aufklappbaren Teile wieder aufgebaut. (Hinweis MK).

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Grade von Verkehr, Geschäftsleben und Wohnstätten, für Verbindung zu Fluss und Eisenbahn, für Aufschließung zumal der äußerst dicht besiedelten westlichen Vorstadt und der weiteren Umgebung, hier unter Rücksicht auf Zukunftspläne für die kommende Weltstadt.

Durchbrüche Zur Ausführung des neuen Straßennetzes wurden besonders in den engbebauten Teilen – und das waren die meisten – rücksichtslose Durchbrüche erforderlich in einem unerhörten Ausmaß. Wenn es sich dabei auch nicht um so große Gebäude und so teure Grundstücke handelte, wie in unseren hochentwickelten großen Städten, so waren die Maßnahmen, im rechten Verhältnis gesehen, nicht weniger einschneidend und hart. Mit Prozessen gegen hunderte von Betroffenen durfte man sich nicht aufhalten, es musste gearbeitet werden mit kraftvollen und schnell wirksamen Verordnungen.

Entschädigungen Im Vordergrund stand die Frage der Entschädigung. Fremde, die den Dingen ferner stehen, stellen es sich zuweilen so vor, dass in China ohne Umstände enteignet wird und dann der Geschädigte sich selber überlassen bleibt. Davon kann natürlich nicht die Rede sein. Das Bewusstsein altüberkommener Ordnung von Privateigentum und dem Anteil des Staates ist heute so lebendig wie je. Maßgebend für eine angemessene Regelung der Ansprüche aus den Durchbrüchen in Kanton blieb die Überlegung, dass ein Eigentümer, der nicht etwa sein ganzes Haus und Grundstück verlor, noch die Möglichkeit hatte, den Rest wirtschaftlich zu nutzen und darüber hinaus an der Wertsteigerung teilzunehmen, die er als Anlieger an der neue ausgebauten Straße zu seinem Teile erfuhr, sofort oder später. Solch unsichere Wechsel auf die Zukunft, der freie Spielraum für Gewinn oder Verlust, je nach Tüchtigkeit und Glück des Einzelnen, spielten eine bedeutende Rolle in der Auffassung des einzelnen Chinesen über sein Leben und seine wirtschaftliche Lage. Wie hätte die Regierung nicht auch diese Anschauung in Rechnung stellen sollen und zu ihren Gunsten dem Eigentümer ein gutes Teil des Wagnisses überlassen? Was wir als Vergewaltigung empfinden, wird dort vom Volk noch als gerecht verstanden, zumal der Einzelne die Freiheit hat, seine Geschicklichkeit in Geschäften zu beweisen und seit je vor die Notwendigkeit gestellt ist, mit seinen Schwierigkeiten allein fertig zu werden. Er weiß, dass es ohne Härten nicht geht und dass aus Verhandlungen mit dem Staate Reichtümer nicht zu erwerben sind. Darum entsprang auch die erzwungene praktische Lösung nach einem gesunden und natürlichen Rechtsempfinden der Gemeinschaft, und sie hielt den Mittelweg zwischen privatem und öffentlichem Vorteil, wobei aber der öffentliche durchaus den Vorrang behauptet.



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So kam es, dass die Anlieger an der neuen Straße, wenn sie von ihrem Besitz bis zu neun Zehntel übrig behielten, in der Regel überhaupt keine Entschädigung erhielten. Das betraf auch die großen Tempelanlagen, die zuweilen mehrere Male durchschnitten wurden. Bei weiterer Abgabe von Bodenfläche stieg die Entschädigung nach einigermaßen bestimmten Sätzen und wurde erst dann, wenn das ganze Grundstück verloren ging, in voller, doch sicher nur bescheidener Höhe gewährt. Die Zahlung der Entschädigung erfolgte natürlich nicht in bar, sondern durch Anweisungen, die eine lange Lauffrist hatten, doch schnell bevorzugte Handelspapiere wurden und den Wiederaufbau geradezu erleichterten. Das bekannte Misstrauen unter den Fremden, dass jene Papiere wertlos seien und nicht eingelöst wurden, war ungerechtfertigt, sie machten nur die starken Schwankungen des Geldmarkes mit, behielten aber ihre Kaufkraft.

Zwischenzustand Das Bild solcher neuen, noch nicht voll ausgebauten Straßen war äußerst bunt, ja zerrissen. Ruinen, Lücken, Neubauten und fertige Gebäude wechselten malerisch mit einander ab in allem Werk und Schutt des Straßenbaues. Auf den verbliebenen Restflächen der Grundstücke waren die alten Gebäude, oft selber schon mehrere Geschosse hoch, trotzdem nach der neuen, mathematischen Straßenlinie ganz unbedenklich durchschnitten und ragten nun vereinzelt empor als seltsame Turmstücke, häufig nur wenige Meter breit. Man hatte sie notdürftig hergerichtet, meist mit einer Art von Front ausgestattet oder mit benachbarten Überbleibseln verbunden durch Flügel und Anbauten. Stets war es ersichtlich, dass die betroffenen Eigentümer sich vorläufig noch über Wasser hielten und einen günstigen Zeitpunkt abpassen wollten für gute Verwertung. Wie schnell aber dieser Umbau, die laufende gänzliche Erneuerung der Häuserreihen in Wahrheit vor sich ging, bewiesen die zahlreichen langen und voll ausgebauten neuen Straßenzüge, die jene Umbildung ebenfalls durchgemacht hatten, seit Jahren aber schon eingefasst waren von hohen Gebäuden nach einheitlichen Bauvorschriften. Viele dieser Gebäudereihen, besonders an den reinen Geschäftsstraßen, zeigten sich in funkelndem Gewande, auch reich verziert mit Farbe, Schnitzarbeiten und Architekturformen, auf lange Strecken mit Laubengängen versehen. Gerade bei diesen hatte die städtische Finanzbehörde einen weiteren Druck auf die neuen Besitzer erfunden. Für die Hausteile, die in den oberen Geschossen sich über jenen öffentlichen Laubengängen, dem alten eigenen, jetzt aber neuen städtischen Grund und Boden erhoben, musste der alte Besitzer sogar noch besondere Abgaben entrichten.

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Starke Kräfte Der erstaunlich schnelle und großzügige Umbau der Straßen und ganzen Stadtteile in Kanton ist nach jeder Richtung hin ein Wunder. Die Arbeiten mussten ausgeführt werden im unaufhörlichen Fluss stärkster Geschäftigkeit einer Millionenstadt und gleichzeitig an vielen Stellen, verwickelte Strömungen im Handel, Industrie und Regierungsaufgaben kreuzten sich ständig und fast unübersehbar. Dazu kam unaufhörliche Beunruhigung durch innere und äußere Politik, Bürgerkriege und Aufstände, Streik und Boykott, durch Störungen auch von Seiten der eigenwilligen Gewerkschaften, ferner gab es Rückschläge in der Finanzwirtschaft gerade der Provinz Kuangtung [Guangdong] im Gefolge der schleichenden Krise der vorausgegangenen Jahrzehnte in der Weltwirtschaft. Doch starke Kräfte trieben das Werk vorwärts. Vornehmlich waren es der Zwang zur Beseitigung eines misslichen Zwischenzustandes, Unternehmungslust und kaufmännisches Genie der chinesischen Handelswelt, die unwiderstehlich sich ausdehnende Wirtschaft und das Vertrauen auf die kommende große Entwicklung, deren Ziele jedermann kannte. So half gerade der örtliche Druck behördlicher Maßnahmen jene Missstände überwinden. Beide Teile, Regierung und Volk, handelten über alle Gegensätze hinweg in vollem Einverständnis, in der gleichen Linie. Allerdings erscheint diese uns eindeutigen Westländern meist lässig geführt, vielfach gebrochen und ohne rechte Wirkung, dennoch leitete sie die chinesischen lebendigen Kräfte sicher zum Ziele. Den Beweis dafür liefert das tatsächliche und gewaltige Ergebnis.

Widerstände Der Durchführung jeder wichtigen, öffentlichen Aufgabe türmen sich Berge innerer Schwierigkeiten entgegen. Genau wie bei uns kämpft die chinesische Verwaltung mit einer unheimlichen Macht der Beharrung im Hergebrachten und mit weiteren starken und rührigen Gegnern, die aber ganz andere, eigennützige Ziele verfolgen. Mag man aus dem Endergebnis schließlich die wahre und entscheidende Kraftlinie ermitteln, so laufen in der rauen Wirklichkeit die Dinge durchaus nicht glatt. So geschah es auch mit der Riesenaufgabe der Durchbrüche. Diese machten durch großes Ausmaß und lange Dauer der Bauarbeiten viel böses Blut und verursachten immer neue Einsprüche. In besonderen Fällen wurde diesem Rechnung getragen durch gewisse Änderung der Bauvorhaben. So war beabsichtigt, den gewaltigen Ehrenplatz um die Gedenkhalle des Sun Yat-sen zu Füssen des Yurch hsiu schan [Yuexiu Shan], auch Berg der Kuanyin [Guanyin] genannt, mit Beschleunigung ganz frei zu legen, um den öffentlichen Ehrenpark auch den Abhang des Berges hinauf voll auszugestalten. Auf jenem Platz befand sich aber noch ein kleiner, dicht bebauter Stadtteil, der im wesentlichen aus einer geschlossenen Familiensiedlung bestand. Deren Umsiedlung musste zu den größten Schwierigkeiten führen. Darum schob man den Abbruch dieses Teiles



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auf, zumal unmittelbare Verkehrsrücksichten nicht in Frage kamen. Bei den reinen Verkehrsstraßen aber ließ sich der Widerstand der Eigentümer und der Handelswelt überwinden durch Staatsgewalt und die wachsende Einsicht der Betroffenen. Doch auch im eigenen Kreis der Behörden gab es hellen Widerstreit. Den Vorrang hatten militärische Forderungen. Der allmächtige Marschall Chen Chitang [Chen Jitang], der sich zum eigentlichen Herrscher über Kuangtung [Guangdong] und den Süden aufgeworfen hatte, wollte den Ausbau seines Heeres mit allen Mitteln vorwärtstreiben, sah sich aber darin gestört, weil zu große Summen für Bauzwecke ausgegeben wurden. Und wenn auch der Ausbau von Kanton auf lange Sicht die Entfaltung der Wirtschaft und Volkskraft überhaupt erst ermöglichte, so stellte der Marschall, der die großen Zusammenhänge offenbar nicht genügend übersah oder auszunützen verstand, in den Vordergrund die unmittelbare Sicherung seiner Machtstellung und die Vorbereitung seiner dunklen politischen Pläne auf Sonderstellung des Südens. Diese Pläne standen aber durchaus nicht in Einklang mit der Wohlfahrt weder der Provinz noch des Reiches, und Chen Chitang [Chen Jitang] erlebte schon nach drei Jahren seinen gerechten Zusammenbruch und verlor alles. Damals aber drang er natürlich durch. Eines Tages vertraute mir der Baudirektor Yun Menghung an, dass er gezwungen worden wäre, sein Amt niederzulegen.117 Der Marschall hatte wegen der großen Aufgabe für den Umbau der Stadt nicht etwa Einschränkung verlangt in den nächsten Bauabschnitten, die allerdings, allein im Inneren der Stadt, die Ausführung weiterer 20 Kilometer neuer Straßen und neue gewaltige Durchbrüche vorsahen, sondern sogar sofortige, rücksichtslose Einstellung aller Arbeiten, die zum größten Teile schon im Gange waren. Solche Einstellung musste aber die schwersten Rückschläge zur Folge haben in den laufenden Bauarbeiten, wie für Unternehmer, Besitzer und schließlich für die Ziele der Stadt selber. Der Leiter des Stadtbauamtes, der die Pläne aufgestellt, wäre für alle Schwierigkeiten und Verluste bestimmt verantwortliche gemacht worden von Bevölkerung und Regierung. Darum weigerte er sich, dem Befehl nachzukommen, er trat zurück und überließ die Abwicklung der schwierigen Sachlage seinem alsbaldigen Nachfolger, einem in Amerika ausgebildeten Ingenieur.118 Der frühere Baudirektor Yun Menghung119 wurde danach im Aufbauamt der Provinz beschäftigt, später zu städtebaulichen Studien nach dem Yangtze [Jangtse], dem Norden und nach Japan entsandt und erhielt schließlich die Stelle eines Abteilungsleiters im Eisenbahn-Ministerium in Nanking, wo ich ihn im folgenden Jahre wiedersah.

117 Siehe Anmerkung 93. 118 Am 2. November 1933 berichtete die Hong Kong Daily Press über die Ernennung von Man Shu Sing (Wen Shusheng) zum neuen Chef der Public Works. Er hatte in den USA Elektrotechnik studiert. (Hinweis MK). 119 Siehe Anmerkung 93.

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Als unliebsame Folge seines Ausscheidens wurden auch drei seiner technischen Mitarbeiter, die in Deutschland studiert hatten und von ihm in das Bauamt übernommen worden waren, alsbald durch seinen Nachfolger entfernt und durch dessen eigene Freunde ersetzt. Auch jene deutschstudierte Ingenieure wurden später nach Nanking in Behörden und Ministerien berufen. Solche persönliche Verbundenheit in den Ämtern, ja auch nicht bei uns ganz unbekannt, ist uralt chinesisch und noch heute stark in Übung bei Behörden, selbst im Heere bei Offizieren. Nur langsam tritt an ihre Stelle Besetzung der Stellen aus rein dienstlichen Gründen.

Vermessung Zu den ersten technischen Voraussetzungen für Umbau und Ausbau von Städten gehören neuzeitliche genaue Vermessungen. Alte chinesische Aufnahmen und Karten von Kanton gab es seit langem, jedoch für moderne Zwecke reichten sie bei weitem nicht aus. Die Chronik des Kreises Pan yü [Panyu], der bis zur jüngsten Zeit den östlichen Teil des Stadtkreises Kanton oder Kuangtschou-tschang [Guangzhou-chang] bildete, zeigt im zehnten Jahre der Regierung Tung Tschi [Tongzhi], also 1871, noch die üblichen skizzenhaften Aufnahmen von Stadt und Umkreis in sehr kleinem Maßstabe, gibt also nicht mehr als einen allgemeinen Überblick über die örtliche Lage. Doch ein umfangreicher Nachtrag der Chronik, gerade noch im letzten Jahre der Mandschu-Herrschaft 1911 herausgegeben, bringt in einer langen Reihe von Kartenblättern bereits hinreichend genaue Pläne in sehr geeignetem Maßstabe 1:50.000. Damals, unter dem Druck der neuen Entwicklung, waren neue Vermessungen mit Messtisch schon von einem bedeutenden Teile der Deltagegend ausgeführt, sie wurden in der Folgezeit trotz aller Wirren über die ganze Provinz ausgedehnt, und seit einiger Zeit liegt die fertige Aufnahme des gesamten Kuangtung [Guangdong] vor im einheitlichen Maßstabe von 1:50.000 und in einer vorläufigen Genauigkeit, die einigermaßen unseren Anforderungen entspricht. Die alten Stadtpläne von Kanton wurden, wie alle solche Karten, zu besonderen, vorrübergehenden Zwecken, in plastischer Zeichnung, doch meist äußerst ungenau und nur sehr kleinen Auflagen hergestellt, waren deshalb schnell vergriffen und sind heute nur sehr selten noch zu finden. Doch die modernen Bauaufgaben einer wachsenden Großstadt verlangen immer wieder neue, sorgfältige Messungen. Aus der ersten großen Vermessung, die für Kanton durch deutsche Ingenieure ausgeführt wurde, war 1907 die erste moderne große Karte des engeren Stadtbezirkes entstanden.120 Später hat das Stadtbauamt durch seine Vermessungsabteilung weitere große Arbeit geleistet. Dauernd sah ich Messtrupps noch überall am Werk, um das große Katasterbuch laufend zu berichti-

120 Die Vermessung wurde durch F. Schnock vorgenommen und die Karte wurde bei Perthes in Gotha gedruckt. (Hinweis MK). Siehe Anmerkung 111.



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gen und neue Unterlagen zu schaffen für den fließenden Ausbau der Stadt, hierbei im Einvernehmen mit dem Vermessungsamt der Provinz. Das Ergebnis war außer einer langen Reihe von Karten, auch der weiteren Umgebung, vor allem ein neuer Plan der engeren Stadt und von Groß-Kanton, also auch des erweiterten Stadtgebietes. Dieser Plan ist ausgeführt in dreizehn Blättern von je 72 mal 46 Zentimetern, photolithographisch in drei Farben und im Maßstab 1:10.000 gedruckt und wurde mir durch Vermittlung von Professor Dr. Panzer zur Verfügung gestellt vom Hauptvermessungsamt. Auf jener Karte beruhen einige hübsch ausgeführten Karten der engeren Stadt, die im Handel erhältlich sind. Jenes Hauptvermessungsamt, das in einer geräumigen Gruppe moderner Bauten im Nordosten der Stadt untergebracht ist, ist zuständig für die Landesaufnahme der Provinz und gehört darum seit geraumer Zeit zu den militärischen Behörden, wie das heute in China bereits durchweg der Fall ist nach unseren Vorbildern. Als Ergänzung für Sonderzwecke der einzelnen zivilen Behörden, vor allem Städte- und Wasserbau, gibt es dort noch die kleinen Abteilungen für Vermessung, genau wie bei uns.

Große Gliederung Auf der sicheren Grundlage brauchbarer Pläne war es möglich, den Umbau der Stadt im Inneren und ihre Erweiterung im Gebiet Groß-Kanton planmäßig vorzunehmen. Neben der Anlage des Straßennetzes handelte es sich vor allem um Aufteilung der Gesamtfläche im Hauptbezirke für den verschiedenen öffentlichen und privaten Bedarf. Dabei ging man mit jenem Weitblick vor, wie die Größe der Aufgabe und die chinesische große Linie in Raum und Zeit es bedingten. Für den Neubau von Kanton zeichneten sich klar drei bedeutende Abschnitte ab, sie mussten stetig in einander überführen, sich durchdringen, jedoch enden im Ziel eines Groß-Kanton, dessen künftig notwendige Gesamtfläche etwa von 320 Quadratkilometer sich allmählich erkennen ließ und alsbald festgelegt wurde als einheitlicher Verwaltungsbezirk. Jene drei Bauabschnitte waren folgende: Einmal galt es den Ausbau der inneren Stadt, die mit ihren drei schon vorhandenen Vorstädten bereits zur Einheit verbunden war. Von diesen war die westliche Vorstadt Si kuan [Xiguan, heute Liwan Distrikt] am dichtesten bebaut, jedoch nach Westen kaum mehr ausdehnungsfähig, da dort der nördliche Doppelarm des Perlflusses eine Grenze setzte. Die östliche Vorstadt Tungkuan [Dongguan] war im Anschluss an die alte Ostmauer erst zum Teil dichter bebaut, im übrigen auf dem weiter östlich anschließenden, recht bewegten Gelände, zwischen einer Anzahl alter Dörfer, sehr geeignet für eine Siedlung aus getrennten Wohnanlagen und Baugruppen. Die südliche Vorstadt Honam, auf der Insel jenseits des Perlflusses, schon seit langem ein betriebsamer, dicht bevölkerter eigener Stadtbezirk, bot die Möglichkeit für eine starke Erweiterung nach Süden und vor allem nach Osten bis zur Inselspitze von Whampoa.

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Der zweite Bauabschnitt umfasst die Verlegung der großen Verwaltungssitze für Provinz und Stadt, auch der Universität, aus der inneren Stadt weit hinaus nach Osten noch über den Stadtteil von Tungkuan [Dongguan] hinweg. Dort, nördlich der Bahnlinie nach Hongkong, entsteht ein neuer Mittelpunkt für Regierung und Wissenschaft, auch für militärische Anlagen. Der dritte Bauabschnitt sieht vor die Ausgestaltung eines großen Seehafens bei Whampoa und umfasst Flussregelung mit Nebenhäfen bei Kanton, ferner eine Verbindung mit Whampoa durch Siedlungen und Industrien zu beiden Seiten des Perlflusses, endlich die planmäßige Bebauung der gesamten Insel Honam. Diese Bauvorhaben für die neue Großstadt, auf die man sich einrichtete in Erwartung eines großen Aufschwunges, erfassen insgesamt ein Gebiet etwa zwanzig Kilometer Ost-West und zwölf Kilometer Nord-Süd, sie gehören damit zu den größten Unternehmungen und werden in den kommenden Jahrzehnten durchgeführt nach einheitlichem Wurf, doch unter Anpassung an die veränderliche Lage.

Freie Bahn Ein solches Ziel, das neue Groß-Kanton, konnte nur dadurch erreicht werden, dass man bewusst und entschlossen die alten Fesseln sprengte und also auch hier in der neuen Planung durchaus frei und beweglich blieb, das gehörte zu der allgemeinen Auflockerung, die aus dem großen Umbruch entsprang. Schon dass 1911 der völlige Abbruch der gesamten Stadtmauer begonnen und alsbald rücksichtlos durchgeführt worden war, erscheint wie eine Vorahnung späterer Verhältnisse. In der Tat war die Beseitigung der alten Stadtmauern, die eine wirkliche Entfaltung verhinderten, ebenso notwendig gewesen, wie einst bei unseren alten Städten seit Beginn der neuen Zeit. Das ist uns heute eine Selbstverständlichkeit. So fielen in der Folgezeit auch die Mauern noch mancher anderen chinesischen Städte. Als Hindernis werden sie immer unbequemer, je schneller die Entwicklung vorangeht. Ein Beispiel dafür ist unter vielen heute noch Sutschau [Suzhou], westlich von Schanghai. Aber gerade die bedeutendsten Mauern werden vorläufig noch so lange erhalten, wie es irgend geht. Denn wenn es sich handelt um den schmerzlichen Bruch mit dem alt überlieferten schönen Stadtbild und mit dem gewohnten Gleichklang im täglichen Leben, dann müssen auch die Chinesen in ihrem Gefühl ähnliche Hemmungen überwinden wie wir, und der Verlust der liebgewordenen und viel besungenen Mauern und Tore, Kanäle und Brücken um die Stadt fällt ihnen schwer genug. Immerhin war man es in China seit je gewohnt, dass die gefälligen oder gewaltigen, doch immer vergänglichen Werke der Holzbaukunst in gewissen Zeiträumen verfielen und erneuert werden mussten. Diese ewige Notwendigkeit bewahrte die Chinesen auch in der Frage überfälliger Monumente davor, sich übergroßer Empfindungen hinzugeben und etwa eine Ruine zu bewundern, nur um ihrer selbst willen, aus bloßem Gefühl des Rührseligen vor den Trümmern einer zerbrochenen Vergan-



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genheit. Beider Empfindungen, Ehrfurcht und Sachlichkeit, decken sich vollkommen mit den beiden Seiten ihres Wesens, nämlich anfangs mit der vollen inneren Hingabe an rein seelische Bereiche, zugleich aber mit dem starken Sinn für nüchterne Wirklichkeit und Selbstbehauptung. Beide aber sind Zwillinge, sie entsprießen aus der gewissen Wurzel, nämlich aus der Wahrhaftigkeit einer stets schöpferischen Natur mit ihren reichen Gestaltungen, doch klaren Gesetzen. In jener Bereitschaft zur Veränderung und zum Neuen stellten sich auch die Kantonesen ganz auf den Boden der Tatsachen und Notwendigkeiten. So fielen Mauern, Tore und Türme, verschwanden auch Gräben und alte Wasserläufe in neu aufgeschüttetem Gelände innerhalb und vor der Stadt. Im Westen bis an den Nordarm des Perlflusses, wo das neue Wasserwerk arbeitet und Industrien entstehen, am Hauptufer entlang der alten Stadt, und im Osten bis zu den Sandinseln und Zuflüssen wurde und wird fast alles zugeschüttet und angelandet, um geschlossene Bodenfläche zu gewinnen für Erweiterung der neuen Stadt. Ja, man ging noch weiter und legte im Nordwesten, unmittelbar neben dem ehrwürdigen Bergzug im Norden, dem Kuanyin schan oder Yüeh hsiu [Yuexiu] schon mit seinen geheiligten Denkmälern, einige seiner vorgeschobenen Ausläufer, schon halb verwittert und mürbe, doch noch bis 50 Meter hohe Kuppen, in mühevoller Arbeit bis auf den Grund nieder, um nahe Teiche, Niederungen, Gräben auszufüllen und neuen Baugrund zu schaffen für Straßen und Gebäude. Hunderte von Arbeitern mit Feldbahngleisen sah ich wochenlang damit beschäftigt. Diese Arbeiten übertrafen an Umfang bei weitem sogar die englischen Vorbilder im nahen Hongkong und Kowloon, wo man zuerst und unbedenklich ganze, jedoch viel kleinere Hügel abgetragen hatte. In Kanton wurde überdies der starke Umbruch auch alt-religiöser Anschauungen offenbar. Noch bis in die letzte Zeit der Mandschu war man ungern herangegangen an Veränderungen oder gar Zerstörung ganzer Berge, die als Brennpunkte der Kräfte eines geheiligten Erdbodens besonders verehrt wurden. Gerade in Kanton hatten einst, vor 300 Jahren, Literaten und Volk mit Zähigkeit gefordert und schließlich erreicht, dass ein Steinbruch, dessen Ausbeutung bei dem nahen Whampoa das gute Feng Shui der Landschaft bedrohte, geschlossen und neben ihm zur Entsühnung vielmehr die Pagode Tschi kang ta [Chigang Pagode, 1619] errichtet wurde.121 So groß war also der Umschwung, dass heute sogar der ehrwürdige Berg in Kanton selbst zum Teil vernichtet werden durfte. Denn es galt nunmehr, das freie Spiel der Kräfte in Wirtschaft und Verkehr zu fördern. Da blieb kaum noch Raum für alte und strenge Bindungen.

121 Siehe zu dieser Überlieferung auch Boerschmann, 1931: S. 189.

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Abb. 54: Die neuen Straßendurchbrüche im Kernbereich der alten Stadt Kanton. Die erste Brücke über den Perlfluss ist ebenso eingezeichnet wie die Erweiterung nach Ost und West. (Lee, 1936: app).

Stadtteile Der Umbau in der eng bebauten Stadt musste uneinheitlich und widerspruchsvoll bleiben, bis die fließende und stark bewegte Umbildung einigermaßen zur Ruhe gekommen und eine klare Teilung in große Gruppen gefunden war. Die Verwirrung des Anfangs wurde deutlich sichtbar in dem zerrissenen Eindruck der unmittelbar betroffenen Gebäude. Doch einige entscheidende Tatsachen führten zwangsläufig zur neuen Ordnung. Die Lebensform einer neuen Großstadt bedingt schon von sich aus eine deutliche Trennung in Stadtgebiete, die ihr inneres Gepräge haben, indessen völlig ineinander übergehen und miteinander in unbehindertem Austausch stehen. Eine solche Aufteilung in Gruppen nach Lebenshaltung und Beruf entsprach aber durchaus dem chinesischen Gemeinschaftstrieb, der die einzelnen Zweige vor allem in Handwerk und Handel nach Möglichkeit zusammenfasste in gesonderte Straßen und damit auch wieder beitrug zu dem bekannten Ablaufe chinesischen Lebens nach Ordnung und Rhythmus. Nur hatte jene Trennung sich immerhin in engen Grenzen gehalten, zumal in den alten, engen Städten des mittleren und südlichen China mit ihren schwierigen, inneren Verkehrsverhältnissen. Dort herrscht trotz allen Strebens nach Zusammenschluss der einzelnen Gesellschaftsklassen doch immer noch eine weitgehende Vermischung von Hoch und Niedrig, auch an geistiger Bildung und



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Gewerbe, von Verwaltung und freiem Handel. Da erleichterte das neue und klare Straßennetz die Bildung von Stadtteilen für die verschiedenen privaten und öffentlichen Zwecke. Denn die breiten und bequemen Straßen trennten nicht, wie die alten Mauern und engen Gassen, sondern schufen jene notwendige und enge Verbindung zwischen den Stadtteilen zu lebhaftem Austausch.

Alte Häuserblocks So zeichnete sich schon mitten im Umbau die kommende Gliederung deutlich ab. Innerhalb der alten, kleineren Häuserblocks, die nunmehr von neuen Straßenzügen begrenzt wurden, hielt sich noch gerade der alte Zustand und wandelte sich erst leise, dann meist im Sinne der altvertrauten Formen in Wohnung und Leben. Doch gibt es noch die engen Gassen und Gehöfte, wo die Dächer fast aneinanderstoßen und oft nur winzigste Höfe freilassen. Breitere Durchgänge oder kleinere Plätze sind besetzt mit fliegenden Garküchen und Händler aller Grade, mit Reihen von Zelten und Buden für Wahrsager und Wechsler. Hier und da geht es zu geräumigen Geschäften alten

Abb. 55: Eine typische enge Gasse im ­historischen Teil von Kanton. (Lee, 1936: 6).

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Stiles, zu Schreinern und Tempeln, die zwar noch häufig das Volk am opfern, doch kaum mehr ihre großen Tage sehen. In diesen entlegenen Bereichen schieben sich zuweilen schon Bauanlagen zwischen das hergebrachte Leben, etwa Gruppen von Markthallen, eine neue Errungenschaft in zweckmäßigen, doch höchst eigenartigen und auffallenden Formen, in denen altchinesisches Empfinden sich steigern kann zu einem fast herrischen Ausdruck hochgemuter Neugier und doch in sich begrenzt bleibt. Dann wieder gibt es, am häufigsten in der westlichen Vorstadt, lange Straßenzüge, an denen Steinschleifer, Schnitzer, Dreher, Weber und alle ihre Genossen der anderen 72 Zünfte vor unseren Blicken noch nach tausendjähriger Übung tätig sind in offenen Räumen entlang dem schmalen Fußweg aus abgetretenen und unregelmäßigen Steinplatten, die wir bei Regen willkommen heißen als feste Inseln zwischen schmutzigen Wasserpfützen.

Geschäftsstraßen Aus solchen alten Häuservierteln gelangt man jetzt immer wieder schnell auf die umschließenden breiten und neuen Geschäftsstraßen. Sie erhalten ihr besonderes Gepräge meist durch bestimmte Handelszweige. Hier schlossen sich die neuen Buchläden und Papierläden zusammen, dort die Geschäfte für Seide oder für Silber, wieder auch für Tuche oder Möbel, Metallarbeiten und Kunsthandel. Vereinzelt dazwischen stehen größere Warenhäuser, in denen der chinesische Kaufmann die neue Form geschickt benutzt und doch noch fast im alten Stil bleibt. Immer sind es gleichmäßige schmucke Häuserreihen von drei bis vier Geschossen. Die oberen Geschosse enthalten in der Regel Privatwohnungen in einer bemerkenswerten Mischung chinesischer Bedürfnislosigkeit, etwa bei den engen und steilen Treppen und knappen Fluren, und wiederum behaglichen Breite in den luftigen Wohnräumen nach chinesischem Grundriss und Bedürfnis.

Regierungsviertel Aus diesen Stadtvierteln mit neuen Kaufläden für die breite Masse und Wohnungen der Bürger, heben sich bereits klar heraus die Bezirke für öffentliche Bauten, die bedeutendsten von ihnen liegen nahe bei einander im nördlichen Stadtteil auf den ausgedehnten Grundflächen der alten Regierungs-Yamen, doch auch zwischen ihnen auf neu erworbenen Grundstücken. Dort wurden eingerichtet oder erstanden neu die Verwaltungsgebäude für den Amtssitz des Marschalls, für Gouverneur, den Bürgermeister, noch gesondert für Finanzen, Unterricht, öffentliche Arbeiten und andere Zweige. Diese große Gruppe befindet sich in größter Nähe der nationalen Gedächtnisbauten und des Zentralparks, noch im Bannfeld südlich des Bergzuges Yüeh hsiu schan [Yuexiu Shan].



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Abb. 56: Ein Blick über die Kernstadt von Kanton. Im Hintergrund ist der Doppelturm der zwischen 1863 und 1888 erbauten römisch-katholischen Herz-Jesu-Kathedrale erkennbar. Links im Hintergrund sieht man die Blumenpagode und im Zentrum den Berg der Weißen Wolken. (Unbekannter Fotograf, mit freundlicher Genehmigung, Sammlung Michael Kaempfe).

Uferstraße Am schnellsten und eindrucksvollsten wuchsen empor die neuen Teile am Flussufer und in den angrenzenden Straßen. Hier, entlang dem Bund, im unmittelbaren Angesicht des nie rastenden, riesigen Verkehrs auf dem Strome, ragen heute in unabsehbarer Reihe empor mächtige Hochbauten, Hotels und Warenhäuser mit Gaststätten und Theatern, Bürogebäude auch für die Seezollverwaltung – ständig neue Bauten bis zu zehn Geschossen, alle im europäischen und amerikanischen Baustil. Sie bekunden den Willen, die Stadt, auch im festlichen Aufwand ihres äußeren Bildes zu einem modernen Brennpunkt ersten Ranges zu gestalten.

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Abb. 57: Dieselbe Situation am Bund wie Abbildung 58 von der anderen Seite. (Unbekannter Fotograf, mit freundlicher Genehmigung, Sammlung Michael Kaempfe).

Abb. 58: Entlang des Bund in Kanton lagerten in dichten Reihen die Sampans. (Unbekannter Fotograf, mit freundlicher Genehmigung, Sammlung Michael Kaempfe).



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Abb. 59: Entlang des Bund entstanden in den 1920er und 30er Jahren hohe Neubauten. (Unbekannter Fotograf, mit freundlicher Genehmigung, Sammlung Michael Kaempfe).

Westliche Vorstadt Die wohlhabenden Familien und höheren Beamten hatten schon in der Mandschuzeit, und wohl noch früher, ihre geräumigen Heimstätten alter Bauart mit Höfen und Gärten gern erbaut an der äußersten Westgrenze der westlichen Vorstadt: Si kuan [Xiguan]. Die neue Stadtplanung folgte dieser Überlieferung und bestimmte dort gewisse neue Straßenzüge und besondere Wohnstraßen für den Bau vornehmer, chinesischer Eigenheime, die tatsächlich alsbald in großer Zahl entstanden. Reiche Familien bauten auf ihren alten Grundstücken moderne Teile mit der Front an der Straße. Lange Reihen von glatten Hausfronten mit nicht mehr als zwei Geschossen und nur einem schönen Eingangstor im Erdgeschoss ohne Frontfenster zeigen die alte chinesische Grundhaltung, die in dieser Weise gerade Kanton stets eigentümlich gewesen war. An anderen Stellen in jenem Bereich ist man schon übergegangen zu freistehenden Einzelvillen, die zwar im allgemeinen schon europäische Bauart zeigen, doch durchweg auch noch altchinesische Züge erkennen lassen. Jene abgelegenen, ruhigen Straßen, ohne jeden Handel, entsprechen durchaus unseren wohlhabenden Vororten mit Villen und Gärten, nur ist ihr Gesamtbereich recht klein und umschlossen von der dichten Stadt.

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Östliche Vororte Da im Westen die große Bahnlinie, der nördliche Flussarm und technische Werkanlagen eine weitere Ausdehnung für Wohnbau nicht zuließen, so wurde der neue, große Villenvorort weit im Osten angelegt, im neuen Stadtteil Tung schan [Dongshan]. Hier bestand gleichfalls eine gewisse Überlieferung, denn auch hier waren einige altchinesische Familien schon seit langem ansässig gewesen. Jetzt wurde dort ein großes Gebiet, im Anschluss an die dicht bebaute alte östliche Vorstadt Tung kuan [Dongguan], für den Einzelwohnbau erschlossen, und in wenigen Jahren war eine ausgedehnte Siedlung entstanden in dem freien und weiten Gelände, das mit gefälligen Höhenzügen durchsetzt war und daher den Namen Ostberge, Tung schan [Dongshan], erhielt. Dort standen schon 1933 zahlreiche Villen, bevorzugt in ganz europäischem Geschmack, zum großen Teil auch von Europäern bewohnt, denen dieser Bereich zum Wohnen zugewiesen war. Hohe Beamte und Offiziere, voran der Marschall Chen Chi teng (Tschen Tschitang) [Chen Jitang] hatten dort ihre weitläufigen Wohnanlagen erbaut, in eigenartiger, oft sehr guter Anordnung nach chinesischem Landschaftsstil, und mit zweckmäßigen modernen Gebäuden. Dort befinden sich auch der Deutsche Klub und sehr geräumige chinesische Klubanlagen für Geselligkeit und Sport, Polo und Wassersport. Nach Süden geht das Gebiet jenseits der Bahnlinie nach Kanton über in das Ufer und die Sandinseln der Flussarme. Dort waren auf neu-geschüttetem Boden bereits große Siedlungen im Entstehen, neues Land wurde durch Zuschütten der Wasserläufe ständig gewonnen. Nach Norden aber und weiter nach Osten sind zwischen den engen alten Dörfern, die allmählich umschlossen werden von der neuen Bebauung, und zu beiden Seiten der Bahnlinie nach Hongkong-Kowloon, militärische Anlagen im Gelände verteilt, Kasernen, Übungsplätze, Flugplätz und Flugamt, Kriegsschulen, ebenfalls in Anlehnung an die alte Überlieferung, denn in dieser Gegend hatten sich stets, auch noch in der Mandschuzeit, militärische Einrichtungen und Stützpunkte befunden. Dazu gehörten nun auch die neuen nationalen und militärischen Denkmäler und Friedhöfe, die in großer Zahl gerade im Osten verstreut liegen und sich wiederum anlehnen an den Kultgedanken der nahen Weißen Gräberberge [Baiyun Shan]122 im Norden. So ist dieser weite Raum im Osten, der eine Fläche wohl von drei mal fünf Kilometer für die bauliche Benutzung frei gibt, sehr geeignet, um alle Aufgaben auch mit großen räumlichen Ansprüchen durchzuführen im Einklang mit Ahnenkult und Heldenverehrung.

122 Die Weißen Gräberberge sind hier wohl eher literarisch zu verstehen. Denn eigentlich handelte es sich um großflächige Grabanlagen auf den Weißen Wolkenbergen (Baiyun Shan). (Hinweis MK).



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Groß-Kanton Bei allen Maßnahmen für umfassenden Ausbau der Stadt blieb man sich bewusst, dass ein neues Groß-Kanton und die moderne Entwicklung der gesamten Provinz schon in naher Zeit eine ungeheure Vergrößerung des zentralen Verwaltungsapparates mit sich bringen musste. Dafür war bei Zeiten Vorsorge zu treffen. Im Inneren der Stadt reichte der Raum nicht entfernt aus zur Unterbringung aller Verwaltungszweige in großen und zweckvollen neuen Gebäuden. Die jetzt hergerichteten oder neu erstandenen Bauten, so umfangreich und kostspielig sie waren, konnten nur das erste Bedürfnis befriedigen.

Neue Regierung und Universität Man fasste einen Entschluss von weittragender Bedeutung. Als künftiger Sitz des Provinzgouverneurs wurde ein Bereich weit außerhalb der Stadt im Osten bestimmt, noch über Tung schan [Dongshan] hinaus, im bewegten Hügelland südlich der Ausläufer des Pai yun schan [Baiyun Shan], wohl fünf Kilometer entfernt von der jetzigen Stadtmitte. Dort sollte ein ganz neues, riesiges Regierungsviertel entstehen, nach einheitlichem Plan, als Mittelpunkt des neuen Stadtgebietes im Osten. In der Nähe waren bereits die neuen Baulichkeiten der Sun-Yat-sen-Universität, die man ebenfalls aus der Stadt dort hinaus verlegte, weit vorgeschritten auf einer Grundfläche von fast drei Quadratkilometer. Künftig werden beide Anlagen den gewiesenen Ausgangspunkt bilden für den Stadtbereich, der nur den höchsten Zwecken von Regierung und Bildung dient und ganz abgesondert liegt, dennoch nach der Stadt zu nahe genug dem modernen Wohnteil Tung schan [Dongshan] und damit leicht erreichbar von privaten Wohnsitzen. Nach der anderen Seite, gegen Südost zu, hat dieses neue Gebiet Anschluss zum Hafen von Huangpu [Whampoa], von wo überdies die neue Verbindungsbahn unweit südlich der Universität vorbeiführt, auch nach den Bahnhöfen im Norden und Westen der Altstadt Kanton.

Stadtverwaltung Für die Stadtregierung war der neue Stadtpalast – 1933 im Bau und 1934 fertiggestellt am Nordende des Zentralparks – im Zuge der großen Hauptachse vom Nordberg gegen Süden.123 Selbst dieser monumentale Bau sollte nach den ersten Absichten nur

123 Das neue Gebäude für die Stadtverwaltung wurde von dem Architekten Lin Keming (1900–1999) entworfen, der seine Ausbildung in der Tradition der École des Beaux-Arts in Lyon absolviert hatte. Siehe Lai, 2009: S. 156, siehe auch Abb. 24.

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vorläufig für die Stadtverwaltung dienen, später als Bibliothek eingerichtet werden, den endgültigen Sitz des Stadtpräsidenten wollte man an anderer Stelle errichten. Es scheint, dass man von diesem Plan Abstand genommen hat und jetzt gewillt ist, den jetzigen Palast weiter zu benutzen und die notwendige Erweiterung später auf dem benachbarten Yamen der jetzigen Provinzialregierung vorzunehmen. Dadurch würde dieser große Bezirk der zentralen Stadtverwaltung ungemein an Würde gewinnen in baulicher Gestaltung wie innerem Gehalt. An vornehmster Stelle zu Füssen der nationalen Denkmäler wird er umgeben bleiben von Bibliotheken, Museen, Schulen und allen Einrichtungen für Bildung und Wohlfahrt der Millionenstadt, die im übrigen erfüllt bleibt von Handel und Verkehr, Handwerk und Industrie.

Honam Der Leitgedanke, nämlich die Hauptachse der Stadt, erfährt eine weitere bedeutsame Vertiefung. Vom Stadtpalast gegen Süden führt jene Achse mit leichter Biegung gegen Osten über die große Brücke auf die Insel Honam, zum Mittelpunkt des Verwaltungsbezirks dieses neuen Stadtteiles. Hier ist die Errichtung eines besonderen Stadthauses geplant, auf geräumigem Grund im Brennpunkt des Straßennetzes, das die ganze Insel bis zur Ostspitze in Huangyi überziehen soll. (Siehe Abb. 23). Es wird unter anderem auch die ausgedehnte Universität Lingnam [Lingnan-Universität]124 umschließen, etwa zwei Kilometer östlich vom künftigen Stadthaus Honam. Zwar entsprechen die vorläufigen Pläne für Straßenzüge und den zentralen Verwaltungsteil noch nicht völlig den Anforderungen an zweckmäßiger Aufteilung und baulicher Wirkung, doch der große Gedanke, eine gänzlich neue Stadt auszubauen auf einer Inselfläche von sechs mal sechszehn Kilometern wird auch hier eine vollkommene Lösung erzwingen für glatte Abwicklung von Verkehr und Wirtschaft. Weitere neue Brücken werden die Tochterstadt auf der Insel mit dem alten Kanton zur Einheit verbinden. Doch vornehmlich durch jene Hauptachse der Doppelstadt zwischen ihren Verwaltungspalästen wird eine wahre Gemeinschaft beider Teile erzielt. Nun muss Honam auch in altchinesischem Sinne unmittelbar teilnehmen an dem geistigen und nationalen Einfluss, der vom geheiligten Nordberge Yüeh hsiu [Yuexiu] schon sich dauernd und wirksam ausbreitet über die südlichen Wohnflächen auf Land und Wasser.

124 Die Lingnan-Universität wurde 1888 als private Hochschule unter dem Namen Canton Christian College gegründet. Heute ist sie Teil der Sun-Yat-sen-Universität. Siehe Wang, 2007.



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Abb. 60: Ein Gebäude der Lingnan-Universität. (© Boerschmann 1933, PAB).

Hauptstraßen Neben den inneren Verbindungsstraßen zwischen der alten Stadt und Honam sind in dem neuen Straßennetz, das alle Teile von Groß-Kanton überspannen wird, eine Anzahl wichtigster Hauptadern klar und großzügig geplant, zu einem Teile bereits fertig gestellt oder in Ausführung begriffen. Im Gebiet nördlich des Flusses wird eine Querader die äußersten Punkte der Stadtgrenze von West nach Ost in einer Länge etwa von 16 Kilometer fast schnurgerade mit einander verbinden. Sie führt vom Industrieviertel am nördlichen Flussarm quer durch die alte Stadt vorüber am Stadtpalast nach der neuen Oststadt, berührt dort Regierungsviertel, Militärflugplatz und Universität und gewinnt an ihrem Ende Anschluss nach dem Hafen bei Huangpu. Ihr entspricht im Süden auf Honam eine parallele Hauptader, sie verbindet die beiden Häfen in Ost und West und berührt das neue Stadtzentrum an dessen Nordseite. Eine Anzahl weiterer Parallelstraßen nördlich und südlich des Flusses entlasten und ergänzen jene beiden Hauptadern. Alle diese Straßenzüge werden durchschnitten von einem inneren großen Ring, der auch die drei Flussläufe auf Brücken überschreitet. Er umschließt im freien Rechteck etwa von fünf mal sieben Kilometer die Vereinigung der drei Flüsse und die Hauptteile beider Städte mit ihren Stadtmitten in Nord und Süd, erschließt auch die Teile westlich der Flüsse. In der nördlichen Stadt läuft ein äußerer Teilring über die Berge der Weißen Wolken. Im westlichen Stadtgebiet führt eine Hauptverkehrsader von Nord nach Süd über eine Brücke nahe dem inneren Stadthafen auf Honam. Nach Norden hin bildet sie eine große Ausfallstraße, nach der anderen Seite erschließt sie in großer Biegung den Süden der Insel Honam. Das weitere neue Straßennetz nimmt die großen Motive der Hauptadern geschickt auf und hält guten Anschluss an das alte Netz der schon ausgebauten Stadtteile. Wie die Frage künftiger Schnellbahnen im Stadtgebiet gelöst werden soll, scheint noch unentschieden zu sein.

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Industrieviertel Die schwierige Frage, der kommenden Industrie von vornherein geeignete Hauptgebiete anzuweisen, war viel umstritten. Eine Reihe von Forderungen spielte dabei mit, standen aber vielfach unter einander im Widerspruch, je nachdem man sich entscheiden wollte für gesammelte Anordnung der Hauptanlagen oberhalb der Stadt oder unterhalb von ihr in Richtung auf den großen Seehafen von Huangpu. Einige jener wichtigsten Forderungen waren Nähe an der Stadt und ihren großen Flussläufen, Rücksicht auf schädliche Abwässer, kurze Wege für Seeschiffe, anderseits bequeme Verbindung mit der inneren Provinz, die immer bester Abnehmer aller Erzeugnisse bleiben und den Hauptbedarf an Kohle und Elektrizität liefern wird. An erster Stelle stand gesteigerte Sicherheit gegen kriegerische Angriffe von der See her, also großer Entfernung von ihr. Schließlich entschied man sich für das Gelände im Nordwesten der Stadt, an den nördlichen Oberarmen des Kantonflusses, wo mehrere Brücken auch genügend Verbindungen schaffen werden nach dem Westen. Dort entwickelt sich auch der gemeinsame Ausgangspunkt der Eisenbahnen nach dem Norden der Provinz mit Verbindung zum Yangtze [Jangtse], nach dem Westen an den Westfluss und künftig nach der Provinz Kuangsi [Guangxi], andererseits wieder zurück nach Osten auf die nördliche Umgehungsbahn nach dem Hafen von Huangpu, nach Hongkong und später nach Swatow [Shantou]. Durch diese Wahl des Nordwestens wurde zugleich eine wesentliche klimatische Bedingung genutzt, nämlich die herrschende Windrichtung. Den heißen und größten Teil des Jahres, mit Ausnahme der kurzen Wintermonate, weht fast dauernd der Monsun aus Südost, macht also dort, etwa in Honam, größere Industrieanlagen unmöglich, die mit ihren Rauchwolken die ganze Stadt erfüllen würden. Das jetzige Elektrizitätswerk, das im Südosten auf dem Nordufer des Perlflusses arbeitet, ist ein Beweis für diese höchst unangenehme Wirkung, und wird darum ebenfalls verlegt. Der Nordwesten aber ist die rechte Stelle für solche großen Anlagen, denn darüber hinaus kommt in jener Richtung eine weitere dichte Bebauung in absehbarer Zeit nicht in Frage. Ähnlich hat man schon einige industriellen Anlagen, darunter eine Papierfabrik, auf Honam auf dessen Westseite am Wasser zugeordnet, um den Hauptort selbst zu schonen und dort entsteht ein neues Industrieviertel. Ebenso wird der Flusslauf zwischen Kanton und Huangpu im wesentlichen frei bleiben von größeren Industrien mit starker Rauchentwicklung zugunsten der Stadtteile, die auf dem Nordufer entstehen. Erst in der Nähe des Hafens Huangpu und weiter unterhalb wird der vorhandene weite Raum wieder in Anspruch genommen werden etwa durch Werften und dazu gehörige Werkbetriebe.



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Flussregelung Kanton verdankt seine große Bedeutung dem Umstande, dass es als Seehafen an weitverzweigten großen Wasserläufen und dennoch weit landeinwärts gelegen ist, also stets eng verbunden blieb auch mit der Wirtschaft der ganzen Provinz. So hatte es die gleichen Bedingungen wie eine lange Reihe anderer Welthäfen erster Ordnung. Die wichtigste Grundlage für Ausbau und Blüte der Stadt war eine dauerhafte und gute Verbindung mit der nahen See. Jedoch die unsicheren Anfahrten in Mündung und Flussarmen, über wechselnde Untiefen und Verschlammungen und zwischen Abspülungen der Ufer bildeten ein schweres Hindernis für den Anschluss an den Weltverkehr und die wachsenden Größen der Überseedampfer. Der mäßige Anteil des fremden Handels in Kanton reichte bei weitem nicht aus, um die betreffenden fremden und chinesischen Kaufleute, etwa nach dem Vorbild von Schanghai, zum Zusammenschluss zu bringen für einen genügenden Ausbau der Schifffahrtswege auch nur für ihre engeren Zwecke. Das war in Kanton unmöglich gewesen wegen der starken Gebundenheit der Fremden und in einer Zeit, in der das politische Leben des Südens völlig brach gelegen hatte. Die Wasserbauaufgaben waren hier an sich zu gewaltig und zu eng verknüpft mit der umfassenden Ausgestaltung von Stadt und Provinz. Das musste Sache der Regierung sein. Doch die politischen Zustände, die in der letzten Mandschuzeit schon den Ausbau der Stadt selbst empfindlich verzögert hatten, hinderten vollends jede Verbesserung der Stromverhältnisse.

Feste Pläne Erst Sun Yat-sen gab auch hier wieder den entscheidenden Anstoß. In seinem Programm für die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft, war einer der wichtigsten Punkte der Ausbau des Hafens von Kanton zum Vorort des Südens.125 Sein Wort und Wille blieb maßgebend für die Ausführungen in der Folgezeit. Es galt Flussläufe zu regeln, Fahrrinnen zu vertiefen, brauchbare Liegestellen und Häfen zu schaffen. Dazu kam die notwendige Offenhaltung der Anfahrten unterhalb von Huangpu und dem Tigertor, also in der Hauptmündung des Delta gegen die See. Nach mancherlei Vorarbeiten in vorläufigen kleinen Kommissionen wurde gegen Ende 1929 die Canton River Conservancy Commission126 geschaffen, die hinfort Planung und Arbeit vorbereitete und durchführte. Zu ihr gehörten eine Reihe erster führender Männer aus Politik und Wirtschaft, unter ihnen Hu Han-min [Hu Hanmin, 1879–1936], Sun Fo [Sun Ke, 1891–1973], Lin Yün-kai [Lin Yungai, 1883–1948], Chen

125 Sun, 1922: S. 77–100. 126 Eigentlich Kwangtung River Conservancy Commission.

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Chi-tang [Chen Jitong], Chin Mingschu [Chen Mingshu, 1889–1965], Wu Tschen [Wu Tiecheng, 1888–1953] und Dr. Wang Chung-hui [Wang Chonghui, 1881–1958], und als europäische Chefberater der dänische Ingenieur Olivecrone [Gustav W. D. Olivecrona, 1870–1964].127 In dieser zentralen Stelle wurden die verschiedenen Belange gleichmäßig verfolgt und auf einander abgestimmt, auch die erforderlichen Riesenmittel festgestellt und über ihre Aufbringung und Verwendung bestimmt. So waren die Arbeiten umfassend vorbereitet und schon seit langem begonnen, als im Herbst 1936 der völlige Anschluss des Südens an Nanking alle Vorhaben auf eine feste und sichere Grundlage stellte und damit die Gewähr schuf für ihre zweckmäßige und großartige Durchführung. Nach Überschlägen werden bis zur ersten Vollendung erforderlich sein ein Zeitraum von mehreren Jahrzehnten und Geldmittel von vielen hunderten von Millionen.

Kanton-Strom als Hauptweg Bei den neuen Plänen folgte man in erster Linie dem bewährten Grundsatz, die Flussbreiten zu verengen. Dadurch werden die Strömung gleichmäßig und kräftig, das Ablagern der Sinkstoffe verhindert, das Flussbett vertieft, Baggerarbeiten vermindert. Die bisher unbefestigten, jetzt massiv ausgebauten Ufer erleiden keine weiteren Auswaschungen und Abbrüche. Ähnliche Maßnahmen hatte man bereits in den ersten Entwürfen um 1907 erwogen, indessen nur sehr zaghaft und in ganz ungenügendem Umfange, entscheidende Änderungen hatte man nicht gewagt, nicht einmal zu Beginn einer Ausführung war es damals gekommen. Jetzt aber, bald nach 1922, hatte man begonnen mit Ausgestaltung der festen Uferstraße, dem Bund, auf der Nordseite des Kantonflusses in Anschluss an die Europäerinsel Schamien [Shamian]. Dort entstanden das Gebäude der Seezollverwaltung und danach jene Reihe hervorragender moderner Geschäftsbauten, die das große Bild des neuen Kanton eröffneten und bald sich fortsetzten weiter nach Osten. Hier, an der großen Einbuchtung des Flusses, ging man rücksichtslos und entschlossen vor mit dem festen Ziel gerader Linienführung und endgültigen Bestandes. An der tiefsten Stelle der Einbuchtung war die ansehnliche Insel der Meeresperle, Hai tschu [Haizhu (Dao)], etwa 120 Meter vor das alte Ufer vorgeschoben, weit in den Strom hinein. (Siehe Abb. 61). Ursprünglich befestigt, trug sie nunmehr ein weitläufiges Gedächtnismal für einen getreuen Gefolgsmann des Sun Yat-sen, den Admiral Tscheng Kikuan [Cheng Biguang, †1918]128, der 1919 beim

127 Olivecrona war Schwede und wirkte in vielen Bereichen der Flussregulierung in China. Siehe auch Olivecrona, 1928 oder Olivecrona, in Lingnan Agricultural Review, Canton, 3/1925, No. 1: S. 1–13. 128 Admiral Cheng wurde am 26. Februar 1918 ermordet und drei Jahre später stand die Statue. Siehe Hong Kong Daily News, 3.1.1921: S. 5. Die Figur ist später an anderer Stelle wiederaufgestellt worden und während der japanischen Besatzung verschwunden. Heute findet sich dort ein sozialistisches Denkmal; möglicherweise auf demselben Sockel. (Hinweis MK).



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Abb. 61: Die Haizhu Insel mit dem Denkmal für den 1918 ermordeten Admiral Cheng Biguang im Perlfluss wurde Anfang der 1930er Jahre angelandet und zum Teil des Bundes. (Postkarte Sammlung Boerschmann, mit freundlicher Genehmigung, Sammlung Michael Kaempfe).

Übersetzen von der Insel auf dem nördlichen Ufer von Aufrührern erschossen worden war. Während des fortschreitenden Ausbaues rückte das Nordufer immer näher an die Insel, gegen Ende 1933 war sie bereits erreicht und bald völlig angelandet. Auch eine entsprechende Ausbuchtung auf dem gegenüberliegenden Südufer von Honam, ebenfalls in einer Tiefe von 120 Metern und eine Gesamtlänge von 1300 Metern, wird ausgefüllt nach schnurgerader Linie. Hier soll der neue Honam Bund entstehen. Der Erlös aus den verkauften neuen Landteilen war ein wesentlicher Beitrag zu den Kosten der Flussregulierung. Weiter unterhalb der Stadt, an den beiden großen nördlichen Flussinseln, werden in gleicher Weise beide Flussufer weit vorgerückt und dadurch die Breite des Flusses von 600 auf 300 Meter eingeschränkt. Dabei verschwinden auch jene zwei großen Sandinseln und werden durch Zuschütten der vielfach sehr breiten Nebenarme und Buchten, auch der Wasserflächen auf ihnen selbst, völlig angelandet. Die Liegeplätze der Boote und der Wassersport werden von dort verlegt, wohl in den Strom oder auf die Südseite von Honam. Noch weiter unterhalb und noch kurz vor Huangpu, wo der neue Stromlauf sich allmählich auf 500 Meter verbreitern wird, nimmt man die gleiche Bereinigungen der Uferlinien und weitere Anlandungen vor, erst an der Ostspitze von Honam bei Huangpu geben die Zusammenflüsse Raum für Anlage des großen Hafens.

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Perlfluss Dort befindet sich im Strom, etwas südlich vom Nordufer, ein alter berühmter Punkt. Es ist die kleine Klippe Tung hai yü tschu [Donghai Yuzhu], Fischperle im Östlichen Meere, gerechnet von Kanton aus. Die Chronik Alter Bericht über die Ziegenstadt129, wie Kanton auch genannt wird, Ku tscha Yang Tscheng, zählt sie als achter der acht schönen Punkte der Stadt Pa und sagt darüber folgendes: Die Fischperle Yü Tschu [Donghai Yuzhu] befindet sind 40 Li (24 Kilometer) östlich von Yang tscheng [Yangcheng]. Dort gibt es auf dem Nordufer einen Felsen, Hsiang tui kang, von Wasser umgeben. Das Felsengestein in der Mitte ist rund und rein wie eine Perle, ganz ähnlich einer Meeresperle. Nördlich davon eine Steinkuppe, sie sieht aus wie ein Fisch, sein geöffnetes Maul gegen die Perle gerichtet, daher der Name Fischperle. Früher hatte man dort ein Fort erbaut, jetzt ist es verschwunden. Ein anderer Name für diese Klippe ist Ngao tschou, Eiland des Meeresungeheuers, nach dem sagenhaften großen Fisch, der Sinnbild ist für die dunklen Mächte der Meere. Dieser Hauptfluss von Kanton hieß ursprünglich Yueh kiang [Yue Jiang], Strom des alten Landes Yueh [Yue]. Da auch Kanton ursprünglich Yuehtscheng hieß, Stadt des Landes Yueh, wird der Fluss heute ebenso richtig meist Kanton-Fluss genannt.130 Seinen literarischen, ebenfalls weit verbreiteten Namen Perlfluss, Tschu kiang [Zhu Jiang] hat er, wie leicht zu erraten, von jenen beiden Eilanden im Fluss, einmal von der früheren Sandinsel Meeresperle, Hai tschu [Haizhu]131, die von der Stadt heute angelandet und somit verschwunden ist, und ferner von der Klippe der Fischperle Yü tschu [Yu Zhu], heute im Bereich des neuen Hafens bei Huangpu. Amtlich wird die Bezeichnung Perlfluss, Tschu kiang [Zhu Jiang], hergeleitet vom Eiland Meeresperle bei Kanton, doch dürfte sie weiter zurückgehen auf die merkwürdige Klippe Fischperle, die überdies für das Feng Shui von Kanton schon vor der Meeresperle ausgezeichnet gewesen ist. Diese Fischperle dürfte auch selbst im Rahmen der neuen Hafenarbeiten aus Ehrfurcht wohl, in irgend einer Form erhalten bleiben. In jedem Falle wird der neu und groß ausgebaute nördliche Schifffahrtsweg nach Kanton seinen Namen Perlfluss behalten und damit die alte Überlieferung in Geschichte und Feng Shui bewahren. Nach Ausbau des Perlflusses können in dem vertieften Flussbett hinfort größere Dampfer, wohl bis 3000 Tons, diesen nördlichen und kürzesten Weg als Hauptstraße ersten Ranges bis Kanton befahren, zu jeder Zeit, auch bei Ebbe, während die größten

129 Qiu, Qichi: Yangcheng Guchao (Old Records of Guangzhou), Vorwort 1806. 130 Der früheste Namen für Guangzhou war Panyu, der sich aus den beiden Bergnamen Pan und Yu zusammensetzte. In der Qin-Dynastie (221–207 v.Chr.) wurde Panyu die Hauptstadt des Nanyue Reiches, das auch große Teile von Vietnam umfasste. Um 111 v.Chr. wurde Panyu von Kaiser Han Wudi (156–87 v.Chr.) annektiert und zur Provinzhauptstadt. Vermutlich bezieht sich Boerschmann mit Yueh auf das Nanyue-Reich. 131 Die Insel Haizhu heißt genauso wie der Stadtteil Haizhu, ist jedoch davon unabhängig. (Hinweis HR).



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Seeschiffe auch dann nur bis Huangpu gelangen werden. Bisher mussten bei Niedrigwasser größere Schiffe den Südarm benutzen, südlich um die Insel Honam. Künftig wird dieser, als Straße zweiten Ranges, nur den örtlichen Verkehr aufzunehmen brauchen, doch später nach Bedarf auch selber ausgebaut werden.

Zuflüsse Wenn im gesamten neuen Stadtgebiet eine umfangreiche Bereinigung an toten Wasserläufen und Teichen erfolgt zugunsten zusammenhängender Bodenflächen und aus Rücksichten auf die Volksgesundung, wenn insbesondere die alten Stadtgräben völlig verschwinden, so müssen gleich wohl einige Zuflüsse erhalten bleiben, sogar ausgebaut werden, um Wasser aus dem Hügelland und gar aus den Weißen Wolkenbergen dem Perlfluss zuzuleiten. Das gilt im Westen für die Teile der künftigen Industrie. Im erwarteten neuen Ostgelände werden von Norden drei oder vier solche Zuflüsse die neue Stadt durchziehen und damit wenigstens grundsätzlich für fließendes Wasser sorgen, das der Chinese aus Gründen von Gesundheit und Wohlbehagen nur ungern ganz entbehrt. Solches Verlangen deckt sich aber weitgehend auch mit der erwünschten glücklichen Lage, dem Feng Shui, sogar dann können einige der beliebten Brücken das Stadtgebiet verschönern. Auch die Insel Honam, die im Bereich von Huangpu gegen den einstigen Zustand schon von weiten Teilen trocken gelegt und zu einheitlichen Flächen verbunden ist, wird noch viele ihrer zahlreichen Wasserläufe verlieren, doch einige Hauptadern weiter behalten.

Häfen Außer dem kommenden Haupthafen bei Huangpu, der dem Großschifffahrtsverkehr mit Übersee dienen soll, wurde als dringlichste Aufgabe die Einrichtung von neuen Hafenanlagen dicht bei der Stadt und ihren künftigen Industrien 1933 in Angriff genommen und in wesentlichen Teilen schon bis 1937 durchgeführt.

Der innere Hafen Am Hauptbund von Kanton, am Nordufer des Perlflusses vor den riesigen Geschäftsgebäuden, waren die Verhältnisse an den alten Liegestellen wegen des steigenden Betriebes durch Ladung, Kohlen und allgemeine Abfertigung der Dampfer unhaltbar geworden. Für die regelmäßigen Dampfer, besonders nach Hongkong, Macau und den nahen Küsten, auch für den Binnenverkehr, wurde der gegenüberliegende Nordwestkopf von Honam ausgebaut in großer Rundung und durch starkes Verschieben

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Abb. 62: Der Hotel-Distrikt in der Taiping Straße in den dreißiger Jahren bestand aus fünf- bis sechsgeschossigen Bauten. (Lee 1936: 2).

der Ufer in den Fluss hinein.132 Seit 1937 legen jene und andere Dampfer bereits dort an, der Hauptbund ist von ihnen frei und dürfte fortan nur für beschränkte Personenschifffahrt Verwendung finden. Die Kais auf der Westseite von Honam sind bereits verlängert, weiter nach Süden, bis zu dem dortigen Industriegelände. Nahe den neuen Hafenanlagen in Honam wird eine neue, die westlichste Brücke alsbald den bequemen Verkehr mit der Stadt vermitteln.133 Und unterhalb der schon vorhandenen ersten Klappbrücke aus Stahl [damals Pearl River Bridge oder Eastern Bridge], die im Zuge der Hauptachse beider Städte den Fluss überspannt, wird eine dritte

132 Gemeint ist das Zhoutouzui Ferry Pier, über das noch bis Mitte der neunziger Jahre der Fährverkehr abgewickelt wurde. Heute ist der Fährverkehr eingestellt. (Hinweis MK). 133 1936 waren mehrere Brücken geplant bzw. gebaut. Die erste, 1929 fertiggestellte, war die Pearl River Bridge. Die „westlichste“ Brücke sollte an der Taiping Road, in der Nähe der Insel Shamian, über den Fluss gehen. Die dritte, Middle Bridge, war im Zentrum des alten Bund, damals auch Pearl River Bund, geplant und sollte in der Nähe des Bahnhofes über den Fluss führen. (Ungefähr dort wurde 1988 die Huyin Brücke eröffnet). Die vierte sollte im Osten, ungefähr an der 1985 eröffneten Guangzhou Brücke, gebaut werden. Eine weitere Eisenbahnbrücke, etwas außerhalb im Westen, war die Southwest Railway Bridge, die 1936 im Bau war. Ein Mittelteil der Brücke sollte drehbar sein, damit große Dampfschiffe weiter den Fluss befahren können. Aufgrund des Krieges und der japanischen Besetzung kam der Ausbau der Infrastruktur zum erliegen. Als zweite Brücke über den Perlfluss wurde 1967 die Renmin Brücke ungefähr an der Stelle eröffnet, an der die Taiping Brücke geplant war.



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Abb. 63: Die 1933 eingeweihte eiserne Brücke über den Perlfluss. (Lee 1936: 21).

Brücke beide Stadthälften miteinander verbinden, nördlich von der neuen Stadtmitte Honam. Der sogenannte innere Hafen von Kanton rechnet von oberhalb Huangpu den Fluss entlang stromauf bis zum Westen der Stadt, und erstreckt sich damit über eine Länge von 18 Kilometern. Auf dieser ganzen Strecke werden nach Bedarf fortlaufend Bollwerke, Ufermauern und Liegekais und Landungsbrücken errichtet für mittlere Schiffe, unter denen auch Dampfer und Motorboote für den lebhaften Fährbetrieb ihre besondere Bedeutung immer behalten werden, noch neben den vorgesehenen Brücken.

Dschunken und Wohnboote Die Aufgabe, den Verkehr mit Dschunken und Wohnbooten zu regeln und Liegeplätze für sie zu schaffen, ist für Kanton besonders wichtig. In allen Teilen Chinas werden alle irgendwie schiffbaren Gewässer durch Boote jeder Art noch immer erfüllt und befahren, in einem Umfange, der nirgend sonst auf der Welt auch nur annähernd erreicht und gar in Europa völlig unbekannt ist. Doch unter allen solchen Plätzen bildet Kanton mit seinem Delta den unbestrittenen Höhepunkt im ganzen Lande. Die Ursache liegt im dichten Netz der Wasserstraßen, in der überaus dichten Besiedlung und in der Tatsache, dass ein sehr großer Teil des Volkes überhaupt nur in Booten auf dem Wasser lebt. In Kanton selbst gehörte bisher etwa ein Viertel der gesamten Bevölkerung zum sogenannten Bootvolk. Mag dieses Verhältnis sich ändern mit fortschreitender fester Siedlung im Stadtgebiet, so wird der Zustand an sich noch auf absehbare Zeit andauern. In Kanton werden breite Massen auch weiterhin auf eine derartige Ausnutzung des Wassers angewiesen bleiben, Überlieferung, einfache Lebenshaltung und gesicherter Erwerb zwingen dazu. Die Scharen der kleinen Boote liegen in dichten Gruppen oder einzeln im flachen Strome und an den Ufern fest, oft in großen Mengen zwischen den größeren Fahrzeugen für Reisende und Fracht. Die größten dieser Reisedschunken fahren nicht

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Abb. 64: Viele tausend Bewohner Kantons lebten in kleinen Sampans auf dem Fluss. (Unbekannter Fotograf 1930er-Jahre, PA).

mehr aus eigener Kraft, sondern als wahre Hausboote mit hohen Aufbauten werden sie einzeln oder zu mehreren von Motorbooten geschleppt. Ungeregelt lagen diese Haufen verschiedenartigster Boote auch noch an den Landeplätzen um die Dampfer und mussten fliehen, wenn diese sich in Bewegung setzten. Ein ständiger Wechsel mit Lärm und Durcheinander. Mit der fortschreitenden Regulierung des Flusses, seine Verengung und Vertiefung, wird jene Art von Aufenthalt und zügellosem Verkehr der Boote unmöglich, die neue Ordnung verlangt freien Strom, Übersicht und Sauberkeit. Doch die Boote können nicht ohne weiteres verschwinden. So sind Maßnahmen erforderlich für ihre gesonderte Unterbringung, es werden ihnen bestimmte größere und kleinere Bereiche zugewiesen, oberhalb und unterhalb der Stadt. Dann aber ändern sich die Erwerbsmöglichkeiten für die Boote, es erhebt sich das drohende Problem, wie die Zukunft des Bootvolkes überhaupt gestaltet werden soll. Große Segeldschunken kommen schon seit Jahren nur noch selten bis zur Stadt, sie halten ihre Liegestellen weiter unterhalb an den Sandinseln oder in Huangpu [Whampoa]. Auch für sie müssen hinfort besondere Dschunkenhäfen eingerichtet werden.



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Der äußere Hafen Der Seehafen von Huangpu [Whampoa] entsteht weiträumig und nach modernen Grundsätzen im äußersten Osten auf dem Nordufer des Perlflusses, gegenüber dem Ort Huangpu, der auch für den Hafen eine starke Bedeutung gewinnen wird und schon jetzt zu einer Stadt ausgebaut ist. Hier befinden sich unter anderem die erweiterte Militärakademie134, bekannt als die frühere Kadettenschule, von der aus Marschall Tschiang Kaischek [Chiang Kai-shek] seinen Aufstieg begann, ferner die 1934 neu erbaute Technische Hochschule. Unterhalb des Hafens aber ist ein weiteres Hauptwerk zu vollbringen, nämlich der Ausbau der neuen großen Fahrrinne im unteren Lauf des Perlflusses bis zum Tigertor auf eine Länge von 40 Kilometer oder 22 Seemeilen. Bereits kurz hinter Huangpu werden drei Sandinseln zur Einheit verbunden, danach sind die erste und dann die zweite Barre im Fluss zu überwinden, außerdem eine lange Folge von Untiefen, und weiterhin die Gefahren durch jene ausgedehnten Ablagerungen von Schlamm und Sand, die vor den festen Ufern oft kilometerbreit sich erstrecken und in ihrer Auswirkung noch unberechenbar sind. Endlich muss für große Seeschiffe selbst die Fahrrinne unterhalb des Tigertores, in der breiten Mündungsstraße des Delta ständig offen gehalten werden. Diese gewaltigen Aufgaben im Seebau gehören zu den bedeutendsten Wasserbauarbeiten überhaupt. Kosten und Dauer für Ausbau und spätere Unterhaltung sind noch kaum zu übersehen. Der Enderfolg hängt durchaus davon ab, in welchem Grade es gelingt, größten Seeschiffen den ungehinderten Zugang nach Huangpu zu ermöglichen. Die Chinesen sind sich darüber klar, dass es äußerster Umsicht und Tatkraft bedarf, um die Bauarbeiten vorwärts zu treiben und zugleich der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung Rechnung zu tragen, diese auszunützen und nach Möglichkeit zu leiten.

Wille und Tat Der Neubau von Kanton, als ganzes genommen, erweist sich als eine der größten Aufgaben, die unsere Zeit auf dem Gebiet des Städtebaus kennt. So sehr unsere alten riesigen Hauptstädte in Europa und Amerika in Fläche und Volkszahl auch die größten chinesischen Städten vorläufig noch übertreffen und so gewaltig unsere eigenen städtebaulichen Vorhaben auch sein mögen, für völlige Neuanlage ganzer Städte nach einheitlichem Wurf in Zusammenhang mit weiträumigen Landesplanung und

134 Die „Armeeoffiziersakademie der Chinesischen Nationalpartei“, auch als Whampoa-Militärakademie bekannt, wurde 1924 mit Hilfe der Sowjetunion eingerichtet. Als erster Leiter wirkte der spätere Generalissimus Chiang Kai-shek.

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mit politischen Zielen größten Ausmaßes haben wir bei uns keine ebenbürtigen Beispiele. Diese finden sich nur wiederum in China selber an einigen weiteren werdenden Großstädten, unter denen Schanghai an der Spitze steht. Umbau und Ausbau von Kanton erfolgen unter durchaus eigenartigen und schwierigen Vorbedingungen. Diese beruhen auf seiner Geschichte und natürlichen Lage, auf dem überlieferten Zustand von Stadt und Volk, auf den Verknüpfungen und Zielen innerer wie äußerer Politik und Wirtschaft. Doch alles Große wird gegen Widerstände geschaffen! Wenn Kanton im Begriff steht, jene Gegensätze und Hindernisse auszugleichen und zu überwinden, so ruht dieser nahende Erfolg durchaus auf der Tatkraft und Voraussicht der Männer, die seit der Revolution die Führung hatten und zum Teil noch inne haben. Dass sie ihre Arbeit fortsetzen, ihre Pläne jedem Wechsel anpassen konnten, inmitten immer neuer Verschlingungen, Verwirrungen und Rückschläge, das muss die Achtung vor ihrer Leistung nur erhöhen. Nun liegt es aber niemals so, dass die Einzelnen, die an der Spitze einer vielfältigen und fließenden Gemeinschaft stehen, von vorneherein das Ziel klar vor sich sehen und eindeutig ihren geraden Weg verfolgen können. Im lebendigen Leben ist kein Ziel ganz fest, es ändert seine Form mit jedem Schritt vorwärts. Indessen das innere Bild wird deutlicher, das Wesentliche zeichnet sich bestimmter ab. Darum mag der Einzelne irren, ja versagen oder muss gar von der Bühne des Geschehens abtreten, dennoch zwingen in großer Zeit wunderbare Mächte alle Mitarbeitenden in die gleiche Richtung, soviel Umwege und Fehlschläge der selbstgefällige Beobachter auch festzustellen vermag. Maßstab für den Wert allen öffentlichen Tuns bleibt immer nur der Enderfolg, so begrenzt und verschieden auch seine Dauer und Auswirkung sein mögen, denn im Leben ist nichts ewig als die Wandlung. Schon die ersten, jetzt durchaus sichtbaren und gesicherten Erfolge in Kanton zwingen uns, jene Männer und ihre Arbeit, von Sun Yat-sen selber bis zu den heutigen Staatsmännern, voll zu würdigen. Allerdings müssen wir hierbei von vorneherein gewillt sein, in unserem Urteil das chinesische Geschehen völlig gleich zu ordnen dem unsrigen und den chinesischen Führer ohne Vorbehalt als unsere ebenbürtigen Gegenspieler zu betrachten. Dann erst erkennt man die Untergründe ihres Wirkens und darf sie zeichnen mit Begriffen, die uns geläufig sind. Die chinesischen Führer in dieser schweren Zeit empfingen ihre Kräfte aus dem Hochgefühl des Umbruches, der Erneuerung und frischen Selbstverantwortung, ihren Weitblick aus der Überzeugung vom Erstehen eines eigenen und nationalen China, Leidenschaft und Feuer aus der steten Bereitschaft zur Selbstaufopferung in immer gefährdeter Stellung. Sie fühlten sich getragen vom Vermächtnis und Geiste Sun Yat-sens. In dem Willen, die Dinge in Stadt und Provinz selbständig zu leiten durch die Glieder des eigenen Volkes von Lingnam [Lingnan], sich die neue Ordnung selber zu geben und sich zu befreien aus den Fesseln des Auslandes, waren sie einig mit Bürgerschaft und breiten Massen, bei denen der vielhundert-jährige Streit mit Fremden und Aufrührern unvergessen war. Darum konnten die Führer sich stützen auf Verstehen und Mitarbeit breitester Kreise. Alle waren höchlichst bereit, moderne Erfahrungen



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und Kenntnisse sich nutzbar zu machen, und doch blieben sie selbst in ihren neuen Maßnahmen echte Chinesen, stolz auf ihre Bildung und Überlieferung, die auch ihre engere Heimat genau kannten und liebten. Wenn das eine Bindung ist, so werden wir gerade diese Seite besonders achten, denn starkes Verwurzeltsein im eigenen alten Volkstum erscheint uns heute mehr den je als ein hohes Gut. Aus diesen Quellen nährt sich der Glaube, auf dem rechten Wege zu sein, und hieraus entsteht das Klima von Zuversicht und Freude, ohne das kein Werk gelingen kann. Die negativen Seiten, die sich ergeben vornehmlich aus Gleichgültigkeit und der Pflege des Ich, aus Eigennutz und dem Streben nach Macht und Selbstbereicherung sind gerade aus China sattsam bekannt. Doch gerade diese Eigenschaften müssen, zumal in der Gegenwart, aus der beliebten Übertreibung heraus und auf das richtige, allgemein menschliche Maß zurückgeführt werden. Darüber wird noch manches zu sagen sein. Für das Fortschreiten der positiven Aufbauarbeit haben diese Dinge jedenfalls nur geringe, sicher keine entscheidende Bedeutung. Auch die rein technische Seite der Stadtplanung verdient alle Anerkennung. Vieles wurde erreicht mit Hilfe moderner Erkenntnisse und Vorbilder, zum Teil auch fremder Berater. Doch bei der Eigenart der großen Aufgabe versagte das schulmäßig Gelernte etwa aus der reinen Wissenschaft des Städtebaus. Eine unmittelbare Übertragung aus irgendwelchen Beispielen in der Welt war nicht möglich, es musste gänzlich Neuartiges gefunden werden, und zwar aus rein chinesischen, örtlichen Umständen und Zwecken heraus. Und da erkannt man überall das freie, selbständige, oft sogar allzu unbekümmerte Handeln. Gewiss ergab sich manches zwangsläufig. Doch Mut und die leichte Hand sind überall sichtbar, sie finden ihre Erklärung nur in dem Wunder unverbrauchter Frische, des neu-erweckten, alten chinesischen Volkstums. Eine solche ewige Jugend schwebt selbst den abendländischen Völkern nur wie eine Sehnsucht vor. Nach dem Siege der nationalen Revolution und nach Befreiung aus den russischen kommunistischen Irrungen135 zeichnet jene freie und vorwärts strebende Art besonders den Kantonesen aus. Und aus der Frische des Lebens wachsen die Gesetze für das tägliche Tun. Darum erstreckte sich im Umbau und Ausbau von Kanton zweckmäßiges Planen auf alle Teilaufgaben. Noch ist bei weitem nicht alles gelöst, manches bedarf der Änderung. So liegt der Militärflugplatz im Osten ungünstig zwischen dem späteren Regierungsviertel und der Sun-Yat-sen-Universität und wird eine künftige Verlagerung erfordern.136 Doch auch solche recht umfangreichen Umstellungen aus einem

135 Neben anderen war auch der deutsche Kommunist Heinz Neumann (1902–1937) in Kanton aktiv. Der sogenannte 3. Guangzhou-Aufstand fand 1927 mit Unterstützung der Komintern statt und forderte 25.000 Todesopfer. Siehe auch Kuo/Leutner, 2000. 136 Der Militärflugplatz lag ursprünglich in Tianhe, im Osten der Stadt. Der Marschall Chen Jitang lies ihn nach Baiyun verlegen. Aus ihm ging später der Baiyun-Flughafen hervor. (Hinweis HR).

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zeitweiligen in den endgültigen Zustand ordnen sich folgerichtig ein in den Fluss der allgemeinen Entwicklung, wenn die großen Linien richtig bestimmt wurden. Weitblick, Zuversicht und ein Gefühl für lebendige Gemeinschaft bilden die Gewähr dafür, dass die Ziele, die für ein neues Kanton gesteckt sind, auch erreicht werden.

Ernst Boerschmann

Chinesische Baukunst Gestern und Heute Vortrag, gehalten am 17. November 1933 an der Lingnan-Universität in Kanton

Es ist mir eine hohe Ehre, hier heute Abend sprechen zu dürfen als Gast einer so hervorragenden Bildungsstätte für das Neue China, an der Lingnan-Universität. Ich darf Ihnen meinem besten Dank sagen für diese Erlaubnis, besonders Ihrem verehrten Herrn Präsidenten. Der Aufforderung, über chinesische Architektur zu sprechen, bin ich mit großer Freude gefolgt gerade hier in Kanton. Diese führende Stadt im chinesischen Süden steht im Brennpunkt nicht nur der Politik des Tages, sondern auch der Fortschritte auf allen Gebieten, Kultur und Wissenschaft. Durch die entschiedene Umänderung seines baulichen Stadtbildes, in den letzten Jahren wie noch heute mit aller Kraft, ist sie geradezu Vorbild geworden für die kulturelle Erneuerung zwischen Gestern und Heute. Es ist wichtig, sich bewusst zu bleiben, dass die Baukunst, ob Architektur oder Ingenieurbau, ist nicht etwa Äußerliches. Baukunst ist Widerglanz das Volkes, der Zeit. Man kann ein Volk an seiner Baukunst, besonders an Wohnbauten, monumentalen Staatsbauten und religiösen Denkmälern, genau so erkennen wie einen Menschen an seinen Lebensformen, an Wohnung, Kleidung und Umgebung. Die Formen, ob gut oder schlecht, wirken zurück auf Gesinnung und Taten, sind also selber voller Kraft. Darum sind auch die Bauformen wichtig für den lebendigen Geist eines Volkes und müssen dessen genauen Ausdruck bilden. Diesen Ausdruck können aber nur Künstler finden, die ihr Fach beherrschen, doch auch zugleich das Wissen und die feine Kultur besitzen, die dem ganzen Volke eigen ist. Wie der einzelne Mensch in seinem Leben, so schafften sich auch die Völker in den Jahrtausenden ihrer Entwicklung ein festes Wesen, eine Art, eine Kultur, die zum Teil auf Veranlagung beruht, zum anderen Teil aber auf zielbewusster und treuer Arbeit an sich selbst. Der Zusammenhang mit dem Überlieferten ist entscheidend. Selbst wenn die augenblickliche Entwicklung oft stürmisch erscheint wie jetzt in Kanton, so bleibt der Zusammenhang mit dem Überlieferten und Ererbten dennoch die Hauptsache. Aufgabe der Energie, des Willens muss es sein, die richtigen Bahnen nach vorwärts zu gehen und doch dabei fest in seiner Art zu bleiben. Denn nur gerade Linien, fester Charakter und Selbstbehauptung führen ein Volk, das national empfindet wie das chinesische, aufwärts zur nächsten hohen Stufe. Jedes Volk hat die Pflicht, seinen Anlagen und Bedingungen gemäß sich durchzusetzen und zu vervollkomnen. Jeder soll das Beste schaffen, das er vermag. Daraus aber entspringt auch Achtung der Menschen und Völker unter einander.

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China hat das Glück, auf eine große Überlieferung zurücksehen zu können. Die Grundsätze und Erscheinungen seiner hohen Kultur sind seit langem den anderen Völkern bekannt und von ihnen bewundert. Kenner und Freunde Chinas haben die geistigen Werte Europa und Amerika nahe gebracht, und Sie werden mir erlauben, es auszusprechen, dass Deutschland dabei mit an vorderster Stelle steht. Selbst dann, wenn im Widerstreit der lebendigen chinesischen Geschichte und Kultur manches schwer verständlich war, vermochten wir stets den starken geistigen Untergrund zu erkennen, den die großen weisen Männer, den Fürsten und Staatsmänner seit der frühesten Zeit dem Volke und sich selber gegeben haben. Dieser feste Untergrund der Kultur bringt es mit sich, dass China, wenn es sich auch heute wieder im Kämpfen und Ringen befindet mit anderen und mit sich selber, ohne jeden Zweifel vor einer neuen hohen Blüte steht. Um das zu erkennen, müssen wir versuchen, die lebendigen Kräfte zu begreifen, die ewig wirken. Und wenn wir das Beispiel „Chinesische Baukunst“ nehmen, in der sich die Kultur getreu wiederspiegeln muss, so müssen wir uns gerade in der Verwirrung der heutigen Zeit jener großen Werte bewusst werden, die dem chinesischen Volke von seiner großen Vergangenheit überliefert wurden. Wir Deutsche waren gezwungen, gerade in der jüngsten Zeit uns auf uns selber zu besinnen und auf die starken Wurzeln unserer eigenen Kraft, genau so wünsche ich auch China, dem mein ganzes Studium und meine Liebe gehören, eine gleiche Selbstbesinnung und klare Einstellung auf sich selber. Im Spiegel seiner Baukunst können wir viele Eigenschaften entdecken, die wir bereits aus unserer allgemeinen Kenntnis Ihres großen Vaterlandes feststellen konnten. Unter diesen sind Einheitlichkeit und Großzügigkeit der chinesischen Kultur, Festigkeit des Beharrens, doch auch schöpferische Vielgestaltigkeit, Fleiß und Verlangen nach Harmonie und Rhythmus. Alle diese Eigenschaften kann man auch ablesen aus den Formen der Baukunst: Die chinesische Halle, das Wohnhaus, besonders im chinesischen Norden, das Dach, wenn auch verschieden ausgestaltet und geschwungen, der Unterbau unter der Halle oder Haus, Holzsäulen, Ausbildung der Balken, des Ornaments, der Altäre und Möbel, sind in ihrem Wesen in ganz China gleich. Nur im Grade oft gesteigert oder abgeschwächt. Doch das Gemeinsame ist so stark, dass ich darin eine starke Übereinstimmung sehe mit der sozialen Gleichheit, die im chinesischen Volke seit je die hervorstechende Eigenschaft bildete und durch die jüngste Revolution nach den Grundsätzen von Sun Yat-sen nur noch stärker ausgebaut wurde. Aus der Gemeinsamkeit der Familien in Gehöften, Dörfern, der Gemeinwesen in kleinen und großen Städten erwuchs jener Sinn für Gerechtigkeit, Duldsamkeit und Einfachheit, der trotz aller notwendigen Unterschiede von Arm und Reich, von breiter Masse und führenden Männern und trotz vieler Gegenbeispiele, stets ein Kennzeichen für chinesische Gemeinschaft gebildet hat. Aus dem allgemeinen Bilde der chinesischen Baukunst vermag man gerade diese Merkmale von Charakter und Sittlichkeit, wie ich sie soeben umriss, abzuleiten, etwa in Europa die einzelnen Völker ebenfalls an der Art ihrer Bauanlagen ihr innerstes Wesen offenbaren.



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Bei den baulichen Gestaltungen der Chinesen scheint mir aber noch etwas anderes hinzuzukommen, das nur ihnen eigentümlich ist. Das ist die enge Verbundenheit mit der Natur, die durch Jahrtausende immer stärker gefühlt wurde, immer deutlicher durch die Weisen und den Volksglauben selbst in Begriffe und Symbole gefasst wurde. Schließlich entstand eine derartige Anpassung an die Natur, eine Gehorsam gegen sie und ihre Gesetzte, dass man das nicht nur aus dem Geist und Volk, aus der sozialen Gemeinschaft und dem Staatswesen erkennen, sondern auch aus den Formen und der Gestaltung der großen Baukunst unmittelbar ablesen kann. Das darf man bezeichnen als das „Symbolische“ in der chinesischen Baukunst, das sich in dieser Art bei keinem anderen bekannten Volke der Welt findet, in China aber die dauernde Quelle großer Stärke gewesen ist. Eine Unzahl von Symbolen wird überall und stets richtig verwendet, in der Ornamentik wie im Aufbau und Stellung der Gebäude in der Landschaft. Da sind die Grundprinzipien von männlich und weiblich und dem unendlich oft dargestellten Dualismus von Natur und Geisteskräften, die Himmelsrichtungen, Jahreszeiten, und alle bewegten und erzeugten und hervorbringenden Kräfte, die vielfach in Bildern von Gottheiten gezeigt wurden, in Wirklichkeit aber sehr natürlichen und richtigen Überlegungen entsprangen. Das eng damit verbundene Gebiet war die Zahlensymbolik, mit der man fast sämtliche Zahlen deutete und in Bauten und Schmuck dauernd verwertete. Es gibt wohl kaum eine kleinere Zahl, die nicht ihre festen Plätze hätte in der geistigen Deutung von Bauten oder Kunstwerken. Ganz im Großen war es aber die günstige Lage eines Hauses oder Grabes, eines Tempels oder einer ganzen Stadt, ja einer Landschaft, die dazu anregte, alle Erfahrungen und Symbole auf die Eingliederung der Bauanlage in die nähere und weitere Landschaft zu beziehen. Sie haben das mit dem Namen „Feng shui“ bezeichnet, und man hat das im Auslande oft belächelt, etliche Male aber bereits wissenschaftlich untersucht und als eine sehr schöne und künstlerisch höchst fruchtbare Methode bewertet. Diese Naturverbundenheit, im Verein mit den ethischen und staatlichen wie sozialen Kräften, die sich in allen Bauanlagen offenbaren, bis herunter zu der einfachsten Hütte, die richtig nach der Himmelsrichtung orientiert ist und ihren Hausaltar für die Ahnen in der Achse birgt, hat zur Folge gehabt, dass die chinesische Baukunst, im ganzen wie in den Einzelheiten betrachtet, ein sehr starkes inneres Leben zeigt und folglich auch sehr schöne Formen. Hierin kann sie sich mit allen anderen Ländern und Zeiten getrost messen, ja marschiert unbedingt an der Spitze aller Zeiten die man gewohnt ist als klassische Perioden zu bezeichnen, etwa Ägypten, Griechenland, Rom, Gotik, Renaissance oder die neueren Stile. Die chinesische große Baukunst alten Stiles, der noch bis in unsere Tage hineinreicht, muss man durchaus als klassisch bezeichnen. Wir haben heute noch in allen Teilen des weiten China eine unübersichtliche Fülle von Bauten und Denkmälern aller Art, die von reinster Schönheit sind und den großen Geist des alten, tausendjährigen China wiederspiegeln, der heute natürlich auch noch lange nicht gestorben ist. Denn Sie und wir alle stehen ja

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noch im Fluss der Überlieferungen, tausendfältig verknüpft mit einer besten Vergangenheit. Es ist nur die Frage: Wie soll man dieses alte Gut einer vollkommenen Kultur verwenden und fruchtbar machen bei dem Übergang in die neue Zeit mit neuen Aufgaben, die natürlich neue Lösungen erfordert. Dass aber das Alte nicht tot ist, zeigt ja gerade die Energie des ganzen Volkes, seine Aufgeschlossenheit, seine Bereitschaft, auch neue Wege zu gehen. Aber der Träger dieser neuen Zeit, auch Sie hier im Saale, meine Damen und Herren, sind ja alle noch geboren unter den alten Kräften, Sie haben das beste Ihrer Bildung aus der Vergangenheit. Nur fordert die Gegenwart die Pflicht, auf jener Grundlage Neues zu schaffen, ohne das gute Alte zu zerstören. Kehren wir zurück zur Baukunst. Hier ist also die Aufgabe: Was war gut und fruchtbar an den früheren Formen, und was kann, was muss hinüber in die neue Zeit? Ich werde später darauf zurückkommen. Vorher gestatten Sie mir, an Beispielen einiger Bilder wichtige Hauptpunkte der chinesischen Bauanlagen zu erörtern, um das allgemeine Gefühl der Größe und Schönheit chinesischer Baukunst zu erwecken. Die Bilder folgen meinen Reisen, die ich in fünf Jahren durch 14 Provinzen durch China ausführte. Es war noch zwischen 1902 und 1909, als kurz vor Ende der letzten Dynastie der Qing erst noch wenige fremde Gebäude im Innern von China entstanden waren. Damals sah man nur in den großen Hafenstädten das Werden moderner Großstädte. Altchinesische Bauten waren noch allgemein in Übung in Anlehnung an die großen Beispiele der Vergangenheit. Ich will noch vorausschicken, dass die Baudenkmäler selber nur sehr selten ein größeres Alter besitzen. Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass die chinesische Kultur, bei aller Entwicklung, die auch sie durchgemacht hat, in gerader Linie und einheitlich in den Grundlagen seit tausenden von Jahren auf uns gekommen ist, dass aber Monumente nur selten über die Sung-Dynastie hinausreichen. Aus Tang gibt es Einzelheiten, aus Han sehr wenig, und aus älteren Zeiten sind Bauanlagen eigentlich nur die Grabhügel der Fürstengeschlechter vorhanden, die dem Archäologen einst vielleicht wichtige Aufschlüsse geben werden, heute aber nur sehr interessante Sehenswürdigkeiten sind. Im übrigen ist man angewiesen auf die alte Literatur und ihre Beschreibung von Palästen und Städten, doch ein rechtes Bild kann man sich nicht machen von den wirklichen Architekturformen. Immerhin lassen die Beschreibungen erkennen, dass mindestens in der ersten Han-Dynastie eine Reihe von Besonderheiten schon ausgebildet waren im Stile, den wir aus den jüngeren Bauten kennen, dass also auch hier die Hauptlinie ebenso wenig abgerissen ist, wie in der allgemeinen Kultur. Wenn wir also heute Beispiele chinesischer Architektur betrachten, so sind diese zwar jüngeren Datums, stehen aber in geradem Zusammenhang mit dem Altertum. Wesentliche Bereicherung der Bauformen und erhöhte Monumentalität treten auf mit der Einführung des Buddhismus kurz nach Christi Geburt unter der späteren HanDynastie. Doch auch hier erfolgte weitgehende Verschmelzung mit altchinesischer Art, so dass das, was wir als altchinesischen Stil bezeichnen, seit den Tang und Sung sich klar herausbildete und bis in unsere Tage herrschte.



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Bei den Bildern berühre ich nur ganz kurz Peking, das ja Ihnen allen aus Bildern zu Genüge bekannt, im übrigen unerschöpflich ist als Weltstadt der Baukunst ersten Ranges, ich kann auch die wundervolle Verbindungen der religiösen Baukunst mit der Landschaft und die Wohnhausbauten, so reizvoll das wäre, nur umreißen. Wir beschränken uns auf die monumentalen Bauten meist religiöser Baukunst, weil hier der Stilwille und höchstentwickelte Form am besten in Erscheinung treten. [Boerschmann zeigte 35 Bilder, die vor Ort aus seinem Fotobuch „Baukunst und Landschaft“ abfotografiert wurden. Hier verzichte ich auf seine knappen Erläuterungen zu diesen Aufnahmen und bringe stattdessen einige Fotos, die seine Themen illustrieren.] Meine Damen und Herren! Die wenigen Beispiele, die ich Ihnen hier nur geben konnte, und noch dazu aus einem beschränkten Teilgebiet, der hohen, im wesentlichen religiösen Baukunst, wird jeder von Ihnen aus Ihrer eigenen Kenntnis ins Ungezählte vervielfältigen können, zumal wenn Sie das große Gebiet des Wohnungsbaues, der amtlichen und anderer öffentlicher Gebäude hinzurechnen. Immer wird in Ihnen das

Abb. 65: Die Große Mauer bei Peking. (© Yamamoto, Sammlung Boerschmann, mit freundlicher Genehmigung Bodo Niemann, Berlin/picture perfect GbR).

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Abb. 66: Die runde Halle des Erntegebetes im Himmelstempel in Peking. (Unbekannter Fotograf ca. 1930, Sammlung EK).



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Abb. 67: Der Palast der Himmlischen Klarheit in der Verbotenen Stadt in Peking. (Unbekannter Fotograf ca. 1930, Sammlung EK).

Gefühl herrschen, dass Ihre alte Kunst zu bauen, sehr praktische, schöne und behagliche Räume und Höfe schuf, und dass, rein architektonisch betrachtet, die Bauformen, ob reich oder einfach, nord-chinesisch oder süd-chinesisch, vollendet sind und in ihren erhabensten Beispielen als klassisch bezeichnet werden müssen. Nun hat sich das Bild in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Etwa um die Wende des Jahrhunderts, vor mehr als 30 Jahren setzte in der ganzen Welt ein ungestümer Drang ein nach Umgestaltung, Erneuerung aller Dinge. Politische und wissenschaftliche Entwicklungen gingen parallel dem Bestreben, auch auf den kulturellen Gebieten neue Bahnen einzuschlagen. Das gilt für alle Völker der Welt. China ist aber an dem Aufbruch zu einer neuen Welt ganz besonders stark beteiligt gewesen. Ja, es ist durch seine Revolution vor 22 Jahren mit der Tat vorrangegangen. In Europa hat es zum Ersten Weltkrieg kommen müssen und zu seinen entscheidenden Folgen, um auch Lebenshaltung und allgemeine Kultur nachdrücklich zu beeinflussen. Als größter Antrieb erwuchs das nationale und nationalistische Element, das in den Völkern den Willen festigte zur Selbstbehauptung, zur Ausbildung der eignen Art. Diese Tendenz erhielt sogar vielfach eine deutlich religiöse Färbung und kündete damit in Wahrheit ein neues Zeitalter an.

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Abb. 68: Der Kaiserthron im Palast der Himmlischen Klarheit in der Verbotenen Stadt mit den Schriftzeichen „Aufrechte Haltung und Lauterkeit“. (Postkarte, Sammlung Walter Frey, mit ­freundlicher Genehmigung von Friedericke Assandri).



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Abb. 69: Der Konfuzius-Tempel in Taiyuan. (Postkarte, Sammlung Walter Frey, mit freundlicher ­Genehmigung von Friedericke Assandri).

Abb. 70: Der Konfuzius-Tempel in Dujiangyan. (© Boerschmann 1908, mit freundlicher ­Genehmigung Bodo Niemann, Berlin/picture perfect GbR).

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Abb. 71: Die weiße Stupa im Tayuan Tempel auf dem Wutaishan. (© Boerschmann 1908, PAB).



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Abb. 72: Ein Skulpturen-Relief in einem buddhistischen Tempel in Taiyuan. Walter Frey nannte ihn den „Indischen Tempel“. (© Frey ca. 1930, Sammlung Walter Frey, mit freundlicher Genehmigung von Friedericke Assandri).

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Abb. 73: Der Haupthalle des 1882 renovierten Tempels Nanyue Damiao am Fuße des Heng Shan in der Provinz Hunan, in dem taoistische und buddhistische Heilige zusammen mit Konfuzius verehrt werden. (© Boerschmann 1908, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek).

Gleichzeitig mit dieser geistigen Umstellung wechselten die äußeren Formen. Das ist in allen Ländern zu beobachten, und es ist ein Beweis dafür, dass auch Formen in Kunst, Kleidung, Gerät und Erzeugnissen aller Art ein notwendiger Bestandteil der Kultur sind. Voran die Formen der Baukunst, vom Wohnungsbau angefangen bis hinaus zum Ausdruck höchster staatlicher und religiöser Gedanken. Natürlich erfolgt die Änderung nicht von heute auf morgen, es bedarf, zumal bei der Baukunst, erheblich längere Zeit als etwa bei der Kleidermode. Um so lehrreicher aber ist es, sich Rechenschaft abzulegen über die Voraussetzungen und die Ziele solcher baulichen Stiländerung. Allerdings hat die Änderung des Baustils auch etwas zu tun mit der Mode. Man kann eben nicht dauernd die gleichen Formen sehen, diese verwelken für das lebendige Leben wie alles Organische. So haben bei uns in Europa die Zeitalter oft ihr bauliches Kleid gewechselt, doch auch dann ging es immer nur langsam. Auch hier in China ist das geschehen, nur erfolgte der Wechsel bisher stets im Sinne einer organischen Evolutionierung. Heute aber ist die plötzliche Gärung vollkommen. Die Vorzeichen baulicher Umgestaltung liegen lange zurück. Die europäischen Häuser in



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Abb. 74: Ein Skulpturen-Relief in einer buddhistischen Höhle in Datong. Boerschmann besuchte Datong erst 1934. (© Frey ca. 1930, Sammlung Walter Frey, mit freundlicher Genehmigung von ­Friedericke Assandri).

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Abb. 75: Die kaiserliche Bibliothek am Westsee in Hangzhou. (© Boerschmann, 1907 – 09, ­Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek).

den fremden Niederlassungen gaben schon vor 50 oder 40 Jahren das Beispiel zur Nachahmung. Das war damals meist nur erst Spielerei. Danach aber erwuchsen neue Aufgaben, etwa bei Lagerhäusern, Büros, Fabriken, die mit den alten chinesischen Mitteln nicht zu erfüllen waren, und es verbreitete sich zwangsläufig die Notwendigkeit, fremde Formen anzunehmen. Dazu kam die Gewohnheit jener Chinesen, die sich lange im Auslande aufgehalten hatten. Endlich bewirkte der Wille zur Umformung, besonders seit Ihrer Revolution, das Eindringen europäischen Stiles auch in den Privatbau und die gesamte Gestaltung der Städte. Diese, mit ihren engen Gassen und einengenden Mauern, waren den modernen Bedürfnissen tatsächlich nicht mehr gewachsen. So ging das Geschick seinen Weg. Besonders stürmisch ist, was die altchinesischen Städte betrifft, die Entwicklung in Kanton gewesen. Wirklich macht Kanton auf den Fremden, der diese neuen Anlagen und Einrichtungen sieht, einen ungeheuren, verblüffenden Eindruck. Zumal mir ging es so, der ich gerade hier in Kanton nach 24 Jahren zum ersten Male wieder chinesischen Boden betrat. Sie werden deshalb gestatten, dass ich als Beispiel für meine Betrachtungen über die Moderne unser Kanton nehme, das ich in den Wochen meines Aufenthaltes genau studiert habe, unter gütiger und dankenswerter Unter-



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Abb. 76: Ehrentore in der Landschaft in der Provinz Sichuan. (© Boerschmann, 1908, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek).

stützung der chinesischen Behörden. Ich werde nur die wesentlichsten Gedanken hier kennzeichnen. Soviel darf ich heute schon sagen: Der Umbau und Ausbau von Kanton gehört zu den Spitzenleistungen der Städtebaukunst. Nicht nur im Hinblick auf die Zukunft und ihre Aufgaben, sondern gerade im Hinblick darauf, was schon geleistet wurde. Die große Millionenstadt war hoffnungslos verengt, durch die engen Straßen, durch die Einschnürung einer Stadtmauer, durch den Fluss im Süden. Es gehörte der ganze Radikalismus der jungen, siegreichen Revolution dazu, um schnell ganze Arbeit zu machen, die Mauern niederzulegen, hier und an den Hauptadern breite Straßen zu schaffen. Der Freund der alten Kunst wird natürlich das Versinken einer romantischen Vergangenheit bedauern, doch der praktische und lebensvolle Mensch wird die Notwendigkeit anerkennen, dass es zuerst gilt zu leben, und dann erst die Werte der Vergangenheit zu hüten. Die folgenden Jahre schufen im Sinne der ersten Maßnahmen weitere und in den letzten acht Jahren reiften große Pläne aus: Vollkommenes Straßennetz, neue breite Uferstraße, der Kanton-Bund, Wohnviertel und Geschäftsviertel nach genauem Plan, Ausbau der Vorstädte, Uferbauten und Häfen, Industriezentren, gewaltige Anlagen für Verwaltung von Stadt und Provinz, für neue Universität, für

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Abb. 77: Die marmorne Diamant-Thron-Pagode im Gelben Tempel in Peking. (Unbekannter Fotograf, Sammlung Boerschmann, mit freundlicher Genehmigung Bodo Niemann, Berlin/picture perfect GbR).



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Außenhafen in Whampoa. Tatkraft und Durchführung der ersten Aufgaben verdienen um so mehr Bewunderung, als besonders der Techniker weiß, welche unendlichen Schwierigkeiten sich etwa den Straßendurchbrüchen entgegenstellen. Wir in Europa haben kaum ein Beispiel für solchen Umbau einer dichtbevölkerten Stadt, und ich glaube auch nicht Amerika. Wir legen neue Stadtteile an, beschränken aber Änderungen im Stadtinnern auf das geringste Maß. Können und Energie der leitenden Männer verdienen höchste Bewunderung. Wie steht es aber nun mit dem architektonischen Stadtbild? Hierüber wäre viel zu sagen. Jeder sieht, dass vorläufig ein sehr zerrissenes Bild sich uns darbietet. Die Architektur selbst an den neuen Straßen, die vorläufig als ausgebaut gelten müssen, ist höchst ungleich und in unglücklichem Sinne gemischt mit einigen altchinesischen, in der Hauptsache aber fremden europäischen Motiven, diese leider meist aus einem entarteten kleinen, sogenannten Kolonialstil, der durch gelegentliche Vorbilder hier in Ostasien sich herausgebildet und sich in den neuen Gebäuden von Kanton eingeschlichen hat. Dazu ist die Ausbildung sehr verschieden, und in großen Mengen stehen noch die Ruinen halbabgerissener und notdürftig hergerichteter Gebäude und helfen gewiss nicht das Bild verbessern. Gerechterweise muss man das als einen Übergangzustand vor der Hand ertragen, bestimmt werden gerade die Hauptstraßen mit Besserung der wirtschaftlichen Lage bald einheitlich bebaut sein. Da heißt es aber bei Zeiten die früheren Fehler vermeiden und die Besitzer zum Bau erträglicher Häuser von Stadt wegen anzuhalten. Für den neuen Stil, der natürlich auch im Rahmen europäischer Bauformen ein durchaus chinesischer sein muss, liegen meines Erachtens gute Ansätze vor. Es gibt eine Reihe Straßen mit Privathäusern, selbst sehr schöne mit Einzelvillen in Gärten, die in glücklichster Weise altchinesische Formen weitergebildet und mit neuzeitlichen Forderungen in Einklang gebracht haben. Ja die Eingänge zeigen sogar oft Anklänge an alte kantonesische Motive, setzten also die Überlieferung fort. Hier ist der Weg gegeben, auf dem ein neuer Stil sich auch für die Kaufläden und Laubengänge finden lassen wird, die jetzt das allgemeine Stadtbild beherrschen. Es ist ein Beweis, dass es wohl möglich ist, Altes mit Neuem auf durchaus praktischer Grundlage zu verbinden. Dass im Innern der Wohn- und Geschäftshäuser die schönen und behaglichen, dabei gebildeten Formen des alten China mit bestem Erfolg verwendet werden können, habe ich an etlichen Beispielen selber gesehen. Es ist nicht so, dass innen alles ohne Stil in den vermeintlichen modernen glatten Flächen und Linien hergerichtet werden muss. Diese Anschauung gilt auch in Europa nicht mehr. Ein besonderes Kapitel sind die neuen monumentalen Bauten, Ihre Lingnan-Universität hat etliche gute Beispiele in den großen Hallen, vor allem in der letzten, vor kurzem vollendeten, die das edle Spiel altchinesischer Linien, Flächen und Farben in höchster Meisterschaft zeigt. Die Regierung von Kanton hat aber die ausgezeichnete Gedenkhalle für Sun Yat-sen, die Bibliothek auf dem Nordberg, verschiedene Schulen und die kürzlich vollendete Stadtbibliothek, die ein wahres Schmuckstück bildet an Formen, Grundrissgestaltung und höchst praktischer Einrichtung. Diese Übung ist

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Abb. 78: Die Daxiongbao Halle im Sanhua Tempel in Datong stammt aus dem 11. Jahrhundert. (Unbekannter Fotograf, Sammlung Boerschmann, mit freundlicher Genehmigung Bodo Niemann, Berlin/picture perfect GbR).

sehr zu begrüßen, sie werden dadurch als Musterbeispiel hingestellt, nach denen die großen Bauten auch der Zukunft sich zum Teil werden richten können. Das große Stadthaus und einige Hallen der neuen Sun Yat-sen Universität werden bedeutende Denkmäler in dieser Richtung sein. Man darf sich aber nicht darüber täuschen, dass starke Wiederholungen der alten Meisterwerke aus Peking in das Gebiet jener historischen Baukunst gehören, die auch wir in Europa lange geübt, dann aber wieder aufgegeben haben, weil die zu genaue Wiederholung alter Formen keinen Raum lässt für die freie künstlerische Gestaltung im Sinne eines neuen Zeitgefühls. Für organische Weiterentwicklung der alten Bauweise sorgen neue Bauprogramme, wie etwa die großen modernen Verwaltungsgebäude, bei ihnen muss der Baukünstler sich anpassen den gegebenen Bedingungen. Im Zusammenhang damit ein Wort über die Pflege der alten Baudenkmäler aus früherer Zeit. Kanton war ja nicht übermäßig reich an solchen Bauten großen Stiles, vieles davon ist dem Umbau der Stadt zum Opfer gefallen, doch zahlreiche Gebäude stehen noch. Eine Erhaltung dieser überlieferten Baukunst, die doch das ganze Werden der neuen Generation begleitet hat, erscheint dringend notwendig. Schon aus dem Grunde, weil ohne die Kenntnisse der alten Baukunst die historischen



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Abb. 79: Blick von der Longhua Pagode in Schanghai auf die Nachbarschaft mit engen Innenhöfen. (© Boerschmann 1934, privat).

Formen der großen öffentlichen Gebäude im alten Stil ihren Sinn verlieren würden, weil kein Vergleich möglich wäre mit alten Vorbildern, weil dann der stetige Faden der Entwicklung abgerissen wäre. Alle Städte hüten ihre Überlieferungen, voran Peking, das durch seine Kunstbauten eine Sehenswürdigkeit der Welt geworden ist und viele Besucher anzieht, also auch unmittelbare, große Einnahmen zieht aus der sinnvollen Pflege seiner geschichtlichen Kunstdenkmäler. Ein gleiches könnte Kanton tun. Hier ragen noch die Berge der Weißen Wolke, die Pai yün shan [Baiyun Shan], im Nordosten empor wie vor alten Zeiten, noch bildet der Nordberg mit der fünf-Stockwerkspagode und dem schlanken Gedächtnispfeiler für Sun Yat-sen die Spitze der Stadt, noch stehen die Pagoden und mehrere große Tempel wie einst. Es gilt, aus Stolz auf die große Vergangenheit diese Denkmäler zu hüten, um eine größere Zukunft vorzubereiten und durchzusetzten in einem Gewande, in dem aber das vieltausendjährige alte China immer noch zu erkennen sein muss. Kanton ist zu beglückwünschen dazu, dass es die Aufgaben von heute mit größter Energie angefasst hat, mag auch die neue Baukunst in guten Händen sein, damit die lebendigen Keime einer großen Vergangenheit im neuen Boden tausendfältige beste Früchte tragen und Stärke verleihen dem ewig jungen chinesischen Volk.

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Index A Academia Sinica 15 Ägypten 163 Ameral, Joao Maria Ferreira do (1803–1849) 80 Andrade, Fernao Pires de (†1523) 77 Ashoka (304–332 v.Chr.) 17 Aufhauser, Johannes Babtist (1881–1963) 73, 77, 88, 181 Auswärtiges Amt 9, 46, 181 B Bad Pyrmont 42 Baessler Stiftung 4, 6, 24 Beaux-Arts 16, 145, 182 Beiyang-Regierung 57 Berliner Mission 12, 26 Berlin, Technische Hochschule 6, 12, 38, 111 Bixia Yuanjun 110 Braga, José Maria (1897–1988) 77, 80, 181 C Cai Yuanpei (1868–1940) 15 Camoes, Luis de (1524–1580) 80 Canton Gazette 12, 181 Carneiro, Melchior (1516–1583) 81 Chan-Buddhismus 17 Chao Hao-kung 15 Cheng Biguang (†1918) 150, 151 Chen Jiongming (1878–1933) 95 Chen Jitang (1890–1954) 72, 127, 133, 144, 159 Chen Mingshu (1889–1965) 150 Chiang Kai-shek (1887–1975) 95, 126, 157 China, Volksrepublik 1, 2, 19, 26 Costantini, Celso (1876–1958) 59, 181 Credner, Wilhelm (1892–1948) 46 D Deutsch-Chinesische Mittelschule 12, 29 Documenta X 2 Dschibuti 7 Du Fu (†770) VI, VII E Eckert, Walter (1891–1975) 29, 30, 35, 112, 182 Elliot, George (1784–1863) 49, 80, 102 England 28, 49, 57, 64, 79, 80, 90, 113 F Feng Shui 7, 13, 16, 62, 98, 106, 137, 152, 153

Finn, Daniel D. (1886–1936) 58, 61, 182 Formosa (Taiwan) 46, 183 Frederking 49, 67 G Gama, Vasco da (1469–1524) 77, 81 Gao Qifeng (1889–1933) 35, 181 Ge Hong (280–340) 24, 183 Genua 7, 47, 63 Gipperich, Hermann (1882–1959) 46, 49, 51, 53 Goa 78, 80 Gotik 163 Gresnigt, Dom Adelbert (1877-1956) 59, 60, 182 Griechenland 163 Guangdong XII, 1, 3, 4, 6, 9, 10, 11, 12, 15, 17, 24, 28, 38, 54, 58, 66, 67, 68, 70, 72, 73, 87, 92, 93, 100, 102, 108, 115, 116, 126, 127, 132, 133, 134 ̶̶ Bao’an 64, 101 ̶̶ Bocca Tigris 102 ̶̶ Danxia-Gebirge 8, 22 ̶̶ Huizhou 95, 98, 104 ̶̶ Humen Town 102, 104 ̶̶ Jinxingwan 100 ̶̶ Kaiping 14 ̶̶ Luofu-Gebirge XII, 8, 23, 24, 97, 117, 183 ̶̶ Nordfluss 14, 20, 58 ̶̶ Ostfluss 8, 14, 95, 96, 104, 105 ̶̶ Perlfluss III, 1, 64, 72, 92, 98, 99, 105, 107, 110, 112, 128, 138, 151, 152, 153, 154, 155 ̶̶ Shenzhen-Fluss 45, 71, 92, 100 ̶̶ Shilong 97, 98, 104 ̶̶ Südchina-Tempel XII, 8, 11, 17, 20, 22, 23 ̶̶ Westfluss 8, 14, 20, 58, 72, 77, 78, 90, 91, 105, 148 ̶̶ Xiangzhou 100 ̶̶ Xin’an County 64 ̶̶ Zhongshan 16, 89, 117 Guangxi 14, 22, 26, 28, 58, 108, 115, 121, 148 Guangzhou, Kanton (Canton) V, 1, 29, 43, 54, 61, 120, 121, 134, 152, 154, 159, 182, 183 ̶̶ Ahnentempel der Familie Chen 10 ̶̶ Ananastempel 117 ̶̶ Baiyun Shan, Weiße Wolkenberge 15, 98, 99, 106, 107, 144, 145, 179 ̶̶ Blumenpagode 16, 17, 18, 107, 141 ̶̶ Chigang Pagode 106, 137

186 

 Index

̶̶ Chongxu-Tempel 24 ̶̶ Dongguan 104, 114, 135, 136, 144 ̶̶ Guangxiao-Tempel 17, 22 ̶̶ Haitong-Tempel 19 ̶̶ Honam 29, 33, 35, 105, 106, 107, 112, 129, 135, 136, 146, 147, 148, 151, 153, 154, 155 ̶̶ Hualin-Tempel 19 ̶̶ Lingnan-Universität 4, 12, 25, 146, 147, 161, 177 ̶̶ Medizintempel 19 ̶̶ Panyu 104, 134, 152 ̶̶ Pazhou Pagode 105, 106 ̶̶ Pearl River Bridge 154 ̶̶ Qingyun-Tempel 20 ̶̶ Shamian 107, 113, 150, 154 ̶̶ Sun-Yat-sen-Universität 12, 28, 34, 46, 145, 146, 159 ̶̶ Tempel der Sechs Banyanbäume 16 ̶̶ Whampoa 2, 105, 106, 117, 135, 136, 137, 145, 156, 157, 177 ̶̶ Yuexiu Park 107, 132, 137, 140, 146, 186 ̶̶ Zhenhai-Turm 19, 20, 107, 121, 128, 186 Guanyin, Göttin der Barmherzigkeit 68, 86, 87, 120, 123, 132 Guo Bingqi 29 Guomindang 16, 31, 113, 116 H Hainan 116, 183 Hakka 26, 56, 66, 67, 68, 70, 71, 72, 93 Hangzhou 39, 41, 95, 174 Han-Zeit (206 v. Chr.–220 n. Chr.) 15, 83 Hefter, Johnny (1890-1953) VII Hellerau 29 ̶̶ Deutsche Werkstätten 29 Hongkong XII, 1, 2, 3, 4, 6, 7, 8, 13, 14, 27, 29, 31, 33, 35, 36, 43, 45, 46, 47, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 64, 66, 67, 68, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 80, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 99, 111, 123, 136, 137, 144, 148, 153, 183 ̶̶ Aberdeen 8, 13, 47, 57, 59, 60, 61, 62, 63 ̶̶ Castle Peak 72, 100 ̶̶ Cheung Chau 74 ̶̶ Fanling 71, 72 ̶̶ Hong Kong Island 8 ̶̶ Kowloon 8, 14, 27, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 55, 64, 65, 66, 67, 71, 72, 92, 94, 97, 99, 100, 104, 137, 144, 182, 183 ̶̶ Lamma 50, 60, 74, 182

̶̶ Lantau 74, 100 ̶̶ Lion Rock Hill 67 ̶̶ Ma On Shan 69 ̶̶ Mount Kellett 51 ̶̶ New Territories 8, 14, 45, 47, 69 ̶̶ Peak 45, 48, 49, 50, 51, 52, 55, 72, 75, 100 ̶̶ Pok Fu Lam 50, 59 ̶̶ Repulse Bay 55 ̶̶ Shan Tsui Tsuen 72 ̶̶ Sha Tau Kok 71 ̶̶ Sha Tin 67, 68, 69 ̶̶ Stonecutters Island 65 ̶̶ Tai Po 69, 70 ̶̶ Tao Fong Shan 68, 69, 182 ̶̶ Tolo Harbour 69 ̶̶ Tsing Shan Monastery 100 ̶̶ Unicorn Ridge 94 ̶̶ University of Hong Kong 24, 57, 58 ̶̶ Victoria 13, 45, 46, 47, 48, 53 Hong Xiuquan (1814–1864) 67 Hotung, Robert (1862–1956), 57 Hu Hanmin (1879–1936) 126, 149 Huineng (638–713) 17, 20, 22 Hummel, Gustav Ludwig 2, 182 Hu Wenhu 56 J Jangtse 100, 102, 108, 126, 133, 148 Jiangxi 96, 121 Jin-Dynastie (265–420) 17 Journal of the Lingnan Engineering Association 12 K Kaiser Guangxu (1871–1908) 80 Kaiser Hongwu (1328–1398) 122 Kaiser Shihuangdi (Regierungszeit 221–210 v. Chr.) 102 Kaiser Zhengde (1491–1521) 77 Karo-Batak 7 Kowloon-Canton Railway 48, 71 Koxinga oder Zheng Chenggong (1624–1663) 103 Kutschera, Max 3, 182 L Lee, Chen Kuen (1915–2003) V, 42, 109 Lee, Edward Bing-Shuey (1903-?) 3, 183 Liang Shiyi (1869–1933) 57 Li Han-yun 11 Lingnan-Schule 35

Index 

Lin Keming (1900–1999) 34, 145 Lin Yungai (1883–1948) 11, 12, 116, 149 Lin Zexu (1785–1850) 102 Liu Chi-wen (1889–1957) 28, 113, 127 Ludin, Adolf (1879–1968) 12 Lusiaden 80, 81, 181 Lu Xiufu (1236–1279) 65 Lu Yanzhi (1894–1929) 16, 120, 121 M Macartney, George (1737–1806) 79 Macau (Macao) XII, 1, 2, 3, 4, 6, 8, 14, 27, 31, 36, 45, 49, 58, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 86, 88, 89, 90, 91, 100, 153, 182, 184 ̶̶ A-Ma Tempel 74, 84, 85, 86 ̶̶ Bahia da Praja Grande 75 ̶̶ Barra Point 76, 84, 187 ̶̶ Beora Point 81 ̶̶ Coloane 74, 90, 91 ̶̶ Fortaleza do Monte 81 ̶̶ Guia-Hügel 81 ̶̶ Ilha da Montanho 91 ̶̶ Ilha Macarira 91 ̶̶ Ilha Verde 74, 87, 90 ̶̶ Kirche von St. José 83 ̶̶ Kirche von St. Paul 74, 82, 83, 88, 182, 187 ̶̶ Kun Iam Tempel 74, 86 ̶̶ Lappa 90, 91 ̶̶ Lin Fung Tempel 74, 86, 87 ̶̶ Penha-Hügel 81 ̶̶ Taipa 74, 90, 91 Maenß, Walter 7 Malaysia 7, 8, 56 ̶̶ Ayer Itam 7, 8 ̶̶ Kek Lok Tempel 7, 8 ̶̶ Penang 7, 8, 53, 54 Mandschu 79, 92, 103, 122, 123, 124, 134, 137 Mazu (Meeresgöttin/Himmelsgöttin) 62, 84, 85, 86 Memelland 7, 31 Mesquita, Vicente Nicolau de (1818–1880) 80 Ming-Dynastie (1368–1644) 20, 58, 77, 79, 106 Morrison, Robert (1782–1834) 79 N Nanjing, Nanking 15, 16, 28, 37, 38, 40, 41, 46, 49, 58, 91, 92, 95, 100, 102, 111, 113, 126, 127, 133, 134, 150

 187

Nanyue-Reich 152 Napier, William John (1786–1834) 49 Nekropole 15, 97 Ningbo 77 Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft 6, 13 O Olivecrona, Gustav W. D. (1870–1964) 150, 183 Opiumkrieg 49, 102 Ostasiatische Rundschau 5, 12, 181 P Palmer & Turner 49 Panzer, Wolfgang (1896–1983) 23, 24, 25, 29, 46, 66, 135, 183 Pearl Harbour 38 Peking, Peiping 2, 5, 12, 31, 38, 46, 48, 57, 58, 77, 79, 92, 108, 111, 113, 124, 165, 166, 167, 176, 178, 179, 181 Pfahlbauten 7, 25 Philippinen 7 ̶̶ Manila 7, 45 Portugal 78, 79, 80, 87 ̶̶ Lissabon 80 Preußisches Kultusministerium 6, 9 Prip-Møller, Johannes (1889–1943) 68, 69, 182, 183 Public Works 54, 77, 118, 133 Q Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.) 102, 152 Qingdao 105, 111 Qing-Dynastie (1644–1911) 4, 17, 79, 80, 108, 109, 125 Quanzhou 77 R Reichelt, Karl Ludwig 69, 182, 183 Renaissance 163, 182 Renhua 8, 22 Ricci, Matteo (1552–1610) 8, 58, 59, 79, 182, 183 Rom 83, 163 S Sanshui XII, 8 Schanghai XI, 1, 8, 16, 36, 38, 49, 56, 136, 149, 158, 179 Schnock, F. 124, 134 Schrameier, Wilhelm (1859–1926) 33, 34, 183 Schubart, Heinrich (1878–1955) V, 38, 39, 40, 41

188 

 Index

Schumacher, Hermann 3, 183 Schwemmle, Eugen (1889–1979) 29, 30, 35 Shantou 96, 148 Shaoguan XII, 8, 11, 14, 17, 20, 21, 22, 58 Sheklung 14, 97, 98, 104 Shenzhen 2, 45, 71, 92, 94, 97, 100, 101 Sichuan 49, 108, 175 Siemssen & Co. 29, 35, 52, 112 Singapur (Singapore) 7, 53, 54, 56 Siu Ho-Ming 55 Sochaczewer, Ludwig (1870–1943) 30, 31, 36, 37 Song-Zeit, Song-Dynastie (960–1279) 19, 22, 27, 65, 67, 95 Sri Lanka 7 ̶̶ Colombo 7, 28, 29 Su Dongpo (1037–1101) 95 Sumatra 7, 9 ̶̶ Berastagi 7 ̶̶ Medan 7 Sun Ke (1891–1973) 33, 149 Sun Yat-sen (1866–1925) 10, 16, 33, 34, 41, 56, 57, 89, 95, 100, 107, 108, 113, 117, 120, 121, 124, 126, 128, 129, 132, 149, 150, 158, 162, 177, 178, 179, 182, 183 Suzhou 136 T Taiping-Aufstand (1851–1864) 67, 124, 154 Tai Shan 110 Tangjiawan XII, 8, 14, 27, 36, 73, 100 Tang Shaoyi (1862–1938) 8, 27, 36, 100 Tang-Zeit, Tang-Dynastie (618–907) 17, 20, 102 Tianhou (Himmelsgöttin) 62 Tickle, Arthur George Warnham (1887–?) 53, 55 Tiger Balm 7, 56 Trautmann, Oskar Paul (1877–1951) 46

V Venedig 7 Vietnam 103, 121, 152 Voskamp, Hans (1900–1945) 28, 111, 112, 113 W Wagner, Wilhelm (1884–1949) 28, 29, 113 Wang Chonghui (1881–1958) 150 Wong Man-Fat 47, 59, 61, 62, 76, 111, 117 Wu Tiecheng (1888–1953) 150 Wu Yuelin 25 X Xavier, Francisco de (1506–1552) 78 Y Yamen 15, 34, 114, 115, 128, 140, 146 Yeong Sik Chung (1889–?) 126 Yuan Shikai (1859–1916) 57, 124 Yün Ming-Lung 111, 118, 119, 127, 112, 113, 133 Z Zengcheng 8, 14, 27 Zhaoqing XII, 8, 14, 58, 59, 117 ̶̶ Dinghu Berg XII, 8, 20, 117, 185, 188 ̶̶ Zhenjiang 100 Zhou-Dynastie (etwa 1100–256 v.Chr.) 102 Zhuhai 2, 89 Ziyuan (Essay on Chinese Characters) 24 Zweiter Japanisch-Chinesischer Krieg (1937–1945) 32